Das Sonderprivatrecht der Handels- und Verbraucherverträge: Einheit, Freiheit und Gleichheit im Privatrecht 9783161512162, 9783161498657

Das deutsche Privatrecht ist dreigeteilt in das klassische BGB-Zivilrecht, das Sonderprivatrecht der Handelsverträge und

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Das Sonderprivatrecht der Handels- und Verbraucherverträge: Einheit, Freiheit und Gleichheit im Privatrecht
 9783161512162, 9783161498657

Table of contents :
Cover
Widmung
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Einleitendes Kapitel Einführung in die Thematik
§ 1 Privatrecht und vertragsrechtliche Sonderordnungen
A. Die typisierende Ungleichbehandlung durch Sonderprivatrechte
B. Der Repräsentationsgehalt des Handels- und Verbraucherrechts
§ 2 Die handels- und verbraucherrechtliche Sonderrechtsbildung
A. Die Charakteristika des Handelsvertragsrechts
I. Die gesteigerte Selbstverantwortlichkeit der Kaufl eute
II. Die Vermutung der Entgeltlichkeit des Geschäftsverkehrs
III. Sorgfaltsmaßstab und Beschleunigung des Handelsverkehrs
IV. Der ausgeprägte Verkehrs- und Vertrauensschutz des Handelsverkehrs
B. Die Umsetzungsinstrumente des Verbraucherrechts
I. Informationspfl ichten – marktkomplementäre Schutzinstrumente
II. Die Verlängerung der Überlegungsfrist durch Widerrufsrechte
III. Das Verbraucherschutzinstrument der Inhaltskontrolle
IV. Sonderanknüpfung – Verhinderung der Rechtswahlfl ucht
§ 3 Dreiteilung der Vertragsrechtsordnung
A. Sondervertragsrechte und Diskrepanz der Freiheitsgewähr
B. Subsidiaritätsprinzip und Vertragsrechtsdivergenz
§ 4 Die Systembeeinflussung durch Einheits- und Gemeinschaftsrecht
A. Der Integrationsansatz des internationalen Einheitsrechts
B. Eingriffscharakter und fehlendes Eigensystem des EG-Rechts
I. Vorrang der Richtlinie – Angleichung vor Vereinheitlichung
II. Die gemeinschaftsrechtliche Ignoranz der Kaufmannsdogmatik
C. Bestrebungen für ein europäisches Zivilgesetzbuch
I. Der gemeinsame Referenzrahmen (GRR)
II. Das Netzwerk der Exzellenz (CoPECL)
D. Die verbraucherrechtliche Remanipulation des bürgerlichen Rechts
I. Die Auseinandersetzung mit der bürgerlich-rechtlichen Remanipulation
II. Der unechte Verbraucherschutz der Pauschalreiserichtlinie
§ 5 Suche nach dem »inneren« System und Aufbau der Arbeit
1. Kapitel Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung
§ 6 Geschichtsrelevanz als systemteilungsbedingte Ausgangskoordinate
§ 7 – BGB –: Basis und Vergleichsmaßstab der Vertragsrechtsdivergenz
A. Die Schrittmacherfunktion der Grundrechte als objektive Ordnung
B. Der exemplarische Rechtsprechungswandel bei Bürgschaften und Eheverträgen
C. Keine Typisierung eines bürgerlich-rechtlichen Schwächerenschutzes
§ 8 – Recht der Handelsverträge –: Kausalfaktoren und Chronologie
A. Rezeption und handelsrechtliche Kodifi kationen
B. Handelsrechtliche Entwürfe und Kodifi kationsgenese
I. Die Kodifikation des Allgemeinen Deutschen Handelsrechts (ADHGB)
II. Aufbau und Inhalt des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs
III. Empfehlung zur Weiterführung eines gesonderten Handelsgesetzbuchs
IV. »Kleine« Kodifi kationslösung und Systemwechsel zur Sonderkodifi kation
C. Handelsrecht: (Standes-) Sonderrecht der Außenbeziehungen?
D. Die mangelnde Adaptionsfähigkeit der HGB-Dogmatik
E. Kritik des Kaufmannsbegriffs und Systemanalysen des Handelsrechts
I. Kausale Erklärungsmodelle der handelsrechtlichen Literatur
1. Die relative Theorie des Handelsrechts
a) Einheitstheorie und Korrelationsthese
b) Die Reaktionen des Schrifttums auf die Einheitsbetrachtung
2. Goldschmidts entwicklungsgeschichtliche Innovationsbetrachtung
3. Die »Dreistufen«-Ursachendefi nition von Gareis
II. Auswertung der Thesen zur Existenzberechtigung des Handelsrechts
§ 9 – Verbrauchervertragsrecht –: Chronologieu nd Sondergehalt
A. Anfänge der Verbraucherrechtskodifi kation und Systemspaltung
B. Die EG-rechtliche Beeinfl ussung der Verbraucherrechtsentwicklung
I. Die Verbraucherprogramme des Rates
II. Verbraucherschutz in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten
III. Verbraucherschutz im liberalen Binnenmarktkonzept
IV. Etablierung der Verbraucherpolitik durch den Vertrag von Maastricht
V. Die Komplettierung der Verbraucherpolitik durch Amsterdam
VI. Selbstkritische Überarbeitung des verbraucherrechtlichen »acquis«
C. Entwicklung und sozio-juristische Rahmenbedingungen
I. Wegfall des Zunftwesens und Bedarf nach Verbraucherschutz
II. Die sozio-ökonomische Fortentwicklung seit der Verabschiedung des BGB
D. Verbraucherschutzdebatte und Modellspaltung im Schrifttum
§ 10 Zusammenfassung des Bisherigen und Programmthese
2. Kapitel Sondervertragliche Systemvorgaben der Rechtsordnung
§ 11 Begriff der Sonderprivatrechte – Systembegriff des Vertragsrechts?
A. Inhaltliche Spezifi täten als sonderprivatrechtliche Normmerkmale
I. Spezialität des Handels- gegenüber dem allgemeinen Vertragsrecht
II. Exklusivität und Spezialität des Verbraucherrechts
III. Exklusivitätsregelungen jenseits der Sonderprivatrechte
B. Aufspaltung in Nebengesetze und Kriterien der äußeren Systembildung
I. Der fehlende Aussagegehalt der formalen Ausgliederung
II. »Dekodifi kationsbewegungen« ohne eigenen Systemgehalt
III. Sachliche Durchdringung versus formale Segregation
C. Kriterien des inneren Systems: Sonderprivatrechtliche Kausalfaktoren
I. Die Pandekten als Systematisierungsfaktor – Herkunft und Überlieferung
II. F. Bydlinskis sonderprivatrechtliche Integrationsvorstellungen
D. Die Stellung des Handels- und Verbraucherrechts zu den Pandekten
I. Das Handelsrecht als Sonderprivatrecht mit defi zitärer Abgrenzung
II. Fehlender Sonderprivatrechtsgehalt des Verbraucherprivatrechts?
E. Pandektenexterne Freiheits- und Gleichheitstypisierung
§ 12 Etatismus und Dualismus – makrojuristische Weichenstellung
A. Staatliche Normenhierarchie und Selbstständigkeit des Privatrechts
B. Die Zweiteilung der Rechtsordnung in öffentliches und privates Recht
I. Traditionelle Verortung des Vertragsrechts
II. Historie und status quo der Rechtsordnungsdichotomie
III. Die Stellung des Vertragsrechts in der Rechtsordnungsdichotomie
1. Verbrauchervertragsrecht und Gemeinwohlbezug
2. Verbraucherrecht und subordinative Markterhaltung
IV. Jüngste Entwicklung der rechtsordnungsbezogenen Dichotomie
V. Legitimität der Gemeinwohlorientierung des Verbraucherrechts
1. Dänische Dichotomieproblematik durch die Verbraucherrichtlinien
2. Zweiteilung und Verbraucherrecht aus deutscher Perspektive
3. Registersubsidiarität und »Pufferfunktion« des Wettbewerbs(-rechts)
§ 13 Vertragsrechtsdivergenz und Einheit der Wirtschaftsverfassung
A. Supranationale Einfl ussebene und vertragsrechtliche Dreiteilung
B. Wechselwirkungen zwischen Wirtschafts und Vertragsrechtsordnung
C. Vertragsfreiheit und Pluralität der Wirtschaftsverfassung
I. Das BGB als Modell des Empfängerschutzes prozeduraler Fairness
II. Inhaltliche Fairness – kein Grundsatz des Vertragsrechtsfundaments
III. Materiale Selbstbestimmung und prozedurale Fairness
1. Verlagerung der Selbst- und Fremdverantwortung durch ius cogens
2. Kollisionsrechtliche Besonderheiten des Verbraucherrechts
IV. Das transzendierte Freiheitsverständnis des Handelsrechts
1. Modifi zierung von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung
2. Verkehrstypisches Verhalten als privatautonome Selbstbestimmung
D. Grundrechte und Grundfreiheiten: substanzielle Verbindungsfaktoren
I. Freiheitspostulate der Grundrechte – einheitsstiftender Faktor
II. Die Grundfreiheiten – wirtschaftsverfassungsrechtlicher Referenzrahmen
§ 14 Zusammenfassung und grundsätzliche Maßstabsbildung
3. Kapitel Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich
§ 15 Dogmatische Aufbereitung von Gleichheit und Freiheit
A. Dienende Funktion der Gleichheit zur Freiheitsausgestaltung
B. Privatautonomie – Ausgestaltung und Gewährleistung
§ 16 Prämissen und Maßstab der Gleichheits- und Freiheitsdivergenz
A. Die individualisierte Willenserforschung im Rahmen des BGB
B. Das besitzende Bürgertum als heimlicher Normadressat des BGB
C. Das grundrechtliche Anpassungsdefi zit der Sondervertragsrechte
I. Die mangelnde Progressionstauglichkeit der Verbraucherrichtlinien
II. Die Antiquiertheit der kaufmannsbezogenen Abgrenzung
III. Typisierung und richterliche »Entscheidungsschranken«
IV. Die schleichende Ausweitung der EuGH-Kompetenzen
§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung
A. Vertragsrechtsmodelle in der Literatur
I. Schmidt-Rimpler und die Lehre von der Richtigkeitsgewähr
II. Flume – Privatautonome Gestaltung und Wesen der Privatautonomie
III. M. Wolfs Theorie der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit
IV. Dauner-Lieb – »Liberales Informationsmodell«
V. Hönn – Multidimensionale Struktur der gestörten Vertragsparität
VI. L. Raiser – Soziale Funktion und Aufteilung nach Lebensbereichen
VII. Reifners prinzipielle und symptomatische Zivilrechtskritik
VIII. Reichs sozialwissenschaftliches Verbraucherschutzmodell
IX. Ökonomische Analyse des Rechts – Maßstab der Vertragsrechtsordnung?
1. Ökonomische Rechtsanalyse und Vertragsrecht
2. Ökonomische Analyse – Legitimation der Vertragsrechtsspaltung?
B. (Sonder-) Vertragskonzeption im Rechtsordnungsvergleich
I. Die kontinentalen Gesetzgebungen mit dualistischem Privatrecht
1. Französisches Vertragsrecht – Willensprinzip und Vertragsfreiheit
2. Vertragsrecht in Belgien – französische Wurzeln und Fortentwicklung
3. Vertragsrecht in Spanien – Zentralgewalt und Comunidades Autónomas
II. Österreich – Assimilierung von Unternehmerrecht und Verbraucherrecht
III. Die kontinentalen Gesetzgebungen mit monistischem Privatrecht
1. Das integrierte Zivil- und Handelsrecht in Italien
2. Niederlande – Burgerlijk Wetboek und Verbraucherrichtlinien
3. Litauen – Marktwirtschaft und monistisches Vertragsrechtssystem
IV. Die Kooperationsgesetzgebung der nordischen Staaten
1. Vertragsgesetz und traditioneller Verbraucherschutz in Dänemark
2. Schweden – ein weiteres Beispiel nordischer Rechtskultur
V. Vertragsrecht und common law – schwache Ansätze einer Systemdivergenz
1. Das Vertragsrecht nach common law historisch betrachtet
2. Materialisierungstendenzen und Instrumentalisierung des Vertragsrechts
§ 18 Zusammenfassende Auswertung und weiterer Prüfungsbedarf
4. Kapitel Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?
§ 19 (Un-)Mittelbare Drittwirkung – Vorgaben für die Normgestaltung?
A. Gesetzgeberische Grundrechtsbindung bei (Privatrechts-) Gesetzen
I. Die Drittwirkungsproblematik im Handels- und bürgerlichen Recht
II. Die EG-rechtliche Drittwirkungsproblematik im Verbraucherrecht
1. Unmittelbare Grundrechtsbindung im Verbraucherrecht?
2. Grundrechtsdogmatische Besonderheiten im Verbraucherrecht?
B. Systemvorgaben durch die Drittwirkung der Grundfreiheiten?
§ 20 Die vertragsrechtlichen Schutzpfl ichten des Staates
A. Grundrechtliche Schutzpfl ichten – symmetrischer Grundrechtsschutz?
I. Der Wirkungsgehalt der grundrechtlichen Schutzpfl ichten
II. Der Vorrang der dezentralisierten Eigenverantwortlichkeit
III. Die mangelnde Generalisierungseignung der Schutzpfl ichtenlehre
B. Die Deliberalisierungswirkung der Grundfreiheiten
I. Urteil »désordre public« als Anerkennung von Schutzpfl ichten
II. Grundfreiheitliche Schutzpfl ichten und Privatrecht
§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung
A. Die Peronenbilder als rollenspezifi sche Rechtsprinzipien
I. Leitbilder als empirisch-normative Sachgründe
II. Die Legitimationseignung der sonderprivatrechtlichen Personenbilder
B. Leitbild und Personenbild der (Sonder-) Vertragsrechte
I. Das Personenbild des homo oeconomicus als Vertragsrechtsgrundlage
II. (Verbraucher-) Personenbild – soziologische Leitbildmodifi zierung
1. Verbraucherleitbild und Verbraucherbegriff
2. Die Notwendigkeit perspektivischer Konzentration
3. Das Verbraucherleitbild im primärrechtlichen Koordinatensystem
a) Verbraucherschutz als zwingendes Allgemeininteresse der Grundfreiheiten
b) Keine übertriebenen Anforderungen an Produktangaben
c) Zugang zu wahren Informationen und situationsspezifi sche Leitbildflexibilität
d) Das Leitbild des verständigen Durchschnittsverbrauchers
4. Verbraucherschutz durch die Europäische Grundrechte-Charta (GRCh)
5. Lokalisierung der Normvorgaben für das Verbraucherleitbild
III. Das Unternehmerleitbild als Personenbild des Handelsrechts
1. Der Aussagegehalt des Unternehmerleitbilds
2. Ableitung des Unternehmerleitbilds aus den Grundrechten
a) Die unternehmerische Freiheit nach der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh)
b) Die Rechtsprechung des EuGH zum unternehmerischen Grundrechtsschutz
(1) Freiheit zur Ausübung einer Geschäftstätigkeit und Eigenverantwortung
(2) Vertrauensschutz und Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit
(3) Die Privatautonomie als notwendiger Bestandteil der unternehmerischen Freiheit
(4) Die Vertragsabschlussfreiheit als Ausfl uss der Berufsausübungsfreiheit
(5) Vertragsfreiheit und der Eigentumsschutz wohlerworbener Rechte
c) Die Unternehmerfreiheit in den EU-Mitgliedstaaten
(1) Verfassungen mit ausdrücklicher Unternehmerfreiheitsgarantie
(2) Die Unterenehmerfreiheit als Konglomerat mehrerer Grundrechtsgarantien
3. Der negative Aussagegehalt der Cassis-Grundfreiheitendogmatik
4. Die freiheitswahrende Funktion der Wettbewerbsregeln
5. Das Unternehmerleitbild des umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers
6. Keine Gleichsetzung von Leitbild und Kaufmannsprofi l
7. Leitbildkonkretisierung und Unternehmensbegriff
a) Der Umweg der Unternehmensausrichtung
b) Die indirekten Leitbildaussagen des Unternehmensbegriffs
c) Der Unternehmer als berufs- und gemeinschaftsrechtlich induzierter Leitbegriff
8. Lokalisierung der Normvorgaben für das Unternehmerleitbild
§ 22 Privatrechtliche Leitbilder als legislative Differenzierungsgebote
5. Kapitel Typisierungskonvergenz des Handels-/Verbraucherrechts
§ 23 Leitbildkongruenz des Verbrauchervertragsrechts
A. (Leit-) Typusabbildung durch die Verbraucherrichtlinien
I. Das Verhältnis zwischen b2c-Begegnungen und Leitbilderwägungen
1. Wirtschaftliche Schwäche des Verbrauchers als Leitbilderwägung?
2. Die Verneinung einer rollensoziologischen Verbraucherposition
3. Marktstruktur und moderne Informationstheorie
II. Die objektive Situationseingrenzung als entscheidendes Leitbildventil
III. Schutzerforderlichkeit und situationsangemessener Leitbildausgleich
1. Verhältnismäßigkeit der haustürspezifi schen Ausgleichsmaßnahmen
2. Die verbraucherrechtliche Leitbildtreue der Fernabsatzrichtlinie
a) Die Verhältnismäßigkeit der vor- und nachvertraglichen Aufklärungspfl ichten
b) Das Widerrufsrecht der Fernabsatzrichtlinie
3. Die Verbraucherleitbildkongruenz der Verbraucherkreditrichtlinie
4. Die gegenständliche Leitbildkonvergenz der Klauselkontrolle
a) Das Transparenz- und Informationsdefi zit bei »standard forms«
b) Einseitige Vertragsgestaltungsmacht bei »adhesion terms«
5. Die defi zitäre Leitbildkonvergenz der Timesharingrichtlinie
a) Verarbeitungskapazitäten und Umfang der Informationspfl ichten
b) Leitbildkonvergenz des timesharingbezogenen Widerrufsrechts
6. Die fehlende Leitbildkongruenz der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie
a) Das Fehlen eines objektiven Schutzauslösers beim Verbrauchsgüterkauf
b) Fehlende Schutzsituation und Missachtung des Wettbewerbsvorrangs
IV. Leitbildkonvergenz der subjektiven Geltungsbereichseingrenzung (b2c)
1. Persönliche Geltungsbereichsbegrenzung der Haustürgeschäfterichtlinie
2. Die Beschränkung auf b2c-Situationen bei Fernabsatzgeschäften
3. Die persönliche Leitbildtreue der Verbraucherkreditrichtlinie
4. Die AGB-kontrollrechtliche Geltungsbereichseinschränkung
5. Die Bereichsbegrenzung der Timesharingrichtlinie auf b2c-Situationen
V. Ius cogens und Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung
1. Kompetenzüberschreitung durch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie
2. Kompetenzwahrung und zwingende Ausgestaltung bei Haustürgeschäften
3. Die zwingende Ausgestaltung durch die Fernabsatzrichtlinie
4. Das kollisionsrechtliche Umsetzungsdefi zit bei Verbraucherkrediten
5. Binnenmarktkonvergenz der (Klausel-) Missbrauchskontrolle
6. Die kollisionsrechtlich leitbilddefi zitäre Ausgestaltung des Timesharing
B. Fehlende Rechtfertigung und Anpassungsbedarf
I. Sachliche Rechtfertigung der Leitbilddiskrepanzen?
1. Leitbildheterogenität und unterschiedlicher Systemzusammenhang
2. Der Unternehmer als alleiniger Normadressat?
3. Die Beeinfl ussung des Verbraucherleitbilds durch situative Elemente
II. Gegenständliche Leitbildüberschreitung und Anpassungsbedarf
§ 24 Die Begriffsspaltung des deutschen Kaufmannstypus
A. Die Grundpfeiler der subjektiven Abgrenzung des Kaufmannsbegriffs
I. Der materielle Typus des Kaufmanns kraft Gewerbebetriebs
II. Fehlende Leitbildkonvergenz der Registerpfl icht bei Einzelunternehmern
III. Formkaufl eute (§ 6 HGB) und Handelsgesellschaften
1. (Form-) Kaufmannseigenschaft juristischer Personen
2. Die marginale personengesellschaftsrechtliche Leitbilddivergenz
B. Defi zitäre Umsetzung bei Freiberufl ern und Kleingewerbetreibenden
I. Die Sonderbehandlung von Berufsträgern mit freiberufl icher Tätigkeit
1. Die fehlende Rechtfertigung für die Ausklammerung
2. Standesrechtliche Organisation und vertragsorientierter Marktauftritt
3. Bedeutungsgehalt des § 5 HGB – eine Argumentationsgrundlage?
4. Verbraucher- und gesellschaftsrechtliche Vergleichsbetrachtung
II. Fehlende Kaufmannseigenschaft unselbstständig berufstätiger Personen
III. Kleingewerbetreibende – Eintragungsoption mit konstitutiver Wirkung
1. Sachgrund für die Sonderbehandlung von Kleingewerbetreibenden?
a) Schutzbedürftigkeit wegen defi zitärer Geschäftserfahrenheit?
b) § 2 HGB und verbraucherrechtlicher Unternehmerbegriff
2. Schutzbedarf des Klein- gegenüber dem Großunternehmer?
a) Regelungsgehalt und mangelnde Verallgemeinerungsfähigkeit von § 354a HGB
b) Die EG-rechtliche Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)
3. Eintragungsunabhängige Anwendung der §§ 343 ff. HGB
4. Letztverkäuferregress – Gebot zur dispositiven Ausgestaltung?
C. Einseitige Handelsgeschäfte – neuralgischer Punkt der Abgrenzung
I. Rechtspolitische Bedenken und verfassungsrechtliche Fragestellung
II. Einseitige Handelsgeschäfte zu Lasten des Nichtunternehmers
1. Die Zinsverbotslockerung in Kontokorrentverhältnissen
2. Akzessorietätslockerung für Sicherheiten bei Kontokorrenten
3. Pfändung des Zustellungssaldos beim Kontokorrent
4. Einseitige Handelsgeschäfte beim Handelskauf
III. Resümierende Auswertung der einseitigen Handelsgeschäfte
D. Erzeugung von Leitbildtreue: Auslegungs- oder Gesetzeskorrektur?
I. Möglichkeit und Zulässigkeit von Analogiebildungen
1. Canaris: Analogiebildung im Einzelfall
2. Die Generalisierung der HGB-Sondernormen bei Neuner
3. K. Schmidts Plädoyer für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung
a) Ausgangsbetrachtung und Rechtsfortbildungsansatz
b) Die methodologischen Hürden der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung
II. Keine teleologische Reduktion: Appell an den Gesetzgeber
§ 25 Zwischenresultat und vorläufi ge Auswertung
6. Kapitel Grundfreiheiten und Marktliberalisierung
§ 26 Unternehmerleitbild und Freiheitsschutz der Grundfreiheiten
A. Leitbilderwägungen und institutionelle Marktfreiheit
B. Die grundfreiheitliche Stellung des Handelsvertragsrechts
C. Grundfreiheiten und Verbrauchervertragsrecht
§ 27 Der Rechtsfortbildungsstand der Grundfreiheiten
A. Gemeinsamer Rechtsfortbildungsstand der Grundfreiheiten
I. Stufenbau und Grundfreiheitenbindung
1. Grundfreiheiten, Richtlinien und nationales Verbrauchervertragsrecht
2. Bindung der Gemeinschaftsorgane an die Grundfreiheiten
3. Die Verbotsdichte der Gemeinschaftsbindung
II. Inländergleichbehandlung und Beschränkungsverbot
B. Rechtsfortbildungsbesonderheiten der einzelnen Grundfreiheiten
I. Freier Warenverkehr: Produktregelungen und Verkaufsmodalitäten
II. Die Dienstleistungsfreiheit als allgemeines Beschränkungsverbot
III. Freizügigkeit/Niederlassungsfreiheit – allgemeine Beschränkungsverbote
§ 28 Binnenmarktkonvergenz des Privatrechts
A. Grundfreiheitliche Würdigung der Dreiteilung an sich
I. Rechtsordnungsunterschiede und Maßgeblichkeit der Erlassebene
II. Würdigung der vertragsrechtlichen Rechtsordnungsunterschiede
B. Die Prüfung privatrechtlicher Normen an den Grundfreiheiten
I. Die Beurteilung der mittelbaren Behinderungseignung in der Literatur
II. Anhaltspunkte zur Behinderungseignung in der EuGH-Rechtsprechung
III. Die ausschließliche Grundfreiheitenrelevanz zwingenden Rechts
C. Verkaufs- und Produktmodalitäten im Vertragsrecht
I. Vertragsexistenz und Modalitäten der Vertragsdurchführung
II. Die Konkretisierung vertriebsbezogener Maßnahmen durch den EuGH
§ 29 Verbrauchervertragsrecht und Grundfreiheiten
A. Die Beurteilung der verbraucherrechtlichen Kollisionsnormen
I. Meinungen zum kollisionsrechtlichen Regelungsgehalt der Grundfreiheiten
II. Auswertung des kollisionsrechtlichen Regelungsgehalts
III. Die Art. 27 Abs. 3, Art. 29 und 29a EGBGB vor den Grundfreiheiten
1. Art. 27 Abs. 3 EGBGB bei Sachverhaltsverbindung mit einem Staat
2. Die verbraucherrechtliche Sonderverweisung des Art. 29 EGBGB
3. Die EG-bezogene Rückverweisung des Art. 29a EGBGB
B. Die Beurteilung des zwingenden Sachvertragsrechts
I. Die grundfreiheitliche Beurteilung von Informationspfl ichten
1. Die generelle Beurteilung von Aufklärungspfl ichten
2. Interdependenz zwischen Sprachregime und Beeinträchtigungswirkung
a) Das Sprachregime der harmonisierten Informationspfl ichten
b) Das Zusammentreffen von Sprachumsetzungs und Informationspfl ichten
c) Die Grundfreiheitenwidrigkeit der timesharingbezogenen Informationspflichten
II. Verlängerung der Überlegungsfrist durch Widerrufsrechte
III. Grundfreiheiten und verbraucherrechtliche Inhaltskontrolle
1. Die AGB-Missbrauchskontrolle – eine produktbezogene Regelung?
2. Der produktregelnde Charakter der Sachmängelregelungen
C. Zusammenfassung und Auswertung
§ 30 Die gruppenspezifi sche Sonderbehandlung im Handelsrecht
A. Die Problematik um die Anknüpfung handelsrechtlicher Normen
I. Die Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im europäischen Vergleich
II. Die deutsche Literatur zur Anknüpfung des Kaufmannsbegriffs
1. Anknüpfung an den Ort der gewerblichen Niederlassung
2. Van Venrooys Anknüpfung an dem Sinngehalt der Sachnorm
3. Präferenzbestrebungen zum Wirkungsstatut (lex causae)
4. Interessenlage der Vertragsparteien bezüglich der Anknüpfungsfrage
III. Kollisionsrechtliche Lösungsmöglichkeiten anderer Rechtsordnungen
1. Das französische Handelsrecht – Vergleichbarkeit zu Deutschland
2. Das österreichische Handelsrecht: Genereller Unternehmerbezug
3. Italien – ehemals kaufmannsbezogene Anknüpfung
4. Englisches common law – kein besonderes Handelsrecht
IV. Kollisionsrechtliche Lösungsmöglichkeiten anderer Rechtsordnungen
B. Sondervorschriften zur Vertragsstrafe und zur Formfreiheit
I. Die HGB-Liberalisierung bei Vertragsstrafeversprechen (§ 348 HGB)
II. Die HGB-spezifische Erweiterung von Erwerb und Abtretbarkeit
III. »(Kaufmann-) Erleichterung« von BGB-Formvorschriften (§ 350 HGB)
1. Die Grundfreiheitenrelevanz der bürgschaftsrechtlichen Formvorschrift
a) Die Ermittlung des Bürgschafts- und Formstatuts
b) Die »faktische« Unabdingbarkeit der Formbefreiung
2. »Exempel 1«: Bürgschaft eines EU-ausländischen Architekten
a) Der Produktcharakter der Bürgschaftsform
b) Die Reichweite der Formbefreiung in den einzelnen Mitgliedstaaten
c) Anknüpfung nach dem Ort der gewerblichen Niederlassung
d) Anknüpfung nach dem Sinngehalt der Sachnorm bzw. nach der lex causae
3. »Exempel 2«: Bürgschaft eines deutschen Architekten
4. »Exempel 1 und 2«: Rechtfertigungsmöglichkeit nach Cassis
C. Fehlende Folgerichtigkeit der Kaufmannseigenschaft
§ 31 Zusammenfassung und Résumé der Grundfreiheitenprüfung
Abschließendes Kapitel Zusammenfassung und Thesenbildung
§ 32 Die Ausgangsproblematik der Vertragsrechtsdivergenz
§ 33 Die Geschichtsrelevanz der (sonder-) privatrechtlichen Dreiteilung
§ 34 Der Bedeutungsgehalt des Begriffs »Sonderprivatrecht«
§ 35 Die Sonderprivatrechte im Lichte der Systemvorgaben
§ 36 Begriffsimmanenz des Gleichheits und Freiheitsausgleichs?
§ 37 Drittwirkungsgehalt und Schutzpflichtenlehre
§ 38 Prinzipienbildung durch Leitbilderwägungen
§ 39 Typisierungskonvergenz des Handels und Verbraucherrechts
§ 40 »Privatrechtliche Marktliberalisierung« und Grundfreiheitenkonvergenz
§ 41 Resümierende Thesen zur Vertragsrechtsdivergenz
Literatur
Register

Citation preview

J US PR I VAT UM Beiträge zum Privatrecht Band 139

Christoph Reymann

Das Sonderprivatrecht der Handels- und Verbraucherverträge Einheit, Freiheit und Gleichheit im Privatrecht

Mohr Siebeck

Christoph Reymann, geboren 1974; 1994–1999 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität des Saarlandes mit Auslandssemester an der University of Warwick; 1997–1999, 2000 Lehrstuhlmitarbeiter am Seminar für Völkerrecht; 2000–2002 Referendar; 2002– 2003 Steuerrechtliche Zusatzqualifi kation und Tax/Corporate-Tätigkeit in einer Großkanzlei; 2003 Magister am Europa-Institut in Saarbrücken; 2003 Promotion; seit 2003 Notarassessor; seit 2006 Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes; seit 2008 Referent am Deutschen Notarinstitut; 2008 Habilitation an der Universität des Saarlandes und Erwerb der venia legendi für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Europarecht, Rechtsvergleichung und Internationales Privatrecht.

e-ISBN PDF 978-3-16-151216-2 ISBN 978-3-16-149865-7 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Sabon-Antiqua gesetzt, von GuldeDruck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Meinen Eltern

Vorwort Man mag das Bestreben, durch rechtsdogmatische Modellüberlegungen den Einheits- und Freiheitsanspruch im Vertragsrecht anhand der Dreiteilung zwischen dem klassischen bürgerlichen Recht und den Sonderprivatrechten der Handels- und Verbraucherverträge wiederherzustellen, auf den ersten Blick dem »Reich der Gedankengebäude« zuordnen. Gleichwohl waren es vor allem auch kautelarjuristische Erfahrungen in der Praxis, welche die vorliegende Abhandlung inspiriert haben. Herausgekommen ist als Ansatz, das Verbraucher- und Unternehmerleitbild als einheitsstiftende Rechtsprinzipien der Vertragsfreiheit zu begreifen. Dieser Grundgedanke, der als Kontroll- und Legitimationsmaßstab für einfachgesetzliche Vertragsrechtsnormen zum Einsatz gelangen könnte, ist gleichsam als Plädoyer an die Reformisten des acquis communautaire und den deutschen Gesetzgeber zu begreifen, bei der Fortbildung des Vertragsrechts die aufgezeigten Widersprüche im Gesamtsystem zu beseitigen und das Postulat der »Gleichheit in Freiheit« zu beherzigen. Denn »[e]s ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden« (Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre III). Die Arbeit wurde im Sommersemester 2008 mit dem Stand »Dezember 2007« von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes als Habilitationsschrift angenommen; sie wurde im Sommer 2008 geringfügig aktualisiert und in die vorliegende Publikationsfassung überführt. Herr Univ.-Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, M. C. J., der schon meine Doktorarbeit betreute, hat sie liberal und durch bedeutende Impulse gefördert; auch im Übrigen möchte ich ihm herzlich dafür danken, dass er mich in vielfältiger Hinsicht fachlich und persönlich gefördert hat. Die Ausarbeitung erfolgte im Laufe meiner Tätigkeit als Notarassessor und ist von dem Vorstand der Saarländischen Notarkammer u. a. durch zeitweise erfolgte Freistellungen ermöglicht worden. Herrn Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann bin ich verbunden, dass er in nur kurzer Zeit die Erstellung des Zweitgutachtens übernommen hat. Für wertvolle Hinweise danke ich auch Herrn Prof. Dr. Günther Hönn, der trotz seiner Emeritierung nobile officio kraft besonderer Sachkunde in das Habilitationsverfahren einbezogen worden ist.

VIII

Vorwort

Zu danken ist ferner der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die großzügige Publikationsbeihilfe. Die Drucklegung wurde außerdem durch die »Vereinigung der Freunde der Universität des Saarlandes e. V.« unterstützt. Saarbrücken, im August 2008

Christoph Reymann

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXI

Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik . . . . . .

1

§ 1 Privatrecht und vertragsrechtliche Sonderordnungen . . . . . .

2

§ 2 Die handels- und verbraucherrechtliche Sonderrechtsbildung . .

8

§ 3 Dreiteilung der Vertragsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . .

19

§ 4 Die Systembeeinflussung durch Einheits- und Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

§ 5 Suche nach dem »inneren« System und Aufbau der Arbeit . . .

41

1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

§ 6 Geschichtsrelevanz als systemteilungsbedingte Ausgangskoordinate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

§ 7 – BGB –: Basis und Vergleichsmaßstab der Vertragsrechtsdivergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

§ 8 – Recht der Handelsverträge –: Kausalfaktoren und Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

§ 9 – Verbrauchervertragsrecht –: Chronologie und Sondergehalt

78

§ 10 Zusammenfassung des Bisherigen und Programmthese . . . . .

101

2. Kapitel: Sondervertragliche Systemvorgaben der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

§ 11 Begriff der Sonderprivatrechte – Systembegriff des Vertragsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

X

Inhaltsübersicht

§ 12 Etatismus und Dualismus – makrojuristische Weichenstellung

122

§ 13 Vertragsrechtsdivergenz und Einheit der Wirtschaftsverfassung

140

§ 14 Zusammenfassung und grundsätzliche Maßstabsbildung. . . .

159

3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

§ 15 Dogmatische Aufbereitung von Gleichheit und Freiheit. . . . .

162

§ 16 Prämissen und Maßstab der Gleichheits- und Freiheitsdivergenz

167

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung . . . .

177

§ 18 Zusammenfassende Auswertung und weiterer Prüfungsbedarf

237

4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

§ 19 (Un-)Mittelbare Drittwirkung – Vorgaben für die Normgestaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

§ 20 Die vertragsrechtlichen Schutzpfl ichten des Staates . . . . . . .

247

§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung

256

§ 22 Privatrechtliche Leitbilder als legislative Differenzierungsgebote

304

5. Kapitel: Typisierungskonvergenz des Handels-/ Verbraucherrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

§ 23 Leitbildkongruenz des Verbrauchervertragsrechts. . . . . . . .

307

§ 24 Die Begriffsspaltung des deutschen Kaufmannstypus . . . . . .

358

§ 25 Zwischenresultat und vorläufige Auswertung . . . . . . . . . .

399

6. Kapitel: Grundfreiheiten und Marktliberalisierung . . . .

403

§ 26 Unternehmerleitbild und Freiheitsschutz der Grundfreiheiten. .

403

§ 27 Der Rechtsfortbildungsstand der Grundfreiheiten . . . . . . .

408

§ 28 Binnenmarktkonvergenz des Privatrechts . . . . . . . . . . . .

422

§ 29 Verbrauchervertragsrecht und Grundfreiheiten . . . . . . . . .

432

§ 30 Die gruppenspezifische Sonderbehandlung im Handelsrecht . .

455

§ 31 Zusammenfassung und Résumé der Grundfreiheitenprüfung. .

491

Inhaltsübersicht

XI

Abschließendes Kapitel: Zusammenfassung und Thesenbildung . . . . . . . . . . . . .

493

§ 32 Die Ausgangsproblematik der Vertragsrechtsdivergenz . . . . .

493

§ 33 Die Geschichtsrelevanz der (sonder-) privatrechtlichen Dreiteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

495

§ 34 Der Bedeutungsgehalt des Begriffs »Sonderprivatrecht« . . . .

497

§ 35 Die Sonderprivatrechte im Lichte der Systemvorgaben . . . . .

498

§ 36 Begriffsimmanenz des Gleichheits- und Freiheitsausgleichs? . .

499

§ 37 Drittwirkungsgehalt und Schutzpfl ichtenlehre . . . . . . . . .

502

§ 38 Prinzipienbildung durch Leitbilderwägungen . . . . . . . . . .

504

§ 39 Typisierungskonvergenz des Handels- und Verbraucherrechts

505

§ 40 »Privatrechtliche Marktliberalisierung« und Grundfreiheitenkonvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

507

§ 41 Resümierende Thesen zur Vertragsrechtsdivergenz . . . . . . .

511

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

513 561

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXI

Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik. . . . . . .

1

§ 1 Privatrecht und vertragsrechtliche Sonderordnungen. . . . . .

2

A. Die typisierende Ungleichbehandlung durch Sonderprivatrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Repräsentationsgehalt des Handels- und Verbraucherrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Die handels- und verbraucherrechtliche Sonderrechtsbildung A. Die Charakteristika des Handelsvertragsrechts . . . . . . . I. Die gesteigerte Selbstverantwortlichkeit der Kaufleute II. Die Vermutung der Entgeltlichkeit des Geschäftsverkehrs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sorgfaltsmaßstab und Beschleunigung des Handelsverkehrs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der ausgeprägte Verkehrs- und Vertrauensschutz des Handelsverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Umsetzungsinstrumente des Verbraucherrechts . . . . . I. Informationspfl ichten – marktkomplementäre Schutzinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Verlängerung der Überlegungsfrist durch Widerrufsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Verbraucherschutzinstrument der Inhaltskontrolle IV. Sonderanknüpfung – Verhinderung der Rechtswahlflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 6 8 8 8 10 11 12 13 14 15 17 18

XIV

Inhaltsverzeichnis

§ 3 Dreiteilung der Vertragsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . .

19

A. Sondervertragsrechte und Diskrepanz der Freiheitsgewähr . B. Subsidiaritätsprinzip und Vertragsrechtsdivergenz. . . . . .

21 22

§ 4 Die Systembeeinfl ussung durch Einheitsund Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

A. Der Integrationsansatz des internationalen Einheitsrechts . . B. Eingriffscharakter und fehlendes Eigensystem des EGRechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorrang der Richtlinie – Angleichung vor Vereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die gemeinschaftsrechtliche Ignoranz der Kaufmannsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Bestrebungen für ein europäisches Zivilgesetzbuch . . . . . I. Der gemeinsame Referenzrahmen (GRR). . . . . . . . II. Das Netzwerk der Exzellenz (CoPECL) . . . . . . . . D. Die verbraucherrechtliche Remanipulation des bürgerlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Auseinandersetzung mit der bürgerlich-rechtlichen Remanipulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der unechte Verbraucherschutz der Pauschalreiserichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

§ 5 Suche nach dem »inneren« System und Aufbau der Arbeit . . .

41

1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

§ 6 Geschichtsrelevanz als systemteilungsbedingte Ausgangskoordinate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

§ 7 – BGB –: Basis und Vergleichsmaßstab der Vertragsrechtsdivergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

A. Die Schrittmacherfunktion der Grundrechte als objektive Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der exemplarische Rechtsprechungswandel bei Bürgschaften und Eheverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Keine Typisierung eines bürgerlich-rechtlichen Schwächerenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 29 30 31 33 36 38 39

48 50 52

Inhaltsverzeichnis

§ 8 – Recht der Handelsverträge –: Kausalfaktoren und Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Rezeption und handelsrechtliche Kodifi kationen . . . . . . B. Handelsrechtliche Entwürfe und Kodifi kationsgenese . . . . I. Die Kodifi kation des Allgemeinen Deutschen Handelsrechts (ADHGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aufbau und Inhalt des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Empfehlung zur Weiterführung eines gesonderten Handelsgesetzbuchs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. »Kleine« Kodifi kationslösung und Systemwechsel zur Sonderkodifi kation . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Handelsrecht: (Standes-) Sonderrecht der Außenbeziehungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die mangelnde Adaptionsfähigkeit der HGB-Dogmatik . . . E. Kritik des Kaufmannsbegriffs und Systemanalysen des Handelsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kausale Erklärungsmodelle der handelsrechtlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die relative Theorie des Handelsrechts . . . . . . . a) Einheitstheorie und Korrelationsthese . . . . . . b) Die Reaktionen des Schrifttums auf die Einheitsbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Goldschmidts entwicklungsgeschichtliche Innovationsbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die »Dreistufen«-Ursachendefi nition von Gareis . . II. Auswertung der Thesen zur Existenzberechtigung des Handelsrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9 – Verbrauchervertragsrecht –: Chronologie und Sondergehalt A. Anfänge der Verbraucherrechtskodifi kation und Systemspaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die EG-rechtliche Beeinflussung der Verbraucherrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Verbraucherprogramme des Rates . . . . . . . . . II. Verbraucherschutz in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verbraucherschutz im liberalen Binnenmarktkonzept IV. Etablierung der Verbraucherpolitik durch den Vertrag von Maastricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV 54 56 57 59 60 61 62 64 65 68 69 70 70 71 72 73 75 78 78 83 84 84 85 86

XVI

Inhaltsverzeichnis

V.

Die Komplettierung der Verbraucherpolitik durch Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Selbstkritische Überarbeitung des verbraucherrechtlichen »acquis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Entwicklung und sozio-juristische Rahmenbedingungen . . I. Wegfall des Zunftwesens und Bedarf nach Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die sozio-ökonomische Fortentwicklung seit der Verabschiedung des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Verbraucherschutzdebatte und Modellspaltung im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88 89 91 92 95 98

§ 10 Zusammenfassung des Bisherigen und Programmthese . . . .

101

2. Kapitel: Sondervertragliche Systemvorgaben der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

§ 11 Begriff der Sonderprivatrechte – Systembegriff des Vertragsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

A. Inhaltliche Spezifitäten als sonderprivatrechtliche Normmerkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Spezialität des Handels- gegenüber dem allgemeinen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Exklusivität und Spezialität des Verbraucherrechts . . . III. Exklusivitätsregelungen jenseits der Sonderprivatrechte B. Aufspaltung in Nebengesetze und Kriterien der äußeren Systembildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der fehlende Aussagegehalt der formalen Ausgliederung II. »Dekodifi kationsbewegungen« ohne eigenen Systemgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sachliche Durchdringung versus formale Segregation C. Kriterien des inneren Systems: Sonderprivatrechtliche Kausalfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Pandekten als Systematisierungsfaktor – Herkunft und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. F. Bydlinskis sonderprivatrechtliche Integrationsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Stellung des Handels- und Verbraucherrechts zu den Pandekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105 106 107 108 109 109 111 112 113 114 116 118

Inhaltsverzeichnis

XVII

I.

Das Handelsrecht als Sonderprivatrecht mit defi zitärer Abgrenzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Fehlender Sonderprivatrechtsgehalt des Verbraucherprivatrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Pandektenexterne Freiheits- und Gleichheitstypisierung . . .

119 120

§ 12 Etatismus und Dualismus – makrojuristische Weichenstellung

122

A. Staatliche Normenhierarchie und Selbstständigkeit des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Zweiteilung der Rechtsordnung in öffentliches und privates Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Traditionelle Verortung des Vertragsrechts . . . . . . . II. Historie und status quo der Rechtsordnungsdichotomie III. Die Stellung des Vertragsrechts in der Rechtsordnungsdichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbrauchervertragsrecht und Gemeinwohlbezug . . 2. Verbraucherrecht und subordinative Markterhaltung IV. Jüngste Entwicklung der rechtsordnungsbezogenen Dichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Legitimität der Gemeinwohlorientierung des Verbraucherrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dänische Dichotomieproblematik durch die Verbraucherrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zweiteilung und Verbraucherrecht aus deutscher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Registersubsidiarität und »Pufferfunktion« des Wettbewerbs(-rechts) . . . . . . . . . . . . . . . . § 13 Vertragsrechtsdivergenz und Einheit der Wirtschaftsverfassung A. Supranationale Einflussebene und vertragsrechtliche Dreiteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wechselwirkungen zwischen Wirtschafts- und Vertragsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Vertragsfreiheit und Pluralität der Wirtschaftsverfassung . . I. Das BGB als Modell des Empfängerschutzes prozeduraler Fairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inhaltliche Fairness – kein Grundsatz des Vertragsrechtsfundaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Materiale Selbstbestimmung und prozedurale Fairness 1. Verlagerung der Selbst- und Fremdverantwortung durch ius cogens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

123 125 125 126 129 130 131 132 134 135 136 138 140 141 142 144 145 147 149 149

XVIII

Inhaltsverzeichnis

2. Kollisionsrechtliche Besonderheiten des Verbraucherrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das transzendierte Freiheitsverständnis des Handelsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Modifi zierung von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verkehrstypisches Verhalten als privatautonome Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Grundrechte und Grundfreiheiten: substanzielle Verbindungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Freiheitspostulate der Grundrechte – einheitsstiftender Faktor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grundfreiheiten – wirtschaftsverfassungsrechtlicher Referenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151 153 154 155 157 157 159

§ 14 Zusammenfassung und grundsätzliche Maßstabsbildung . . .

159

3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

§ 15 Dogmatische Aufbereitung von Gleichheit und Freiheit . . . .

162

A. Dienende Funktion der Gleichheit zur Freiheitsausgestaltung B. Privatautonomie – Ausgestaltung und Gewährleistung . . .

163 164

§ 16 Prämissen und Maßstab der Gleichheits- und Freiheitsdivergenz A. Die individualisierte Willenserforschung im Rahmen des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das besitzende Bürgertum als heimlicher Normadressat des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das grundrechtliche Anpassungsdefi zit der Sondervertragsrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die mangelnde Progressionstauglichkeit der Verbraucherrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Antiquiertheit der kaufmannsbezogenen Abgrenzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Typisierung und richterliche »Entscheidungsschranken« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die schleichende Ausweitung der EuGH-Kompetenzen

167 167 169 170 171 173 174 175

Inhaltsverzeichnis

XIX

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung. . . .

177

A. Vertragsrechtsmodelle in der Literatur . . . . . . . . . . . . I. Schmidt-Rimpler und die Lehre von der Richtigkeitsgewähr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Flume – Privatautonome Gestaltung und Wesen der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. M. Wolfs Theorie der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Dauner-Lieb – »Liberales Informationsmodell« . . . . V. Hönn – Multidimensionale Struktur der gestörten Vertragsparität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. L. Raiser – Soziale Funktion und Aufteilung nach Lebensbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Reifners prinzipielle und symptomatische Zivilrechtskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Reichs sozialwissenschaftliches Verbraucherschutzmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Ökonomische Analyse des Rechts – Maßstab der Vertragsrechtsordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ökonomische Rechtsanalyse und Vertragsrecht . . . 2. Ökonomische Analyse – Legitimation der Vertragsrechtsspaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. (Sonder-) Vertragskonzeption im Rechtsordnungsvergleich I. Die kontinentalen Gesetzgebungen mit dualistischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Französisches Vertragsrecht – Willensprinzip und Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsrecht in Belgien – französische Wurzeln und Fortentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vertragsrecht in Spanien – Zentralgewalt und Comunidades Autónomas . . . . . . . . . . . . . . II. Österreich – Assimilierung von Unternehmerrecht und Verbraucherrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die kontinentalen Gesetzgebungen mit monistischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das integrierte Zivil- und Handelsrecht in Italien . . 2. Niederlande – Burgerlijk Wetboek und Verbraucherrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Litauen – Marktwirtschaft und monistisches Vertragsrechtssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Kooperationsgesetzgebung der nordischen Staaten

179 179 182 184 187 190 193 196 198 201 202 204 206 207 207 211 213 217 219 220 223 225 227

XX

Inhaltsverzeichnis

1. Vertragsgesetz und traditioneller Verbraucherschutz in Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schweden – ein weiteres Beispiel nordischer Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertragsrecht und common law – schwache Ansätze einer Systemdivergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Vertragsrecht nach common law historisch betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materialisierungstendenzen und Instrumentalisierung des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . .

234

§ 18 Zusammenfassende Auswertung und weiterer Prüfungsbedarf

237

4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

§ 19 (Un-)Mittelbare Drittwirkung – Vorgaben für die Normgestaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

V.

A. Gesetzgeberische Grundrechtsbindung bei (Privatrechts-) Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Drittwirkungsproblematik im Handels- und bürgerlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die EG-rechtliche Drittwirkungsproblematik im Verbraucherrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbare Grundrechtsbindung im Verbraucherrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsdogmatische Besonderheiten im Verbraucherrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Systemvorgaben durch die Drittwirkung der Grundfreiheiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20 Die vertragsrechtlichen Schutzpflichten des Staates . . . . . . A. Grundrechtliche Schutzpfl ichten – symmetrischer Grundrechtsschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Wirkungsgehalt der grundrechtlichen Schutzpfl ichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Vorrang der dezentralisierten Eigenverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227 229 232 232

240 241 242 242 244 245 247 247 248 249

Inhaltsverzeichnis

XXI

III. Die mangelnde Generalisierungseignung der Schutzpfl ichtenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Deliberalisierungswirkung der Grundfreiheiten . . . . . I. Urteil »désordre public« als Anerkennung von Schutzpfl ichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundfreiheitliche Schutzpfl ichten und Privatrecht. . .

252 254

§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung

256

A. Die Peronenbilder als rollenspezifische Rechtsprinzipien. . . I. Leitbilder als empirisch-normative Sachgründe. . . . . II. Die Legitimationseignung der sonderprivatrechtlichen Personenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Leitbild und Personenbild der (Sonder-) Vertragsrechte . . . I. Das Personenbild des homo oeconomicus als Vertragsrechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. (Verbraucher-) Personenbild – soziologische Leitbildmodifi zierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbraucherleitbild und Verbraucherbegriff . . . . . 2. Die Notwendigkeit perspektivischer Konzentration . 3. Das Verbraucherleitbild im primärrechtlichen Koordinatensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verbraucherschutz als zwingendes Allgemeininteresse der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . b) Keine übertriebenen Anforderungen an Produktangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zugang zu wahren Informationen und situationsspezifische Leitbildflexibilität . . . . . . . . . . . d) Das Leitbild des verständigen Durchschnittsverbrauchers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verbraucherschutz durch die Europäische Grundrechte-Charta (GRCh) . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lokalisierung der Normvorgaben für das Verbraucherleitbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Unternehmerleitbild als Personenbild des Handelsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Aussagegehalt des Unternehmerleitbilds. . . . . 2. Ableitung des Unternehmerleitbilds aus den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die unternehmerische Freiheit nach der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) . . . .

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XXII

Inhaltsverzeichnis

3. 4. 5. 6. 7.

8.

b) Die Rechtsprechung des EuGH zum unternehmerischen Grundrechtsschutz . . . . . . . . . (1) Freiheit zur Ausübung einer Geschäftstätigkeit und Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . (2) Vertrauensschutz und Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit . . . . . . . . . . (3) Die Privatautonomie als notwendiger Bestandteil der unternehmerischen Freiheit . . . . . . (4) Die Vertragsabschlussfreiheit als Ausfluss der Berufsausübungsfreiheit . . . . . . . . . . . . (5) Vertragsfreiheit und der Eigentumsschutz wohlerworbener Rechte . . . . . . . . . . . . c) Die Unternehmerfreiheit in den EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfassungen mit ausdrücklicher Unternehmerfreiheitsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Unternehmerfreiheit als Konglomerat mehrerer Grundrechtsgarantien . . . . . . . . Der negative Aussagegehalt der Cassis-Grundfreiheitendogmatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . Die freiheitswahrende Funktion der Wettbewerbsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Unternehmerleitbild des umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers . . . . . . . . . . . . . . . Keine Gleichsetzung von Leitbild und Kaufmannsprofi l . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitbildkonkretisierung und Unternehmensbegriff . a) Der Umweg der Unternehmensausrichtung . . . . b) Die indirekten Leitbildaussagen des Unternehmensbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Unternehmer als berufs- und gemeinschaftsrechtlich induzierter Leitbegriff . . . . . . . . . . Lokalisierung der Normvorgaben für das Unternehmerleitbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 22 Privatrechtliche Leitbilder als legislative Differenzierungsgebote

280 280 281 283 284 285 285 286 287 289 290 291 293 296 296 298 300 301 304

Inhaltsverzeichnis

XXIII

5. Kapitel: Typisierungskonvergenz des Handels-/ Verbraucherrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

§ 23 Leitbildkongruenz des Verbrauchervertragsrechts . . . . . . .

307

A. (Leit-) Typusabbildung durch die Verbraucherrichtlinien . . I. Das Verhältnis zwischen b2c-Begegnungen und Leitbilderwägungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wirtschaftliche Schwäche des Verbrauchers als Leitbilderwägung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verneinung einer rollensoziologischen Verbraucherposition . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Marktstruktur und moderne Informationstheorie . . II. Die objektive Situationseingrenzung als entscheidendes Leitbildventil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schutzerforderlichkeit und situationsangemessener Leitbildausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnismäßigkeit der haustürspezifischen Ausgleichsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die verbraucherrechtliche Leitbildtreue der Fernabsatzrichtlinie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verhältnismäßigkeit der vor- und nachvertraglichen Aufklärungspfl ichten . . . . . . . . b) Das Widerrufsrecht der Fernabsatzrichtlinie . . . 3. Die Verbraucherleitbildkongruenz der Verbraucherkreditrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die gegenständliche Leitbildkonvergenz der Klauselkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Transparenz- und Informationsdefi zit bei »standard forms« . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einseitige Vertragsgestaltungsmacht bei »adhesion terms« . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die defi zitäre Leitbildkonvergenz der Timesharingrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verarbeitungskapazitäten und Umfang der Informationspfl ichten . . . . . . . . . . . . . . . b) Leitbildkonvergenz des timesharingbezogenen Widerrufsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die fehlende Leitbildkongruenz der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Fehlen eines objektiven Schutzauslösers beim Verbrauchsgüterkauf . . . . . . . . . . . . . . .

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XXIV

Inhaltsverzeichnis

b) Fehlende Schutzsituation und Missachtung des Wettbewerbsvorrangs . . . . . . . . . . . . . . . IV. Leitbildkonvergenz der subjektiven Geltungsbereichseingrenzung (b2c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Persönliche Geltungsbereichsbegrenzung der Haustürgeschäfterichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Beschränkung auf b2c-Situationen bei Fernabsatzgeschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die persönliche Leitbildtreue der Verbraucherkreditrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die AGB-kontrollrechtliche Geltungsbereichseinschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Bereichsbegrenzung der Timesharingrichtlinie auf b2c-Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ius cogens und Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kompetenzüberschreitung durch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kompetenzwahrung und zwingende Ausgestaltung bei Haustürgeschäften . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die zwingende Ausgestaltung durch die Fernabsatzrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das kollisionsrechtliche Umsetzungsdefi zit bei Verbraucherkrediten . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Binnenmarktkonvergenz der (Klausel-) Missbrauchskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die kollisionsrechtlich leitbilddefi zitäre Ausgestaltung des Timesharing . . . . . . . . . . . B. Fehlende Rechtfertigung und Anpassungsbedarf . . . . . . I. Sachliche Rechtfertigung der Leitbilddiskrepanzen? . . 1. Leitbildheterogenität und unterschiedlicher Systemzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Unternehmer als alleiniger Normadressat? . . . 3. Die Beeinflussung des Verbraucherleitbilds durch situative Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gegenständliche Leitbildüberschreitung und Anpassungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 24 Die Begriffsspaltung des deutschen Kaufmannstypus . . . . .

358

A. Die Grundpfeiler der subjektiven Abgrenzung des Kaufmannsbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

359

Inhaltsverzeichnis

Der materielle Typus des Kaufmanns kraft Gewerbebetriebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Fehlende Leitbildkonvergenz der Registerpfl icht bei Einzelunternehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Formkaufleute (§ 6 HGB) und Handelsgesellschaften . 1. (Form-) Kaufmannseigenschaft juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die marginale personengesellschaftsrechtliche Leitbilddivergenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Defi zitäre Umsetzung bei Freiberuflern und Kleingewerbetreibenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Sonderbehandlung von Berufsträgern mit freiberufl icher Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die fehlende Rechtfertigung für die Ausklammerung 2. Standesrechtliche Organisation und vertragsorientierter Marktauftritt . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutungsgehalt des § 5 HGB – eine Argumentationsgrundlage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verbraucher- und gesellschaftsrechtliche Vergleichsbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Fehlende Kaufmannseigenschaft unselbstständig berufstätiger Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kleingewerbetreibende – Eintragungsoption mit konstitutiver Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachgrund für die Sonderbehandlung von Kleingewerbetreibenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzbedürftigkeit wegen defi zitärer Geschäftserfahrenheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 2 HGB und verbraucherrechtlicher Unternehmerbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzbedarf des Klein- gegenüber dem Großunternehmer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelungsgehalt und mangelnde Verallgemeinerungsfähigkeit von § 354a HGB . . b) Die EG-rechtliche Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) . . . . . . . . . . 3. Eintragungsunabhängige Anwendung der §§ 343 ff. HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Letztverkäuferregress – Gebot zur dispositiven Ausgestaltung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Einseitige Handelsgeschäfte – neuralgischer Punkt der Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXV

I.

360 361 362 362 364 365 365 366 368 369 371 373 374 374 375 376 377 378 379 380 381 383

XXVI

Inhaltsverzeichnis

I.

Rechtspolitische Bedenken und verfassungsrechtliche Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einseitige Handelsgeschäfte zu Lasten des Nichtunternehmers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zinsverbotslockerung in Kontokorrentverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Akzessorietätslockerung für Sicherheiten bei Kontokorrenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Pfändung des Zustellungssaldos beim Kontokorrent 4. Einseitige Handelsgeschäfte beim Handelskauf . . . III. Resümierende Auswertung der einseitigen Handelsgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Erzeugung von Leitbildtreue: Auslegungs- oder Gesetzeskorrektur?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Möglichkeit und Zulässigkeit von Analogiebildungen . 1. Canaris: Analogiebildung im Einzelfall . . . . . . . 2. Die Generalisierung der HGB-Sondernormen bei Neuner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. K. Schmidts Plädoyer für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangsbetrachtung und Rechtsfortbildungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die methodologischen Hürden der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . II. Keine teleologische Reduktion: Appell an den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383 385 385 386 388 389 390 392 392 393 394 396 396 397 398

§ 25 Zwischenresultat und vorläufige Auswertung . . . . . . . . .

399

6. Kapitel: Grundfreiheiten und Marktliberalisierung . . . .

403

§ 26 Unternehmerleitbild und Freiheitsschutz der Grundfreiheiten

403

A. Leitbilderwägungen und institutionelle Marktfreiheit . . . . B. Die grundfreiheitliche Stellung des Handelsvertragsrechts. . C. Grundfreiheiten und Verbrauchervertragsrecht . . . . . . .

404 405 406

§ 27 Der Rechtsfortbildungsstand der Grundfreiheiten . . . . . . .

408

A. Gemeinsamer Rechtsfortbildungsstand der Grundfreiheiten. I. Stufenbau und Grundfreiheitenbindung . . . . . . . .

409 409

Inhaltsverzeichnis

1. Grundfreiheiten, Richtlinien und nationales Verbrauchervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . 2. Bindung der Gemeinschaftsorgane an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verbotsdichte der Gemeinschaftsbindung . . . . II. Inländergleichbehandlung und Beschränkungsverbot . B. Rechtsfortbildungsbesonderheiten der einzelnen Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Freier Warenverkehr: Produktregelungen und Verkaufsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Dienstleistungsfreiheit als allgemeines Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Freizügigkeit/Niederlassungsfreiheit – allgemeine Beschränkungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXVII 410 411 413 416 417 418 420 421

§ 28 Binnenmarktkonvergenz des Privatrechts. . . . . . . . . . . .

422

A. Grundfreiheitliche Würdigung der Dreiteilung an sich. . . . I. Rechtsordnungsunterschiede und Maßgeblichkeit der Erlassebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Würdigung der vertragsrechtlichen Rechtsordnungsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Prüfung privatrechtlicher Normen an den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Beurteilung der mittelbaren Behinderungseignung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anhaltspunkte zur Behinderungseignung in der EuGHRechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die ausschließliche Grundfreiheitenrelevanz zwingenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Verkaufs- und Produktmodalitäten im Vertragsrecht . . . . I. Vertragsexistenz und Modalitäten der Vertragsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Konkretisierung vertriebsbezogener Maßnahmen durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

422

§ 29 Verbrauchervertragsrecht und Grundfreiheiten. . . . . . . . .

432

A. Die Beurteilung der verbraucherrechtlichen Kollisionsnormen I. Meinungen zum kollisionsrechtlichen Regelungsgehalt der Grundfreiheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auswertung des kollisionsrechtlichen Regelungsgehalts

423 424 425 425 427 428 429 429 430

433 434 435

XXVIII

Inhaltsverzeichnis

III. Die Art. 27 Abs. 3, Art. 29 und 29a EGBGB vor den Grundfreiheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 27 Abs. 3 EGBGB bei Sachverhaltsverbindung mit einem Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die verbraucherrechtliche Sonderverweisung des Art. 29 EGBGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die EG-bezogene Rückverweisung des Art. 29a EGBGB . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Beurteilung des zwingenden Sachvertragsrechts . . . . . I. Die grundfreiheitliche Beurteilung von Informationspfl ichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die generelle Beurteilung von Aufklärungspfl ichten 2. Interdependenz zwischen Sprachregime und Beeinträchtigungswirkung . . . . . . . . . . . . . . a) Das Sprachregime der harmonisierten Informationspfl ichten . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Zusammentreffen von Sprachumsetzungsund Informationspfl ichten . . . . . . . . . . . . c) Die Grundfreiheitenwidrigkeit der timesharingbezogenen Informationspfl ichten . . . . . . . . . II. Verlängerung der Überlegungsfrist durch Widerrufsrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundfreiheiten und verbraucherrechtliche Inhaltskontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die AGB-Missbrauchskontrolle – eine produktbezogene Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der produktregelnde Charakter der Sachmängelregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung und Auswertung . . . . . . . . . . . . . § 30 Die gruppenspezifi sche Sonderbehandlung im Handelsrecht . . A. Die Problematik um die Anknüpfung handelsrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die deutsche Literatur zur Anknüpfung des Kaufmannsbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anknüpfung an den Ort der gewerblichen Niederlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Van Venrooys Anknüpfung an dem Sinngehalt der Sachnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

436 437 438 441 442 442 443 445 445 446 448 448 450 450 453 455 455

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456

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457

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459

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462

Inhaltsverzeichnis

3. Präferenzbestrebungen zum Wirkungsstatut (lex causae) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Interessenlage der Vertragsparteien bezüglich der Anknüpfungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kollisionsrechtliche Lösungsmöglichkeiten anderer Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das französische Handelsrecht – Vergleichbarkeit zu Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das österreichische Handelsrecht: Genereller Unternehmerbezug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Italien – ehemals kaufmannsbezogene Anknüpfung . 4. Englisches common law – kein besonderes Handelsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kollisionsrechtliche Lösungsmöglichkeiten anderer Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Sondervorschriften zur Vertragsstrafe und zur Formfreiheit I. Die HGB-Liberalisierung bei Vertragsstrafeversprechen (§ 348 HGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die HGB-spezifische Erweiterung von Erwerb und Abtretbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. »(Kaufmann-) Erleichterung« von BGB-Formvorschriften (§ 350 HGB). . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundfreiheitenrelevanz der bürgschaftsrechtlichen Formvorschrift. . . . . . . . . . . . . . a) Die Ermittlung des Bürgschafts- und Formstatuts b) Die »faktische« Unabdingbarkeit der Formbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Exempel 1«: Bürgschaft eines EU-ausländischen Architekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Produktcharakter der Bürgschaftsform . . . b) Die Reichweite der Formbefreiung in den einzelnen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . c) Anknüpfung nach dem Ort der gewerblichen Niederlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anknüpfung nach dem Sinngehalt der Sachnorm bzw. nach der lex causae . . . . . . . . . . . . . 3. »Exempel 2«: Bürgschaft eines deutschen Architekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Exempel 1 und 2«: Rechtfertigungsmöglichkeit nach Cassis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Fehlende Folgerichtigkeit der Kaufmannseigenschaft . . . . § 31 Zusammenfassung und Résumé der Grundfreiheitenprüfung

XXIX 465 466 467 467 470 472 475 477 477 478 479 480 480 481 482 483 483 484 486 487 487 488 490 491

XXX

Inhaltsverzeichnis

Abschließendes Kapitel: Zusammenfassung und Thesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

493

§ 32 Die Ausgangsproblematik der Vertragsrechtsdivergenz . . . .

493

§ 33 Die Geschichtsrelevanz der (sonder-) privatrechtlichen Dreiteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

495

§ 34 Der Bedeutungsgehalt des Begriffs »Sonderprivatrecht« . . . .

497

§ 35 Die Sonderprivatrechte im Lichte der Systemvorgaben. . . . .

498

§ 36 Begriffsimmanenz des Gleichheits- und Freiheitsausgleichs? . .

499

§ 37 Drittwirkungsgehalt und Schutzpflichtenlehre . . . . . . . . .

502

§ 38 Prinzipienbildung durch Leitbilderwägungen . . . . . . . . .

504

§ 39 Typisierungskonvergenz des Handels- und Verbraucherrechts

505

§ 40 »Privatrechtliche Marktliberalisierung« und Grundfreiheitenkonvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

507

§ 41 Resümierende Thesen zur Vertragsrechtsdivergenz . . . . . . .

511

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

513 561

Abkürzungen a. A. ABl. Abs. AbzG AcP ACQP ADC ADHGB a. F. AG AGB AktG ALR Alt. AntitrustLJ AO ARSP Art. AT Aufl. Az. BÄO BAGE BayVBl. BetriebsKV BB belgCcivil belgCcom BeurkG BFH Bd. b2b b2c BGB BGB-InfoV

andere Ansicht Amtsblatt Absatz Gesetz betreffend die Abzahlungsgeschäfte (kurz: Abzahlungsgesetz) Archiv für die civilistische Praxis Acquis Principles Annario de Derecho Civil Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch alte Fassung Aktiengesellschaft Amtsgericht Allgemeine Geschäftsbedingungen Aktiengesetz Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Alternative Antitrust Law Journal Abgabenordnung Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel / Article Allgemeiner Teil Auflage Aktenzeichen Bundesärzteordnung Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerische Verwaltungsblätter Verordnung über die Aufstellung nach Betriebskosten Betriebs-Berater Code civil (Belgien) Code de Commerce (Belgien) Beurkundungsgesetz Bundesfi nanzhof Band businessman to businessman businessman to consumer Bürgerliches Gesetzbuch Verordnung über Informations- und Nachweispfl ichten nach bürgerlichem Recht

XXXII BGBl. BGH BGHZ BMJ BNotO BRAO BRD BReg BSG BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BW bzgl. bzw. Chap. / chap. cif. CISG

Abkürzungen

Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesminister der Justiz / Bundesministerium der Justiz Bundesnotarordnung Bundesrechtsanwaltsordnung Bundesrepublik Deutschland Bundesregierung Bundessozialgericht Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Burgerlijk Wetboek bezüglich beziehungsweise

CMLRev CognPschol ConstEspañ ConstLJ CoPECL CR CYEL c2c

Chapter / chapter cost, insurance, freight United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods / Wiener UN-Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf Common Market Law Review Cognitive Psychology La Constitución Española Construction Law Journal Joint Network on European Private Law – »Network of Excellence« Computer und Recht Cambridge Yearbook of European Law consumer to consumer

dänKaufG dänVertrG DB DCFR ders. d. h. dies. DJT DNotZ DÖV Dok. DRGBl. dt. DVBl. DZWir

Kaufgesetz (Dänemark) Vertragsgesetz (Dänemark) Der Betrieb Draft Common Frame of Reference derselbe das heißt dieselbe Deutscher Juristentag Deutsche Notarzeitschrift Die Öffentliche Verwaltung Dokument Deutsches Reichsgesetzblatt deutsch Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht

ECJ

European Court of Justice

Abkürzungen

EconJournal EEA EG

EGBGB EGHGB EGV EJCL ELJ ELRev EMRK EntLRev ERCL etc. EU EuG EuGH EuGMR EuGRZ EuGVO

EuGVÜ

EuR europ. EurRevPL EUV EuZW EVÜ

EWG EWGV EWIV EWR EWS FamRZ FernUSG ff. franzCcivil franzCcom franzCcon

XXXIII

The Economic Journal Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (AmsterdamFassung) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Einführungsgesetz zum Handelsgesetzbuch Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Electronic Journal of Comparative Law European Law Journal European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention Entertainment Law Review European Review of Contract Law et cetera Europäische Union Europäisches Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Grundrechte Zeitschrift Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Brüsseler Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (kurz: Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen) Europarecht (Zeitschrift) europäisch European Review of Private Law Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Römisches EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (kurz: Europäisches Vertragsrechtsübereinkommen) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Gesetz zum Schutz der Teilnehmer am Fernunterricht (kurz: Fernunterrichtsschutzgesetz) fortfolgende Code civil (Frankreich) Code de commerce (Frankfreich) Code de la consommation (Frankreich)

XXXIV

Abkürzungen

FS

Festschrift

GbR Gebtg. GenG GesHandprakt GG GmbH GmbH & Co. KG GmbHG GPR GRCh grds. GRR GRUR GVBl. GWB GYIL

Gesellschaft bürgerlichen Rechts Geburtstag Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften Gesetz über Handelspraktiken (Belgien) Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesellschaft mit beschränkter Haftung und Compagnie Kommanditgesellschaft Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Grundrechte-Charta der Europäischen Union grundsätzlich Gemeinsamer Referenzrahmen Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gesetz- und Verordnungsblatt Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen German Yearbook of International Law

Habil. Halbbd. HandelsR HaRÄG HausTWG / HWiG HeizkostenV

HRG Hrsg. Hteil.

Habilitation Halbband Handelsrecht Handelsrechts-Änderungsgesetz (Österreich) Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften Verordnung über die verbrauchsabhängige Abrechnung der Heizund Warmwasserkosten Handbuch Handelsgesetzbuch herrschende Meinung Gesetz zur Neuregelung des Kaufmanns- und Firmenrechts und zur Änderung anderer handels- und gesellschaftsrechtlicher Vorschriften (kurz: Handelsrechtsreformgesetz) Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte Herausgeber Hauptteil

ICCLR IHR Inc. IPbürgR iPR / IPR IPRax irischVerf italCcivile italCcom italVerf

International Company and Commercial Law Review Internationales Handelsrecht Incorporated Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts irische Verfassung Codice civile (Italien) Codice di commercio (Italien) italienische Verfassung

Hdb. HGB h. M. HRefG

Abkürzungen

XXXV

ITRB i. V. m.

IT-Rechts-Berater in Verbindung mit

JA JBL JCP JEconPersp JJZ JLEconOrg J. O. JöR JournBusiness JPE IPRspr.

Juristische Arbeitsblätter Journal of Business Law Journal of Consumer Policy Journal of Economic Perspectives Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler Journal of Law, Economics, and Organization Journal Officiel Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal of Business Journal of Political Economy Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des internationalen Privatrechts: Sonderveröffentlichung der Rabels Zeitschrift Juristische Schulung Juristenzeitung

JuS JZ Kap. KartellVO

KSchG

Kapitel Verordnung gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen (kurz: Kartellverordnung) Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Kritische Justiz Kleine und mittlere Unternehmen Kommentar Kommunikation & Recht Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Konsumentenschutzgesetz (Österreich)

LAG LG Ltd. litCkod

Landesarbeitsgericht Landgericht Limited Civilinio kodekso patvirtinimo (Litauen)

MaBV

MünchKomm m. w. N.

Verordnung über die Pfl ichten der Makler, Darlehens- und Anlagenvermittler, Bauträger und Baubetreuer (kurz: Makler- und Bauträgerverordnung) Monatszeitschrift für Deutsches Recht The Modern Law Review Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen

n. Chr. NJW

nach Christi Geburt Neue Juristische Wochenschrift

KG KGaA KJ KMU Komm. K&R KritV

MDR ModLawRev MPIPriv.

XXXVI

Abkürzungen

NJW-RR Nr.

NJW-Rechtsprechungs-Report-Zivilrecht Nummer

ÖBA OG oHG östABGB östHGB a. F. östKonsG östStGG

Bankarchiv – Zeitschrift für das gesamte Bank- und Börsenwesen offene Gesellschaft (Österreich) offene Handelsgesellschaft Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich) Handelsgesetzbuch (Österreich) alte Fassung Konsumentenschutzgesetz (Österreich) Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (Österreichs) Unternehmergesetzbuch (Österreich) Oberlandesgericht OLG-Report Brandenburg Dresden Jena Naumburg Rostock Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Oxford Journal of Legal Studies

östUGB OLG OLGR Jena Ordo OxJLSt PartGG PECL portVerf ProstG

Gesetz über Partnerschaftsgesellschaften Angehöriger Freier Berufe Principles of European Contract Law portugiesische Verfassung Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz)

QJEcon

The Quarterly Journal of Economics

RabelsZ RDM REDC REMM RG RGZ RheinNotarK RiA RIW RJC Rn. Rs. Rspr.

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revista de Derecho Mercantil Revue européenne de droit de la consommation resourceful, evaluative, maximizing man Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rheinische Notarkammer Zeitschrift für den öffentlichen Dienst Recht der Internationalen Wirtschaft Revista Jurídica de Cataluna Randnummer Rechtssache Rechtsprechung

S. SchiedsV fG SCE schwVertrG schwGVV schwVerf SE Sect. SFS

Satz (bei Normen) / Seite (bei Fundstellen) Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz Societas Cooperativa Europaea Vertragsgesetz (Schweden) Gesetz zu Vertragsklauseln in Verbraucherverträgen (Schweden) schwedische Verfassung Societas Europaea Section Svensk Författningssamling (schwedische Gesetzessammlung)

Abkürzungen

XXXVII

SGb SGB SJZ Slg. SMG sog. spanCcivil spanCcom spanVerf Spstr. StanLRev StBerG sten.

Die Sozialgerichtsbarkeit – Zeitschrift für das aktuelle Sozialrecht Sozialgesetzbuch Schweizerische Juristenzeitung Sammlung Schuldrechtsmodernisierungsgesetz sogenannt Código civil (Spanien) Código de comercio (Spanien) Verfassung des Königreichs Spaniens Spiegelstrich Stanford Law Review Steuerberatungsgesetz stenographisch

Teilb. teilw. TSAR TulJIntCompL Tz.

Teilband teilweise Tydskrif vir die suid-afrikaanse reg / Journal of South African Law Tulane Journal of International & Comparative Law Textziffer

u. Ua. u. a. UCTA UN UNIDROIT

und Unterabsatz unter anderem Unfair Contract Terms Act United Nations / Vereinte Nationen Institut international pour l’unification du droit / International Institute for the Unification of Private Law Univ. Universität UnivPittsburgh University of Pittsburgh Law Review LR unveränd. unverändert URL Uniform Resource Locator (Adresse im World Wide Web) UStG Umsatzsteuergesetz u. U. unter Umständen UWG Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb VerbrKrG VersR V fGH vgl. VerschG VO VuR VVG

Verbraucherkreditgesetz Versicherungsrecht – Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht Verfassungsgerichtshof Österreich vergleiche Verschollenheitsgesetz Verordnung Verbraucher und Recht Versicherungsvertragsgesetz

WEG

Wohnungseigentumsgesetz

XXXVIII WiPro WM WRP WRV WTO ZaöRV ZAP z. B. ZEuP ZEuS ZfRV ZGH ZGS ZHG ZHK ZHR Ziff. ZIP ZLR ZMR ZPO ZRP zugl. ZVglRWiss

Abkürzungen

Gesetz über die Berufsordnng für Wirtschaftsprüfer (kurz: Wirtschaftsprüferordnung) Wertpapier-Mitteilungen Wettbewerb in Recht und Praxis Weimarer Reichsverfassung World Trade Organization Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für die Anwaltspraxis zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europäische Studien Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht Zeitschrift für das gesamte Schuldrecht Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ursprünglich: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis) Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht Zeitschrift für Miet- und Raumrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zugleich Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft

Einleitendes Kapitel

Einführung in die Thematik Wie in einigen anderen Staaten Kontinentaleuropas ist das Privatrecht auch in Deutschland dreigeteilt in erstens das klassische BGB-Zivilrecht, zweitens das Handelsrecht als das Sonderprivatrecht der besonders geschäftserfahrenen und weniger schutzbedürftigen Kaufleute und drittens das Verbraucherrecht als das Sonderprivatrecht der weniger geschäftsgewandten und vor Übervorteilung sowie vor Ausbeutung schützenswerten privaten Nichtunternehmer. Diese Dreiteilung läuft nicht nur äußerlich dem Gedanken der Einheit des Privatrechts entgegen, sondern gerät auch mit der Vorstellung der Gleichheit aller Privatrechtssubjekte – vor allem der Idee der »Gleichheit in Freiheit« – in Konfl ikt. Denn in den beiden Sonderprivatrechten werden – beispielhaft für andere Sonderprivatrechte wie das Privatversicherungsrecht oder auch das Arbeitsrecht – die selbstbestimmt ausnutz- und ausgestaltbaren Freiheitsräume sowie Verantwortlichkeiten jeweils gegenüber dem klassischen »Privatrechtsfundament« des ursprünglichen BGB unterschiedlich verteilt. Im Grunde sieht sich der Betrachter mit einer »Dreiteilung« der Vertragsrechtsordnung konfrontiert, die nicht nur für einen vertragsrechtlichen Methodenpluralismus steht und einen hohen Exemplifi kationsgrad der sonderprivatrechtlichen Tendenzbewegung verkörpert, sondern auch eine besonders geeignete Ausgangsbasis für eine vertragstheoretische Wesensbetrachtung bildet. Pointiert ausgedrückt haben wir es mit einer Drei-Klassen-Gesellschaft im Privatrecht zu tun, die zivilrechtstheoretisch und methodologisch eine Reihe von heiklen Grundlagenproblemen aufwirft. Im Mittelpunkt der Problematik steht die Frage nach der Legitimität und den Grenzen der unterschiedlichen Freiheitszuteilungen und Gleichheitsdurchbrechungen. Wie Gilles bereits im Jahre 1980 konstatierte, bildet die »Auseinanderentwicklung der immer größer werdenden Zahl von spezialgesetzlichen, oft sogar punktuellen Vertragsrechtsnormen und den allgemeinen Vertragsrechtsregeln« ein »sich für die . . . Vertragsrechtsordnungen . . . stellendes Problem«. Bei diesem (aus der Aufspaltung in allgemeines Vertragsrecht und Sondervertragsrechte resultierenden) »Kodifikationsproblem« dürfte es sich um eine »der rechtspolitisch brisantesten Methodenfragen der gegenwärtigen Zivilrechtstheorie überhaupt« handeln.1 Die Dreiteilung des Vertragsrechts ist zu1

Gilles, JA 22 (1980), 1 (6).

2

Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

gleich von immenser praktischer Bedeutung, weil die erstrebenswerte Privatrechtsharmonisierung in der Europäischen Union durch eine derartige Dreiteilung, die nur in wenigen Nachbarländern Europas eine Entsprechung fi ndet, behindert und erschwert wird. Sie bildet einen geeigneten Anknüpfungspunkt, um die zum Teil überregulierten Sonderprivatrechte wieder in einen widerspruchsfreien Ausgleich zwischen formaler und materieller Freiheit zu überführen. 2 Trotz bestehender Unterschiede hat man lange Zeit zunächst das Handelsrecht, später dann auch das Verbraucherrecht als Sonderprivatrechte ohne weiteres toleriert und sich dabei mit der oberflächlichen Begründung begnügt, dass für die jeweiligen Normadressaten abweichende Schutzstandards erforderlich seien. Eine Sensibilität dafür, dass die Ausgestaltung von Sonderprivatrechten im Allgemeinen und die Dreiteilung in allgemeines Zivilrecht, Handelsrecht und Verbraucherrecht im Besonderen den Lebensnerv des Privatrechts mit seinem Einheits-, Freiheits- und Gleichheitsanspruch betrifft, hat die Literatur erst in den letzten Jahren entwickelt. Es mag bei dieser Debatte um keine radikale »Abschaffung« der Sonderprivatrechte gehen, zumal ein solches Vorhaben gewiss abträglich wäre. Gleichwohl gilt es, die hermeneutische Durchdringung der für die Dreiteilung ursächlichen und zielführenden Sinn- und Zweckzusammenhänge zu bewerkstelligen. Die historisch-systematische Aufarbeitung der Unterschiede und Besonderheiten der Sonderprivatrechte gegenüber dem allgemeinen Zivilrecht steht auf jeden Fall erst am Anfang der Diskussion. 3

§ 1 Privatrecht und vertragsrechtliche Sonderordnungen So umstritten die Existenz privatrechtlicher Sonderbereiche auch heute noch ist, dem BGB wurde sie durch seine normative Konservierung der formalen Gleichheit, die auf dem Leitbild des urteilsfähigen und vermögenden Bürgers aufbaut, praktisch in die Wiege gelegt.4 Trotz des Anspruchs auf Vollständigkeit und der Eignung des BGB als abstrakt-«juristische Rechenmaschine«5 konnte es den Fortbestand eines besonderen Handelsrechts nicht verhindern

2 Zöllner, JuS 28 (1988), 329 (330 ff.); Dreher, JZ 52 (1997), 167 (177); Richardi, FS für Söllner (70. Gebtg.), S. 957 (S. 957, 958). 3 Vgl. zur »Rekonstruktion« des erforderliches Maßes an Selbstverantwortung der Bürger im Privatrecht: Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, IV. 3. (S. 39, 40). 4 So auch: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 II. 1. (S. 20). 5 Schwarz, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der ausländischen Rechtsentwicklung, II. (S. 8).

§ 1 Privatrecht und vertragsrechtliche Sonderordnungen

3

und die Forderung nach einem typisierten Verbraucherrecht nicht kompensieren.6 Dass die Tendenz zur Sonderbereichsbildung auch auf das Vertragsrecht übergegriffen hat, muss allerdings erstaunen: Denn nur wenn mehrere Personen bereit sind, eine selbstbestimmte, auf Vertragsschluss gerichtete Willensbekundung abzugeben, kann nach herkömmlichem Verständnis privatautonomes Handeln in einen Vertrag münden. Verträge setzen traditionell das Zusammentreffen einer eigenen mit der Willenserklärung eines Fremden voraus.7 In diesem Sinne sind Verträge Resultat des jeweils planvoll gelenkten Willens mehrerer Parteien.8 Sie treten als Ergebnis eigenverantwortlichen Handelns in Erscheinung und bilden sowohl im bürgerlichen Recht als auch im Handels- und Verbraucherrecht zentrale Kooperationsinstrumente, damit Parteien ihre Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse eigenverantwortlich planen und gestalten können. Sie sind stets »Keimzelle des Rechtslebens«, und zwar unabhängig davon, welche Herkunft, Bildung und soziale Stellung die Vertragspartner aufweisen9 . . . alles Aussagen, die nicht nur auf das deutsche Recht und die Rechtseinflüsse der EG, sondern auch auf die Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten zutreffen. Im Grunde ist es daher bereits dem Vertragsbegriff eigen, dass jeder Vertragspartner Übergriffe in seine Individualsphäre unter Berufung auf sein Selbstbestimmungsrecht abwehren kann, ohne dass es gesetzgeberischer Maßnahmen zum Schutz einer bestimmten Vertragspartei bedürfte. Die Ausgewogenheit des vertragstypischen Aushandlungsmechanismus macht Verträge bereits per se zu einem der wirksamsten Mittel gegen Fremdbestimmung. In Anbetracht dieser fundamentalen Funktion und der Einsatzmöglichkeiten des Vertrages ist es daher erstaunlich, dass gerade das Vertragsrecht Bedarf für Sonderbereiche wie diejenigen des Handels- und Verbraucherrechts hervorruft. Die dem deutschen Privatrecht inhärente Tendenz, »zunehmend für be6 Als Ausnahme zu dem Einheitsanspruch des BGB gibt das Handelsrecht Kaufleuten im Wirtschaftsverkehr die Möglichkeit, auf flexiblere Rechtsregeln als privat Agierende zurückzugreifen, um Geschäfte unter den Bedingungen des Massebetriebs einfacher eingehen und rascher abwickeln zu können [F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. II. 2. (S. 445); Heinemann, FS für Fikentscher (70. Gebtg.), S. 349 (S. 351); Treber, AcP 199 (1999), 525 (541)]. Flankierend dazu, aber in eklatantem Widerspruch zu diesem Selbstbestimmungsansatz, scheint das Verbraucherrecht »eine endgültige Abkehr von der jedermann zustehenden Freiheitskompetenz und der Neutralität des Staates gegenüber dem geschlossenen Vertrag« zu propagieren [Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil B. VII. (S. 42)]. 7 Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 3. Kap. § 1 I. 1. (S. 45); Rittner, FS für Müller-Freienfels (70. Gebtg.), S. 509 (S. 516 ff.). 8 Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 3. (S. 121 ff.); Martinek, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 142); ders., TSAR 2007, 1 (1). 9 Martinek, Vertragsrechtstheorie und Bürgerliches Gesetzbuch, Ziffer I.

4

Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

stimmte Bereiche des Zivilrechts Sonderregelungen zu treffen«10, scheint dem originären Vertragsrechtsverständnis der Kodifi kationsidee des 19. Jahrhunderts sogar zu widersprechen.

A. Die typisierende Ungleichbehandlung durch Sonderprivatrechte Anders als das common law wird das deutsche Vertragsrecht in seiner heutigen Ausgestaltung maßgeblich durch die begriffliche Zergliederung von Lebenssachverhalten und deren Einordnung in das System geprägt. In einen historischen Kontext ließe sich dies allenfalls durch die Vergleichsbetrachtung bringen, dass bereits nach der Denkweise der Pandekten, die sich in Deutschland seit dem späten Mittelalter mit wissenschaftlicher Gründlichkeit verbreitet haben, dem Zivilrecht insgesamt ein »Allgemeiner Teil« (ähnlich wie den Sonderprivatrechten ein allgemeines bürgerliches Recht) vorangestellt war. Während nach dem formalen Gleichheitspostulat des klassischen Vertragsrechts nicht Stand oder Status der Vertragsbeteiligten sondern Gelegenheit und Abwicklung von Geschäftsabschlüssen im Zentrum des Privatrechts stehen, ist für Sonderprivatrechte signifi kant, dass sie einzelnen Marktteilnehmern besondere Vorrechte zuteil werden und Sonderbehandlungen zukommen lassen.11 Insgesamt scheint von den Sonderprivatrechten, unter die beispielsweise das Arbeits-, Privatversicherungs-, Verbraucher- und Handelsrecht gefasst werden12 , ein anderes Vertragsrechtsverständnis als von dem allgemeinen

10 Hagenguth, Die Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im internationalen Privatrecht, 1. Teil I. (S. 2). 11 Damm, JZ 33 (1978), 173 (176); Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 2. a) (S. 54, 55); Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 31 Rn. 892 ff. (S. 356); ders., System und Prinzipien des europäischen Privatrechts, § 18 I. (S. 555, 556); Westermann, in: BMJ (Hrsg.): Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 3, Verbraucherrecht, § 3 IV. 1. (S. 80); Lieb, AcP 178 (1978), 196 (196 ff.). 12 Zum Handelsrecht als Sonderprivatrecht: Raisch, ZHR 154 (1990), 567 (567 ff.); K. Schmidt, Handelsrecht, § 1 I. (S. 3 ff.); ders., JuS 25 (1985), 249 (250); Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, Einl v § 1 Rn. 1 ff.; Brüggemann, in: Canaris/Schilling/Ulmer (Hrsg.): Staub-HGB, Einl vor § 1 Rn. 6 ff.; Treber, AcP 199 (1999), 525 (541); Brox/Henssler, Handelsrecht, § 1 I. 3. Rn. 7 (S. 4); Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung I Rn. 1; Ensthaler, in: Ensthaler (Hrsg.): Gemeinschaftskommentar HGB, Einleitung Rn. 1; Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 1; zum Verbraucherrecht als Sonderprivatrecht: Reich, Privatrecht und Verbraucherschutz in der Europäischen Union, IV. 1. a) (S. 25); ders., ZEuP 15 (2007), 161 (161 ff.); H. Roth, JZ 54 (1999), 529 (529 ff.); Tonner, JZ 51 (1996), 533 (533 ff.); zum sonderprivatrechtlichen Charakter des Verbraucherrechts skeptisch bzw. ablehnend: Medicus, in: Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 61 (S. 69); Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 13 ff.); F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 4. (S. 719 ff.); das Wirtschaftsrecht einschließlich Wettbewerbs-, Unternehmens- und Kapitalgesellschaftsrecht als Sonderprivat-

§ 1 Privatrecht und vertragsrechtliche Sonderordnungen

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bürgerlichen Privatrecht als konstituierendem Recht für alle Privatrechtssubjekte auszugehen.13 Vor allem durch die ungleiche Art und Weise, wie das Vertragsrecht in Deutschland handels-, verbraucher- und bürgerlich-rechtlich jeweils kodifiziert ist, spaltet der Gesetzgeber den einheitlichen Rechtsrahmen der Geschäftsbeziehungen auf und gestaltet das vertikale Verhältnis zwischen Bürger und Hoheitsträger – insbesondere die jeweiligen Freiheitspositionen im Privatrechtsverkehr – verschiedenartig aus. Ausgesuchte Personengruppen erfahren rollensituativ eine unterschiedliche Behandlung, sodass die Dreiteilung des Vertragsrechts auf das horizontale Verhältnis der Bürger untereinander und damit auf die Gleichheit im Privatrechtsverkehr übergreift. Vertragsrechtlich stellt das BGB, aufbauend auf der Ebene der Gleichordnung und den Idealen formaler Freiheit und Gleichheit, ein möglichst umfassendes Recht für alle Rechtssubjekte zur Verfügung14 ; es gibt als allgemeiner Referenzrahmen allen geschäftsfähigen Personen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihren intellektuellen Fähigkeiten und ihrem wirtschaftlichen Status, die Möglichkeit, Verträge in Form von fast beliebigen gesetzesderogierenden Vereinbarungen zu treffen. Abweichend von diesem Referenzrahmen stellen die Grundgerüste der handels- und verbraucherrechtlichen Sonderbereiche für bestimmte Sachverhalte und Rechtsträgergruppen besondere Regeln auf, was zur Folge hat, dass jeweils »für einen bestimmten Kreis menschlicher Tätigkeit andere Rechtssätze gelten . . . als für die übrigen Gebiete und Richtungen unserer Betätigung«.15 Während das Verbraucherrecht an die rechtsgeschäftliche Begegnung eines Verbrauchers mit einem gewerblich Tätigen anknüpft und »bei bestimmten Geschäftstypen bzw. bestimmten Rahmenumständen des Vertragsschlusses normative Konsequenzen aus der Verbrauchereigenschaft« zieht16, stellt das Handelsrecht ein Sonderrecht für Kaufleute zur Verfügung, das gegenüber Außenstehenden eine diskriminierende Abschottungswirkung einnimmt und eine »Trennung zwischen wirtschaftender und konsumierender Tätigkeit« zur Folge hat17.

recht einstufend: Mertens, AcP 178 (1978), 227 (228); zum Arbeitsrecht als Sonderprivatrecht: Westermann, AcP 178 (1978), 151 (159 ff.). 13 Vgl. hierzu: Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, A. I. 1. (S. 17); Pfl ug, Kontrakt und Status im Recht der AGB, 1. Teil I. 3. c) (S. 20). 14 Vgl. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 IV. 3. (S. 42); Heinrichs, in: Palandt, BGB, Einleitung Rn. 8; Westermann, AcP 178 (1978), 151 (156). 15 Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 2 (S. 3). 16 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, Einführung C. (S. 3). 17 Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 11 III. 3. f) cc) (S. 256).

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Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

Auf diese Weise brechen die verbraucher- und handelsrechtlichen Vorschriften die der Rechtsordnung immanenten Gleichordnungsfi ktionen der Rechts- und Geschäftsfähigkeit aller Menschen auf und ergänzen sie durch vermeintlich wirklichkeitsnähere Elemente von spezifischen Schwächesituationen (Verbraucherrecht) und ökonomischen Professionsbetrachtungen (Handelsrecht). Die Ausgangsbasis gleicher Rechts- und Geschäftsfähigkeit pervertierend rufen sie »die Möglichkeit unstimmiger Entscheidungsgrundlagen« hervor18, was Konkordanzfragen im Hinblick auf das Freiheits- und Gleichheitspostulat aufwirft. Preis sieht sich vor diesem Hintergrund gar veranlasst, von einer »Dreiecksabgrenzung von Bürgerlichem Recht, Verbraucherrecht und Handelsrecht« zu sprechen.19 Die Normgruppenabspaltung erfolgt jeweils nach objektiven Kriterien, sodass es für die Frage, welches (Sonder-) Privatrecht jeweils einschlägig ist, keine Rolle spielt, ob ein Marktteilnehmer seinen Vertragspartner subjektiv für einen Kaufmann, Verbraucher oder Unternehmer hält. 20

B. Der Repräsentationsgehalt des Handels- und Verbraucherrechts War das Handelsrecht als Schrittmacher der modernen Privatrechtsentwicklung oder – wie Goldschmidts Schüler Rießer es nannte21 – als »Jungbrunnen des Zivilrechts« dem bürgerlichen Recht in seiner Entwicklung vorangegangen, eilt dem Verbraucherrecht als jüngste Sondermaterie der Ruf voraus, das bereits entwickelte Vertragsrecht nicht nur modifi ziert, sondern in weitgehendem Maße auch sozialisiert zu haben (»consumerism«22). Es ist »als eine Art dritte Regelungsebene« neben das allgemeine Privatrecht und das Handelsrecht getreten. 23 Es bringt Sonderregelungen für Personen hervor, die Waren und Dienstleistungen wegen ihres Gebrauchswerts erwerben, wohingegen sich die Regeln für Kaufleute an Personen richten, die Leistungen anbieten, um ihrerseits einen Tauschwert zu erhalten, den sie am Markt wieder einsetzen können. 24 Neben das Recht der Gewerbetreibenden (Handelsrecht), das eine Nähebeziehung zum Außenhandel aufweist, tritt das Recht der »Unternehmer-Ver18 Hagenbuth, Die Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im internationalen Privatrecht, 2. Teil I. 1. f) (S. 25). 19 Preis, ZHR 158 (1994), 567 (577). 20 Herresthal, JZ 61 (2006), 695 (698). 21 Rießer, Der Einfluß handelsrechtlicher Ideen auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs, S. 71; vgl. Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts, III. 1. § 3 (S. 11 ff.). 22 Unberath/Johnston, CMLRev 44 (2007), 1237 (1237). 23 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, Einführung A. (S. 1). 24 Westermann, in: BMJ (Hrsg.): Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 3, Verbraucherrecht, § 1 I. 2. (S. 9).

§ 1 Privatrecht und vertragsrechtliche Sonderordnungen

7

braucher«-Begegnung (Verbraucherrecht), das sich auf den Absatz an den Endverbraucher im Rahmen von immer noch national fragmentierten (lokalen) Einzelhandelsmärkten konzentriert. 25 Das bürgerliche Recht fungiert in diesem Kanon als vertragsrechtlicher Referenzrahmen sowie als (Auffang-) Rechtsordnung, wobei es gewissermaßen als Bindeglied zwischen dem lokal verwurzelten Endverbraucherrecht und dem überregional konzipierten Kaufmannsrecht in Erscheinung tritt. Wie eine Äußerung von Hagenguth aus dem Jahre 1981 veranschaulicht, reagieren Stimmen in der Literatur auf diesen Dreiklang durchaus ambivalent; so wird die bestehende Vertragsrechtsdivergenz teilweise gar als »Gefahr eines dreigleisigen Rechtssystems« begriffen, weil auf diese Weise »neben dem Bürgerlichen Recht sowohl gesondertes Handelsrecht, wie auch gesondertes Verbraucherrecht« in das Privatrechtssystem Einzug erhalten. 26 In der Gesamtabbildung der Sonderprivatrechte bieten das handels-, verbraucher- und bürgerliche Vertragsrecht Vorschriften, die den Wirtschaftsverkehr in summa abdecken. 27 Sie stellen nicht nur eine Rahmenordnung für den »businessman-to-businessman«-Bereich (Handelsrecht) und den »businessman-to-consumer«-Bereich (Verbraucherrecht), sondern auch Auffangregelungen für die »consumer-to-consumer«-Sphäre (Auffangbereich des bürgerlichen Rechts) zur Verfügung. Im Verhältnis zu dem bürgerlichen Vertragsrecht besetzen sie jeweils eine regulierend (Verbraucherrecht) und deregulierend (Handelsrecht) flankierende Komplementärstellung, nehmen also bei der Zergliederung des deutschen Vertragsrechts auf der einen und anderen Seite der Skala eine exponierte Stellung ein. Von anderen Bereichen wie dem Arbeitsrecht oder etwa dem Immaterialgüterrecht unterscheiden sie sich dadurch, dass sie sich nicht über bestimmte Lebensbereichssegmente defi nieren (Arbeitsverhältnis, Erfi ndertum, Forschung), sondern eine Person situationsoffen in ganz verschiedenen privaten oder berufl ichen Konstellationen betreffen können: Für die vorliegende Untersuchung Grund genug, sich mit dem Handels- und Verbraucherrecht auf die Sonderprivatrechte zu konzentrieren, die in ihrer Zusammenschau mit dem bürgerlichen Recht das gesamte Lebensspektrum abdecken (Berufstätigkeit, Absatz, Privatleben, Konsum) und die sonstigen Sonderprivatechte, die nur auf partikuläre Lebensbereiche abzielen (z. B. das Verhältnis zum Arbeitgeber), unberücksichtigt zu lassen!

25

G.-P. Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, Einleitung (S. 1 ff.). Hagenguth, Die Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im internationalen Privatrecht, 2. Teil I. 1. f) (S. 24). 27 Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 2. Teil II. 1 a) (S. 40, 41). 26

8

Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

§ 2 Die handels- und verbraucherrechtliche Sonderrechtsbildung Nimmt man den Dreiklang der Vertragsrechtsdivergenz zum Ausgangspunkt der Betrachtung, stellt sich hinsichtlich des genuinen Motivationsgrunds die Grundsatzfrage, was den Gesetzgeber überhaupt veranlasst, im Bereich der Sonderprivatrechte den Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit abweichend zu dem allgemeinen Vertragsrecht zu regeln.

A. Die Charakteristika des Handelsvertragsrechts Was das Handelsrecht anbelangt, werden als Antwort auf diese Frage in Rechtsprechung und Literatur regelmäßig bestimmte Charakteristika zitiert, die übrigens nicht nur für den kaufmannsspezifischen Sonderausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit verantwortlich zu machen sind, sondern auch als tertium comparationis des verfassungsrechtlichen Willkürverbots dienen. 28 Eine zumindest faktische Legitimation genießen diese Eigentümlichkeiten, indem sie als Grundlage handelsrechtlicher Leitbilderwägungen trotz der wiederkehrenden Diskussion um die Daseinsberechtigung der §§ 343 ff. HGB seit Erlass der ersten handelsrechtlichen Kodifi kationen nicht mehr in Frage gestellt wurden. Selbst den Reformbestrebungen der 1930er Jahre, bei denen die vollständige Aufgabe des HGB zugunsten einer »organischen Gliederung« der Wirtschaft in sich geschlossene Rechtsblöcke in Erwägung gezogen wurde, hat man sie zugrunde gelegt. 29 I. Die gesteigerte Selbstverantwortlichkeit der Kaufl eute Eines dieser Charakteristika, auf die Rechtsprechung und Literatur immer wieder Bezug nehmen, besteht aus der gesteigerten Selbstverantwortlichkeit, die Kaufleuten im Rechtsverkehr abverlangt wird. 30 Mit den Eigenschaften, 28 K. Schmidt, Handelsrecht, § 1 IV. (S. 33 ff.); F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. II. 2. (S. 444 ff.); ders., Handels- oder Unternehmensrecht als Sonderprivatrecht, VII. (S. 17, 18); W.-H. Roth, in: Koller/W.-H. Roth/Morck (Hrsg.), HGB, Einleitung vor § 1 Rn. 4 ff.; Brüggemann, in: Canaris/Schilling/Ulmer (Hrsg.): Staub-HGB, Einl vor § 1 Rn. 4; kritisch: Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 4. 29 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 3. Teil 1. Abschnitt 1. Kap. II. 5. (S. 115). 30 So die h. M.: Treber, AcP 199 (1999), 525 (541); W.-H. Roth, in: Koller/W.-H. Roth/ Morck (Hrsg.), HGB, Einleitung vor § 1 Rn. 5; Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, Einl v § 1 Rn. 4; Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 5; Wellenhofer-Klein, ZIP 18 (1997), 774 (775); Brandenburgisches OLG – Urteil v. 27. 06. 2001, Az.: 7 U 246/00 – ZIP 22 (2001), 1911 (1913); a. A. Venrooy, der den maßgeblichen Gesetzeszweck des HGB ausschließlich in der Beschleunigung des Handelsverkehrs sieht: van Venrooy, Die

§ 2 Die handels- und verbraucherrechtliche Sonderrechtsbildung

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die dem Kaufmann als Person zugesprochen werden, korrespondiert die »Größe der Anforderungen, die an die rechtsgeschäftliche Tüchtigkeit des Kaufmanns gestellt werden«. 31 Gesteigerte Selbstverantwortlichkeit bedeutet für den Kaufmann, Chancen und Risiken selbst abzuschätzen32 , was zu entsprechenden sondergesetzlichen Deduktionen führt. So gelten die »besonderen Schutzvorschriften, die das B. G. B. bei manchen gefährlichen Geschäften, bei der Bürgschaft, dem abstrakten Vertrage und bei der Conventionalstrafe kennt, . . . für den Vollkaufmann nicht«. 33 Bei ihm setzt das Handelsrecht voraus, dass »er sich nicht übereilt, daß er Manns genug ist, seine Interessen selbst genügend zu wahren.«34 Damit einher geht eine qualifi zierte Selbstinformationslast. 35 Umgesetzt über zahlreiche Einzelnormen wirkt sich die »gesteigerte Selbstverantwortlichkeit« bereichsumfassend aus, sodass sich ein Kaufmann etwa nicht darauf berufen kann, dass eine verwirkte unverhältnismäßig hohe Vertragsstrafe auf Antrag durch Urteil herabzusetzen wäre (§ 343 BGB). Denn hat ein Kaufmann über die Höhe einer Vertragsstrafe rechtsgeschäftlich disponiert, schlägt diese eigenverantwortliche Bindung auf ihn zurück; bei besonders hohen Vertragsstrafen hat er im Gegensatz zu einem Privatmann im Eintrittsfall die damit verbundenen Rechtsfolgen zu tragen. 36 Dadurch, dass die handelsrechtlichen Einzelnormen die Sphäre der Eigen- von der Fremdverantwortung im vorstehenden Sinne anders als das bürgerliche Recht abgrenzen, wird andererseits auch das Maß an individueller und kollektiver Freiheit unter Kaufleuten erhöht. Neben einer größeren Distanz zum Gemeinwesen ist die individuelle Selbstbindungskraft von Kaufleuten qualifi ziert, was entweder durch die Erweiterung von bürgerlich-rechtlichen Gestaltungsspielräumen37 oder durch das Außerkraftsetzen von bürgerlich-rechtlichen Schutzmechanismen38 zum Ausdruck gebracht wird. Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im deutschen Internationalen Privatrecht, IV. 2. (S. 26). 31 Heck, AcP 92 (1902), 438 (443). 32 Brandenburgisches OLG – Urteil v. 27. 06. 2001, Az.: 7 U 246/00 – ZIP 22 (2001), 1911 (1913). 33 Heck, AcP 92 (1902), 438 (443). 34 Heck, AcP 92 (1902), 438 (443). 35 Brandenburgisches OLG – Urteil v. 27. 06. 2001, Az.: 7 U 246/00 – ZIP 22 (2001), 1911 (1913). 36 BGH – Urteil v. 13. 02. 1952, Az.: II ZR 91/51 – BGHZ 5, 133–137 (133–137); vgl. auch: BGH – Urteil v. 24. 03. 1954, Az.: II ZR 30/53 – NJW 7 (1954), 998 (998); OLG Stuttgart – Urteil v. 16. 12. 2004, Az.: 13 U 100/2004, 13 U 100/04 – MDR 59 (2005), 518 (518, 519); OLG Köln – Urteil v. 12. 10. 1984, Az.: 6 U 140/84 – WRP 31 (1985), 108 (108 ff.); LG Frankfurt – Urteil v. 16. 04. 1975, Az.: 2/1 S 4/75 – NJW 28 (1975), 1519 (1519, 1520). 37 Vgl. etwa: §§ 355, 356, 357, 373 ff. HGB. 38 Vgl. etwa: §§ 348, 349, 350 HGB.

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II. Die Vermutung der Entgeltlichkeit des Geschäftsverkehrs Ein weiteres Charakteristikum, dem auf Inhalt und Abwicklung handelsrechtlicher Sonderverträge Einfluss zugesprochen wird, ist die Entgeltlichkeitsvermutung im Handelsverkehr. 39 In diesem Sinne wird Kaufleuten unterstellt, nicht ohne entsprechende Vergütung die gesteigerten Verlust- und Haftungsgefahren des Handelsverkehrs auf sich zu nehmen.40 Umgekehrt soll sich im Handelsverkehr auch derjenige, der die Dienste eines Kaufmanns annimmt, nicht darauf berufen können, »daß mangels Einigung über eine Provision kein Vertragsverhältnis begründet worden sei . . . obwohl er weiß oder sich nach den Umständen sagen muß, daß dieser aus solchen Dienstleistungen Geschäfte macht und einen Erwerb zieht«.41 Dementsprechend ist bei Kaufleuten der Wettbewerb auf dem Parameter der Preiskonkurrenz deutlich stärker ausgeprägt als in anderen Privatrechtssegmenten. Um einen Marktteilnehmer als Kaufmann einstufen zu können, muss er nach umstrittener aber h. M. subjektiv mit Einnahmen- bzw. Gewinnerzielungsabsicht handeln.42 Dies schlägt sich auch auf die Ausgestaltung der handelsrechtlichen Vertragstypen nieder. Bürgerlich-rechtliche Vertragstypen mit unentgeltlicher Leistungsverpflichtung, wie z. B. Schenkung und Leihe, sind für den Handelsverkehr untypisch. Die unentgeltlichen Geschäfte des bürgerlichen Rechts, Auftrag und Hinterlegung, werden im Recht der Handelsgeschäfte zu entgeltlichen; Zinsen laufen auch ohne Verzug vom Tage der Fälligkeit ab und der gesetzlich geschuldete Zinssatz ist allgemein ein höherer.43 Dem Kaufmann ist die Zeit Geld und sein Kapital muss ihm Zinsen tragen.44 39 OLG Rostock – Urteil v. 22. 03. 1999, Az.: 3 U 84/98 – NJW-RR 15 (2000), 1005 (1005); Treber, AcP 199 (1999), 525 (541); vgl. auch: K. Schmidt, Handelsrecht, § 9 IV. 2. d) (S. 288 ff.); Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 5. 40 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. II. 2. (S. 446); OLG Düsseldorf – Urteil v. 19. 01. 1995, Az.: 10 U 43/95 – NJW-RR 11 (1996), 287 (287, 288). 41 BGH – Urteil v. 28. 01. 1993, Az.: I ZR 292/90 – NJW-RR 8 (1993), 802 (802). 42 BGH – Urteil v. 02. 07. 1985, Az.: X ZR 77/84 – BGHZ 95, 155 (157 ff.); Urteil v. 22. 04. 1982, Az.: VII ZR 191/81 – BGHZ 83, 382 (386); Urteil v. 11. 01. 1962, Az.: VII ZR 188/60 – BGHZ 36, 273 (276); vgl. auch: Ensthaler, in: Ensthaler (Hrsg.): Gemeinschaftskommentar HGB, § 1 Rn. 2a. 43 § 288 Abs. 2 BGB; §§ 352 ff. HGB; vgl. auch: Heck, AcP 92 (1902), 438 (444). 44 Heck, AcP 92 (1902), 438 (458). Systematisch ist die Entgeltlichkeit des Geschäftsverkehrs im Schnittbereich von subjektiver Bereichsabgrenzung und inhaltlichem Strukturprinzip anzusiedeln. Einerseits setzt bereits der Kaufmannsbegriff defi nitionsgemäß voraus, dass das kaufmännisch betriebene Handelsgewerbe entgeltlich geführt wird; denn ein Handelsgewebe betreibt grds. nur derjenige, der »ein als Vergütung ernst gemeintes – nicht notwendig kostendeckendes – Entgelt verlangt« [K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): Münch Komm-HGB, § 1 Rn. 31]. Andererseits beeinflusst die Entgeltlichkeitsvermutung aber auch die konkret-inhaltsbezogene Einwirkungsebene: So modifi ziert der Gedanke der Entgeltlichkeit den Sinngehalt handelsmäßiger Geschäftsbeziehungen, die im Interesse eines anderen wahrgenommen werden [BGH – Urteil v. 21. 11. 1983, Az.: VIII ZR 173/82 – NJW 37 (1984), 435 (436); BGH – Urteil v. 12. 02. 1981, Az.: IVa ZR 105/80 – WM 35 (1981), 495

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Zwar ist auch der private Waren- und Dienstleistungsverkehr unter Fremden dadurch geprägt, dass der Hauptleistungserbringer grundsätzlich kein Interesse an einer unentgeltlichen Leistungserbringung hat. Trotz dieses Interessengleichlaufs greift aber nur das Handelsrecht die Entgeltlichkeit des Geschäftsverkehrs als Vermutungstatbestand auf. Zurückzuführen ist dies darauf, dass der Privatmann Geschäfte bewusst entgeltlich oder unentgeltlich abschließt, wohingegen im kaufmännischen Handelsverkehr Vereinbarungen über die Entgeltlichkeit vielfach als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden. Würde diese Nachlässigkeit dem Kaufmann beim Geschäftsabschluss zu seinem Nachteil gereichen, würde das Fehlen der Entgeltabrede für ihn »durch die Häufigkeit der Wiederholung zu einer schweren Last werden«.45 III. Sorgfaltsmaßstab und Beschleunigung des Handelsverkehrs Für das Handelsprivatrecht außerdem symptomatisch ist das Interesse an einem beschleunigten Geschäftsverkehr. Zu diesem Zweck gelangen in handelsrechtlichen Vorschriften gesteigerte Sorgfaltspfl ichten und -obliegenheiten zum Audruck.46 Zustandekommen und Abwicklung bürgerlich-rechtlicher Vertragstypen sowie die Maßstäbe und Standards des im BGB enthaltenen »Allgemeinen Teils« und des »Rechts der Schuldverhältnisse« werden modifiziert und an die propagierte Einfachheit und Schnelligkeit des Handelsverkehrs angepasst.47 Beispiele hierfür bilden § 377 HGB, mit dem möglichst schnell Klarheit über feststellbare Mängel geschaffen werden soll48, die Grundsätze zum kaufmännischen Bestätigungsschreiben sowie die Vorschrift des § 362 HGB, die von der Annahme ausgeht, »dass der Kaufmann, der sein Gewerbe mit Geschäftsbesorgungen betreibt, sich der Besorgung eines ihm angetragenen Geschäfts unterziehen will, wenn er nicht widerspricht«.49 Auch handelstypische Inkassoverfahren wie das erleichterte Scheck- und Lastschrifteinzugsverfahren sollen den Handelsverkehr beschleunigen. 50 Bereits Heck betonte die Beschleunigungsfunktion, indem er darauf rekurrierte, dass »[d]er Kaufmann . . . verpfl ichtet [ist], seine Rechtsgeschäfte zu buchen, seine Geschäftsbriefe zu kopieren und aufzubewahren. Er muss erhaltene Waaren sofort untersuchen, Mängel sofort anzeigen, während der Privat(495); vgl. auch: BGH – Urteil v. 14. 02. 1996, Az.: VIII ZR 185/94 – NJW 49 (1996), 1464 (1465); RG – Urteil v. 06. 11. 1928, Az.: II 235/28 – RGZ 122, 229 (232, 233)]. 45 Heck, AcP 92 (1902), 438 (458). 46 Treber, AcP 199 (1999), 525 (541); Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, Einl v § 1 Rn. 5; Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 5. 47 K. Schmidt, Handelsrecht, § 1 IV. 2. (S. 35); Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 6. 48 BGH – Urteil v. 16. 09. 1987, Az.: VIII ZR 334/86 – BGHZ 101, 337 (345). 49 OLG Hamburg – Beschluss v. 25. 02. 2002, Az.: 2 Wx 103/01 – ZMR 55 (2002), 453 (453). 50 BGH – Urteil v. 21. 12. 1987, Az.: II ZR 177/87 – ZIP 9 (1988), 360 (361).

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mann sich Zeit lassen kann u. a. mehr . . .: Eine Säumnis, die bei dem Privatmann entschuldbar ist, kann bei dem Kaufmann als schwer fahrlässig gelten.«51 Wird einer Obliegenheit nicht nachgekommen, bringen gesetzliche »Fiktionen« den Handelsverkehr in ähnlich schneller Weise wie eine ordnungsgemäße Reaktion voran. Somit vollzieht man im Handelsrecht letztlich Handlungen, »ohne daß man die Einzelheiten vorher überlegt.«52 Weil »Störungen, die bei bloß vereinzelten Handlungen ruhig hingenommen werden, beim Massenbetrieb lästig oder unerträglich erscheinen«53, wird es als gleichgültig unterstellt, ob der Kaufmann ausdrücklich (re-) agiert oder der gesetzlich kodifi zierte Automatismus zum Zug gelangt, der zumindest als Auffangregel den gewünschten Beschleunigungseffekt (hilfsweise) herbeiführt und Rechtsstreitigkeiten vermeiden hilft. 54 IV. Der ausgeprägte Verkehrs- und Vertrauensschutz des Handelsverkehrs Schließlich muss man sich im Handelsvertragsrecht auch auf den »Schein« in höherem Grade als nach bürgerlichem Recht verlassen können. 55 Um schnell und einfach Entscheidungen zu fällen, sollen Kaufleute publizitätswirksam Informationen über ihren Vertragspartner generieren und sich auf dieses Informationsmaterial auch verlassen können. Zwar ist der Verkehrsschutzgedanke dem gesamten Güterverkehr inhärent und vor allem dem bürgerlichen Immobiliarsachenrecht nicht unbekannt. Im Handelsrecht hat er allerdings zeitlich früher und in größerem Umfang Anerkennung erfahren. 56 Die Verkehrs- und Vertrauensschutzerhöhung wirkt sich über kodifi zierte Einzelvorschriften aus, was dazu führt, dass im Handelsverkehr etwa bestimmte Vollmachten unbeschränkbar sind, der gute Glaube stärker geschützt wird und man sich auf die Vollständigkeit des Handelsregisters verlassen kann. 57 Daneben kommt der gesteigerte Verkehrsschutz aber auch über Institute wie die allgemeine Rechtsscheinslehre zum Tragen. So muss sich nach der Lehre vom Scheinkaufmann ein Marktteilnehmer, der sich als Kaufmann geriert, zugunsten gutgläubiger Dritter auch als ein solcher behandeln lassen. 58 Auf diese Weise erhöht das Handelsrecht die Verkehrssicherheit zu Lasten der Rechtssicherheit, die oft im Widerspruch zu den Bedürfnissen des Geschäftsverkehrs darauf ausgerichtet ist, den vermögensrechtlichen status quo eines 51

Heck, AcP 92 (1902), 438 (443). Heck, AcP 92 (1902), 438 (455). 53 Heck, AcP 92 (1902), 438 (455). 54 OLG Celle – Urteil v. 07. 02. 2002, Az.: 11 U 163/01 – juris-Dok.Nr.: KORE408972002; vgl. hierzu auch im Überblick: Canaris, Handelsrecht, § 1 Rn. 19 (S. 7). 55 Heck, AcP 92 (1902), 438 (444); Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, Einl v § 1 Rn. 6. 56 Ehrenberg, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 1 (S. 11). 57 Heck, AcP 92 (1902), 438 (444). 58 Canaris, Handelsrecht, § 6 Rn. 8 (S. 87). 52

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Marktteilnehmers nicht ohne seinen Willen zu seinem Nachteil zu verändern. 59 Korrespondierend wird dem Erwerber eines Rechts die Gewissheit verschafft, in der Ausübung des erworbenen Rechts »nicht nachträglich gestört zu werden, selbst wenn Umstände vorhanden sind, die an sich geeignet wären, den Erwerb des Rechts zu vereiteln«.60 Letztlich überschneidet sich damit das Charakteristikum des gesteigerten Verkehrs- und Vertrauensschutzes mit den Gesichtspunkten der gesteigerten Selbstverantwortung und der Schnelligkeit im Handelsverkehr61, wie überhaupt alle Charakteristika des Handelsvertragsrechts nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen und im Übrigen nicht abschließend sind62 .

B. Die Umsetzungsinstrumente des Verbraucherrechts Mit einer dem Handelsrecht vergleichbaren Vielzahl von bereichsprägenden Charakteristika kann das Verbraucherrecht nicht aufwarten. Seinerseits hat es von vornherein damit zu kämpfen, überhaupt erst einmal für »consumer sovereignty« im vertragsrechtlichen Geschäftsverkehr zu sorgen. Denn Selbstbestimmung des Verbrauchers im Marktverkehr setzt nicht nur ausreichende Auswahlmöglichkeiten voraus, die durch Wettbewerb gewährleistet werden müssen. Konsumenten sind nach verbraucherpolitischer Mutmaßung darüber hinaus auch in die Lage zu versetzen, effektiv zwischen den zur Verfügung gestellten Abschlussmöglichkeiten wählen zu können.63 Will man auch verbraucherrechtlich von einem Charakteristikum sprechen, ist dies im Grunde immer dasselbe: Schutz des Verbrauchers, d. h. des situativ Schwächeren, in bestimmten objektiv typisierten Konstellationen.64 Weil verbraucherrechtlich lediglich die Schutzinstrumente eine kategorietaugliche Gruppeneinteilung ermöglichen, drehen sich die Darstellungen in der Literatur zu diesem Sonderprivatrecht auch weniger um bestimmte deskriptive Charakteristika (wie im Handelsrecht), sondern legen den Akzent vielmehr auf das Novum bestimmter normativer Umsetzungsinstrumente, die mittlerweile sogar auf den kollisionsrechtlichen Bereich übergreifen.65

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Ehrenberg, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 1 (S. 11). Ehrenberg, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 1 (S. 10). 61 K. Schmidt, Handelsrecht, § 1 IV. 3. (S. 35, 36); vgl. auch: Canaris, Handelsrecht, § 1 Rn. 18 (S. 7); Treber, AcP 199 (1999), 525 (541); W.-H. Roth, in: Koller/W.-H. Roth/Morck (Hrsg.), HGB, Einleitung vor § 1 Rn. 7. 62 Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 4. 63 Averitt/Lande, AntitrustLJ 65 (1997), 713 (713). 64 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 4. a) (S. 720). 65 S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. III. 1. (S. 23). 60

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I. Informationspflichten – marktkomplementäre Schutzinstrumente In diesem Sinne hat sich das Verbraucherrecht in erster Linie dem Umsetzungsinstrument eines sachlichen Informationstransfers verschrieben.66 Weil Information ökonomisch betrachtet »at the heart of the essential problem of consumer protection« ein zentrales Organisationskonzept für einen prinzipiellen Verbraucherschutz zur Verfügung stellt67, postulieren zahlreiche verbraucherrechtliche Vorschriften Informations- und Transparenzförderpfl ichten des Unternehmers.68 In Anbetracht der Tatsache, dass Unternehmer von sich aus häufig nur selektiv Informationen offen legen, die wegen ihrer Neigung zum ex ante-Opportunismus unrichtig oder veraltet sind, werden Verbraucher ohne Marktintervention in der Regel nur mit halben Wahrheiten konfrontiert.69 Vor allem nach der ersten Kontaktaufnahme greifen Unternehmer vermehrt auf Werbemaßnahmen zurück, die auf werbepsychologischen Erkenntnissen basieren; dagegen lassen sie ohne Nachfrage vertragsinhaltsbezogene rationale Aspekte, die sich auf das objektive Preis-Qualitäts-Leistungsverhältnis beziehen, oftmals unerwähnt.70 Auf Verbraucherseite führt dies meist zu einer suboptimalen Entscheidungsfi ndung.71 Weil die vor allem nach liberaler Vorstellung erforderliche Markttransparenz ohne die Unternehmerverpfl ichtung zur Offenlegung vielfach nicht hergestellt werden könnte, lassen sich Modelle zur Förderung des Informationstransfers mehr oder weniger »bruchlos« in das »von Angebot und Nachfrage regierte Marktgeschehen« integrieren.72 Selbst in Fällen, in denen Informati66 Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, § 5 II. 5. (S. 203 ff.); Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 4. Kap. C. III. 2. a) (S. 266 ff.); Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 3. Teil E. (S. 180 ff.); Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 3 III. (S. 142 ff.); Günther, VuR 18 (2003), 25 (25 ff.); J. Hoffmann, ZIP 26 (2005), 829 (829 ff.); Limmer, in: RheinNotarK (Hrsg.): Notar und Rechtsgestaltung, S. 15 (S. 30, 31); Reich, Privatrecht und Verbraucherschutz in der Europäischen Union, IV. 2. a) (S. 28 ff.); Reich, NJW 31 (1978), 513 (513 ff.); Kocher, ZEuP 14 (2006), 785 (785 ff.). 67 Hadfi eld/Howse/Trebilcock, JCP 21 (1998), 131 (150); vgl. auch: Nelson, JPE 78 (1970), 311 (311 ff.). 68 Zur Vertragsabschlusstransparenz in der Klauselkontrolle: Brock, ZVglRWiss 99 (2000), 29 (32). 69 K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, IV. Kap. 1. (S. 98); Hadfi eld/Howse/Trebilcock, JCP 21 (1998), 131 (145); Mackaay, Economics of Information and Law, 7. Kap. B. (S. 158 ff.); Wendlandt, VuR 19 (2004), 117 (121); M. Neumann, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 11 (S. 18, 19); Dichtl, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 23 (S. 31, 32). 70 Berens, Fremdbestimmung des Konsumenten bei der Vertragsanbahnung insbesondere durch Irreführung, Einleitung (S. 25); Averitt/Lande, AntitrustLJ 65 (1997), 713 (734); Franke, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 81 (S. 81 ff.). 71 Hadfi eld/Howse/Trebilcock, JCP 21 (1998), 131 (145). 72 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 511 (S. 520).

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onspfl ichten mit Widerrufsrechten und Eingriffen in den Vertragsinhalt kombiniert werden, fügen sie sich noch relativ gut in das wettbewerbliche Spiel der Marktkräfte ein.73 Denn eigeninitiativ verzichtet der Verbraucher typischerweise darauf, Marktparameter zu ergründen und Vergleichbarkeit herzustellen. Entweder liegt ein Fall »rationaler Apathie« vor, bei dem der Verbraucher bewusst keine Informationen einholt, weil die Chance einer besseren Entscheidung mit einem zu hohen Kostenaufwand bezahlt werden müsste.74 Oder der Verbraucher schätzt den voraussichtlichen Nutzen zusätzlicher Informationen zu niedrig ein bzw. erkennt ihn erst gar nicht. Diesem Transparenzdefi zit wollen die Aufklärungspfl ichten entgegen wirken und dem Verbraucher in Fällen eigener Unzulänglichkeit Zugang zu einer rationalen Entscheidungsfi ndung geben.75 Auf der anderen Seite kann aber nicht unerwähnt bleiben, dass verbraucherrechtliche Aufklärungspfl ichten in Intensität und Tragweite erheblich über das hinausgehen, was traditionelle Nebenverpfl ichtungen nach allgemeinem Schuldrecht implizieren.76 Denn konventionell zeichnen sich Vertragsbeziehungen dadurch aus, dass jede Vertragspartei selbst für die Beschaffung erforderlicher Informationen verantwortlich ist.77 Diesem Grundparadigma zuwiderlaufend werden in der Person des Verbrauchers chronische Informationsdefi zite vermutet, für die flächendeckend nicht er, sondern der Unternehmer die Verantwortung zu tragen hat.78 II. Die Verlängerung der Überlegungsfrist durch Widerrufsrechte Ein weiteres verbraucherrechtliches Umsetzungsinstrument betrifft die Modifi zierung des Bindungsprinzips durch verbraucherseitige Widerrufsrechte.79 Aufbauend auf typisierten b2c-Konstellationen ermöglichen sie es dem Verbraucher »als Reurechte«, einen geschlossenen Vertrag in bestimmten Situationen ohne weitere Voraussetzung zu revidieren. In Abweichung zu der traditionellen Rücktrittsdogmatik ist verbraucherrechtlich weder ein Mangel an der 73

Lurger, Vertragliche Solidarität, 2. Kap. 2.1.1. (S. 14). Zwicker, Das europäische Verbraucherleitbild bei Finanzdienstleistungen, § 3 II. 1. a) (S. 19); Stüfe, Das Informationsverhalten deutscher Privatanleger, 3.1.3. (S. 28, 29); König, Anlegerschutz im Investmentrecht, § 5 I. (S. 51). 75 Vgl. zum Preisrückgang durch Verbraucherinformation: Carlton/Perloff, Modern Industrial Organization, Chapter 13 (S. 442 ff.). 76 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 4. Kap. C. III. (S. 102 ff.). 77 K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, V. Kap. 5. (S. 163, 164). 78 Vgl. M. Neumann, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 11 (S. 14 ff.). 79 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 4. Kap. C. I. 4. (S. 101 ff.); Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 3. Teil D. (S. 151 ff.): Limmer, in: RheinNotarK (Hrsg.): Notar und Rechtsgestaltung, S. 15 (S. 31 ff.); Wagner, ZEuP 15 (2007), 180 (195 ff.). 74

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Wurzel des Vertrages noch eine nachträgliche Vertragsverletzung erforderlich.80 Vielmehr wird das Zusammenspiel zwischen Privatautonomie und Vertrauensprinzip pervertiert, indem der Verbraucher auf sein Widerrufsrecht »aus gutem oder schlechtem Grund oder ohne Grund« zurückgreifen kann.81 Während es dem Bürger nach formal-liberalem Verständnis verwehrt ist, sich ohne gesetzlich anerkannten Sachgrund einseitig von vertraglich eingegangenen Bindungen zu lösen82 , gewähren die Widerrufsrechte – der Rechtstradition des anglo-amerikanischen Rechts verhaftet – die Möglichkeit einer so genannten »cooling off period«, also einen Zeitraum, während dessen der Verbraucher sich die Sache noch einmal »anders überlegen« kann.83 In aus deutscher Sicht ungewöhnlicher Weise werden Situationen aufgegriffen, bei denen wegen der Unverbindlichkeit von Werbeaussagen eine Vertragsanfechtung wegen Irreführung eigentlich nur in Ausnahmefällen erfolgreich wäre (§ 119 Abs. 2, § 123 BGB).84 Unabhängig von einem konkreten Willensmangel wird es dem Verbraucher nicht zugetraut, ex ante zur Verfügung gestellte Informationen zu verarbeiten, den Umfang des eigenen fi nanziellen Engagements zu überprüfen oder die Defi zite moderner Kommunikationsmethoden zu bewältigen.85 So ebnet man ihm auch nach dem formalen Vertragsabschluss noch den Rückweg zu einer rationalen Entscheidungsfi ndung, sei es mit Rücksicht auf die Komplexität des Produktes, auf die mangelnde Prüfmöglichkeit ex ante oder auf eine andere besondere Vertragsabschlusssituation. Der Vertrag als marktwirtschaftliches Tauschinstrument erfährt dadurch eine Schwächung, wird der Verbraucher doch letztlich nicht nur vor seiner eigenen Unvernunft und fi nanzieller Selbstüberschätzung, sondern langfristig auch vor Überschuldung bewahrt.86

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Lurger, Vertragliche Solidarität, 2. Kap. 2.2.1. (S. 33). Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 31 Rn. 908 (S. 363); zum Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften vgl.: Art. 5, 6 Haustürgeschäfterichtlinie; § 312 i. V. m. § 355 BGB; zum Widerrufsrecht bei Fernabsatzverträgen vgl.: Art. 6, 12 Fernabsatzrichtlinie, Art. 6, 12 Fernabsatz-Finanzdienstleistungsrichtlinie, § 312d i. V. m. § 355 BGB; zum Widerrufsrecht bei Timesharingverträgen vgl.: Art. 5, 8 Timesharingrichtlinie, § 485 i. V. m. § 355 BGB; zum Widerrufsrecht bei Verbraucherkreditverträgen vgl.: § 495 BGB i. V. m. § 355 BGB. 82 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 34 II. Rn. 6 (S. 627). 83 Limmer, in: RheinNotarK (Hrsg.): Notar und Rechtsgestaltung, S. 15 (S. 21); N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Einleitung (S. 1). 84 Berens, Fremdbestimmung des Konsumenten bei der Vertragsanbahnung insbesondere durch Irreführung, Einleitung (S. 32, 33). 85 Vgl. Schäfer, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 559 (S. 567). 86 N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Teil 1 Kap. 1 III. (S. 73). 81

§ 2 Die handels- und verbraucherrechtliche Sonderrechtsbildung

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III. Das Verbraucherschutzinstrument der Inhaltskontrolle Besonders stark hebt sich das Verbraucherrecht von dem traditionellen Vertragsrecht durch die Inhaltskontrolle ab.87 Sie reduziert in b2c-Situationen nicht nur die Freiheit des Individuums, sondern auch die kollektive Freiheit im Verhältnis der Privatrechtsgesellschaft gegenüber dem Staat. Vor allem aus ökonomischer Sicht sind zwingende Normen erst einmal »suspekt«, verbauen sie doch »prima facie auch die Möglichkeiten effi zienzfördernden Austauschs«.88 Obwohl mit Vorschriften des ius cogens im Grunde Transaktionskosten nicht minimiert, sondern Markttransaktionen erschwert werden89, stellte bereits das erste EWG-Verbraucherschutzprogramm von 1975 die Forderung auf, dass der Verbraucher »vor einseitig festgelegten vertraglichen Geschäftsbedingungen, vor dem mißbräuchlichen vertraglichen Ausschluß wesentlicher Rechte [und] vor mißbräuchlichen Kreditbedingungen« zu schützen sei und kategorisierte dies unter das fundamentale Verbraucherrecht auf Schutz der wirtschaftlichen Interessen des Verbrauchers.90 Insbesondere über (halb-) zwingende Inhaltsvorgaben, die nur zu Gunsten des Verbrauchers, nicht aber zu seinem Nachteil abdingbar sind, wird seit dieser Zeit in den zunächst einmal frei verhandelten Vereinbarungsinhalt von Verbraucherverträgen eingegriffen.91 Als Unterkategorie solcher (halb-) zwingender Verbrauchervorschriften können die nicht abdingbaren Informationspfl ichten und Widerrufsrechte begriffen werden. Mittlerweile sind sie in fast sämtlichen Verbraucherrichtlinien verankert.92 Als zweite Unterkategorie tut sich die Klauselkontrolle hervor, die sich im Gegensatz zu den zwingenden Vertragsabschlussinstrumenten nicht durch die positive Verankerung von Informations- und Widerrufsrechten auszeichnet, sondern sich in erster Linie negativ gegen die einseitige Verwendung festgelegter Standardverträge und den missbräuchlichen Ausschluss (auch) verbraucherseitiger Rechtspositionen richtet. 93 Ein besonders weitreichender Dirigismus geht dagegen mit der dritten Untergruppe zwingender Vertragsinhaltvorgaben einher. Denn sie beziehen sich auf die Vertragsabwicklung, also auf das substanzielle Rechtsfolgenregime. Exemplarisch ist hier die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu nennen, deren Vorgaben ähnlich wie das bürgerliche 87 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 4. Kap. C. III. 2. b) (S. 270 ff.); Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 3. Teil F. (S. 228 ff.); Reich, Privatrecht und Verbraucherschutz in der Europäischen Union, IV. 2. (S. 31 ff.). 88 Eidenmüller, JZ 60 (2005), 216 (222). 89 Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 1 § 2 B. II. (S. 64). 90 Rat – Erstes Programm der EWG für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher v. 14. 04. 1975 – ABl. 1975 Nr. C 26 S. 2 Tz. 18 ff., insbesondere Tz. 19. 91 Vgl. Art. I:203 ACQP; siehe hierzu: Schulte-Nölke/Busch, in: Acquis Group (Hrsg.): Contract I, Chapt. I Sect. 2 Art. 1: 203 (S. 34 ff.). 92 Vgl. etwa: Art. 4, 5 Haustürgeschäfterichtlinie, Art. 4, 6 Fernabsatzrichtlinie, Art. 4 Abs. 2 Verbraucherkreditrichtlinie (1987), Art. 3, 5 Timesharingrichtlinie. 93 Art. 3 und Art. 7 Klauselrichtlinie.

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Vertragstypenrecht nur mittelbar an die originäre Willensübereinkunft anknüpfen.94 Regelungen dieser dritten Gruppe zeichnen sich besonders durch das Bereitstellen von Rechtspositionen aus, die das bürgerliche Vertragsrecht entweder gar nicht kennt (z. B. die Möglichkeit des Widerrufsdurchgriffs bei verbundenen Geschäften 95 ) oder die im bürgerlichen Recht weitgehend disponibel sind (z. B. Kaufgewährleistung 96 ).

IV. Sonderanknüpfung – Verhinderung der Rechtswahlfl ucht Das jüngste Umsetzungsinstrument des Verbraucherrechts setzt sich schließlich aus kollisionsrechtlichen Sonderanknüpfungen zusammen.97 Dahinter steht die Erwägung, dass Unternehmer mit Marktmacht gar nicht erst die Möglichkeit bekommen sollen, Verbrauchern den Schutz der Sachrechtsnormen ihrer Heimatrechtsordnung dadurch zu nehmen, dass sie vertraglich die Rechtswahl zu ihrer eigenen oder zu einer fremden, weniger schutzintensiven Rechtsordnung aufdiktieren.98 Materiellrechtlich zwingende Normen steigen dadurch zu kollisionsrechtlich zwingenden Normen auf; einem uneingeschränkten Wettbewerb der Rechtsordnungen wird entgegengewirkt: Wo im materiellen Recht Schutzinteressen mit zwingenden Verbraucherschutzvorschriften Rechnung getragen wird, soll es kollisionsrechtlich nicht gutgeheißen werden, dass Vertragsparteien die Rechtsordnung bis aufs Letzte außer Kraft setzen und sich einer ausländischen Rechtsordnung zuwenden.99 Denn würden die Mitgliedstaaten einem aus der Benachteiligung einheimischer Anbieter resultierenden Anpassungsdruck nachgeben oder den Unternehmern schrankenlos eine vom Standort unabhängige Rechtswahl ermöglichen, hätte dies gegebenenfalls ein »race to the bottom« in Bezug auf die Standards zum Schutz der Verbraucher zur Folge.100 Versuchten die EG-Mitgliedstaaten mit Art. 5 EVÜ ursprünglich noch, »den Schutz des Verbrauchers in herkömmliche, einen größeren Kreis von Rechtsverhältnissen umfassende Kollisionsregeln zu kleiden«, lassen die Verbraucherrichtlinien in ihrer Generation seit der Klauselrichtlinie »an die Stelle der großen Konzeption . . . das kleine Karo« treten; sie »regeln kleine und kleinste Ausschnitte des materiellen Privatrechts« und stellen insoweit Beschränkungen gegen die Rechtswahl eines Drittlands zum Vertragsstatut auf 94

Art. 2 und Art. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. Art. 6 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 4 Fernabsatzrichtlinie; vgl. auch: Art. 7 Fernabsatz-Finanz-dienstleistungsrichtlinie; §§ 312d, 312f BGB. 96 Art. 7 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. 97 Vgl. zu den IPR-Klauseln im Richtlinienrecht: Art. 6 Abs. 2 Klauselrichtlinie; Art. 9 Timesharingrichtlinie; Art. 12 Abs. 2 Fernabsatzrichtlinie; Art. 6 Abs. 2 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. 98 Vgl. Vahrenwald, EntLRev 13 (2002), 56 (57). 99 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 511 (S. 549). 100 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 1. Teil 2. Abschnitt § 4 C. (S. 31). 95

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(vgl. Klauselrichtlinie, Timesharingrichtlinie, Fernabsatzrichtlinie und Verbrauchsgüterkaufrichtlinie).101 Voraussetzung ist lediglich, dass der Vertrag einen engen Zusammenhang mit dem Gebiet der Mitgliedstaaten aufweist.102 Auf diese Weise werden auch in Bezug auf außereuropäische Staaten Sicherheitsvorkehrungen getroffen, damit die materiellrechtlich (halb-) zwingenden Vorgaben der Richtlinien nicht durch Rechtswahl torpediert werden.103 Die IPR-Klauseln stehen dabei im Hinblick auf ihre Eingriffsintensität in keinem Stufenverhältnis zu den sachrechtlichen Schutzinstrumenten, sondern präsentieren sich als ein flankierendes Format, das den Vorschriften der »sachrechtlichen Schutzpolizei« eskortierend den Rücken stärkt. Schlupflöcher werden gefüllt um zu verhindern, dass die Parteien ohne die kollisionsrechtliche Absicherung die Grundidee der sachrechtlichen Vorgaben ins Wanken bringen könnten.

§ 3 Dreiteilung der Vertragsrechtsordnung Summa summarum sieht sich also der Betrachter angesichts der bereichseigenen Charakteristika und Umsetzungsinstrumente der Sonderprivatrechte, die vorstehend in groben Zügen dargestellt werden konnten, mit einer Dreiteilung der Vertragsrechtsordnung konfrontiert, die als Fundus eines vertragsrechtlichen Methodenpluralismus zu begreifen ist. Wegen der vordergründigen Komplementärstellung, welche dabei das Handels- und Verbraucherrecht jeweils zum bürgerlichen Recht einnehmen, geht mit diesem Dreiklang ein hoher Repräsentations- und Exemplifi kationsgehalt für das Vertragsrecht insgesamt einher.104 Bereits Reich erkannte im Jahre 1974 diesen hohen Darstellungswert des Nebeneinanders von b2b und b2c und nutzte die Simplifi kationseignung der vertragsrechtlichen Dreiteilung, um zwischen »a) de[m] Rechtsverkehr zwischen Unternehmen . . .: Unternehmensrecht, b) de[m] Warenaustausch zwischen Unternehmen und Endverbrauchern . . .: Verbraucherrecht [und] c) de[m] Bereich des privaten Rechtsverkehrs zwischen Bürgern . . .: Bürgerrecht« 101 Junker, IPRax 18 (1998), 65 (65); vgl. im Überblick: Martiny, in: Reithmann/Martiny (Hrsg.): Internationales Vertragsrecht, 1. Teil A. IV. 4. (Rn. 41 ff.). 102 Im Überblick: Jayme/Kohler, IPRax 13 (1993), 357 (357 ff.); dies., IPrax 16 (1996), 377 (377 ff.); Junker, IPRax 18 (1998), 65 (70 ff.). 103 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 511 (S. 548 ff.); siehe im Überblick m. w. N.: S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. III. 3. (S. 32 ff.). 104 So auch: Grundmann, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 281 (S. 284); Kleindiek, in: Hommelhoff/Jayme/Mangold (Hrsg.): Europ. Binnenmarkt: IPR und Rechtsangleichung, S. 297 (S. 298).

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zu differenzieren.105 Mit Rücksicht auf die Überlegenheit sonderprivatrechtlicher Sozialmodelle zog 1978 auch Westermann in Erwägung, ein Verbraucherschutzrecht unter Anlehnung an Rechtsinstitute des Arbeitsrechts zu entwickeln, die Rechtsbeziehungen zwischen Unternehmern besonderen wirtschaftsrechtlichen Gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen und letztlich nur das Personenrecht und die Regelung des Eigentums an Nicht-Produktivgütern dem allgemeinen Privatrecht vorzubehalten.106 Vor der Versuchung, diese Unterscheidung zu einer vertragsrechtlichen Trichotomie zu steigern, sollte man sich allerdings hüten, um nicht die Augen vor der Realität zu verschließen, dass die handels- und verbraucherrechtlichen Sonderregimes das Verhältnis zwischen Staat und Privatrechtsgesellschaft letztlich doch »sehr uneinheitlich und umstritten« defi nieren.107 Für eine Strukturbetrachtung, die sich wie vorstehend angestrebt auf das Wesentliche beschränkt, ist die Dreiteilung auf der anderen Seite aber wiederum geradezu prädestiniert. Effi zient eignet sie sich als Ausgangsbasis, um die allgemeinen Lehren und Wertungen von Sonderprivatrechten untereinander und ihr Verhältnis zu den Grundlagen des bürgerlichen Rechts aufzuzeigen, Gemeinsamkeiten zur Geltung zu bringen und Gleichbehandlung vergleichbarer Fallgestaltungen wiederherzustellen.108 Sonderprivatrechtliche Abspaltungen jenseits des Handels- und Verbraucherrechts sollten dabei außer acht gelassen werden, um nicht das privatrechtliche Pfl ichtgebot des einheitlich für alle Privatrechtssubjekte geltenden Vertragsrechts aus den Augen zu verlieren.109 Wie das Arbeits-, Privatversicherungs- und Immaterialgüterrecht beispielhaft veranschaulichen, handelt es sich bei diesen dreiteilungsexternen Sondernormgruppen lediglich um Nischenbereiche, die das Vertragsrecht nicht an sich in Frage stellen, sondern den Durchschnittsbürger in Anbetracht ihres hohen Spezialisierungsgrades nur in Teilbereichen seines Lebens konfrontieren. Angesichts ihrer nicht generalisierungstauglichen Vertragsrechtsmodifi zierungen würde ihre Einbeziehung die Strukturanalyse nicht lancieren, sondern allenfalls unübersichtlicher machen.

105 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (188); siehe auch: F. Bydlinski, System und Prinzipien des Pri-vatrechts, 4. Hteil. IV. 4. b) (S. 724 ff.); Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 1. Teil D. II. 1. (S. 113); aus der Perspektive der schwedischen Gesetzgebung: Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 1. Teil 1. Kap. B. I. 2. a) (S. 42, 43). 106 Westermann, AcP 178 (1978), 150 (155); vgl. auch die b2b-, b2c- und c2c-Differenzierung bei: Schulte-Nölke, ERCL 3 (2007), 332 (333 ff.). 107 Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 1. Teil (S. 4). 108 So auch Preis, ZHR 158 (1994), 567 (605). 109 Anders Remien, der dem bürgerlichen Recht nicht nur das Handels- und Verbraucherrecht, sondern auch das Vergaberecht gegenüber stellt [Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 11 III. (S. 236 ff.)].

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A. Sondervertragsrechte und Diskrepanz der Freiheitsgewähr Zwar ist »Ungleichbehandlung« an sich keine Spezifität der Sondervertragsrechte. Auch das BGB basiert fast durchgehend auf Tatbeständen der Ungleichbehandlung, sodass ein Rechtsgeschäft beispielsweise nur anfechten kann, wer einem Irrtum erliegt, Schadensersatz nur fordern kann, wer einen Schaden zu verzeichnen hat, und ein Rechtsgeschäft nur abschließen kann, wer geschäftsfähig ist. Ein maßgebender Aspekt ist bei den Sondervertragsrechten jedoch anders: Während nach BGB personenbezogene Merkmale die Erfüllung eines Tatbestands beeinflussen, der grundsätzlich jedes Rechtssubjekt betrifft, aber die individuellen Umstände im Einzelfall zum Gegenstand hat, hängt das Eingreifen sondervertragsrechtlicher Normen von der Erfüllung eines Tatbestandes ab, »der von vornherein nur einen bestimmten Personenkreis anspricht, aber unabhängig von der individuellen Schutzbedürftigkeit im Einzelfall ist«.110 Dementsprechend nehmen die handels- und verbraucherrechtlichen Normgruppen innerhalb des deutschen Sachprivatrechts eine spezielle Position zu den Grundpfeilern der Zivilrechtsordnung ein; augenscheinlich heben sie sich von dem »Vertragsrecht der Allgemeinheit« in der Gesamtbetrachtung ab. Im einzelnen äußert sich dies dadurch, dass die Sonderprivatrechte ihren jeweiligen Realitätsausschnitten verglichen mit dem klassischen Pandektenrecht abweichende Leitbilderwägungen rechtspolitischer und ideologischer Art zugrunde legen, was in dem unabgestimmten Gegenübertreten von verbrauchervertraglichem Verbrauchsgüterkauf und einseitig-handelsgeschäftlichem Handelskauf mittlerweile einen Höhepunkt an Widersprüchlichkeit exemplifi ziert.111 War noch vor einigen Jahrzehnten selbst dem auf der Sozialisierungsskala im eher unteren Bereich anzusiedelnden Abzahlungsgesetz (AbzG) wegen seiner metajuristischen Sozialausrichtung die Aufnahme in das BGB verweigert worden112 , wird heute über das Verbrauchervertragsrecht in weitem Umfang über liberale Grundwerte des Privatrechts disponiert. Nicht zuletzt das internationale Verbrauchervertragsrecht steht in der Kritik.113 Die Annahme der typisierten Unterlegenheit des Verbrauchers (in prinzipieller Abkehr von der Idee formaler Rechtsgleichheit im Privatrechtsverkehr114) verdeutlicht, dass die Beschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs der 110 U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 2. Kap. A. (S. 5); so auch: Reich, Privatrecht und Verbraucherschutz in der Europäischen Union, IV. 2. b) (S. 30, 31). 111 Emmerich/Hoffmann, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, vor § 373 Rn. 3; relativierend dagegen: G. Müller, in: Ebenroth/Boujong/Joost (Hrsg.): HGB-Kommentar, Vor § 373 Rn. 10. 112 Baltes, Das Abzahlungsgesetz als Verbraucherschutzgesetz, 1. Teil A. II. 2. b) (S. 54). 113 G.-P. Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, 3. Kap. (S. 87 ff.). 114 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 3. Teil II. 2. b) (S. 276, 277).

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sondervertraglichen Normen eine pauschalierte Ungleichbehandlung zwischen solchen Rechtssubjekten bewirkt, die ihre Tatbestandsmerkmale erfüllen, und denen, die sie nicht erfüllen.115 Diese Diskrepanz könnte die mögliche Kontinuität der erstrebenswerten »Konzeption eines grundsätzlich für alle geltenden Privatrechts« endgültig in Frage stellen.116 Insgesamt mag die Verbraucherrechtsbewegung – vor allem populistisch betrachtet – zwar einen willkommenen Gegenpol zu den oft kritisierten EG- und WTO-rechtlichen Liberalisierungsbemühungen zur Verfügung stellen, sodass man es eigentlich begrüßen könnte, dass nun doch noch der bereits bei Schaffung des BGB vermisste »Tropfen sozialistischen Öles« (O. von Gierke) 117 in das deutsche Privatrecht Eingang erhalten hat. Die negativen Nebeneffekte dieser Seitwärtsbewegung sind jedoch augenfälliger, ist es doch unweigerlich dazu gekommen, dass die Fragen, welches Freiheitsverständnis dem deutschen Vertragsrecht zugrunde liegt und welche Freiheitsbeschränkungen und Gemeinschaftsinteressen in ihm zum Ausdruck kommen, schon lange nicht mehr einheitlich beurteilt werden können. Die Abstimmungsdefi zite sind teilweise hausgemacht, teilweise durch die Vereinheitlichung und Rechtsangleichung der nationalen Kollisions- und Sachprivatrechte bedingt.

B. Subsidiaritätsprinzip und Vertragsrechtsdivergenz Dabei ermahnt auf prinzipieller Ebene bereits der Subsidiaritätsgedanke zu einer Rückbesinnung. Inhaltlich steht er in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Maximierung gleicher Freiheit und dem empirischen »Gesetz der Macht«.118 Zwecks Unterstützung präventiven Freiheitsschutzes stellt er die generelle Forderung nach vertikaler Gewaltenteilung auf.119 Er will der Tendenz entgegen wirken, dass Macht sich stets solange ausbreitet, bis sie auf wirksame Schranken stößt.120 Weil liberale Staatlichkeit traditionell nur insoweit legitim ist, als sie subsidiär ist121, bildet das Subsidiaritätsprinzip neben 115 U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 2. Kap. A. (S. 5). 116 Westermann, in: BMJ (Hrsg.): Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 3, Verbraucherrecht, § 1 I. 2. (S. 11). 117 O. von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, S. 10; ders., in: E. Wolf (Hrsg.): Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, S. 478 (S. 486). 118 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1. Hteil. V. 5. a) (S. 97). 119 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1. Hteil. V. 5. a) (S. 97), ders., Das Privatrecht im Rechtssystem einer »Privatrechtsgesellschaft«, VI. 6. (S. 68, 69). 120 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1. Hteil. V. 5. a) (S. 97). 121 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1. Teil 4. Abschnitt I. 1. (S. 45); vgl. auch: Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1. Teil 2. Abschnitt I. 1. (S. 18 ff.); Mikluscák, in: Blickle/Hüglin/Wyduckel: Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 25 (S. 25 ff.).

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seinen kanonischen Wurzeln und seiner Verankerung in der neuscholastischen Naturrechtslehre den Grundgedanken der liberalen Lehre von der Rechtfertigung und den Aufgaben des Staates. Es beruht auf der Erkenntnis, dass der Mensch ein auf Freiheit angelegtes Lebewesen ist, das in Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sein Dasein eigenverantwortlich gestaltet und die sich daraus ergebenden Aufgaben mit seinen verfügbaren körperlichen und geistigen Fähigkeiten erfüllen kann.122 Das allgemeine Subsidiaritätsprinzip – welches mit dem EG-vertraglich kodifi zierten (Art. 5 Abs. 2 EG) nicht gleichzusetzen ist – impliziert die Aufforderung an den Staat, Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung kleineren Einheiten zu überlassen, damit der Staat selbst seine ausschließlichen Zuständigkeiten umso ungehinderter, machtvoller und wirksamer wahrnehmen kann.123 Um dem Postulat der »Marktfreiheit vor Regulierung« entsprechend Rechnung zu tragen, muss demnach Ausgangspunkt jedes subsidiären Gemeinschaftsaufbaus die gleiche Chance aller Privatrechtssubjekte sein, von dem Primat der Selbstverantwortung Gebrauch zu machen und individuelle Freiheit auszuüben.124 Auch wenn aus dem Gebot von Fairness und Gleichbehandlung abzuleiten ist, dass Mitgliedern der Privatrechtsgesellschaft in Fällen, in denen sie nicht von sich aus zur tatsächlichen Freiheitsausübung in der Lage sind, gesetzliche Unterstützungsmaßnahmen zu gewähren sind, ermahnt der Subsidiaritätsgedanke stets dazu, bei der Ausgestaltung solcher Unterstützungsmaßnahmen das Leitbild der Staatsferne der Privatrechtsgesellschaft, den Vorrang des Wettbewerbs vor staatlicher Regulierung und die Prädominanz des privaten Willens vor der kollektiven Entscheidung einzuhalten.125 Vor dem Hintergrund, dass »[f]unktionierender Wettbewerb auf Märkten« immer noch »der beste Verbraucherschutz« ist126, erscheint es daher fraglich, 122

Kalkbrenner, FS für Küchenhoff (65. Gebtg.), S. 515 (S. 520). Hablitzel, BayVBl. 27 (1981), 65 (73, 74); Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1. Teil 2. Abschnitt I. 1. (S. 19); Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1. Teil II. 2. c) aa) bbb) (S. 110); F. Bydlinski, Das Privatrecht im Rechtssystem einer »Privatrechtsgesellschaft«, VI. 6. (S. 69, 70); Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 31 Rn. 938 ff. (S. 374, 375). 124 In diesem Sinne aus dem Blickwinkel der Grundrechte als negative Kompetenzvorschriften argumentierend: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 6 II. 1. b) (S. 232). 125 Kleindiek, in: Hommelhoff/Jayme/Mangold (Hrsg.): Europ. Binnenmarkt: IPR und Rechtsangleichung, S. 297 (S. 302, 303); vgl. auch: M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 5 III. 3. (S. 92); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 1 IV. 4. und § 10 II. (S. 9 und S. 450); Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 1. (S. 25, 26). 126 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – »Mehr Vertragsfreiheit, geringere Regulierungsdichte, weniger Bürokratie«, Stellungnahme vom 16. 09. 2006, Ziff. III. (S. 9); so auch Mohr, AcP 204 (2004), 660 (684, 685). 123

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Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

ob insbesondere das konsumentenspezifische Sondervertragsrecht in seiner aktuellen Ausgestaltung dem Vorranggedanken des Wettbewerbs ausreichend Rechnung trägt. Unter Missachtung der Dichotomie zwischen privatem Zivilund öffentlich-rechtlichem Kartell- und Wettbewerbsrecht übernimmt das Verbraucherrecht in gewisser Weise nämlich nicht nur die Regelungsfunktion des Vertragsrechts, sondern auch die Ordnungsfunktion des Wirtschafts- und Wettbewerbsrechts. Liegen dem Zivil- und Handelsrecht nach ihrer politischen Ausrichtung noch marktkomplementäre Konzepte zugrunde (insbesondere Anbieterwettbewerb, Verbraucherinformation und Individualschutz), greift das Verbraucherrecht über eine falsch verstandene »unified theory of consumer sovereignty«127 – teilweise exzessiv – auf marktkompensierende Mittel zurück (z. B. staatliche Kontrolleingriffe oder sog. Gegenmarktstrategien); es schaltet der ordoliberalen Markterhaltung eine vertrags- und situationsspezifische Ausgleichskontrolle vor, womit im Falle übertriebener Gegenmaßnahmen eine Missachtung der Vorrangstellung des Wettbewerbs(-rechts) einhergehen kann.128

§ 4 Die Systembeeinflussung durch Einheitsund Gemeinschaftsrecht Das heutige »Mehrebenenprivatrecht«129 – so könnte das Nebeneinander zwischen nationalem (Sonder-) Privatrecht und vertikaler Kompetenzverteilung zutreffend beschrieben werden – macht eine vertragsrechtliche Systematisierung unter Abgrenzung der Gemeinschafts- und Privatbelange noch schwieriger. So ist durch den EG-Vertrag die Binnenmarktverwirklichung als weiteres Kodifi kationsziel neben die traditionellen Vertragsparadigmen der Freiheit und Gleichheit hinzugetreten. Konnte man sich zum Zeitpunkt der Kodifi kation des Bürgerlichen Gesetzbuchs noch mit der Frage begnügen, ob und inwiefern der Staat berechtigt ist, durch Gesetze oder Einzelmaßnahmen privatrechtsrelevante Gemeinschafts- und Individualbelange zu einem Ausgleich zu bringen, müssen heute die Europäischen Gemeinschaften sowie die internationale Rechtsvereinheitlichung in diese Fragestellung einbezogen werden.130 Dabei ist aus supra- und internationalem Blickwinkel bemerkenswert, 127 Hierzu aus der Perspektive von U. S. antitrust und consumer protection: Averitt/ Lande, AntitrustLJ 65 (1997), 713 (744 ff.). 128 Dreher, JZ 52 (1997), 167 (177). 129 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 1 IX. 2. (S. 96); auch Joerges spricht in diesem Zusammenhang von einem »Mehrebenensystem«: Joerges, in: SchulteNölke/ Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 205 (S. 208). 130 Müller-Graff, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 267 (S. 267 ff.).

§ 4 Die Systembeeinfl ussung durch Einheits- und Gemeinschaftsrecht

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dass die auf nationaler Ebene zu verzeichnende »Dreiteilung« des Vertragsrechts transnational entweder nur teilweise oder überhaupt nicht nachvollzogen wird.

A. Der Integrationsansatz des internationalen Einheitsrechts Die fehlende Bereitschaft, sonderprivatrechtliche Tendenzen zu berücksichtigen, gelangt besonders anschaulich im internationalen Einheitsrecht zum Ausdruck. Auch wenn die UN-Konvention zum Warenkauf als »cornerstone of ›commercial‹ law« zu begreifen ist131, kommt der Typus »Kaufmann« in keiner ihrer Normen zum Einsatz. Nicht einmal als Sonderkonvention für professionell Handeltreibende ist sie konzipiert, was sich beispielhaft an der Obliegenheitssteigerung der Art. 38, 39 CISG ablesen lässt, wonach die handelstypische Untersuchungs- und Rügepfl icht gerade nicht auf nur berufsmäßige Händler eingeschränkt wird.132 Die Ausgangsnorm des Art. 1 Abs. 3 CISG zeigt vielmehr sogar, dass es irrelevant ist, ob die Vertragsparteien Kaufleute oder Nichtkaufleute sind. Allenfalls über Art. 2 a) CISG, wonach das Übereinkommen die Sonderregimes der (nationalen) Verbrauchervertragsrechte unberührt lässt, signalisieren die CISG-Vertragsstaaten Bereitschaft, das Konsumentenrecht als Sonderprivatrecht anzuerkennen. Eine ähnliche Antipathie gegenüber Sonderprivatrechten trägt das europaweit vereinheitlichte Gerichtsstands- und Kollisionsrecht zur Schau. So fi nden das EuGVÜ und die »Brüssel I«-Verordnung unabhängig von der Art der Gerichtsbarkeit auf alle Zivil- und Handelssachen Anwendung, wobei lediglich u. a. in verbraucherrechtlicher Hinsicht Sonderregeln zum Ausgleich begrenzter Vertragsfreiheit zur Verfügung gestellt werden.133 Dagegen ist ein weltweit gültiger Verbrauchergerichtsstand wegen vorläufigen Scheiterns der Verhandlungen zur »Hague Judgments Convention« (1999/2001) nach wie vor nicht vorhanden.134 Eine Sondervorschrift für handelsrechtliche (Sonder-) Verträge weist auch das EVÜ nicht auf.135 Vielmehr sieht auch dieses Übereinkommen (beschränkt auf die europäischen Staaten), lediglich für Verbraucher- und Arbeitsverträge spezifische Sonderanknüpfungen vor (Art. 5, 6 EVÜ). Eine Sonderbehandlung erfahren Kaufleute allenfalls marginal – und gewiss nicht in-

131 Lookofsky, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, International, Tz. 1. 132 Dazu Magnus, ZEuP 5 (1997), 823 (841 ff.). 133 Erwägungsgrund 14 EuGVO. 134 G.-P. Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, 4. Kap. I. 1. (S. 145 ff.). 135 Zum EVÜ im Überblick: Martiny, in: Reithmann/Martiny (Hrsg.): Internationales Vertragsrecht, 1. Teil A. II. und B. V. (Rn. 4 ff. und Rn. 182 ff.); Magnus, in: Staudingers Kommentar BGB, Vorbem zu Art. 27–37 EGBGB Rn. 22 ff.; Grundmann, Europäisches Schuldver-tragsrecht, 2. Teil § 4 Rn. 1 ff. (S. 149 ff.).

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Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

tendiert – durch die Nichtanwendbarkeit des EVÜ auf Verpfl ichtungen aus Wechseln, Schecks, Eigenwechseln und anderen handelbaren Papieren.136 Wirklich überraschen kann die fehlende internationale Berücksichtigung der Kaufmannsdogmatik nicht, wenn man bedenkt, dass einige Länder wie die Schweiz oder Schweden niemals ein HGB eingeführt haben, während andere Staaten wie Italien, Argentinien oder die Niederlande von einem eigenen HGB nachträglich wieder Abstand nahmen.137 Ein besonderes Regime bildet das Handelsrecht traditionell nur in denjenigen Rechtsordnungen, die durch das mittelalterliche Kaufmannsrecht geprägt worden sind.138 In diesem Sinne weisen zwar die überwiegende Zahl der Rechtsordnungen, die dem civil law system verhaftet (z. B. Argentinien139, Belgien140, Österreich141, Rumänien142 und Spanien143) oder zumindest von ihm beeinflusst worden sind (z. B. Griechenland144 und die Türkei145), ein eigenes Handelsrecht auf. Die Rechtsordnungen des common law system (z. B. Indien146, Irland147, Neuseeland148) bzw. Mischrechtsordnungen, deren Handelsrecht auch durch das common law bestimmt worden sind (z. B. Südafrika149), kennen ein Handelsrecht im kontinentaleuropäischen Sinne dagegen nicht.150 136

Art. 1 Abs. 2 lit. c) und e) EVÜ. Garro, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Argentina, Tz. 25; Monateri/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 25; Hartkamp/Tillema/Heide, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Netherlands, Tz. 11; Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 21; vgl. auch die Aufl istung bei: Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, Einl v § 1 Rn. 25. 138 Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 2 (S. 10). 139 Garro, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Argentina, Tz. 23 ff. 140 Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 30 ff. 141 Posch, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Austria, Tz. 27 ff. 142 Dincha, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Romania, Tz. 20. 143 Vaquer, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Spain, Tz. 26. 144 Stathopoulos, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Hellas, Tz. 11. 145 Oguzman, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Turkey, Tz. 21 ff. 146 Bhadbhade, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, India, Tz. 27. 147 O’Connor/Friel, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Ireland, Tz. 25. 148 Todd/Burrows/Finn, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, New Zealand, Tz. 13. 149 van Huyssteen/van der Merwe/Maxwell, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, South Africa, Tz. 29 ff. 150 Ebenfalls kein eigenes Handelsrecht kennt das dänische Privatrecht, auch wenn es in 137

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B. Eingriffscharakter und fehlendes Eigensystem des EG-Rechts Die supranationale Ausgestaltung des Verbraucherrechts durch die EG einschließlich ihres Desinteresses an der Kaufmannsdogmatik deutscher Provenienz verdient ebenfalls Beachtung. Von den Rechtsakten der EG gehen bis heute zwar keine Grundsätze zu einer eigenen Vertragsrechtssystematik, wohl aber nennenswerte Auslegungs- und Anpassungssignale für die nationalen Vertragsrechtsordnungen aus.151 So können die Sekundärrechtsakte der Gemeinschaft nicht nur in den sachlichen Gehalt, sondern auch in die Rechtstraditionen und das innere System der mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen eingreifen, sodass insbesondere aus deutscher Sicht die Gefahr besteht, dass Kerben in das Nebeneinander von Privat- und Sonderprivatrechten geschlagen werden. Denn in der Regel sind die Gemeinschaftsorgane trotz der oft umfangreichen, aber nicht im Ansatz erschöpfenden Rechtsvergleichung durch die Kommission bei der Vorbereitung und -verabschiedung von sekundärrechtlichen Maßnahmen nicht in der Lage, die privatrechtsgesellschaftlichen Traditionen aller Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.152 I. Vorrang der Richtlinie – Angleichung vor Vereinheitlichung Einerseits führt die Umsetzung von EG-Sekundärrecht damit nicht selten »zu Systembrüchen und Wertungswidersprüchen, zwingt zur Aufgabe von Errungenschaften nationaler Rechte und zum Verlust nationaler (teilweise identitätsstiftender) Eigenheiten«.153 Andererseits greifen die Gemeinschaftsorgane bei der Privatrechtsangleichung aber regelmäßig auf die weniger ins Detail gehende Richtlinie zurück.154 Im Gegensatz zu Verordnungen, die unmittelbar in jedem Mitgliedstaat der Gemeinschaft gelten und auf Rechtsvereinheitlichung abzielen, resultiert aus Richtlinien eine bloße Rechtsangleichung. Sie sind nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels, nicht jedoch hinsichtlich der Wahl von Form und Mittel für die Mitgliedstaaten verbindlich (Art. 249 Abs. 3 EG). Auf diese Weise geben die Mitgliedstaaten im Sinne eines zweistuseiner Rechtstradition dem civil law system näher als dem common law steht [vgl. hierzu: Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 29, 30]. 151 I. Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, 1. Kap. § 2 I. 1. (S. 6). 152 Vgl. Schulte-Nölke/Schulze, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsanglei-chung und nationale Privatrechte, S. 11 (S. 17); zur Problematik, dass auch bei der Auslegung des Gemeinschaftsprivatrechts nicht die Rechtstraditionen aller Mitgliedstaaten berücksichtigt werden können: Baldus, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.): Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 1 (S. 14). 153 Schulte-Nölke/Schulze, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 11 (S. 15); vgl. auch: W.-H. Roth, in: Dauner-Lieb/ Konzen/ K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 25 (S. 28). 154 Martiny, in: Reithmann/Martiny (Hrsg.): Internationales Vertragsrecht, 1. Teil A. IV. 4. a) aa) (Rn. 41 ff.); Georgiades, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. II, S. 603 (S. 607).

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figen Verfahrens keine homogene Gesamtsystematik vor155, was unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes den Vorteil hat, dass die Ausgestaltung der Freiheitspositionen der Privatrechtssubjekte in gewissem Umfang im Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten verbleibt156. Dass die meisten Richtlinien immer noch dem Prinzip der Mindestharmonisierung verpfl ichtet sind und zwischen Verbraucher und Normgeber eine recht lange Verbindungskette besteht157, kann als negatives Beiwerk allerdings zu erheblichen Kontrollkosten führen158. Obwohl eine horizontale Direktwirkung – d. h. eine Anwendung zu Gunsten und zu Lasten von Privaten – im Falle der Nichtumsetzung einer Richtlinie abgelehnt wird159, sehen Teile der Literatur in den Richtlinienbestimmungen, nicht zuletzt wegen der drohenden Staatshaftungsansprüche im Falle der Nichtumsetzung, bereits ein »System« subjektiver Verbraucherrechte160. Ein »umfassender, monistischer Regelungsanspruch« fehlt dem Gemeinschaftsrecht jedoch.161 Es verfolgt nicht das Ziel, eine Rechtsordnung mit einer inneren Systematik zu schaffen und für sich allein genommen bereits einen gerechten Gesamtausgleich der Interessen zu gewährleisten. Resultierend aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist der Regelungsanspruch der Richtlinien stets ein begrenzter162 , sodass selbst unbedachte Überschneidungen zwischen einzelnen Richtlinien, z. B. doppelte Widerrufsrechte, auftreten können163.

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Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 3. Kap. A. I. (S. 33 ff.). Vgl. Kommission – Vorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über den Verbraucherkredit vom 11. 09. 2002 – KOM(2002) 443 endgültig, Ziff. 2.3 (S. 7, 8); Unberath/Johnston, CMLRev 44 (2007), 1237 (1271 ff.). 157 Vgl. Micklitz/Reich, VuR 22 (2007), 121 (122). 158 Kirchner, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 95 (S. 104). 159 EuGH – Faccini Dori/Recreb – Urteil v. 14. 07. 1994, Rs. C-91/92 – Slg. 1994, I-3325 Tz. 19 ff.; Marshall/Health Authority – Urteil v. 26. 02. 1986, Rs. 152/84 – Slg. 1986, 723 Tz. 48; vgl. auch: Müller-Graff, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9 (S. 53, 54); Defl orian, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 119 (S. 133 ff.). 160 Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Vor A 2 Rn. 23, 24; I. Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, 1. Kap. § 4 I. (S. 28 ff.). 161 Schulte-Nölke/Schulze, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 11 (S. 16). 162 Kirchner, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 95 (S. 101 ff.). 163 EuGH – Travel Vac/Sanchis – Urteil v. 22. 04. 1999, Rs. C-423/97 – Slg. 1999, I2195; Kommission – Mitteilung vom 11. 07. 2001 an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endgültig – Ziff. 3.3 Rn. 35. 156

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II. Die gemeinschaftsrechtliche Ignoranz der Kaufmannsdogmatik Aus EG-rechtlicher Perspektive führt vor allem die deutschtypische Unterscheidung zwischen Kaufleuten und sonstigen Privatrechtssubjekten zu Friktionen. Beginnend bei der allgemeinen Freizügigkeit und überleitend zu den Wettbewerbsregeln, der Niederlassungsfreiheit und der Handelsvertreterrichtlinie liegen dem Gemeinschaftsrecht ausschließlich der handelsneutrale Terminus des »Unionsbürgers« (Art. 17 EG) und die kaufmannsübersteigenden Begriffe des »Unternehmers« und »Unternehmens« (Art. 43 ff., 81 ff.) zugrunde. Auch die Dienstleistungsfreiheit macht die gemeinschaftsrechtliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Kaufmannsbegriff anschaulich: In Art. 50 Abs. 2 EG demonstriert sie ganz offen, dass sie Tätigkeiten unabhängig davon liberalisiert, ob es sich um solche gewerblicher, kaufmännischer, handwerklicher oder freiberufl icher Art handelt.164 Während körperschaftlich organisierte Formkaufleute (GmbH, AG, KGaG) damit schon seit langem das Interesse des Richtliniengebers auf sich gelenkt haben165 (wobei Rechtsangleichung maßgeblich in Umsetzung der Publizitätsrichtlinien166 und der Kapitalrichtlinie167 ergangen ist), werden die (deutschen) Einzelkaufleute und Handelsgesellschaften als (Sonder-) Normadressaten gefl issentlich ignoriert. Die Wurzeln für diese ungleiche Gewichtung von Kaufleuten und Verbrauchern sind bereits in den Eingangsartikeln des EG-Vertrages verankert. So wird nach den Zielen der Gemeinschaft zwar die Förderung einer »harmonische[n], ausgewogene[n] und nachhaltige[n] Entwicklung des Wirtschaftslebens« für erstrebenswert erachtet (Art. 2 EG), wobei Art. 3 Abs. 1 lit. g) EG die Verbesserung des Verbraucherschutzes als selbstständige Zielkomponente anerkennt. Eine spezifisch handelsrechtliche Berücksichtigung von Kaufl euten ist aus Gemeinschaftssicht aber nicht vorgesehen. Als Handel begreifen die Gemeinschaftsrechtsakte vielmehr die gesamte unternehmerische Tätigkeit am Markt, beziehen also auch die freien Berufe und die Urproduktion mit ein.168 Dass das vorbeschriebene Grundgerüst im wesentlichen nur Stützpfei164

Vgl. W.-H. Roth, VuR 22 (2007), 161 (162). Im Überblick: I. Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, 3. Kap. § 2 I. (S. 163 ff.). 166 Rat – Erste Richtlinie 68/151/EWG zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne es § 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten – ABl. 1968 Nr. L 65 S. 8; Richtlinie 2003/58/EG zur Änderung der Richtlinie 68/151/EWG in Bezug auf die Offenlegungspfl ichten von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen – ABl. 2003 Nr. L 221 S. 13. 167 Rat – Zweite Richtlinie 77/91/EWG zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne es § 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der AG sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten – ABl. 1976 Nr. L 26 S. 1. 168 Grundmann, ZHR 163 (1999), 635 (645). 165

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ler für Unternehmer- und Verbraucherbelange ist, eine eigene Plattform für Kaufleute aber nicht vorsieht, erlangt auch für die Rechtsanwendung Bedeutung. Denn sämtliche Vertragsrechtsvorschriften, die auf die EG zurückzuführen sind, müssen nicht nur im Lichte des Gemeinschaftsrechts ausgelegt werden, sondern auch im Sinne der Zielvorstellungen der Eingangsartikel des EG-Vertrages verstanden werden. Hinzu kommt, dass sich das Vertragsrecht aus europäischer Perspektive in einer Umbruchphase befi ndet. So hat der Europäische Rat in seinem »Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union« vom November 2004 das diesbezügliche Grundsatzprogramm wie folgt defi niert: »Im Bereich des Vertragsrechts sollte die Qualität des bestehenden und künftigen Gemeinschaftsrechts durch Maßnahmen der Konsolidierung, Kodifi zierung und Rationalisierung geltender Rechtsakte und durch die Entwicklung eines gemeinsamen Bezugsrahmens verbessert werden. Es sollte ein Rahmen geschaffen werden, um die Möglichkeiten zur Entwicklung von EU-weiten vertragsrechtlichen Standardbestimmungen auszuloten, die von den Unternehmen und Berufsverbänden in der Union angewendet werden könnten. Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, damit der Rat die Qualität und Kohärenz aller gemeinschaftlichen Rechtsinstrumente für die Zusammenarbeit in Zivilsachen systematischer prüfen kann.«169

C. Bestrebungen für ein europäisches Zivilgesetzbuch Die Bestrebungen der Gemeinschaft im soft law-Bereich könnten letztlich sogar dazu führen, dass das deutsche Vertragsrecht in einigen Jahren oder Jahrzehnten durch ein europäisches Einheitsrecht abgelöst wird, das u. U. in seiner persönlichen Indifferenz ähnlich wie das UN-Kaufrecht gar nicht zwischen Kaufleuten, Unternehmern und Verbrauchern unterscheidet.170 So hat das Europäische Parlament bereits im Jahre 1989 angemahnt, »dass mit den erforderlichen Vorbereitungsarbeiten zur Ausarbeitung eines einheitlichen Europäischen Gesetzbuches für das Privatrecht begonnen« werden sollte.171 Da die 169 Rat – »Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union« – ABl. 2005 Nr. C 53 S. 1 Tz. 3.4.4. 170 Nrn. 5 und 6 der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. 03. 2006 weisen gleichwohl auf eine Fortführung des handels- und verbraucherrechtlichen Sonderrechts auf europäischer Ebene hin: ZEuP 14 (2006), 908 (909, 910); zu den Bestrebungen im soft law-Bereich: J. Meyer, BB 59 (2004), 1285 (1285 ff.); Lehne/Haak, in: Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 41 (S. 41 ff.); Kenny, ELRev 28 (2003), 538 (538 ff.); van Gerven, ELRev 27 (2002), 156 (156 ff.); Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 4 (S. 205 ff.); Weatherill, EU Consumer Law and Policy, Ziff. 7 (S. 149 ff.); Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der EU, 1.1.2. (S. 11 ff.); Georgiades, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. II, S. 603 (S. 615 ff.). 171 Parlament – Entschließung A2–157/89 – ABl. C 158 vom 26. 06. 1989, S. 400, 401;

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Kommission die geforderten Arbeiten im Jahre 1994 noch nicht angefangen hatte, forderte das Europäische Parlament zu diesem Zeitpunkt ein weiteres Mal, »die Arbeiten im Zusammenhang mit der möglichen Ausarbeitung eines einheitlichen Europäischen Gesetzbuchs für das Privatrecht in Angriff zu nehmen«.172 Mitte 2001 veröffentlichte schließlich die EG-Kommission eine Mitteilung, mit der ein Anstoß geliefert werden sollte, um die Diskussion über das europäische Vertragsrecht durch Einbeziehung des Europäischen Parlaments, des Rates und aller interessierten Kreise einschließlich der Wirtschaft, der Juristen aus Praxis und Wissenschaft und der Verbraucherverbände weiter auszuweiten.173 I. Der gemeinsame Referenzrahmen (GRR) Mittlerweile sind die soft law-Bestrebungen in die Erarbeitung eines Gemeinsamen Referenzrahmens (GRR) gemündet, zu dessen Workshops bereits ein zweiter Fortschrittsbericht erstellt worden ist.174 Für die ursprüngliche Konstituierung dieses Projekts ursächlich war die Mitteilung der Kommission vom 11. 10. 2004175, mit der im Grunde ein Auftrag zur Verbesserung des existierenden und zukünftigen vertragsrechtsrelevanten Gemeinschaftsrechts erteilt wurde.176 Die Qualität und Kohärenz des existierenden und zukünftigen Gemeinschaftsrechts soll verbessert werden177, allerdings vorrangig erst einmal im Bereich des Verbrauchervertragsrechts178. Der GRR soll dabei als eine Art Werkzeugkasten dienen, d. h. als eine »toolbox« auf dem Weg zu einem einvgl. zur Entstehung dieser Entschließung: Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 5 II 3. (S. 76, 77). 172 Parlament – Entschließung A3–0329/94 – ABl. C 205 vom 25. 07. 1994, S. 518, 519; vgl. hierzu auch: Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 5 II 4. (S. 77 ff.). 173 Kommission – Mitteilung vom 11. 07. 2001 zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endgültig. 174 Kommission – Bericht vom 25. 07. 2007 »Zweiter Fortschrittsbericht zum Gemeinsamen Referenzrahmen, KOM(2007) 447 endgültig; zu den Fortschritten bei der Erarbeitung des GRR im Überblick: Lando, ERCL 3 (2007), 245 (245 ff.); von Bahr, ERCL 3 (2007), 349 (349 ff.); kritisch auf eine Wissensanmaßung der EU-Bürokratie hinweisend: Ranieri, in: Eger/Schäfer (Hrsg.): Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 46 (S. 54 ff.). 175 Kommission – Mitteilung vom 11. 10. 2004 – »Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen«, KOM(2004) 651 endgültig. 176 Zum GRR im Überblick: Miller, JBL 2007, 378 (378 ff.); Flessner, ZEuP 15 (2007), 112 (112 ff.); Reich, ZEuP 15 (2007), 161 (161 ff.); Schulze, ZEuP 15 (2007), 731 (731 ff.); Zimmermann, ZEuP 15 (2007), 109 (109 ff.); Martiny, ZEuP 15 (2007), 212 (212 ff.). 177 Kommission – Mitteilung vom 11. 10. 2004 – »Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen«, KOM(2004) 651 endgültig, Ziff. 2.1 (S. 2–6). 178 Kommission – Bericht vom 25. 07. 2007 »Zweiter Fortschrittsbericht zum Gemeinsamen Referenzrahmen, KOM(2007) 447 endgültig – Ziff. 2.

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heitlichen Vertragsrecht.179 Das Phänomen der Sonderprivatrechte bleibt in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt. Erkenntnisreich ist insbesondere die Parlamentsentschließung vom 23. März 2006180, wonach der geplante Referenzrahmen als allgemeines Gerüst für Verträge Geltung beansprucht, das nicht einseitig zu Gunsten eines begrenzten Teils der Teilnehmer am Rechtsverkehr konzipiert ist, sondern sich auf mehr als nur auf Großunternehmen bezieht.181 Soweit es aus Verbraucherschutzinteressen erforderlich ist, soll zwischen dem reinen Unternehmensverkehr (b2b) und dem Rechtsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern (b2c) aber durchaus eine Trennung erfolgen.182 Verabschieden wird die Kommission den GRR nach eigenen Angaben als zunächst unverbindliches Rechtsinstrument im Jahre 2009.183 Nur vage deutet die Mitteilung an, wie es danach weitergehen könnte. Im Raum stehen ein sog. »optionales Instrument« mit der Alternative zwischen einem »Opt-in«- und einem »Opt-Out«-Modell.184 Die Diskussion zu diesen Alternativen sollen zu gegebener Zeit fortgeführt werden. Während bei dem »Opt-in«-Modell die Vertragsparteien ausdrücklich erklären müssten, dass das erarbeitete Einheitsrecht auf ihr Vertragsverhältnis Anwendung fi ndet, müssten sie im Falle eines »Opt-out«-Modells ausdrücklich das Gegenteil zum Ausdruck bringen, um eine Anwendung des GRR zu verhindern. In jedem Fall sollen die Arbeiten an dem europäischen Vertragsrecht einschließlich der Entscheidung zwischen »Opt-in« und »Opt-out«-Lösung mit den Arbeiten an der Umwandlung des EVÜ in ein Gemeinschaftsinstrument sowie mit der Aktualisierung dieser kollisionsrechtlichen Einheitsbestimmungen abgestimmt werden.185 Ob und 179 So auch lit. a) des Standpunktes des Justizministerrates vom 18. 04. 2008: Council of European Union – Press Release 8397/08 (Presse 96), S. 18 – URL: http://www.eu2008. si/en/News_and_Documents/Council_Conclusions/April/0418_JHA.pdf (04. 08. 2008); vgl. auch: Remien, GPR 5 (2008), 124 (125). 180 Parlament – Entschließung vom 23. 03. 2006 zum Europäischen Vertragsrecht und zur Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands: weiteres Vorgehen (2005/2022[INI]) – ZEuP 14 (2006), 908 (908 ff.). 181 Parlament – Entschließung vom 23. 03. 2006 zum Europäischen Vertragsrecht und zur Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands: weiteres Vorgehen (2005/2022[INI]) – ZEuP 14 (2006), 908 (909). 182 Parlament – Entschließung vom 23. 03. 2006 zum Europäischen Vertragsrecht und zur Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands: weiteres Vorgehen (2005/2022[INI]) – ZEuP 14 (2006), 908 (909, 910); vgl. auch: Lehne, ZEuP 15 (2007), 1 (3); Hesselink, EurRevPL 15 (2007), 323 (323 ff.). 183 Kommission – Mitteilung vom 11. 10. 2004 – »Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen«, KOM(2004) 651 endgültig, Ziff. 2.1.3 und 3.2.4 (S. 6 und S. 14). 184 Vgl. hierzu: Beale, ERCL 3 (2007), 257 (269 ff.); EuZW 19 (2008), 196; GPR 5 (2008), 101 (101 f.); für ein optionales Instrument: Leible, BB 63 (2008), 1469 (1469 ff.). 185 Kommission – Mitteilung vom 11. 10. 2004 – »Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen«, KOM(2004) 651 endgültig, Anhang II Ziff. 2. (S. 19 ff.).

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inwieweit der GRR als verbindliche Verordnung oder als bloße Empfehlung umgesetzt werden könnte, lässt die Mitteilung bewusst offen.186 Gerade im vorliegenden Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich die Kommission u. a. die Frage stellt, »ob sich ein optionales Instrument nur auf die Geschäfte zwischen Unternehmen oder auch auf Verträge erstrecken sollte, an denen Verbraucher beteiligt sind«.187 Der Jusitzministerrat beschreibt in seinem Standpunkt vom 18. April 2008 die Rechtswirkungen des GRR dahingehend, dass »a set of non-binding guidelines to be used by lawmakers at Community level on a voluntary basis« geplant sei, das als gemeinsame Inspirationsquelle oder Referenz eingesetzt und im Rahmen der Rechtssetzung genutzt werden könne.188 II. Das Netzwerk der Exzellenz (CoPECL) Letztlich könnte die Ausgestaltung des europäischen Vertragsrechts (einschließlich seiner Positionierung gegenüber den Sonderprivatrechten) nahezu gänzlich auf ein Produkt der Wissenschaft hinauslaufen. Bereits bei der Vorbereitung des GRR setzte die Kommission auf ein durch Forschungsmittel der EG fi nanziertes Netzwerk verschiedener europäischer Forschungsgruppen, die sich jeweils auf eine Prinzipienbildung des existierenden Vertragsrechts (»Acquis Group«) bzw. des durch europäisches Recht bisher nur marginal berührten Vertragsrechts (»Study Group on a European Civil Code«) spezialisiert haben.189 Wie der jüngst veröffentlichte erste Teil der »Principles of the Existing EC Contract Law (Acquis Principles)« belegt, sind die akademischen Strukturen vorhanden und funktionieren.190 Im Jahre 2008 folgte die vorläufige Ausgabe eines Entwurfs zum GRR (»Draft Common Frame of Reference – DCFR«), der von der »Acquis Group« und der »Study Group on a European Civil Code« publiziert wurde und mit dem »politischen« GRR nicht gleichge-

186 Kommission – Mitteilung vom 11. 10. 2004 – »Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen«, KOM(2004) 651 endgültig, Anhang II Ziff. 3. (S. 20, 21). 187 Kommission – Mitteilung vom 11. 10. 2004 – »Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen«, KOM(2004) 651 endgültig, Anhang II Ziff. 5. (S. 22). 188 So auch lit. d) des Standpunktes des Justizministerrates vom 18. 04. 2008: Council of European Union – Press Release 8397/08 (Presse 96), S. 18 – URL: http://www.eu2008. si/en/News_and_Documents/Council_Conclusions/April/0418_JHA.pdf (04. 08. 2008); vgl. auch: Remien, GPR 5 (2008), 124 (126 f.). 189 Vgl. Kommission – »Erster jährlicher Forschungsbericht zum europäischen Vertragsrecht und zur Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands« vom 23. 09. 2005 – Kom(2005) 456 endgültig, Ziff. 2.1 (S. 2 ff.); Dannemann, in: Acquis Group (Hrsg.): Contract I, Introduction, S. XXIII ff. 190 Acquis Group (Hrsg.): Contract I, S. 1 ff.; vgl. hierzu: Jansen/Zimmermann, JZ 62 (2007), 1113 ff.; Zoll, GPR 5 (2008), 106 ff.

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Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

setzt werden sollte.191 Während man rechtsvergleichend auf diese Weise versucht, »bestehende Gemeinsamkeiten in den nationalen Privatrechtsordnungen aufzuspüren und für die Rechtsharmonisierung fruchtbar zu machen«192 , ist in der Wissenschaft desweiteren eine Besinnung auf die rechtshistorische Forschung zu verzeichnen, um aus dem ius commune – als früher einmal existierenden europäischen Privatrecht – Erträge für die Wiederbelebung der gemeinsamen Rechtstraditionen zu fi nden193. Einige Bücher des DCFR (2008) basieren ihrerseits auf Arbeiten der in den 1980er Jahren gegründeten »Lando-Kommission« (»Commission on European Contract Law«), einer privaten Gruppe unabhängiger Experten unter dem Vorsitz des Kopenhagener Professors Ole Lando, die zeitweise fi nanziell von der Europäischen Kommission unterstützt worden ist.194 Aus den Sitzungen der ersten (1980–1990) und zweiten Kommission (1992–1996) dieses mit Experten aus den einzelnen EG-Mitgliedstaaten zusammengesetzten Gremiums sind im Jahre 2000 die in englischer Sprache veröffentlichten Teile I und II der »Principles of European Contract Law« (PECL) hervorgegangen195 ; im Jahre 2003 folgte Teil III196. Obwohl die Principles keine verbindlichen Rechtsregeln darstellen, liefern sie Hinweise auf Tradition und Zukunftsprognose der europäischen Vertragsrechtsordnungen.197 Dabei ist gerade im vorliegenden Zusammenhang bemerkenswert, dass sich die Principles nicht »mit irgendwel191 Von Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.): Principles, Defi nitions and Model Rules of European Private Law (DCFR), S. 3 ff. und S. 71 ff. 192 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 1. Teil 3. Abschnitt § 2 E. (S. 40); vgl. auch: Zimmermann, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 103 (S. 103 ff.); Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der EU, 1.8.5. (S. 199 ff.). 193 Vgl.: Schulze, ZEuP 1 (1993), 442 (442 ff.); Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 3. Kap. C. IV. 2. (S. 56); dies., Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 2. Kap. E. III. (S. 156, 157); Repgen, JJZ 1997, 9 (9 ff.); Zimmermann, JZ 1992, 8 (8 ff.); ders., ZEuP 1 (1993), 4 (4 ff.); Knütel, ZEuP 2 (1994), 244 (244 ff.); ders., JuS 36 (1996), 768 (768 ff.). 194 Vgl. hierzu im Überblick: Lando, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 61 (S. 61 ff.); ders., in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 567 (S. 569 ff.); ders., in: Weyers (Hrsg.): Europäisches Vertragsrecht, S. 81 (S. 92 ff.); Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 5 II 5. d) bb) (S. 91 ff.); Zimmermann, JZ 50 (1995), 477 (477 ff.); aus französischer Sicht: Witz, ZEuP 12 (2004), 503 (503 ff.); differenzierend: Basedow, CMLRev 33 (1996), 1169 (1170), ders., Europäisches Vertragsrecht für Europäische Märkte, I. (S. 4). 195 Kommission für Europäisches Vertragsrecht (Hrsg.): Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, Teile I und II, S. 2 ff. 196 Kommission für Europäisches Vertragsrecht (Hrsg.): Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, Teil III, S. 574 ff. 197 Verbindlichen Charakter können die PECL lediglich durch ausdrückliche Vereinbarung oder im Wege der Lückenfüllung erlangen, wenn für eine bestimmte Auslegungs- bzw. Anwendungsfrage die anwendbare Rechtsordnung oder die anwendbaren Rechtsregeln keine Lösung bereithalten (vgl. Art. 1: 101 PECL).

§ 4 Die Systembeeinfl ussung durch Einheits- und Gemeinschaftsrecht

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chen besonderen Vertragstypen« oder »Spezialvorschriften für Verbraucherverträge« befassen198, sondern einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, sodass sich ihr Anwendungsbereich auf »Verträge im Allgemeinen« erstreckt, »einschließlich solcher zwischen Kaufleuten und Verbrauchern«.199 Als weiterer Marktstein der soft law-Entwicklung ist der Vorschlag der italienischen Gandolfi-Gruppe hervorzuheben, die nach erfolgter Gründung der »Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler« (1992) den Text eines Europäischen Vertragsgesetzbuches (»Code Européen des Contrats«) in zwei Bänden veröffentlichte (1999). 200 Hierbei handelt es sich im Grunde um einen privaten Vorentwurf einer möglichen Europäischen Vertragsrechtskodifi kation, der in Art. 9 Abs. 1 auch eine Sondervorschrift zu einer besonderen b2cKonstellation aufweist. Danach muss ein »Kaufmann, der einem Verbraucher ein Vertragsangebot außerhalb seiner Geschäftsräume unterbreitet, . . . diesen schriftlich über sein Recht, . . . den Vertrag aufzuheben, unterrichten«. 201 Der Bedeutungsgehalt von b2c-Kaprizen wie diesen schwindet allerdings in der Gesamtbetrachtung, wenn man bedenkt, dass mit dem »Common Core Project«, der »Pavia-Group«202 und den »Principles of European Tort Law« der Tilburg-Gruppe mittlerweile auch zahlreiche andere Arbeitsgruppen ins Leben gerufen wurden, die mit ihren (Teil-) Konzepten allesamt beanspruchen, Einfluss auszuüben. 203 198 Von Bar/Zimmermann, in: Kommission für Europäisches Vertragsrecht (Hrsg.): Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, Teile I und II, Einführung Ziff. 3. (S. XXVII). 199 Damit sind die PECL in ihrem ganzheitlichen Einheitsanspruch ähnlich wie das klassische BGB konzipiert: Sie bilden ein Regelwerk, das größtmögliche Flexibilität gewährleisten möchte und offen sein soll, künftige Entwicklungen des Rechtsdenkens im Bereich des Vertragsrechts zu berücksichtigen [vgl. von Bar/Zimmermann, in: Kommission für Europäisches Vertragsrecht (Hrsg.): Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, Teile I und II, Einführung Ziff. 3. (S. XXVII)]. Den Besonderheiten von Spezialkonstellationen wird nicht über personenspezifische Einzelregelungen Rechnung getragen, sondern über anpassungsfähige Auslegungsgrundsätze, die sich in erster Linie an den Paradigmen der Angemessenheit, Vernünftigkeit und an den Geboten von Treu und Glauben orientieren (vgl. Art. 1:302 PECL). Soweit die besondere Geschäftserfahrenheit bestimmter Vertragsparteien Berücksichtigung fi ndet, wird nicht auf den Unternehmer- oder Kaufmannsbegriff abgestellt, sondern lediglich zwischen professionellen und nicht professionellen Marktteilnehmern unterschieden (vgl. Art. 5:102 und Art. 6:101 PECL). 200 Französischer Text in: Gandolfi, Code Européen des Contracts, S. 3 ff.; deutsche Übersetzung des Vorentwurfs: ZEuP 10 (2002), 139 ff. 365 ff.; im Überblick: Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 5 II 5. d) dd) (S. 95 ff.); Sonnenberger, RIW 47 (2001), 409 (409 ff.). 201 Vgl. konkret zu den verbraucherrechtsrelevanten Vorschriften der Art. 9 und 159: ZEuP 10 (2002), 141 und 386. 202 Vgl. hierzu: Kommission – Mitteilung vom 11. 07. 2001 an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endgültig – Ziff. 1.6 Fn. 7. 203 Hierzu im Überblick: Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts

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Mit anderen Forschungsgruppen haben sie sich im Mai 2005 zum selbst ernannten »Netzwerk der Exzellenz« (»Joint Network on European Private Law« – CoPECL) zusammengeschlossen, um sich seitdem koordiniert für den gesamteuropäischen Kodifi kationsgedanken einzusetzen. 204

D. Die verbraucherrechtliche Remanipulation des bürgerlichen Rechts Auch wenn die Arbeiten an dem GRR derzeit noch keine verbindliche Wirkung entfalten, prägen die Verbraucherrichtlinien mit ihrem supranationalen Einflussgehalt schon seit langem das deutsche Vertragsrecht. Neben den Sonderprivatrechten bleibt auch das bürgerliche Vertragsrecht von diesen Akzentverschiebungen nicht unberührt. 205 Sichtbar weitreichende Folgen hatte etwa die Umsetzung der Verbrauchsgüter-, E-Commerce- und Zahlungsverzugsrichtlinie, die 2002 im Wege einer »großen Lösung« zu der tiefgreifendsten Reform des deutschen Schuldrechts seit dem Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900 geführt hat. 206 Halten EuGH und BGH selbst nach dieser Reform noch allgemeine Regelungen wie diejenige der Nutzungsentschädigung bei Ersatzlieferung (§ 439 Abs. 4 BGB) mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie207 für unvereinbar208, verdeutlicht dies, dass das allgemeine und das Verbrauchervertragsrecht jedenfalls nicht so hermetisch voneinander abgeschottet sind, dass »nicht ein ständiger – offener oder versteckter – geistig-wissenschaftlicher Transfer zwischen ihnen stattfinden würde«. 209 Dieser Remanipulationsgehalt könnte in Zukunft weiter zunehmen, vielleicht sogar zu einem Verlust der Ordnungsfunktion des BGB führen. 210 Denn gemäß den Konsultationspunkten, welche die Kommission in ihrem aktuellen Grünbuch zur »Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« zur Diskussion stellt, wird nicht nur in Erwägung gezogen, in der EU, 1.1. (S. 16 ff.); zu den Gruppierungen des CoPECL vgl. auch: Dannemann, in: Acquis Group (Hrsg.): Contract I, Introduction, S. XXIII. 204 URL: http://www.copecl.org/ (04. 08. 2008). 205 Kirchner, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 95 (S. 106); Magnus, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 15 Vorbem. Rn. 4; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 2. Kap. F. (S. 159 ff.); Reich, Privatrecht und Verbraucherschutz in der Europäischen Union, IV. 1. (S. 24 ff.). 206 Vgl. Grundmann, in: Grundmann/Bianca (Hrsg.): EU-Kaufrechtsrichtlinie, Einl. Rn. 130; ders, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 281 (S. 281 ff.); Dauner-Lieb, in: Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 3 (S. 6 ff.). 207 Iin concreto mit Art. 3 Abs. 2 bis 4 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. 208 EuGH – Quelle/Bundesverband – Urteil v. 17. 04. 2008, Rs. C-404/06 – NJW 2008, 1433 (1433 ff.); BGH – Beschluss v. 16. 08. 2006, Az.: VIII ZR 200/05 – EuZW 18 (2007), 286 (286 ff.). 209 Gilles, JA 22 (1980), 1 (6); vgl. auch: N. Fischer, VuR 18 (2003), 20 (23). 210 Basedow, in: Cian (Hrsg.): I cento anni del codice civile tedesco, S. 331 (S. 342).

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den Geltungsbereich der Klauselrichtlinie auf im einzelnen ausgehandelte Klauseln zu erweitern. 211 Die Kommission sieht darüber hinaus auch Konsultationsbedarf, ob die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie auf Mietverträge und Verträge zum Bezug von digitalen Inhalten erstreckt werden könnte. 212 Systematisch und nicht zuletzt ökonomisch wäre ein solcher Schritt allerdings bedenklich. Ein offensichtlicher Widerspruch würde vor allem zu dem ökonomischen moral hazard erzeugt, dass ausufernder Schutz gerade keine Eigenverantwortlichkeit fördert und weniger Anstoß zu überlegtem, als vielmehr Anreiz zu verantwortungslosem Handeln im Rechtsverkehr liefert. 213 Nicht zuletzt die Ausbildung der Privatrechtssubjekte zu Individuen, die verantwortungsbewusst handeln, würde man dadurch torpedieren. 214 Umso Besorgnis erregender ist diese Entwicklung, als bereits jetzt Teile der Literatur in dem Ausmaß an Verschuldung in privaten Haushalten eine Bestätigung dafür sehen, dass in der Praxis viele Verträge trotz Verbraucherschutz irrational und »ohne realistische Einschätzung der eigenen fi nanziellen Möglichkeiten« abgeschlossen werden. 215 Beispielhaft werden Verträge mit AGBRelevanz angeführt, die Anreiz zur Bequemlichkeit gäben, indem Verbraucher im Vertrauen auf die Klauselkontrolle gar nicht mehr darauf angewiesen seien, sich mit vorformulierten Inhalten auseinanderzusetzen. 216 Lorenz spricht – Bezug nehmend auf Singer 217 – gar von einem »Teufelskreis«218. Werde durch voreilige Kontrolle die Tendenz zur Nachlässigkeit gefördert, so schaffe nicht zuletzt das Verbraucherleitbild selbst akuten und reellen Kodifi kationsbedarf, um einen externen Schutz des künstlich kreierten Verbrauchertypus sicherzustellen. Ähnlich äußert auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium die Ansicht, »dass die[.] schleichende Bürokratisierung unseres Lebens nicht zuletzt Folge der . . . Tendenz zur immer weitergehenden Einschränkung der Vertragsfreiheit ist«. 219 211 Kommission – Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – ABl. 2007 Nr. C 61 S. 1, Anhang 1 Tz. 4.4.1. 212 Kommission – Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – ABl. 2007 Nr. C 61 S. 1, Anhang 1 Tz. 5.1. 213 Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1. Kap. § 2 II. (S. 11); N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Teil 1 Kap. 1 I. A. 4. b) (S. 19); Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 4 § 7 B. I. (S. 329 ff.). 214 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (170). 215 N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Teil 1 Kap. 1 I. A. 4. b) (S. 19). 216 N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Teil 1 Kap. 1 I. A. 4. b) (S. 19, 20). 217 Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 4 IV. 2. (S. 25, 26). 218 Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1. Kap. § 2 II. (S. 11). 219 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – »Mehr Vertragsfreiheit, geringere Regulierungsdichte, weniger Bürokratie«, Stellungnahme vom 16. 09. 2006, Ziff. I. (S. 2).

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I. Die Auseinandersetzung mit der bürgerlich-rechtlichen Remanipulation Während die Appelle neoliberaler Rechtstheoretiker, die seit Jahrzehnten eine Rückbesinnung auf die »Privatrechtsgesellschaft« im Sinne F. Böhms anmahnen, ungehört blieben 220, hat sich der Verbraucher »vom Schattendasein zur ›zentralen Lichtgestalt‹« des Vertragsrechts gemausert, mit der Folge, dass er mittlerweile als Schrittmacher einer europäischen Privatrechtsdogmatik fungiert. 221 Der »Störfall der pathologischen Willenserklärung« wird immer mehr zum »Modellfall der Rechtsgeschäftsdogmatik«222 , sodass sich das Privatrecht nicht mehr »aus seinem Kern heraus, sondern von den Besonderheiten des Verbraucherrechts her«223 entwickelt 224. Wurde vertragsrechtlicher Verbraucherschutz in den Kinderjahren seiner Entwicklung »noch als seltene Ausnahme zu den allgemeinen Regeln des Vertragsrechts verstanden«, ist er mittlerweile »in vermutlich allen Mitgliedstaaten [der EG] eher die Regel als die Ausnahme und muß wohl neben dem traditionellen allgemeinen Vertragsrecht als eine zusätzliche Quelle zivilrechtlicher Prinzipien betrachtet werden«. 225 So beobachtet auch der Wissenschaftliche Beirat mit Sorge eine Tendenz, »die auf eine immer weitergehende Aushöhlung des Prinzips der privatautonomen Gestaltung von Verträgen hinausläuft«. 226 In ihrer logischen Konsequenz könnte die Anerkennung einer allgemeinen wirtschaftlichen Unterlegenheit des Verbrauchers »die Wirtschaftsordnung als ganzes« in Frage stellen 227, wenn man berücksichtigt, dass das Verbrau220 Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 3. (S. 105 ff.); ders., Ordo 17 (1966), 75 (75 ff.); Begriff der »Privatrechtsgesellschaft« übernommen von: Mayer-Maly, Raumordnung und Privatrechtsgesellschaft, S. 7 ff.; Canaris, FS für Lerche (65. Gebtg.), S. 873 (S. 873 ff.); Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, I. (S. 11); F. Bydlinski, FS für Raisch (70. Gebtg.), S. 7 (S. 7 ff.); Damm, VersR 50 (1999), 129 (140, 141); Isensee, FS für Großfeld (65. Gebtg.), S. 485 (S. 492, 493); aus dem Blickwinkel der Angleichung des Europäischen Vertragsrechts: Ranieri, in: Riesenhuber (Hrsg.): Privatrechtsgesellschaft, S. 355 (S. 355 ff.). 221 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 1 VIII. (S. 93); Lurger, Vertragliche Solidarität, 1. Kap. (S. 12). 222 Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 1 (S. 2). 223 Pfeiffer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 21 (S. 22). 224 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 1 VIII. (S. 93). 225 Lurger, EJCL Vol. 2.1 (1998), Tz. 1. 226 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – »Mehr Vertragsfreiheit, geringere Regulierungsdichte, weniger Bürokratie«, Stellungnahme vom 16. 09. 2006, Ziff. I. (S. 2). 227 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, D. III. (S. 143, 144); vgl. hierzu auch Mestmäcker, nach dem »[d]ie zureichende Ordnung der Wirtschaft bei grundsätzlich dezentraler Wirtschaftsplanung . . . nicht nur eine Frage von Gerechtigkeit im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zueinander . . . ist . . ., sondern . . . auch und gerade für das politische Gemeinwesen« Bedeutung hat [Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, I. 2. (S. 61, 62)].

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cherrecht »Institutionen des Zivilrechts, die bislang Ausnahme sind . . . zur Leitschnur einer sozialstaatlichen Zivilrechtsdogmatik« macht. 228 Angesichts dieser Entwicklung ist man fast schon vor die Alternative gestellt, ob in Anbetracht des erreichten EG-rechtlichen Harmonisierungsniveaus »das traditionelle bürgerliche Vermögensrecht künftig ›im Geiste‹ der neuzeitlichen ›Sonderprivatrechte‹ einschließlich der neuen besonderen Verbraucherrechtsschöpfungen zu interpretieren, zu innovieren und zu reformieren oder aber das allgemeine Privatrecht vom ›systemsprengenden Gedankengut‹ der verbraucherrechtlichen Sondergesetze freizuhalten« ist. 229 Müsste die Ideologie der Anfangsjahre des Verbraucherschutzes, die Privatrechtsordnung an die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen, nicht überdacht und als Kurswechsel in Erwägung gezogen werden, die über das Ziel hinausgeschossenen gesetzgeberischen Maßnahmen auf das tatsächlich erforderliche Maß zurückzunehmen? II. Der unechte Verbraucherschutz der Pauschalreiserichtlinie Ein konkretes Beispiel für die verdeckte Remanipulation des allgemeinen Vertragsrechts liefert jedenfalls die Pauschalreiserichtlinie. Zwar tritt sie rein formal unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes in Erscheinung, indem sie als Reisenden fadenscheinig auf den Verbraucherbegriff abstellt. Materiell erfasst sie jedoch auch Pauschalreisen, die zu beruflichen Zwecken angetreten werden. Sie begreift als »Verbraucher« jeden Hauptkontrahenten, Begünstigten oder Erwerber einer Pauschalreise, ohne dabei einengend auf den privaten Zweckbezug abzustellen. 230 Sie spricht als Verbraucher nicht nur natürliche Personen an, sondern bezieht auch juristische Personen, Gewerbetreibende und Freiberufler in ihren Abnehmerkreis ein, die zum Besuch eines Kongresses oder einer Fortbildungsveranstaltung eine Pauschalreise buchen. 231 Statt auf den Begriff des Unternehmers nimmt sie auf die Begriffe des »Veranstalters« bzw. »Vermittlers« Bezug, erfasst atypisch auf Unternehmerseite also auch nichtgewerbliche Veranstalter (z. B. Volkshochschulen, Jugendverbände, Sportvereine etc.) 232 , sodass sie streng genommen »nicht verbraucherprivat-

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Reich, ZRP 7 (1974), 187 (189). Gilles, JA 22 (1980), 1 (6); vgl. auch: Westermann, AcP 178 (1978), 150 (153). 230 Art. 2 Abs. 2, 3 und 4 Pauschalreiserichtlinie. 231 B. Kilian, Der Verbraucherbegriff in der EU, B. I. 3. b) (3) (b) (5) (S. 71); Staudenmayer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 63 (S. 68); Tonner, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 12 Art. 2 Rn. 18; Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, C. I. 2. (S. 144); Ebers, in: Acquis Group (Hrsg.): Contract I, Chapt. I Sect. 2 Art. 1: 201 A. 1. Rn. 2 (S. 23). 232 Tonner, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 12 Art. 2 Rn. 13 ff. 229

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Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

rechtlicher Natur, sondern Teil des im Allgemeinen geltenden Besonderen Schuldrechts« ist. 233 Pauschalreisen sind in der Regel Luxusgüter, mit denen eine breite Bevölkerungsschicht zu tun hat; auch intellektuell überforderte und ökonomisch schlechter gestellte Personenkreise befassen sich aus Eigenantrieb mit ihnen, wobei bei ihnen der jeweilige Reisepreis einen erheblichen Anteil am Jahresnettoeinkommen ausmachen kann. Trotz dieses Luxuscharakters bringt die Richtlinie gesamtbetrachtend eine »starke Kopflastigkeit . . . mit Informationspfl ichten« zum Ausdruck. 234 Prospekt- und vertragsbegleitende Informationspfl ichten werden teilweise doppelt und deckungsgleich gefordert, was die Kompatibilität der Richtlinienbestimmungen mit dem Informationsmodell des klassischen Zivilrechts zweifelhaft erscheinen lässt. Während der Veranstalter vor Vertragsschluss den Reisenden über Tatsachen informieren muss, die der Reiseleistung entgegen stehen könnten 235, hat er ihn nach Vertragsschluss, aber »rechtzeitig vor Beginn der Reise«, über Einzelheiten zu informieren, die zur geordneten Durchführung der Reise erforderlich sind, wie z. B. Reisezeiten, Notfalladressen und gängige Versicherungen 236. Gemeinhin wird der persönlich weite Anwendungsbereich der Pauschalreiserichtlinie zwar damit gerechtfertigt, dass »[d]as Bild vom wirtschaftlich unterlegenen, geschäftlich unerfahrenen privaten Verbraucher . . . auf dem Gebiet des Reiserechts [nicht passe]«237, seien gewerblich Reisende in den Fällen der Insolvenz oder Zahlungsunfähigkeit, vor denen die Pauschalreiserichtlinie u. a. schützen möchte, doch in gleicher Weise schutzbedürftig wie Verbraucher. 238 Gerade in diesem Zusammenhang liegt die Richtlinie aber »[v]öllig außerhalb eines liberalen Konzepts des Verbraucherschutzes«, wenn sie »dem Reisenden eine Zwangsversicherung gegen einen Urlaubsausfall durch Insolvenz des Veranstalters aufnötigt, wohingegen ihm beispielsweise freigestellt bleibt, ob er sich gegen den Totalverlust seines Hab und Guts durch eine Hausratsversicherung schützen möchte oder nicht«. 239 Mit dem Schutzschild des Verbraucherschutzes legitimiert sie vorschnell Staatseingriffe, obwohl der Markt eigentlich selbst in der Lage gewesen wäre, über das allgemeine Schuldrecht einen Ausgleich zu schaffen. 240 Öffentlichkeitswirksam werden Verbrau233

Bülow/Artz, Verbraucherprivatrecht, 3. Teil 5. Abschnitt B. (S. 136). Tonner, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 12 Art. 3 Rn. 26. 235 Art. 4 Abs. 1 a) Pauschalreiserichtlinie. 236 Art. 4 Abs. 1 b) Pauschalreiserichtlinie. 237 B. Kilian, Der Verbraucherbegriff in der EU, B. I. 3. b) (3) (b) (5) (S. 71). 238 B. Kilian, Der Verbraucherbegriff in der EU, B. I. 3. b) (3) (b) (5) (S. 71). 239 Pfeiffer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 21 (S. 24). 240 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – »Mehr Vertragsfreiheit, geringere Regulierungsdichte, weniger Bürokratie«, Stellungnahme vom 16. 09. 2006, Ziff. III. (S. 10). 234

§ 5 Suche nach dem »inneren« System und Aufbau der Arbeit

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chertypologie, materielle Allgemeingeltung und freiheitsbeschränkende Schutzinstrumente kombiniert.

§ 5 Suche nach dem »inneren« System und Aufbau der Arbeit Die vorliegende Abhandlung ist als Versuch zu verstehen, die Legitimität der vertragsrechtlichen Systemdivergenz zu hinterfragen und den Methodenkonfl ikt der Sondervertragsrechte unter Fokussierung auf das Handels-, Verbraucher- und bürgerliche Vertragsrecht exemplarisch aufzulösen. Dabei stellt sich zu allererst die methodische Frage, mit welchem Ansatz sich die Dreiteilung überprüfen lässt. Sicherlich keine ausschließliche Beachtung kann dabei dem Modus der gesetzlichen Aufteilung bzw. der Ausgestaltung von Begriffsstrukturen geschenkt werden, ohne dass man auf zugrunde liegende Effi zienzüberlegungen abstellt. Denn würde man – orientiert an den Begriffen des Unternehmers, Verbrauchers und Bürgers – das Vertragsrecht logisch stringent in abstrakt-allgemeine Begriffe unterteilen 241, ergäbe sich über die Grundsätze begrifflicher Logik sehr schnell, dass der antiquierte Kaufmannsbegriff lediglich als Unterkategorie des Unternehmers einen Platz einnehmen könnte. So entspräche lediglich die Untergliederung des »Bürger«-Begriffs in »Verbraucher« und »Unternehmer« voll und ganz dem BGB-eigenen Brauch von untergliedernden »Begriffspaaren, die kein drittes zulassen«. Der Kaufmannsbegriff könnte in diese Tradition komplementärer Gegensatzpaare (z. B. »absolute« und »relative« Rechte, Grundstücke und bewegliche Sachen) dagegen nicht eingefügt werden. 242 Mit einer reinen Begriffsaufteilung wäre aber auch deshalb entscheidend zu kurz gegriffen, weil die Rechnung mit dem vermeintlich lückenlosen System der abstrakten Begriffe in Wahrheit trotz eines Höchstmaßes an Übersichtlichkeit und Rechtssicherheit nirgends aufginge. Die inneren Prinzipien und Wertungszusammenhänge der Rechtsordnung blieben nämlich außen vor. 243 Aus diesem Grund soll in der vorliegenden Untersuchung das äußere System der Vertragsrechtsordnung nicht ohne materialen Zweckbezug untersucht werden. 244 Vordringlich ist auf die eigentliche Ausgangsfrage abzustellen, ob der Dreiklang zwischen bürgerlichem, Verbraucher- und Handelsvertrags241

Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, 2. Bd., S. 11 ff. Vgl. auch: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Kap. Ziff. 1. e) (S. 455). 243 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Kap. Ziff. 1. a) und e) (S. 438 und 457). 244 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, § 2 II. 3. (S. 19 ff.). 242

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Einleitendes Kapitel: Einführung in die Thematik

recht einen inneren Systemwiderspruch erzeugt und wie dieser Widerspruch gegebenenfalls aufgelöst werden kann. In diesem Sinne gilt es nachfolgend primär Sinnzusammenhänge nach solchen Kriterien zu ergründen, die durch eine isolierende Methode der Bildung abstrakter Begriffe weitgehend verdeckt blieben. Die Arbeit folgt dabei einer sechsgliedrigen Einteilung, bei der die einzelnen Kapitel auch inhaltlich aufeinander aufbauen: Der Erarbeitung einer rechtshistorischen Diskussionsgrundlage dient Kapitel eins: Dargestellt werden die Entwicklungsgeschichte der (Sonder-) Vertragsrechte einschließlich der Ursachen für die Systemspaltung. Ergänzend dazu wird im zweiten Kapitel eine einheitliche Terminologie zum Begriff des Sondervertragsrechts erarbeitet sowie die Stellung der vertragsrechtlichen Dreiteilung zur Systemdichotomie der Rechtsordnung in öffentliches und privates Recht erörtert; außerdem wird aus dem Blickwinkel der vertikalen Einwirkungsebenen das Phänomen der dreigeteilten Vertragsrechtsordnung in einen spezifischen Zusammenhang zur Einheitlichkeit der Wirtschaftsverfassung gestellt. Das dritte Kapitel steht dagegen voll und ganz im Lichte des – auch verfassungsrechtlichen – Gleichheits- und Freiheitsausgleichs: Aus dem Blickwinkel der vertragsrechtlichen Dreiteilung werden repräsentative vertragstheoretische Modellansätze der Literatur hinterfragt sowie der Deduktionsversuch einer vertragsrechtlichen Systemordnung als allgemeiner Rechtsgrundsatz der europäischen Vertragsrechtsordnungen in Angriff genommen. Im vierten Kapitel wird schließlich der Frage nach einem Beziehungszusammenhang zwischen der Streitfrage der grundrechtlichen bzw. grundfreiheitlichen Drittwirkung und der Dreiteilung der Vertragsrechtsordnung unter besonderer Berücksichtigung legislativer Schutzpfl ichten nachgegangen. Dabei wird letztlich zum idealtypischen Personenbild des Vertragsrechts übergeleitet und auf das Verbraucher- und Unternehmerleitbild Bezug genommen. Im fünften Kapitel schließt sich daran eine Kongruenzprüfung an, bei der es darum geht, inwiefern das verbraucher- und handelsrechtliche Sondervertragsrecht als gleichheits- und freiheitsgemäßes Abbild der idealtypischen Verbraucher- und Unternehmerleitbilder in Erscheinung treten. Hinsichtlich der Verbraucherrichtlinien wird dabei auch den Kompetenzaspekten der Binnenmarktparadigmen Rechnung getragen (Art. 94, 95 EG). Das sechste Kapitel rundet die Abhandlung mit einer marktfreiheitlichen Strukturbetrachtung ab; nachgegangen wird dabei der Frage, inwiefern die Spezifitäten des Handels- und Verbrauchervertragsrechts den Marktliberalisierungsvorgaben der EG-Grundfreiheiten standhalten. Aus dem Blickwinkel der Marktfreiheit werden die Vorgaben der EG-Grundfreiheiten für die Sondervertragsrechte herausgearbeitet und bestimmte Schlussfolgerungen gezogen, die sich daraus für die Neugestaltung der Vertragsrechtsdivergenz ergeben.

1. Kapitel

Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung Die sachrechtlichen Modifi zierungen durch das Recht der Handelsgeschäfte und die jüngere Sonderentwicklung der Verbraucherverträge sind zu keiner Zeit unumstritten gewesen. Während bereits die Kommissionsberichte über die Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches von 1861 (ADHGB) sich in weiser Voraussicht mit der Frage befasst hatten, ob es überhaupt sinnvoll ist, das Handelsrecht als abgesonderten Teil des bürgerlichen Rechts zu regeln1, gelangte Nußbaum wiederum 1915 zu der Erkenntnis, dass das Handelsrecht der Sache nach im bürgerlichen Recht im Grunde genommen schon aufgegangen sei 2 . Nichtsdestotrotz wurden Forderungen nach einer Modernisierung und Reformierung des HGB, nach einer Rechtsfortbildung de lege lata und de lege ferenda bis in die jüngste Vergangenheit erhoben3 ; selbst durch das Handelsrechtsreformgesetz (HRefG) vom 22. Juni 1998 ist die damit einhergehende Kritik nicht zum Erliegen gekommen4. Eine andere Art der Missbilligung von Rechtsetzungstätigkeit hatte Mitte des 19. Jahrhunderts schon John Stuart Mill vorgetragen, als er in Anbetracht 1 P. Hirsch (Hrsg): Die Commissionsberichte und weiteren Verhandlungen über die Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs in Hamburg, S. XXIII; vgl. auch: Siems, Kaufmannsbegriff und Rechtsfortbildung, § 2 I. 3. (S. 14); Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 590 ff.). 2 Nußbaum, ZHR 76 (1915), 325 (332). 3 Neuner, ZHR 157 (1993), 243 (243 ff.); Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 3. Teil 1. Abschnitt 1. Kap. und 4. Teil 1. Abschnitt (S. 105 ff. und S. 179 ff.); ders., JuS 7 (1967), 533 (533 ff.); ders., FS für Ballerstedt (70. Gebtg.), S. 443 (S. 443 ff.); ders., FS für Stimpel (68. Gebtg.), S. 29 (S. 29 ff.); ders., FS für Rittner (70. Gebtg.), S. 471 (S. 482 ff.); ders., ZHR 154 (1990), 567 (567 ff.); K. Schmidt, Das HGB und die Gegenwartsaufgaben des Handelsrechts, S. 11 ff. und S. 31 ff.; ders., DB 47 (1994), 515 (515 ff.) ders., JuS 25 (1985), 249 (249 ff.); Zöllner, ZGR 12 (1983), 82 (82 ff.); Henssler, ZHR 161 (1997), 13 (32 ff.); Preis, ZHR 158 (1994), 567 (569 ff.); Herber, ZHR 144 (1980), 47 (47 ff.); Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung I Rn. 15, 16; Brüggemann, in: Canaris/Schilling/Ulmer (Hrsg.): Staub-HGB, Einl vor § 1 Rn. 45 ff.; Wolter, Jura 10 (1988), 169 (174 ff.); Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 10 ff.; einen berufsrechtlichen, vom Handelsrecht und Kaufmannsbegriff losgelösten Ansatz vertretend: Hopt, AcP 183 (1983), 608 (669 ff.). 4 Canaris, Handelsrecht, § 1 Rn. 23 ff. (S. 8 ff.); K. Schmidt, Handelsrecht, § 3 (S. 47 ff.); ders., ZHR 163 (1999), 87 (87 ff.); ders. JZ 58 (2003), 585 (585 ff.); P. Bydlinski, ZIP 19 (1998), 1169 (1172); Heinemann, FS für Fikentscher (70. Gebtg.), S. 349 (S. 373 ff.); Kaiser, JZ 54 (1999), 495 (495 ff.); Zöllner, in: Harrer/Mader (Hrsg.): Die HGB-Reform in Österreich, S. 1 (S. 2 ff.).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

von legislativen Interventionen des Staates »an increasing inclination to stretch unduly the powers of society over the individual« beklagte. 5 Ähnlich, wenn auch auf einer anderen Ebene, wird auch aktuell die »diskutierte Schaffung eines durch europäische Richtlinien inspirierten Verbrauchergesetzbuches als dritte Säule neben dem BGB und dem HGB« nicht ausnahmslos begrüßt6, sondern vielfach schlicht als »Unglück für die Einheit des deutschen Privatrechts und [als] Rückfall in Standesdenken« begriffen7. Während teilweise »eindeutige Wertungswidersprüche« konstatiert werden8, stellen andere Autoren Alternativmodelle vor, die z. B. darauf gerichtet sind, die abstrakten Vertragstypen des BGB – abgestimmt auf die Besonderheiten der einzelnen Märkte – um zwingende Vorschriften mit einem engeren Anwendungsbereich zu ergänzen9. Ernsthafte Bestrebungen, ältere Sonderbereiche wie das Handelsrecht in die pandektistische Zivilrechtssystematik einzugliedern oder die Entstehung neuerer Sonderbereiche von vornherein zu unterbinden, wurden in Deutschland – anders als in Argentinien10 und Italien11 – aber zu keiner Zeit unternommen.12 Appelle für eine generelle Inhaltskontrolle, die sich auch auf vertragsdisparate Konstellationen des allgemeinen Zivilrechts erstrecken würde13, blieben unerwidert. Insbesondere die verbraucherrechtlichen Vereinheitlichungspläne sind über die primär kosmetische Eingliederung durch die Schuldrechtsmodernisierung im Jahre 2002 nicht hinausgegangen, sodass die Kardinalfragen der Sondervertragstypisierung – ob und unter welchen Voraussetzungen Belastungen Bürgern gleich oder ungleich auferlegt werden dürfen14, ob und inwiefern eine Inhalts- und Angemessenheitskontrolle zulässig

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Mill, On Liberty and Utilitarianism, On Liberty I. (S. 17). Medicus, in: Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 61 (S. 70); Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 4 II. (S. 250 ff.); Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, F. IV. (S. 277 ff.) differenzierend: W.-H. Roth, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 113 (S. 141). 7 H. Roth, JZ 54 (1999), 529 (533). 8 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 1 III. (S. 5, 6). 9 Basedow, in: Cian (Hrsg.): I cento anni del codice civile tedesco, S. 331 (S. 346). 10 Garro, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Argentina, Tz. 25; vgl. auch: K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, Vor § 1 Rn. 4. 11 Monateri/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 25; vgl. auch: K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKommHGB, Vor § 1 Rn. 4. 12 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 1. Kap. (S. 7). 13 Lieb, AcP 178 (1978), 196 (204 ff.). 14 Odendahl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.): Hdb. der europäischen Grundrechte, § 43 I. 1. Rn. 3 (S. 1143). 6

§ 6 Geschichtsrelevanz als systemteilungsbedingte Ausgangskoordinate

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sein kann15 und auf welche Weise das Verhältnis zwischen Wettbewerb und Marktregulierung zu defi nieren ist – weiterhin unbeantwortet bleiben. Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, die von K. Schmidt gestellte Kernfrage zu beantworten, ob »ein Privatrechtssystem [überzeugt], das dem allgemeinen Zivilrecht in der einen Richtung ein ›Kaufmannsrecht‹ und in der anderen ein ›Verbraucherrecht‹ zur Seite stellt«.16 Bereits Collins ist in ähnlich paradigmatischer Weise im englischen Recht in die Überlegung eingestigen, »what kinds of laws and legal institutions are good for commercial transactions, and what sorts of legal regulation are efficient and effective in retail sales to consumers[:] Would it be better . . ., for instance, either to impose clear mandatory rules enforced by powerful regulators employing state sanctions, or to permit the parties to a transaction to regulate themselves, and to create their own system of private justice through mediation and arbitration?«17 Die 1981 von Joerges aufgeworfene Frage, ob »eine Koexistenz inkongruenter Rechtsmaterien – eines allgemeinen Privatrechts und eines besonderen Verbraucherrechts – [überhaupt] denkbar« ist18, ist entsprechend der heutigen Dreiteilung jedenfalls zu ergänzen: Ist das Nebeneinander von Verbraucher-, Handels- und bürgerlichem Recht überhaupt verantwortbar oder zerstört insbesondere die Ausbildung des Verbrauchervertragsrechts »die Einheit des Privatrechts ohne Not«?19

§ 6 Geschichtsrelevanz als systemteilungsbedingte Ausgangskoordinate Setzte das klassische Bild der Schuldverhältnisse voraus, dass einem wirtschaftlichen Umsatzvorgang in der Regel ein einziges Schuldverhältnis zwischen zwei Wirtschaftssubjekten entsprach, führte die wachsende Arbeitsteilung während der Industrialisierung im 20. Jahrhundert »oft zur Zerlegung eines einzigen wirtschaftlichen Leistungsvorgangs in mehrere sukzessive (Veräußerungskette), ineinander verschachtelte (mittelbares Arbeitsverhältnis) oder auf andere Weise kombinierte (Drittfi nanzierung, etwa durch ›Schecksystem‹ oder Darlehnskonstruktion) Schuldverhältnisse«. 20 Mittelbare Folge war eine »Tendenz zur typischen Gestaltung«, zur Typisierung und Differenzierung in der Gesetzgebung. 21 15

Lieb, AcP 178 (1978), 196 (196 ff.). K. Schmidt, BB 60 (2005), 837 (837). 17 Collins, Regulating Contracts, Part 1–1. (S. 6). 18 Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem, II. 1. (S. 18). 19 Müller-Graff, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9 (S. 47). 20 Wieacker, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 2, S. 1 (S. 16). 21 Wieacker, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 2, S. 1 (S. 10, 11). 16

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

Diese Gegenüberstellung verdeutlicht bereits, dass Zivilrechtskodifi kationen maßgeblich durch die besondere geschichtliche Situation beeinflusst werden, in der sie entstehen und fortentwickelt werden. 22 Der Gesetzgeber ist geradezu angehalten, sozialadäquate und bedürfnisentsprechende Regelungen auf der Grundlage der geistigen Grundwertungen und der Entwicklungen in der Gesellschaft zu treffen. 23 In diesem Sinne kann eine Erklärung zu den existierenden Unterschieden in der Vertragsrechtsordnung ohne eine Betrachtung der vertragsrechtlichen Genese nicht gefunden werden, insbesondere was Ansatzpunkte zu einer möglichen Systemrevision anbelangt. 24 Die Kritik, die sich mit dem Nebeneinander der Sondervertragsrechte befasst, hat daher denknotwendig bei der Frage anzusetzen, wie es zu der sach- und kollisionsrechtsspezifischen Aufteilung der Vertragsrechte überhaupt gekommen ist.

§ 7 – BGB –: Basis und Vergleichsmaßstab der Vertragsrechtsdivergenz Wesentlich beeinflusst wurden die privatrechtlichen Kodifi kationen des ausgehenden 19. Jahrhunderts durch die Wechselwirkung von politisch-nationaler Einigungsbewegung, justizpolitischer Zuversicht, ein allgemeines einheitliches Volksgesetzbuch zu erhalten, und dem rechtswissenschaftlichen Streben nach einem geschlossenen System von Dogmatik und Methode. 25 Im Mittel- wenn auch nicht am Ausgangspunkt dieser Entwicklung steht das Bürgerliche Gesetzbuch, das auch heute noch Grundlage und Vergleichsmaßstab der vertragsrechtlichen Dreiteilung ist. Im gesamteuropäischen Kontext betrachtet fiel das BGB in eine Kodifi kationszeit, in der Liberalismus und Demokratie als vorherrschende politische Ideenkreise nicht nur in Deutschland sondern auch in den meisten anderen Ländern Mittel- und Westeuropas die Privatrechtskodifi kationen beeinflusst haben. 26 Auch in Spanien, Frankreich und in den fremden Dynastien Italiens standen sich die Ausläufer des Feudalismus und des Absolutismus und die aufkommenden liberalen und demokratischen Grundwerte – später der Sozialismus – als Streitgenossen gegenüber. 27 Im Zuge der Kodifi kationsidee wurde mit dem BGB der Regelungsanspruch erhoben, mit Systemperfektion eine einheitliche Kodifi kation für das gesamte 22 Baldus, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.): Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 1 (S. 6, 7). 23 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 Rn. 1 (S. 21). 24 In Bezug auf das Handelsrecht: Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 597). 25 Damm, JZ 33 (1978), 173 (174). 26 Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 12). 27 Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 12–14).

§ 7 – BGB – : Basis und Vergleichsmaßstab der Vertragsrechtsdivergenz

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Vermögensrecht zu etablieren. 28 Inhaltlich ist das allgemeine Vertragsrecht ein Kind des klassischen Liberalismus, kommen in ihm als Einflussfaktoren die wirtschaftlichen Abläufe und die gesellschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, vor allem seit der Bewegung von 1848, doch maßgeblich zum Ausdruck. 29 Es hat eher konservativen und bewahrenden Charakter, da sich in ihm – im Wege eines rückwärts gerichteten Geistes – noch die sozialen Verhältnisse der Bismarckzeit widerspiegeln. 30 Der tiefgreifende Wandel in der Sozialstruktur während des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts hat dagegen keine Berücksichtigung gefunden. 31 Vielmehr wurden im Rahmen des ersten BGB-Entwurfs bereits soziale Vorschriften weggestrichen (z. B. die Beschränkung von Bürgschaften der Frauen, die Regelungen über die Anfechtung wegen laesio enormis, die lex Anastasiana), da sie »den gesunden und ehrlichen Geschäftsverkehr in hohem Grade belästigen und vielfach zu schikanösen Streitigkeiten gemißbraucht wurden«. 32 Auch wenn Kritiker dies veranlasste, in dem Entwurf den sozialen Schwächerenschutz nicht ausreichend gewährleistet zu sehen, wurden mit dem zweiten Entwurf nur einige der Verbesserungsvorschläge aufgegriffen. Die wesentlichen Wünsche nach sozialeren Regelungen blieben unerfüllt33, sodass sich das BGB auf eine idealisierte vorrechtliche Vorstellung von dem Funktionsverlauf des Wirtschaftsgeschehens einpendelte. 34 Selbst heute lebt noch »die formale, auf Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums gerichtete kantische Ethik . . . in der Anerkennung einer, wennschon mannigfach eingeschränkten Parteiautonomie und den zentralen Rechtsbegriffen des subjektiven Rechts und der rechtsgeschäftlichen Willenserklärung fort«. 35 Nach wie vor wird das BGB als Abbild des gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Anliegens begriffen, »das Privatrecht als ein rechtswissenschaftlich und geistig einheitliches System zu ordnen«36, das dem Richter für alle Fragen eine aus dem 28

Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem, II. 1. (S. 17, 18). Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 1. Kap. V. (S. 38); Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 II. 1. Rn. 37 (S. 30); L. Raiser, JZ 13 (1958), 1 (2); Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 15). 30 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 11 I. (S. 142). 31 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 11 I. (S. 142); Wagner, ZEuP 15 (2007), 180 (181, 182); differenzierend: Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 7. Kap. (S. 490 ff.); Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 3 I. 1. (S. 121 ff.). 32 Planck, AcP 75 (1889), 327 (409); zur Kritik im Hinblick auf die Vertragsfreiheit im Überblick: Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 1. Teil 4. Abschnitt (S. 132 ff.). 33 Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 4 I. (S. 48, 49). 34 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 1 VI. 1. (S. 49). 35 L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, I. und II. (S. 9 und 17); im einzelnen: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Abschnitt (S. 71 ff.). 36 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 III. V. 1. Rn. 84 (S. 42). 29

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

Gesetz ableitbare Antwort ermöglichen soll37. Obwohl die Marktkräfte und die alltäglichen Bedürfnisse der Menschen im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl neuer Vertragstypen hervorgebracht haben (z. B. Leasing- und Factoringverträge), hat der Gesetzgeber keinen Handlungsbedarf gesehen, das gesetzliche Vertragstypenrecht um subtilere Differenzierungen zu erweitern. 38

A. Die Schrittmacherfunktion der Grundrechte als objektive Ordnung Den Generalklauseln und Allgemeinbegriffen des BGB ist es zu verdanken, dass im Laufe der Zeit zumindest verfassungsveranlasste Ausgleichsgedanken in das Vertragsrecht Eingang gefunden haben. 39 Insbesondere die richterlichen Instrumente der Ausübungskontrolle (§ 242 BGB) und Inhaltskontrolle (§ 138 BGB) haben dem Gedanken der sozialen Verantwortung Zugang zu einer »Ethisierung« der vertragsrechtlichen Beziehungen verschafft40, sodass heute die Handlungsfreiheit der Privatrechtssubjekte ihre ethische Rechtfertigung nicht mehr »in sich selbst« trägt41. Von dem Verfassungsrecht ist für das vorkonstitutionelle Recht des BGB eine »Schrittmacherfunktion« im Hinblick auf neue Rechtsgestaltungen ausgegangen.42 In diesem Sinne hat das bürgerliche Vertragsrecht zwar keine augenscheinliche (formale) Veränderung, wohl aber eine (materiale) Weiterentwicklung im Sinne einer stillen Umwälzung aus sich selbst heraus erfahren.43 Weil die Herausbildung der Grundrechte in unmittelbarem Zusammenhang mit dem bürgerlichen Verfassungsstaat der Moderne steht44, konnten sie bei den Entwürfen zum BGB in ihrer heutigen Ausprägung noch nicht berücksichtigt werden.45 Zwar hatte bereits das Reichsgericht der formalen Freiheitsethik des BGB (ohne dessen liberale Tradition aufzugeben) eine materiale Ethik der Verantwortung hinzugefügt.46 Seit dem Ersten Weltkrieg nahm der Einfluss des »ethische[n] Gedanke[ns] der sozialen Gliedstellung des Einzelnen 37

Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 III. V. 1. Rn. 84 (S. 42). Basedow, in: Cian (Hrsg.): I cento anni del codice civile tedesco, S. 331 (S. 336, 337). 39 Vgl. Jung, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.): Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 37 (S. 42 ff.). 40 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 11 III. (S. 148, 149). 41 Reuter, AcP 189 (1989), 199 (199). 42 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 6 II. 1. e) (S. 235 ff.); Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, III. und V. (S. 17 und S. 41). 43 Westermann, AcP 178 (1978), 151 (156); siehe auch: Martinek, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 158 ff.); ders., TSAR 2007, 1 (11 ff.). 44 Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 2 I. Rn. 19 (S. 6). 45 Aus einer gesamteuropäischen Perspektive: Collins, CYEL 7 (2005), 81 (87 ff.). 46 Vgl. hierzu: Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 23, 24). 38

§ 7 – BGB – : Basis und Vergleichsmaßstab der Vertragsrechtsdivergenz

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und seiner daraus folgenden sozialen Verantwortlichkeit« auf die Auslegung des BGB aber noch einmal zu47, wenngleich die Grundrechte unter der Ägide der Weimarer Reichsverfassung (1919) noch lediglich in ihrer freiheitlichen Abwehrfunktion ausgeprägt waren48. Erst mit der Verabschiedung des Grundgesetzes wurde die verfassungsrechtliche Wende von dem liberalen zu dem sozialen Rechtsstaat eingeleitet, sodass also erst ab diesem Zeitpunkt Rechtsprechung und Lehre die grundrechtlichen Anspruchstypen jenseits des sparsam auf Abwehr beschränkten Verfassungstextes zu Schutzgewähr- und Teilhaberechten und einer objektiven Werteordnung fortbilden konnten.49 Während die Entstehung des BGB noch in die Zeit des wissenschaftlichen Positivismus gefallen war, nach dessen Verständnis die Rechtssätze auf logisch aufeinander abgestimmten Begriffen in einem geschlossenen und lückenlosen System abzuleiten waren50, wurden seit dem ersten Jahrzehnt nach Inkrafttreten des BGB Zweifelsfragen bei der Gesetzesauslegung zunehmend durch die Analyse der von dem Gesetzgeber berücksichtigten und bewerteten Interessen gelöst 51. Mitte des 20. Jahrhunderts gelangte schließlich die Wertungsjurisprudenz zum Durchbruch, die dem Rechtsanwender ein wertorientiertes Denken aufgab, das insbesondere an der Verfassung und den Grundrechten auszurichten ist. 52 War letztlich also die Staatstheorie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts noch von der Vorstellung geprägt, dass der Besitz- und Bildungsbürger als Glied der bürgerlichen Gesellschaft autonom und autark sei, sodass die Grundrechte lediglich die Freiheit vor dem Staat, aber keine Freiheit durch den Staat gewährleisten müssten, setzte sich in den Nachkriegsjahren der beiden Weltkriege nach und nach das Bild durch, dass der Einzelne auf positive Gewährleistungen eines sozialen Rechtsstaates angewiesen sei, um überhaupt in Freiheit agieren zu können. 53 Seitdem entfalten die Grundrechte auch für das Privatrecht ganze Strahlungszentren prägender Leitbilder54, wobei den methodologischen Grundstock zu dieser Fortentwicklung der Wandel von der Be47 Zum Ausdruck gekommen ist dies etwa in der Ausdehnung des Prinzips von Treu und Glauben, in der Ergänzung der Willenserklärungslehre um das Prinzip des Vertrauensschutzes und in der Anerkennung von Vertragswirkungen ohne volle Willenseinigung [L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, I. (S. 9)]. 48 Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, II. (S. 17 ff.); Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 2 IV. Rn. 36 ff. (S. 11, 12). 49 Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (214 ff.). 50 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 4 I. 1. Rn. 2 ff. (S. 73, 74). 51 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 4 I. 2. Rn. 8 ff. (S. 74, 75). 52 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 4 I. 3. Rn. 12 ff. (S. 75- 77); W. Kilian, AcP 180 (1980), 47 (59, 60). 53 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1. Kap. III. (S. 7); Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 4 II. 3. Rn. 77 (S. 20, 21). 54 Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, S. 23 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 2 V. Rn. 40 ff. (S. 12, 13); Müller-Volbehr, JZ 37 (1982), 132 (134).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

griffs- über die Interessen- zur Wertungsjurisprudenz geliefert hatte. 55 Komplettiert durch gemeinschaftsrechtliche Einflussfaktoren tritt der Einzelne heute als EG-rechtlicher Marktbürger in Erscheinung, der im Sinne einer »new expansive conception of citizenship« nur unter staatlichen Vorkehrungen zur willensgemäßen Umsetzung kultureller und ökonomischer Belange in der Lage ist. 56

B. Der exemplarische Rechtsprechungswandel bei Bürgschaften und Eheverträgen Deutlich wird das Zusammenspiel zwischen den Grundrechten und den bürgerlich-rechtlichen Generalklauseln in der deutschen Rechtsprechung zu Bürgschaften und Eheverträgen. Hier wurde ein Wertungswandel vollzogen, welcher der in England zu verzeichnenden Rechtsprechungsfortentwicklung in Bezug auf »wives acting as sureties for their husband’s business debts« nicht unähnlich ist. 57 Hatte der IX. BGH-Senat die Sittenwidrigkeit von Bürgschaftsverträgen 1989 noch selbst in Fällen offensichtlicher Überforderung mit der Begründung verneint, dass die Vertragsfreiheit es zulasse, »auch risikoreiche Geschäfte abzuschließen und sich zu Leistungen zu verpfl ichten, die nur unter besonders günstigen Bedingungen erbracht werden können«58, änderte sich die Rechtsprechung in der Mitte der achtziger Jahre, als Zivilgerichte immer häufiger damit befasst wurden, dass junge Erwachsene in ausweglose Überschuldung gerieten59. Meist hatten sie für hohe Bankkredite ihrer Partner oder Eltern gebürgt, obwohl sie nur über geringfügige Einkünfte verfügten.60 Im Jahre 1993 nahm das BVerfG dies zum Anlass, die Zivilgerichte anzuweisen, »insbesondere bei der Konkretisierung und Anwendung von Generalklauseln wie § 138 BGB und § 242 BGB« die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG zu beachten und besonders solche 55

Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 4 B. III. (S. 63 ff.). Collins, CYEL 7 (2005), 81 (90). 57 Collins, Regulating Contracts, Part 2–3. (S. 49–52); vgl. zur Rechtsprechung des Court of Appeal zu Bürgschaften von Eltern zugunsten ihrer Kinder: Joerges, in: SchulteNölke/ Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 205 (S. 212, 213). 58 BGH – Urteil v. 28. 02. 1989, Az.: IX ZR 130/88 – BGHZ 107, 92 (92); vgl. auch: BGH – Urteil v. 19. 01. 1989, Az.: IX ZR 124/88 – BGHZ 106, 269 (271). 59 Zur BGH-Rechtsprechung im Überblick: Honsell, JuS 33 (1993), 817 (818 ff.); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 6 III. 1. (S. 264 ff.); Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 1. Teil 2. Kap. C. (S. 59 ff.); kritisch: Isensee, in: Bayer/Koch (Hrsg.): Schranken der Vertragsfreiheit, S. 9 (S. 24 ff.). 60 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (215). 56

§ 7 – BGB – : Basis und Vergleichsmaßstab der Vertragsrechtsdivergenz

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Verträge zu kontrollieren, »die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind«.61 Sei der Inhalt des Vertrages für eine Seite offensichtlich unangemessen, so dürften sich die Gerichte nicht mit der Feststellung begnügen, »Vertrag ist Vertrag«, sondern müssten »vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen«.62 Daneben trägt die Rechtsprechung zur Überprüfung von Ehegattenvereinbarungen, für die grundsätzlich ebenfalls das allgemeine Vertragsrecht gilt63, den Einwirkungs- und Fortbildungsgehalt der Grundrechte zur Schau. Während der BGH lange Zeit die volle Vertragsfreiheit in Bezug auf ehevertragliche Gestaltungsmöglichkeiten betont hatte64, forderte die Literatur schon längere Zeit als Ausgleich ehebedingter Nachteile einen unverzichtbaren Kernbestand, der die Grenze der Vertragsfreiheit im Ehevermögens- und Scheidungsrecht markiert65. Daraufhin setzte 2001 eine Abkehr zu einer größeren Inhaltskontrolle ein, nachdem das BVerfG zwei Entscheidungen zu nachehelichen Unterhaltsverzichten getroffen hatte.66 Die Vorgaben dieser Entscheidungen griff der BGH in einem Urteil vom Februar 2004 auf und formulierte generalisierend einen »Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts«, über den Ehegatten vertraglich nur noch in Ausnahmefällen disponieren können.67 Auch insoweit dienten die Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB als Medium, um den geänderten Wirkungsgehalt der Grundrechte einfachgesetzlich nachzuvollziehen.68

61 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (232, 233). 62 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (232, 233); kritisch zur Bürgschaftsentscheidung des BVerfG: Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, IV. 2. (S. 36 ff.). 63 BVerfG – »Unterhaltsverzichtsvertrag« – Urteil v. 06. 02. 2001, Az.: 1 BvR 12/92 – BVerfGE 103, 89 (90). 64 BGH – Urteil v. 28. 11. 1990, Az.: XII ZR 16/90 – FamRZ 38 (1991), 306 (306 ff.); Urteil v. 24. 04. 1985, Az.: IV b ZR 22/84 – FamRZ 32 (1985), 788 (788 ff.). 65 Schwenzer, AcP 196 (1996), 88 (88 ff.); ähnlich auch: Büttner, FamRZ 45 (1998), 1 (1 ff.). 66 BVerfG – »Ehevertrag mit einer Schwangeren« – Beschluss v. 29. 03. 2001, Az.: 1 BvR 1766, 92 – FamRZ 48 (2001), 985 (985 ff.); »Unterhaltsverzichtsvertrag« – Urteil v. 06. 02. 2001, Az.: 1 BvR 12/92 – BVerfGE 103, 89 (89 ff.). 67 BGH – Urteil v. 11. 02. 2004, Az.: XII ZR 265/02 – FamRZ 51 (2004), 601 (601 ff.) 68 Im Überblick zur Vertragsfreiheit im Familienrecht: Kanzleiter, in: Bayer/Koch (Hrsg.): Schranken der Vertragsfreiheit, S. 65 (S. 65 ff.); Koch, in: Bayer/Koch (Hrsg.): Schranken der Vertragsfreiheit, S. 79 (S. 79 ff.).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

C. Keine Typisierung eines bürgerlich-rechtlichen Schwächerenschutzes Ob die Zunahme der Interventionsneigung des BVerfG als Gewinn oder Verlust für die Freiheitsverbürgung in Vertragsverhältnissen zu verbuchen ist, hängt letztlich von dem Verständnis von Freiheit und Privatrecht ab, von dem man ausgeht.69 Während zahlreiche Autoren die Entscheidungen als Siegeszug eines der sozialen Wirklichkeit besser Rechnung tragenden Privatrechts zelebrieren, attestiert Zöllner dem BVerfG eine echte »Begrenzung der Vertragsfreiheit durch die Grundrechte«, die den Mitgliedern der Privatrechtsgesellschaft die unverzichtbare Grundlage zur Selbstregelung ihrer Angelegenheiten entzieht.70 Unabhängig von welchem Verständnis von Vertragsfreiheit man ausgeht, die Grundparadigmen der formalen Gleichheit werden durch die Rechtsprechung jedenfalls nicht tangiert. Denn ohne Vorgabe einer Typensystematik bewegt sich der über die Generalklauseln vermittelte Wertungswandel weiterhin in den »Außengrenzen« formal-abstrakter Gleichheit. Bereits in der Hühnerpest-Entscheidung zur Produzentenhaftung lehnte der BGH in diesem Sinne einen sonderprivatrechtlichen Ansatz ab; er verweigerte sich einer Systematik der Typenbildung, indem er sich nicht nur an Verbraucher, sondern auch an berufl iche Abnehmer als Schutzadressaten wendete.71 Einen gruppenorientierten oder sozial motivierten Schwächerenschutz hatte selbst die Rechtsprechung zu Treu und Glauben (§ 242 BGB) – insbesondere durch Institute wie »clausula rebus sic stantibus«, »Wegfall der Geschäftsgrundlage«, »unzulässige Rechtsausübung«, »venire contra factum proprium« und »Verwirkung« – nicht zur Folge gehabt.72 Was das bürgerliche Vertragsrecht anbelangt, konnten sich Forderungen nach einer »wirtschaftlichen Geschäftsunfähigkeit« für strukturell benachteiligte Personengruppen trotz singulärer BGH-Entscheidungen (z. B. zur möglichen Geschäftsunfähigkeit »für einen beschränkten Kreis von Angelegenheiten« im Falle krankhafter Eifersucht73) genauso wenig durchsetzen wie die Anregung Honsells an den Gesetzgeber, eine beschränkte Geschäftsunfähigkeit bei Personen bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für Geschäfte mit 69 Den Materialisierungsgrad der Bürgschaftsentscheidung relativierend: Canaris, AcP 200 (2000), 273 (296 ff.). 70 Zöllner, AcP 196 (1996), 1 (3). 71 BGH – Urteil v. 26. 11. 1968, Az.: VI ZR 212/66 – BGHZ 51, 91 (91 ff.); vgl. hierzu auch: Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. IV. (S. 18–20); Medicus, FS für Kitagawa (65. Gebtg.), S. 471 (S. 477). 72 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 11 III. (S. 149). 73 BGH – Urteil v. 24. 09. 1955, Az.: IV ZR 162/54 – BGHZ 18, 184 (184 ff.); vgl. auch: BGH – Urteil v. 20. 11. 1970, Az.: IV ZR 104/69 – FamRZ 1971, 243 (243 ff.); RG – Urteil v. 15. 12. 1939, Az.: IV 361/39 – RGZ 162, 223 (223 ff.).

§ 7 – BGB – : Basis und Vergleichsmaßstab der Vertragsrechtsdivergenz

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einem hohen Selbstgefährdungspotenzial zu kodifi zieren.74 Damit ist es lediglich zu einem dezenten Wandel des BGB von einem begriffl ich-logisch geschlossenen System zu einem offenen System leitender Prinzipien gekommen, was andererseits den konzeptionellen Ruf nach einem (kodifi zierten) Verbraucherprivatrecht weder verdrängt noch obsolet werden gelassen hat. Auch wenn das BVerfG es im Zuge der neueren Rspr. immer wieder betont, »daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört«75, hat sich zumindest innerhalb des bürgerlichen Vertragsrechts eine wirklich eigene Dogmatik für die Berücksichtigung partikulärer Gruppeninteressen nicht herausbildet.76 Zwar hat der Gesetzgeber durchaus Versuche unternommen, das BGB durch soziale Aspekte anzureichern und damit vermeintlich an die Realität näher heranzuführen. Letztlich haben allerdings selbst die 1978 in Angriff genommenen Pläne für eine Schuldrechtsreform, mit denen ursprünglich unter anderem soziale Aspekte stärker im Schuldrecht betont werden sollten, keinen Paradigmenwechsel bewirkt.77 Vielmehr wurde der soziale Impetus der Reform nach dem Regierungswechsel von 1982 wieder aufgegeben, sodass eine Schuldrechtskommission eingesetzt wurde, die sich im wesentlichen nur mit der Überarbeitung des Leistungsstörungs- und Verjährungsrechts beschäftigen sollte.78 Durch materiale Typisierungstatbestände wurde das BGB-Vertragsrecht auch im Übrigen (abgesehen von den EG-rechtlichen Einflüssen) nicht angereichert. Zwar ist das soziale Mietrecht seit dem ersten Weltkrieg ein Problem aller europäischen Rechtsordnungen geworden und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland fest verankert; im liberal konzipierten Wertesystem des BGB fristet es aber nach wie vor ein Sonderdasein.79 Zudem setzt es anders als die Sonderprivatrechte nicht an einem »über den Vertragsgegenstand hinausgehenden, persönlichen Vertragszweck oder einer persönlichen Eigenschaft des Vertragspartners« an, sondern leitet sich in erster Linie aus dem Vertragsgegenstand ab.80

74 Honsell, JuS 33 (1993), 817 (820); ders., JZ 44 (1989), 494 (495); Canaris lässt dagegen erkennen, dass er eine generelle Festlegung der Geschäftsfähigkeitsgrenze auf 25 Jahre wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot als verfassungswidrig einstuft [JZ 42 (1987), 993 (995)]. 75 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (232, 233). 76 Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 2. Teil II. 1 c) (S. 44). 77 Joerges, KJ 30 (1987), 166 (166). 78 Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 4 I. (S. 49, 50). 79 Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 27). 80 U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 1. Kap. C. (S. 2); so auch Wilhelmsson: ». . . linked to substance and not to persons« [Wilhelmsson, Critical Studies in Private Law, Chapt. IV 4. (S. 51 ff.)].

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

Betrachtet man die Ausläufer des klassischen Vertragsrechts folglich isoliert, d. h. ohne die Verzerrungen der einzelbereichsflankierenden Sonderprivatrechte, fügen sie sich nach wie vor in die vertragsrechtlichen Grundparadigmen von Freiheit und Gleichheit recht bündig ein. Lediglich die Generalklauseln wurden durch die Grundrechte infi ziert, was aber weniger typisierte (systematische), sondern vielmehr atypische (punktuelle) Interventionsmaßnahmen zur Folge hatte. Diese von Grund auf andersartige Ausrichtung des Schwächerenschutzes durch die zivilrechtlichen Generalklauseln im Vergleich zu dem typisierten Vertragsschutz des Verbraucherrechts lässt sich anhand von § 138 BGB und dem vormaligen Haustürwiderrufsgesetz mit den Worten von Joerges simplifi zierend wie folgt herausstellen: »Der so geschaffene Schutz [gemeint sind die Grundrechte und § 138 BGB] ist insofern weiter als der des HausTWG, als er sich nicht auf spezifische örtliche Gegebenheiten beschränkt; er ist insofern enger, als der Schutz von Familienmitgliedern erst dann gewährt wird, wenn diese Gefahr laufen, sich selbst zu ›ruinieren‹«. 81

Auch das Wettbewerbsparadigma wird durch die Rechtsprechungsentwicklung zum BGB nicht unbedingt in Frage gestellt. So rekurriert selbst das BVerfG in seinen Leitentscheidungen auf Sachverhaltskonstellationen, in denen allein durch eine Wettbewerbsoptimierung kein Vertragsgleichgewicht herzustellen wäre. In diesem Sinne ist es etwa für Bürgschaftskonstellationen als charakteristisch zu erachten, dass man es mit einer Ausnahmesituation zu tun hat, in der dem Hauptschuldner wegen eines aktuellen Engpasses eben kein anderer Bürge als ein vermögensloser naher Angehöriger zur Verfügung steht; dagegen ist dem Ehevertragsrecht bereits kraft Natur der Sache jegliches Wettbewerbsdenken fremd. Bürgerlich-rechtlich beansprucht die These daher weiter Gültigkeit, dass Verbraucherpolitik lediglich »eine Art Annex der Wettbewerbs(ordnungs-)politik« ist82 , in dem »Wettbewerb« als nützlichster Parameter fungiert83.

§ 8 – Recht der Handelsverträge –: Kausalfaktoren und Chronologie In Abgrenzung zu dem bürgerlichen Recht nimmt das Recht der Handelsgeschäfte als kodifi zierte Form zahlreicher Handelsbräuche und verkehrstypischer Vorgänge seit Beginn der Kodifi kationszeit eine apriorische Sonderstellung ein. Dabei scheinen es in erster Linie »geschichtliche und zeitbedingte 81 Joerges, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 205 (S. 212). 82 Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem, II. 1. a) (S. 19). 83 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 IV. 1. (S. 26).

§ 8 – Recht der Handelsverträge – : Kausalfaktoren und Chronologie

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politische Gründe« gewesen zu sein, »die zu einer (formalen) Eigenständigkeit [des HGB] führten, ebenso wie in anderen Staaten der Weg zur Einheitskodifi kation durch ähnliche Umstände bestimmt« worden ist.84 Wie Wieland bemerkte, nahmen »Tradition, Herkommen, soziale Anschauungen und Vorurteile . . . einen breiten Raum« als Ursachen für die Bildung eines besonderen Handelsrechts und die Zugehörigkeit zu ihm ein.85 Fährt man auf der Zeitskala zurück und betrachtet die Regelung des Handelsverkehrs im Altertum, so war dem römischen Recht, das im wesentlichen bereits in seiner Grundkonzeption den Bedürfnissen des internationalen Handelsverkehrs genügte, ein Sonderrecht für Handelsgeschäfte fremd.86 Auch ein Kollisionsrecht im heutigen Sinne gab es noch nicht.87 Da Handel von den verschiedensten Klassen betrieben wurde, kannte die römische Bevölkerung keinen in sich geschlossenen Handelsstand.88 Mit dem römischen ius gentium mag zwar im Vergleich zu dem allgemeinen Zivilrecht ein freieres Verkehrsrecht für alle Marktteilnehmer gebildet worden sein.89 Die Regeln dieses Sonderregimes fanden im Gegensatz zu dem heutigen HGB jedoch nicht nur auf Kaufleute oder eine bestimmte Bevölkerungsschicht, sondern auf sämtliche Marktteilnehmer Anwendung.90 Ganz zu schweigen davon bestand auch in tatsächlicher Hinsicht weder eine »objektive noch eine subjektive Veranlassung«, das Handelsrecht als Sonderrecht darzustellen.91 Eigenständige Rechtsinstitute und gewohnheitsrechtliche Regelungen für den Handelsverkehr bahnten sich vielmehr erst im Mittelalter an.92 Dass gerade im Mittelalter das Bedürfnis für ein Handelsrecht als Standesrecht entstand93, beruht im wesentlichen auf drei Ursachenfaktoren: Zum einen weitete sich während dieser Zeit, insbesondere in Italien, der Geschäftsverkehr in einem erheblichen Umfang aus, was in Gestalt von Gewohnheitsrecht zur Herausbildung eines privatrechtlichen Sonderrechts führte.94 Zum zweiten strukturierte sich die Gesellschaftsordnung des Mittelalters in kauf84 Treber, AcP 199 (1999), 525 (540); so auch: Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 613). 85 Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 1 (S. 8). 86 J. von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 2 (S. 8). 87 Gutzwiller, Geschichte des Internationalprivatrechts, 1. Kap. (S. 1 ff.). 88 Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 11, 12). 89 Rießer, Der Einfluß handelsrechtlicher Ideen auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs, S. 6, 7. 90 Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 10); Goldschmidt, Hdb. des HandelsR: Universalgeschichte des Handelsrechts, III. 4. § 5 IV. 4. (S. 75 ff.). 91 Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 12). 92 J. von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 2 (S. 9 ff.); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 2 (S. 10 ff.). 93 J. von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 2 (S. 9 ff.); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 2 (S. 10 ff.). 94 Endemann, Hdb. des deutschen Handels,- See- und Wechselrechts, § 4 (S. 12, 13); J.

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

männische Standesgruppen, aus denen die Gilden und Zünfte als genossenschaftsähnliche Selbstverwaltungskörper mit eigener Satzungshoheit und eigener Gerichtsbarkeit hervorgingen, wobei nur Gildezugehörige das Recht des Handel- und Gewerbebetriebs besaßen.95 Darüber hinaus beschleunigten die kanonischen Rechtsprinzipien, insbesondere die christliche Wucherlehre des Mittelalters, antagonistisch die Fortentwicklung liberaler Handelsrechtsgrundsätze: Streng genommen durfte der Handel, der auf Geldgewinn spekulierte, nämlich nach kanonischem Recht gar nicht existieren.96 Umso dringender war das Bedürfnis, Ausnahmeregimes zu den christlichen Handelsverboten einzuführen und neue Rechtsprinzipien jenseits des kanonischen Rechts zu konstituieren.97

A. Rezeption und handelsrechtliche Kodifikationen Nach Deutschland, wo sich im Mittelalter in ähnlicher Weise ein Kaufmannsstand herausgebildet hatte, gelangten die italienischen Handelsusancen über die römisch-rechtliche Rezeption.98 Dabei war für die deutsche Rechtswissenschaft kennzeichnend, dass sie »niemals das reine römische Recht, sondern das romanische Recht in der Gestalt, wie es zur Zeit der Rezeption wissenschaftlich und praktisch gehandhabt wurde«, rezipierte. Das Bedürfnis für eine handelsrechtliche Kodifi kation kam in Deutschland erst im 19. Jahrhundert auf. Es erwuchs ähnlich wie in Frankreich, wo bereits im 17. Jahrhundert die Handelsgesetzgebung als Eintrittsbereich zur Rechtsvereinheitlichung gedient hatte99, aus der Notwendigkeit, dem weiten Spektrum an Territorialrechten und nicht kodifi ziertem Gewohnheitsrecht ein einheitliches Zivilrechtssystem gegenüber zu stellen. Erst mit der Industrialisierung machten zudem die neu entwickelten schnelleren Transportmittel und Informationswege auf die Rückständigkeit der privatrechtlichen Rechtszervon Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 2 (S. 10); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 2 (S. 14 ff.). 95 J. von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 2 (S. 10); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 2 (S. 12); Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Bd. I, Kap. 19 (S. 192 ff.). 96 Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 14). 97 Endemann, Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechtslehre, S. 2 ff.; Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 3. Kap. I. (S. 25). 98 Eisenhardt, FS für Raisch (70. Gebtg.), S. 51 (S. 60); Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 15). 99 Angesprochen ist damit die Handelsgesetzgebung unter Colbert, aus der zum einen die Ordonnance sur le commerce de terre von 1673 und zum anderen die Ordonnance sur le commerce de mer von 1681 hervorgegangen sind; beide Gesetzeswerke haben im Jahre 1807 in den Code de commerce unter Napoleon Eingang gefunden [Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 32]; vgl. auch: Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 3 (S. 16 ff.).

§ 8 – Recht der Handelsverträge – : Kausalfaktoren und Chronologie

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splitterung aufmerksam. Es war die Zeit, als im gesamten preußischen Staatsgebiet, subsidiär zu den Provinzialrechten, die handelsrechtlichen Regelungen des Allgemeinen Landrechts (1794) galten100, im Rheinland und in Teilen von Westfalen der französische Code de commerce eingeführt worden war101, während wiederum in anderen Gebieten, die durch eine »zunehmende chaotische Rechtszersplitterung« gezeichnet waren, neben dem römischen und kanonischen Recht auch einige Reichsgesetze Anwendung fanden102 .

B. Handelsrechtliche Entwürfe und Kodifi kationsgenese Die eigentliche Kodifi kationsgeschichte des Handelsrechts in Deutschland begann mit dem Badischen Handelsrecht, das am 1. Januar 1810 im Großherzogtum Baden als Anhang zum Badischen Landrecht in Kraft trat.103 Während es sich bei dem Landrecht um eine Übersetzung des Code Napoléon handelte, enthielt das badische Handelsrecht übersetzte Auszüge aus dem Code de commerce.104 Genauso wie der Code de commerce verstand das badische Handelsrecht unter »Handelssachen« nicht nur alle »Rechtsverhältnisse und desfalsige Verhandlungen der Handelsleute unter sich . . .«, sondern auch alle »Rechtsverhältnisse und Verhandlungen über Handelsgeschäfte zwischen Personen aller Art«.105 Zwischen dem Badischen Land- und Handelsrecht bestand insofern eine dem Verhältnis von BGB und HGB vergleichbare Situation, als auch damals schon das Badische Landrecht auf die im Handelsrecht geregelten Rechtsbeziehungen nur subsidiäre Anwendung fand.106 Zwar wurde auch im Königreich Württemberg ein erster Versuch einer eigenständigen handelsrechtlichen Kodifi kation unternommen. Der im Jahre

100 Kodifi ziert waren diese Regelungen im zweiten Teil des Allgemeinen Landrechts in den Abschnitten 7 bis 15 des 8. Titels. Seit dem Frieden von Tilsit (1807) beschränkte sich der Geltungsbereich des Allgemeinen Landrechts auf die Markt Brandenburg, Pommern, Ost- und Westpreußen sowie Schlesien [vgl. Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 4. (S. 2880)]. 101 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 4. (S. 2880); Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung IV Rn. 22; Müller-Erzbach, Deutsches Handelsrecht, B. III. b) (S. 37, 38). 102 Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 3 (S. 8). 103 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 1. (S. 2855). 104 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 1. (S. 2855). 105 Art. 1 des badischen Handelsrechts, abgedruckt in: Land-Recht für das Großherzogtum Baden, nebst Handelsgesetzen, S. 625. 106 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 1. (S. 2862).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

1839 vorgelegte Entwurf erlangte jedoch niemals Gesetzeskraft.107 Auch im Königreich Nassau (1842) kam es – dem württembergischen Vorbild folgend – zu einem Entwurf einer »Handels- und Wechselordnung für das Herzogtum Nassau«, der nicht verabschiedet wurde.108 Anders dagegen Preußen: Obwohl hier bereits im Jahre 1804 Bemühungen um eine Vereinheitlichung und Reform des Handelsrechts eingesetzt hatten, trat ein entsprechender Entwurf erst im Jahre 1857 in Kraft.109 War dieser Entwurf innenpolitisch als Vereinheitlichungsinstrument des in der Rheinprovinz geltenden Code de commerce und der im preußischen Teil bestehenden Regelungen des Allgemeinen Landrechts angedacht, sollte er außenpolitisch die Verhandlungsposition Preußens im Deutschen Zollverein bei der geforderten gesamtdeutschen Rechtsvereinheitlichung des Handelsrechts stärken.110 Trotz vorläufiger Nichtverabschiedung fand er vor allem bei den Arbeiten zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB) Beachtung.111 Weniger intensiv waren die Bemühungen um eine handelsrechtliche Kodifikation im Königreich Sachsen. Während der Entwurf von 1852 für ein bürgerliches Gesetzbuch noch handelsrechtliche Sonderregelungen enthalten hatte, wurden diese im letztlich eingeführten Bürgerlichen Gesetzbuch von 1863 mit geringen Ausnahmen fallen gelassen.112 Auch Bayern unternahm keinen ernst zu nehmenden Versuch zur Kodifi zierung des Handelsrechts. So war die Regierung 1840 noch der Meinung, dass eine Handelsgesetzgebung eher für ganz Deutschland von Seiten des Deutschen Bundes angestrebt werden sollte.113 In Hannover, im Kurfürstentum Hessen, im Großherzogtum Hessen sowie in den freien Städten Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt fehlte es bereits an Impulsen für eine (neue) Handelsgesetzgebung.114

107 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 2. (S. 2864 ff.); Ehrenberg, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 21 (S. 237–238). 108 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 3. (S. 2878. 2879); Ehrenberg, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 21 (S. 237–238). 109 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 4. (S. 2880 ff.). 110 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 4. (S. 2880–2887). 111 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 4. (S. 2890). 112 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. C. I. (S. 2910–2911). 113 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. C. 2. (S. 2913). 114 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. C. (S. 2914–2927).

§ 8 – Recht der Handelsverträge – : Kausalfaktoren und Chronologie

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I. Die Kodifikation des Allgemeinen Deutschen Handelsrechts (ADHGB) Ein erster einheitlicher Handelsgesetzentwurf für alle deutschen Staaten – der sogenannte Frankfurter Entwurf, dem in erster Linie der Code de commerce als Vorbild diente – wurde 1849 veröffentlicht.115 Zu einem weiteren verheißungsvollen Entwurf und letztlich zur Kodifi kation des »Allgemeinen Deutschen Handelsrechts« (ADHGB) führte schließlich der Antrag der bayerischen Regierung im Jahre 1856, die Bundesversammlung wolle beschließen, eine »Commission zur Entwerfung und Vorlage eines Allgemeinen Handelsgesetzbuches für die Deutschen Bundesstaaten einzusetzen . . .«.116 Nachdem Preußen und Österreich der Wahl Nürnbergs als Verhandlungsort zugestimmt hatten, beschloss der Bundestag am 18. Dezember 1856, zur Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfes eine solche Kommission einzusetzen.117 Diese schloss 1861 ihre Arbeiten ab, woraufhin die Bundesversammlung durch Mehrheitsentscheidung den Beschluss fasste, die Empfehlung auszusprechen, dass alle dem Deutschen Bund angehörenden Regierungen dem erstellten Entwurf des ADHGB »baldmöglichst und unverändert im geeigneten Wege Gesetzeskraft in ihrem Lande . . . verschaffen«.118 Von 1861 bis 1865 geschah dies in fast allen Ländern des Deutschen Bundes; zum Reichsgesetz erhoben wurde das ADHGB allerdings erst 1871, nachdem es im Anschluss an die Errichtung des Norddeutschen Bundes und an die Gründung des Deutschen Reiches als Bundesgesetz verabschiedet worden war.119 Dass das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) dem BGB als Kodifi kation vorausgegangen war, heute aber das BGB als vertragsrechtliche Grundlagenkodifi kation gilt, mag auf den ersten Blick überraschen. Der vermeintliche Widerspruch zwischen der zeitlichen Priorität des Handelsrechts und der sachlichen Vorrangstellung des bürgerlichen Rechts löst sich jedoch auf, wenn man berücksichtigt, dass die vorzeitige Kodifi kation des Handelsrechts nicht der Überzeugung entsprang, mit der systematischen Kernmaterie des Privatrechts zu beginnen, sondern auf der praktischen Notwendigkeit basierte, Realisationschancen zur Überwindung der deutschen Rechtszersplitte115 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 1. (S. 2928 ff.). 116 Goldschmidt, Hdb. des HandelsR.: Einleitung u. Grundlehren, IV. A. I. c) ß) § 13a (S. 88). 117 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 3. (S. 2953). 118 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 3. (S. 2954). 119 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 3. (S. 2954); Goldschmidt, ZHR 20 (1975), 134 (134, 135); Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 3 (S. 12); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 4 (S. 26, 27); zum Inhalt des Entwurfs zum ADHGB: Lutz (Hrsg.), Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch, S. 1 ff.

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rung optimal auszunutzen.120 Ähnlich wie im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses einhundert Jahre später war man darauf angewiesen, im Wege eines wirtschaftsfunktionalen Ansatzes zunächst einmal das Handelsrecht als ökonomisch bedeutsamsten Realitätsausschnitt des Privatrechts zu kodifi zieren, um im Anschluss daran das eigentliche Vorhaben einer Kodifi kation des Privatrechts der breiten Masse angehen zu können.121 II. Aufbau und Inhalt des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs Inhaltlich lehnte sich das ADHGB zwar an die Konzeption des französischen Code de commerce (1807) an, folgte aber im wesentlichen dem preußischen Entwurf aus dem Jahre 1857.122 Handelsgeschäfte waren nicht nur diejenigen Typen von Rechtsgeschäften, die katalogmäßig als Handelsgeschäfte aufgeführt waren (acte de commerce), sondern umfassten auch katalogfremde Geschäftstypen, sofern sie nur von einem Kaufmann geschlossen wurden (Art. 271 ff. ADHGB).123 Diese Neuerung bedeutete die entscheidende Änderung in der positiven Gesetzgebung; erstmals war nicht nur der Typus des Geschäfts ausschlaggebend, sondern auch die Kaufmannseigenschaft an sich geltungsbereichseröffnend.124 Im Grundsatz ging das ADHGB von dem Prinzip des sog. »einseitigen« Handelsgeschäfts aus, sodass es zur Anwendung der Bestimmungen des vierten Buches ausreichte, dass ein Rechtsgeschäft auf einer Seite Handelsgeschäft war (Art. 277 ADHGB).125 Gesetzestechnisch wurde dieser Grundsatz aber wieder ausgehöhlt, indem zahlreiche Sondervor-

120 Im 19. Jahrhundert krankte nicht nur das deutsche Handelsrecht, sondern das gesamte deutsche Privatrecht an einer immanenten Rechtszersplitterung. Sämtliche Kodifi kationsvorhaben zum damaligen Zeitpunkt hatten mit dem Umstand zu kämpfen, dass dem Deutschen Bund als internationaler Organisation keine legislative Kompetenz-Kompetenz zustand, eigeninitiativ privatrechtliche Normen für den gesamtdeutschen Rechtsraum zu verabschieden. Vgl. zum Handelsrecht als Rechtsvereinheitlichungsmotor auch: Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 1. Kap. (S. 5 ff.). 121 Brüggemann, in: Canaris/Schilling/Ulmer: HGB, Einl Rn. 17; Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 3 (S. 9); vgl. auch: Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 6 A. I. (S. 90); Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 609, 611). 122 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 3. (S. 2955). 123 Art. 273 Abs. 1 ADHGB: »Alle einzelnen Geschäfte eines Kaufmanns, welche zum Betriebe seines Handelsgewerbe gehören, sind als Handelsgeschäfte anzusehen.« 124 Hagenguth, Die Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im internationalen Privatrecht, 2. Teil I. 1. c) (S. 17). 125 Art. 277 HGB: »Bei jedem Rechtsgeschäft, welches auf der Seite eines der Kontrahenten ein Handelsgeschäft ist, sind die Bestimmungen dieses vierten Buchs in Beziehung auf beide Kontrahenten gleichmäßig anzuwenden, sofern nicht aus diesen Bestimmungen selbst sich ergibt, dass ihre besonderen Festsetzungen sich nur auf denjenigen von beiden Kontrahenten beziehen, auf dessen Seite das Geschäft ein Handelsgeschäft ist.«

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schriften in ihren Tatbeständen ein beiderseitiges Handelsgeschäft voraussetzten.126 Im Gegensatz zum heutigen HGB trat das ADHGB nicht als privatrechtsergänzendes Spezialgesetz, sondern als systematisch in sich geschlossene Einheitskodifi kation mit handelsrechtlichem Einschlag in Kraft.127 So enthielt es auch Bestimmungen über den Vertragsschluss, die Vertragserfüllung, über die direkte Stellvertretung, über den Eigentumsübergang und die Pfandrechtsbestellung und stellte darüber hinaus allgemeine Auslegungs- und Schadensersatzregeln zur Verfügung (Art. 317 ff. ADHGB).128 Selbst Vorschriften zur Schuldnermehrheit und Geschäftsfähigkeit bzw. Verpfl ichtungsbefugnis wies das ADHGB auf.129 Es erstreckte sich »auf ein weites Feld schuldrechtlicher Materien«, musste in Ermangelung eines bürgerlichen Gesetzbuchs also weite Teile des Vertragsrechts selbstständig regeln.130 Das Handelsrecht war Regelrecht, das bürgerliche Recht Sonderrecht131, mit der Folge, dass das ADHGB nicht nur den Dresdner Entwurf zu einem allgemeinen Obligationenrecht (1866) beeinflusste, sondern mittelbar auch die Grundlage für das Schuldrecht des BGB bildete.132 III. Empfehlung zur Weiterführung eines gesonderten Handelsgesetzbuchs Zu dem heute bekannten Paradigmenwechsel, dass die allgemeinen Regeln über den Vertragsschluss und die Geschäftsfähigkeit aus dem Handels- in das bürgerliche Recht überführt worden sind, kam es erst mit der Nachfolgekodifi kation des ADHGB – dem HGB –, welches zeitgleich mit dem BGB in Kraft getreten ist. Weil damit zu rechnen war, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des HGB dazu übergehen müsste, die allgemeinen privatrechtlichen Vor126

Zum Beispiel Art. 289, 291, 310, 311, 313 ADHGB. K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, Vor § 1 Rn. 19. 128 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 4. (S. 2959); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 4 (S. 28, 29); K. Lehmann/Ring, Kommentar – HGB, Einleitung, S. XI. 129 Art. 8 Abs. 1 ADHGB: »Eine Ehefrau, welche Handelsfrau ist, kann sich durch Handelsgeschäfte gültig verpfl ichten, ohne dass es zu den einzelnen Geschäften einer besonderen Einwilligung ihres Ehemannes bedarf.«; Art. 280 Abs. 1 ADHGB: »Wenn zwei oder mehrere Personen einem anderen gegenüber in einem Geschäft, welche auf ihrer Seite ein Handelsgeschäft ist, gemeinschaftlich eine Verpfl ichtung eingegangen sind, so sind sie als Solidarschuldner zu betrachten, sofern sich nicht aus der Übereinkunft mit dem Gläubiger das Gegenteil ergiebt.« 130 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 4. (S. 2959). 131 Raisch, Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht, VII. (S. 131); Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 3. (S. 2956). 132 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 3. (S. 2956). 127

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schriften aus dem kodifi zierten Handelsrecht (ADHGB) in das BGB auszulagern, setzte der Bundesrat eine aus fünf Mitgliedern bestehende Kommission (»Vorcommission«) ein und erteilte ihr den Auftrag, »über Plan und Methode, nach welchen bei Aufstellung eines Entwurfs eines Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs zu verfahren sei, gutachtliche Vorschläge zu machen«.133 Ihr abschließendes Gutachten, dessen Inhalt weitgehend von dem renommierten Handelsrechtler Levin Goldschmidt mitbestimmt war134, legte die Vorkommission am 15. April 1874 vor. Darin sprach sie sich eindeutig dafür aus, neben einem bürgerlichen Gesetzbuch auch eine gesonderte Handelsrechtskodifi kation beizubehalten, die im Vergleich zum ADHGB lediglich zu revidieren sei.135 Leitend für den Abschlussbericht waren die Vorstellungen Goldschmidts, dass das Handelsrecht bei der Fortbildung bürgerlich-rechtlicher Normen innerhalb der zivilrechtlichen Disziplinen eine Leitbildfunktion einnehmen müsse: Dem Handel seien eigentümliche Institute und Rechtssätze inhärent, welche miteinander in innerem und geschichtlichem Zusammenhang stünden und in die Systematik eines bürgerlichen Gesetzbuchs nicht einzuordnen seien.136 Unter Hinweis auf den Dualismus zwischen Zivil- und Handelsrecht in außerdeutschen Staaten sprach man dem Handelsrecht auch materiell eine größere Beweglichkeit als dem bürgerlichen Recht zu, was auch notwendig sei, um es besser in Übereinstimmung mit dem Recht ausländischer Staaten bringen zu können.137 Es sei beweglich genug, aus den sich ändernden Gewohnheiten des Geschäftslebens heraus neue Rechtsformen zu entwickeln, die nach einer längeren Erprobungszeit an das bürgerliche Recht weitergegeben werden könnten. Auf dieser Grundlage gelangte die Vorkommission zu dem Urteil, dass »die Kontinuität der an das Deutsche Handelsgesetzbuch sich anlehnenden Rechtsübung und Wissenschaft« im Falle einer Eingliederung der Materien des Handelsrechts in das bürgerliche Recht »erhebliche Störungen« erlitten hätte.138 IV. »Kleine« Kodifikationslösung und Systemwechsel zur Sonderkodifikation Der sich an den Bericht der Vorkommission anschließende Kodifi kationsprozess macht aus heutiger Sicht anschaulich, dass Umfang und Ausgestaltung 133 So der einleitende Satz des Gutachtens; vgl. hierzu: Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (137). 134 Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 4. (S. 2960). 135 Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (149). 136 Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (139, 140). 137 Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (139, 140). 138 Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (140).

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der HGB-Kodifi kation mit Zufälligkeiten behaftet waren, die es einem verwehren, das HGB als Sonderkodifi kation mit dem Handelsrecht als Sonderprivatrecht ohne weiteres gleichzusetzen. So plädierte die Vorkommission zwar im Hinblick auf den Umfang des neuen HGB in ihrem Gutachten für eine »große Lösung« und sprach die Empfehlung aus, auch die bis dahin in Spezialgesetzen geregelten Handelsrechtsmaterien in das HGB aufzunehmen. In der praktischen Umsetzung bereitete das ambitionierte Vorhaben, nicht nur das Versicherungsrecht, das Verlagsrecht und das Recht der Binnenschifffahrt139, sondern auch die Wechselordnung, das Gesetz über Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, die Seemannsordnung, das Eisenbahnrecht, das Urheberrecht, den gewerblichen Rechtsschutz und das Recht der Inhaberpapiere140 in das HGB zu integrieren, jedoch erhebliche Schwierigkeiten.141 Die konkreten Beratungen zum HGB sollten erst beginnen, nachdem die erste Lesung des Entwurfs zum bürgerlichen Gesetzbuch erfolgt war.142 Weil sich der Abschluss der Lesung zum ersten BGB-Entwurf aber verzögerte und selbst 1888 noch kein erster Entwurf vorlag, ließ die vielfache Kritik, auf die er stoßen würde, erwarten, dass auch die zweite Lesung noch zu erheblichen Verzögerungen führen könnte. Angesichts der Befürchtungen, dass vor diesem Hintergrund die ursprünglich angestrebte »große Lösung« den einheitlichen Kodifi kationsabschluss von HGB und BGB torpedieren könnte143, brachte man das HGB daraufhin in einer entschlackten Variante auf den Weg. Eine Kodifi kation, die neben dem Handelsrecht im engeren Sinne auch das Wechselrecht, das Versicherungsrecht und das gesamte Gesellschaftsrecht (mit Ausnahme der BGB-Gesellschaft) umfasst hätte, kam also nicht zustande.144 Statt dessen wurde in die neu gefasste Handelsgesetzgebung, die am 1. Mai 1897 im Reichsgesetzblatt verkündet wurde, lediglich die Aktienrechtsreform integriert. Letztlich trat das Handelsrecht – versteht man es in einem weiteren Sinne – damit lediglich als eine »Häufung ziemlich disparater Materien« in Erscheinung.145 Dabei behielt man innerhalb des HGB das subjektive System der Bereichsabgrenzung bei; lediglich mit der tätigkeitsbezogenen Defi nition des Kaufmanns brachte man eine gewisse Objektivierung zum Ausdruck.146 Gleichwohl verlor das HGB inhaltlich durch die Streichung und Überführung 139

Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (140). Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (165, 166). 141 Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 5 (S. 33, 34). 142 Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (148). 143 Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (147). 144 Vgl. K. Lehmann, Lehrbuch des Handelsrechts – Halbbd. 1, § 6 (S. 22, 23). 145 Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 594); vgl. auch: S. Simitis, RabelsZ 27 (1962), 735 (736); E. Hirsch, Leitfaden für das Studium des Handelsund Gesellschaftsrechts, § 2 (S. 4); Nußbaum, ZHR 76 (1915), 325 (331 ff.). 146 Kort, AcP 193 (1993), 453 (461). 140

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zahlreicher Rechtssätze in das BGB seine Rolle als privatrechtliche Basiskodifi kation und tauschte diese gegen seine neue Funktion als Ergänzungsregime zum bürgerlichen Recht ein.147 Das HGB wurde zu einem »wirklichen Nebengesetze, das in Fragen grundlegender Art vielfach auf das Bürgerliche Gesetzbuch verw[eist]«.148 Es verlor »seine abgerundete Gestalt, die dem Kaufmannsstande den Gebrauch des Gesetzbuches so bequem gemacht hatte.«149 Während das HGB also seit dieser Zeit nur noch als inhomogenes Supplement zum BGB Konsistenz aufweist150, wurde das BGB korrespondierend dazu durch die Aufnahme einiger Institute marginal kommerzialisiert151, was rechtssystematisch möglich war, da »die Rechtsinstitute des Handelsrechts nur zum geringsten Theile dem bürgerlichen Recht fremd« sind.152

C. Handelsrecht: (Standes-) Sonderrecht der Außenbeziehungen? Kritik erfuhr der HGB-Entwurf bereits bei seiner Verabschiedung. So machte O. von Gierke auf den artifi ziellen Charakter des HGB aufmerksam und bemängelte, dass das Handelsrecht im Grunde als das Recht derer erscheine, »denen Kaufmannseigenschaft angedichtet« werde (1896).153 Nicht weniger erstaunt die starke Orientierung von ADHGB und HGB an dem Kaufmannsbegriff aus heutiger Sicht, führt man sich vor Augen, dass sich zum Zeitpunkt der Verabschiedung dieser Kodifi kationen bereits viele Umstände, die im Mittelalter für die Herausbildung handelsgewohnheitsrechtlicher Sonderregeln ursächlich gewesen waren, bereits wieder erledigt hatten. Schon zuvor waren das kanonische Zinsverbot und die kanonische Doktrin durch die Reformation bekämpft und schließlich verworfen worden154, die Zünfte und Gilden waren zerfallen und die Geschlossenheit des mittelalterlichen Kaufmannsstandes gehörte der Vergangenheit an. An die Stelle der mittelalterlichen Genossen147

Ehrenberg, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 21 (S. 255). K. Lehmann/Ring, Kommentar – HGB, Einleitung, S. XIX; vgl. auch: Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 4. (S. 2964); Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 4 II. (S. 50, 51); Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 32. 149 K. Lehmann/Ring, Kommentar – HGB, Einleitung, S. XIX; vgl. auch: Bergfeld, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. D. 4. (S. 2964); Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 4 II. (S. 50, 51). 150 Müller-Erzbach, Deutsches Handelsrecht, B. III. b) (S. 41), Wolter, Jura 10 (1988), 169 (170, 171); Canaris, Handelsrecht, § 1 Rn. 11 ff. (S. 4 ff.); Treber, AcP 199 (1999), 525 (526, 527). 151 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 6 A. I. (S. 88, 89). 152 Heck, AcP 92 (1902), 438 (442). 153 O. von Gierke, ZGH 45 (1896), 441 (452). 154 Endemann, Hdb. des deutschen Handels,- See- und Wechselrechts, § 4 (S. 15). 148

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schaften war die nationale Staatswirtschaft getreten155, sodass auch in dieser Hinsicht »der Boden für die Entstehung korporativer Gebräuche und autonomischer Satzungen verloren« gegangen war.156 Während bei der Verabschiedung des HGB weder eine als »Kaufmann« in Erscheinung tretende Schicht noch eine soziologische Personengruppe dieses Zuschnitts existierte157, ist als letztes großes Gesetzeswerk, dem noch eine rein standesrechtliche Auffassung zugrunde gelegen hatte, das preußische Allgemeine Landrecht (ALR) zu begreifen, dessen 8. Titel des II. Teils noch die aussagekräftige Überschrift »Vom Bürgerstande« trug158. Die Ausrichtung des ALR war jedenfalls noch insofern standesrechtlich, als im wesentlichen nur diejenigen Marktteilnehmer Kaufleute sein konnten, die Mitglied einer Innung als einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft waren.159 Nur Mitglieder in diesem Sinne durften Handel treiben und nur für sie galt dann Handelsrecht.160 Die Frage der Mitgliedschaft beurteilte sich nicht nach dem jeweiligen Landesrecht, dem der Handeltreibende unterstellt war, sondern nach der individuellen Innungssatzung, aus der sich die Kaufmannseigenschaft ergab.161 Vergleicht man hiermit die Organisationsvorstellungen des HGB, so könnte letzteres allenfalls noch in einem standesentfernten Sinne als Kaufmannsrecht der Außenbeziehungen Geltung beanspruchen.162

D. Die mangelnde Adaptionsfähigkeit der HGB-Dogmatik Die Schlussfolgerung, dass das HGB als Gesetzgebungswerk »missglückt« ist (K. Schmidt)163, drängt sich heute vor allem aus EG-Perspektive auf. Ganz offensichtlich differenziert das Gemeinschaftsrecht in keiner Weise mehr zwischen kaufmännisch und nicht kaufmännisch geprägten Rechtsgeschäften, sondern lediglich zwischen Unternehmens- und Nichtunternehmensgeschäf155 Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 15, 16); J. von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 2 (S. 11). 156 Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 16). 157 Treber, AcP 199 (1999), 525 (541). 158 Vgl. Eichler, ZHR 126 (1964), 181 (184). 159 Vgl. hierzu ALR – 2. Teil, 8. Titel, 7. Abschnitt § 480: »An Orten, wo dergleichen Innungen bestehn, hat nur der, welcher darin aufgenommen ist, die Rechte eines Kaufmanns.« 160 Hagenguth, Die Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im internationalen Privatrecht, 2. Teil I. 1. a) (S. 11). 161 Vgl. hierzu ALR – 2. Teil, 8. Titel, 7. Abschnitt § 479: »Wo Kaufmannsgilden oder Innungen vorhanden sind, muß ein darin aufzunehmendes Mitglied den Erfordernissen der Innungsartikel, sowohl in Ansehung der Lehrjahre, als sonst, ein Genüge leisten.« 162 Eltzbacher, Deutsches Handelsrecht, S. 7; F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. II. 1. b) (S. 434); K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKommHGB, Vor § 1 Rn. 5 ff. 163 K. Schmidt, JuS 25 (1985), 249 (250).

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ten.164 Obwohl Handeltreibende mit hohem Güterumsatz eigentlich mehr als Verbraucher im Visier der europäischen Rechtsharmonisierung stehen müssten, hat die positivistische Dogmatik des HGB bisher so gut wie keinen Anklang auf EG-Ebene gefunden. Weder ist es zu einer europaweiten Angleichung des Kaufmannsbegriffs noch zu einer kollisionsrechtlichen Einheitsnorm zur Anknüpfung der nationalen Kaufmannseigenschaften gekommen. Vielmehr scheint die EG ihre »handelsrechtliche« Aufgabe spezifisch darin zu sehen, Marktversagen im zwischenstaatlichen Geschäftsverkehr entgegen zu wirken. Obwohl damit marktunterstützende Regelungen neben den nationalen Rechtsordnungen auch den international aufgestellten Handelsbräuchen überlassen werden165, adaptieren selbst die UNIDROIT-Prinzipien nicht einmal Ausläufer der positivrechtlichen HGB-Dogmatik166. Die HGB-relevanten Maßnahmen der Gemeinschaft sind punktuell und schlagen sich bisher nur außerhalb des Wirkungsbereichs des positivrechtlichen HGB-Katalogs nieder.167 So betreffen die meisten EG-Richtlinien und -Verordnungen, die einen professionellen oder unternehmerischen Bezug aufweisen, entweder Fragen der Anerkennung berufl icher Qualifi kationen168, sollen u. a. KMU fördern169 oder haben spezifisch gesellschaftsrechtlichen Charakter170. Richtlinien wie diejenigen im Bereich der Buchführung, Bilanzierung und Rechnungslegung (umgesetzt über das Bilanzrichtliniengesetz 1985) hatten zwar eine Änderung des HGB zur Folge, aber lediglich außerhalb des 164 Vgl. Art. 2 Nr. 1 Zahlungsverzugsrichtlinie; vgl. auch: Grundmann, ZHR 163 (1999), 636 (668). 165 Grundmann, ZHR 163 (1999), 635 (662, 663); Drobnig, in: Grundmann/Medicus/ Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 49 (S. 49 ff.). 166 Vgl. insbesondere: UNIDROIT – Principles of International Commercial Contracts 2004 – URL: http://www.unidroit.org/english/principles/contracts/main.htm (04. 08. 2008). 167 Im Überblick: Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil § 1 II. 2. Rn. 14 ff. (S. 11 ff.). 168 Beispielhaft: Rat – Richtlinie über ein Verfahren zur Anerkennung der Befähigungsnachweise für die unter die Liberalisierungs- und Übergangsrichtlinien fallenden Berufstätigkeiten – ABl. 1999 Nr. L 201 S. 77; Richtlinie über Maßnahmen zur Vereinfachung der tatsächlichen Ausübung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für die Tätigkeit des Reisegewerbes – ABl. 1975 Nr. L 167 S. 29; Richtlinie 64/429 über die Einzelheiten der Übergangsmaßnahmen auf dem Gebiet der selbständigen Tätigkeiten der be- und verarbeitenden Gewerbe der CITI-Hauptgruppen 23–40 (Industrie und Handwerk) – ABl. 1964 Nr. B 117 S. 1880; Richtlinie 64/427 über die Einzelheiten der Übergangsmaßnahmen auf dem Gebiet der selbständigen Tätigkeiten der be- und verarbeitenden Gewerbe der CITI-Hauptgruppen 23–40 (Industrie und Handwerk) – ABl. 1964 Nr. B 117 S. 1863; im Überblick: W.-H. Roth, VuR 22 (2007), 161 (166). 169 Rat – Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt – ABl. 2006 Nr. L 376 S. 36. 170 Rat – Verordnung 2157/2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft – ABl. 2001 Nr. L 291 S. 1; Verordnung 2137/85 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung – ABl. 1985 Nr. L 199 S. 1.

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Vertragsrechts im dritten Buch.171 Wiederum in eine Ergänzung des Handelsregisterrechts (§§ 8–16 HGB) mündeten die Publizitätsrichtlinie (1968/2003)172 und die Zweigniederlassungsrichtlinie (1989)173. Lediglich die Zahlungsverzugsrichtlinie (2000) führte zu einer materiellrechtlichen Angleichung des Handelsvertragsrechts174, aber nur beschränkt auf den schmalen Bereich des Zahlungsverzugs. Noch zusammenhangloser ist die Beziehung der Handelsvertreterrichtlinie (1986) zum vierten Buch des HGB, denn auch mit dieser Richtlinie wurde nicht das im HGB kodifi zierte Vertragsrecht, sondern lediglich das Innenverhältnis zwischen Geschäftsherrn und Handelsvertreter einer harmonisierten Regelung zugeführt (§§ 84–92c HGB).175 Die fehlende EG-rechtliche Akzeptanz des in Deutschland kodifi zierten Handelsvertragsrechts stellt dem HGB ein schlechtes Zeugnis aus.176 Wollte man vor diesem Hintergrund trotzdem schon von einem »Gemeinschaftshandelsrecht« sprechen, wäre dessen Abgrenzung sicherlich nicht an dem Kaufmannsbegriff, sondern allenfalls »abstrakt-institutionell an einer auf Dauer angelegten Organisation selbständiger wirtschaftlicher Tätigkeit oder an der öffentlichen Auftragsvergabe (›Unternehmen‹)« festzumachen.177 Dass die §§ 343 ff. HGB schon vor geraumer Zeit sinnbildlich aus dem Rennen der EGRechtsharmonisierung ausgeschieden sind, manifestiert sich auch in der partiellen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von § 344 HGB. Indem § 344 HGB die widerlegbare Vermutung aufstellt, dass die von einem Kaufmanne vorgenom171 Rat – Vierte Richtlinie 78/660/EWG aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen – ABl. 1978 Nr. L 222 S. 11; Rat – Siebente Richtlinie 83/349/EWG aufgrund von Artikel 54 Abs. 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluss – ABl. 1983 Nr. L 193 S. 1; Rat – Achte Richtlinie 84/253/EWG aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Zulassung der mit der Pfl ichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen – ABl. 1984 Nr. L 126 S. 20. 172 Rat – Erste Richtlinie 68/151/EWG zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne es § 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten – ABl. 1968 Nr. L 65 S. 8; vgl. auch: Rat – Richtlinie 2003/58/EG zur Änderung der Richtlinie 68/151/EWG in Bezug auf die Offenlegungspfl ichten von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen – ABl. 2003 Nr. L 221 S. 13. 173 Rat – Elfte Richtlinie 89/666/EWG über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die einem Recht eines anderen Staates unterliegen – ABl. 1989 Nr. L 395 S. 36. 174 Rat – Richtlinie 2000/35/EG zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr – ABl. 2000 Nr. L 200 S. 35. 175 Rat – Richtlinie 86/653/EWG zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter – ABl. 1986 Nr. L 382 S. 17; Grundmann, ZHR 163 (1999), 635 (643). 176 Vgl. Grundmann, ZHR 163 (1999), 636 (642 ff.); Herber, ZHR 144 (1980), 47 (52 ff.). 177 Müller-Graff, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9 (S. 39).

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menen Rechtsgeschäfte im Zweifel als zum Betriebe seines Handelsgewerbes gehörig gelten178, erschwert er Kaufleuten, die mit privatem Zweckbezug als Verbraucher ein Geschäft tätigen, den Nachweis ihrer Verbrauchereigenschaft. Soweit der Geltungsbereich einer Verbraucherrichtlinie betroffenen ist, läuft er demzufolge dem Grundsatz der effektiven EG-Rechtsumsetzung zuwider.179 Schon längst hätte daher der Normgeber – um in diesen Fällen den Vorrang des HGB nicht durchgreifen zu lassen (Art. 2 EGHGB) – eine Ausklammerung des umgesetzten Verbraucherrichtlinienrechts vom Anwendungsbereich des § 344 HGB veranlassen müssen.

E. Kritik des Kaufmannsbegriffs und Systemanalysen des Handelsrechts Insgesamt ist das rechtspolitische Résumé der handelsrechtlichen Entwicklung auf den ersten Blick frappierend: Die heute vorwiegend supra- und international veranlasste Fortentwicklung des Handelsrechts legt gerade die Vermutung nahe, dass das HGB als handelsrechtliches Erkenntnis- und Abbildungsinstrument mit einem Geburtsfehler behaftet war. Zwar mag Preis erst 1983 eine »Abkehr vom Kaufmannsbegriff hin zur funktionalen Abgrenzung des geschäftsmäßigen (unternehmerischen) und privaten Handelns im Geschäftsverkehr« konstatiert haben.180 Gleichwohl reichen die Wurzeln der ADHGB-/HGB-kodifi katorischen Fehltypisierung erheblich weiter zurück. Im Grunde wurden schon in den ersten Handelsrechtskodifi kationen die Abgrenzungstermini des Kaufmanns und des Handels fälschlicherweise dadurch gewonnen, dass man die herkömmlichen Erscheinungsformen des Kaufmanns und des Handels begriffl ich als allgemeingültige, gleichsam als naturrechtliche fi xierte.181 Vor diesem Hintergrund erscheint es schlüssig, dass sich bereits Hofacker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts z. B. gegen die Aufnahme des Kaufmannsbegriffs in die württembergische Handelsgesetzgebung wendete und statt dessen zur Harmonisierung von Sprachgebrauch und Rechtsterminologie den Vorschlag unterbreitete, den Begriff des »Handelsmanns« als Oberbegriff zu verwenden, um sowohl den herkömmlichen Kaufmann als auch den Fabrikanten zu erfassen.182 178 Bzgl. der Anforderungen an die Widerlegung der Vermutung vgl.: Hefermehl, in: Schlegelberger, HGB-Kommentar, § 344 Rn. 12; Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, § 344 Rn. 7. 179 Herresthal, JZ 61 (2006), 695 (699). 180 Preis, ZHR 158 (1994), 567 (580). 181 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 2. Kap. I. (S. 51). 182 Schubert (Hrsg.), Entwurf eines Handelsgesetzbuches für das Königreich Württemberg mit Motiven (1939/40), II. Teil, 1. Buch 1. Titel I Art. 4 (S. 21); vgl. auch: Bergfeld, in:

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Aber selbst um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert erhoben Literaturstimmen nicht selten den Vorwurf, dass das Handelsrecht »weder in der Auffassung des gewöhnlichen Lebens noch für die volkswirtschaftliche Betrachtung eine Einheit« bildete.183 So war man der Auffassung, dass die Begriffe »Handel« und »Kaufmann« einerseits in der juristischen Terminologie eine Bereichsausweitung erfahren, die dem gewöhnlichen Sprachgebrauch teilweise zuwiderläuft.184 Andererseits beklagte man Engstirnigkeit, weil die Begriffe des Kaufmanns und des Handels mit einem zu restriktiven Ansatz aus Kriterien des positiven Rechts deduziert worden seien, ohne »die Abgrenzungen des konkreten Rechtsstoffes an vorpositiven rechtlichen Maßstäben« zu messen.185 Vielfach stiftete die Vorstellung Verwirrung, dass das Gesetz mit den Worten »Handel und Kaufmann [.] einen anderen Sinn als der gewöhnliche Sprachgebrauch oder die Wissenschaft der Nationalökonomie« verband.186 In der Tat: Selbst Thöl legte seinen systematischen Überlegungen zum Kaufmannsbegriff ohne Leitbildreflexion die überkommenen »Handelsüsancen« zugrunde, auch wenn er als einer der ersten die deduktive Methode als handelsrechtliche Disziplin propagierte.187 I. Kausale Erklärungsmodelle der handelsrechtlichen Literatur Die Tatsache, dass der Kaufmannsbegriff von Anfang an als »zu unbeweglich« konzipiert war, »um für die Regelung der sich . . . schnell entwickelnden und verändernden wirtschaftlichen Phänomene geeignet zu sein«188, wirft die fundamentale Frage nach der eigentlichen Existenzberechtigung des Handelsvertragsrechts auf. Welchen Sinn macht ein auf antiquierten Standesvorstellungen festgeschriebenes Verkehrsrecht, dessen im Grunde betroffener Adressatenkreis doch eigentlich auf Flexibilität und Weiterentwicklung angewiesen ist? Mit dieser und ähnlichen Fragestellungen haben sich vor allem zurückliegende Systemanalysen über die Daseinsberechtigung des Handelsrechts beschäftigt, die – wenn man sie wie nachfolgend auswertet – nicht ohne Berücksichtigung der Ausgangsüberlegung betrachtet werden dürfen, dass stets die Materie selbst und nicht ein »toter oder aus heutiger Sicht durchaus mangel-

Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/3, 1. Abschnitt 1. Kap. I. A. 2. (S. 2871). 183 Bezogen auf das Handelsrecht vgl.: Heck, AcP 92 (1902), 438 (444). 184 Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 3 (S. 21, 22). 185 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 2. Kap. I. (S. 52); vgl. auch: O. von Gierke, ZGH 45 (1896), 441 (455 ff.). 186 Bezogen auf das Handelsrecht vgl.: Heck, AcP 92 (1902), 438 (445). 187 Thöl, Das Handelsrecht – Bd. 1, § 5 (S. 14 ff.). 188 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 2. Kap. I. (S. 52).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

hafter Normenkatalog« (K. Schmidt) den Stoff des Handelsrechts bestimmen.189 1. Die relative Theorie des Handelsrechts Als immer noch exemplarisch ist in diesem Zusammenhang die relative Theorie Endemanns zu begreifen, der die handelsrechtliche Sonderbereichsbildung maßgeblich auf die Notwendigkeit eines innovativen und flexibleren Rechtsrahmens für den kaufmännischen Handel zurückgeführt hat. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die These, dass das Handelsrecht auf soziologische Veränderungen stets früher als das bürgerliche Recht reagiere und sich an Bedürfnisse des Geschäftsverkehrs mit einer größeren Beweglichkeit als das bürgerliche Recht anpasse.190 Wünschenswerte Reformen gelangten regelmäßig vorrangig auf dem Gebiet des Handelsrechts zur Durchführung. So seien »z. B. gewisse plumpe Vorschriften des spätrömischen Kaiserrechts im Handelsrechte schon zu einer Zeit beseitigt [worden], als sie im bürgerlichen Rechte noch vertragen wurden«.191 Ausgehend von dieser Annahme komme dem Handelsrecht die Rolle als »Pionier des juristischen Fortschritts« zu, »[m]an könnte von einer Offensive des Handelsrechts reden«.192 Handelsrecht sei nicht als gesetzliche Ausnahme zum Obligationenrecht der breiten Masse sondern nur als der erste Schritt zu dessen Verbesserung« einzustufen. a) Einheitstheorie und Korrelationsthese Mit seinen Thesen brachte Endemann eine Einheitsbetrachtung zwischen Privat- und Handelsrecht zum Ausdruck, die einen dogmatischen Eigenwert des Handelsrechts leugnet. Anders als im Mittelalter sah er im Handelsrecht kein eigenständiges Standesrecht mehr; das Handelsrecht »häng[e] nothwendig mit dem allgemeinen Civilrecht zusammen, ha[be] in ihm seine Wurzeln«.193 Ausgehend von dieser systematischen Verbindung könne sich Handelsrecht nur dann und insoweit bilden, als das bürgerliche Recht hinter soziologischen Veränderungen und Neuerungen in der Handelspraxis hinterherhinke.194 Han-

189

K. Schmidt, JuS 25 (1985), 249 (250). Endemann, Hdb. des deutschen Handels,- See- und Wechselrechts, § 4 (S. 16). 191 Heck, AcP 92 (1902), 438 (463). 192 Heck, AcP 92 (1902), 438 (448, 449); vgl. auch: Endemann, Der Entwurf eines deutschen Handelsgesetzbuchs in seinen drei ersten Büchern, 1. Buch (S. 2); Raisch, Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht, II. 2. (S. 14); ähnlich auch Wahl, der von dem Handelsverkehr als einem »Schrittmacher des Zivilrechts« spricht: Wahl, in: FS für Hefermehl (70. Gebtg.), S. 1 (S. 1 ff.). 193 Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 16). 194 Endemann, Der Entwurf eines deutschen Handelsgesetzbuchs in seinen drei ersten Bü-chern, 1. Buch (S. 4). 190

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delsrecht als sichtbares Sonderrecht sei nur insoweit möglich, als Defi zite des bürgerlichen Rechts im Handelsverkehr kompensiert werden müssten.195 Endemann machte auf diese Weise die Grenze zwischen Handels- und bürgerlichem Recht zu einer relativen: Je intensiver in einer Region oder in einer bestimmten Gesellschaft Handel ausgeprägt sei, desto größer werde das Bedürfnis, das fortschrittlichere Handelsrecht auch im bürgerlichen Recht zu adaptieren. Lasse sich das bürgerliche Recht auf die soziologischen Veränderungen im Handelsverkehr aber nicht ein, begünstige diese Unzulänglichkeit die Bildung von Handelsrecht.196 Somit könne ein gesondertes Handelsvertragsrecht immer nur als Übergangslösung begriffen werden, bis sich die gesellschaftlichen Handelsgepflogenheiten mit dem bürgerlichen Recht wieder im Einklang befänden. Da die Gestaltung des Handelsrechts notwendig Rückwirkungen auf das bürgerliche Recht ausübe, verwische sich die Verschiedenheit zwischen Handels- und bürgerlichem Recht durch die nach einer gewissen Zeit notwendige Vereinigung des bürgerlichen mit dem Handelsrecht.197 Handelsrechtliches Sonderrecht müsse nach und nach »um so mehr zurücktreten, je elastischer und freier das bürgerliche Recht gestaltet [sei]«.198 b) Die Reaktionen des Schrifttums auf die Einheitsbetrachtung In der übrigen Literatur rief die Ursachenerklärung Endemanns unterschiedliche Reaktionen hervor. Raisch konzedierte zwar einerseits, dass Endemann »die Problematik der Abgrenzung des Handelsrechts vom bürgerlichen Recht und die Voraussetzungen seiner systematischen Erfassung erkannt[.]« habe.199 Er habe gesehen, »daß Voraussetzung einer begrifflichen Erfassung des Handelsrechts ein den Interessen des ›Durchschnittsbürgers‹ gerecht werdendes bürgerliches Recht [sei]; von dessen Niveau häng[e] die Frage ab, ob für einen engeren Kreis von Personen speziellere Regeln erforderlich [seien]«. 200 Andererseits gab er aber zu bedenken, dass »[d]ie Auffassung vom relativen Handelsrecht . . . im Ergebnis zum Verzicht auf eine eigene Dogmatik des Handelsrechts [führe]«. Sie habe notwendig zur Konsequenz, dass das bürgerliche Recht so ausgestaltet werden müsse, »daß neben ihm handelsrechtliche Sondersätze entbehrlich werden«. 201

195

Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 16). Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 16); Raisch, Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht, II. 2. (S. 13). 197 Endemann, Hdb. des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, § 4 (S. 16). 198 Heck, AcP 92 (1902), 438 (463). 199 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 1. Abschnitt 2. Kap. II. (S. 55). 200 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 1. Abschnitt 2. Kap. II. (S. 53). 201 Raisch, Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht, II. 2. (S. 16) 196

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

Mit größerer Entschiedenheit lehnte Heck die Auffassung Endemanns ab. Dabei sah er sich durch die Entwicklung bestätigt, dass handelsrechtliche Revisionskodifi kationen – wie beispielsweise das HGB – im Vergleich zum ADHGB überwiegend die Tendenz zeigten, den Abstand von dem bürgerlichen Rechte nach Möglichkeit zu mindern. 202 Dass die Ursache des Handelsrechts in dem Ausgleich von Unvollkommenheit bestehe, hielt er vor dem Hintergrund dieser Rückzugsbewegung aber für abwegig. Raisch wiederum sah die von Heck angesprochenen Rückzugsbewegungen in einem größeren historischen Kontext und machte der relativen Theorie zum Vorwurf, dass »[s]ie . . . nicht erklären [könne], warum manche Rechtssätze des Handelsrechts in einem Jahrhundert abwechselnd einmal die Farben des Handelsrechts und einmal die des bürgerlichen Rechts getragen haben«. 203 2. Goldschmidts entwicklungsgeschichtliche Innovationsbetrachtung Auf Kritik ist das Unvollkommenheitsargument vor allem bei Goldschmidt gestoßen: »[D]ie Rechtsinstitute und die einzelnen Rechtssätze [dürften] nicht lediglich in der starren Ruhe des immer nur unvollkommen gesetzlich fi xierten Dogmas betrachtet werden«. Geschehe dies gleichwohl, könne »das ›geltende‹ Recht . . . nicht sicher . . . verstanden [werden]«, weil es im Rahmen der Einheitsbetrachtung »eben nur als Glied einer Entwicklungskette, also mit Vergangenheit wie Zukunft richtig verstanden werden [könne]«. 204 Goldschmidt verfolgte daher gemeinsam mit seinem Schüler Rießer einen diametral abweichenden Erklärungsversuch. 205 Das Bedürfnis für ein gesondertes Handelsrecht sei darin zu sehen, dass handelsrechtliche Normgruppen als Entwicklungsort für innovative Rechtssätze dienten, die nur kurze Zeit dort verblieben und nach einer entwicklungsgeschichtlichen Übergangszeit auch im bürgerlichen Recht adaptiert würden. 206 Im Sinne Goldschmidts sprach Rießer dem Handelsrecht die Funktion eines »untrügliche[n] Wegweiser[s]«, eines »kühnen Pionier[s]« sowie eines »Jungbrunnens des bürgerlichen Rechts« zu, »aus dem das letztere stets frische Kraft und neue Gedanken schöpf[e]«. 207 Dabei führte er die in Deutsch202

Heck, AcP 92 (1902), 438 (450). Raisch, Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht, II. 2. (S. 16). 204 Goldschmidt, ZHR 28 (1882), 441 (451). 205 Goldschmidt, Hdb. des HandelsR: Universalgeschichte des Handelsrechts, III. 1. § 3 (S. 11 ff.); Rießer, Der Einfluß handelsrechtlicher Ideen auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs, S. 69 ff. 206 Goldschmidt, Hdb. des HandelsR: Universalgeschichte des Handelsrechts, III. 1. § 3 (S. 11 ff.); vgl. Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 3. Kap. I. (S. 26). 207 Rießer, Der Einfluß handelsrechtlicher Ideen auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs, S. 71; vgl. Goldschmidt, Hdb. des HandelsR: Universalgeschichte des Handelsrechts, III. 1. § 3 (S. 11 ff.); Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundla203

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land bestehenden sachlichen Unterschiede darauf zurück, dass das Handelsrecht einer größeren Beweglichkeit bedarf als das bürgerliche Recht; auf dem Gebiet des Handelsrechts bestehe das Bedürfnis nach einer internationalen Rechteinheit stärker als auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts, das seinerseits »im Allgemeinen eine gewisse territoriale Abgeschlossenheit nicht zu überwinden vermag. 208 In der Literatur stießen Goldschmidts Überlegungen zur Internationalität und Anpassungsfähigkeit des Handelsrechts als Ursachenfaktoren überwiegend auf Zustimmung. 209 So brachten zahlreiche Veröffentlichungen aus der Wendezeit zum 20. Jahrhundert zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber im Handelsrecht mehr als in jedem anderen Privatrechtsbereich darauf angewiesen sei, auf gesellschaftliche Vorgänge und internationale Entwicklungen flexibel reagieren und ohne Rücksicht auf das Vertragsrecht der breiten Masse Anpassungen vornehmen zu können. 210 Die Bereitschaft zur Schaffung international einheitlicher Kalkulationsgrundlagen sei im Handelsrecht besonders groß, stelle doch die Rechtsverschiedenheit gerade für den gewerblichen Handelsverkehr einen schweren Mangel dar, gegen den »der rechtsgeschäftliche Großbetrieb . . . besonders empfi ndlich« sei. 211 Nur teilweise wurde es als »ungerechtfertigt« bezeichnet, »die . . . in Deutschland bestehenden fachlichen Unterschiede darauf zurückzuführen, dass das Handelsrecht einer größeren Beweglichkeit bedarf als das bürgerliche Recht, oder dass auf dem Gebiete des Handelsrechts das Bedürfnis nach einer internationalen Rechtseinheit stärker ist als auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts«. 212 3. Die »Dreistufen«-Ursachendefi nition von Gareis Im Vergleich zu Endemann und Goldschmidt vertrat Gareis einen beispielhaft vermittelnden Ansatz, der sowohl Elemente von Endemanns Einheitsbetrachtung als auch Aspekte von Goldschmidts Korrelationsbetrachtung in sich vereinigt. Gareis war der Meinung, dass »das Bedürfnis nach einem besonderen Handelsrechte, namentlich nach einem besonderen Handelsprivatrechte neben dem übrigen bürgerlichen Rechte . . . geschichtlich von drei Umständen abhängig und beeinflusst« sei, nämlich: gen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 1. Abschnitt 2. Kap. II. (S. 57); Raisch, FS für Stimpel (68. Gebtg.), S. 29 (S. 37). 208 Goldschmidt, Hdb. des HandelsR: Universalgeschichte des Handelsrechts, III. 1. § 3 (S. 11); Heck, AcP 92 (1902), 438 (450–451). 209 Ehrenberg, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 1 (S. 5 ff.); von einer »Dekommerzialisierung des Handelsrechts« im Laufe der Zeit ging auch Nußbaum aus: Nußbaum, ZHR 76 (1915), 325 (331). 210 Goldschmidt, ZHR 20 (1875), 134 (140). 211 Heck, AcP 92 (1902), 438 (466). 212 Heck, AcP 92 (1902), 438 (450–451).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

»von der Einwirkung der Rechtszustände aller Völker, die durch Handelsbeziehungen miteinander verbunden sind (internationaler Faktor zur Entstehung des HR.), von dem Zustande des sich langsamer entwickelnden allgemeinen Rechts (nationaler Faktor), und von der Sitte und Anschauung eines besonderen Handelsstandes (kommerzieller Faktor).«213

Während der internationale Faktor zur Entstehung des Handelsrechts geschichtlich am längsten, nämlich bis in die Zeit des klassischen römischen Rechts zurückreiche, kämen in dem kommerziellen und nationalen Faktor Umstände zum Ausdruck, die auch heute noch Struktur und Zustand des Handelsrechts beeinflussten. Den ersten, also den internationalen Faktor, leitete Gareis aus dem Verkehrsrecht des römischen Rechts ab. Er vertrat die Meinung, dass die Entstehung handelsspezifischer Rechtsinstitute dem römischen ius gentium sowie der Elastizität des römischen Rechts gegenüber dem Handel zu verdanken sei. Ähnlich wie Endemann und Goldschmidt sprach auch Gareis dem Handelsrecht eine Vorreiterrolle zu. Die damals entstandenen Rechtsinstitute hätten eine Vorreiterrolle eingenommen und seien mit der Zeit auch vom allgemeinen Verkehrsrecht übernommen worden, sodass sie zum Teil heute noch »die wichtigsten Elemente des Obligationenrechts im Handelsverkehr« bildeten. 214 Erst im 11. Jahrhundert sei dagegen der nationale und kommerzielle Faktor hinzugetreten. 215 Während Gareis als kommerziellen Faktor den Umstand begriff, dass der Handelsstand durch eine besondere Sitte und spezifische Anschauungen geprägt ist, bezeichnete er als nationalen Faktor die langsamere Entwicklung des allgemeinen Verkehrsrechts im Vergleich zum Handelsrecht. Von Goldschmidt unterscheidet sich Gareis’ Ansatz dadurch, dass er wie Endemann von einem Korrelationsverhältnis zwischen dem nationalen und dem kommerziellen Faktor ausgeht. Zwar passe sich das Handelsrecht über Usancen und kaufmännisches Gewohnheitsrecht flexibler als das bürgerliche Recht dem tatsächlichen Verkehrsverhalten an. Da das Handelsrecht als Sonderrecht aber von dem Zustande des sich langsamer entwickelnden bürgerlichen Rechts profitiere, gehe die Herausbildung von handelsrechtlichem Sonderrecht zurück, je mehr das bürgerliche Recht Anpassungsbereitschaft an sich ändernde Handelspraktiken zeige, was im Gegenschluss wiederum bedeute: »[J]e zurückgebliebener, je weniger praktisch das allgemeine bürgerliche Recht, desto mehr schreit der Handel nach einem Sonderrecht und desto mehr schreitet die Bildung des Sonderrechts vor, wenn ein kräftiger, solider Handelsstand festgebaut hinter ihr steht.«216 213 214 215 216

Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 3 (S. 5). Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 3 (S. 5, 6). Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 3 (S. 6, 7). Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 3 (S. 7).

§ 8 – Recht der Handelsverträge – : Kausalfaktoren und Chronologie

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II. Auswertung der Thesen zur Existenzberechtigung des Handelsrechts In der Fortentwicklung des Rechts der Handelsgeschäfte haben sich die Thesen Endemanns, Goldschmidts und Gareis’ nur bruchstückhaft verwirklicht. So hat sich etwa der Ansatz Endemanns, dass es sich bei dem Handelsrecht um ein Übergangsrecht handelt, das sich mit der Fortentwicklung des bürgerlichen Rechts erübrigt, an keiner Stelle bewahrheitet. Weder in den 1978 in Angriff genommenen Plänen für eine Schuldrechtsreform noch in der im Jahre 2002 in Kraft getretenen Schuldrechtsmodernisierung wurden Bestrebungen unternommen, das bürgerliche Vertragsrecht durch eine Integration des Rechts der Handelsgeschäfte zu liberalisieren; nicht einmal bürgerlich-rechtliche Institute wie das Kontokorrent 217, zu dem die §§ 355 ff. HGB lediglich Sonderregeln aufstellen, wurden in das BGB ausdrücklich überführt. Vielmehr entstanden neue Herausforderungen für das Handelsrecht, etwa durch die gewaltige Vergrößerung der Unternehmenseinheiten und den damit verbundenen Wandel in der Wirtschaftsstruktur218, die fortdauernde Kommerzialisierung, Technisierung und Vitalisierung des Handels während des 20. Jahrhunderts und die massenhafte Typisierung moderner Vertragstypen wie Leasing, Factoring und Franchising, die nicht nur das tatsächliche Angewiesensein der Wirtschaft auf rationelle Arbeitsteilung versinnbildlichen, sondern auch die kodifi katorische Vernachlässigung der Dienstleistungs-, Geschäftsbesorgungs- und Überlassungsverträge zur Schau tragen. 219 Obwohl das HGB besonders vor dem HRefG (1998) nur noch als »Torso einer Kodifi kation des Handelsrechts« und »Ergebnis eines bemerkenswerten Korrosionsprozesses« begriffen wurde220 und vor allem der den Warenhandel begünstigende Katalog der Grundhandelsgewerbe (§ 1 Abs. 2 HGB a. F.) Kritik erfuhr (»willkürlich und geschichtlich überholt«221 bzw. »verfassungwidrig«222), sah sich der Gesetzgeber selbst mit dem HRefG nicht veranlasst, die 217

Canaris, Handelsrecht, § 25 Rn. 55 (S. 390). Krause, Unternehmer und Unternehmung, S. 8; Th. Raiser, Das Unternehmen als Organisation, Einleitung Ziff. 3. (S. 4). Das handelsrechtliche Unternehmen hat sich mittlerweile in gewisser Weise verobjektiviert und von seinen Inhabern abgelöst – eine Entwicklung, die bereits bei der Neufassung des HGB im Jahre 1897 mit der Einfügung der §§ 25 bis 28 aufgegriffen wurde [Th. Raiser, Das Unternehmen als Organisation, Einleitung Ziff. 1. (S. 1 ff.)]. 219 K. Schmidt, JuS 25 (1985), 249 (251); Herber, ZHR 144 (1980), 47 (48 ff.). 220 So zum österreichischen HGB vor der Reform: Krejci, in: Krejci (Hrsg.): ReformKomm. UGB/ABGB, Einführung Rn. 4. 221 Neuner, ZHR 157 (1993), 243 (285); vgl. auch: Canaris, Handelsrecht, § 3 Rn. 4 (S. 26); Treber, AcP 199 (1999), 525 (548, 549); Kort, AcP 193 (1993, 453 (455); Raisch, JuS 7 (1967), 533 (538); K. Schmidt, JuS 25 (1985), 249 (251); kritisch bereits: O. von Gierke, ZGH 45 (1896), 441 (455 ff.). 222 Neuner, ZHR 157 (1993), 243 (286 ff.); kritisch hierzu: K. Schmidt, Handelsrecht, § 3 I. 1. Fn. 1 (S. 48); Henssler, ZHR 161 (1997), 13 (29 ff.); Zöllner, in: Harrer/Mader (Hrsg.): Die HGB-Reform in Österreich, S. 1 (S. 11). 218

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

jahrzehntelange Kritik erschöpfend aufzugreifen. 223 Nach wie vor bildet das »Gewerbe« – also die nach außen in Erscheinung tretende (offene), auf Dauer angelegte (planmäßige), erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete, selbstständige Tätigkeit 224 – den Ausgangspunkt der Kaufmannsdogmatik 225, sodass insbesondere die von Raisch eingeleitete und von K. Schmidt ausformulierte Forderung, den Kaufmannsbegriff zu dem umfassenderen Begriff des Unternehmens zu erweitern, weitgehend unerfüllt blieb. Ebenfalls fühlte sich der Gesetzgeber mit dem HRefG nicht veranlasst, die zahlreichen neuen Vertragstypen zu kodifi zieren, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Kautelarpraxis herausgebildet haben und allein den Handelsverkehr betreffen (z. B. Franchise-, Merchandise-, Swapverträge). 226 Obwohl es sich bei vielen dieser Vertragstypen um Langzeitverträge (relational contracts), Rahmenverträge oder in laufende Geschäftsverbindungen eingebettete Einzelgeschäfte handelt, die äußerst komplex ausgestaltet sind, wichtige theoretische Probleme aufwerfen und spezifisch zwischen Gewerbetrei-

223 Vor 1998 war ohne Registereintragung nur Kaufmann (sog. »Musskaufmann«), wer unter einen in § 1 Abs. 2 HGB a. F. aufgezählten Katalog fallenden Gewerbetreibenden subsumiert werden konnte (im Übrigen: sog. »Sollkaufmann« gemäß § 2 HGB a. F.). Infolge dieser Differenzierung stellten sich so merkwürdige Folgen wie diejenige ein, dass ein marktstarker Bauunternehmer, der von § 1 Abs. 2 Nr. 1 HGB a. F. nicht erfasste unbewegliche Sachen umsetzte, nicht Muss-, sondern lediglich Sollkaufmann war [vgl.: Kort, AcP 193 (1993, 453 (455); Raisch, JuS 7 (1967), 533 (538); Heinemann, FS für Fikentscher (70. Gebtg.), S. 349 (S. 365); Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 13]. Selbst in einigen BGH-Urteilen wurde diesbezüglich Kritik an der Unzulänglichkeit des deutschen Kaufmannsbegriffs zum Ausdruck gebracht [beispielhaft: BGH – Urteil v. 13. 07. 1972, Az.: II ZR 111/70 – BGHZ 59, 179 (182 ff.)]. Ebenfalls wenig nachvollziehbar war (wie heute übrigens auch), dass die nach § 4 HGB a. F. als sog. »Minderkaufleute« kategorisierten Kleingewerbetreibenden sowie Land- und Forstwirte nur durch fakultative Registereintragung die Kaufmannseigenschaft erwerben konnten (sog. »Kannkaufleute« gemäß § 3 HGB a. F.); im Überlick zur Rechtslage vor 1998: Schumacher, Handelsrechtsreformgesetz (HRefG), Teil 1 C. I. (S. 40 ff.). 224 Brox/Henssler, Handelsrecht, § 2 I. 1. Rn. 25 ff. (S. 16 ff.). 225 Das bisherige System wurde in der Form übernommen, dass jedes gewerbliche Unternehmen, das nicht Kleinunternehmen ist, als handelsgewerblich unter den Kaufmannsbegriff fällt (§ 1 Abs. 2 HGB). Ersatzlos weggefallen ist der Katalog der Grundhandelsgewerbe. Während nunmehr die Eintragung im Falle des § 1 Abs. 2 HGB obligatorisch ist, aber nur »deklaratorisch« wirkt, erwerben Kleingewerbetreibende (§ 2 HGB) sowie Land- und Forstwirte (§ 3 HGB) die Kaufmannseigenschaft als sog. »Kannkaufleute« nur durch Eintragung in das Handelsregister. Diese Eintragung ist nach § 2 S. 2 HGB bzw. § 3 Abs. 2 HGB fakultativ, und sie ist, weil sie die Kaufmannseigenschaft erst begründet, »konstitutiv«. Minderkaufleute (§ 4 HGB a. F.) gibt es nicht mehr, wohl aber fi nden bestimmte Vorschriften des HGB auch auf nicht eingetragene Kleinunternehmer Anwendung [vgl. zu den Empfehlungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe »Handelsrecht und Handelsregister«: BT-Drucks. 13/8444 S. 1 (S. 22)]. 226 Basedow, in: Cian (Hrsg.): I cento anni del codice civile tedesco, S. 331 (S. 337); vgl. auch: Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, vor § 343 Rn. 10.

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benden verbreitet sind 227, wurde in dieser Hinsicht weder von einem Kodifi kations- noch von einem Erörterungsbedarf ausgegangen. In die Rolle, »Jungbrunnen« (Rießer) bzw. »›Pionier‹ der Rechtsentwicklung« (J. von Gierke) zu sein 228, ist seit den 1970er Jahren das Verbraucherrecht eingestiegen, mit der Folge, dass nur letzteres ein Experimentierfeld zur Verfügung stellt, um auf innovative Vertriebsmethoden und gesellschaftliche Neuerungen zu reagieren. 229 Dementsprechend wäre den Thesen Goldschmidts nur noch dann ein gewisser Wahrheitsgehalt abzuringen, wenn man in den verbraucherrechtlichen Neuregelungen gleichsam spiegelbildlich auch handelsrechtliche Privilegierungen sähe. 230 Ein derart derivativer Zweckbezug ließe sich allerdings nur mit hohem Aufwand herstellen, basierend auf der Überlegung, dass auch Kaufleute von dem liberaleren (vormals für alle geltenden) Rechtszustand ex ante profitieren, weil das Verbraucherrecht den reinen Unternehmerverkehr mit seinen freiheitsbeschränkenden Regelungen gerade unberührt lässt. 231 Der an der Kaufmannseigenschaft orientierte handelsrechtliche Dogmatisierungsversuch deutschen Zuschnitts hat sich dagegen weder als exportfähig noch als international angleichungstauglich erwiesen. Von dem Gedanken Gareis, dass sich das Handelsrecht aus Sitte und Anstand eines besonderen Handelsstandes entwickelt habe (kommerzieller Faktor), sind heute nur noch Überreste erkennbar. Weil der positivrechtliche Normenkatalog des HGB selbst mit einigem Argumentationsaufwand nicht mehr als Ausdruck der aktuellen Zusammensetzung des professionellen Geschäftsverkehrs nachvollzogen werden könnte, ist das Handelsrecht als derjenige Teil »der allgemeinen ›Handelswissenschaften‹« zu begreifen, »dessen Entwicklung am stärksten hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, die das 19. Jahrhundert an diese Wissenschaften setzte«. 232

227 Basedow, in: Cian (Hrsg.): I cento anni del codice civile tedesco, S. 331 (S. 337); K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, Vor § 343 Rn. 18 ff.; Kimel, OxJLSt 27 (2007), 233 (235, 236). 228 J. von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 1 (S. 5). 229 Ebenfalls von einem Bedeutungsverlust des Handelsrechts und einer Aufwertung des Verbraucherschutzrechts ausgehend: Heinemann, FS für Fikentscher (70. Gebtg.), S. 349 (S. 379). 230 Zur »Katalysator«-Funktion des Verbraucherrechts aus niederländischer Perspektive: Hondius, VuR 11 (1996), 295 (295). 231 Zum »Verlust der Vorreiterrolle« auch: K. Schmidt, Das HGB und die Gegenwartsaufgaben des Handelsrechts, III. 1. b) (S. 25 ff.). 232 K. Schmidt, Das HGB und die Gegenwartsaufgaben des Handelsrechts, I. (S. 10).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

§ 9 – Verbrauchervertragsrecht –: Chronologie und Sondergehalt Beleuchtet man kontrastierend hierzu das Verbraucherrecht, so ist zunächst zu konstatieren, dass dieses vor allem Marktversagen entgegen wirken will und dabei dem Umstand Rechnung trägt, dass dispositive Vorschriften zur Nutzung der Marktfreiheit im Falle eines Marktversagens nicht ausreichen. Zwar wurde die Trennung zwischen Marktfreiheit bei funktionierendem Wettbewerb und Marktordnung bzw. -regulierung bei Marktversagen schon durch die ordoliberale Schule anerkannt. 233 Mit dieser nationalökonomischen Denkrichtung steht das Verbraucherrecht aber in keinem Zusammenhang, sondern stützt sich zumindest rechtspolitisch allein auf den Verbraucherschutzgedanken, der genetisch betrachtet keine europäische Erfi ndung ist. 234 Als Initiator der modernden Schutzrechtsbewegung gilt gemeinhin John F. Kennedy, der mit seiner Verbraucherbotschaft aus dem Jahre 1962 vier Basisrechte des Verbrauchers postulierte (Recht auf Sicherheit, Information, Auswahl und Anhörung). 235 Dabei hat er die Begriffsbildung des Verbrauchers – bewusst oder unbewusst – der ökonomischen Preistheorie von der Funktionsweise von Märkten als Ort des Tausches entnommen. 236 Auf diese Weise konnte der ökonomische Konsumentenbegriff zunächst in die (amerikanische) Politik und anschließend auch sonst in die Rechtsordnungen der westlichen Welt Einzug erhalten. 237

A. Anfänge der Verbraucherrechtskodifi kation und Systemspaltung Sofern bis in die 1970er Jahre überhaupt von Schwächerenschutz die Rede sein kann, war dieser nicht intendiert konsumbezogen, sondern zeichnete sich durch eine negativ-persönliche Abgrenzung über den Kaufmannsbegriff aus. So wollte der Gesetzgeber mit dem bereits vor dem BGB verabschiedeten AbzG sämtliche Abzahlungskäufer vor den Auswüchsen und Missständen von Abzahlungsgeschäften schützen. 238 Es tangierte das formale Gleichheitsprinzip in 233 Vgl. Grundmann, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 1 (S. 13). 234 Vgl. auch Seiler, der in der Verbraucherpolitik eine Fortsetzung der Wettbewerbspolitik sieht, weil letztere Verbraucherinteressen nicht ausreichend befriedigen konnte: Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 2 I. 1. (S. 21). 235 Abgedruckt als Anhang in: von Hippel, Verbraucherschutz, Anhang (S. 281 ff.). 236 Landsburg, Price Theory & Applications, 3. und 4. Kap. (S. 48 ff. und S. 84 ff.). 237 G.-P. Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, 2. Kap. II. 2. d) (S. 71). 238 Entwurf AbzG – Sten. Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 9. Legislaturperiode, II. Session 1893/94, 1. Anlage-Bd., S. 720 (721); vgl. auch: Baltes, Das Abzahlungsgesetz als Verbraucherschutzgesetz, 1. Teil A. II. 2. b) (S. 56); Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 2. Teil II. 4. a) (S. 83 ff.); K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, II. Kap. 6. (S. 56).

§ 9 – Verbrauchervertragsrecht – : Chronologie und Sondergehalt

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geringerem Umfang als das heutige Verbraucherkreditrecht. Eine »allgemeine[.] Differenzierung nach unterschiedlicher Schutzbedürftigkeit« war der Erstfassung des AbzG nicht zu entnehmen. 239 Unternehmen, Körperschaften des öffentlichen Rechts, (pfl ichtwidrig) nicht im Handelsregister eingetragene Kaufleute, Minderkaufleute und Freiberufler wurden genauso wie Verbraucher von seinem Anwendungsbereich erfasst (§ 8 AbzG). 240 Lediglich der eingetragene Kaufmann wurde von seinem Schutzbereich ausgeklammert, was mit der »Verkehrsfreiheit im Großhandel« begründet wurde. 241 In diesem Sinne wurde das Eintragungserfordernis als formalistisches Merkmal aufgefasst und jede Analogiebildung bei nicht eingetragenen Unternehmern abgelehnt. 242 Auch der rechtsgeschäftliche Privatbereich jedes eingetragenen Kaufmanns erfuhr keinen Schutz, da eine Sphärendifferenzierung wie in §§ 343 ff. HGB nicht vorgesehen war. 243 Eine Verfestigung des eigentlichen Verbraucherschutzgedankens trat in Deutschland erst sehr viel später in den 1970er und 1980er Jahren ein. Eine Vielzahl verbraucherschutzrechtlicher Organisationen, Lobbyvereinigungen, Verbraucherverbände und die Stiftung Warentest wurden gegründet. 244 Die neoliberalen Impulse auf dem Felde der Wirtschafts- und Sozialpolitik erlahmten, sodass der »Interventions- und Wohlfahrtsstaat« unaufhaltsam expan239 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 1. b) (S. 34). 240 Vgl. zur Körperschaft des öffentlichen Rechts: OLG Düsseldorf – Urteil v. 30. 11. 1989, Az.: 10 U 50/89 – ZAP-EN-Nr. 287/90; vgl. auch: U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 3. Kap. C. 3. (S. 52), Treber, AcP 199 (1999), 525 (551). 241 Entwurf AbzG – Sten. Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 9. Legislaturperiode, II. Session 1893/94, 1. Anlage-Bd., S. 720 (725, 726). 242 Obwohl diese ursprünglich weite Bereichsabgrenzung des AbzG aus der heutigen verbraucherrechtlichen Perspektive untypisch war, hat der BGH sie stringent eingehalten: »Nur eingetragene Kaufleute soll[t]en vom Schutzbereich des Abzahlungsgesetzes ausgenommen sein, nicht dagegen die nicht eingetragenen, mögen sie im Einzelfall auch nicht schutzbedürftig sein.« [BGH – Urteil v. 24. 05. 1982, Az.: VIII ZR 105/81 – NJW 35 (1982), 2249 (2249, 2250); Textpassage allerdings nur online wiedergegeben unter juris Tz. 17] Sogar Rechtsanwälte wurden als Schutzadressaten anerkannt, auch wenn sie die zu einem Abzahlungsvertrag gehörende Belehrungsklausel entworfen hatten [OLG Düsseldorf – Urteil v. 15. 12. 1988, Az.: 10 U 97/88 – BB 44 (1989), 320 (320)]. Eine Schutzbereichskorrektur »mit Rücksicht auf eine fehlende soziale Schutzbedürftigkeit eines Käufers im Einzelfall« lehnte der BGH ab [BGH – Urteil v. 24. 11. 1954, Az.: VI ZR 143/53 – BGHZ 15, 241 (241)]. Genauso wie das herkömmliche Vertragsrecht konnte das AbzG auf Privatpersonen untereinander Anwendung fi nden [BGH – Urteil v. 12. 06. 1991, Az.: VIII ZR 256/90 – BGHZ 114, 393 (393 ff.); LG Hamburg – Beschluss v. 14. 04. 1983, Az.: 2 T 46/83 – NJW 36 (1983), 1743 (1743)]. 243 Dazu kritisch: Raisch, FS für Ballerstedt (70. Gebtg.), S. 443 (S. 447); Hönn, in: Soergel/Siebert: BGB, Bd. 3, § 8 AbzG Rn. 6. 244 K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, IV. Kap. (S. 118 ff.); vgl. auch die Begründung zum Gesetzesentwurf AGB-Gesetz: BT-Drucks. 7/3919 S. 1 (S. 43).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

dieren konnte. 245 Parteien und Gewerkschaften begannen, die Verbraucherpolitik als Arbeitsfeld in ihre Programme aufzunehmen. Die Bundesregierung legte ihren ersten Bericht zur Verbraucherpolitik vor (18. Oktober 1971), in dem sie sich mit staatlichen verbraucherpolitischen Maßnahmen auseinandersetzte und Ziele einer künftigen Verbraucherpolitik aufzeigte. 246 Am 20. Oktober 1975 folgte der zweite Bericht zur Verbraucherpolitik, 247 der ähnlich wie der erste noch »ein allgemeines ordnungspolitisches Bekenntnis zur Wettbewerbsordnung« in sich trug. 248 Mit dem AGB-Gesetz sollten Anfang der 1970er Jahre dann Maßstäbe für eine allgemeine AGB-Kontrolle geschaffen werden. 249 Auch das AGB-Gesetz war in seiner Ursprungsfassung allerdings nicht als verbrauchertypisches Ausgleichsgesetz konzipiert 250, wenngleich der erste Referentenentwurf (Juni 1974) zu diesem Gesetz noch vorsah, dass seine Vorschriften keine Anwendung fänden, »wenn der Kunde in das Handelsregister eingetragener Kaufmann ist, sofern der Vertrag zum Betriebe seines Handelsgewerbes gehört«. 251 Diese Beschränkung auf den nichtkaufmännischen Bereich rief jedoch bemerkenswerte Kritik hervor, weil man in der AGB-Kontrolle gemeinhin weniger ein Schutzinstrument zugunsten des Verbrauchers als vielmehr ein an Treu und Glauben orientiertes Ausgleichsinstrument zwischen Vertragsgerechtigkeit und Privatautonomie sah (§ 242 BGB). 252 Als Reaktion auf diese Kritik wurde schließlich ein zweiter Referentenentwurf (März 1975) erarbeitet, der als Kompromisslösung einige Vorschriften gegenüber einem Kaufmann für anwendbar erklärte (§ 24 AGBG a. F.). 253 Selbst mit die245

Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Vorwort (S. V). Bericht zur Verbraucherpolitik – BT-Drucks. 6/2724 S. 1 (S. 1 ff.). 247 Zweiter Bericht der BReg zur Verbraucherpolitik – BT-Drucks. 7/4181 S. 1 (S. 1 ff.); auch abgedruckt als Anhang in: von Hippel, Verbraucherschutz, Anhang (S. 295 ff.). 248 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 III. (S. 23). 249 Burckhardt, Das AGB-Gesetz unter dem Einfluss der EG-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, A. III. 2. (S. 20); hierzu ausführlich: Friedrichs, Verbraucherschutz und AGB, IV. (S. 119 ff.). 250 K. Schmidt, Handelsrecht, § 1 III. 4. a) (S. 31); Ulmer, in: Ulmer/Brandner/Hensen (Hrsg.): AGB-Recht, Einl. Rn. 47. 251 § 12 Abs. 1 Nr. des Referentenentwurfs ist abgedruckt in: BB Beilage 18/74 zu Heft 39/ 1974, S. 1 (S. 4). 252 Vgl. die 10. These zum Referat von Ulmer auf dem 50. Deutschen Juristentag in Hamburg (1974): »Eine spezielle Verbrauchergesetzgebung auf dem Gebiet der AGB begegnet trotz der typischen Schutzbedürftigkeit dieses Personenkreises und der politischen Zugkraft von Verbraucherschutzmaßnahmen grundsätzlichen Bedenken.« [Verhandlungen des 50. DJT, Bd. II, H 40]; ähnlich auch der 5. Beschluss, wonach das AGB-Gesetz in seinem »persönlichen Anwendungsbereich grundsätzlich unbeschränkt sein [sollte], vorbehaltlich sachlich gebotener Zusatzregelungen zum Schutz der Endverbraucher« [Verhandlungen des 50. DJT, Bd. II, H 231] vgl. im Überblick: Burckhardt, Das AGB-Gesetz unter dem Einfluss der EG-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, A. III. 2. (S. 21); Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 2. Teil II. 2. b) bb) (S. 58 ff.). 253 Gesetzesentwurf AGB-Gesetz – BT-Drucks. 7/3919 S. 1 (S. 7). 246

§ 9 – Verbrauchervertragsrecht – : Chronologie und Sondergehalt

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ser Partialausklammerung, die entwurfsentsprechend verabschiedet wurde, sollte allerdings weniger der Verbraucher vor dem Unternehmer geschützt als vielmehr den besonderen Bedürfnissen des professionellen Geschäftsverkehrs Rechnung getragen werden. 254 Darüber hinaus war für die 1970er Jahre prägend, dass spezifische Sondergesetze wie das Gesetz zum Schutz der Teilnehmer am Fernunterricht (1976) 255, das Reisevertragsgesetz (1979) 256 und neue Vorschriften zum sozialen Mietrecht 257 erlassen wurden und man bestehende Gesetze verbraucherrechtlich weiterentwickelte. 258 So fanden in das Abzahlungsgesetz durch die Reformnovellen von 1969259 und 1974260 Informations-, Dokumentations- und Formvorschriften sowie Widerrufsrechte (§§ 1 a ff. AbzG) und neuartige Vertragstypen wie Teilzahlungsverträge, Sukzessivlieferungsverträge und Wiederkehrschuldverhältnisse Eingang (§ 1c AbzG). 261 Hinzu trat seit den 1980er Jahren 254 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 1. c) (S. 41); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 9 II. 2. d) (S. 407, 408); Burckhardt, Das AGB-Gesetz unter dem Einfluss der EG-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, B. I. 2. b) (S. 31 ff.). 255 FernUSG – BGBl. I Nr. 112/1976, S. 2525 (S. 2525 ff.). 256 Reisevertragsgesetz – BGBl. I Nr. 23/1979, S. 509 (S. 509 ff.). 257 Zweites Wohnraumkündigungsschutzgesetz – BGBl. I Nr. 139/1974, S. 3603 (S. 3603 ff.); Gesetz über den Kündigungsschutz für Mietverhältnisse über Wohnraum – BGBl. I Nr. 118/1971, S. 1839 (S. 1839 ff.). 258 So etwa §§ 38, 39 ZPO durch die »Gerichtsstandsnovelle«: BGBl. I Nr. 28/1974, S. 753 (S. 754); vgl. im Überblick: Gilles, JA 22 (1980), 1 (2 ff.); Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 2. Teil A. II. 1. (S. 136 ff.). 259 Gesetz zur Änderung des AbzG – BGBl. I Nr. 90 /1969 S. 1539 (S. 1539 ff.). 260 Zweites Gesetz zur Änderung des AbzG – BGBl. I Nr. 52/1974, S. 1169 (S. 1169 ff.). 261 Für einen weiten Anwendungsbereich sorgte auch die Rspr., indem sie das AbzG auf Sondervertragstypen wie fi nanzierte Abzahlungskäufe [BGH – Urteil v. 09. 10. 1951, Az.: I ZR 20/51 – BGHZ 3, 257 (257 ff.)], Kaufpreisstundungen [BGH – Urteil v. 15. 11. 1978, Az.: VIII ZR 290/77 – NJW 32 (1979), 874 (874 ff.)], kurzfristige Mietverträge [BGH – Urteil v. 24. 04. 1985, Az.: VIII ZR 73/84 – BGHZ 94, 226 (226 ff.)], gemischte Mietverträge [BGH – Urteil v. 25. 05. 1983, Az.: VIII ZR 51/82 – NJW 36 (1983), 2027 (2027, 2028)] Dauerlieferungsverträge [BGH – Urteil v. 15. 10. 1980, Az.: VIII ZR 192/79 – BGHZ 78, 248 (248 ff.)], »Sparkaufverträge« [OLG Stuttgart – Urteil v. 01. 04. 1980, Az.: 6 U 184/79 – NJW 33 (1980), 1798 (1798 ff.)], Vertragsübernahmen [OLG Frankfurt – Urteil v. 30. 11. 1988, Az.: 17 U 194/87 – NJW-RR 4 (1989), 1082 (1082); OLG München – Urteil v. 01. 10. 1985, Az.: 25 U 3981/85 – NJW-RR 1 (1986), 150 (150, 151)], Schuldübernahmen [BGH – Urteil v. 03. 07. 1991, Az.: VIII ZR 201/90 – NJW 44 (1991), 2903 (2903 ff.)], fi nanzierte Dienstverträge [LG Augsburg – Urteil v. 02. 03. 1973, Az.: 4 S 304/72 – NJW 26 (1973), 1704 (1704 ff.)], Lizenzverträge [Hanseatisches OLG – Urteil v. 21. 08. 1986, Az.: 3 U 168/85 – NJW-RR 2 (1987), 179 (179 ff.)], Finanzierungs-Leasingverträge [BGH – Urteil v. 29. 11. 1989, Az.: VIII ZR 323/88 – BGHZ 109, 250 (250 ff.); BGH – Urteil v. 24. 04. 1985, Az.: VIII ZR 95/84 – BGHZ 94, 195 (195 ff.); BGH – Urteil v. 24. 05. 1982, Az.: VIII ZR 105/81 – NJW 35 (1982), 2249 (2249, 2250); OLG Koblenz – Urteil v. 25. 10. 1988, Az.: 3 U 686/87 – NJW-RR 4 (1989), 112 (112 ff.); OLG Hamm – Urteil v. 12. 06. 1980, Az.: 4 U 60/80 – ZIP 1 (1980), 989 (989 ff.); LG Freiburg (Breisgau) – Urteil v. 18. 03. 1980, Az.: 9 S 316/79 – BB 35 (1980), 963 (963); LG Augsburg – Urteil v. 10. 11. 1972, Az.: 4 S 117/72 – NJW 26 (1973), 709 (709 ff.)] und Franchise-Verträge

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

ein »Systemwandel« in der subjektiven Abgrenzung 262 , der nicht mehr den (Nicht-) Kaufmann, sondern das »Verbraucher-Unternehmer«-Begriffspaar im Blickfeld hatte. Dementsprechend wurde 1994 etwa das verbraucherrechtliche Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers nach § 8 Abs. 4 VVG geändert 263 : Galt dieses Widerrufsrecht in seiner alten Fassung (1991) nicht, wenn der Versicherungsnehmer Vollkaufmann war264, ist seit dem 29. Juli 1994 eine geänderte Fassung in Kraft, die alle Versicherungsverträge aus seinem Anwendungsbereich ausklammert, die nach dem Inhalt des Vertrages für eine bereits ausübte gewerbliche oder berufl iche Tätigkeit bestimmt sind 265. Auch in andere Sondergesetze fand die b2c-Typisierung Eingang, z. B. in das VerbrKrG, das seit 1991 als Nachfolgekodifi kation zum AbzG fungiert. 266 Seit 1998 orientiert sich in diesem Sinne auch die AGB-rechtliche Partialausgrenzung der »Gewerbetreibenden« nicht mehr an dem Kaufmannsbegriff, sondern daran, ob der Vertrag zu einem Zweck abgeschlossen wird, der weder der gewerblichen noch der selbstständigen berufl ichen Tätigkeit der betreffenden Person zuzurechnen ist (§ 24 Nr. 1 AGBG a. F.). 267 Für Schiedsabreden hat das Schiedsverfahrensneuregelungsgesetz eine vergleichbare Korrekturvorschrift hervorgebracht 268, sodass es bei der Formerleichterung einer [OLG Frankfurt – Urteil v. 14. 03. 1991, Az.: 6 U 5/90 – NJW-RR 6 (1991), 1272 (1272 ff.); Schleswig-Holsteinisches OLG – Urteil v. 28. 07. 1988, Az.: 2 U 28/87 – NJW 41 (1988), 3024 (3024)] für anwendbar erklärte. 262 Treber, AcP 199 (1999), 525 (550 ff.). 263 Vgl. Art. 2 des Gesetzes zur Änderung versicherungsrechtlicher Vorschriften: BGBl. I Nr. 71/1990, S. 2864 (S. 2865): Durch die Spezialvorschrift des § 8 Abs. 4 VVG sollte anfangs der Ausschluss von Versicherungsverträgen aus dem Gesetz für Haustürgeschäfte kompensiert werden [U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 2. Kap. A. (S. 5)]; vgl. auch die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses: BT-Drucks. 11/8321 S. 1 (S. 12). 264 Art. 8 Abs. 4 S. 3 VVG a. F.: »Das Widerrufsrecht besteht nicht, wenn der Versicherungsnehmer Vollkaufmann ist oder wenn der Versicherer auf Wunsch des Versicherungsnehmers sofortigen Versicherungsschutz gewährt.«: BGBl. I Nr. 71/2865 S. 2864 (S. 2865). 265 Art. 8 Abs. 4 S. 3 VVG: »Das Widerrufsrecht besteht nicht, wenn und soweit der Versicherer auf Wunsch des Versicherungsnehmers sofortigen Versicherungsschutz gewährt oder wenn die Versicherung nach dem Inhalt des Antrags für die bereits ausgeübte gewerbliche oder selbständige berufl iche Tätigkeit des Versicherungsnehmers bestimmt ist.«: BGBl. I Nr. 46/1994, S. 1630 (S. 1659). 266 VerbrKrG – BGBl. I Nr. 71/1990, S. 2840 (S. 2840 ff.); vgl. Kindler, in: Ebenroth/ Boujong/Joost (Hrsg.): HGB-Kommentar, Vor 1 § Rn. 43. 267 Regierungsentwurf HRefG – »Teil 1« abgedruckt in: ZIP 18 (1997), 942 (948); vgl. Burckhardt, Das AGB-Gesetz unter dem Einfluss der EG-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, C. (S. 129 ff.); zur größeren Sachgerechtigkeit dieser Abgrenzung: Lemmer, Die EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 3. Kap. A. III. 2. (S. 75). 268 Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz – SchiedsVfG – BGBl. Nr. 88/1997, S. 3224 (3226); (siehe auch BR-Drucks. 947/97, BT-Drucks. 13/5274, 13/9124 und BR-Drucks. 211/96); zum neuen Recht der Schiedsgerichtsbarkeit: Habscheid, JZ 53 (1998), 445 (445 ff.); Kreindler/Mahlich, NJW 51 (1998), 563 (563 ff.); Labes/T. Lörcher, MDR 51

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Schiedsabrede seit 1998 nicht mehr auf Kaufmannseigenschaft und Handelsgeschäft (§ 1027 Abs. 2 ZPO a. F.), sondern auf das Nichtvorliegen der Verbrauchereigenschaft (§ 1031 Abs. 5 S. 1 ZPO) maßgeblich ankommt. 269 Dagegen stellt § 38 Abs. 1 ZPO als Ausnahme zum Prorogationsverbot nach wie vor ohne jeglichen Unternehmensbezug auf den Kaufmannsbegriff ab270 ; antiquiert erscheint im Übrigen auch die Makler- und Bauträgerverordnung, deren Schutzkorsett nur dann entfällt, wenn es sich bei dem Auftraggeber um einen in das Handelsregister eingetragenen Kaufmann handelt (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 MaBV).

B. Die EG-rechtliche Beeinflussung der Verbraucherrechtsentwicklung Zieht man im Hinblick auf die Entwicklung des Verbraucherrechts aus heutiger Sicht Zwischenbilanz, hat sich der deutsche Gesetzgeber im Grunde seit den 1980er Jahren darauf beschränkt, die auf Gemeinschaftsebene verabschiedeten Verbraucherrichtlinien umzusetzen. 271 Seit geraumer Zeit hat er dem europäischen Richtliniengeber – was die verbraucherrechtliche Fortentwicklung anbelangt – kampflos das Feld überlassen. 272 Autonome Vorstöße im Sinne einer spezifisch nationalen Materialisierung des Privatrechts werden so gut wie nicht mehr unternommen. Vielmehr sind in der eigentlichen Hochphase der Konsumentenschutzbewegung die Europäischen Gemeinschaften als Initiator hervorgetreten. Dabei lässt sich bislang diese EG-rechtlich veranlasste Verbraucherschutzbewegung aus retrospektiver Sicht in sechs verschiedene Periodenabschnitte aufteilen. 273

(1997), 420 (420 ff.); G. Lörcher, DB 51 (1998), 245 (245 ff.); mit Blick auf die Gesellschaftsrechtspraxis: K. Schmidt, ZHR 162 (1998), 265 (265 ff.). 269 Vgl. auch die Bezugnahme auf die Änderungen durch das Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz im Regierungsentwurf zum HRefG: BR-Drucks. 340/97, S. 1 (S. 83); beispielhaft zu § 1031 Abs. 5 S. 1 ZPO: BGH – Urteil v. 24. 02. 2005, Az.: III ZB 36/04 – BGHZ 162, 253 (253 ff.). 270 Kritisch zu § 38 Abs. 1 ZPO auch: K. Schmidt, Handelsrecht, § 3 II. 3. c) (S. 59); Raisch, FS für Ballerstedt (70. Gebtg.), S. 443 (S. 450); für eine teleologische Reduktion des § 38 Abs. 1 ZPO: Canaris, Handelsrecht, § 24 Rn. 6 (S. 368). 271 Diese Beschränkung war ausdrücklich Leitmotiv der Vorschläge zur Umsetzung der Klauselrichtlinie; vgl. hierzu die Begründung zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des AGB-Gesetzes: BB 50 (1995), 110 (112). 272 Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, A. I. 3. (S. 24). 273 Im Überblick: Berg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.): EU/EG, Art. 153 EG Rn. 1 ff.; Reich, in: Reich/Micklitz (Hrsg.): Europäisches Verbraucherrecht, § 1 II. (S. 14 ff.).

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I. Die Verbraucherprogramme des Rates Die erste Phase des EG-rechtlichen Verbraucherschutzes begann bereits mit Gründung der EWG, auch wenn im ursprünglichen EWG-Vertrag (25. 03. 1957) eine eigenständige Verbraucherpolitik noch nicht vorgesehen war und der Verbraucherbegriff lediglich im Bereich der Agrar- und Wettbewerbspolitik Erwähnung fand. 274 Gleichwohl wurde der Verbraucherschutz auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Paris 1972 als gleichwertig neben den anderen Zielen der Gemeinschaft anerkannt. 275 Die Kommission wurde bei dieser Gelegenheit aufgefordert, konkrete Vorschläge zur Verwirklichung der neuen Zielsetzung zu unterbreiten und ein Aktionsprogramm aufzustellen. Es folgten die beiden EWG-Verbraucherprogramme des Rates, die trotz ihres soft law-Charakters als Meilensteine für die Verbraucherrechtsharmonisierung zu begreifen sind: Während das erste Programm, das am 14. April 1975 verabschiedet wurde, fünf fundamentale Rechte des Verbrauchers zusammenstellt (Gesundheit, wirtschaftliche Interessen, Schadenswiedergutmachung, Unterrichtung und Interessenvertretung) und konkrete Schutzmaßnahmen aus ihnen ableitet 276, diente das am 19. Mai 1981 erlassene zweite Programm der Aktualisierung dieses Rechte- und Maßnahmenkataloges277. In beiden Programmen fi nden sich die seit Kennedy in der internationalen Diskussion geforderten Basisrechte des Verbrauchers wieder. 278 II. Verbraucherschutz in der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten Ein zweiter bedeutender Schritt wurde von dem EuGH vollzogen, der im Jahre 1979 mit seiner Cassis de Dijon-Rechtsprechung u. a. dem Verbraucherschutz einen vertragsimmanenten Stellenwert zusprach. 279 In dieser Entschei274 Vgl. hierzu: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 V. 1. a) (S. 44, 45); Frie, Die Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, C. II. 2. a) (S. 41); Weatherill, EU Consumer Law and Policy, Ziff. 1 (S. 3 ff.); Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 4 I. 1. (S. 146 ff.). 275 Weatherill, EU Consumer Law and Policy, Ziff. 1 (S. 6). 276 Rat – Entschließung vom 14. 04. 1975 betreffend ein Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher – ABl. 1975 Nr. C 92 S. 1; ebenfalls abgedruckt als Anhang in: von Hippel, Verbraucherschutz, Anhang (S. 454 ff.). 277 Rat – Entschließung vom 19. 05. 1981 betreffend ein zweites Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher – ABl. 1981 Nr. C 133 S. 1; ebenfalls abgedruckt als Anhang in: von Hippel, Verbraucherschutz, Anhang (S. 467 ff.). 278 Vgl. auch: Rat – Entschließung vom 23. 06. 1986 betreffend die künftige Ausrichtung der Politik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zum Schutz und zur Förderung der Interessen der Verbraucher – ABl. 1986 Nr. C 167 S. 1. 279 EuGH – Rewe-Zentral/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein – Urteil v. 20. 02. 1979, Rs. 120/78 – Slg. 1979, 649 Tz. 8.

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dung entwickelte der EuGH einen nicht abschließenden Katalog von Beispielen, welche Erfordernisse als Rechtfertigung für Behinderungen des freien Warenverkehrs in Betracht kommen. Im Wege richterlicher Rechtsfortbildung erklärte er u. a. den Verbraucherschutz zu einem »zwingenden Erfordernis des Allgemeininteresses«, der in der Lage ist, diskriminierungsfreie Beschränkungen der Grundfreiheiten auch außerhalb eines ausdrücklichen Ausnahmetatbestandes des EG-Vertrages zu rechtfertigen, sofern nur ein ausreichender Erforderlichkeitszusammenhang zwischen der betreffenden Grundfreiheitenbeschränkung und dem verbraucherschutzbezogenen Allgemeininteresse festzustellen ist. Seitdem brachte der EuGH (unter Bezugnahme auf die EWGVerbraucherschutzprogramme, anhand derer er Bedeutung und Tragweite des »Verbraucherschutzes« konkretisierte280 ) in zahlreichen Urteilen zum Ausdruck, dass er Marktliberalisierung an sich auch ohne Regulierung als ausreichend erachtet, um den Verbraucher adäquat zu schützen 281. III. Verbraucherschutz im liberalen Binnenmarktkonzept Seit den 1980er Jahren hat die Verbraucherpolitik auch sekundärrechtlich deutlichere Konturen erhalten. 282 Die ersten Verbraucherrichtlinien der Gemeinschaft wurden verabschiedet, deren primäre Aufgabe darin bestand, solche Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu beseitigen, die ein Hemmnis für den Gemeinsamen Markt bedeuteten und den Verbraucher davon abhielten, seine Bedürfnisse gemeinschaftsweit zu befriedigen. Da diese Richtlinien der ersten Generation, zu denen die Haustürgeschäfteund Verbraucherkreditrichtlinie zählen 283, noch der Einstimmigkeit bedurften (Art. 94 EG), konnten sie erst nach endlos langen Debatten den Rat passieren. 284 Sie stärkten weniger die individual-vertragsrechtliche Position des Verbrauchers, sondern erweiterten seine Marktfreiheit, indem sie sich weitgehend auf die Angleichung des bestehenden Konsumentenschutzes beschränkten. 285 Zu einer eigenständigen Zielkomponente wurde der Verbraucherschutz erst durch die Einheitliche Europäische Akte (1987), die das Ziel der Vollendung des Binnenmarktes bis 31. Dezember 1992 vorsah. Erst mit der Einheitlichen 280 EuGH – GB-INNO/CCL – Urteil v. 07. 03. 1990, Rs. 362/88 – Slg. 1990, I-667 Tz. 14 ff. 281 Lurger, Vertragliche Solidarität, 4. Kap. 4.1. (S. 92, 93). 282 Vgl. hierzu: Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 4 I. 2. (S. 149 ff.). 283 Rat – Richtlinie 85/577/EWG betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossen Verträgen – ABl. 1985 Nr. L 372 S. 31; Richtlinie 87/102/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit – ABl. 1987 Nr. L 42 S. 48. 284 Zur Entstehungsgeschichte der Haustürgeschäfterichtlinie: Micklitz, in: Grabitz/ Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Vor A 2 Rn. 2 ff. 285 Zum Beispeil Art. 6 der FernabsatzRL (97/7/EG).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

Europäischen Akte (EEA) fand mit Art. 95 EG die heute wichtigste Harmonisierungsgrundlage in den EG-Vertrag Eingang. 286 Über Art. 95 EG können seitdem nicht nur Richtlinien sondern auch Verordnungen verabschiedet werden 287, wobei die Kommission verpfl ichtet ist, in ihren Vorschlägen u. a. von einem hohen Verbraucherschutzniveau auszugehen (Art. 95 Abs. 3 EG). Die bis dahin erforderliche Einstimmigkeit im Rat wurde durch ein Abstimmungsverfahren der qualifi zierten Mehrheit ersetzt (Art. 95 EG), sodass die kommenden Verbraucherrichtlinien schneller und mit höherem Schutzniveau erlassen werden konnten. 288 Stets begrenzte Teilbereiche oder Ausschnitte eines Rechtsgebiets wurden angeglichen 289, was Regelungen hervorbrachte, »die im Verhältnis zu nationalem Recht bloßen punktuellen und fragmentarischen Charakter aufweisen«. 290 Die Pauschalreise- (1990) und Klauselrichtlinie (1993) seien nur als Beispiele erwähnt. 291 Darüber hinaus ebnete die EEA für die Verbraucherpolitik den Weg zu einem dreijährigen Aktionsplan für die Jahre 1990–1992292 , der 1993 durch einen zweiten verbraucherpolitischen Aktionsplan abgelöst wurde (1993– 1995) 293. IV. Etablierung der Verbraucherpolitik durch den Vertrag von Maastricht Ein eigenständiges Profi l erhielt der Verbraucherschutz als Politik zur Förderung und zum Schutz der Verbraucherinteressen mit dem Vertrag von Maastricht (07. 02. 1992). 294 Durch den neu eingeführten Art. 129a EGV a. F. wurde eine ausdrückliche Schutznorm geschaffen, die Verbraucherschutz als eigenständigen Kompetenzbereich der Gemeinschaft anerkennt und zugleich 286

Kahl, in: C. Calliess/Ruffert, EUV/EGV-Kommentar, Art. 95 EGV Rn. 1 ff. Vgl. Unberath/Johnston, CMLRev 44 (2007), 1237 (1253). 288 Weatherill, EU Consumer Law and Policy, Ziff. 3 (S. 64 ff.); Martinek, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 511 (S. 516); Micklitz, VuR 18 (2003), 2 (5); Rösler, VuR 18 (2003), 12 (12); Caruso, ELJ 3 (1997), 3 (10). 289 Im Überblick: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 V. 1. c) (S. 46 ff.). 290 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 511 (S. 517); Kirchner, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 95 (S. 106); W.-H. Roth, in: Grundmann/ Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 113 (S. 113 ff.). 291 Rat – Richtlinie 90/314/EWG über Pauschalreisen – ABl. 1990 Nr. L 158 S. 59; Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – ABl. 1993 Nr. L 95 S. 29. 292 van Miert, EuZW 1 (1990), 401 (401 ff.). 293 EG-Nachrichten Nr. 32 v. 16. 08. 1993, S. 2 – EuZW 4 (1993), 588 (588, 589). 294 Im Überblick: Frie, Die Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, C. II. 5. (S. 50 ff.); Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 4 I. 3. (S. 151 ff.). 287

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klarstellt, dass die Verbraucherpolitik ihren Ausgangspunkt einerseits in der Binnenmarktpolitik der Gemeinschaft und andererseits in der Unterstützungspolitik mitgliedstaatlicher Aktionen nimmt. In diesem Sinne ist die Gemeinschaft seit Maastricht ermächtigt, »spezifische Aktionen« zu verabschieden, die integrationsunabhängig Verbraucherschutz gewährleisten. 295 Während einerseits vertreten wurde, dass es sich dabei nur um eine bloße Bestätigung des status quo ante handele (dass nämlich die Kommission bereits auf Grund des durch die EEA eingefügten Art. 100a Abs. 3 EWGV a. F. von einem hohen Verbraucherschutzniveau auszugehen hatte) 296, ist nach wohl richtiger Auffassung in der Einfügung von Art. 129a EGV a. F. die Begründung einer echten konkurrierenden Gemeinschaftszuständigkeit für den Verbraucherschutz zu sehen, die allerdings stets unter den Prämissen des Subsidiaritätsprinzips auszulegen ist (Art. 3b Abs. 2 EGV a. F.) 297. Eingefügt wurde bei dieser Gelegenheit auch die Zielbestimmung des Art. 3 lit. s) EGV a. F. [= Art. 3 Abs. 1 lit. t) EG], wonach die Tätigkeit der Gemeinschaft nun generaliter »einen Beitrag zur Verbesserung des Verbraucherschutzes« beinhaltet. Die seit Maastricht verabschiedeten Richtlinien heben sich nicht zuletzt durch einen kollisionsrechtlichen Umgehungsschutz hervor298, wobei das koinzidente Zusammentreffen dieses IPR-Schutzes mit der Einführung der neuen Kompetenzgrundlage (Art. 129a EGV a. F.) allerdings reiner Zufall ist. Die Tatsache, dass Berichterstatter verschiedener frankophoner und dem romanischen Rechtskreis zuzurechnender Länder 1973 nur eine einzige speziell für Verbraucherverträge ausgestaltete Kollisionsnorm benennen konnten (die zudem außerhalb des Gemeinschaftsgebiets in Québec angesiedelt war) 299, zeigt vielmehr, dass der Richtliniengeber voll im Trend lag, erst seit den 1990er Jahren die Frage des »IPR-Verbraucherschutzes« überhaupt aufzugreifen300. So ist es als nichts anderes als eine empirische Verzögerung zu 295

Art. 129a Abs. 1 lit. b) EGV a. F. Frie, Die Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, C. II. 5. a) (S. 51, 52); Lemmer, Die EG-Richtlinie über mißbrauchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 1. Kap. B. (S. 4). 297 Die Kommission selbst spricht von einer »gemeinsamen Zuständigkeit« der EU und der Mitgliedstaaten [Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 2.1 (S. 7)]; zum Ganzen: Martinek, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 13 Vorbem. Rn. 70; Staudenmayer, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 27 (S. 28 ff.); Reich, Privatrecht und Verbraucherschutz in der Europäischen Union, II. 1. (S. 3 ff.). 298 Jayme/Kohler, IPRax 13 (1993), 357 (357 ff.); dies., IPrax 16 (1996), 377 (377 ff.); Junker, IPRax 18 (1998), 65 (70 ff.). 299 Malaurie, in: Association de Henri Capitant (Hrsg.): La Protection des Consommateurs, S. 389 (S. 396); S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. III. 1. (S. 25). 300 Im Überblick zu den IPR-Klauseln der Richtlinien: Magnus, in: Staudingers Kommentar BGB, Art. 29a EGBGB Rn. 11 ff. 296

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

begreifen, dass man erst seitdem nach Lösungen sucht, um das tendenziell immer noch höhere Schutzniveau in den wohlhabenderen, auf den Export ausgerichteten Staaten Nordeuropas durch kollisionsrechtliche Regelungen abzusichern. 301 V. Die Komplettierung der Verbraucherpolitik durch Amsterdam Wie der Vertrag von Amsterdam (02. 10. 1997) zeigt, war der sozialpolitische Bedeutungszuwachs der Verbraucherpolitik und ihre Abkoppelung von dem Binnenmarktprinzip mit dem Vertrag von Maastricht noch nicht abgeschlossen. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde Art. 129a EGV a. F. um einige Änderungen erweitert und als Art. 153 EG neu gefasst. 302 Insbesondere mit dem Austausch des Begriffs der »spezifischen Aktionen« durch den Begriff der »Maßnahmen« haben die Mitgliedstaaten klargestellt, dass die Gemeinschaft über die Kompetenznorm des Art. 153 EG auch verbraucherpolitische Rechtsakte verbindlich verabschieden kann, ohne dass sie durch eine binnenmarktpolitische Zielsetzung gerechtfertigt werden müssten. 303 Zudem wurde Art. 153 EG um eine verbraucherrechtliche Querschnittsklausel ergänzt, die »Verbraucherschutz« auch in allen anderen Vertragspolitiken zu einem abwägungserheblichen Belang macht (Art. 153 Abs. 2 EG). Verfassungsrang könnte der Verbraucherschutz, der bereits seit 2000 in der bisher unverbindlichen EU-Grundrechtecharta enthalten ist (Art. 38) 304, möglicherweise durch die künftige Ratifi kation der EU-Reformverträge erlangen305. Im Übrigen sind seit Amsterdam vor allem aus deutscher Sicht Änderungen zu konstatieren. Hier wurde die Fernabsatzrichtlinie (1997) zum Anlass genommen, Verbraucherrecht in das BGB zu integrieren (§§ 13, 14, 361a BGB), 306 301 S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. III. 1. (S. 25); Martínez Sanchiz, in: Diaz Fraile (Hrsg.): Estudios de derecho europeo privado, S. 121 (S. 148 ff.); Salvadori, in: Sacerdoti/Frigo (Hrsg.): La Convenzione di Roma, S. 121 (S. 133). 302 Im Überblick: Reich, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 481 (S. 493 ff.). 303 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 511 (S. 513); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 V. 1. e) (S. 58); Berg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.): EU/EG, Art. 153 EG Rn. 17; Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 153 EGV Rn. 33, 34; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 1. Kap. B. V. 2. (S. 28); Reich, in: Reich/Micklitz (Hrsg.): Europäisches Verbraucherrecht, § 1 III. 4. c) (S. 34). 304 Cremer, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.): Hdb. der Europäischen Grundrechte, § 62 III. 3. (S. 1706 ff.); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, § 33 (S. 853 ff.). 305 Weatherill, EU Consumer Law and Policy, Ziff. 1 (S. 31). 306 Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro – BGBl. Teil I 2000, S. 897 und 1139; Rat – Richtlinie 97/7/EG über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz – ABl. 1997 Nr. L 144 S. 19.

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– eine Methode, die mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz307 (mit dem u. a. die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie308, die Zahlungsverzugsrichtlinie309 und die E-Commerce-Richtlinie310 umgesetzt worden sind) fortgeführt worden ist. So hat der deutsche Gesetzgeber mit der Schuldrechtsmodernisierung das BGB nicht nur durch die Aufnahme bisher segmentierter Nebengesetze – unter ihnen das AGB-Gesetz, das Haustürwiderrufsgesetz, das Verbraucherkreditgesetz und das Fernabsatzgesetz – zu einer »Baustelle« umgesetzten Gemeinschaftsrechts gemacht311 und dadurch die Unterscheidung zwischen umgesetzten Gemeinschaftsbestimmungen und autonom-nationalen Regelungen erschwert312 . Er hat auch die »Generalklauseln« dezentralisiert, indem er neben die großen Generalklauseln (§§ 138, 157, 242 BGB) zusätzliche kleine Generalklauseln (§ 241 Abs. 2, 253 Abs. 2, 313, 314 BGB) und weitere unbestimmte und zur Interessenabwägung anregende Begriffe und Konzepte treten ließ (§ 275 Abs. 2 und 3, §§ 282, 284, 323 Abs. 2 Nr. 3, §§ 324, 439 Abs. 3, § 440 BGB), mit denen die bis dahin rein richterliche Rechtsfi ndung teils legislativ verfestigt worden ist. 313 VI. Selbstkritische Überarbeitung des verbraucherrechtlichen »acquis« Die nunmehr jüngste und aktuell andauernde Periode der Verbraucherrechtsentwicklung, deren Beginn in etwa auf den Vertrag von Nizza (26. 02. 2001) verortet werden kann, steht vorwiegend im Zeichen der Selbstkritik und der Überarbeitung des bestehenden Verbraucherrechts-«Acquis«. 314 Dabei wurden Akzente in der EG-Verbraucherschutzpolitik in den vergangenen Jahren vor allem durch die Kommission gesetzt, nachdem eine eigene Generaldirektion für Gesundheit und Verbraucherschutz im Jahre 1999 geschaffen worden war. 315 2002 verkündete sie ihre »Verbraucherpolitische Strategie 2002–

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Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts – BGBl. Teil I 2001, S. 3138. Rat – Richtlinie 1999/44/EG zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter – ABl. 1999 Nr. L 171 S. 12. 309 Rat – Richtlinie 2000/35/EG zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – ABl. 2000 Nr. L 200 S. 35. 310 Rat – Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr – ABl. 2000 Nr. L 178 S. 1. 311 W.-H. Roth, in: Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 25 (S. 26, 27). 312 Müller-Graff, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9 (S. 49). 313 Jung, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.): Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 37 (S. 53). 314 Im Überblick: Vogenauer/Weatherill, ELRev 30 (2005), 821 (823 ff.); Micklitz/ Reich, VuR 22 (2007), 121 (121 ff.); Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 4 I. 4. (S. 154 ff.); Loos, GPR 5 (2008), 117 (117 ff.). 315 Vgl. hierzu: Kommission – Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbrau308

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2006«316, wobei sie nicht nur eine Überarbeitung der Timesharingrichtlinie317 und eine Aktualisierung der Verbraucherkreditrichtlinie318 in Aussicht stellte, sondern auch ankündigte, »bei der Ausarbeitung gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des internationalen Privatrechts den Interessen der Verbraucher Rechnung [zu] tragen«319. Im Grunde wird damit die Überprüfung aller bisherigen Verbraucherrichtlinien zum Hauptziel des verbesserten geltenden und künftigen Gemeinschaftsrechts. 320 Mit dem Grünbuch vom 8. Februar 2007 hat die Kommission in diesem Sinne einen Konsultationsprozess in Gang gesetzt, der im letzten Viertel des Jahres 2007 mit der Veröffentlichung einer zusammenfassenden Analyse abgeschlossen wurde. 321 Der bisherige Besitzstand des EG-Verbraucherrechts soll in Anbetracht der neuen Technologieentwicklungen am Markt, der Rechtszersplitterung infolge der bisherigen Mindestharmonisierung und des immer noch bestehenden Vertrauensmangels der Verbraucher an einem grenzüberschreitenden Einkauf auf etwaige Lücken und Unzulänglichkeiten überprüft werden. 322 Als Handlungsoptionen stellt die Kommission einen vertikalen Ansatz (Revidierung aller bestehenden Richtlinien) einem kombinierten Modell gegenüber, bei dem auf horizontaler Ebene eine Art »Allgemeiner Teil« der Verbraucherrichtlinien (Verbraucher- und Unternehmerbegriff, Dauer der Widerrufsfrist, Modalitäten und Ausübung des Rücktrittsrechts) mit vertikal-sachbereichsspezifischen Sonderregeln gekoppelt werden würde. 323 Im Rahmen dieses kombinierten Modells bietet die Kommission die Auswahl zwischen zwei weiteren Regelungsalternativen: entweder die horizontalen Instrumente auf grenzüberschreitende Sachverhalte zu beschränken oder cherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 1.1 (S. 5); Weatherill, EU Consumer Law and Policy, Ziff. 4 (S. 110 ff.). 316 Kommission – Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 1.1 und Ziff. 3. (S. 5 und S. 12 ff.). 317 Kommission – Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 3.1.2.2 (S. 15). 318 Kommission – Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 3.1.3 (S. 16). 319 Kommission – Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 3.2.3 (S. 23). 320 Kommission – Mitteilung vom 11. 10. 2004 – »Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung ds gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen«, KOM(2004) 651 endgültig, Ziff. 2.1.1 (S. 3 ff.). 321 Commission Staff Working Paper – Report on the Outcome of the Public Consultation on the Green Paper on the Review of the Consumer Acquis – URL: http://ec.europa. eu/consumers/cons_int/safe_shop/acquis/acquis_working_doc.pdf (04. 08. 2008); hierzu auch: Heiderhoff, ELRev 32 (2007), 740 (740 ff.). 322 Kommission – Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – ABl. 2007 Nr. C 61 S. 1, Tz. 2.1 und Tz. 3. 323 Kommission – Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – ABl. 2007 Nr. C 61 S. 1, Tz. 4.

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rein nationale Sachverhalte in die horizontalen Regelungsinstrumente mit einzubeziehen. 324 Eine große Mehrheit der an der Konsultation teilnehmenden Interessenvertreter (Mitgliedstaaten, Wirtschaft und Verbraucher) hat sich für eine Kombination des horizontalen Instruments mit sektoralem Richtlinienrecht ausgesprochen, wobei sich das horizontale Instrument auf sämtliche Verbraucherverträge – grenzüberschreitende wie inländische – erstrecken sollte. 325 Den Übergang zur Vollharmonisierung – ein in den Augen der Kommission oftmals unterstelltes Präferenzmodell326 – wird von der großen Mehrzahl der Mitgliedstaaten und (beschränkt auf Schlüsselbereiche) von fast 80% der Wirtschaftsvertreter bevorzugt, wohingegen die meisten Verbraucherverbände eine Mindestharmonisierung kombiniert mit dem Bestimmungslandprinzip vorziehen, wie es in Art. 5 des mittlerweile redigierten Vorschlags zur »Rom I«-Verordnung (Verbraucherverträge) vorgesehen war. 327 In Fragen der gegenseitigen Anerkennung (Herkunftslandprinzip) herrscht zwischen den Interessenvertretern dagegen wenig Übereinstimmung. 328

C. Entwicklung und sozio-juristische Rahmenbedingungen Lässt man die sechs Perioden des Verbraucherrechts Revue passieren und betrachtet das Verbraucherrecht im Gesamtzusammenhang der Rechtsentwicklung, verfestigt sich die Annahme, dass das Verbraucher- im Gegensatz zum Handelsrecht weniger als gesetzgeberische Fortsetzung soziologischer Handelsusancen, denn als ideologisches Produkt der Gesetzgebung begriffen werden muss. 329 Speziell die EG-Forcierung führt dabei vor Augen, dass das Ver324 Kommission – Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – ABl. 2007 Nr. C 61 S. 1, Tz. 4.4. 325 Commission Staff Working Paper – Report on the Outcome of the Public Consultation on the Green Paper on the Review of the Consumer Acquis – Ziff. 4.1 und 4.2. 326 Trotz der angeblich offenen Diskussion wird der Kommission oftmals unterstellt, sich schon längst zugunsten der Vollharmonisierung festgelegt zu haben. Begründet wird dies mit der Präferenz, welche die Kommission in der Vergangenheit bereits – mit der Verabschiedung der Fernabsatzrichtlinie für Finanzdienstleistungen und der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken – zum Ausdruck gebracht hat. Daneben explizieren in der Tat auch der Entwurf zur Verbraucherkreditrichtlinie und die »Verbraucherschutzstrategie 2007–2013« die geheime Vorliebe der Kommission zur Vollharmonisierung [vgl. Micklitz/ Reich, VuR 22 (2007), 121 (122 ff.)]. 327 Ursprünglich hatten die Kommission und ein erheblicher Teil der Mitgliedstaaten gefordert, die Rechtswahlmöglichkeit bei Verbraucherverträgen abzuschaffen und umfassend das Heimatrecht des Verbrauchers für maßgeblich zu erachten: Kommission – Vorschlag vom 15. 12. 2005 für eine VO über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (Rom I) – KOM(2005) 650 endgültig, Ziff. 4.2 (S. 6 f.); siehe auch: Commission Staff Working Paper – Report on the Outcome of the Public Consultation on the Green Paper on the Review of the Consumer Acquis – Ziff. 4.3. 328 Commission Staff Working Paper – Report on the Outcome of the Public Consultation on the Green Paper on the Review of the Consumer Acquis – Ziff. 4.3.2. 329 Die Kommission selbst bezeichnet es als eine »politische Entscheidung«, ob und wel-

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braucherrecht als Türöffner, möglicherweise sogar als Vorwand, zum Einsatz gebracht wurde, um gemeinschaftsweit Vertragsrecht zu harmonisieren. Dementsprechend hat es sich nicht auf natürlichem Wege aus gesellschaftlichen Bräuchen entwickelt330, sondern ist der Privatrechtsgesellschaft in Realisierung der rechtspolitischen Überzeugung aufoktroyiert worden, »daß sich die besondere Schutzbedürftigkeit des Endverbrauchers auch in der Rechtsstruktur niederschlagen« müsse331. Zeichneten sich die Volksrechte des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Handelsgesetzbuchs in ihrer Entstehung noch durch eine relativ enge Verbindung zwischen dem Recht und der Sozialordnung aus, hat sich das Verbraucherrecht nicht aus dem Zusammenleben der Menschen entwickelt, sondern ist in sehr viel größerem Maße durch die fachspezifische Rationalität von Juristen geprägt. 332 Soziologisch wird dadurch die Folgefrage aufgeworfen, ob die Verbraucherschutzbewegung auf die Entwicklung der Gesellschaft nur reagiert hat, also allein Umstände aufgegriffen hat, die schon lange vor der Konsumentenschutzbewegung Bestand gehabt haben, oder aktiv rechtspolitische Akzente setzt, also gesellschaftliche Impulse verwertet, die als Folge veränderter Strukturen erst in jüngerer Zeit zu Tage getreten sind. I. Wegfall des Zunftwesens und Bedarf nach Verbraucherschutz Ein tatsächliches Bedürfnis, den Käufer vor den Abnahmegefahren beim Erwerb von Waren oder Dienstleistungen zu schützen, besteht sicherlich bereits, seit Menschen nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern auch für den Markt Tauschwerte produzieren. 333 Seitdem Gebrauchswerte nicht nur für den Selbstkonsum, sondern überschüssig für den Austausch hergestellt wurden, stand der Produzent unter Absatzzwang, während der Abnehmer neben einer eventuellen Informationsasymmetrie der Situation ausgesetzt war, dass er die Absatzware zur Befriedigung eines dringenden Bedürfnisses erwerben wollte. 334 Nicht gleichgesetzt werden sollte diese empirische Absatzsituation bei der Suche nach den Kausalfaktoren jedoch mit der gesondert zu beurteilenden jurische verbraucherschützenden Maßnahmen ergriffen werden: Kommission – Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 2 (S. 6). 330 Zur Funktion der Rechtsordnung als Gestaltungsfaktor für vorhandene Wirtschaftstatsachen: Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 2. Teil 2. Kap. II. B. (S. 90, 91). 331 Damm, JZ 33 (1978), 173 (176). 332 Vgl. zu den historischen Grundlagen des Privatrechts: Willoweit, JuS 17 (1977), 292 (292, 293). 333 Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 2 (S. 8); vgl. auch: Stromer von Reichenbach, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 97 (S. 98 ff.). 334 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, Vorwort (S. 6).

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tisch-ökonomischen Frage, inwiefern eine rechtliche Notwendigkeit für einen Abnehmerschutz besteht. In dieser Hinsicht kam Bedarf für einen verbraucherschützenden Vertragsschutz erst mit dem Wegfall des Zunftwesens und dem Angewiesensein auf individuelle Selbstverantwortung auf. 335 Bis in das 19. Jahrhundert war dagegen trotz Tauschwirtschaft eine rechtliche Bedarfssituation gar nicht gegeben. Denn das Zunftwesen des Mittelalters war von Grund auf so organisiert, dass nur derjenige Handel treiben durfte, der die angebotenen Waren zugleich auch herstellte. Eine der Hauptfunktionen der Zünfte bestand in der Regelung des Marktes. 336 Weil nur Zunftzugehörige gewerbeberechtigt waren und der Zutritt zu den Zünften Beschränkungen unterlag, Wettbewerbsbeschränkungen unter den Zunftmitgliedern bestanden und alle zum Interessengebiet der Zünfte gehörenden Waren einem Besichtigungs- und Beschlagnahmerecht der Zünfte unterlagen, war der Anreiz für einen aggressiven Warenabsatz bei den Herstellern nur schwach ausgeprägt. 337 Der fehlende Qualitäts- und Preiswettbewerb wurde durch eine strikte Warenqualitätskontrolle der Zünfte und eine Regulierung der Preispolitik durch die Städte ausgeglichen. 338 Zudem zeichnete sich der Markt insgesamt durch eine bemerkenswerte Transparenz aus, da alle Waren nur auf dem öffentlichen Markt der jeweiligen Stadt an den Endabnehmer vertrieben werden durften, ein »Vorwegkauf« also unzulässig war. 339 Mit dem wirtschaftlichen und politischen Wandel ab dem 16. Jahrhundert wurde der Anbietermarkt zwar zunehmend intransparent. Der Boden entzogen wurde dem faktischen Verbraucherschutz des Zunftwesens allerdings erst durch die Einführung der Gewerbefreiheit und den dadurch einsetzenden Wettbewerb im 19. Jahrhundert. 340 Nachdem sich die Gewerbefreiheit als Prinzip endgültig durchgesetzt hatte, kam es in der Wirtschaft zu einem intensiven Konzentrations- und Kartellierungsprozess, der zu einer generellen Änderung der Marktstruktur in der deutschen Wirtschaft führte. 341 Anders als heute bestanden dabei die Gefahren für den Verbraucher weniger im Erfi n335

Krause, JuS 10 (1970), 313 (317). Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, A. 2. (S. 12); Stromer von Reichenbach, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 97 (S. 102 ff.); Haussherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, 1. Teil 2. Kap. (S. 14 ff.); unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in München: Haenert, Preispolitik im Handwerk vom 16. bis 18. Jahrhundert, S. 51 ff.; von Rohrscheidt, Vom Zunftzwange zur Gewerbefreiheit, S. 1 ff. 337 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, A. 3. (S. 3 ff.). 338 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, A. 4. (S. 17 ff.); Stromer von Reichenbach, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 97 (S. 102 ff.); zum Kartellcharakter der Zünfte: Passow, Kartelle, I. (S. 42 ff.). 339 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, A. 4. b) cc) (S. 20). 340 Vgl. Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Bd. II, Kap. 28 (S. 442 ff.). 341 Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 2. Teil 2. Kap. II. B. (S. 86). 336

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

dungsreichtum subtil vorgehender Werbe- und Absatzstrategen als vielmehr in den negativen Auswirkungen von Preis-, Konditionen-, Gebiets- und Kontingentkartellen. Die Kodifi kation des BGB fiel aus Verbraucherperspektive damit in eine Zeit, in der die Gewerbe- und Wettbewerbsfreiheit schon voll zum Durchbruch gelangt war, Industrialisierung und Massenproduktion bereits angelaufen waren und die alte Zunftordnung sich erledigt hatte. Das auslaufende 19. Jahrhundert markierte einerseits das Ende eines Jahrhunderts, in dem sich der zunftreglementierte Käuferschutz erledigt hatte; andererseits kündigte sich die Kartellierung der Unternehmen bereits an. 342 Nur tendenziell und ohne Gesamtkonzept wurden während dieser wirtschaftlichen Umbruchphase konsumentenschützende Maßnahmen ergriffen (z. B. AbzG, UWG, KartellVO) 343, weil man im Grunde glaubte, ohne Verbraucherschutzregeln auskommen zu können. 344 Ausgleich sollte nicht über privatrechtliche Marktausgleichsregeln, sondern über kartell- und wettbewerbsrechtliche Überwachungsmechanismen gefunden werden. Es war die Zeit, in der Konsumgenossenschaften gegründet wurden, mit denen weniger die individuelle Verhandlungsposition der Letztabnehmer als vielmehr der Wettbewerb auf der Einzel- und Großhändlerebene gestärkt werden sollte. 345 Gesellschaftlich wurde diese Umbruchphase durch die Entstehung der sozial schwachen Klasse der Lohnarbeiter begleitet. Sie erhielten nur geringe Löhne und wurden infolgedessen als Abnehmer auf dem Warenmarkt nicht ernst genommen. 346 Wegen ihrer fehlenden Mobilität waren sie auf den örtlichen Krämer angewiesen, der auf Grund seiner lokalen Monopolstellung oftmals schlechte Ware zu hohen Preisen anbot. Das sog. Trucksystem, mit dem Lohnarbeiter statt durch Geld in Ware bezahlt wurden, tat das seinige zum schwachen Auftritt der Lohnarbeiter auf den Absatzmärkten. 347

342 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, C. (S. 35); von Brunn, Grundzüge des Kartellrechts, 1. Abschnitt 4. b) (S. 30 ff.). 343 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 I. (S. 18 ff.); zur rechtlichen Marktmachtbekämpfung: Blaich, Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland, S. 25 ff. 344 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, C. (S. 34). 345 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, C. 3. a) (S. 49); Schulte, Anmerkungen zur Genese der Konsumgenossenschaften in Deutschland, III. 3. (S. 73 ff.); Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, S. 29 ff. 346 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, C. 1. c) (S. 38). 347 Schuhmacher, Verbraucher und Recht in historischer Sicht, C. 1. c) (S. 38, 39); Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Bd. II, Kap. 28 (S. 182 ff.).

§ 9 – Verbrauchervertragsrecht – : Chronologie und Sondergehalt

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II. Die sozio-ökonomische Fortentwicklung seit der Verabschiedung des BGB Im Vergleich zu damals haben sich mittlerweile die Marktverhältnisse, Vertriebswege, Absatzmodelle und Marktstrukturen wesentlich verändert. 348 Nach wie vor gibt es zwar Waren- und Dienstleistungsanbieter, denen Privatabnehmer gegenüberstehen. Konsumenten können nach wie vor in fi nanzielle Schwierigkeiten geraten, indem sie Geld ausgeben, das sie eigentlich nicht zur Verfügung haben. 349 Jedoch sind jenseits dieser Grundparadigmen wesentliche Änderungen zu verzeichnen. So hat sich die Gesellschaft durch zwei Weltkriege, eine Serie von Staatsformen und ökonomischen Durststrecken tiefgreifend gewandelt. 350 Während es im Warensektor zu einer Differenzierung in den Produktsortimenten der Anbieter und infolge der Automatisierung zu einem Abbau an Arbeitsplätzen gekommen ist, hat der Dienstleistungssektor volkswirtschaftlich an Bedeutung gewonnen. 351 Gerade hier ist bei den Anbietern ein spürbarer Anstieg der Wissensspezialisierung eingetreten. 352 Auch im Produktbereich wurden innovative Herstellungsverfahren entdeckt und neue Absatzmethoden entwickelt. 353 Aus Herstellersicht entscheiden zwar nach wie vor die Vertriebsbindungen mit Vertragshändlern und Absatzmittlern über die Kunst des Absetzens und das unternehmerische Sein oder Nichtsein. Die wirtschaftliche Bedeutung des (End-) Verbrauchers hat jedoch erheblich zugekommen. Mit dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel der Nachkriegszeit verschob sich der betriebliche Engpass wegen des Angebotsüberhangs zusehends von der Erzeugung auf den Warenabsatz354, sodass – wie in einer verkehrswirtschaftlichen Ordnung üblich – grds. der »Konsument als Organist unmittelbar am Manual der Wirtschaftsorgel« sitzt355. Zur optimalen Gewinnerzielung sind demgemäß neue Werbepraktiken entstanden356 ; als Marketingkonzepte haben sich Vertriebs348 Im Überblick: Martinek, in: Martinek/Semler/Habermeier (Hrsg.): Hdb. des Vertriebsrechts, § 2 I. 1. a) Rn. 1 ff. (S. 32 ff.); vgl. auch: Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1. Kap. II. (S. 6). 349 N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Teil 1 Kap. 1 I. B. 1. a) (S. 21). 350 L. Raiser, JZ 13 (1958), 1 (3). 351 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 III. Rn. 67 (S. 37); K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, IV. Kap. 1. (S. 100). 352 Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 2. Kap. I. 5.3.3. (S. 144 ff.); Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, § 5 II. 5. a) (S. 204). 353 N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Teil 1 Kap. 1 I. B. 1. a) (S. 21). 354 K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, V. Kap. 1. (S. 138). 355 Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 2. (S. 90). 356 Berens, Fremdbestimmung des Konsumenten bei der Vertragsanbahnung insbesondere durch Irreführung, 1. Teil 1. (S. 38 ff.).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

wegekooperationen in mannigfaltigen Erscheinungsformen gebildet, mit denen sich Hersteller und Absatzmittler gegen den Verbraucher verbünden. Traditionelle, an den eigenen Sektorgrenzen endende Beziehungen zwischen Herstellern, Großhändlern und Einzelhändlern werden zunehmend ersetzt durch kooperationsgeprägte Beziehungen, insbesondere auf logistischem Gebiet. 357 Mit Konzept und Plan setzen Unternehmer free rider-Anreize für Konsumenten, die für den einzelnen Verbraucher zwar vorteilhaft sein mögen, für die Gesamtgruppe der Konsumenten aber Wohlfahrtsverluste bringen358. Durch die Weiterentwicklung der Informationstechnologie wurden die Absatzvertriebssysteme revolutioniert, was es den Vertriebsstellen ermöglicht, mit Hilfe von EDV, Automatisierung und Laser-Lesegeräten Produkte ohne große Lagerhaltung nur dann zu bestellen, wenn sie ausverkauft sind (just in time delivery). Die Einzelhändler sind mit ihren vorgelagerten Vertriebsstufen durch Kommunikationssysteme verknüpft, sodass der Scannvorgang beim Verkauf nicht nur den Ausdruck der Rechnung, sondern auch die sofortige Nachbestellung des verkauften Produkts veranlasst. »Just in time« hat weitgehend zum Übergang vom angebotsgetragenen »Schub-Prinzip« zum nachfragegetragenen »Sog-Prinzip« geführt, sodass letztlich der Verbraucher über den Absatz entscheidet. Damit wird die Produktion immer weniger durch strategische Entscheidungen des Herstellers als durch die aktuellen Bedürfnisse des Verbrauchers bestimmt – Bedürfnisse, die es aus Herstellersicht ständig zu revitalisieren gilt. 359 Die daraus resultierende Absatzförderung, die steigende Anonymisierung des Marktgeschehens sowie die Tiefenstaffelung von Produktion und Absatz, die typischerweise mit eher kurzfristigen Käufer-Verkäufer-Beziehungen einhergehen, überfordern den Verbraucher nicht selten. 360 Insbesondere die mit dem Fernabsatz verbundenen Kommunikationsmethoden stellen ihn vor neue Anforderungen. 361 Konnte der Verbraucher vormals seine Wahl noch als Käufer auf einem örtlich begrenzten Markt treffen, ist er heute Teil eines Massemarktes und »Ziel von Werbekampagnen und Pressionen durch mächtige, gut organisierte Produktions- und Absatzsysteme«. 362 Während handelsrechtliche 357 Zur vertikalen Vorwärtsintegration bzw. vertikalen Gruppenkooperation: Martinek, in: Martinek/Semler/Habermeier (Hrsg.): Hdb. des Vertriebsrechts, § 2 I. 1. a) Rn. 1 ff. (S. 32 ff.) 358 Neeman, JLEconOrg 15 (1999), 685 (685 ff.). 359 Martinek, in: Martinek/Semler/Habermeier (Hrsg.): Hdb. des Vertriebsrechts, § 2 I. 2. Rn. 18 ff. (S. 41 ff.); K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, IV. Kap. 1. (S. 101, 103 ff.); M. Neumann, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 11 (S. 16, 17); Reich, Markt und Recht, 4. Kap. I. 3. (S. 182, 183). 360 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 1 VI. 2. (S. 50 ff.). 361 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 III. Rn. 67 (S. 37). 362 Rat – Erstes Programm der EWG für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher v. 14. 04. 1975 – ABl. 1975 Nr. C 26 S. 2 Tz. 6.

§ 9 – Verbrauchervertragsrecht – : Chronologie und Sondergehalt

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Beziehungen nach wie vor vielfach aus long term contracts bestehen, werden in b2c-Verhältnissen häufig spot contracts geschlossen, bei denen das Zulassen einer Verhandlungssituation für den Unternehmer wegen der Einmaligkeit des Austauschs ökonomisch ineffi zient wäre. 363 Die Zahl der Vertragsverhältnisse – und damit auch die Zahl der spot contracts – ist im privaten Bereich angestiegen, wozu die sozialen Sicherungssysteme, der Lebensstandard und die Versorgungslage des Bevölkerungsdurchschnitts einen Beitrag geleistet haben. 364 Weil auch die Zahl der Internet-Nutzer und die Absatzmöglichkeiten im Wege des (grenzüberschreitenden) elektronischen Handels ständig zunehmen, ist heute ein weitaus größerer Bevölkerungskreis in der Lage, sich an einem derart anonymisierten Erwerbsprozess zu beteiligen, bei dem auf Kooperationsgewinne wenig Wert gelegt wird. 365 Ermöglicht wurde die zunehmende Konsumbereitschaft nicht zuletzt auch durch die Produktwandlung im Kreditbereich. Während es in den 1960er und 1970er Jahren noch eine »cash society«, also eine »Barzahlungsgesellschaft« gab, in der Verbraucherkredite nur in Gestalt des »Ratenkaufs« und »Mietkaufs« eine Rolle spielten, werden heute dem Verbraucher Kredite in Form vieler verschiedener Finanzinstrumente – insbesondere gekoppelt mit Lebensversicherungen und Investmentfonds366 – angeboten. 367 So verfügten im Jahre 2001 bereits 50 bis 65% der Verbraucher über einen Verbraucherkredit, mit dem sie beispielsweise den Kauf ihres Autos oder anderer Waren oder Dienstleistungen fi nanzierten; 30% der Verbraucher hatten die Möglichkeit, ihr Konto zu überziehen. 368 Diese letztere Form des Kredits wurde in den 1970er Jahren gar nicht zu Konsumzwecken genutzt. 369 363

Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 2 § 3 A. II. (S. 88). Merz, Privatautonomie heute – Grundsatz und Rechtswirklichkeit, IV. 3. (S. 18). 365 Von März 2000 bis Dezember 2001 stieg der Prozentsatz der Haushalte mit InternetZugang von 18% auf 38% [Kommission – Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 2.3.2 (S. 9)]; zur Entwicklung des Internet als virtueller Marktplatz für Verbraucher: Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 6 (S. 206 ff.). 366 Kommission – Vorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über den Verbraucherkredit vom 11. 09. 2002 – KOM(2002) 443 endgültig, Ziff. 3 (S. 25). 367 Kommission – Vorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über den Verbraucherkredit vom 11. 09. 2002 – KOM(2002) 443 endgültig, Ziff. 1.2 (S. 3); Hüttebräuker, Die Entstehung der EG-Richtlinien über den Verbraucherkredit, D. I. 1. d) aa) (S. 61, 62). 368 Kommission – Vorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über den Verbraucherkredit vom 11. 09. 2002 – KOM(2002) 443 endgültig, Ziff. 1.2 (S. 3). 369 Kommission – Vorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über den Verbraucherkredit vom 11. 09. 2002 – KOM(2002) 443 endgültig, Ziff. 1.2 (S. 3). 364

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

D. Verbraucherschutzdebatte und Modellspaltung im Schrifttum Trotz der vorbeschriebenen Änderungen besteht die Aufgabe des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen nach wie vor darin, Marktdefekte zu bekämpfen, welche die Auswahlmöglichkeiten des Verbrauchers beeinträchtigen, also extern auf den Verbraucher einwirken. Inwiefern der Verbraucher darüber hinaus in seiner individuellen Auswahlfähigkeit schützenswert ist, also intern vor Fehlfunktionen geschützt werden muss »that take place . . . ›inside the consumer’s head‹«370, ist Gegenstand eines fortdauernden Theorienstreits371. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur Teile der Literatur anfi ngen, die »Grenzen der Funktionsfähigkeit des Liberalismus« zu beklagen372 , wurde etwa Ende der 1970er Jahre bereits auf breiter Front die »›Krise‹ der Privatautonomie« proklamiert. 373 Forderungen nach alternativen Sozialmodellen wurden laut. Exemplarisch hierfür ist z. B. die von Reich im Jahre 1974 aufgestellte Forderung nach einer »sozialwissenschaftlich abgesicherte[n] Zivilrechtsdogmatik, die auf Grund einer theoretischen Reflexion über die ökonomische Verankerung des Zivilrechts einerseits und über seine verfassungsrechtliche Stellung andererseits verbraucherschützenden Konzeptionen zur Durchsetzung verhilft«. 374 Seitdem wenden sich viele Autoren gegen den »eisigen Wind«, der von dem liberalen Vertragsverständnis des auslaufenden 19. Jahrhunderts ausgegangen ist, und fordern in mehr oder weniger großem Umfang die materiell-soziologische Wende in der Privatautonomie. 375 Liberale und dem Informationsmodell verschriebene Autoren beharren dagegen auf dem idealisierten Freiheitsformalismus des ursprünglichen BGB und argumentieren nicht selten ökonomisch. 376 Der Verbrauchergesetzgebung halten sie entgegen, dass letztlich frei nach dem Grundsatz »There ain’t no such thing as a free lunch« (»TANSTAAFL«) doch wieder der Verbraucher die vordergründig unentgeltlichen Rechte zusammen mit der Ware bezahle. 377 Indem die Zusatzkosten auf den Verbraucher – individuell oder gruppenbezogen – 370 Zu dieser Unterscheidung zwischen »external market failures« (antitrust) und »internal market failures« (consumer protection) siehe: Averitt/Lande, AntitrustLJ 65 (1997), 713 (714). 371 Vgl. Wagner, ZEuP 15 (2007), 180 (191, 192); zum Unterschied zwischen »liberal« und »sozial« in diesem Zusammenhang: Canaris, AcP 200 (2000), 273 (289 ff.). 372 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (157). 373 Im Überblick: Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 2. Kap. § 1 IV. (S. 22 ff.); 1957 bereits von einer »Krise des Vertragsrechts« sprechend: Reinhardt, FS für Schmidt-Rimpler (70. Gebtg.), S. 115 (S. 115); aus der Perspektive des nordischen Rechts: Wilhelmsson, Critical Studies in Private Law, Chapt. I 1. (S. 2, 3). 374 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (188). 375 Honsell, JZ 44 (1989), 495 (495); Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, S. 17 ff.; Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem, IV. (S. 123 ff.); K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, S. 97 ff. 376 Vgl. Reuter, AcP 189 (1989), 199 (199 ff.). 377 Vgl. DNotV – Stellungnahme zum Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaft-

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übergeleitet würden, komme es zu einem »regulatory backfiring«. 378 Auf diese Weise laufe vor allem das Verbrauchervertragsrecht Gefahr, in Wirklichkeit nicht dem kleinen Manne zu dienen, sondern den wohlstandsmehrenden Konsumbürger zu stützen. 379 Konträr zu der Krisenbewegung der 1970er Jahre wird das Szenario des überschießenden Verbraucherschutzes mit diesen und anderen Argumenten aufgegriffen und mit der Ausrufung einer diesmal materialen Krise des Vertragsrechts reagiert. 380 Sogar der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit wird teilweise erhoben, insbesondere was den fragwürdigen Freiheitsverlust durch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie anbelangt. 381 Argumente wie diese lassen die soziologischen Reformisten gleichwohl nicht gelten. Den geänderten Rahmenumständen, dass der Bürger heute nicht mehr vor dem Staat, sondern vor der Marktbeeinflussung durch die »anonyme[n] Mächte[.]« bewahrt werden müsse382 , werde das »liberale Sozialmodell« des BGB nicht ausreichend gerecht, weil es den historisch überholten, ideologischen Vorstellungen der Klassenherrschaft des freien Bürgertums verpfl ichtet sei; es trage den Anforderungen des Sozialstaatsprinzips nicht hinreichend Rechnung. 383 Das Informationsmodell wird von dieser Seite weiterhin abgelehnt, weil es sich »mit den Prämissen funktionierenden Wettbewerbs und der Fähigkeit der Verbraucher zu rationaler Entscheidung in Widerspruch zur sozialen Realität« gesetzt habe. 384 Mit dem Vorwurf, dass »Wettbewerb« erwiesenermaßen als Ordnungsprinzip nur begrenzt leistungsfähig sei, um die »dysfunktionalen Folgen des Marktmechanismus« zugunsten des Verbrauchers kompensieren zu können, wird der verbraucherrechtlichen Materialisierungsbewegung der Rücken gestärkt, währenddessen man dem Konzept der ordoliberalen Marktordnung trotz der normativen Fortentwicklung nach wie vor mit Argwohn begegnet. 385

lichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – KOM (2006) 744 fi nal, Teil 1 (S. 4, 5) – URL: http://www.dnotv.de/Dokumente/Stellungnahmen.html (04. 08. 2008). 378 Collins, Regulating Contracts, Part 4–11. (S. 274 ff.). 379 Martinek, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 158). 380 Martinek, TSAR 2007, 1 (6 ff.); Reuter, in: F. Bydlinsky/Mayer-Mali (Hrsg.): Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, S. 105 (117). 381 Mohr, AcP 204 (2004), 660 (688, 689). 382 L. Raiser, JZ 13 (1958), 1 (3). 383 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. VI. (S. 24); vgl. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher, S. 16 ff.: Wieacker selbst versteht seine Aussagen jedoch als »Wirklichkeitsanalyse« und verwahrt sich gegen einseitige, politische Schlussfolgerungen (hierzu Fn. 36 der vorgenannten Quelle). 384 Vgl. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 IV. 2. (S. 29). 385 K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, IV. Kap. 2. (S. 107 ff.); vgl. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 III. (S. 23, 24).

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

In gewisser Weise relativiert werden die beiden vorgenannten Ausgangspositionen in jüngster Zeit durch vermittelnde Modellversuche, die vor allem auch aus ökonomischen Erkenntnissen unter Hinweis auf die Komplexität des Marktmechanismus gewonnen werden. 386 So geht unter Hinweise auf Transaktionskosten und adverse Effekte selbst die Informationstheorie mittlerweile davon aus, dass Information nicht ausreicht, sondern Marktintervention erforderlich ist, um eine Verhandlungsatmosphäre und Gleichgewicht zwischen Käufer und Verkäufer zu erzielen. 387 Auch wird der verbraucherrechtliche Diskursantagonismus auch rechtshistorisch aufgeweicht: So gelangte Hofer bei dem Unterfangen, den vermeintlichen Reinformen der zwischen formaler Freiheit und materieller Verantwortung kontrastierten Standpunkten auf den Grund zu gehen, zu dem Ergebnis, dass die Privatrechtskonzeptionen des 19. Jahrhunderts entgegen dem landläufigen Vorwurf keineswegs von dem Gedanken unbeschränkter Freiheit geprägt gewesen seien. 388 Vielmehr sei diese liberale Stilisierung als plakative Idealisierung bereits von C. A. Schmidt und O. von Gierke instrumentalisiert worden, um mit dem Bild vom absoluten Liberalismus eine artifi zielle Gegenposition zu kreieren, die leicht bekämpft und angegriffen werden könne. 389 In Wirklichkeit seien die Standpunkte subtiler verteilt und ließen sich im wesentlichen »vier Grundmodellen zuordnen: (1) Unbeschränkte Freiheit gilt als Prinzip des Privatrechts. (2) Freiheit wird als Grundsatz abgelehnt; stattdessen sollen andere Prinzipien die Gestaltung der Privatrechtsordnung bestimmen. (3) Andere Prinzipien werden neben die Freiheit gestellt und bilden deren immanente Schranke. (4) Freiheit erhält die Bedeutung einer Regel, von der Ausnahmen möglich sind.«390 Welchem dieser Ansätze gefolgt werden kann oder ob die Aufzählung möglicherweise um ein zusätzliches Modell zu ergänzen ist, um den oberflächlichen Gegensatz zwischen Verbraucher- und bürgerlichem Recht einer systematischen Kohärenz zuzuführen, ist u. a. im Folgenden weiter zu erörtern.

386 Wagner, ZEuP 15 (2007), 180 (193, 194); Westermann, FS für Lange (70. Gebtg.), S. 995 (S. 999). 387 Hadfi eld/Howse/Trebilcock, JCP 21 (1998), 131 (134, 141); Richter R. /Furubotn, Neue Institutionenökonomik, II. (S. 53 ff.). 388 Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, Einleitung (S. 1 ff.). 389 M. w. N.: Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, Ergebnis (S. 275). 390 Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, Ergebnis (S. 276).

§ 10 Zusammenfassung des Bisherigen und Programmthese

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§ 10 Zusammenfassung des Bisherigen und Programmthese Sieht man von den jüngst integrierten verbraucherrechtlichen Regelungen ab, hat das BGB den hohen Abstraktionsgehalt seiner Normen und die formal gleiche Freiheitsgewähr seit seiner Kodifi kation beibehalten. Mit Ausnahme der sozial motivierten miet- und dienstvertraglichen Vorschriften ist ihm der Gedanke der Gruppentypisierung fremd. Die wachsende Interventionsbereitschaft des Staates macht sich lediglich über die BGB-Generalklauseln – und zwar mediatisiert über die verfassungsrechtliche Fortentwicklung der Grundrechte zu aktiven Schutzpfl ichten der Staatsorgane – bemerkbar. Während die zeitliche Vorreiterstellung der deutschen Handelsrechtskodifikation auf dem Einheitsstreben nach einer deutschen Privatrechtsordnung beruhte, ist ihre systematische Sonderstellung damit zu erklären, dass auch nach der Kodifi kation des BGB ein Raum für die Sonderbedürfnisse von Handeltreibenden bzw. die Sonderentwicklungen von Handelsvorschriften aufrecht erhalten werden sollte. Retrospektiv betrachtet ist das HGB dieser Vorreiterfunktion allerdings nur unzureichend gerecht geworden. Ein maßgebliches Hindernis in dieser Funktionserfüllung war der deutsche Kaufmannsbegriff, der besonders während der letzten Jahrzehnte das Recht der Handelsgeschäfte europäisch und international ins Abseits gestellt hat. Während für spezifisch handelsrechtliche Regelungen bereits im Mittelalter durch die erhebliche Ausweitung des Geschäftsverkehrs ein starkes Bedürfnis nach einem Sonderrecht in Überwindung der christlichen Wucherlehre vorhanden gewesen war, entstand ein tatsächliches Bedürfnis für ein spezifisches Verbraucherrecht erst im 19. und 20. Jahrhundert, als u. a. die umfassende Marktregulierung der Gilden abgebaut wurde, die vormals Kaufleuten jeden Anreiz bzw. jede Möglichkeit zu aggressivem Warenabsatz durch eine umfassende Marktregulierung genommen hatten. Als relativ junges Sonderrecht verdankt das Verbraucherrecht seine Ausgestaltung vor allem der europäischen Rechtsentwicklung, die u. a. auch dazu geführt hat, dass der Kaufmannsbegriff (vormals in zahlreichen Verbrauchergesetzen ein negativer Typusbegriff zur persönlichen Schutzbereichsabgrenzung), durch das »Unternehmer-Verbraucher«-Begriffspaar ersetzt worden ist. Über die Stationen der »EG-Verbraucherprogramme«, der »Cassis-Rechtsprechung«, der »EEA«, »Maastricht« und »Amsterdam« ist die EG-Verbraucherrechtsentwicklung mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem der Vorwurf der Überregulierung im Raume steht und die Aufgabe des Widerspruchsabbaus im Sinne einer Überarbeitung des »aquis« selbstkritisch sogar von den Gemeinschaftsorganen thematisiert wird. Die Grabenkämpfe zwischen Formalisten und Materialisten bzw. Liberalisten und Sozialisten um die Zukunftsvision der Rechtsangleichung gehen unterdessen weiter. Aus historischer Sicht ist diesem status quo ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Mit

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1. Kapitel: Ausgangsproblematik der vertragsrechtlichen Dreiteilung

thesenartiger Provokation ließe sich die (noch näher zu untersuchende) Behauptung aufstellen, dass nicht nur die Bereichsabgrenzung des Handelsvertragsrechts, sondern auch diejenige des Verbrauchervertragsrechts durch ihre rechtspolitischen Rahmenumstände jeweils negativ beeinflusst wurden: im Handelsvertragsrecht in subjektiver Hinsicht, indem der Kaufmannsbegriff bereits bei seiner ursprünglichen Kodifi kation vorschnell aus teilweise obsoleten Handelsusancen deduziert wurde, um Rechtseinheit im Deutschen Reich herzustellen; im Verbrauchervertragsrecht in objektiver Hinsicht, indem die »Verbraucher-Unternehmer«-Begegnung aus Gründen der Binnenmarktharmonisierung teilweise auf solche Sachbereiche ausgedehnt wird, die das Prädikat Verbraucherschutz systematisch nicht verdienen.

2. Kapitel

Sondervertragliche Systemvorgaben der Rechtsordnung In ihren Grundparadigmen hängt die Daseinsberechtigung der vertragsrechtlichen Dreiteilung bei elementarer Betrachtung von dem vertikalen Verhältnis zwischen staatlicher Einflussebene, EG-rechtlicher Einflussebene und der Autonomie in der Privatrechtsgesellschaft ab. Fragen wie diejenige nach dem Maß an Einflussnahme, welches die EG und der Staat auf die vertragsrechtliche Ausgestaltung nehmen sollten, und dem Grad an unterschiedlicher Ausgestaltung, welches die EG und der Staat bei der vertragsrechtlichen Inhaltskontrolle in sachbereichs- oder personenbereichsspezifischer Hinsicht unternehmen dürfen, spielen dabei eine Rolle.1 Bevor aber aus diesem Blickwinkel der Frage nachgegangen werden kann, inwiefern die EG bzw. der Staat selbst bezogen auf das Vertragsrecht bei der Regulierung von Marktversagen, also bei der Regulierung des Handelns privater Wettbewerber, unverhältnismäßige Maßnahmen ergriffen haben könnten 2 , ist vorrangig in begriffl icher Hinsicht ein gemeinsamer Verständnishorizont herzustellen. Im vorliegenden Zusammenhang lenkt dies unweigerlich die Aufmerksamkeit auf den diskussionsprägenden Begriff der »Sonderprivatrechte«.

§ 11 Begriff der Sonderprivatrechte – Systembegriff des Vertragsrechts? Während Gesetzgeber3 und Gerichte4 es immer noch vermeiden, bestimmte Normkomplexe als »Sonderprivatrechte« zu bezeichnen, verwendet die Lite1 Zur vertikalen Dimension einer europäischen Zivilrechtsdogmatik: Basedow, in: Zimmermann/Knütel/Meincke (Hrsg.): Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, S. 79 (S. 94, 95). 2 Grundmann, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 1 (S. 13). 3 Eine beispielhafte Regelung, in der der Begriff des Sonderprivatrechts ausnahmsweise ausdrücklich Erwähnung fi ndet: § 6 der Anordnung über die Geschäftsverteilung der Landesregierung Rheinland-Pfalz (Anordnung über die Geschäftsverteilung der Landesregierung Rheinland-Pfalz vom 20. 07. 1998 – GVBl. 1998, S. 236). 4 Während das BSG etwa in einem Urteil aus dem Jahre 2005 das HGB aufgrund seiner Anknüpfung an den Kaufmannsbegriff als »Sonderprivatrecht für den Rechtsverkehr unter

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ratur den Terminus »Sonderprivatrecht« nicht selten zur Bezeichnung ausgesuchter Normgruppen, die in ihrer Gesamtbewertung und in ihrem Verhältnis zueinander nicht unbedingt Gemeinsamkeiten aufweisen. Auch im vertragsrechtlichen Zusammenhang wird der Begriff der »Sonderprivatrechte« häufig als Oberbegriff für Abspaltungen von Teilbereichen des Sachprivatrechts verwendet. 5 Bei der Kategorisierung des Handels- und Verbraucherrechts gelangt er zum Einsatz6, wobei selbst das Richtlinienrecht der Gemeinschaft als »Sonderprivatrecht des Verbraucherschutzrechts« bezeichnet wird7. Als Rechtsbegriff hat sich das Sonderprivatrecht erst im Laufe der ersten zivilrechtlichen Kodifi kationen und im Rahmen der Debatte um die »Einheit des Privatrechts« herausgebildet.8 Während der Terminus »Sonderprivatrecht« in wissenschaftlichen Veröffentlichungen in der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allenfalls peripher verwendet worden ist, hat er seit den 1960er und 1970er Jahren eine neue Blütezeit erlebt. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung war die Zivilrechtslehrertagung von 1977, durch die das Sonderprivatrecht als Schlüsselbegriff einer Vielzahl zivilrechtsdogmatischer Probleme wieder an Aktualität gewonnen hat.9 Recht plakativ kategorisiert die Literatur seitdem Rechtsgebiete wie das Handelsrecht, das Arbeitsrecht, das Immaterialgüterrecht und vereinzelt auch das Privatversicherungsrecht als Auswüchse sonderprivatrechtlicher Kodifi kationsbestrebungen10. Kaufleuten« bezeichnet hat [BSG – Urteil v. 22. 06. 2005, Az.: B 12 KR 28/03 R – Die Beiträge Beilage 3/2006, 76 (80)], sprach sich das LAG Hamm im Jahre 2003 dafür aus, dem Arbeitsrecht wegen seiner Sonderstellung gegenüber dem Bürgerlichen Recht das Attribut »Sonderprivatrecht« zuzusprechen [LAG Hamm: Urteil v. 01. 04. 2003, Az.: 19 Sa 1901/02 – ZGS 2 (2003), 232 (236)]. 5 Westermann, FS für Lange (70. Gebtg.), S. 995 (S. 1002); Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, § 7 II. (S. 240 ff.); im Überblick: Rebe, JA 20 (1978), 391 (391 ff.); Tonner, JZ 51 (1996), 533 (535, 536). 6 Vgl. hierzu: Treber, AcP 199 (1999), 525 (541); Preis, ZHR 158 (1994), 567 (569); Koziol, AcP 188 (1988), 183 (183); Singer, ZIP 13 (1992), 1058 (1058 ff.); Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, Einl v § 1 Rn. 1 ff.; Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung I Rn. 1; Ensthaler, in: Ensthaler (Hrsg.): Gemeinschaftskommentar HGB, Einleitung Rn. 1; Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 1; Hönn, Keio Law Review No. 6 1990, 201 (201 ff.); Richardi, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 473 (S. 476, 477). 7 Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 2 Art. 1–3 Rn. 2. 8 Vgl. Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 1. Abschnitt 1. Kap. I. (S. 47, 48). 9 Hiervon legen bereits die Titel der Referate Zeugnis ab: Westermann, Sonderprivatrechtliche Sozialmodelle und das allgemeine Privatrecht [AcP 178 (1978), 150 ff.]; Lieb, Sonderprivatrecht für Ungleichgewichtslagen? Überlegungen zum Anwendungsbereich der sogenannten Inhaltskontrolle privatrechtlicher Verträge [AcP 178 (1978), 196 ff.]; Mertens, Deliktsrecht und Sonderprivatrecht – Zur Rechtsfortbildung des deliktischen Schutzes von Vermögensinteressen [AcP 178 (1978), 227 ff.]. 10 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 1. (S. 417); Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 1 II. 2. a) Rn. 52 ff. (S. 34 ff.); Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 II. Rn. 13 ff. (S. 8 ff.).

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Ein bereichsübergreifender Meinungskonsens über den Bedeutungsgehalt von Sonderprivatrechten, dem auch Anhaltspunkte für die Divergenzgründe und den Revisionsbedarf des Handels- und Verbraucherrechts entnommen werden könnten, ist bisher jedoch ausgeblieben. Darüber, welche Kausalelemente für die Entstehung von Sonderprivatrechten jeweils maßgeblich sind, besteht noch immer Uneinigkeit.11

A. Inhaltliche Spezifitäten als sonderprivatrechtliche Normmerkmale Vielfach begründet die Literatur die Daseinsberechtigung der verbraucherund handelsrechtlichen »Sonderprivatrechte« mit inhaltlichen und politischen Argumenten.12 Ein Sonderprivatrecht zeichne sich durch seinen im Verhältnis zum allgemeinen Zivilrecht nur eingeschränkten persönlichen Anwendungsbereich aus.13 Sonderprivatrechte seien Normgruppen, die sich auf besondere Berufsgruppen oder Lebensbereiche beziehen, die wegen ihrer Komplexität und Eigenart einer spezifischen Regelung bedürften.14 Sie bestünden aus Normen, die im allgemeinen Privatrecht nicht vorkommen, die allgemeinprivatrechtliche Vorschriften verdrängten oder ein Forum bieten, allgemeinprivatrechtliche Institutionen einem spezifischen Regelungsbereich anzupassen.15 Als charakteristisch wird erachtet, dass zwar gemeinsame Wurzeln, etwa in der Funktion als Verkehrsrecht bestehen, im übrigen aber »gleichartige Tatbestände einer abweichenden, von verschiedenen Rechtsgedanken getragenen Ordnung« zugeführt werden.16 Zudem sei sonderprivatrechtlichen Vorschriften ein überdurchschnittlicher Anteil an zwingenden Rechtsvorschriften eigen, sodass sie in einer gewissen Nähe zu dem öffentlichen Recht st[ünden] oder sogar »in großem Umfang [selbst] öffentliches Recht« enthalten.17 Charakteristisch für Sonderprivatrechte sei die »Ausbildung von Ausnahmeregelungen für bestimmte Personenkreise«, insbesondere die partielle Durchbrechung der Gleichheit aller vor dem Gesetz.18 11 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 1. (S. 416, 417); Preis, ZHR 158 (1994), 568 (569); Bülow/Artz, Verbraucherprivatrecht, 1. Teil 4. Abschnitt A. (S. 12); Pfl ug, Kontrakt und Status im Recht der AGB, 1. Teil I. 3. c) (S. 20). 12 Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 8 (S. 54, 55). 13 Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 13); Schöttler, Verbraucherschutz durch Verfahren, 1. Teil A. II. (S. 12). 14 N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Teil 1 Kap. 1 I. B. 2. (S. 22 ff., 26); Berens, Fremdbestimmung des Konsumenten bei der Vertragsanbahnung insbesondere durch Irreführung, Einleitung (S. 29); vgl. auch: F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 1. b) (S. 417, 418); Eltzbacher, Deutsches Handelsrecht, S. 8. 15 Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung I Rn. 4; Schöttler, Verbraucherschutz durch Verfahren, 1. Teil A. II. (S. 12). 16 Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 1 (S. 4). 17 Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung I Rn. 6. 18 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. VI. (S. 23).

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I. Spezialität des Handels- gegenüber dem allgemeinen Vertragsrecht Dementsprechend wird auch der sonderprivatrechtliche Eigengehalt des Handelsrechts darauf zurück geführt, dass es fokussiert auf den Handelsverkehr Rechtsbeziehungen zwischen einem »bestimmten Adressatenkreis«19, nämlich »von Kaufleuten untereinander . . . und . . . zwischen Kaufleuten und anderen Personen«20, regele. Es umfasse »diejenigen privatrechtlichen Rechtssätze, welche dem Handel eigentümlich sind und nur für ihn gelten«. 21 Es stelle Sonderregelungen für jenen Teil der »Friedensordnung« auf, »welcher für diejenige menschliche Tätigkeit, die unter Handel verstanden wird, dem Bedürfnisse nach Ruhe und äußerer Sicherheit gerecht zu werden hat, soweit zur Befriedigung dieses Bedürfnisses besondere Normen notwendig sind.«22 Handelsrechtliche Vorschriften regelten »speziellere Sachverhalte . . ., als sie vom bürgerlichen Recht normiert werden«23, postulierten »Ausnahmen zu den allgemeinen Vorschriften des BGB«24, brächten also Vorschriften hervor mit einem »gegenüber dem allgemeinen Privatrecht . . . engeren Geltungskreis«25. Zwar ist in der Tat unstreitig, dass das Handelsrecht als Sonderrecht für bestimmte Lebensverhältnisse subjektiv geprägt ist. 26 Es tritt »als ein Sonderrecht für bestimmte Personen, die Kaufleute«, in Erscheinung – dergestalt, »daß es nur dort Anwendung fi ndet, wo ein Kaufmann beteiligt ist«27, unterstellt also »nicht besondere Vorgänge (zB nur Handelsgeschäfte), sondern bestimmte Rechtssubjekte dem Handelsrecht: eben die ›Kaufleute‹«. 28 Ob allein dieser Umstand aber bereits als induktionsfähiges Charakteristikum ausreicht, um abstrahiert den Begriff des Sonderprivatrechts zu beschreiben, erscheint bei genauerer Betrachtung zweifelhaft. Denn dies würde voraussetzen, 19

Treber, AcP 199 (1999), 525 (541); vgl. auch: Kort, AcP 193 (1993), 453 (454). Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung I Rn. 2; vgl. auch K. Schmidt, der die Tatsache, dass es sich bei dem Handelsrecht um Sonderprivatrecht handelt, damit begründet, dass »[e]s . . . nur für einen Ausschnitt des Privatrechtsbereichs, nach herkömmlicher Lesart eben nur für Kaufleute [gilt]« [K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, Vor § 1 Rn. 3]. 21 J. von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 1 (S. 4); ähnlich auch: F. Bydlinski, Handels- oder Unternehmensrecht als Sonderprivatrecht, VII. (S. 18). 22 Gareis, Das Deutsche Handelsrecht, § 1 (S. 1). 23 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 2. Kap. IV. (S. 24). 24 Raisch, JuS 7 (1967), 533 (534). 25 K. Schmidt, Handelsrecht, § 1 I. 1. b) (S. 3, 4); ähnlich auch: Cosack, Lehrbuch des Handelsrechts, § 1 (S. 1). 26 Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 8 (S. 50); K. Schmidt, in: Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, Vor § 1 Rn. 3, Wolter, Jura 10 (1988), 169 (169); Brüggemann, in: Canaris/ Schilling/Ulmer (Hrsg.): Staub-HGB, Einl vor § 1 Rn. 6 ff.; Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 2; Landwehr, ZHR 150 (1986), 39 (51). 27 Eltzbacher, Deutsches Handelsrecht, S. 8; so auch: Brox/Henssler, Handelsrecht, § 1 I. 3. Rn. 7 (S. 4). 28 K. Schmidt, in: Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, Vor § 1 Rn. 3. 20

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dass alle sonst noch propagierten Sonderprivatrechte einschließlich des Verbraucherrechts dieses Charakteristikum ebenfalls aufweisen, Normgruppen unterhalb der Messlatte eines Sonderprivatrechts dagegen nicht. II. Exklusivität und Spezialität des Verbraucherrechts Auch das Verbraucherrecht folgt dem subjektiven System. Die im b2c-Verhältnis eingeschränkte Gestaltungsfreiheit des Konsumenten nimmt es zum Anlass einer Ergebniskorrektur. 29 Im Zentrum seiner Abgrenzung steht der Verbraucherbegriff, der als »sonderprivatrechtlicher Eindringling«30 den komplementären Unternehmerbegriff ergänzt, wobei beide Begriffe sich gleichsam ausschließen und vervollständigen. 31 Noch deutlicher als im Handelsrecht ist das Hinzutreten eines objektiven Abgrenzungsaspekts erforderlich, der das rollenspezifische Gegenübertreten komplementiert. 32 Denn für das Eingreifen des Verbraucherrechts letztlich maßgeblich ist die jeweils »schutzauslösende Situation«33, bei der typischerweise »entweder an die Situation der Überrumpelung (Haustürgeschäftewiderrufs-Richtlinie), an das Gebrauchmachen einseitiger Gestaltungsmacht (verwässert in der Klausel-Richtlinie), an die behauptete Gefährlichkeit (Komplexität) bestimmter Verträge (Verbraucherkredit-Richtlinie) oder an die erschwerte Beurteilbarkeit der Brauchbarkeit einer Leistung (Fernabsatz-Richtlinie; Time-sharing-Richtlinie)« angeknüpft wird. 34 Wie der Kaufmannsbegriff dient die »Verbraucher-Unternehmer«-Begegnung im Gegensatz zu den bürgerlich-rechtlichen Vertragstypenbeteiligten (Mieter, Käufer etc.) weniger der Kennzeichnung von Vertragspartnern eines bestimmten Vertragstyps, sondern eröffnet den Anwendungsbereich für besondere – teilweise zwingende – Regeln, die über das Vertragstypenrecht des bürgerlichen Schuldvertragsrechts hinausgehen. 35 Diese inhaltlichen Eigenheiten des Handels- und Verbraucherrechts könnten es nahelegen, dass die maßgeblichen Kausalfaktoren der Sonderprivatrechte (1) in der Exklusivität der Sondernormen mit Geltung für einen bestimmten Personenkreis, (2) der 29 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil B. VII. (S. 42); vgl. auch: Treber, AcP 199 (1999), 525 (541). 30 Pfeiffer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 21 (S. 22). 31 Staudenmayer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 63 (S. 67). 32 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, Einführung C. und 3. Teil C. (S. 3 und S. 121). 33 Pfeiffer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 21 (S. 28 ff.). 34 H. Roth, JZ 54 (1999), 529 (532). 35 Vgl. hierzu auch: Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 3. Teil C. (S. 120).

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Spezialität dieser Sondernormen gegenüber den allgemeinen Regeln und (3) der spiegelbildlichen Subsidiarität des bürgerlichen Rechts innerhalb des abgegrenzten Sondernormbereichs zu suchen wären. 36 Damit diese Systemmerkmale zu sonderprivatrechtlichen Begriffsmerkmalen stilisiert werden könnten, dürften andere Normgruppen als Sonderprivatrechte diese Begriffsmerkmale aber nicht aufweisen. III. Exklusivitätsregelungen jenseits der Sonderprivatrechte Eine privatrechtliche Querschnittsbetrachtung fördert allerdings recht schnell zu Tage, dass die handels- und verbraucherrechtlichen Normgruppen nicht die einzigen Regelungsbereiche mit Spezialvorschriften sind, auf welche die allgemeinen Gesetze nur hilfsweise Anwendung fi nden. 37 Vielmehr nehmen die Kriterien der Exklusivität und Spezialität auch bei anderen Normgruppen systemprägende Bedeutung ein. Bereits das bürgerliche Privatrecht enthält Sondernormen für Personengruppen mit eigenem Homogenitätsgrad, die den Bedarf für gruppenspezifische Normenkomplexe hervorrufen. 38 So stellen auch das Familienrecht, das bürgerliche Unterhaltsrecht und das Sachenrecht bestimmten Personen (Ehegatten, Kindern, Eigentümern etc.) gegenständlich exklusive Regelungen zur Verfügung, die auf bereichsexterne Personen nicht zur Anwendung gelangen. Das Familienrecht enthält einen spezialgesetzlichen Normenkatalog für Verheiratete, dem Nichtverheiratete sich privatautonom nur bedingt unterwerfen können. Ähnlich weist auch das Sachenrecht Spezialvorschriften für Eigentümer und sonstige dinglich Berechtigte auf, von denen andere Rechtsträger nur mittelbar betroffen sind. Bereits dem bürgerlichen Privatrecht ist eine auf Exklusivität, Spezialität und Subsidiarität aufbauende Systematik inhärent, was es nicht gerechtfertigt erscheinen lässt, diese Aspekte zu Charaktermerkmalen einer besonderen Kategorie von Privatrecht zu machen. Ist schon das allgemeine Privatrecht durch Elemente des Gruppenbezugs und der abgestuften Normgeltung geprägt, kann nicht von einem Systemmonopol der Sonderprivatrechte ausgegangen werden, Regeln auf einer generellen Ebene nur dann zuzulassen, wenn bereichsspezifische Sondervorschriften nicht einschlägig sind.

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Vgl. F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 5. (S. 431). Raisch, JA 32 (1990), 259 (261); Säcker, in: Rebmann/Säcker/Rixecker (Hrsg.): MünchKomm-BGB, Einl Rn. 1; K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, Vor § 1 Rn. 3; M. Wolf, in: Soergel/Siebert, BGB, Bd. 1, Einl. zum BGB Rn. 8. 38 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 1. (S. 417). 37

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B. Aufspaltung in Nebengesetze und Kriterien der äußeren Systembildung Eine ähnlich geringe Überzeugungskraft hat der umstrittene Ansatz, dass der begriffsprägende Kern der Sonderprivatrechte – jenseits inhaltlicher Erwägungen – im formalen Bereich anzusiedeln ist. 39 Von einem solchen Ansatz gehen etwa Lurger und Augenhofer aus, wenn sie dem deutschen Verbraucherrecht das österreichische Verbraucherrecht gegenüber stellen und lediglich hinsichtlich des österreichischen Verbraucherrechts die Einordnung als Sonderprivatrecht bejahen.40 Die Begründung für diese Differenzierung stützen sie darauf, dass sich nur in Österreich »[a]lle Bestimmungen, die nur Verbraucher schützen sollen, . . . in Sondergesetzen (KSchG uva)« wiederfi nden; damit werde »eine strikte Trennlinie zwischen dem allgemeinen Privatrecht im ABGB und dem parteispezifischen Privatrecht (zB Konsumentenschutz) gezogen«.41 Beim deutschen Verbraucherrecht sei die Einordnung als Sonderprivatrecht dagegen abzulehnen. Denn der deutsche Gesetzgeber sei einen anderen Weg gegangen. Er habe »vor einigen Jahren das gesamte Verbraucherschutzrecht in das deutsche BGB eingegliedert . . ., inklusive der Defi nition des Verbraucherbegriffs«.42 I. Der fehlende Aussagegehalt der formalen Ausgliederung Für eine derart formale Charakterisierung der Sonderprivatrechte könnte vordergründig sprechen, dass die Gesetzgebung in der Vergangenheit häufig gezeigt hat, dass sich »ein spezieller Schutzgedanke« über ein Sondergesetz, »das nicht wie die zentrale Kodifi kation von der – vielleicht fi ktiven – Vorstellung eines bestehenden Interessenmonismus getragen ist«, wesentlich leichter als über eine Änderung der Basiskodifi kation in die Praxis umsetzen lässt.43 An39 U. a. auf die gesetzliche Aufspaltung abstellend: Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 4. Kap. § 2 I. 2. b) (S. 129); ablehnend hierzu: Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 2. Kap. II. (S. 15, 16); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 8 (S. 55); Tonner, JZ 51 (1996), 533 (536). 40 Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 14, 15). 41 Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 14). 42 Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 14, 15). 43 Westermann, in: BMJ (Hrsg.): Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 3, Verbraucherrecht, § 1 I. 3. (S. 12). So wurde in den Anfangsjahren des Verbraucherschutzes vielfach vorgetragen, dass eine sofortige Aufnahme der Verbraucherrechtsmaterien in das BGB Gefahren für die »inhaltliche Einheit« und die individualistischliberale Konzeption des bürgerlichen Privatrechts mit sich gebracht hätte. Bei einer inhaltlichen Vermischung von bürgerlichem und Verbrauchervertragsrecht hätte die Gefahr einer »partiellen Abkehr« von den klassischen bürgerlich-rechtlichen Grundprinzipien bestan-

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dererseits können formale Divergenzgründe aber allein wegen der höheren Durchsetzungsfähigkeit eines gesetzgeberischen Gedankens nicht als ausschlaggebend für die Systemspaltung erachtet werden. Denn mit materialen Rechtssystematisierungen gehen nicht zwangsläufig formale Kodifi kationsentscheidungen einher.44 Bereits das handelsrechtliche Sonderrecht im 8. Titel des II. Teils des ALR bildete »ein deutliches Beispiel dafür, dass es auf die formale Ausgrenzung des Handelsrechts in einem besonderen Gesetzbuch nicht ankommen kann«45. Würde man der formalen Opportunität, sensible Bereiche zur Erzielung eines besseren politischen Kompromisses in Nebengesetze auszulagern, einen materiell-systematischen Sinngehalt beimessen46, würde die Entscheidung zwischen Integration und Ausgliederung unberechtigterweise zu einer alles entscheidenden Systemfrage heraufstilisiert. Dabei sind viele propagierte Sonderprivatrechte wie beispielsweise das deutsche Handelsrecht nicht einmal in einer einheitlichen Kodifi kation zusammengefasst, sondern setzen sich nicht selten aus einer Vielzahl systemverwandter Singularnormen zusammen, die in ganz unterschiedlichen Gesetzen – sogar im BGB selbst (§ 288 Abs. 2 BGB) – enthalten sein können.47 Gerade das Handelsrecht veranschaulicht, dass sonderprivatrechtliche Systembildung nicht unbedingt auf Sondergesetzen aufbauen muss, sondern sich auch aus Verkehrssitten, Handelsbräuchen oder anderen mit Rechtsüberzeugung getätigten Verhaltensweisen zusammensetzen kann.48 Auch nicht kodifizierte Bräuche (consuetudo), die sich in bestimmten Verkehrskreisen eingebürgert haben und denen eine entsprechende Rechtsüberzeugung der Verkehrsteilnehmer zugrunde liegt (opinio iuris), können als (Handels-) Gewohnheitsrecht Grundlage eines Sonderregimes sein.49 Dass auch diese gewohnheitsrechtlichen den, die schlimmstenfalls zu einer »stillen Reform« des bürgerlichen Vermögensrechts in Richtung einer »Sozialisierung« des allgemeinen Vermögensrechts hätte führen können. »Wertungswidersprüche« und »Wertungsunterschiede« wären in das Bürgerliche Gesetzbuch hineingetragen worden [Gilles, JA 22 (1980), 1 (5)]. 44 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 2. (S. 424); Treber, AcP 199 (1999), 525 (538–540); so scheinbar auch: Tonner, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 12 Art. 2 Rn. 19. 45 Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 2. Teil I. 2. (S. 12). 46 Damm, JZ 33 (1978), 173 (176). 47 Canaris, Handelsrecht, § 1 Rn. 14 (S. 5). 48 Canaris, Handelsrecht, § 22 Rn. 1 ff. (S. 339 ff.); Rehme, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 23 (S. 266 ff.); K. Schmidt, Handelsrecht, § 1 III. (S. 16 ff.); Hefermehl, in: Schlegelberger, HGB-Kommentar, § 346 Rn. 1 ff.; Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, § 346 Rn. 1 ff. 49 Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, § 346 Rn. 15, 16; Hefermehl, in: Schlegelberger, HGB-Kommentar, § 346 Rn. 2; J. von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, § 3 (S. 22 ff.); Rehme, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 23 (S. 269, 270); Eltzbacher, Deutsches Handelsrecht, S. 15 ff.; vor allem in der Zeit vom 12. bis 15. Jahrhundert haben sich aus der Praxis der Handeltreibenden Sitten und Usancen herausge-

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Regelungen am privatrechtlichen Sondergehalt partizipieren, gelangt anschaulich in der vormaligen Vorschrift des Art. 1 ADHGB zum Ausdruck, mit welcher der Reichsgesetzgeber ausdrücklich auch dem Handelsgewohnheitsrecht Vorrang vor dem bürgerlichen Vertragsrecht eingeräumt hatte. 50 II. »Dekodifikationsbewegungen« ohne eigenen Systemgehalt Oftmals ist die formale Abspaltung nicht einmal Ausdruck eines eigenen Systemgedankens, sondern schlicht Abbild einer einheitszerstörenden Dekodifikation. 51 In diesem Sinne führten die Sonder- und Nebengesetze der Vergangenheit häufig zur Auflösung der bürgerlich-rechtlichen Basiskodifi kation (sog. Dekodifi kation), ohne kohärente Sonderbereiche mit materiellem Eigengehalt hervorzubringen. 52 Der Gesetzgeber betrieb »effektives legislatorisches Krisenmanagement«, um »anstehende Probleme kurzfristig und kurzsichtig zugleich« zu lösen, versäumte es aber, planende – die möglichen Auswirkungen auf die Gesamtorganisation penibel abwägende – Sondereinheiten zu kreieren. 53 So wurde das Wohnungseigentumsgesetz (1851) z. B. allein deshalb in ein eigenes Nebengesetz ausgelagert, weil Zweifel an seinem dauerhaften Bestand gehegt wurden bzw. materiellrechtliche mit verfahrensrechtlichen Vorschriften nicht vermengt werden sollten54 ; ähnlich die Erbbaurechtsverordnung von 1919, die zwar ursprünglich im BGB enthalten war, aber wegen ihres Umfangs in ein Nebengesetz externalisiert worden ist. 55 Mit einem vergleichbaren Ansatz fanden die (vormaligen) verbraucherrechtlichen Sondergesetze ursprünglich keinen Eingang in das BGB, was weniger mit einem inneren Grund, sondern schlichtweg mit der besseren »Übersichtlichkeit«, dem »äußeren Erscheinungsbild« oder der erhaltungswürdigen Ästhetik des BGB begründet wurde. 56 Man wollte eben nicht die innere Einheit des Privatrechts zerstören. 57 Vor diesem Hintergrund ist der im 20. Jahrhunbildet, die unabhängig von dem gelehrten Recht zu Handelsgewohnheitsrecht geworden sind: Pohlmann, in: Coing (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1, 3. Teil 2. Abschnitt (S. 801 ff.). 50 Art. 1 ADHGB: »Zu Handelssachen kommen, insoweit dieses Gesetzbuch keine Bestimmungen enthält, die Handelsgebräuche und in deren Ermangelung das allgemeine bürgerliche Recht zur Anwendung.« 51 Unter Bezugnahme auf den Begriff der »decodificazione« auch: Basedow, in: Cian (Hrsg.): I cento anni del codice civile tedesco, S. 331 (S. 341); aus österreichischer Sicht: Posch, ZEuP 3 (1995), 507 (518 ff.). 52 Rübesamen, Das italienische Zivilgesetzbuch, E. II. 1. (S. 100). 53 Schlosser, in: Merten/Schreckenberger (Hrsg.): Kodifi kation gestern und heute, S. 63 (S. 81). 54 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 V. 2. a) Rn. 87 (S. 43). 55 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 V. 2. a) Rn. 87 (S. 43). 56 Vgl. Gilles, JA 22 (1980), 1 (4). 57 Damm, JZ 33 (1978), 173 (174); Benöhr, ZHR 138 (1974), 492 (502); vgl. auch: Gilles, JA 22 (1980), 1 (4 ff.).

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derts außerhalb des BGB zu verzeichnende Niedergang der formal-freiheitlichen Vertragsrechtstradition nicht Inbegriff eines Kodifi kationskonzepts, sondern Ergebnis von Auslagerungsgedanken ohne Systemzusammenhang. 58 III. Sachliche Durchdringung versus formale Segregation Auch Einheitskodifi kationen in ausländischen Privatrechtsordnungen bringen diesen Gedanken zum Ausdruck. So ist das Konzept eines Sonderprivatrechts für Handelsgeschäfte selbst solchen Rechtsordnungen nicht wesensfremd, die nicht in der Tradition eines formalen Dualismus zwischen Zivil- und Handelsrecht stehen. 59 Die Schweiz mit ihrem Obligationenrecht von 1881 hat zwar auf eine formal selbstständige Handelsrechtskodifi kation verzichtet; inhaltlich ist aber auch hier von einem »echten Strukturgegensatz« zwischen Handels- und bürgerlichem Recht die Rede.60 In ähnlicher Weise ist in Argentinien, wo im Jahre 1987 eine auf Vereinheitlichung von Zivil- und Handelsrecht gerichtete Reformbewegung eingesetzt hat61, die materielle Unterscheidung zwischen zivilund handelsrechtlichen Normen weiterhin vorhanden: »[B]ecause in countless instances the provisions of the civil and commercial codes differ from each other, hence the outcome of many disputes turn on whether the transaction in question is classified as commercial or whether it was entered into by merchants«.62 Daneben verdient Italien in diesem Zusammenhang Erwähnung, sieht die Rechtswissenschaft doch auch dort Bedarf für eine eigenständige Darstellung des Phänomens Handel, Unternehmen und Wirtschaft63, obwohl von einer gesonderten Kodifi kation des diritto commerciale außerhalb des Codice civile Abstand genommen wurde64. Auch hier werden externe Sondergesetze unter 58 Weiteres Beispiel: Auch das deutsche Recht der Eheschließung wurde trotz seiner zeitweisen Ausgliederung in das Ehegesetz (zwischen dem 1. Januar 1964 und 30. Juni 1998) zu keiner Zeit als Bestandteil eines Sonderprivatrechts eingestuft [vgl. Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 13)]. 59 Eichler, ZHR 126 (1964), 181 (183, 184). 60 F. Bydlinski, Handels- oder Unternehmensrecht als Sonderprivatrecht, III. (S. 10); vgl. auch: Oftinger, SJZ 50 (1954), 153 (160, 161); Bucher, in: FS für von Meier-Hayoz (50. Gebtg.), S. 1 (S. 12 ff.); Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 2. Abschnitt 3. Kap. IV. 3. (S. 97, 98); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 6 (S. 36 ff.); K. Lehmann, Lehrbuch des Handelsrechts – Halbbd. 1, § 1 (S. 2); Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 591, 592). 61 Garro, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Argentina, Tz. 25. 62 Garro, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Argentina, Tz. 25. 63 Beispielhaft: Jaeger/Denozza: Appunti Di Diritto Commerciale, S. 13 ff. 64 Vgl. Eichler, ZHR 126 (1964), 181 (183); Heinemann, FS für Fikentscher (70. Gebtg.),

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Berufung auf Natalino Irti eher mit dem Begriff der Dekodifi kation in Verbindung gebracht, weil sie meistens keine Sondersystematisierung hervorrufen, sondern lediglich den Codice civile zum »diritto residuale« degradieren.65 Damit zeigt sich auch im internationalen Vergleich, dass die sachliche Durchdringung vorrangig den Ausschlag gibt66, während sich in der redaktionellen Gesetzestechnik in aller Regel nur eine »Frage . . . von peripherer Formalität und Äußerlichkeit« wiederfi ndet67. Folglich muss nicht jedem Gesetz eine eigene rechtswissenschaftliche Disziplin zugrunde liegen68, was im vorliegenden Zusammenhang den Rückschluss erlaubt, dass die rein formale Unterscheidung für den Wesensgehalt eines Sonderprivatrechts nicht vorbestimmend ist.69 Allenfalls auf die Auslegungsmethode könnte sich der Kodifi kationsstandort im Ansatz auswirken.70

C. Kriterien des inneren Systems: Sonderprivatrechtliche Kausalfaktoren In Anbetracht der geringen Aussagekraft der gesetzestechnischen Ausgestaltung ist letztlich auf die Kausalfaktoren des inneren Systems der Privatrechtsordnung bei der Begriffsbestimmung Rückgriff zu nehmen.71 F. Bydlinski gehört zu den wenigen, die einen Vorstoß in diese Richtung gewagt haben. Seiner Ansicht nach zeichnen sich Sonderprivatrechte im Gegensatz zu bloßen Nebengesetzen dadurch aus, dass sie nicht einheitlich einem Teil des Pandektensystems zugeordnet werden können. Um eine Normgruppe als SonderpriS. 349 (S. 356, 357); Monateri/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopae-dia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 25; Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 3. Teil 2. Abschnitt 2. Kap. V. (S. 166); Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 592). 65 Irti, L’età della decodificazione, S. 3 ff. 66 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 2. Kap. II. (S. 16); Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 2. Teil I. 1. (S. 9); Wieland, Handelsrecht – Bd. 1, § 1 (S. 4). 67 Damm, JZ 33 (1978), 173 (176); vgl. auch: K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): Münch-Komm-HGB, Vor § 1 Rn. 4. 68 So treten beispielsweise viele Normgruppen als »Sondergesetze ohne sonderprivatrechtlichen Charakter« in Erscheinung, die sich seit jeher durch »eine Verflechtung von privatem und öffentlichem Recht . . . ausgezeichnet hatten«, im BGB aber »nur in ihrem privatrechtlichen Aspekt . . . geregelt« worden sind (z. B. das Baurecht in seiner privat- und öffentlichrechtlichen Aufspaltung) [L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, II. (S. 16)]. 69 Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 593); F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 2. b) (S. 424); Raisch, JuS 7 (1967), 533 (534); K. Schmidt, BB 60 (2005), 837 (837). 70 Während die historische und die systematische Auslegung nämlich auch durch formale Aspekte wie den Kodifi kationsstandort und die Kodifi kationsumgebung geprägt sein können, sind die grammatikalischen und teleologischen Auslegungselemente von der Frage der Einheitskodifi kation in aller Regel unabhängig. 71 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 1. (S. 417).

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vatrecht einzustufen, müsse sie nicht nur die allgemeinen Systemkriterien erfüllen, die an Rechtssysteme im allgemeinen zu stellen seien72 – also als Materie zureichend abgrenzbar sein (sich beispielsweise an einem größeren Realitätsausschnitt orientieren), eine gewisse normative Spezifität aufweisen (d. h. einem jeweils eigenständigen, inhaltlich grundlegenden Wertungsgedanken verschrieben sein) und einem an allgemeiner Zweckmäßigkeit orientierten Gliederungsmodus entsprechen.73 Erforderlich sei darüber hinaus, dass sie eine Kodifi kationsstruktur zeige, die es ihr verwehre, ohne wesentliche Modifi kationen in die tradierte Systematik des Pandektenrechts eingefügt zu werden.74 I. Die Pandekten als Systematisierungsfaktor – Herkunft und Überlieferung Dass die Pandekten bei F. Bydlinski eine zentrale Stellung einnehmen, erscheint gerechtfertigt, wenn man bedenkt, dass das BGB als »spätgeborene[s] Kind der Pandektenwissenschaft«75 in wesentlichen Teilen auf den Pandekten aufbaut und rechtshistorisch zumindest mittelbar auf die klassische Zeit und den oströmischen Kaiser Iustinian I. Bezug nimmt (527–565 n. Chr.).76 Inhaltlich basiert insbesondere das BGB-Schuldrecht weitgehend auf »römischpandektistischer Überlieferung«77, was sich auch in der Sprache des BGB niederschlägt: Es ist von Juristen für Juristen geschrieben und erhebt nicht den Anspruch, von dem juristischen Laien – dem gemeinen Bürger – verstanden zu werden78 : »Die alten Vorschriften des römischen Rechts sind zum größten Teil 72 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 3. und 4. (S. 426 ff. und 429 ff.). 73 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1. Hteil. I. 5. und 6. (S. 17 ff. und 20 ff.). 74 Ähnlich auch: Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, A. I. 1. (S. 17). 75 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 II. 1. Rn. 37 (S. 30); Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 15); ders., Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher, II. (S. 9). 76 Mit den Pandekten, die sich inhaltlich aus einer Kompilation von 50 Büchern von grob systematisch geordneten Auszügen aus den klassischen Juristenzeitschriften (insbesondere von Ulpian, Papinian und Paulus) zusammensetzen, machte sich Iustinian zum Ziel, das römische Recht klassischer Prägung zu rekultivieren, zu systematisieren und zu dokumentieren. Im Jahre 530 n. Chr. hatte Iustinian einer von Tribonian geleiteten Kommission zu diesem Zweck unter anderem den Auftrag erteilt, ein Sammelwerk des klassischen römischen Juristenrechts fertig zu stellen. Bereits 533 n. Chr. gingen als Ergebnis aus diesem Auftragswerk die Pandekten hervor, die sich heute gemeinsam mit den Institutionen (systematisches amtliches Elementarlehrbuch für Studienanfänger), dem Codex (Sammlung von Kaiserkonstitutionen aus der Prinzipatszeit) und den Novellen (spätere Zusammenstellung von Iustinians Konstitutionen ab 535 n. Chr.) im Corpus Iuris Civilis (einer auf D. Gothofredus zurückgehenden Gesamtausgabe 1583) zusammenfi nden (Luig, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.): HRG, 3. Bd., »Pandekten« – S. 1418). 77 Krause, JuS 10 (1970), 313 (319). 78 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 11 II. (S. 143).

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erhalten und [wurden] nur in die Sprache eines deutschen Gesetzes gebracht«.79 U. a. auch das pandektistische Vereinigungsmodell der Willenserklärungen wurde zum beherrschenden Vertragsmodell der neuen Regelungen des Vertragsabschlusses (§§ 145 ff. BGB).80 Insgesamt ist das BGB »ein typisches Produkt des 19. Jahrhunderts, in Gesetzform gegossenes Pandektenrecht, dessen System, Terminologie und hohes Abstraktionsniveau es übernommen hat«.81 Genetisch ist dies darauf zurückzuführen, dass die Pandekten, nachdem sie mit der Rezeption des römischen Rechts im 15. und 16. Jahrhundert (im europäischen Vergleich also relativ spät) nach Deutschland gelangt waren, im 17. und 18. Jahrhundert umso stärker (im Wege einer eigenen deutschen Gemeinrechtswissenschaft: dem usus modernus pandectarum) ausgebaut worden sind.82 Weil das römische Recht gebietsübergreifend galt, wurde es – ähnlich wie das EG-Recht heute – eingesetzt, um die Vielzahl von territorial und ständisch stark zersplitterten Partikularrechten in Deutschland anzugleichen.83 Die historische Rechtsschule des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts leistete zur Ausstrahlungskraft der Pandekten auf die Einflüsse im Kodifi kationszeitalter einen wichtigen Beitrag.84 Insbesondere Savigny erblickte im römischen Recht ein einheitliches System eines großen, lange bestehenden Volkes – geradezu ein Modellbeispiel zu der Überwindung der deutschen Kleinstaaterei – und forderte eine systematische Rückbesinnung auf das römische Recht in Deutschland.85 Unter Ablehnung der Kodifi kationen der Neuzeit sowie des Anspruchs des Naturrechts auf zeitlose Geltung propagierte er, dass das Recht nicht auf der Vernunft oder der Natur des Menschen, und schon gar nicht auf Gesetzgebung, sondern als organisches Produkt auf der stillen Tätigkeit des Volksgeistes und der Sprache des Volkes basieren müsse.86 Der reine Volksgeist römischer Prägung solle übernommen und von den Verfälschungen durch den usus modernus befreit werden.

79 So ein Zitat von Uwe Wesel (Juristische Weltkunde: Eine Einführung in das Recht, 1984), komprimiert dargestellt und zitiert bei: Horster, Rechtsphilosophie, 1. (S. 17). 80 Schmidlin, in: Zimmermann/Knütel/Meincke (Hrsg.): Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, S. 187 (S. 202). 81 Wesel, Geschichte des Rechts, 17. Kap. Rn. 285 (S. 467). 82 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 1. Kap. IV. 1. (S. 24 ff.); vgl. auch: Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 10 II. (S. 131). 83 Repgen, JJZ 1997, 9 (12 ff.). 84 Im Überblick: Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, § 20 ff. (S. 348 ff.). 85 Von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Ziff. 4. (S. 28); siehe auch: Horster, Rechtsphilosophie, 1. (S. 18) und 2. (S. 60); Luig, in: Erler/ Kaufmann (Hrsg.): HRG, 3. Bd., »Pandektenwissenschaft« – S. 1422 ff.; Wesenberg, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte, § 21 (S. 139 ff.); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 10 IV. (S. 137 ff.). 86 Horster, Rechtsphilosophie, 2. (S. 57 ff.).

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Savigny trug mit dieser Forderung maßgeblich dazu bei, dass die äußere Pandektensystematik, durch den Rechtsgeist der Zeit verinnerlicht und transportiert über das BGB, auch heute noch systemprägend erscheint. Die Pandekteneinteilung mit ihrem seit Heise (1807) vorangestellten Allgemeinen Teil fand mit ihren fünf Büchern (AT, Sachen-, Schuld-, Familien- und Erbrecht) nicht nur in alle Lehrbücher der historischen Rechtsschule und in die römischrechtlichen Vorlesungen des 19. Jahrhunderts87, sondern auch in das BGB Eingang, wobei lediglich Sachen-, Schuld- und Familienrecht geänderte Positionen eingenommen haben88. Durch spezifisch mittelalterliche, germanische und deutschrechtliche Einflüsse wurde das BGB in erster Linie inhaltlich geprägt, und zwar vornehmlich in Einzelbereichen wie den Regelungen zur Abtretung einer Forderung, zur vertraglichen Schuldübernahme, zur Anerkennung des Vertrages zugunsten Dritter und so segmentären Grundsätzen wie dem Theorem »Kauf bricht Miete nicht«.89

II. F. Bydlinskis sonderprivatrechtliche Integrationsvorstellungen Mit den Pandekten ruft F. Bydlinski im Grunde nicht nur die römische Tradition des Privatrechts in Erinnerung, sondern macht auch mit einer dynamisch aufgebauten Systematisierungsprüfung deutlich, dass für Sonderprivatrechte ein ständig latenter Rechtfertigungsbedarf besteht. Würden weite Teile der Sonderprivatrechte an einer am Maßstab der Grundrechte, des Gleichheitssatzes oder der Grundfreiheiten orientierten Kontrolle scheitern, wäre auch ihre Daseinsberechtigung als Sonderprivatrecht in Frage gestellt. Selbst für den Fall, dass an ihrer Legitimität nichts auszusetzen wäre, sie aber ohne Probleme in die Pandektensystematik eingegliedert werden könnten, wäre ihre begrenzte Eigenständigkeit aufzugeben. Ob eine Aufteilung auf einzelne pandektistische Teilbereiche möglich ist, will F. Bydlinski davon abhängig machen, ob die Zerschlagung der Normgruppe »einen Verlust an äußerlicher Übersichtlichkeit und inhaltlicher Konsistenz sowie an Ergiebigkeit der Prinzipienschichten für die Rechtsanwendung zur Folge hätte«.90 Letztlich begriffsentscheidend sei, ob eine bestimmte Rechtsmaterie ohne Beeinträchtigung äußerer Übersichtlichkeit oder innerer 87 Vgl. hierzu: Horster, Rechtsphilosophie, 1. (S. 19); Wesel, Geschichte des Rechts, 17. Kap. Rn. 281 (S. 453 ff.); Hausmaninger/Selb, Römisches Privatrecht, Rechtsgeschichte 7. Kap. V. 2. (S. 116); Heise propagierte in seinen Vorlesungen folgende Einteilung: 1. Buch: Allgemeine Lehren; 2. Buch: Dingliche Rechte; 3. Buch: Obligationen; 4. Buch: Dingliche persönliche Recht (= Familienrecht); 5. Buch: Erbrecht (Heise, Grundriss eines Systems des gemeinen Civilrechts, S. 12 ff.). 88 Heinrichs, Palandt BGB, Einleitung Rn. 6; Schwarz, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der ausländischen Rechtsordnung, IV. (S. 23 ff.). 89 Krause, JuS 10 (1970), 313 (319). 90 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 4. (S. 430).

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Wertungsharmonie in einen bestimmten Teil des Pandektensystems eingruppiert werden könne oder nicht.91 Für diesen Integrationszwang liefert F. Bydlinski selbst ein Beispiel: Könnten Normgruppen, wie beispielsweise die Vorschriften über das Wohnungseigentum oder das private Baurecht, »mindestens mit ihren charakteristischen Kernvorschriften [. . .] ohne weiteres einem der Teile des Pandektensystems zu[ge]ordne[t werden]«, so wären sie als bloße Nebengesetze zum Privatrecht und nicht als echte Sonderprivatrechte einzustufen.92 Dagegen bestünde auf den ersten Blick die Vermutung, dass von einem Sonderprivatrecht ausgegangen werden könne, wenn die Eingliederung des jeweils in Frage stehenden Rechtsstoffs in einen bestimmten Teil des Pandektensystems nicht auf Anhieb ohne Beeinträchtigung äußerer Übersichtlichkeit oder innerer Wertungsharmonie möglich wäre. Erst wenn man bei einer subtileren Anschlussprüfung zu dem Ergebnis gelange, dass die oberflächliche Inkongruenz mit geringfügigen Modifi zierungen überwunden und die Sondermaterie »ohne Nachteil« auf die einschlägigen Teilbereiche der Pandekten aufgeteilt werden könnte, sei auch in diesen Fällen eine Einstufung als Sonderprivatrecht gerechtfertigt.93 Trotz dieser Dogmatik sieht F. Bydlinski in Sonderprivatrechten allerdings keine autonomen Sondersysteme. Vielmehr seien Sonderprivatrechte »alles andere als autarke, vom allgemeinen Zivilrecht völlig abgetrennte Materien«.94 Weder die Regeln über das Zustandekommen von Verträgen sowie die Vorschriften über die Rechts- und Geschäftsfähigkeit würden autonom von ihnen geregelt noch autarke Nominatverträge zur Verfügung gestellt. Nach Ansicht von F. Bydlinski bauen Sonderprivatrechte auf der Vertragstypenlehre sowie den Nominat- und Innominatverträgen des allgemeinen Vertragsrechts auf und bringen lediglich Einzelelemente der vertragsrechtlichen Ausgestaltung und besondere Rechtsfolgen des schuldrechtlichen Regelungsregimes mit den realen Bedürfnissen der jeweiligen Ausschnittsbetrachtung in Übereinstimmung. Von einer vertragsrechtlichen »Drei«-Teilung zu sprechen, mag vor diesem Hintergrund zwar ungenau sein, weil die handels- und verbraucherrechtlichen Normgruppen eigentlich auf der vertragsrechtlichen Grundordnung (BGB) als Supplementsysteme aufbauen. Trotzdem signalisiert die Projizierung als »Drei«-Teilung aber den Intensitätsgrad, mit dem sich die verbraucher- und handelsrechtlichen Aufbauordnungen mittlerweile von den vertragsrechtlichen Grundaxiomen entfernt haben. Diesen Abweichungsgehalt nimmt F. Bydlinski in das Visier und lässt erkennen, dass er die »Wieder-

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F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 4. (S. 429). F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 3. (S. 426). F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 3. (S. 428, 429). F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 1. (S. 419).

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gewinnung einer nicht mehr nach allgemeinen Zivilrecht und Sonderprivatrechten differenzierenden, großen systematischen Einheit« anstrebt.95

D. Die Stellung des Handels- und Verbraucherrechts zu den Pandekten Im Ergebnis ist F. Bydlinski allerdings nicht uneingeschränkt zu folgen. Denn sein pandektenlastiger Ansatz würde die innere und äußere Entscheidung der Systemzuordnung zu einer Wertungsfrage machen, die in ihrem Ergebnis mannigfaltig ausfallen könnte.96 Überträgt man seinen Systematisierungsversuch nur auf das Beispiel des Handels- und Verbraucherrechts, wird bereits deutlich, dass die Umsetzung der pandektenbezogenen Abgrenzung zu sehr unterschiedlichen Kategorisierungsergebnissen führen kann – je nachdem, welche Anforderungen man an die Aufteilungsfähigkeit der Sondermaterie stellt. I. Das Handelsrecht als Sonderprivatrecht mit defizitärer Abgrenzung Misst man etwa das Handelsrecht an dem Raster der pandektenbezogenen Begriffsbildung F. Bydlinskis, so ist es nach einhelliger Ansicht in der Literatur als Sonderprivatrecht einzustufen, weil es sich auf Grund seiner Eigentümlichkeiten speziell in Bezug auf Kaufleute bestimmte abweichende Bräuche und Worte mit konventioneller Bedeutung zu eigenen macht und an diese »wichtige Rechtsfolgen anschließ[t]« (»z. B. . . . ›an ordre‹, ›cif.‹, ›Wechsel‹«).97 Dementsprechend bejaht auch F. Bydlinski die Kategorisierung des Handelsrechts als Sonderprivatrecht: Das Handelsrecht bestehe »aus viel (allgemeinem und besonderem) Schuldrecht, etwas Sachenrecht, einer nicht unerheblichen Menge an allgemeinen Rechtsgeschäftsregeln, zB über Vertretungsprobleme oder den Vertragsschluß (Handelsbrauch; Schweigen) sowie aus personenrechtlichen Regeln über den ›Kaufmann‹ und seine Firma, aber auch über sein 95

F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 1. (S. 419). Divergierende Einschätzungen in der Literatur machen dies deutlich. So geht Endemann für das Recht der Handelsgeschäfte davon aus, »daß das Handelswesen eine Reihe eigenthümlicher Gestaltungen [hervorrufe], welche als unter die Rechtsbegriffe des gemeinen Zivilrechts nicht gehörig, dort nicht ihre Defi nition und Regelung zu fi nden vermögen« [Endemann, Der Entwurf eines deutschen Handelsgesetzbuchs in seinen drei ersten Büchern, 1. Buch (S. 2)]. Dagegen scheint Ehrenberg eine Aufteilung des Handelsrechts auf die ersten drei Bücher der Pandektensystematik grundsätzlich für möglich zu halten. Allerdings würde sie »dazu führen, daß Rechtsinstitute, die denselben oder verwandten wirtschaftlichen Zwecken dienen und für die kaufmännische Auffassung zusammengehören, an ganz verschiedenen Stellen dargestellt werden müßten.« Jedenfalls würde »die Übersichtlichkeit . . . darunter außerordentlich leiden« [Ehrenberg, in: Ehrenberg (Hrsg.), Hdb. des gesamten Handelsrechts, § 3 (S. 24)]. 97 Heck, AcP 92 (1902), 438 (444). 96

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Unternehmen (wo Personen-, Sachen- und Schuldrecht zusammenfl ießen).«98 Auf Grund dieser Eigenheiten lasse sich das Handelsrecht gerade nicht auf einen oder mehrere Teile der Pandekten ohne Aufgabe seines Eigengehalts aufteilen.99 Gleichwohl macht F. Bydlinski eine subtile Einschränkung. Zwar präsentiere sich das Handelsrecht als »existentes Sonderprivatrecht«; seine Ausgestaltung sei aber insofern irregulär, »als es ein umfassenderes Unternehmensrecht sein sollte, weil nur dann trennscharfe Abgrenzung des betroffenen Realitätsausschnitts (und damit des darauf bezogenen Rechtsstoffs) sowie ›normative Spezifität‹ zusammenstimmen«.100 Das Handelsrecht sei – selbst wenn man es als Sonderprivatrecht aufrecht erhalte – in seinem Geltungsbereich unzureichend entwickelt, es sei nur rudimentäres Unternehmensrecht der geschäftlichen Außenbeziehungen.101 II. Fehlender Sonderprivatrechtsgehalt des Verbraucherprivatrechts? Zu einer abweichenden Kategorisierung gelangt F. Bydlinsiki in Bezug auf das Verbraucherrecht, denn bei ihm handele es sich um eine »viel zu unscharfe Idee eines Sonderprivatrechts für Ungleichgewichtslagen«.102 Insbesondere der Verbraucherbegriff sei nicht in der Lage, »die – vielfältigen und ganz unterschiedlichen – Sachverhalte eines massiven Macht- bzw Informationsgefälles für rechtliche Schutzzwecke zureichend zu beschreiben und abzugrenzen«.103 Am Maßstab der Regelungen zum österreichischen Konsumentenschutzgesetz kommt F. Bydlinski zu dem Ergebnis, dass die Regeln des Verbraucherrechts für sich allein nicht verständlich und anwendbar wären, sondern auf Schritt und Tritt von den allgemeinen Regeln des Zivilrechts abhängig sind.104 In dem Verbraucherrecht sieht er daher nicht mehr als einen »globalen programmatischen Aufruf . . ., bei den Optimierungsbemühungen, die der Rechtsentwicklung beständig für die Abwägung der fundamentalen Prinzipien unter veränderten tatsächlichen Umständen aufgegeben sind, die heutigen realen Verhältnisse für Konsumenten sorgfältig zu beachten«105. Ein derart diffuses Postulat sei aber nicht einmal in der Lage, eine zureichende Begründung für auch nur einen Rechtssatz zu liefern.106 98

F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. I. 3. b) (S. 427). Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 13 ff.). 100 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. II. 3. (S. 450). 101 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 3. Hteil. II. 3. (S. 450). 102 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 4. (S. 718). 103 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 4. d) (S. 734); ähnlich: Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 II. 3. Rn. 15a (S. 9, 10). 104 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 4. d) (S. 734, 735). 105 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 4. (S. 719). 106 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 4. (S. 719). 99

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Wie F. Bydlinski weiter ausführt, sei bisher nicht einmal probeweise versucht worden, auch nur eine einzige Regel oder ein einziges Prinzip zu formulieren, das als Bestandteil eines umfassenden Sonderprivatrechts für Ungleichgewichtslagen tauglich wäre und im übrigen Privatrecht keine Rolle spiele.107 Genauso wenig wie das »überkommene« Privatrecht in kritischer oder apologetischer Absicht als ausschließliche Domäne des Prinzips gleicher formaler Freiheit begriffen werden könne, seien Schutztendenzen erkennbar, die ausschließlich dem Verbraucherrecht eigen seien.108 Dieser Ansicht folgen auch Lurger/Augenhofer und äußern Bedenken an der Sonderrechtsfähigkeit des Verbraucherrechts, zumal die Mehrzahl seiner Normen dem Schuldrecht zuzuordnen sei.109 Der Verbraucherbegriff sei nicht nur zu unscharf, sondern auf Grund seiner Situationsbezogenheit auch zu weitläufig, um als sonderprivatrechtlicher Abgrenzungsterminus in Betracht zu kommen.110 Drexl geht sogar noch einen Schritt weiter: Der Verbraucherschutz sei »nichts Besonderes im Verhältnis zum allgemeinen Privatrecht«; im Gegenteil mache die Verbraucherschutzproblematik »auf das richtige Verhältnis der Selbstbestimmung und dessen Schutz in der Privatrechtsordnung aufmerksam«.111

E. Pandektenexterne Freiheits- und Gleichheitstypisierung Wie Drexl an anderer Stelle aber selbst betont, kommt es für die Qualifi kation als Sonderprivatrecht maßgeblich auf »das Auffi nden eines gemeinsamen Bezugspunkts des Rechts« an.112 Hinweghelfen könnte ein solcher Referenzpunkt auch im vorliegenden Zusammenhang, um eine Alternative zu der Begriffskategorisierung zwischen Handels- und Verbraucherrecht zu entwickeln. Dabei ist als erstes auf die Vergleichbarkeit von Handels- und Verbraucherrecht abzustellen: Obwohl der Verbraucherbegriff keine feststehende Gruppe beschreibt, modifi zieren verbraucherrechtliche Vorschriften nicht weniger als handelsrechtliche Regelungen die schuldrechtlichen Vertragstypenleitbilder; sie erheben nicht weniger als das Handelsrecht den Anspruch, eine von dem allgemeinen Vertragsrecht selbstständige Ordnung aufzustellen. Schon dies macht es schwierig, dem Verbrauchervertragsrecht einen geringeren sonderprivatrechtlichen Eigengehalt als dem Handelsrecht zuzusprechen. 107

F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 2. (S. 713). F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 2. (S. 715). 109 Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 13 ff.). 110 Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht, Ziff. 3.1 (S. 13 ff.). 111 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 1 IV. 2. (S. 8); den Sonderprivatrechtscharakter des Verbraucherrechts dagegen offen lassend: Schöttler, Verbraucherschutz durch Verfahren, 1. Teil A. II. (S. 11 ff.). 112 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 3 III. (S. 84). 108

§ 11 Begriff der Sonderprivatrechte – Systembegriff des Vertragsrechts?

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Berücksichtigt man dann noch, dass sich auch die Inhalts- und Ausübungskontrolle des Verbraucherrechts keineswegs besser als die Liberalisierungsmaßnahmen des Handelsrechts in das Pandektenrecht einfügen, gelangt in der fehlgeleiteten Differenzierung zwischen dem Handels- und Verbraucherrecht letzten Endes besonders anschaulich zum Ausdruck, dass es F. Bydlinski bedauernswerterweise offen lässt, auf Grund welcher Kriterien die Möglichkeit der Einordnung in das Pandektensystem konkret zu überprüfen ist. Persönliche und funktionale Kriterien stünden zur Auswahl: Würde man das Vorliegen eines Sonderprivatrechts beispielsweise nur dann bejahen, wenn der betreffende Normbereich auf Grund bestimmter persönlicher Eigenschaften der Vertragsparteien abweichende Regeln aufstellt und in die Pandektensystematik nicht eingeordnet werden kann, wäre nur das Sonderrecht der Handelsverträge als Sonderprivatrecht einzustufen.113 Würde man dagegen auch Normgruppen, die auf Grund einer funktionalen, vertragszweckbezogenen Betrachtung aus der Pandektensystematik herausfallen, als Sonderprivatrechte gelten lassen, könnte wohl auch das Verbraucherrecht als »Sonderprivatrecht« Geltung beanspruchen.114 Sicherlich dürfte es zu kurz gegriffen sein, wie Lurger/Augenhofer ein apodiktisches »Mehr-Weniger«-Verhältnis aufzustellen und lediglich die angeblich in größerem Maße abgrenzungstauglichen persönlichen Merkmale des Handelsrechts (Kaufmannsbegriff), nicht jedoch die weniger an den Status der Person anknüpfenden situativen Merkmale des Verbraucherrechts als »pandektenfremd« ausreichen zu lassen. Denn würde man situative Abgrenzungen generell als unzureichend erachten, ließe man außer Betracht, dass auch zweckbezogene Abgrenzungen (wie z. B. der Unternehmerbegriff, der das Betreiben eines Unternehmens mit einer bestimmten Betriebsorganisation voraussetzt) häufig auf persönlichen Merkmalen aufbauen. So können unterschiedliche Kriterien der Abgrenzung trotz rechtstechnischer Abweichungen zu dem gleichen Ergebnis führen, »dass nicht alle Personen, die in einer bestimmten Situation einen Vertrag mit einem bestimmten Inhalt abschließen, gleichermaßen geschützt werden«.115 Vor diesem Hintergrund erscheint es vorzugswürdig, nicht auf die formale Art der Abgrenzung, sondern auf die in materieller Hinsicht spürbar abweichende Ausgestaltung der Freiheits- und Gleichheitsparadigmen abzustellen, um eine wahrnehmbare Normengruppe als Sonderprivatrecht einzustufen. 113 So etwa: Medicus, in: Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 61 (S. 69); vgl. auch: U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 3. Kap. A. (S. 17). 114 Vgl. auch: U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 3. Kap. A. (S. 17); Bülow/Artz, Verbraucherprivatrecht, 1. Teil 4. Abschnitt A. II. (S. 13). 115 U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 3. Kap. A. (S. 17).

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Dabei sollte im Rahmen des Defi nitionskriteriums »Überprüfung der Aufteilungseignung« darauf abgestellt werden, ob die jeweils in Frage stehende Normgruppe eine Selbstbestimmung propagiert, die von der formalen Gleichheit des Pandektenrechts abweicht und nicht ohne Änderung der im Gesamtkonzept als divergent in Erscheinung tretenden Freiheitsausgestaltung dem pandektistischen Privatrecht einverleibt werden könnte. Für ein Sonderprivatrecht wäre demnach begriffsbestimmend, dass die in Frage stehende Normengruppe auf einer spezifischen Typisierung aufbaut, die im klassischen Pandektenrecht nicht vorzufi nden ist, und dabei die Freiheit des Einzelnen und der typenbezogenen Gemeinschaft über spezifische Umsetzungsinstrumente (unverzichtbar) anders als das klassische Pandektenrecht regelt. Weil sowohl das Handels- als auch das Verbraucherrecht diese Kriterien erfüllen, wäre letztlich jede terminologische Differenzierung zwischen diesen beiden Sonderbereichen willkürlich.116

§ 12 Etatismus und Dualismus – makrojuristische Weichenstellung Erklärt man – wie vorstehend geschehen – die ungleiche Ausgestaltung der »Freiheit« zu einem Wesensmerkmal der Sonderprivatrechte, hat dies gleichsam zur Folge, dass eine wichtige Weichenstellung für die Beurteilung der vertragsrechtlichen Dreiteilung durch das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft getroffen wird, was es näher zu untersuchen gilt. Für das Vertragsrecht ist es vor allem schicksalsbestimmend, inwiefern und mit welcher Nähe zur Privatrechtsgesellschaft dem Staat Interventionsbefugnisse zuzusprechen sind, um die im Grundsatz mit formaler Gleichheit verteilte Privatautonomie in einem dem Gemeinwohl möglichst dienlichen Sinne zu regulieren. Mit den Worten von John Stuart Mill zu sprechen, geht es darum, »[h]ow much of human life should be assigned to individuality, and how much to society«.117 Juristisch stehen für diese Strukturentscheidung zwei Modelle zur Verfügung. Entweder man betrachtet das Privatrecht als Bestandteil einer vorgegebenen Ordnung und räumt ihm einen Primat gegenüber der staatlichen Ordnung ein.118 Im Rahmen eines derart dualistischen Modells könnte man das Privatrecht etwa mit Savigny aus Aspekten wie dem »allgemeinen Volksgeist«119 ableiten oder seinen Vorrang mit naturrechtlichen Konstruktionen

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Im Ergebnis ebenso: K. Schmidt, BB 60 (2005), 837 (838). Mill, On Liberty and Utilitarianism, On Liberty IV. (S. 86). 118 So die historische Beschreibung bei: Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, I. (S. 10, 11). 119 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, §§ 5 ff. (S. 9 ff.). 117

§ 12 Etatismus und Dualismus – makrojuristische Weichenstellung

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begründen120, also z. B. auf Kant121 oder Locke 122 rekurrieren, nach dessen Lehre das Eigentum – und damit das Privatrecht – bereits im Naturzustand vorhanden war. Das Privatrecht wäre nach diesem Ansatz jedenfalls historisch gewachsenes Recht, das sich durch tradierte Institutionen und Typen auszeichnet und folglich in der Hierarchie des Rechts prinzipiell vor dem staatlichen Gesetz rangierte. Die zweite, heute weitgehend einhellig vertretene Alternative bestünde darin, auch im Privatrecht den Vorrang der staatlichen Normenhierarchie anzuerkennen.

A. Staatliche Normenhierarchie und Selbstständigkeit des Privatrechts Wer die Volkssouveränität, die Demokratie und die Gewaltenteilung im Grundsatz achtet, kommt nicht umhin, das Modell einer in Gänze vorstaatlichen Privatrechtsordnung abzulehnen.123 Denn die allgemeinen Rechtsprinzipien, wie sie in der Verfassung und im EG-Recht enthalten sind, bilden für das Privatrecht nicht nur ein wichtiges Fundament, sondern beanspruchen geltungstheoretisch auch Vorrang, sodass staatliche Übergriffe auf den vertraglichen Geschäftsverkehr nicht per se mit dem Argument der »Vorrangigkeit des Privatrechts« abgewehrt werden können. Im einzelnen hat das Grundgesetz »in seinem Grundrechtsabschnitt objektive Grundentscheidungen getroffen, die für alle Bereiche des Rechts, also auch für das Zivilrecht, gelten«.124 Demzufolge dürfen insbesondere »Vorschriften des Privatrechts, die zwingendes Recht enthalten«, nicht in Widerspruch zu den Prinzipien treten, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommen.125 Andererseits kann dies aber nicht bedeuten, dass regulative Eingriffe in den Privatrechtsverkehr allein deshalb gutzuheißen sind, weil sie nach dem Aufbau der Stufenordnung zulässig und nach dem Freiheitsmaßstab der Grundrechte verhältnismäßig sind.126 Denn eine derart etatistische Argumentations120 Hierzu die Übersicht bei: Müller-Freienfels, FS für Rittner (70. Gebtg.), S. 423 (S. 452 ff.). 121 Vgl. hierzu: Thöle, Kant und das Problem der Gesetzmäßigkeit der Natur, S. 6 ff.; Luf, Freiheit und Gleichheit, S. 14 ff. 122 Locke, Two treatises of Civil Government, Book II, Chap. V. § 26 ff. (S. 129 ff.). 123 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, Einleitung I. 1. a) (S. 1, 2); Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 3. (S. 113, 114); Müller-Freienfels, in: FS für Rittner (70. Gebtg.), S. 423 (S. 426 ff.); Isensee, FS für Großfeld (65. Gebtg.), S. 485 (S. 492 ff.). 124 BVerfG – »Handelsvertreter« – Beschluss v. 07. 02. 1990, Az.: 1 BvR 26/84 – BVerfGE 81, 242 (254). 125 BVerfG – »Handelsvertreter« – Beschluss v. 07. 02. 1990, Az.: 1 BvR 26/84 – BVerfGE 81, 242 (254). 126 F. Bydlinski, Das Privatrecht im Rechtssystem einer »Privatrechtsgesellschaft«, I. (S. 2 ff.).

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struktur wäre Ausdruck einer bedenklich verantwortungsblinden Anpassungsfähigkeit, die im Vergleich zu ethisch-rationalen Ansätzen besonders großzügig staatliche Übergriffe auf die Privatrechtsgesellschaft zulassen würde. Sie wäre insbesondere in der Lage, ethische, ökonomische und rationale Erwägungen, die sich jenseits der Normenhierarchie bewegen, vollständig auszublenden.127 Auf diese Weise könnten lückenlose Rechtfertigungsmodelle auch jederzeit für antiliberale Privatrechtsordnungen totalitärer Regimes geliefert werden.128 Dieses Totalitarismusargument macht hinreichend deutlich, dass die Selbstständigkeit des Privatrechts trotz Anerkennung der staatlichen Normenhierarchie nicht vollständig aufgegeben werden darf.129 Gerade der »Vertrag« als zentrales privatrechtliches Kooperationsinstrument bringt die traditionelle Sonderstellung des Privatrechts im System der Gesamtrechtsordnung nach wie vor zum Ausdruck. Müller-Freienfels spricht gar von dem Privatrecht als dem »Reich des staatlich Ungeplanten«.130 Einerseits überschreiten Verträge die Grenze der soziologisch-gesellschaftsautarken Maßnahmen, indem sie in ihrer gesetzlichen Ausgestaltungsbedürftigkeit notwendig auf eine gesetzgeberische Anerkennung angewiesen sind.131 Andererseits werden Verträge aber auch nicht hundertprozentig den Vorstellungen etatistischer Modelle gerecht, weil sie – nicht einmal im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen132 – Resultat delegierter Rechtsetzung sind, sondern privatautonome Rechtsgestaltung verkörpern.133 Eine präsumtive Verbindlichkeit der staatlichen Normen mag damit zwar zur Folge haben, dass man »den methodologischen Einstiegsort für die Rechtsfi ndung in der staatlichen Rechtsordnung zu suchen [hat], ohne damit einem positivistischen Rigorismus das Wort zu reden«.134 Bei wertenden Systemrevisionen wie der vorliegenden dürfen ethisch-rationale und wirtschaftsfunktionale Überlegungen aber auch nicht unberücksichtigt bleiben135, worauf auch Müller-Freienfels mit der von ihm propagierten »Relativierung des Vorrangdenkens« hinweist136. 127 F. Bydlinski, Das Privatrecht im Rechtssystem einer »Privatrechtsgesellschaft«, VII. 3. (S. 76 ff.). 128 F. Bydlinski, Das Privatrecht im Rechtssystem einer »Privatrechtsgesellschaft«, I. (S. 7 ff.); ders., FS für Raisch (70. Gebtg.), S. 7 (S. 21). 129 Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 3. (S. 110 ff.). 130 Müller-Freienfels, FS für Rittner (70. Gebtg.), S. 423 (S. 442). 131 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, § 8 (S. 27). 132 Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, § 4 I. (S. 29 ff.). 133 Vgl. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 2. Kap. § 1 I. 1. (S. 15, 16); Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, § 8 (S. 28, 29); Rittner, FS Müller-Freienfels (70. Gebtg.), S. 509 (S. 515). 134 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, Einleitung I. 1. a) (S. 1, 2). 135 F. Bydlinski, Das Privatrecht im Rechtssystem einer »Privatrechtsgesellschaft«, II., III. und IV. (S. 23 ff., S. 36 ff. und S. 45 ff.). 136 Müller-Freienfels, FS für Rittner (70. Gebtg.), S. 423 (S. 467 ff.); mit einer ähnlichen

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B. Die Zweiteilung der Rechtsordnung in öffentliches und privates Recht Einen engen Bezug zum Vorrangdenken der staatlichen Stufenordnung hat die Stellung des Vertragsrechts im System der Rechtsordnungsdichotomie von Privat- und öffentlichem Recht, welche traditionell als wichtige Schaltstelle bei der Bestimmung des richtigen Rechtsweges fungiert. Damit der Zweiteilung zwischen Privat- und öffentlichem Recht ebenfalls Vorgaben für die Ausgestaltung der Sonderprivatrechte entnommen werden könnten, müsste die Rechtsordnungsdichotomie auch bei dem Erlass von Rechtsakten eine apriorische, dem einfachen Gesetzesrecht vorgelagerte Funktion einnehmen. Wäre dies der Fall, müsste auch der Gesetzgeber, dem Zweck der jeweiligen Legislativmaßnahme entsprechend, die kategorischen Schranken zwischen Privatund öffentlichem Recht einhalten. Die Frage bedarf daher der Erörterung, ob der »abgrenzbare Realitätsausschnitt des Privatrechts, dh die (gegenwärtig) relativ staatsfernen gesellschaftlichen Verhältnisse«, wie F. Bydlinski propagiert, möglicherweise »weder positiv-verfassungsrechtlich noch gar rationalrechtsethisch zur freien Disposition der Gesetzgebung« stehen.137 I. Traditionelle Verortung des Vertragsrechts Im internationalen Vergleich ist »Vertragsrecht« nicht nur in Deutschland sondern in allen nordischen Staaten und so gut wie allen Ländern des civil law system fast ausschließlich privates Recht.138 Vertragsrechtliche Normen sind in der Regel kein Sonderrecht des Staates, der kraft seines Monopols über legitime physische Gewalt verfügt. Auch die Parteien selbst nehmen bei der Vertragsgestaltung keine hoheitlichen Aufgaben wahr, denn sie können in eigener Sache genauso wenig Gesetzgeber wie Richter sein.139 Im Gegensatz zu öffentlich-rechtlichen Normen sind vertragsrechtliche Normen nicht einmal auf einer Seite des Vertrages spezifisch an eine öffentliche Stelle in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger adressiert; vielmehr regeln sie die Rechtsverhältnisse zwischen mehreren Privatpersonen statusunabhängig.140 Vertragsrecht erlaubt die Regelung von Rechtsbeziehungen »auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Privatautonomie . . . und [stellt] . . . dafür in Gestalt seiner Sachnormen die erforderlichen Regeln, Institutionen und Zielrichtung für eine »Freiheit durch Unterscheidung« plädierend: Isensee, FS für Großfeld (65. Gebtg.), S. 485 (S. 513, 514). 137 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1. Hteil. V. 2 a) (S. 80). 138 Hinsichtlich der nordischen Staaten vgl.: Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 22 ff. 139 Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, § 2 (S. 141); so auch: Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 141); in Bezug auf AGB: Ulmer, in: Ulmer/ Brandner/Hensen (Hrsg.): AGB-Recht, Einl. Rn. 46. 140 F. Bydlinski, AcP 194 (1994), 319 (321).

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2. Kapitel: Sondervertragliche Systemvorgaben der Rechtsordnung

Prinzipien zur Verfügung«.141 Es beruht auf den Prinzipien der Privat-, Handlungs-, Güter- und Personalautonomie142 , wobei nicht die Institutionen öffentlich-rechtlicher Normen, sondern die Institutionen des Marktes und der dort herrschende Wettbewerb mit Angebot und Nachfrage über den Vertragsmechanismus wacht143. Auch wenn die eigentliche Anordnung für die Geltung eines Vertrages gemäß der herrschenden Anerkennungstheorie nicht von den Vertragsparteien, sondern von dem Gesetzgeber ausgesprochen wird, ist er seinerseits verpfl ichtet, die Selbstbestimmung der Parteien normativ zu achten.144 Vertragsrechtliche Normen dienen dem Staat nicht dazu, bestimmte Sachbereiche unabhängig von dem Willen der unterworfenen Bürger zu ordnen145 ; ihre Rechtsfolgen sind weder straf- noch ordnungsrechtlich, sondern vielmehr »non-criminal and non-administrative«146 ; teleologische Reduktion und Analogiebildung fi nden als Auslegungsinstrumente uneingeschränkt Anwendung.147 II. Historie und status quo der Rechtsordnungsdichotomie Obwohl bereits das römische Recht eine gewisse Trennung zwischen öffentlichem und privatem Bereich kannte148, zeigten sich erste Anzeichen für die im modernen Staat bedeutsame Aufteilung der Rechtsordnung in diese Unterkategorien des Rechtssystems erst im 16. Jahrhundert, als das Verfassungsrecht sich in Teilbereichen von dem gemeinen Stamm des Gemeinen Rechts loszulösen begann149. Dabei mag die dichotome Formel Ulpians die Herausbildung 141 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 1. Teil 3. Abschnitt § 1 (S. 35); vgl. auch: Rittner, FS Müller-Freienfels (70. Gebtg.), S. 509 (S. 519); Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 3. (S. 105 ff.). 142 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 167 (S. 173). 143 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, § 8 (S. 29, 30); vgl. auch: Richter R. /Furubotn, Neue Institutionenökonomik, IV (S. 148). 144 Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, § 2 (S. 142); Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (163); Mestmäcker, JZ 19 (1964), 441 (442). 145 Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 167 (S. 172). 146 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 23, 24. 147 Vgl. aus rumänischer Sicht: Dincha, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Romania, Tz. 17. 148 Boehmer, Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung, 1. Buch, § 7 B. I. (S. 169 ff.); Molitor, Über öffentliches Recht und Privatrecht, 1. Kap. (S. 8, 9); gegen eine Funktion der Zweiteilung im römischen Recht: Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 2. Abschnitt I. (S. 13 ff.). 149 L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, II. (S. 17); vgl. auch: Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 2. Abschnitt (S. 16 ff., S. 30 ff. und S. 37 ff.); Tilmann, Die Klauselrichtlinie 93/13/EWG auf der Schnittstelle zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht, 3. Teil 1. Kap. B. I. 1. (S. 42 ff.).

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der »öffentlich-privaten« Zweiteilung im Rahmen der Pandektenrezeption zwar auch begünstigt haben. Prägend wurden jedoch die auf Locke und Montesquieu zurückgehende Gewaltenteilungslehre sowie der individualistische Ausgangspunkt des späteren Naturrechts, das erst über den Gesellschaftsvertrag zum staatlichen Denken gelangte.150 In diesem Sinne wurde ab 1750 eine Entwicklung erkennbar, dass sich eine dem Wesen nach bürgerliche Gesellschaft von der Organisation des Staatsapparates abspaltete151, wodurch sich auch die Begriffskategorisierung in »öffentliches Recht« und »Privatrecht« verfestigte. Damit erreichte die Privat- und Vertragsrechtsentwicklung im 19. Jahrhundert einen Punkt, an dem der Staat fortan nur noch eine Rahmenordnung zur Verfügung stellte, um privatautonomes Handeln gleichberechtigter Geschäftspartner dezentral in eigener Verantwortung zu ermöglichen152 , ohne dass für den Gegenstand von Verträgen Inhaltsvorgaben oktroyiert würden. Es entstand das Leitbild der staatsfernen Bürgergesellschaft, die in die Lage versetzt werden sollte, »die Chancen einer ungesicherten selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit trotz ihrer Risiken zu ergreifen und auf diese Weise zugleich im Allgemeininteresse die Wirtschaftstätigkeit zu beleben«.153 In plastischer Übertreibung propagierte Savigny mit seiner Konzeption vom »reinen Privatrecht« ein Vertragsrecht, das wirtschafts- und sozialpolitisch neutral zu sein hatte.154 Die Förderung der Gemeinschaftsinteressen wies er als soziale Aufgabe ausschließlich dem Staat und nicht den Privaten zu. Ihre Regelung habe in öffentlich-rechtlichen Formen zu geschehen, denn seiner Meinung nach führte ein »soziales Privatrecht« gleichsam zur Auflösung des Privatrechts.155 Selbst die wirtschaftliche Gesetzgebung überantwortete er dem Gebiet des öffentlichen Rechts.156 Einen Markstein für die Distanzierung des Vertragsrechts von der Befehlsgewalt des Staates bildete in Deutschland unzweifelhaft die Einführung der Gewerbefreiheit (1869), mit der sich das Privatrecht als wirklich dezentrales Phänomen etablierte.157 Sie sollte die bürgerliche Erwerbsgesellschaft und die 150

Molitor, Über öffentliches Recht und Privatrecht, 1. Kap. (S. 12 ff.). Stolleis, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 41 (S. 55). 152 F. Bydlinski, AcP 194 (1994), 319 (340). 153 Bullinger, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 239 (S. 241); vgl. auch: Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzesund Richterstaat, III. 1. (S. 23). 154 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, § 15 (S. 53 ff.); siehe hierzu auch: Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 6 A. II. (S. 91 ff.). 155 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 6 A. II. (S. 91). 156 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 6 A. II. (S. 91). 157 Bullinger, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 239 (S. 241); Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, III. 1. (S. 23, 24). 151

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2. Kapitel: Sondervertragliche Systemvorgaben der Rechtsordnung

öffentliche Verwaltung »aus ihrer feudalen, patrimonialen und ständischen Verstrickung und Erstarrung« befreien und getrennten, strukturell gegensätzlichen Ordnungen unterwerfen, »die in funktioneller Verbindung wirtschaftliche Beweglichkeit und Entwicklungskraft versprachen«.158 Nicht nur der Liberalismus mit seinem scharfen politischen Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft, sondern auch der Idealismus hat einen Beitrag geleistet, die Dichotomie zwischen öffentlichem und privatem Recht als »apriorisch« hinzunehmen und die Abspaltung der staatsfernen Privatrechtsgesellschaft zu verfestigen.159 Seit dieser Zeit ist die Unterscheidung von öffentlichem Recht und privatem Recht allgemein anerkannt, sodass auch das Vertragsrecht nicht mit staatlicher Lenkung, Zentralismus und Ergebnisgleichheit sondern mit dezentraler Selbstbestimmung, staatlicher Zweckneutralität und Chancengleichheit in Verbindung zu bringen ist. Mittelbar erkennt inzwischen auch das EG-Recht die Staatsferne des Privatrechts an, indem es an versteckter Stelle die Dichotomie zwischen öffentlichem und privatem Recht übernommen hat.160 Zwar ist die EG kein Staat161, sondern ein Zustand »diffuser Zwischenstadien«162 bzw. »eine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art«163. Vereinzelt lässt aber auch das Gemeinschaftsrecht die Zweiteilungstradition erkennen, auch wenn der EG-Vertrag anders als das deutsche Grundgesetz weder bei der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen noch bei der Gewährung von Rechtsschutz ausdrücklich zwischen dem öffentlichen und privaten Recht differenziert. So nimmt etwa Art. 238 EG auf »öffentlich-rechtliche[.]« und »privatrechtliche[.]« Verträge Bezug und Art. 65 EG verweist auf die »justizielle[.] Zusammenarbeit in Zivilsachen«.164 Daneben hat der EuGH in seinem Eurocontrol-Urteil zum öffentlichen Dienstrecht der Gemeinschaft deutlich gemacht, dass auf Gemeinschaftsebene die Begriffe »öffentliches Recht« und »Privatrecht« als autonome Rechtsbegriffe anzuerkennen sind. Von öffentlichem Recht sei immer dann auszugehen, wenn »eine Behörde und eine Privatperson gegenüberstehen . . . [und] die 158 Bullinger, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 239 (S. 241). 159 Stolleis, in: Hoffmann/Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 41 (S. 55–57). 160 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 2 Rn. 51 ff. (S. 24, 25); ders., System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, § 3 II. (S. 42 ff.). 161 Müller-Graff, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 267 (S. 275). 162 Börner, Studien zum deutschen und europäischen Wirtschaftsrecht, Bd. 4, S. 19. 163 BVerfG – »Solange I« – Urteil v. 29. 05. 1974, Az.: 2 BvR 52/71 – BVerfGE 37, 271 (278); vgl. auch: Börner, Studien zum deutschen und europäischen Wirtschaftsrecht, Bd. 4, S. 22. 164 Zum Begriff des Privatrechts in der Gemeinschaft mit substanziierten Ausführungen: Basedow, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. I, S. 43 (S. 43 ff.).

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Behörde . . . im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse« tätig wird.165 Gleichermaßen unterscheidet nicht nur die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln am Maßstab eines funktionellen Staatsbegriffs zwischen originär hoheitlicher Tätigkeit und nicht hoheitlicher Tätigkeit166, sondern auch in das Sekundärrecht hat die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht mittlerweile Eingang gefunden, indem etwa die »Brüssel I«-Verordnung ihren Geltungsbereich (unabhängig davon, welchem Rechtsbereich das entscheidende Gericht zuzuordnen ist) auf Zivilund Handelssachen beschränkt, wohingegen Steuer-, Zoll- und verwaltungsrechtliche Angelegenheiten ausgeklammert bleiben (Art. 1).167 III. Die Stellung des Vertragsrechts in der Rechtsordnungsdichotomie Von dem Verwaltungsaufbau des öffentlichen Rechts grenzt sich das Vertragsrecht eigens dadurch ab, dass der Gesetzgeber den Parteien lediglich durch das Bereitstellen eines Rechtsrahmens die Möglichkeit gibt, ihre tatsächlichen (Gestaltungs-) Vorstellungen mit freier Eigenverantwortlichkeit und gleichen Chancen auf der Grundlage eines rechtssicheren Systems zu verwirklichen.168 Ökonomisch wird die Dichotomie der Rechtsordnung vor diesem Hintergrund auch gleichgesetzt mit der Unterscheidung zwischen »price theory« (die sich mit einer Konnotation zum Privatrecht mit der Analyse von Markttransaktionen beschäftigt) und »public choice theory« (die mit einer Konnotation zum öffentlichen Recht politische Prozesse analysiert), rechtethisch mit der aristo-

165

EuGH – LTU/Eurocontrol – Urteil v. 27. 09. 1968, Rs. 29/76 – Slg. 1976, 1541

Tz. 4. 166 Bezüglich der Grundfreiheiten beispielhaft: EuGH – Kommission/Luxemburg – Urteil v. 02. 07. 1996, Rs. C-473/95 – Slg. 1996, I-3207 Tz. 32 ff.; Kommission/Italienische Republik – Urteil v. 16. 06. 1987, Rs. 225/85 – Slg. 1986, 2625 Tz. 7 ff.; Kommission/Französische Republik – Urteil v. 03. 06. 1986, Rs. 307/84 – Slg. 1986, 1725 Tz. 12; Kommission/Königreich Belgien – Urteil v. 17. 12. 1980, Rs. 149/79 – Slg. 1982, 1845 Tz. 10; bezüglich des Wettbewerbsrechts beispielhaft: EuGH – Strafverfahren Corbeau – Urteil v. 19. 05. 1993, Rs. C-320/91 – Slg. 1993, I-2533 Tz. 10 ff.; Hoefner & Elser/Macrotron – Urteil v. 23. 04. 1991, Rs. C-41/90 – Slg. 1991, I-1979 Tz. 20 ff. 167 Rat – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – ABl. 2001 Nr. L 12 S. 1. Ein anderes Beispiel bilden die Richtlinien zu den öffentlichen Bau-, Lieferund Dienstleistungsaufträgen, die bei der Defi nition ihres jeweiligen Anwendungsbereichs ausdrücklich auf das öffentliche Recht der Mitgliedstaaten verweisen (Rat – Verordnung 93/37/EWG zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge – ABl. 1993 Nr. L 199 S. 54; Verordnung 93/36/EWG zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge – ABl. 1993 Nr. L 199 S. 1; Verordnung 92/50/EWG zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge – ABl. 1992 Nr. L 209 S. 1). 168 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (163).

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telischen Unterscheidung zwischen »corrective justice« (Privatrecht) und »distributive justice« (öffentliches Recht) in Verbindung gebracht.169 Reflektiert man anhand der Rechtsordnungsdichotomie das Recht der Sonderverträge, ist es für die Art der Einteilung als zunächst unbeachtlich zu erklären, dass das Verbrauchervertragsrecht überwiegend der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien dient. Zwar sind die Gemeinschaftsrichtlinien im Aufbau des Stufenbaus eher dem öffentlichen Recht zuzuordnen.170 Für die Qualifi zierung der nationalen Umsetzungsnormen trifft dies aber keine Vorentscheidung. Denn nicht die öffentlich-rechtliche Rechtsnatur der Rechtsangleichungsinstrumente (EG-Richtlinie) kann in diesem Zusammenhang ausschlaggebend sein, sondern allein die privat- oder öffentlichrechtliche Bereichszugehörigkeit der harmonisierten Rechtsmaterie. Nichtsdestotrotz weist das (umgesetzte) Verbrauchervertragsrecht bei näherer Betrachtung zahlreiche öffentlich-rechtliche Elemente auf. 1. Verbrauchervertragsrecht und Gemeinwohlbezug Anlass für eine Überprüfung am Maßstab der Rechtsordnungsdichotomie bietet aber bereits das Handelsvertragsrecht, das mit seiner Bezugnahme auf das Handelsregister signifi kante öffentlich-rechtliche Anklänge in sich trägt.171 Eine noch sichtbarere Verbundenheit mit dem öffentlichen Recht trägt jedoch das Verbraucherrecht zur Schau. Es überschreitet die »tradierte Fächereinteilung in Öffentliches Recht und Privatrecht«172 , indem es seine Zielsetzungen durch »[a]nspruchsvolle, aufeinander abgestimmte Steuerungskombinationen von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Instrumenten« und durch das »unschädliche Zusammenspiel der Eigendynamiken verschiedener sozialer Subsysteme« zu erreichen versucht.173 Zieht man die üblichen Klassifi zierungskriterien heran, kommen im Verbraucherrecht verhältnismäßig viele Symptome zum Vorschein, die auf das Vorliegen von öffentlich-rechtlichen Normen hinweisen. Dies beginnt bereits bei den möglichen Sanktionsfolgen: Während im Handelsrecht die herkömmlichen Rechtsfolgen des Schadensersatzes, des Rücktritts und der Anfechtung etc. gelten, sind im Verbraucherrecht auch ge169

Cane, OxJLSt 25 (2005), 203 (212, 213). Riesenhuber, System und Prinzipien des europäischen Privatrechts, § 3 II. (S. 44). 171 K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, Vor § 1 Rn. 2; ders., Handelsrecht, § 1 I. 1. a) (S. 3); Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung I Rn. 2, 6; Brüggemann, in: Canaris/Schilling/Ulmer (Hrsg.): Staub-HGB, Einl vor § 1 Rn. 14; Ensthaler, in: Ensthaler (Hrsg.): Gemeinschaftskommentar HGB, Einleitung Rn. 9, 10; eine starke Durchsetzung des Handelsrechts durch Vorschriften öffentlich-rechtlicher Natur behauptend, allerdings unter Einbeziehung des Firmen- und Bilanzierungsrechts: Röhricht, in: Röhricht/von Westphalen, HGB, Einleitung Rn. 26 ff. 172 Schuhmacher, in: Krejci (Hrsg.), Hdb. zum Konsumentenschutzgesetz, 1. Kap. II. A. (S. 8). 173 Schneider, DVBl. 110 (1995), 665 (666). 170

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meinwohlorientierte Klagemöglichkeiten von Verbraucherverbänden vorgesehen; sogar eine behördliche Erlaubnis- und Kontrollüberwachung für Kreditanbieter und -vermittler macht die Verbraucherkreditrichtlinie (1987) zur Voraussetzung.174 Darüber hinaus sind Analogiebildungen im Verbraucherrecht in geringerem Umfang als im allgemeinen Vertragsrecht möglich; aus Gründen der Rechtssicherheit kann die zwingende Nichtigkeitsfolge von verbraucherrechtlichem ius cogens nämlich nur dann Rechtsgeltung beanspruchen, wenn eine bestimmte Sachverhaltskonstellation von dem jeweiligen Normtatbestand ausdrücklich bezeichnet wird. Zudem ist die Zwecksetzung des Verbraucherrechts eine zum Teil öffentlich-rechtliche, indem es dem Gemeinwohl dienen will, um sozusagen eine »bessere Lebensqualität für alle« zu schaffen.175 Das unterstellte Interesse der Vertragsparteien an einer ausgewogenen Regelung wird zu einem öffentlichen Allgemeininteresse erklärt, sodass der Staat zu einem »Garant[en] für in freier Selbstbestimmung geschlossene und auch inhaltlich gerechte Verträge« avanciert.176 Indem der Gesetzgeber die Wirkungen eines Gesetzes mit dessen Zielen gleichsetzt, können sich nicht intendierte Wirkungen einstellen, die dann wieder zu Korrekturmaßnahmen führen, was »in aller Regel zusätzlichen Bürokratieaufwand nach sich zieh[t]«.177 2. Verbraucherrecht und subordinative Markterhaltung Ist die Zielsetzung des Verbraucherrechts dem Hoheitsbereich der Leistungsverwaltung vergleichbar, ähneln seine Instrumente den Maßnahmen der Eingriffsverwaltung. Der Gesetzgeber spricht sich die Befugnis zu, bestimmte Parteien »schützen« zu müssen178 – meint, »dafür Sorge tragen [zu müssen], daß der Verbraucher [. . .] angemessenen Schutz genießt«179 bzw. »sicherstellen [zu müssen], daß [. . .] keine missbräuchlichen Klauseln verwendet werden«180. Eine Funktionskumulierung und -vermischung ist die Folge. Das öffentliche Interesse an einer intakten Vertragsordnung und einer optimalen Güterverteilung in einem funktionierenden Wettbewerb verdrängt das private Interesse an einem gerechten Vertrag, sodass die vormals individuelle Ordnungsfunkti-

174 Art. 12 Verbraucherkreditrichtlinie (1987) bzw. Art. 28 Verbraucherkreditrichtlinie (2008). 175 Kommission – Mitteilung der Kommission vom 07. 05. 2002 – »Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006«, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 1.1 (S. 5). 176 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil A. II. 5. (S. 14). 177 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – »Mehr Vertragsfreiheit, geringere Regulierungsdichte, weniger Bürokratie«, Stellungnahme vom 16. 09. 2006, Ziff. I. (S. 3). 178 Erwägungsgrund 9 Timesharingrichtlinie. 179 Erwägungsgrund 16 Verbraucherkreditrichtlinie (1987). 180 Erwägungsgrund 4 Verbraucherkreditrichtlinie (1987).

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on in eine sozial-generelle Ordnungsfunktion umgewandelt wird.181 Auch internationalprivatrechtlich macht sich dies bemerkbar: So wird vielfach argumentiert, dass demjenigen Staat, der eine bestimmte Verbraucherschutzvorschrift erlassen habe, auch international an der effektiven Durchsetzung der von ihm dadurch zum Ausdruck gebrachten Politik gelegen sei.182 Eine mittragende Ursache für die öffentlich-rechtliche Durchdringung des Verbraucherrechts könnte u. a. in dem Kompetenzdefi zit der EG begründet sein, die eben gerade keine originäre Befugnis zur Kodifi kation von Vertragsrecht hat, sondern lediglich einen funktional auf den Binnenmarkt gerichteten Harmonisierungsauftrag erfüllt.183 Wirkt binnenmarktbeeinträchtigend regelmäßig nur markterhaltendes (subordinativ regulierendes), nicht jedoch marktunterstützendes (liberal dezentralisiertes) Vertragsrecht, muss von der EG ein rechtspolitischer Druck ausgehen, markterhaltendes Recht vorrangig zu harmonisieren. Dies bringt es mit sich, dass mit jeder (Verbraucher-) Vertragsrechtsangleichung, die mit dem Auftrag der Binnenmarktförderung durchgeführt wird, ein bestimmter Grundgehalt öffentlicher Zwecksetzung einhergeht. Demgemäß weist harmonisiertes Vertragsrecht nicht selten einen deutlich höheren Gemeinwohlgehalt als Gesetze auf, die rein nationalen Ursprungs sind. Darüber hinaus muss die EG bei der Verabschiedung einer Richtlinie nicht nur die Zielvorstellungen der Aufgabenkataloge der Eingangsartikel des EG-Vertrages (Art. 2 und 3 EG), sondern auch die gemeinwohlorientierten Querschnittsklauseln der Gemeinschaftspolitiken berücksichtigen. IV. Jüngste Entwicklung der rechtsordnungsbezogenen Dichotomie Nichtsdestotrotz gilt es festzuhalten, dass sich die Rechtsordnungsdichotomie mit ihrer erneuten Rückwärtsbewegung, wie sie in jüngerer Zeit stattfi ndet, erkennbar auf ambivalente Mischrechtsbereiche wie das Verbraucherrecht zubewegt.184 Denn insgesamt und im Hinblick auf Verträge ist seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wieder ein Schwund an Dezentralisierung und Staatsfer181

Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil A. II. 5. (S. 14). Zu den sog. »governmental interests« siehe: Flessner, Interessenjurisprudenz im internationalen Privatrecht, § 2 I. (S. 5 ff.); S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. III. 2. b) (S. 29); Currie, Selected Essays on the Confl ict of Laws, Chapter 4 (S. 183 ff.). 183 Vgl. hierzu: Frie, Die Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, C. (S. 37 ff.). 184 Merz, Privatautonomie heute – Grundsatz und Rechtswirklichkeit, IV. 1. b) (S. 15); L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, II. (S. 18); Tilmann, Die Klauselrichtlinie 93/13/ EWG auf der Schnittstelle zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht, 3. Teil 1. Kap. B. I. 2. (S. 44 ff.); zum Rückgang der Rechtsordnungsdichotomie aus spanischer Sicht vgl.: Vaquer, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Spain, Tz. 24; aus schwedischer Sicht vgl.: Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 20; Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der EU, 1.5.6. (S. 127). 182

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ne festzustellen, der sich durch eine zunehmende Missachtung der Grenzen der rechtsordnungsspezifischen Zweiteilung auszeichnet.185 Während die Abschaffung der Monarchie und der Übergang zur Republik das Phänomen der Parlamentsgesetze gefördert hat (mit der Folge, dass man fortan Sachbereiche mit Gemeinwohlbezug aus Verhältnismäßigkeitsgründen vorzugsweise über Privat- statt über Verwaltungsgesetze kodifi zierte)186, scheint auch die Bundesrepublik mit ihrem Verfassungs- und Rechtsschutzsystem fast schon der guten Etikette halber – allerdings weniger unter tatsächlicher Wahrung einer stringenten Systemdichotomie – zu der tradierten Zweiteilung zurückgefunden zu haben.187 Dass die gemeinwohlorientierte Inanspruchnahme konsumentenorientierten Privatrechts schon lange als respektiertes Modell dient, gelangte bereits bei den Beratungen zum AbzG zum Ausdruck, als man eine öffentlichrechtliche Gewerbeaufsicht über den Abzahlungshandel zur Missbrauchsbekämpfung für ungeeignet hielt, weil »das Abzahlungsgeschäft nicht . . . eine sich äußerlich kennzeichnende, besondere Art des Gewerbebetriebs, sondern nur eine Form des Geschäftsabschlusses darstellt, die in den verschiedensten Arten von Gewerbebetrieben Anwendung fi nden kann«.188 Angesichts dieses Dilemmas wurden in der aufblühenden Industriewirtschaft in ständig steigendem Ausmaß »Gesetze zum Zwecke der wirtschaftlichen und sozialen Intervention und Planung in vieler Hinsicht« erlassen189, sodass zahlreiche Autoren zu der Annahme gelangten, »that the principle of contractual freedom was not an automatic key to justice and order in commercial relationships«.190 Ausgebaut wurde dieser Trend im 20. Jahrhundert, als der Gesetzgeber in großem Umfang zwingende privatrechtliche Normen erließ, von denen eine Vielzahl so konzipiert ist, dass sie die »inequality of bargaining power« korrigieren soll.191 185 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 4. Kap. I. II. (S. 388 ff.). 186 Stolleis, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 41 (S. 58). 187 Bereits 1971 stellte Raiser fest, dass schon »seit dem 1. Weltkrieg, wesentlich verstärkt seit dem NS-Regime und, trotz der Rückkehr zu verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien und zu marktwirtschaftlichen Grundsätzen, seit 1945 . . . unter dem Druck der sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen . . . die staatlichen Einwirkungs- und Kontrollrechte auch im klassischen Privatrechtsbereich so deutlich zu[genommen hätten], daß von einem Funktionsverlust des Privatrechts, einer Schrumpfung seines Anwendungsbereichs gesprochen werden« könne [L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, I. (S. 10)]. 188 Entwurf AbzG – Sten. Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 9. Legislaturperiode, II. Session 1893/94, 1. Anlage-Bd., S. 720 (722). 189 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, § 6 Ziff. 1 (S. 17). 190 Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 51. 191 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 III. (S. 323).

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»The function of contracts is, however, in a process of change resulting in the division between private und public law becoming increasingly blurred. There is a trend towards increasing co-ordination between private law and public law.«192

Mittlerweile hat sich im Sinne dieser Entwicklungsbeschreibung eine ungeahnte Verflechtung zwischen öffentlich-rechtlicher Deregulierung und privatrechtlicher Regulierung, gewissermaßen eine »Entprivatisierung des Vertragsrechts« (Martinek) 193 eingestellt.194 Die veränderten sozioökonomischen Vertriebsstrukturen haben einen »öffentlich-/privatrechtlichen« (gesamtwirtschaftlich betrachtet u. U. sogar kosteneffi zienten) Vermischungsprozess heraufbeschworen, der zumindest aus Staatsperspektive mit deutlich geringeren Interventionskosten verbunden ist als wenn in dichotomer Tradition ein ausschließlich öffentlich-rechtlich konstituierter Verwaltungsapparat unterhalten werden müsste.195 Deutlich besser als ein monokratisch organisiertes Steuerungssystem lässt sich die neuerdings dezentrale Regulierung der Privatrechtsgesellschaft auch mit dem Paradigma einer globalisierten Wirtschaft abstimmen.196 Da die Orientierung an stark staatlich geprägten Eingriffsmechanismen einen höheren Kostenaufwand für länderübergreifende Transaktionen bedeutet, wird das Vertragsaxiom selbst rechtspolitisch und im Hinblick auf die internationale Wirtschaftsverflechtung pluralistisch: »[A] contract must be both useful for society and just«.197 V. Legitimität der Gemeinwohlorientierung des Verbraucherrechts Die einerseits traditionell starke Verankerung der Rechtsordnungsdichotomie und der andererseits zu verzeichnende Rückgang ihrer Ausgestaltung werfen die Frage auf, an welchem genauen Maßstab die verbraucherrechtliche Doppelfunktionalität nunmehr zu messen ist. Zum einen wird mit der Deregulierung des öffentlichen Rechts und dem Einbau von Zwangselementen in das Privatrecht zwar zugegebenermaßen »systemwidrige[r] Formentausch oder Formenmissbrauch« betrieben198, sodass sich »durchaus beachtliche Symptome für die Krise der wohlfahrts- und interventionsstaatlichen Umhegung

192 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 25. 193 Martinek, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 156); so auch: Martinek, TSAR 2007, 1 (8). 194 Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 7 (S. 8, 9). 195 Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 2 § 3 B. III. (S. 106 ff.). 196 Schneider, DVBl. 110 (1995), 665 (666). 197 Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 51. 198 Stolleis, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 41 (S. 58).

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der modernen Industriegesellschaft« ankündigen.199 Auf der anderen Seite folgt die »Struktur öffentlicher Aufgaben und gesellschaftlicher Problemlagen« aber insgesamt nicht mehr mit derselben Intensität wie vor einhundert Jahren »den Zäsuren der Rechtssystematik« und »den Feinheiten rechtswissenschaftlicher Disziplinenbildung«. 200 Vielmehr wirkt die iustitia distributiva – also die Verteilungsgerechtigkeit, wie sie im öffentlichen Recht vorherrscht – wegen der Verschränkung von öffentlichem Recht und Privatrecht heute generell in das Zivilrecht hinein. Ob aus den faktischen Überschneidungstendenzen ohne weiteres auch auf die Rechtswidrigkeit der Systemvermischung geschlossen werden darf, erscheint allerdings fraglich. Denn dazu müsste der Entwicklung der Rechtsordnungsdichotomie trotz des Dichotomierückgangs eine »Weichenstellung« zu entnehmen sein, »an der kein Gesetzgeber vorbeikommt«. 201 1. Dänische Dichotomieproblematik durch die Verbraucherrichtlinien Klar positioniert hat sich in dem Dichotomiewirrwarr der dänische Gesetzgeber, indem er einen rechtswidrigkeitsbegründenden Dichotomieverstoß der Verbraucherrichtlinien behauptete. Als Erwiderung auf die Verbraucherrichtlinien hat er sich geweigert, die Einwirkung auf sein Privatrechtssystem hinzunehmen und sich bemüht, die Entscheidungsgewalt über das Zivilrecht in seiner Kontrolle zu behalten, die selbstregulierende, autonome Struktur des Privatrechts zu konservieren und vor den Einflüssen der europäischen Verbraucherrechtsharmonisierung zu bewahren. 202 Bei der Umsetzung der Verbraucherrichtlinien hat er einen minimalistischen Ansatz verfolgt 203, sodass legislative Änderungen im dänischen Vertragsrecht soweit wie möglich vermieden wurden: »Denmark has used the distinction between private law and public law to shield off private law from EU intervention.«204 Ein prominentes Beispiel hierfür liefert die Umsetzung der Binnenmarktklausel der E-Commerce-Richtlinie (Art. 3), die von Dänemark dahingehend interpretiert worden ist, dass sie von vornherein nur öffentlich-rechtliche, nicht jedoch privatrechtliche Beschränkungen erfasse. 205 Gezielt hat es der dä199

Schneider, DVBl. 110 (1995), 665 (666). Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 8. 201 Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 587). 202 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 26. 203 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 26. 204 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 26. 205 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 26. 200

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nische Gesetzgeber daher unterlassen, vertragsrechtlichen Bestimmungen, die dem Wortlaut nach von der Binnenmarktklausel erfasst sein könnten, von den Vorschriften des dänischen E-Commerce-Gesetzes auszuklammern; frei nach dem Ansatz, dass die Verbraucherrichtlinien sowieso nur die öffentlich-rechtlichen Vorschriften harmonisierten, hielt der dänische Gesetzgeber es gar nicht für erforderlich, vertragsrechtliche Vorschriften freizustellen. 206 Ähnlich ging er bei der Umsetzung der Klausel- und Verbrauchsgüterkaufrichtlinie vor: Orientiert an der Unterscheidung zwischen Richtlinienartikeln mit privat- und öffentlich-rechtlichem Regelungsgehalt wurde auch hier eine Umsetzung in nationales Recht teilweise gezielt abgelehnt. 207 2. Zweiteilung und Verbraucherrecht aus deutscher Perspektive Zumindest einer derart apodiktischen Verweigerung ist allerdings zu widersprechen. Denn die Zweiteilung ist »kein zwingendes Gebot juristischer Logik, sondern, wie alle Begriffe und Systementwürfe der Rechtswissenschaft, nur der Versuch, Normenkomplexe zweckmäßig zusammenzuordnen und im Hinblick auf ihre Anwendung zu ›begreifen‹«. 208 Dass Gemeinwohlbelange – wie diejenigen, die das Verbrauchervertragsrecht verfolgt – grundsätzlich auch über zwingendes Vertragsrecht umgesetzt werden können, gelangt nicht nur in vielen Privatrechtsordnungen der übrigen EG-Mitgliedstaaten, sondern auch in der kollisionsrechtlichen Anerkennung zwingender Rechtsvorschriften zum Ausdruck (Art. 34 EGBGB). 209 Kategorische Kodifi kationsschranken lassen sich aus der Rechtsordnungsdichotomie daher nicht ableiten. Zu keinem anderen Ergebnis führen abstrakt-dogmatische Überlegungen. Zwar wird in der Literatur immer wieder vorgebracht, dass das »Recht der Umverteilung . . . primär öffentliches Recht« ist 210, wohingegen Umverteilung 206 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 26. 207 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 26; vgl. auch: EuGH – Kommission/Niederlande – Urteil v. 10. 05. 2001, Rs. C144/99 – Slg. 2001, I-3541. 208 L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, II. (S. 19). 209 So werden in Frankreich zwingende Vorschriften als lois de police oder règles d’ordre public bzw. règles de droit impératives bezeichnet, in den Niederlanden als regels van openbare orde oder dwingende rechtsregels tituliert, in Italien als norme imperative gelten gelassen und in Spanien als normas cogentes zur Verfügung gestellt. Sogar im Bereich des common law scheint sich mit der zunehmenden Verabschiedung von Statutes die Unterscheidung zwischen zwingenden und dispositiven Regelungen zu etablieren. Diese Rechtsvergleichung zusammenfassend charakterisieren auch die Principles of European Contract Law zwingende Vorschriften als (zulässige) Privatrechtsnormen, von denen »die Parteien bei Abschluss ihres Vertrages nicht . . . abweichen können« [vgl. Kommission für Europäisches Vertragsrecht (Hrsg.): Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (dt. Ausgabe v. Bar/ Zimmermann) – Anmerkungen zu Art. I:103 Ziffer 1. (S. 95)]. 210 Zacher, DÖV 23 (1970), 3 (13).

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durch Privatrecht als wenig sachgerecht erachtet wird. 211 Hieraus die denkbare Schlussfolgerung einer apriorischen Unzulässigkeit zwingenden Verbraucherprivatrechts zu ziehen, wäre jedoch unsachgemäß. Denn als Recht der Umverteilung kann das Verbraucherrecht rechtspolitisch erst gar nicht begriffen werden. Schließlich werden Verbraucher gerade nicht als Teilnehmer einer sozial für unterstützungswürdig gehaltenen gesellschaftlichen Gruppe defi niert, sondern setzen sich als situativ fokussierte Mitglieder aus einem ständig wechselnden Marktteilnehmerkreis zusammen. 212 Auch wenn beispielsweise der Umstand, dass ein Großteil der Timesharingkunden den gehobenen Einkommensschichten entstammt 213, es nahelegen mag, frei nach dem Grundsatz »Wer konsumiert, gehört nicht zu den Ärmsten der Armen« (Reichert-Facilides) das Verbraucherrecht als Recht der Wohlhabenden zu begreifen, könnten fi nanzschwache Bevölkerungsschichten allenfalls als Nebeneffekt eines unverhältnismäßigen Verbraucherschutzes aus dem Markt »herausgepreist« werden. 214 Auch verfassungsrechtlich sind verbraucherrechtliche Dichotomiedefi zite nicht erkennbar; denn weder Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG noch Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG lassen sich »defi nitive[.] Aussagen über die materiellen Grenzen einer legislatorischen Erstreckung des Solidarprinzips« entnehmen. 215 Mit Hilfe der deutschen Interessen-, Subordinations- und Zuordnungslehre einen über die »Seins«-Ermittlung hinausgehenden »Sollens«-Satz aufzustellen, um möglichst ex ante Kodifi kationsgegenstände dichotomisch zu kategorisieren, ist ebenfalls nicht möglich, weil diese Theorien keinen Maßstab bieten, um normative Zielsetzungen dem privaten oder dem öffentlichen Recht unmissverständlich zuzuordnen. Daneben lässt sich auch aus den an die Verwaltung gerichteten Dichotomievorgaben kein Gradierungsmaßstab hinsichtlich des zulässigen Gemeinwohlgehalts von vertragsrechtlichen Gesetzesnormen ableiten, sind doch bereits die Verwaltungsorgane im Rahmen des Gesetzesvollzugs grundsätzlich frei zu entscheiden, »ob sie sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben der Form des öffentlichen oder der des privaten Rechts bedien[en]«. 216 Ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung sogar die Verwaltung (die mit der Bindung an »Gesetz und Recht« einem subtiler geregelten Standard als 211

von Hippel, SGb 48 (2001), 352 (354). Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 11 IV. 3. d) (S. 263 ff.). 213 Kelp, Time-Sharing-Verträge, 1. Kap. § 3 III. (S. 35). 214 Direktes Zitat von: Reichert-Facilides, in: Schnyder/Heiss/Rudisch (Hrsg.): Internationales Verbraucherschutzrecht, S. 1 (S. 4); vgl. allgemein: Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 11 IV. 3. d) (S. 263 ff.). 215 BVerfG – Beschluss v. 18. 07. 2005, Az.: 2 BvF 2/01 – BVerfGE 113, 167 (197). 216 BVerwG – Urteil v. 11. 02. 1993, Az.: 1 4 C 18.91 – BVerwGE 92, 56 (64); ähnlich: BFH – Urteil v. 31. 01. 1975, Az.: VI R 171/74 – BGFE 115, 118 = BStBl. II 1975, 563 (566); restriktiver: BGH – Urteil v. 05. 04. 1984, Az.: III ZR 12/83 – BGHZ 91, 84 (95, 96). 212

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der Gesetzgeber zu genügen hat) befugt, zwischen privat- und öffentlich-rechtlichen Handlungsformen zu wählen, muss dies erst recht auf die Legislative zutreffen, hat diese sich doch verfassungsgemäß nur an die abstrakter gefassten Vorgaben der »verfassungsmäßige[n] Ordnung« zu halten (Art. 20 Abs. 3 GG). In diesem Sinne ist auch das BVerfG zu interpretieren, wenn es im LüthUrteil die grundsätzliche Zulässigkeit zwingenden Privatrechts konstatiert, also implizit auch Vertragsrechtsnormen anerkennt, die »aus Gründen des gemeinen Wohls . . . der Herrschaft des Parteiwillens entzogen sind«. 217 Diese Vorschriften gingen ihrem Zweck nach zwar »eine nahe Verwandtschaft mit dem öffentlichen Recht« ein, was aber nicht ihre Unzulässigkeit begründe, sondern sie lediglich »in besonderem Maße dem Einfluß des Verfassungsrechts aussetz[e]«. 218 3. Registersubsidiarität und »Pufferfunktion« des Wettbewerbs(-rechts) Auf diese Weise verkörpert die Rechtsordnungsdichotomie keinen eigenen, an den Formalkategorien der Zweiteilung orientierten Maßstab, sondern ist letztlich nur Ausdruck des hinter der Systemdichotomie stehenden Freiheitsrasters – ist also Sinnbild des Vorrangs der kollektiven Freiheit vor der staatlichen Maßnahme und Inbegriff der Verhältnismäßigkeit kollektiver Eingriffe in individuelle Freiheitspositionen. 219 Um bei dieser Ausgangslage den systematischen Dualismus zwischen öffentlichem und privatem Recht dennoch »nicht kunstvoll-gezielt als sinnlos oder doch zufällig und bedeutungslos dar[zu]stellen«, sollte man die Systemteilung des Rechts in »zwei eigenständige und gleichwertige Rechtsmassen normativ vom Subsidiaritätsprinzip her verstehen« (F. Bydlinski); je nach Aufgabe und Aufgabenerfüllung wäre auf diese Weise einmal der einen, dann wieder der anderen großen Rechtsmaterie der Vorrang einzuräumen. 220 Bereits im Hinblick auf die Dichotomieübergriffe des Handelsvertragsrechts durch das Handelsregister kann dieser Subsidiaritätsgedanke nutzbar gemacht werden: So wären die Eintragungspfl ichten in das Handelsregister aus Subsidiaritätsüberlegungen auf solche Informationsinteressen zu beschränken, die 217 BVerfG – »Lüth« – Urteil v. 15. 01. 1958, Az.: 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 (206). 218 BVerfG – »Lüth« – Urteil v. 15. 01. 1958, Az.: 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 (206). 219 So spricht sich etwa auch Bullinger dafür aus, auf eine »wertende Entgegensetzung von öffentlichem Recht und Privatrecht« zu verzichten [Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 3. Abschnitt II. 3. (S. 112 ff.)]; vgl. zur Funktion der Differenzierung auch: Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 3. Kap. I. 3. b) (S. 50); Basedow, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. I, S. 43 (S. 57). 220 F. Bydlinski, AcP 194 (1994), 319 (350); vgl. auch: F. Bydlinski, FS für Raisch (70. Gebtg.), S. 7 (S. 23); ders., Das Privatrecht im Rechtssystem einer »Privatrechtsgesellschaft«, VII. 3. (S. 77).

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dezentral – d. h. in Eigenregie durch die Privatrechtsgesellschaft – nicht zu erreichen wären. Richtungweisende Folgefragen wirft dieses Ausgangspostulat auf: Müsste wirklich für den (Einzel-) Kaufmannsstatus an sich bereits eine obligatorische Registerpublizität vorgesehen werden oder sollte nicht vielmehr die Registerpfl icht auf solche Funktionen beschränkt werden (wie etwa Firma und Vertretung), die auf dezentraler Ebene nicht verwirklicht werden können? Wäre eine obligatorische Registerpfl icht, sofern sie zur Erlangung der Kaufmannseigenschaft konstituierend ist, nicht auf Gesellschaften zu beschränken, bei denen bereits die Identität und Haftungsverfassung als solche Publizitätsbedarf erzeugen und nicht erst die Firmen- und Vertretungsfunktion eine Eintragungspfl icht erforderlich macht? Wäre die Frage der Eintragungspfl icht nicht generell sachgerechter an dem Begriffspaar der Gesellschaften und natürlichen Personen statt an dem Begriffspaar der Kaufleute und Nichtkaufleute auszurichten? Nicht bloß in Frageform, sondern resolutere Rückgeschlüsse sind im Hinblick auf das Verbrauchervertragsrecht zu ziehen, denn hier ermahnt die Rechtsordnungsdichotomie im Lichte des Subsidiaritätsprinzips vor allem zur Einhaltung der vertragsrechtlichen Marktermöglichungsfunktion, appelliert also dazu, markterhaltendes Recht zur Herstellung von Gerechtigkeit nur dann zum Einsatz zu bringen, wenn der Wettbewerb versagt. 221 Auf diese Weise ist auch aus Dichotomieperspektive in Erinnerung zu rufen, dass dem Wettbewerbs- im Verhältnis zum Verbraucherrecht die Funktion einer »Pufferzone gegenüber einer unmittelbaren Anwendung öffentlich-rechtlichen Instrumentariums, unter Zurückdrängung der Privatrechtsordnung« zugesprochen wird. 222 Wie eine solche Pufferzone ausgestaltet sein könnte, veranschaulichen Ausführungen wie diejenigen von Drexl bzw. Hadfi eld, Howse und Trebilcock. Indem Drexl »kompensatorische« Verbraucherschutzmaßnahmen, die materiale Privatautonomie ermöglichen, etwa nur dann für erforderlich hält, wenn zuvor getroffene »konstitutive« Verbraucherschutzmaßnahmen die Freiheit des Wettbewerbs nicht ausreichend gewährleisten – es also trotz Bestehens formaler Privatautonomie zu einem Vertrags- und Wettbewerbsversagen kommt 223, bringt er zum Ausdruck, dass dem Vertragsparadigma an sich ein nicht regulierter Freiraum verbleiben muss. 221 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 5 III. 3. (S. 92); vgl. auch: Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 2 I. 2. (S. 26 ff.). 222 Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 2. Teil II. 1. e) (S. 50); in diesem Sinne für eine Abstimmung der gesamten Rechtsordnung auf die Grundprinzipien der Wettbewerbsordnung plädierend: Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 1. (S. 26) ; vgl. hierzu: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 1 IV. 4. (S. 9); Mohr, AcP 204 (2004), 660 (684, 685). 223 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 7 IV. (S. 302); vgl. hierzu auch: Reich, Markt und Recht, 4. Kap. (S. 198 ff.).

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Aus eher ökonomischer Sicht nehmen auch Hadfi eld, Howse und Trebilcock die Abgrenzung zwischen Verbraucher- und Wettbewerbspolitik in Angriff: »Whereas competition policy engages a focus on the structure of markets and the options – price, quality, quantity – available to consumers, consumer protection policy engages a focus on the structure of transactions and, in particular, the match between what consumers expect and what they ultimately receive.«224

Würde der Konsument regelmäßig dagegen unter Missachtung der vorbeschriebenen Pufferzone (d. h. selbst in Fällen funktionierenden Wettbewerbs) durch Verbraucherrecht geschützt, würde dies die Kosten des Unternehmers nach oben treiben. Unter Wettbewerbsbedingungen hätte dies zur Folge, dass der Unternehmer die Mehrkosten auf den Abnehmer unvermittelt wieder überleitet. 225 Die eigentlich zum Schutz des Verbrauchers intendierten Spezialgesetze würden sich auf diese Weise (zumindest kostenmäßig) zu seinem Nachteil auswirken. 226 Dies macht deutlich, dass der Sinngehalt der Rechtsordnungsdichotomie Hand in Hand geht mit dem ökonomischen ultima ratioGedanken, wonach die Rechtsordnung ein hypothetisches Verhandlungsergebnis der Beteiligten grds. nur dann simulieren sollte, wenn private Verhandlungen an prohibitiv hohen Transaktionskosten scheitern und auch nicht möglich sind. 227

§ 13 Vertragsrechtsdivergenz und Einheit der Wirtschaftsverfassung Äußerst komplex werden die Dichotomieüberlegungen zu den Sonderprivatrechten, wenn man sie anhand wirtschaftsverfassungsrechtlicher Aspekte – insbesondere auch aus EG-Sicht – reflektiert. Die ideologischen Veränderungen, denen die Vertragsrechtsordnungen in Europa ausgesetzt sind, seitdem Regierungsgewalt nicht mehr vererblich, sondern disponibel ist, haben die deutsche Vertragsrechtsdivergenz nicht unbeeinflusst gelassen. Entsprach die Idee einer dichotomen, auf einen Gesetzgeber zurückzuführenden Rechtsordnung noch der Gedankenwelt des Nationalstaats, wird das Rechtsideal einer dezentral-privaten nationalen Vertragsrechtsordnung seit dem 19. Jahr224 Hadfi eld/Howse/Trebilcock, JCP 21 (1998), 131 (150); zum Verhältnis von Verbraucher- und Wettbewerbsrecht vgl. auch: G. Monti, ERCL 3 (2007), 295 (295 ff.). 225 Aus dem Blickwinkel der Umverteilung durch Privatrecht: von Hippel, SGb 48 (2001), 352 (353). 226 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – »Mehr Vertragsfreiheit, geringere Regulierungsdichte, weniger Bürokratie«, Stellungnahme vom 16. 09. 2006, Ziff. I. (S. 3). 227 Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 2 § 4 (S. 112, 113).

§ 13 Vertragsrechtsdivergenz und Einheit der Wirtschaftsverfassung

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hundert durch zwischenstaatliche Abkommen und seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die supranationale Systemebene des Gemeinschaftsrechts beeinflusst. 228

A. Supranationale Einflussebene und vertragsrechtliche Dreiteilung Auf diese Weise schlägt es sich auch wirtschaftsverfassungsrechtlich nieder, dass derzeit einzig das Verbraucherrecht nahezu geschlossen auf europarechtlichen Vorgaben basiert. Unweigerlich ist es dadurch zu einer (verbraucher-) vertragsrechtlichen Partikularharmonisierung gekommen, was gemeinschaftsrechtlich beeinflusste »einzelne Inseln« des (Verbraucher-) Vertragsrechts hervorrief, die keinen inneren Zusammenhang aufweisen, sondern fragmentarisch, unvollständig, widersprüchlich und ohne in sich stimmige Gesamtsystematik in Erscheinung treten. 229 Auf Grund der EG-rechtlich und mitgliedstaatlich abweichenden ideologischen Einflüsse hat sich das Vertragsrecht unter dem Bannkreis dieses »rechtspolitischen Zweiklangs« schon lange von der realitätsfernen Vorstellung Savignys verabschiedet, dass das »reine Privatrecht« der wirtschaftlichen Entwicklung freien Raum lassen müsse, indem es sich keiner bestimmten Richtung verschreibt und zukunftsoffen bleibt. 230 Es beschreitet quasi einen Mittelweg zwischen der individualistischen Eigentumstheorie, wonach die gesellschaftliche Funktion des Eigentums noch unauflöslich mit dessen individualistischer Natur verknüpft war, und den sozialistischen Eigentumstheorien, die Individualismus als Quelle fortdauernder Interessenkonfl ikte erachten. 231 Wie die vertragsrechtliche Zergliederung aus diesem Blickwinkel mit dem Postulat einer einheitlichen Wirtschaftsverfassung in Einklang zu bringen ist, erscheint allerdings fraglich. 232 Auch wenn man heute an dem Gedanken Savignys von der wirtschafts- und sozialpolitischen Neutralität des internationalen Phänomens »Privatrecht« und der daraus resultierenden freundlichen Zulassung fremden Rechts nicht mehr apodiktisch festhalten kann 233, erscheint es andererseits besorgniserregend, dass selbst Befürworter eines möglichst ausgeprägten Verbraucherrechts in dem derzeitigen Zustand des Ver228 Vgl. Schulte-Nölke/Schulze, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsanglei-chung und nationale Privatrechte, S. 11 (S. 18); I. Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, 1. Kap. § 2 II. 2. (S. 12). 229 W. Kilian, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 427 (S. 427 ff.); Micklitz, ZEuP 6 (1998), 253 (262, 263); vgl. auch: Zimmermann, EuZW 18 (2007), 455 (458); Rittner, JZ 50 (1995), 849 (851). 230 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 6 A. II. (S. 91). 231 Vgl. hierzu: Richter R. /Furubotn, Neue Institutionenökonomik, III (S. 87, 88). 232 Joerges, AG 28 (1983), 57 (66). 233 Vgl. hierzu: Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 6 A. II. (S. 91, 92); Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, § 1 I. 1. (S. 6).

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tragsrechts nicht nur ein Spannungsverhältnis »zwischen einem kompetitiven Vertragsrechtsmodell und pacta sunt servanda« sowie zwischen »dem normativen Verbraucherleitbild des Gemeinschaftsrechts und dem etwa das deutsche Recht beherrschenden Unterlegenheitsschutz« erblicken, sondern auch einen Zielkonfl ikt zwischen »der ausgeprägten europäischen Gerechtigkeitslogik und einer sozialstaatlich distributiven Gerechtigkeitslogik« bzw. der allokativen (Markt-) Gerechtigkeit der Gemeinschaft und der distributiven (sozialen) Gerechtigkeit auf nationaler Ebene registrieren. 234

B. Wechselwirkungen zwischen Wirtschaftsund Vertragsrechtsordnung Wie sich diese Divergenzlage zu der Forderung nach einer einheitlichen Wirtschaftsverfassung verhält, kann anhand einer Kontrastierung der antagonistischen Leitgedanken von markt- und planwirtschaftlichen Vertragsrechtsmodellen veranschaulicht werden. Insbesondere am rechtsordnungsspezifischen Werdegang der vormals kommunistischen Staaten lässt sich evolutorisch nachvollziehen, dass zwischen der Wirtschaftsverfassung eines Landes und der Konzeptualisierung ihres Vertragsrechts Wechselwirkungen existieren. Während marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnungen bestrebt sind, den Geschäftsverkehr dezentral zu »steuern« und den einzelnen Wirtschaftsteilnehmern als Planträgern die Koordination der Pläne durch Mittel des Privatrechts zu überlassen 235, machen planwirtschaftliche Systeme sich typischerweise zum Ziel, den Menschen durch planende Vernunft und Rationalisierung der Güterproduktion und Güterverteilung von seiner wirtschaftlichen Unmündigkeit zu befreien. 236 Obwohl das Fehlen von Privateigentum nicht notwendig auf eine zentrale Leitungswirtschaft bzw. dessen Vorhandensein nicht unbedingt auf Gegenteiliges schließen lässt 237, fi nden Privatrechtsordnungen in dem marktwirtschaftlichen System als Grundlage einer Wirtschaftsverfassung typischerweise ihre Entsprechung. 238

234 Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Vor A 2 Rn. 27; ders., ZEuP 6 (1998), 253 (256). 235 Mestmäcker, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 53 (S. 57). 236 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 1 (S. 1 ff.). 237 Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 2. Teil 2. Kap. II. B. (S. 88, 89). 238 Dagegen treten marktwirtschaftliche Privatrechtsordnungen aus marxistischer Sichtweise eher als »ein chaotisches Gegeneinander im Kampf um besitzfördernde Machtpositionen, [als] ein Zustand der Unfreiheit insbesondere für die wirtschaftlich Schwachen, in dem ›Zufall und Willkür ihr buntes Spiel (treiben)‹« in Erscheinung [Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 1 (S. 1, 2)]; vgl. auch: Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, I. 1. (S. 19, 20); Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 1. (S. 13).

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Während nach klassischer Nationalökonomie die Wirtschaft dem Konsumenten zu dienen hat und ihm auch tatsächlich behilflich ist, stellt die marxistische Kritik dies in Abrede und behauptet, die Wirtschaft sei ausschließlich für das Kapital, für den Profit, aber nicht für den Konsumenten oder Menschen von Vorteil. 239 Leitet man aus dieser Perspektive exemplarisch auf die Vertragsrechtsentwicklung in den ehemals sozialistischen Staaten – etwa in Bulgarien – über, so wird zum einen deutlich, dass sozialistische Regimes üblicherweise kein freies Handelsrecht im marktwirtschaftlichen Sinne kennen, sondern ein stark reglementiertes Einheitszivilrecht aufweisen. 240 Darüber hinaus legt es die prä- bzw. postkommunistische Entwicklung in diesen Staaten nahe, dass eine einheitliche Privatrechtsordnung immer nur sukzessiv, niemals aber kumulativ gleichzeitig mehrere rechtspolitisch divergierende Vertragsrechtsmodelle in sich vereinigen kann. Während beispielsweise in Bulgarien das Zivilrecht ursprünglich aus dem romanischen Rechtskreis rezipiert wurde, konnte das Handelsrecht der germanischen Rechtsfamilie zugerechnet werden. 241 Diese Zweiteilung wurde auch nach Beendigung der Rezeption im Rahmen der Zivilrechtskodifi kation beibehalten. So wurde 1892 zunächst das Obligationen- und Vertragsgesetzbuch und 1897 das Handelsgesetzbuch verabschiedet. 242 Ab 1950 setzte dann aber ein Prozess der ideologischen »Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen« ein, der den Adaptionszwang des Vertragsrechts an die Wirtschaftsverfassung verdeutlicht. So wurde das Obligationen- und Vertragsgesetzbuch (1892) sowie das Handelsgesetzbuch (1897) mit dem Beginn des sog. sozialistischen Rechtssystems zunächst aufgehoben und die vertragsrechtliche Zweiteilung aufgegeben. 243 Nicht nur ein neues einheitliches Obligationen- und Vertragsgesetzbuch sondern auch flankierende Vorschriften zur Sicherung der sozialistischen Ideale und Werte und zur Regelung von Plan und Vertrag wurden verabschiedet. Das Zivilrecht wurde vereinheitlicht und deprivatisiert. 244

239 M. Neumann, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 11 (S. 11). 240 Huang/Chen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, China R. P., Tz. 17; F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1. Hteil. V. 1. (S. 75 ff.). 241 Stoichev, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Bulgaria, Tz. 27. 242 Stoichev, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Bulgaria, Tz. 27. 243 Stoichev, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Bulgaria, Tz. 28. 244 Stoichev, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Bulgaria, Tz. 28.

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Im Jahre 1993 kam es dann erneut zu einer politisch motivierten Wende. 245 Der liberal-marktwirtschaftlichen Orientierung entsprechend wurde jetzt die sozialistische Infi ltration des Vertragsrechts überarbeitet und im Zuge der Revitalisierung des dualistischen Gedankens ein dritter Teil über »Handelsgeschäfte« (Art. 286 bis 606e) dem Obligationen- und Vertragsgesetzbuch hinzugefügt. 246 Auf diese Weise ist die Konnexität zwischen Wirtschaftsverfassung und Vertragsrecht permanent erhalten geblieben, sodass das Vertragsrecht je nach ideologischer Ausrichtung von einem dualistischen zu einem monistischen und wieder zu einem dualistischen (Zivil- und Handels-) System ausgebaut wurde. 247 Zu ähnlichen Systemveränderungen ist es in Ungarn 248 und – weniger weitreichend – in Rumänien 249 gekommen. Vorliegend ableiten lässt sich aus den vorbeschriebenen Wechselbewegungen, dass Vertragsrechtsordnungen, die innerhalb desselben Systems im Hinblick auf ihre Weltanschauung divergieren und sich gerade nicht (wie in Bulgarien etc.) chronologisch nacheinander bilden (sondern innerhalb derselben Wirtschaftsverfassung koinzidieren), nicht nur der individuellen und kollektiven Freiheit im Privatrechtsverkehr keinen homogenen Ausübungsrahmen bieten, sondern u. U. auch dem Konzept einer einheitlichen Wirtschaftsverfassung zuwiderlaufen.

C. Vertragsfreiheit und Pluralität der Wirtschaftsverfassung Transferiert man diese Beobachtungen auf das Zusammenspiel von Privat- und Sonderprivatrechten, drängt sich die Annahme auf, dass vor allem die Parameter der individuellen Freiheit von den Sonderregimes des Handels- und Verbraucherrechts mit ökonomisch abweichenden Funktionsvorstellungen ausgestaltet werden. So wirken die Sonderprivatrechte freiheitsbezogen der demokratischen Idee entgegen, die »Wirtschaft einheitlich einem politischen

245 Dass die bulgarische Entwicklung kein Einzelfall ist, zeigt die Diskussion in Litauen, wo ebenfalls unmittelbar nach der Unabhängigkeit von 1990 debatiert wurde, ob kein Wechsel von dem bisherigen monistischen (Einheitsprivatrecht) zu einem dualistischen Zivilrechtsmodell (Zivil- und Handelsrecht) vorgenommen werden sollte [Mikelënienë/Mikelënas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Lithuania, Tz. 36]. 246 Stoichev, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Bulgaria, Tz. 28. 247 Stoichev, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Bulgaria, Tz. 25 ff. 248 Jabbágyi/Fazekas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Hungary, Tz. 22 ff. 249 Dinca, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Romania, Tz. 9 ff.

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Lebensgesetz zu unterwerfen«250 ; sie fungieren als Instrumente ideologischer Grabenkämpfe, um den Autonomiebegriff in unterschiedliche Abschattierungen aufzugliedern 251. Wendet sich das BGB an einen rational handelnden Adressaten, dessen Typisierung nach dem dialektischen Zivilrechtsverständnis von Marx »bestenfalls als Fiktion, schlimmstenfalls als Verschleierungstaktik« einzustufen wäre252 , scheint das Verbrauchervertragsrecht auch mit planwirtschaftlichen Zügen dem Gesetzgeber »die Rolle des Feldvermessers« zuzuschreiben 253, wobei die Wünsche der Bürger u. U. noch nicht einmal »in dem Inhalt respektiert [werden], wie sie tatsächlich geltend gemacht werden«254. I. Das BGB als Modell des Empfängerschutzes prozeduraler Fairness Charakteristisch für das BGB ist zunächst, dass in diesem die zentrale Bedeutung der Willenserklärung als Geltungsgrund privater Rechtsgeschäfte noch klassisch-loyal zum Ausdruck kommt. 255 Sie ist Instrument der Selbstbestimmung, ein konkretes rechtsfolgengerichtetes Verhalten nach außen zu tragen, und Ausgangspunkt der Selbstverantwortung, alle Rechtsfolgen willentlichen Verhaltens autark zu tragen. Ob eine Willenserklärung abgegeben wurde und diese Bindungswirkungen hervorruft, ist durch Auslegung des zum Ausdruck gebrachten Willens zu ermitteln. 256 Gesetzliche Zugangsvoraussetzung zur Privatautonomie ist allein die Rechts- und Geschäftsfähigkeit der handelnden Rechtsperson. Dabei abstrahiert die Rechtsfähigkeit von der conditio humana des jeweiligen Privatrechtssubjekts, indem sie keine normativ relevante Ungleichbehandlung veranlasst, sondern Sorge für gleiche Ausgangsvoraussetzungen im Geschäftsverkehr trägt. Nicht als Kopie der Wirklichkeit, sondern als Ausdruck originärer Gleichheit 257 stattet sie jeden Menschen mit der gleichen Fähigkeit zum Rechte- und Pfl ichtenerwerb aus. 258 250

Badura, Jus 16 (1976), 205 (209). Zu den Eingriffen von Verbraucherrecht in die Privatautonomie vgl.: Henke, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 43 (S. 48 ff.); Helm, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 61 (S. 61 ff.). 252 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (190). 253 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, § 9 Ziff. 3 (S. 31, 32). 254 Böhm, in: Mestmäcker (Hrsg.): Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, I. 2. (S. 89). 255 Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, § 4 b) (S. 155 ff.); ders., FS zum 100jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 155); Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 3 I. (S. 6); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2. Kap. I. 1. und 5. (S. 44, 51 und 52); Schön, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. I, S. 1191 (S. 1191 f.). 256 Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, § 4 a) (S. 154); vgl. von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 3, § 131 (S. 242 ff.). 257 Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 32. 258 Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 29; begriffsgeschichtlich zur Rechtsfähigkeit: Weick, in: Staudingers Kommentar BGB, Vorbem zu § 1 Rn. 2. 251

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Dass der Mensch bei Geburt keineswegs frei und gleich, sondern »ausgesetzt, hilflos, in unterschiedliche Familien ›hineingeboren‹« wird, bleibt dabei unberücksichtigt 259 ; Differenzierungen wie »nicht lebensfähig«, »nicht bauernfähig«, »nicht ehefähig«, »nicht artrein« oder »nicht von Werktätigen abstammend« werden nicht getroffen 260 ; Bedingungen menschlicher Existenz (Kindheit, Heranwachsen, Pubertät, Reife, Alter, Krankheit usw.) werden übersprungen. 261 Normativ führt dies zu einer »Hebung des durchschnittlichen Standards, wobei das Hervorragende den Maßstab des Durchschnittlichen liefert«. 262 Lediglich durch die Regelungen über die Geschäftsfähigkeit trifft das BGB ansatzweise Differenzierungen mit Gruppenwertung. Während geschäftsunfähige Menschen kategorisch als unqualifi ziert zur Selbstbestimmung eingestuft werden, können sich Menschen, die in der Geschäftsfähigkeit beschränkt sind, zumindest partiell auf Privatautonomie berufen. Beides erfolgt nach objektiven Kriterien, sodass typisierte Personengruppen keine Privilegierung oder Schlechterbehandlung erfahren, sondern alle Marktteilnehmer nach individuellen Kriterien in Zugangs- und Nichtzugangsberechtigte kategorisiert werden. 263 Materielle Gerechtigkeitsaspekte kommen dabei nur dadurch zum Vorschein, dass sich Minderjährige lediglich in Bezug auf solche Geschäfte auf Vertragsfreiheit berufen können, die rechtlich keinen Nachteil für sie bringen. 264 In jedem Fall ist es irrelevant, ob zwischen den Vertragsparteien ein Ungleichgewicht besteht, folgen Verträge mit einem nicht voll Geschäftsfähigen doch den gleichen Regeln wie Geschäfte zwischen zwei nur beschränkt Geschäftsfähigen. 265 Was im Übrigen das Verhältnis zwischen mehreren Verhandlungspartnern anbelangt, schafft zunächst nur die Dogmatik zur Willenserklärung einen prozeduralen Ausgleich. Dürften ausgehend von dem eigentlichen Zweck der Privatautonomie nämlich nur solche Rechtsfolgen einer Willenserklärung eintreten, die »mit dem wirklichen Willen inhaltlich voll übereinstimmen«266, wird der Rechtsverkehr in Wirklichkeit nicht nur durch das geordnet, was jemand erklären will, sondern auch durch das gelenkt, was der andere verstehen darf267. Dem »privatautonomen Postulat, nur den wirklichen, mangelfreien 259

Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 34. Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 34. 261 Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 35. 262 Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 36. 263 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil B. I. (S. 17). 264 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil B. I. (S. 19 ff.). 265 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil B. I. (S. 18). 266 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 35 I. 1. Rn. 1 (S. 642); so noch die Auffassung der Willenstheorie [vgl. hierzu Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 24 IV. 1. Rn. 26 (S. 441)]. 267 BGH – Urteil v. 07. 06. 1984, Az.: IX ZR 66/83 – BGHZ 91, 324 (324 ff.); bestätigend: BGH – Urteil v. 02. 11. 1989, Az.: IX ZR 197/88 – BGHZ 109, 171 (177). 260

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Willen gelten zu lassen«, stellt somit bereits das bürgerliche Vertragsrecht die Notwendigkeit gegenüber, »das Vertrauen des Erklärungsempfängers zu schützen und den Erklärenden an der Verantwortung für seine Erklärung festzuhalten«268. Auf diese Weise wird die selbstbestimmt zum Ausdruck gebrachte Willenserklärung durch die mit Selbstverantwortung zu tragenden Vertrauensbedürfnisse des Rechtsverkehrs relativiert. 269 Die Selbstverantwortung des Erklärenden (als Kehrseite seiner Selbstbestimmung) ist dabei verhältnismäßig weitreichend. Defi zite bei Abgabe der Willenserklärung und in dem Verfahren des Zustandekommens gehen bis zu einem defi nierbaren Grad zulasten des Erklärenden. 270 Selbst Täuschung oder Drohung berechtigen lediglich zu einer Anfechtung (§§ 123, 142 Abs. 1 BGB). Nichtig ist der objektiv gesetzte Rechtsschein einer Willenserklärung nur dann, wenn bereits der Wille fehlt, überhaupt tätig zu werden; die bloße Unkenntnis, eine rechtsgeschäftlich relevante Erklärung abzugeben, bereitet nach überwiegender Meinung dagegen lediglich die Möglichkeit der Anfechtung. Während bei einer Scherzerklärung das Nichtigkeitsverdikt bereits aus der objektiven Offensichtlichkeit der mangelnden Ernstlichkeit resultiert (§ 118 BGB), begründen die Fälle der Mentalreservation (§ 116 S. 2 BGB) und des Scheingeschäfts (§ 117 BGB) Vertragsnichtigkeit nur dann, wenn für den Erklärungsempfänger dieser Willensdefekt positiv erkennbar ist. II. Inhaltliche Fairness – kein Grundsatz des Vertragsrechtsfundaments Jenseits dieses prozeduralen Vertrauensschutzes ist dem BGB eine inhaltliche Modifi zierung des Selbstverantwortungsprinzips aus Fairnessgründen nicht inhärent. 271 Ein Äquivalenzprinzip (laesio enormis) oder eine clausula rebus sic stantibus haben in das BGB keinen Eingang gefunden. 272 Jeder Vertragspartner trägt mit formaler Stringenz die Folgen seines Handelns selbst 273, sodass es lediglich über die Regelungsmechanismen der Märkte zu einem außer268 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 35 I. 1. Rn. 1 (S. 642); zur Diskussion hinsichtlich Wille und Verantwortung im Schrifttum des 19. Jahrhunderts im Überblick: Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2. Teil 1. Abschnitt (S. 157 ff.). 269 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 2 IV. 1. a) (S. 23 ff.); Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 159). 270 Exemplarisch: F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpfl ichtenden Rechtsgeschäfts, 3. Teil I. 1. (S. 176 ff.). 271 Canaris, AcP 200 (2000), 273 (287); Martinek, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 151, 152). 272 Martinek, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 151, 152); ders., TSAR 2007, 1 (5). 273 Vgl. auch Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 159, 160); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 II. (S. 319).

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juristischen Ausgleich kommen kann. 274 Auf diese Weise werden die Interessen von geschäftsfähigen Vertragspartnern weitgehend »ihrer Geschicklichkeit, praktisch aber in Wahrheit oft dem Stärkeren überlassen«. 275 Der Schutz von Privatautonomie erfolgt abstrakt, ohne dass auf Schwächen und Stärken der Vertragskontrahenten Rücksicht genommen wird. 276 Ob ein Kräftegleichgewicht zwischen den Vertragsparteien existiert, ist für die Wirksamkeit des Vertragsschlusses irrelevant und führt unter bestimmten Voraussetzungen vorrangig zu einer Ausübungskontrolle (§ 242 BGB). 277 Nur in den gesetzlich bestimmten Nichtigkeitsfällen erfährt die Selbstverantwortung eine Einschränkung, wobei zwingende Vorschriften vornehmlich in solchen Fällen in den frei verhandelten Vertragsmechanismus eingreifen, in denen Effekte – d. h. die Abwälzung von Kosten und Nachteilen auf Dritte – verhindert werden sollen. 278 Ökonomisch korreliert dieser niedrige staatliche Interventionsgehalt am besten mit einem möglichst wettbewerbsintensiven und transparenten Markt – ein Markt mit vielen Teilnehmern, wenig Externalitäten und geringen Transaktionskosten. Denn selbst wichtige Individualinteressen führen, wie die form- und inhaltsbezogenen Nichtigkeitsverdikte deutlich machen, nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zu einer Durchbrechung des Selbstverantwortungsprinzips (§ 125 S. 1, §§ 134, 138 BGB). 279 Die bloße Störung der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung oder eine inhaltliche Unausgewogenheit genügen nicht. Wie § 138 Abs. 1 BGB demonstriert, muss ein Vertrag vielmehr nach Inhalt, Zweck und Motiv, also nach seinem Gesamtcharakter, sittenwidrig und zudem subjektiv vorwerfbar sein, um das Freiheits- und Verantwortungsprinzip außer Kraft zu setzen. 280 Auch im Rahmen des Wuchertatbestands kommt diese hohe Nichtigkeitsschwelle – ungeachtet der Reform von 1976281 – nach wie vor zum Ausdruck. 274 Kleindiek, in: Hommelhoff/Jayme/Mangold (Hrsg.): Europ. Binnenmarkt: IPR und Rechtsangleichung, S. 297 (S. 301). 275 F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpfl ichtenden Rechtsgeschäfts, 1. Teil VI. 1. (S. 103). 276 Singer, JZ 50 (1995), 1133 (1137); M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 2 II. 1. (S. 10). 277 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 II. (S. 320); Isensee, in: Bayer/Koch (Hrsg.): Schranken der Vertragsfreiheit, S. 9 (S. 18). 278 Vgl. Wagner, ZEuP 15 (2007), 180 (199, 200). 279 Gesetzliche Verbote können auch dem Gemeinschaftsrecht zu entnehmen sein, beispielsweise dem Kartell- oder Beihilferecht (Art. 81 Abs. 2, 87 Abs. 1, 88 Abs. 3 S. 3 EG); vgl. zur Eignung der Grundfreiheiten als Verbotsgesetze: Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2. Teil 1. Abschnitt § 2 D. II. 2. und 3. (S. 72–74). 280 RG – Urteil v. 24. 03. 1930, Az.: VI 383/29 – RGZ 128, 92–102 (96); BGH – Urteil v. 28. 02. 1989, Az.: IX ZR 130/88 – BGHZ 107, 92 (97); RG – Beschluss v. 13. 03. 1936, Az.: V 184/35 – RGZ 150, 1 (2). 281 Während es früher auf die Ausbeutung der »Notlage«, des »Leichtsinns« oder der »Unerfahrenheit« ankam, genügt seit dem Reformgesetz eine »Zwangslage« und damit das

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Grundvoraussetzung ist ein »auffälliges Missverhältnis«, bei dem die Inäquivalenz von Leistung und Gegenleistung evident erkennbar ist. 282 Das dispositive Vertragstypenrecht übernimmt in erster Linie eine Ergänzungs- und keine Kontrollfunktion. 283 III. Materiale Selbstbestimmung und prozedurale Fairness Das Verbraucherrecht bleibt dagegen inhaltlich nicht bei der Dispositivität des Vertragstypenrechts stehen, sondern wandelt viele abdingbare Vorschriften des Vertragsrechtsfundaments materiell- und kollisionsrechtlich in (halb-) zwingendes Rahmenrecht um. Abweichend von dem Mill’schen Grundsatz, »that the individual is not accountable to society for his actions, in so far as these concern the interests of no person but himself«284, nimmt das Verbraucherrecht vor allem den Unternehmer in die Pfl icht. Anders als der Verbraucher kann der Unternehmer nicht nur auf die zu seinen Gunsten wirkenden Rechtspositionen freiwillig verzichten, sondern muss sich im Rahmen der Vertragsverhandlung auch um fremde Belange, nämlich diejenigen des Verbrauchers, kümmern. 285 Die Vertragstypenbilder des allgemeinen Rechts treten dabei teilweise als unabdingbare »Gerechtigkeitsmodelle« in Erscheinung, bei denen weniger die individuelle Absprache als vielmehr die gesetzliche Leitbildtypisierung als Garant ausgewogener Gerechtigkeit fungiert. 1. Verlagerung der Selbst- und Fremdverantwortung durch ius cogens Auch wenn Verbraucherschutz keine Frage der Geschäftsfähigkeit ist 286, hat der Richtliniengeber mit den Verbraucherrichtlinien den praeter legem-Handelndentypus »Verbraucher« kreiert, bei dem ähnlich wie bei der Beurteilung der Geschäftsfähigkeit Erwägungen über die tatsächliche Entscheidungsfreiheit und materielle Gerechtigkeit anzustellen sind. 287 Formal wird dem Verbraucher zwar volle Geschäftsfähigkeit zugesprochen, materiell sind rechtlich Vorliegen einer speziellen, zu einem unausweichlichen Sach- und Geldbedürfnis führenden Situation [1. WiKG – BGBl. I Nr. 93/1976, S. 2034 (S. 2038)]; siehe hierzu auch: Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 9. Kap. III. 2. (S. 144 ff.); Westermann, in: BMJ (Hrsg.): Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 3, Verbraucherrecht, § 2 I. 2. (S. 29)]. 282 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 7 A. IV. 1. (S. 111); vgl. auch: Canaris, AcP 200 (2000), 273 (288). 283 Zur Ergänzungsfunktion und Inhaltskontrolle: Oechsler, in: Staudingers Kommentar BGB, Eckpfeiler des Zivilrechts, »Vertragstypen«, B. und C. (S. 494 ff. und S. 499 ff.). 284 Mill, On Liberty and Utilitarianism, On Liberty V. (S. 108). 285 Vgl. zum zwingenden Charakter generell: Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil A. III. 1. (S. 23). 286 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 6 III. 1. Rn. 27 (S. 116). 287 Vgl. zu den Wertungsaspekten des Rechts der Geschäftsfähigkeit: Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil B. I. (S. 18 ff.).

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nachteilige Geschäfte aber ähnlich wie bei Minderjährigen eingeschränkt. 288 Vor dem Hintergrund des 1970er Jahre-Ansatzes einer systematischen »Verbrauchererziehung« scheint damit heute umso mehr die Einstufung des Verbrauchers als ignoranter, erwachsener Geschäftsunfähiger verbreitet zu sein. 289 »[C]ontrol . . . through the extension of individual choice« wird folglich nicht allen Erwachsenen gewährt 290, vielmehr die Gesellschaft in die Gruppe derer eingeteilt, »die in der Lage und Willens sind, selbstverantwortlich ihre Angelegenheiten rechtlich zu regeln, und derjenigen, bei denen nur noch staatliche Ordnung den Schutz und Geschäftserfolg des Einzelnen und vertragliche Austauschgerechtigkeit gewährleisten kann«291. Fordert das bürgerliche Recht nur den rechtlichen Freiraum des Einzelnen zum Vertragsschluss, nicht jedoch seine tatsächliche Möglichkeit zur Freiheitsausübung (formales Freiheitsverständnis), setzt das Verbraucherrecht zusätzlich materiale Vertragsautonomie im Sinne einer realen Autonomie, frei von faktischen Hindernissen, voraus. 292 Auch von außen herangetragene faktische Ereignisse und in der Person des Verbrauchers selbst begründete Defi zite sollen kompensiert werden. 293 Zum Tragen kommt auf diese Weise, dass das Verbraucherrecht »Präferenzautonomie« abweichend defi niert, d. h. eine normative (evaluierte) Präferenzautonomie einer positiven (eigengewollten) Präferenzautonomie in gewisser Hinsicht vorzieht. 294 Der Gesetzgeber attestiert dem Verbraucher implizit eine »schlechtere« Möglichkeit zur Willensbildung, unterstellt in b2c-Beziehungen also von vornherein ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie und Gleichheit. 295 Er vermutet, dass die rein 288

Kritisch hierzu: Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 3. Teil II. 2. b) aa) (S. 277). In diese Richtung auch Malaurie tendierend, der das Verhältnis zwischen »législation consumériste« und »consommateur« wie folgt beschreibt: »elle tend à faire du consommateur un ignorant et un incapable majeur.« [Malaurie, in: Beauchard/Couvrat (Hrsg.): Droit civil, prodédure, linguistique juridique, S. 309 (S. 311)]; zum Ansatz der »Verbrauchererziehung« siehe: K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, III. Kap. 2. (S. 91); Dichtl, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 23 (S. 30); Berke, in: Dichtl (Hrsg.): Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft, S. 161 (S. 161 ff.). 290 Aus der Perspektive der »Contractualization of Social Life«: Collins, Regulating Contracts, Part 1–2. (S. 20). 291 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, Einführung D. (S. 5); vgl. auch: Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, III. 4. (S. 27, 28). 292 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2. Kap. II. 1. (S. 53, 54); Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, Einführung A. II. (S. 9); U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 2. Kap. B. I. 2. b) (S. 8, 9); Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 31 Rn. 897 ff. (S. 358 ff.); zur Unterscheidung zwischen rechtlicher und tatsächlicher Entscheidungsfreiheit siehe: Canaris, AcP 200 (2000), 273 (277 ff.). 293 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, Einführung A. II. 1. (S. 10, 11). 294 Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 4 § 7 (S. 326). 295 Aus ökonomischer Sicht: Hutt, Economists and the Public, Chapter XV (S. 248 ff.). 289

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juristische Möglichkeit des Verbrauchers zur freien Verhandlung nicht automatisch Vertragsgerechtigkeit zur Folge hat, Freiheit und Gleichheit also nicht als »Partner«, sondern als »Gegenspieler« zu begreifen sind. 296 Auch der Bereich der Rechtswahlfreiheit wird hiervon mittlerweile erfasst 297, sodass auch kollisionsrechtlich autonome Entscheidungsstrukturen zwischen Anbieter und Verbraucher nur noch dann bejaht werden, wenn der Verbraucher wirklich selbst bestimmen kann, was er will, von seiner Vertragsfreiheit also »sinnvoll Gebrauch . . . machen« kann. 298 Vermittelt über die kollisionsrechtlich für zwingend erklärte Sachrechtstypisierung wird im Einzelfall selbst dann von der vertraglichen Inhaltskontrolle kein Abstand genommen, wenn der Verbraucher im konkreten Einzelfall selbstbestimmt agieren könnte oder er etwa sogar den Rechtsschein erweckt, Unternehmer zu sein. 299 Auf diese Weise kommt es nicht mehr zu einer individuell-verkehrswirtschaftlichen Wertbildung im Sinne einer Wertbildung von unten nach oben, sondern zu einer durch das Gemeinwesen vorgegebenen Wertebündelung von oben nach unten. 300 Ökonomisch betrachtet können aus den damit einhergehenden Marktinterventionen negative (externe) Effekte resultieren, erschweren die verbraucherrechtlich-regulierungsbedingten Transaktionskosten einem marktschwachen Unternehmer doch gegebenenfalls den Marktzutritt (oder machen ihn sogar unmöglich), was der Förderung zusätzlichen Wettbewerbs abträglich sein kann. 301 2. Kollisionsrechtliche Besonderheiten des Verbraucherrechts Während nach der allgemeinen Vermutungsregel des Art. 28 Abs. 2 EGBGB in den meisten Fällen die Erbringung der charakteristischen Leistung zum ausschlaggebenden Faktor avanciert, sodass Geschäfte und Leistungen eines unternehmerischen Anbieters regelmäßig nach dem Recht seiner Niederlassung 296 Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, B. III. 1. b) (S. 71). 297 S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. III. 5. c) (2) (S. 46). 298 So die generelle Umschreibung für ein materiales Verständnis der Vertragsfreiheit bei: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 31 Rn. 898 (S. 359); vgl. im Hinblick auf den Ausgleich von Imparität bei der Rechtswahl: Flessner, Interessenjurisprudenz im internationalen Privatrecht, § 4 III. 4. (S. 109, 110); Imhoff-Scheier, Protection du Consommateur et Contrats Internationaux, 2. Kap. 2. Abschnitt § 1 B. (S. 81 ff.); Martiny, in: Reithmann/ Martiny (Hrsg.): Internationales Vertragsrecht, 1. Teil A. IV. 4. (Rn. 41 ff.); Leclerc, La protection de la partie faible dans les contrats internationaux, Tz. 221, 222 (S. 223, 224); Neuhaus, Die Grundbegriffe des internationalen Privatrechts, § 33 (S. 257 ff.); Vander Elst, FS für Rigaux, S. 507 (S. 515). 299 Zur Rechtsscheinshaftung ggb. einem Scheinunternehmer: Herresthal, JZ 61 (2006), 695 (703). 300 Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 3. Teil 2. Kap. II. A. (S. 167, 168). 301 Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 2 § 4 B. (S. 144 ff.).

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und diejenigen eines privaten Anbieters nach dem Recht seines Wohnortes zu beurteilen sind, erklären verbraucherrechtliche Kollisionsnormen antagonistisch die Schutznormen des Verbraucherlandes für anwendbar. 302 Wird ein Vertrag nach klassischem IPR-Vertragsrecht also gewissermaßen dem Recht zugewiesen, dem es als Rechtsverhältnis – »seiner eigenthümlichen Natur« nach (Savigny) 303, gemäß dem »Schwerpunkt der räumlichen Beziehung« (O. von Gierke) 304 bzw. nach der »Natur der Sache« (C. L. von Bar) 305 – angehört306, propagiert das Verbraucherrecht eine Abkehr von dieser scharfen Trennung zwischen Kollisions- und materiellem Recht. Es weicht von der entpolitisierten Abgrenzung zwischen Staat und Gesellschaft ab307 und verhindert, dass die Parteien jenseits international zwingender Normen selbstbestimmt über ganze Rechtsordnungen disponieren können (Art. 27 EGBGB) 308. Es bildet ein Fairness hervorbringendes Substitut für den klassischen gerechtigkeitsindifferenten Grundsatz, dass ohne Rechtswahl die objektiv engste Verbindung des Vertrages ausschlaggebend sein soll (Art. 28 EGBGB). 309 Dementsprechend materialisieren verbraucherrechtliche Kollisionsnormen das Paradigma der Parteiautonomie, indem sie jenseits der allgemeinen Rückfallklausel des Art. 27 Abs. 3 EGBGB für den passiven Verbraucher materiellrechtlich zwingende Vorschriften unter Umgehung von Art. 34 EGBGB zu kollisionsrechtlich zwingenden Rechtswahlbeschränkungen hochstufen. 310 In evidenter Abkehr von der Maxime der Austauschbarkeit der Privatrechtsordnungen (nach der alle Rechtsordnungen als gleichwertig angesehen werden) 311, existieren in diesem Sinne mittlerweile zwei Sonderanknüpfungen für Verbraucherverträge, von denen Art. 29 EGBGB die Vorgaben des Art. 5 EVÜ und Art. 29a EGBGB die Vorgaben des IPR-Richtlinienrechts »transformiert« 302 S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. III. 5. c) (1) (S. 44, 45); G.-P. Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, 3. Kap. I. (S. 90 ff.). 303 von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 8, § 360 (S. 108). 304 O. von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. I, § 25 III. 7. (S. 217). 305 C. L. von Bahr, Lehrbuch des internationalen Privat- und Strafrechts, § 31 a) (S. 107). 306 Zur alten Schule des IPR im Überblick: Martinek, TSAR 2007, 277 (277 ff.). 307 Junker, IPRax 18 (1998), 65 (65, 66). 308 Martiny, in: Reithmann/Martiny (Hrsg.): Internationales Vertragsrecht, 1. Teil B. I. 1. b) (Rn. 56); Rinze, JBL 1994, 412 (412 ff.). 309 Junker, IPRax 18 (1998), 65 (65, 66); Leible, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 353 (S. 354). 310 S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. II. 2. (S. 17); für die Gleichsetzung sachrechtlich zwingenden mit kollisionsrechtlich zwingendem Verbraucherrecht plädierend: Freitag, in: Reithmann/Martiny (Hrsg.): Internationales Vertragsrecht, 4. Teil B. II. 4. (Rn. 420). 311 Vgl. Leible, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 353 (S. 354); W.-H. Roth, in: FS für Sonnenberger (70. Gebtg.), S. 591 (S. 608).

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(Klausel-, Timesharing-, Fernabsatz- und Verbrauchsgüterkaufrichtlinie). 312 Die daraus resultierende Begünstigung des Verbrauchers wird u. a. damit gerechtfertigt, dass es ein professioneller Anbieter bedingt durch economies of scale wesentlich besser in der Hand habe, Vorkehrungen zu treffen, um die Unsicherheiten im Umgang mit internationalen Verträgen zu bewältigen. Er verfüge nicht nur bereichsspezifisch über mehr Erfahrung, sondern auch über bessere Organisationsstrukturen, um sich schon bei der Vertragsvorbereitung auf das Vertragsrecht bestimmter Staaten einzustellen. 313 IV. Das transzendierte Freiheitsverständnis des Handelsrechts Im Handelsvertragsrecht wird die Berücksichtigung von »Schwächerenpositionen« dagegen derzeit nur als künftige Entwicklung angedeutet. 314 Immer noch setzt das Handelsrecht sich kollisions- und sachrechtlich überwiegend aus marktunterstützenden Vorschriften zusammen, die aus ökonomischer Sicht eine Entlastungsfunktion erfüllen. Es gestaltet den Vertragsinhalt kostengünstig aus und will »nichts anderes als eine Ersatz- oder Reservevertragsordnung« zur Verfügung stellen. 315 Es folgt genauso wie das bürgerliche Recht dem Vorrang der erläuternden Auslegung, sodass bei Regelungen, bei denen der Parteiwille zumindest unvollkommen zum Ausdruck gelangt und erkennbar ist, ein Rückgriff auf gesetzliches Vertragstypenrecht gar nicht in Betracht kommt. 316 Nur im Übrigen, d. h. soweit eine objektiv-normative Auslegung unter Berücksichtigung des Text- und Sinnzusammenhangs sowie der Verkehrssitte als »Katalysator« der Privatautonomie nicht möglich erscheint, wird marktunterstützenden Rechtsvorschriften ein Anwendungsbereich eingeräumt. 317

312 Zu den Neuregelungen der Rom I-Verordnung, die im Dezember 2009 in Kraft treten, siehe: Europäisches Parlament/Rat – Verordnung 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) – ABl. 2008 Nr. L 177 S. 6. 313 S. Klauer, Das europäische Kollisionsrecht der Verbraucherverträge, 1. Kap. III. 5. b) (S. 40). 314 Erstmals gelangt dieser Ansatz in der Rom I-Verordnung zum Ausdruck [Art. 4 Abs. 1 e) und f)], wonach bei Franchise- und Vertriebsverträgen ausnahmsweise nicht die Niederlassung des Anbieters, sondern der gewöhnliche Aufenthalt des Abnehmers zum maßgeblichen Anknüpfungspunkt avanciert [siehe hierzu: Europäisches Parlament/Rat – Verordnung 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) – ABl. 2008 Nr. L 177 S. 6 (S. 11)]. 315 Grundmann, ZHR 163 (1999), 635 (650); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 12. Kap. 3.1 (S. 426); Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 1 § 2 B. II. (S. 64). 316 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2. Kap. I. 4. (S. 48). 317 Martinek, Modernde Vertragstypen – Bd. I, § 2 I. 2. (S. 17, 18); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2. Kap. I. 4. (S. 48).

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1. Modifizierung von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung Zwar setzt sich auch im Handelsvertragsrecht die Privatautonomie aus der Möglichkeit zur Selbstbestimmung und der Obliegenheit zur Selbstverantwortung zusammen. Anders als im Verbraucherrecht, in dem die bürgerlichrechtlichen Anforderungen an die Selbstbestimmung heraufgesetzt und korrespondierend dazu die Obliegenheit zur Selbstverantwortung herabgestuft ist, reduziert das Recht der Handelsgeschäfte die Voraussetzungen an die Selbstbestimmung allerdings, während es die Anforderungen an die Selbstverantwortung anhebt. Einerseits hat dies eine Erweiterung der Privatautonomie zur Folge, wodurch die Wirtschaft die Möglichkeit erhält, zeitgemäße Normen in erheblichem Umfang selbst durch Vertragsklauseln, Satzungsbestimmungen, AGB und Handelsbräuche zu schaffen. 318 Andererseits bewirkt diese Sonderbereichsentwicklung aber auch eine Einschränkung der Freiheit zur Untätigkeit, indem viele handelsrechtliche Rechtsfolgen nicht auf dem Willensprinzip, sondern auf dem Verkehrsschutzgedanken319 und der Rechtsscheinshaftung320 basieren. Die Privatautonomie wird somit gerade auf der anderen Seite der Materialisierungsskala modifi ziert, indem u. a. die »erhöhte Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Vertragsgestaltung . . . durch einen erhöhten Freiraum auch zum Abschluss risikoreicherer Geschäfte« sanktioniert wird. 321 Insgesamt wird das Recht der Handelsgeschäfte durch ein Konglomerat an heterogenen Liberalisierungstendenzen durchzogen, die als eine »Sammlung von Variationen über bürgerlichrechtliche Themen« in Erscheinung treten. 322 Abgesehen von dem numerus clausus der kaufmännischen Orderpapiere323 kommt es zu Freiheitserweiterungen hinsichtlich des Vertragsabschlusses sowie des Inhalts handelsrechtlicher Sonderverträge, die durch zwingende Vorschriften bezüglich der Abwicklungs-, Kontroll- und Anpassungsphase einen Ausgleich erfahren (z. B. § 15 HGB, §§ 25, 27 HGB, §§ 49, 50 Abs. 1 HGB). 324 Dem Individualschutz wird auf diese Weise weniger Gewicht als dem Verkehrsschutz beigemessen325, sodass Rechtsfolgen dem Kaufmann nicht nur dann zugerechnet werden, wenn er sie will, sondern auch dann, wenn er sie

318 319 320 321

Herber, ZHR 144 (1980), 47 (47). K. Schmidt, Handelsrecht, § 19 II. 2. c) (S. 553). Canaris, Handelsrecht, § 23 Rn. 9 ff. (S. 356). Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil A. II. 6. (S. 15,

16). 322

Canaris, Handelsrecht, § 1 Rn. 47 (S. 17). Vgl. hierzu: Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, § 363 Rn. 6. 324 Vgl. auch: Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, Einleitung I Rn. 5; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 4 II. (S. 51 ff.). 325 Hagenguth, Die Anknüpfung der Kaufmannseigenschaft im internationalen Privatrecht , 3. Teil I. 2. a) (S. 99). 323

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mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns auch nur verhindern könnte. 326 Aber selbst auf die Inhaltsfreiheit im Rahmen der Anbahnungsphase kann sich die Maßstabssteigerung bezüglich Sorgfaltspfl ichten und Obliegenheiten letztlich auswirken, indem z. B. die AGB-mäßige Abbedingung der unverzüglichen Untersuchungs- und Rügepfl icht im Hinblick auf offene Mängel (§ 377 HGB) wegen Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung für nichtig erklärt werden kann (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB). 327 2. Verkehrstypisches Verhalten als privatautonome Selbstbestimmung Insbesondere die Situationsabhängigkeit der Anforderungen, die an die Selbstbestimmung jeweils zu stellen sind, wird im Recht der Handelsgeschäfte auf diese Weise deutlich. Während Selbstbestimmung unter Nichtprofessionellen mit dem Willensprinzip nahezu gleichzusetzen ist, kann im Bereich der Handelsgeschäfte Selbstbestimmung auch durch eine dezimierte Form verkehrstypischer Verhaltensweisen zum Ausdruck gebracht werden. Anschaulich wird dies am Beispiel des § 362 HGB, der dem Kaufmann in bestimmten Situationen die Freiheit zum Untätigbleiben abspricht. Das Phänomen, dass Schweigen auf einen Antrag als Zustimmung gilt, wird in diesem Zusammenhang vielfach als Rechtsscheinshaftung kraft verkehrsmäßig typisierten Verhaltens defi niert. 328 Zwar wird im Handels- wie im bürgerlichen Recht Vertrauen auf den Schein nur dort geschützt, wo »der Verkehr es erfordert, und nur, soweit der andere Teil berechtigtermaßen auf den Schein vertrauen darf«. 329 Da die Verkehrsund Erwartungshaltung im Handelsverkehr allerdings eine qualifi zierte ist, kann die Rechtsscheinshaftung neben vertragsrechtlichen Nebenaspekten (Vollmacht, Abgabe einer Willenserklärung etc.) auch Surrogat für die eigentliche Willenserklärung sein. 330 Auch wenn dies auf den ersten Blick den Anschein einer systemwidrigen Durchbrechung des klassischen Willensprinzips hervorruft, ist das Vorliegen einer Willenserklärung bei genauer Betrachtung bereits für das bürgerliche Vertragsrecht keine unabdingbare Voraussetzung. Auch hier werden (wenn auch nicht im gleichen Maße) verkehrstypische Verhaltensweisen, die das Anforderungsprofi l einer Willenserklärung nicht erreichen, als selbstbestimmte Erscheinungsform eines vertragsbegründenden Ver326 Vgl. hierzu: M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 4 I. 1. (S. 75). So erstaunt es auch nicht, dass der Grundsatz von Treu und Glauben in Europa traditionell als Sonderphänomen des Handelsrechts angesehen wurde [Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, Teil 1 (S. 52)]. 327 LG Gera – Urteil v. 08. 07. 2004, Az.: 1 HK O 26/04 – MDR 2005, 101 (101, 102). 328 Canaris, Handelsrecht, § 23 Rn. 1 ff. (S. 353 ff.). 329 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (134). 330 BGH – Urteil v. 30. 10. 1990, Az.: IX ZR 239/89 – WM 45 (1991), 554 (557); Urteil v. 04. 05. 1951, Az.: II ZR 52/50 – BGHZ 1, 353 (355, 356).

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haltens gelten gelassen – so etwa in der Situation der bürgerlichen Schenkung, wo ausnahmsweise auch Schweigen als Annahme angesehen wird (§ 516 Abs. 2 S. 2 BGB). 331 Demgemäß ist es folgerichtig, dass sich Ansichten nicht durchsetzen konnten, wonach § 362 HGB als typisierte Erklärung mit normierter Wirkung332 , als gesetzliche Fiktion einer Willenserklärung333 oder Folge einer Pfl icht- bzw. Obliegenheitsverletzung334 zu qualifi zieren ist, sondern vielmehr vom Vorliegen eines Tatbestands der Rechtsscheinshaftung335, eines Handelsbrauchs der Erwartung erhöhter individueller Geschäftsbereitschaft336 oder eines durch die berufl iche Spezialisierung hervorgerufenen Erwartungstatbestands337 auszugehen ist. In diesem Sinne bauen auch die Grundsätze zum kaufmännischen Bestätigungsschreiben als Tatbestand der Rechtsscheinshaftung338 bzw. als Gewährleistungssatz der Verkehrssicherheit 339 weitgehend auf willensentkoppelten (objektiven) Elementen auf340, womit sich der Eindruck verfestigt, dass die auf den Rechtsgedanken der §§ 75 h, 91a, 362 HGB zurückzuführende Bindungswirkung des Schweigens zwar »im Verhältnis zu den bürgerlichrechtlichen Grundsätzen über die Behandlung des Schweigens im Rechtsverkehr Ausnahmecharakter hat«, innerhalb des Handelsrechts aber »durchaus einer Verallgemeinerung zugänglich« ist. 341

331 Hopt, AcP 183 (1983), 608 (635); zum Schweigen als Zustimmung vgl. auch § 416 Abs. 1 S. 2 BGB bzw. zum Schweigen als Ablehnung vgl. § 108 Abs. 2 S. 2, § 177 Abs. 2 S. 2 und § 415 Abs. 2 S. 2 BGB. 332 Schumann, Handelsrecht, Bd. II, § 3 I. (S. 26); Manigk, Das rechtswirksame Verhalten, § 15 (S. 279 ff., 287); ders., Irrtum und Auslegung, § 15 (S. 274); Krause, Schweigen im Rechtsverkehr, § 4 I. (S. 127 ff.). 333 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 172 ff.); ders., Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 10 Ziff. 2 (S. 120); Welter, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, § 362 Rn. 15; Roth, W.-H. Roth, in: Koller/W.-H. Roth/Morck (Hrsg.), HGB, § 362 Rn. 4. 334 Hanau, AcP 165 (1965), 220 (236 ff.); Fabricius, JuS 6 (1966), 1 bzw. 50 (51 ff.); R. Schmidt, Die Obliegenheiten, 3. Teil 3. Abschnitt III. (S. 122 ff.). 335 Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, § 19 I. 2. (S. 200 ff.); ders., Handelsrecht, § 23 Rn. 1 ff. (S. 353 ff.). 336 K. Schmidt, Handelsrecht, § 19 II. 2. c) (S. 553). 337 Hopt., AcP 183 (1983), 608 (644 ff.). 338 Canaris, Handelsrecht, § 23 Rn. 9 (S. 356); ders., Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, § 19 II. (S. 206 ff.); zum gewohnheitsrechtlichen Charakter: Canaris, Handelsrecht, § 23 Rn. 10 (S. 356); Hopt., AcP 183 (1983), 608 (691); K. Schmidt, Handelsrecht, § 19 III. 1. b) (S. 564). 339 K. Schmidt, Handelsrecht, § 19 III. 1. c) (S. 565). 340 BGH – Urteil v. 08. 02. 2001, Az.: III ZR 268/00 – NJW-RR 16 (2001), 680 (680, 681); Urteil v. 31. 01. 1994, Az.: II ZR 83/93 – NJW 47 (1994), 1288 (1288); Urteil v. 20. 03. 1974, Az.: VIII ZR 234/72 – NJW 27 (1974), 991 (991–993); Urteil v. 09. 07. 1970, Az.: VII ZR 70/68 – BGHZ 54, 236 (236 ff.); 14. 10. 1969, Az.: VI ZR 208/68, VI ZR 209/68 – WM 23 (1969), 1452 (1452 ff.). 341 Canaris, Handelsrecht, § 23 Rn. 10 (S. 356); vgl. auch: Canaris, Die Vertrauenshaf-

§ 13 Vertragsrechtsdivergenz und Einheit der Wirtschaftsverfassung

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D. Grundrechte und Grundfreiheiten: substanzielle Verbindungsfaktoren Bereits diese Ausgangslage lässt erkennen, dass jede Vertiefung der Systemzergliederung Ergebnisse hervorrufen könnte, die den Konsens über ein einheitliches Freiheitsverständnis erschweren würde. Positiv ausgedrückt müsste man wohl sagen, dass sich die Partikularisierung der deutschen Vertragsrechtsordnung letztlich nur dann mit den Postulaten homogener Individualautonomie vereinbaren ließe, wenn man sie zuvor einem widerspruchsfreien Werteverständnis zuführte. 342 Zwar vertritt das BVerfG bekanntermaßen die Meinung, dass »[d]as Grundgesetz . . . weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde ›soziale Marktwirtschaft‹ » garantiere. 343 Hieraus aber ein Recht des Gesetzgebers abzuleiten, verschiedene Vertragsrechtsmodelle innerhalb derselben Gesamtrechtsordnung zu kodifi zieren, die den Einheitsanspruch der Wirtschaftsverfassung effektiv gefährden, würde den Sinngehalt dieses Entscheidungsleitsatzes überstrapazieren. Vor allem würde eine derartige Derivation dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufen, das »ungleich intensiver auch Koordinaten einer Wirtschaftsverfassung [enthält] . . . als etwa das Grundgesetz«. 344 I. Freiheitspostulate der Grundrechte – einheitsstiftender Faktor Auflösen ließe sich die beklagte contradictio in adiecto möglicherweise über gemeinsame Verbindungselemente – also vereinigende Regeln, welche der Vertragsrechtsordnung trotz ihrer Aufspaltung insgesamt zugrunde liegen. Anregung könnte hier das englische Recht geben, das Verträge häufig im Lichte ihrer »embeddedness«, d. h. im Lichte ihrer sozialen Einbettung betrachtet. 345 Collins assoziiert damit beispielsweise die Forderung, einen Zusammenhang tung im deutschen Privatrecht, § 20 (S. 217 ff.); a. A.: Hefermehl, in: Schlegelberger, HGBKommentar, § 346 Rn. 97; Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, § 362 Rn. 4. 342 Auf abstrakter Ebene bringt diese Notwendigkeit Erbel zum Ausdruck, wenn er zu bedenken gibt, dass es »verfassungstheoretisch . . . ausgeschlossen [erscheint], unter dem Dach ein und derselben Verfassung ein wirtschaftspolitisches Konzept unterzubringen, das in seiner Grundsubstanz nicht klar dem Freiheitsprinzip folgt, sondern – in einer Exklave der Unentschiedenheit – zwischen Freiheitsprinzip und zentraldiktatorischem Prinzip angesiedelt sein soll« [Erbel, RiA 37 (1991), 18 (19)]. 343 BVerfG – »Investitionshilfe« – Urteil v. 20. 07. 1954, Az.: 1 BvR 459, 484, 548, 555, 623, 651, 748, 783, 801/52, 5, 9/53, 96, 114/54 – BVerfGE 2, 7 (17). 344 Grundmann, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 1 (S. 2); zur wettbewerbsverfassten Marktwirtschaft als gemeineuropäischem Prinzip: Müller-Graff, EuR 32 (1997), 433 (433 ff.); ders., ZHR 168 (2004), 1 (1 ff.); Mestmäcker, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 53 (S. 58). 345 Collins, Regulating Contracts, Part 1–2. (S. 25 ff.).

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2. Kapitel: Sondervertragliche Systemvorgaben der Rechtsordnung

zwischen dem Vertrag und anderen Bezugssystemen wie moralischen Grundsätzen, den Gesetzen des Marktes oder örtlichen bzw. internationalen Handelsbräuchen herzustellen. 346 Auch die Identität der Vertragsparteien sowie vorangegangene Beziehungen sollen eine Rolle spielen, wobei Collins angesichts der heutzutage häufig wechselhaften sozialen Kontakte die Identität anhand typisierender Merkmale festlegen möchte, »such as the qualification of being a professional doctor or lawyer which carries with it expectations of skill and competence in providing a service«. 347 Abgesehen von einer solchen sozialen Leitbildeinbettung könnten aus deutscher Sicht vor allem die Freiheits- und Gleichheitsaussagen der Verfassung und die Marktfreiheitsparadigmen der europäischen Grundfreiheiten einen Beitrag leisten, um der contradictio in adiecto Herr zu werden. Denn ruft man sich etwa die wesentlichen Aussagen des BVerfG aus dem Bürgschafts-Beschluss noch einmal in Erinnerung, so mögen die Schöpfer des BGB zwar »von einem Modell formal gleicher Teilnehmer am Privatrechtsverkehr« ausgegangen sein348 ; aber schon das Reichsgericht hat »diese Betrachtungsweise aufgegeben und ›in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt‹«, sodass heute »weitgehende Einigkeit darüber [besteht], daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taug[t]«. 349 Gehört der Ausgleich gestörter Vertragsparität durch die Grundrechte demzufolge zu den »Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts«, so müssen die Freiheitspostulate der Verfassung auch in der Lage sein, wirtschaftsverfassungsrechtliche Homogenität herzustellen. Die Grundrechte mögen zwar aus der Sicht des BVerfG weder einen »›institutionellen Zusammenhang der Wirtschaftsverfassung‹, der durch verselbständigte, den individualrechtlichen Gehalt der Grundrechte überhöhende Objektivierungen begründet« werden könnte, konstituieren; noch erzeugen sie einen über die grundgesetzlichen Elemente hinausgehenden »Ordnungsund Schutzzusammenhang der Grundrechte«. 350 Sie enthalten aber individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die als objektive Prinzipien dem Gesetzgeber aufgeben, die Freiheit des einzelnen Bürgers zu wahren und sie bei der Ordnung der Wirtschaft zu respektieren. 351 Auf diese Weise schließen 346

Collins, Regulating Contracts, Part 1–2. (S. 26, 27). Collins, Regulating Contracts, Part 1–2. (S. 28). 348 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (232, 233). 349 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (232, 233). 350 BVerfG – »Mitbestimmungsgesetz« – Urteil v. 01. 03. 1979, Az.: 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und 1 BvL 21/78 – BVerfGE 50, 290 (337). 351 BVerfG – »Mitbestimmungsgesetz« – Urteil v. 01. 03. 1979, Az.: 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und 1 BvL 21/78 – BVerfGE 50, 290 (337); Geiger spricht auch von einer Wertord347

§ 14 Zusammenfassung und grundsätzliche Maßstabsbildung

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sie es aus, dass der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum dergestalt missbraucht, dass er in Teilbereichen der Vertragsrechtsordnung grundrechtliche Freiheiten verkürzt und bereichsspezifisch ein Leben in menschlicher Würde beschränkt. 352 II. Die Grundfreiheiten – wirtschaftsverfassungsrechtlicher Referenzrahmen Auf Gemeinschaftsebene bilden korrespondierend dazu die Grundfreiheiten einen Rahmen, um die Verbindungslinie zwischen allgemeinen und gruppenspezifischen Vertragsrechten über das Bindeglied übergeordneter Deregulierung wieder herzustellen. 353 Obwohl die Grundfreiheiten eigentlich bereits seit den 1960er Jahren Geltung beanspruchen, konnten sie ihre Entfaltungskraft im Wege richterlicher Rechtsfortbildung erst nach und nach entwickeln, sodass sie als ernst zu nehmende Maßstäbe für das Vertragsrecht erst seit kurzem Fuß gefasst haben. Heute treten allerdings auch sie als »wirtschaftsverfassungsrechtlicher Referenzrahmen« in Erscheinung, indem sie außerrechtliche Leitbilder übernehmen und projizieren. 354 So gehen beispielsweise aus dem (durch Rechtsfortbildung gewonnenen) Rechtfertigungselement des zwingenden Allgemeininteresses des »Verbraucherschutzes« Anhaltspunkte für das Leitbild eines informierbaren und mündigen Verbrauchers hervor, die auch für das Vertragsrecht verwertet werden können. Vor allem aber sorgt die liberale Zweckausrichtung der Grundfreiheiten für einheitsstiftende Marktkorrekturen, die – wenn auch nur indirekt durch Herstellung innerer Systemzusammenhänge – dazu eingesetzt werden können, das »krankhaft gewucherte Systemgeschwür« des sekundärrechtlichen Verbraucherschutzes durch eine längst fällige Operation von der Bösartigkeit zu befreien. 355

§ 14 Zusammenfassung und grundsätzliche Maßstabsbildung Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass Sonderprivatrechte nach der vorzugswürdigen Defi nition Normgruppen sind, mit denen der Ausgleich zwinung für die Privat- und Wirtschaftsordnung: Geiger, Die Grundrechte in der Privatrechtsordnung, S. 7 (S. 18). 352 BVerfG – »Mitbestimmungsgesetz« – Urteil v. 01. 03. 1979, Az.: 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und 1 BvL 21/78 – BVerfGE 50, 290 (338). 353 Vgl. auch dem Blickwinkel eines »Informationsmodells« der Rechtsordnung: Schön, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. I, S. 1191 (S. 1198 ff.). 354 von Wilmowsky, JZ 51 (1996), 590 (590). 355 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 511 (S. 511, 515).

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2. Kapitel: Sondervertragliche Systemvorgaben der Rechtsordnung

schen Freiheit und Gleichheit abweichend zu dem bürgerlichen Privatrecht pandektistischer Prägung erfolgt und deren Zerschlagung und Aufspaltung in die Pandektenbereiche des BGB nicht ohne Verlust inhaltlicher Konsistenz oder äußerer Übersichtlichkeit möglich wäre. An diesen Defi nitionsmerkmalen gemessen treten sowohl das Handels- als auch das Verbrauchervertragsrecht als Sonderprivatrechte in Erscheinung, weil sie den freiheitlichen Gewährleistungsgehalt in Bezug auf typisierte Personengruppen ungleich im Vergleich zu den personalen Grundsubjekten des BGB regeln. Der vorstehende Defi nitionsversuch veranschaulicht zugleich den Rechtfertigungsdruck, unter dem die Sonderprivatrechte in ihrer aktuellen Ausgestaltung stehen. Die Existenzberechtigung des Handels- und Verbrauchervertragsrechts steht und fällt mit der Beantwortung der Kernfrage, ob und auf welche Weise Art und Umfang der ungleichen Freiheitsgewährleistung normativ gerechtfertigt werden können. In diesem Zusammenhang ist als erstes in Erinnerung zu rufen, dass auch im Privatrecht, respektive in den Vertrags- und Sondervertragsrechten, der etatistische Stufenbau der Rechtsordnung grundsätzlich einzuhalten ist. Infolge der vertikalen Erweiterung durch die EG bedeutet dies Vorrang des Gemeinschafts- vor dem nationalen Recht und Vorrang des Verfassungs- vor dem einfachen Recht, jeweils mit der Besonderheit, dass im Vertragsrecht ökonomische, empirische und ethisch-moralische Reflexionen nicht ausgeblendet werden dürfen. Die Dichotomie der Rechtsordnung für sich betrachtet liefert dagegen keinen eigenen Maßstab, um den Interventionsbefugnissen des Staates in die Privatrechtsgesellschaft Einhalt zu gebieten. Sie ist vielmehr Ausdruck des dahinter stehenden Freiheits- und Subsidiaritätsrasters, sodass letztlich nur die Einzelnormen der Rechtsordnung Einheit zwischen Vertragsund Sondervertragsrechten herzustellen vermögen. Grundrechtsordnung und Grundfreiheiten nehmen dabei eine exponierte Stellung ein.

3. Kapitel

Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich Die Beantwortung der privatrechtlichen Kardinalfrage, »warum einem Normadressaten an sich eine günstige, einem anderen aber eine nachteilige Rechtsfolge zugeordnet wird« und »warum dies gerade im Verhältnis dieser beiden zueinander erfolgt« (Prinzip der relativen zweiseitigen Rechtfertigung)1, ist in der Gesamtbetrachtung der Systemdivergenz nur im Einklang mit der Korrespondenzfrage zu beantworten, »wann und inwieweit der Verbraucherbezug oder der Bezug zu einem Unternehmen wirklich eine so eigene faktische Struktur begründet, daß Sonderrecht und nicht mehr allgemeines Privatrecht zu setzen ist«. 2 Die grundrechtlichen Entscheidungen des BVerfG bilden dabei nur die Spitze des Legitimitätsrahmens gleicher Freiheit. Thematisch reichen sie von dem Berufstypus des Handelsvertreters, der sich »schon vor oder während der Vertragsbeziehungen für die Zeit nach deren Beendigung binden soll[.]«3, über den Typus der schwangeren Frau, die im vorehelichen Stadium eine erkennbar einseitige Lastenverteilung zu ihren Ungunsten hinnehmen soll4, bis zum Schuldnertypus des jungen, unerfahrenen Erwachsenen, der trotz geringfügiger Einkünfte für hohe Bankkredite haftet5. Welche Grundrechte auf das Privatrecht in seiner jeweiligen Zweckmodulierung Anwendung fi nden, hängt – wie auch bei anderen Grundrechtskonstellationen des Privatrechts – davon ab, welcher Gesetzgeber (EG oder Mitgliedstaat) die in Frage stehende Privatrechtsnorm jeweils erlassen hat. Während sich mit einer Freude am Subtilen problemlos danach differenzieren ließe, ob Normen des Handels- oder allgemeinen Vertragsrechts in Frage stehen, die vorrangig an den GG-Grundrechten zu messen wären, oder Normen des Verbrauchervertragsrechts betroffen sind, die wegen der EG-rechtlichen Harmonisierung primär den Gemeinschaftsgrundrechten Rechnung zu tragen hätten 1 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1. Hteil. V. 4 a) (S. 93); vgl. auch: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 31 Rn. 935 ff. (S. 373, 374). 2 Grundmann, in: Grundmann/Bianca (Hrsg.): EU-Kaufrechtsrichtlinie, Einl. Rn. 25. 3 BVerfG – »Handelsvertreter« – Beschluss v. 07. 02. 1990, Az.: 1 BvR 26/84 – BVerfGE 81, 242 (257). 4 BVerfG – »Unterhaltsverzichtsvertrag« – Urteil v. 06. 02. 2001, Az.: 1 BvR 12/92 – BVerfGE 103, 89 (102). 5 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag II« – Kammerbeschluss v. 05. 08. 1994, Az.: 1 BvR 1402/89 – NJW 47 (1994), 2749 (2749); »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (215).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

(wobei noch zusätzlich zwischen einer gebundenen und einer ermessensgeprägten Richtlinienumsetzung unterschieden werden könnte) 6, ist vorliegend auf die Parameter der »Freiheit« und »Gleichheit« in Anbetracht des Grundsatzcharakters der Erörterungen nur in Gestalt von übergeordneten Normgrößen einzugehen. Dabei sollen die grundrechtlichen Problemlagen des »allgemeinen« bürgerlichen Rechts7 nicht interessieren; vielmehr soll das Vertragsrechtsfundament nur als tertium comparationis für die Herausarbeitung der sondervertragsrechtlichen Abweichungen dienen.

§ 15 Dogmatische Aufbereitung von Gleichheit und Freiheit Als systemgemäßer »Ausdruck ständischen Denkens« treten Typenbildungen nur dann in Erscheinung, wenn zwischen den umschriebenen Subjektgruppen unabhängig von den Umständen im Einzelfall solche Unterschiede bestehen, dass eine typisierte Ungleichbehandlung notwendig wird.8 »Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht« müssen existieren, »daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten«.9 Nicht nur das reine Willkürverbot muss eingehalten werden10, sondern auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden11, damit ein bestimmter Rechtfertigungsgrund die durch die vertragsrechtliche Typisierung bedingte Ungleichbehandlung abdeckt und umfasst. Dies bedeutet, dass auch die persönliche Geltungsbereichsabgrenzung des typisierten Normkomplexes in ihrer Ausgestaltung durch schutzwürdige Belange getragen werden muss, letztlich also weder gegen das Übermaßverbot noch gegen das Untermaßgebot verstoßen darf.12 Auf diese 6 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 2. Kap. B. III. 3. (S. 15); Lindner, EuZW 18 (2007), 71 (71 ff.). 7 . . . z. B. die grundrechtsproblematische Regelung, dass beschränkt geschäftsunfähige Personen zumindest rechtlich vorteilhafte Rechtsgeschäfte abschließen können, während Rechtsgeschäfte von Geschäftsunfähigen trotz größerer Schutzwürdigkeit apodiktisch unwirksam sind . . . [Canaris, JZ 42 (1987), 993 (996 ff.)]. 8 Vgl. Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 3. Kap. I. (S. 27, 28). 9 BVerfG – Beschluss v. 07. 10. 1980, Az.: 1 BvL 40, 89/79, 1 BvR 240/79 – BVerfGE 55, 72 (88); vgl. auch: BVerfG – Beschluss v. 11. 01. 1995, Az.: 1 BvR 892/88 – BVerfGE 92, 53 (68, 69). 10 So noch: BVerfG – Beschluss 27. 09. 1978, Az.: 1 BvL 31/76 und 4/77 – BVerfGE 49, 192 (209); Beschluss v. 15. 01. 1969, Az.: 1 BvR 723/65 – BVerfGE 25, 101 (105); Beschluss v. 15. 12. 1959, Az.: 1 BvL 10/55 – BVerfGE 10, 234 (246 ff.); Urteil v. 23. 10. 1941, Az.: 2 BvG 1/51 – BVerfGE 1, 14 (52). 11 BVerfG – Beschluss v. 17. 05. 1983, Az.: 2 BvL 8/82 – BVerfGE 64, 158 (168 ff.); zum Kriterium der Verhältnismäßigkeit auf EG-Ebene: Odendahl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.): Hdb. der Europäischen Grundrechte, § 43 V. (S. 1154 ff.). 12 Medicus, FS für Kitagawa (65. Gebtg.), S. 471 (S. 472).

§ 15 Dogmatische Aufbereitung von Gleichheit und Freiheit

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Weise setzt das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot, das nach prägenden Leitgedanken bzw. materiellrechtlich ausreichenden Sachgründen verlangt, einem Abrücken von dem Postulat systematischer Einheit und jeder Großzügigkeit gegenüber »internal contradictions of the law« Grenzen.13 Das BVerfG gesteht dem Gesetzgeber einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu, welche Typisierung er aufgreift – wann Ungleichgewichtslagen also so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt oder ergänzt werden muss.14 Weil die Einschätzung der für die Konfl iktlage maßgeblichen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, die Interessenbewertung und die Vorausschau auf die gesetzlichen Wirkungen in seiner politischen Verantwortung liegen15, ist eine typisierungsbedingte Verletzung des Gleichheitssatzes nur möglich, wenn ein »vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund« die gesetzliche Abwägung nicht rechtfertigt.16 Folglich wäre ein Verstoß gegen das Gebot formaler Gleichheit nur dann gegeben, wenn die Interessen eines Vertragspartners so stark untergeordnet würden, dass von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden könnte.17

A. Dienende Funktion der Gleichheit zur Freiheitsausgestaltung Die Gleichheit ist in diesem Interessenkonglomerat nach den Aussagen des Grundgesetzes kein normativer Wert an sich. Gegenteiliges würde tradierten Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechen, wonach Veranstaltungen gleichen Leids wie das Gefängnis, das KZ, das Gefangenenlager, das Getto u. s. w. von vornherein nicht als Modelle einer gerecht verfassten Gesellschaft in Betracht kommen.18 Vielmehr nimmt die Gleichheit gegenüber der Freiheit eine dienende Funktion ein, und zwar »als Basis und als Bedingung der freien Entfaltung menschlicher Anders- und Einzigartigkeit«.19 Dabei können aus Freiheitser13 Zu den Alternativansätzen vgl.: Wilhelmsson, Critical Studies in Private Law, Chapt. II 3.1 (S. 30). 14 BVerfG – »Handelsvertreter« – Beschluss v. 07. 02. 1990, Az.: 1 BvR 26/84 – BVerfGE 81, 242 (255); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. I. 5. b) dd) (S. 101, 102); für einen Primat des Gesetzgebers gegenüber der Judikative bei der Auflösung von Paritätsstörungen: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 4 V. 5 (S. 33, 34). 15 BVerfG – »Kleinbetriebsklausel I« – Beschluss v. 28. 01. 1998, Az.: 1 BvL 15/87 – BVerfGE 97, 169 (176). 16 BVerfG – »Ehemäklerlohn« – Entscheidung v. 20. 04. 1966, Az.: 1 BvR 20/62, 1 BvR 27/64 – BVerfGE 20, 31 (33). 17 BVerfG – »Kleinbetriebsklausel I« – Beschluss v. 28. 01. 1998, Az.: 1 BvL 15/87 – BVerfGE 97, 169 (176, 177). 18 Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 135. 19 Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 135.

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

wägungen »Differenzierungen . . . geradezu notwendig sein, um eine sinnerfüllte Gleichheit herzustellen«. 20 Speziell der vertragsrechtliche Dreiklang macht den Funktionszusammenhang zwischen Gleichheit und Freiheit evident. Während im Rahmen des liberalen Grundkorsetts des Vertragsrechts alle Privatrechtssubjekte insofern »abstrakt gleich« sind, als ihnen formale Chancengleichheit zur Ausübung von Privatautonomie zugesprochen wird 21, werden die Gleichheits- und Freiheitsparameter durch Sonderprivatrechte wie das Handels- und Verbraucherrecht infolge von Partikularinteressen materialisiert. Das Gleichheitspostulat fungiert dabei als Legitimitätsschranke, weil Sachverhalte insbesondere nur dann typisiert aufgegriffen und unterschiedlich behandelt werden dürfen, wenn eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist. 22 Auf Gemeinschaftsebene ist die Sekundierfunktion der Gleichheit in ähnlicher Weise verankert 23, was sich daraus ergibt, dass der EuGH den Gleichbehandlungsgrundsatz als EWG-Grundrecht und ungeschriebenen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts bereits Anfang der 1970er Jahre anerkannt hat 24. Nach dessen Bestätigung in zahlreichen Entscheidungen ist er als geltendes Grundrecht zu beachten, sodass im Rahmen der nachfolgenden Erörterungen von einem weitgehend uniformen Gewährleistungsgehalt des Gleichheits- und Freiheitsausgleichs auszugehen ist – unabhängig davon, ob Vorschriften des europäischen Richtlinien- oder des deutschen Gesetzgebers in Frage stehen. 25

B. Privatautonomie – Ausgestaltung und Gewährleistung Wenn das Grundgesetz bzw. das Gemeinschaftsrecht neben der Gleichheit auch die Freiheit als Wertaussage enthalten, wird die Gleichheit durch das

20 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 3. Kap. I. (S. 27, 28); so auch: Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. I. 5. b) dd) (S. 98, 99). 21 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 2. a) (S. 54, 55); Zöllner, JuS 28 (1988), 329 (330 ff.). 22 Richardi, FS für Söllner (70. Gebtg.), S. 957 (S. 958). 23 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 1. Teil 2. Abschnitt § 3 C. (S. 25). 24 Beschränkt auf den öffentlichen Dienst: EuGH – Bernardi/Europäisches Parlament – Urteil v. 16. 03. 1971, Az.: 48/70 – Slg. 1971, 175 Tz. 25/27; im Übrigen: EuGH – Deutschland/Rat – Urteil v. 10. 03. 1998, Rs. C-122/95 – Slg. 1998, I-973 Tz. 54; Queen/Minister of Agriculture – Urteil v. 17. 07. 1997, Rs. C-354/95 – Slg. 1997, I-4559 Tz. 61; Earl de Kerlast/Unicopa – Urteil v. 17. 04. 1997, Rs. C-15/95 – Slg. 1997, I-1961 Tz. 35; SMW Winzersekt/Land Rheinland-Pfalz – Urteil v. 13. 12. 1994, Rs. C-306/93 – Slg. 1994, I-5555 Tz. 30; Spanien/Kommission – Urteil v. 07. 07. 1993, Rs. C-217/91 – Slg. 1993, I-3923 Tz. 37; Ruckdeschel u. a./Hauptzollamt Itzehoe – Urteil v. 19. 10. 1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77 – Slg. 1977, 1753 Tz. 7. 25 Vgl. hierzu: Odendahl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.): Hdb. der Europäischen Grundrechte, § 43 Rn. 5 (S. 1144).

§ 15 Dogmatische Aufbereitung von Gleichheit und Freiheit

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Bedürfnis nach freiheitlicher Individualisierung ergänzt. 26 Insofern steht die Privatautonomie in ihrer Ausprägung als Vertragsfreiheit im Mittelpunkt des Vertragsinstituts und der vertragsrechtlichen Dreiteilung; sie betrifft als »Prinzip der eigenen Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach seinem Willen«27 die »individuelle Freiheit im Staat« und ist als »Nerv des Privatrechtssystems« der Privatrechtsordnung immanent und vorgelagert. 28 Obwohl weder der EG-Vertrag noch das Grundgesetz (im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung 29 und einigen Länderverfassungen30 ) die Vertragsfreiheit ausdrücklich erwähnen, gehört sie zu dem gesicherten Bestand der freiheitlichen Grundrechte. 31 Während sie auf Gemeinschaftsebene seit dem EuGH-Urteil Stauder/Stadt Ulm »zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen« zählt, »deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat«32 , ist sie auf der Ebene des Grundgesetzes nicht nur einfach-verfassungsgesetzlich verankert, sondern in ihrem Kern Teil der Unabänderlichkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) 33. Sie ist Mittel der grundrechtlich gesicherten Persönlichkeitsentfaltung34 und Folge der sich aus Art. 1 GG ergebenden Intention, dass »der Staat um des Men26

Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 120 ff. BVerfG – »Elterliche Vertretungsmacht« – Urteil v. 13. 05. 1986, Az.: 1 BvR 1542/84 – BVerfGE 72, 155–175 (170); vgl. auch: Flume, Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 1 (S. 1); ders., Rechtsgeschäft und Privatautonomie, § 1 (S. 136); u. a. übernommen von: Roscher, Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem, 3. Teil 2. Abschnitt III. (S. 54); Isensee, in: Bayer/Koch (Hrsg.): Schranken der Vertragsfreiheit, S. 9 (S. 15). 28 Hofer, Vertragsfreiheit am Scheideweg, A. (S. 7); zur Geschichte des Begriffs »Privatautonomie«: Murakami, FS für Müller-Freienfels (70. Gebtg.), S. 467 (S. 467 ff.). 29 Art. 152 Abs. 1 WRV. 30 Art. 151 Abs. 2 Bayerische Verfassung; Art. 52 Abs. 2 Verfassung von RheinlandPfalz; Art 44 Verfassung des Saarlandes. 31 Zum Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene vgl.: EuGH – Karner Industrie Auktionen/Troostwijk, Rs. C-71/02 – Slg. 2004, I-3025; Wachauf/BRD – Urteil v. 13. 07. 1989, Rs. 5/88 – Slg. 1989, 2609 Tz. 17; Nold/Kommission – Urteil v. 14. 05. 1974, Rs. 4/73 – Slg. 1974, 491 Tz. 13; Wachauf/BRD – Urteil v. 13. 07. 1989, Rs. 5/88 – Slg. 1989, 2609 Tz. 17; Prais/Rat – Urteil v. 27. 10. 1976, Rs. 130/75 – Slg. 1976, 1589 Tz. 12/19; Internationale Handelsgesellschaft/Vorratsstelle – Urteil v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70 – Slg. 1970, 1125 Tz. 4; zur Vertragsfreiheit auf Gemeinschaftsebene: EuGH – Koenigreich Spanien/EG – Urteil v. 05. 10. 1999, Rs. C-240/97 – Slg. 1999, I-6571 Tz. 99; EuG – Automec/Kommission – Urteil v. 18. 09. 1992, Rs. T-24/90 – Slg. 1992, II-2223 Tz. 51; zur Formfreiheit als Unterprinzip der Vertragsfreiheit vgl.: EuGH – Bellone/Yokohama – Urteil v. 30. 04. 1998, Rs. C-215/97 – Slg. 1998, I-2191 Tz. 14; zur freien Wahl des Geschäftspartners als Unterprinzip der Vertragsfreiheit vgl.: EuGH – Jean Neu/Secrétaire d’État – Urteil v. 10. 07. 1991, verb. Rs. C-90/90 und C-91/90 – Slg. 1991, I-3617 Tz. 13. Mit der Charta der Grundrechte in der Europäischen Union (2000), die Eingang in die noch zu ratifi zierenden EU-Reformverträge gefunden hat, wurden die bisher ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte lediglich ausformuliert und katalogisiert [vgl. Abs. 4 der Präambel der Grundrechts-Charta; veröffentlicht ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in: ABl. 2000 Nr. C 364 S. 1 (S. 1 ff.)]. 32 EuGH – Stauder/Stadt Ulm – Urteil v. 12. 11. 1969, Rs. 29/69 – Slg. 1969, 419 Tz. 7. 33 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 3. Teil I. 1. b) (S. 223 ff.). 34 Canaris, JZ 42 (1987), 993 (994). 27

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

schen willen da (ist)«; sie spricht dem Einzelnen also die Kompetenz zu, seine Rechtsverhältnisse eigenverantwortlich zu ordnen35. Während Privatautonomie im Rahmen des Grundgesetzes u. a. aus dem Demokratieprinzip abgeleitet wird, die allen Volkszugehörigen in enger Verbindung mit den Grundwerten der Freiheit und Gleichheit das Recht zur Selbstbestimmung zuspricht36, wird sie auf Gemeinschaftsebene als allgemeiner Rechtsgrundsatz aus den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen, der EMRK und der Charta der Grundrechte deriviert37, was Unterschiede in ihrem sachlichen Gewährleistungsgehalt allerdings nicht auslösen dürfte38. Auf beiden Ebenen besteht Privatautonomie einerseits nur in dem Rahmen, den die geltenden Gesetze vorgeben, während den Gesetzgeber andererseits jeweils die Verpfl ichtung trifft, den Einzelnen in die Lage zu versetzen, über grundrechtlich geschützte Positionen ohne staatlichen Zwang entscheiden und Rechtsbeziehungen eigenverantwortlich gestalten zu können. 39 Infolge der Ausgestaltungsbedürftigkeit der Privatautonomie kann der Einzelne seine Rechtsverhältnisse immer nur durch solche Akte privatautonom in die Hand nehmen, die »als Aktstypen rechtsgeschäftlicher Gestaltung« von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellt werden.40 Weil die Privatautonomie letztlich aber nicht zur Totaldisposition des Staates steht41, ist im Grunde von einem Interaktionsverhältnis zwischen positiver Ausgestaltung und vorgege35 So Neuner unter Berufung auf den Entwurf von Herrenchiemsee [abgedruckt: JöR 1 (1951), 48]: Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 3. Teil I. 1. b) aa) (S. 223, 224); ähnlich auch: Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, A. III. (S. 7); a. A. Nannen, der von einem unbenannten Freiheitsrecht der Vertragsfreiheit ausgeht: Nannen, Grundrechte und privatrechtliche Verträge, B: 2. Teil I. 2. (S. 64 ff.). 36 Canaris, JZ 42 (1987), 993 (994); Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 3. Teil I. 1. b) aa) (S. 223, 224); vgl. hierzu auch Schmidt-Rimpler, der den Vertrag als »volksgenössische Schaffung und Gestaltung von Rechtsverhältnissen« defi niert [AcP 147 (1941), 130 (138)]. 37 Zur Vertragsfreiheit vgl.: EuGH – Koenigreich Spanien/EG – Urteil v. 05. 10. 1999, Rs. C-240/97 – Slg. 1999, I-6571 Tz. 99; EuG – Automec/Kommission – Urteil v. 18. 09. 1992, Rs. T-24/90 – Slg. 1992, II-2223 Tz. 51; zur Formfreiheit als Unterprinzip der Vertragsfreiheit vgl.: EuGH – Bellone/Yokohama – Urteil v. 30. 04. 1998, Rs. C-215/97 – Slg. 1998, I-2191 Tz. 14; zur freien Wahl des Geschäftspartners als Unterprinzip der Vertragsfreiheit vgl.: EuGH – Jean Neu/Secrétaire d’État – Urteil v. 10. 07. 1991, verb. Rs. C-90/90 und C-91/90 – Slg. 1991, I-3617 Tz. 13. 38 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 4 Rn. 133 (S. 63); Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 2. Kap. § 1 III. (S. 21, 22); vgl. auch: G.-P. Calliess, JJZ 2000, 85 (107, 108). 39 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (231, 232); Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, § 5 Ziff. 5 (S. 15). 40 Flume, Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 2 (S. 2); vgl. auch: Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 137); Canaris, AcP 184 (1984), 201 (217, 218); Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 22 I. Rn. 1 (S. 393). 41 U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 2. Kap. B. I. 1. (S. 6, 7).

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benem Autonomiepostulat auszugehen: Während die privatautonome Vertragsgestaltung zum einen nur Rechtswirksamkeit hat, wenn und soweit die Rechtsordnung dies bestimmt, legt zum anderen die Rechtsordnung die Rechtsfolgen gerade deshalb fest, weil es ein rechtliches Grundprinzip gibt, welches die Anerkennung der Privatautonomie als Teil der Anerkennung der Selbstbestimmung des Menschen fordert.42

§ 16 Prämissen und Maßstab der Gleichheitsund Freiheitsdivergenz Weil der Gesetzgeber das Vertragsrecht (einschließlich der Sonderprivatrechte) so ausgestaltet hat, dass jeder Marktteilnehmer situationsbedingt einmal eine vorteilhafte und ein anderes Mal eine weniger vorteilhafte Stellung einnimmt, ist trotz der zunehmenden Typisierungstendenz des Privatrechts eine vergleichsweise hohe Anpassungsfähigkeit an den Einzelfall gewährleistet.43 Eine apodiktische Spaltung der Privatrechtsgesellschaft in Erwerbs- und Nichterwerbstätige, zu der es gekommen wäre, wenn auch die Privatgeschäfte eines Kaufmanns dem Handelsrecht unterstellt worden wären, konnte der Gesetzbzw. Richtliniengeber auf diese Weise vermeiden.44 Demgemäß bilden die Sonderprivatrechte infolge ihres typisierten Zweckbezugs zwar Institutionen, auf die sich jeder einstellen kann, die in ihren Strukturen aber bereichsspezifisch divergieren.

A. Die individualisierte Willenserforschung im Rahmen des BGB In starkem Kontrast zu der bloß relativen Adaptibilität der Sonderprivatrechte stehen die Generalklauseln des BGB (z. B. §§ 138, 242 BGB).45 So enthält das BGB eine Vielzahl von tatbestandsausfüllungsbedürftigen Normen mit unbestimmten und wertausfüllungsbedürftigen Begriffen, über die der Richter nicht nur größtmögliche Einzelfallgerechtigkeit erzielen, sondern jederzeit 42 Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, § 1 (S. 137); ders., Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 2 (S. 2); vgl. auch: Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 2. Kap. I. 5. (S. 51, 52); Isensee, in: Bayer/Koch (Hrsg.): Schranken der Vertragsfreiheit, S. 9 (S. 21). 43 Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, C. V. 1. a) und 2. a) (S. 171 und S. 182); Elßner/Schirmbacher, VuR 18 (2003), 247 (250). 44 Vgl. hierzu auch die Stufentheorie des BVerfG im »Apothekenurteil« in Bezug auf Art. 12 GG: Urteil v. 11. 06. 1958, Az.: 1 BvR 596/56 – BVerfGE 7, 377 (400 ff.). 45 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 7 A. I. (S. 103); Jung, in: Baldus/MüllerGraff (Hrsg.): Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 37 (S. 39 ff.); hinsichtlich der Abänderbarkeit der Privatrechtsordnung zu weitgehend: Flume, Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 10 a) (S. 18, 19).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

auch einen Wechsel über Wertvorstellungen in die Privatrechtsordnung integrieren könnte (»guten Sitten«, »Treu und Glauben«).46 Die Generalklauseln sind von einem Richter stets einzelfallbezogen zu entscheiden. So wird im bürgerlichen Vertragsrecht der Auftrag an den Richter – abgesehen von einem Eingreifen gesetzlicher Vermutungsregeln – nicht eingeschränkt. Entsteht im nachhinein Streit über eine bestimmte Normsituation, hat der Richter den Parteiwillen penibel zu erforschen, was eine ausgeprägte Einzelfallgerechtigkeit, aber auch ein hohes Maß an Aufwand und Beweiserhebung und eine gewaltige Rechtsunsicherheit ex ante zur Folge hat.47 Objektiver Ausgleich erfolgt (jenseits des dispositiven Rechts) nicht typisiert durch den Gesetzgeber, sondern individualisiert durch die Zivilgerichte, die »von Verfassungs wegen verpfl ichtet [sind], bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln die Grundrechte als ›Richtlinien‹ zu beachten«.48 In diesem Sinne ist das bürgerliche Vertragsrecht – in plastischer Übertreibung formuliert – fast schon der dogmatischen Richtung des französischen Code civil verpfl ichtet, der in Abkehr von doktrinären Gewaltenteilungsvorstellungen die Forderung des droit intermédiaire, dass die Gerichte »s’adresseront au Corps législatif toutes les fois qu’ils croiront nécessaire soit d’interpréter une loi, soit d’en faire une nouvelle«, frühzeitig fallen ließ.49 Auf der Befugniswenn auch nicht auf der Verantwortungsebene ähneln die Auslegungsgrundsätze der §§ 133, 157 BGB auf diese Weise den Vorgaben von Art. 4 franzCcivil, sodass ein Richter, der »sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi« den Erlass einer Entscheidung verweigerte, sich ähnlich wie der französische Kollege dem Vorwurf einer Rechtsverweigerung aussetzte. Mit dem Aufstellen der Generalklauseln verbindet das BGB allgemeine Normbereiche, die es systematisch vor die Klammer gezogen den besonderen Vorschriften voranstellt. Dieses logische Aufbauprinzip, welches das BGB wie ein roter Faden durchzieht, erlaubt es, auf gesellschaftliche Neuheiten anpassungsfähig zu reagieren. Dies lässt gleichsam die Frage aufkommen, ob die Sondervertragsrechte nicht bereits deshalb ein Legitimitätsdefi zit aufweisen, weil das BGB bei nüchterner Betrachtung jedweden Kodifi kationsbedarf für Sonderregeln außerhalb seines Anwendungsbereichs durch den schlichten Hinweis auf die Anpassungsfähigkeit seiner eigenen Regeln entkräften könnte. 46 Vgl. hierzu: BVerfG – »Unterhaltsverzichtsvertrag« – Urteil v. 06. 02. 2001, Az.: 1 BvR 12/92 – BVerfGE 103, 89 (100); »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (233). 47 Zu dem Aspekt der Rechtsunsicherheit: Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 11 IV 4. b) (S. 262). 48 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (229). 49 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 7 II. (S. 88).

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B. Das besitzende Bürgertum als heimlicher Normadressat des BGB Trotz des hohen Abstraktionsgrades des BGB sind aber auch Zweifel an seiner Gleichheitskomplementarität anzumelden. Entgegen der neutralen Defi nition seines Anwendungsbereichs lag dem BGB schon bei seinem Inkrafttreten ein ganz bestimmter (abstraktionsfeindlicher) Bezugspunkt zugrunde: Modell stand das besitzende Bürgertum, an dessen Unternehmerklasse sich seine Regelungen heimlich ausrichteten. 50 Obwohl gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits die Masse der Arbeiter ihren Anspruch auf Existenzsicherung und Wohlfahrtsförderung angemeldet hatte, kam im BGB immer noch das Selbstständigkeits- und Expansionsbedürfnis sowie der Besitzindividualismus des konstitutionell verfassten Beamten- und Militärstaats der Jahrhundertwende zum Ausdruck. 51 Während das deutsche Reich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits anfi ng, Industriestaat zu sein, hatte das BGB fast ausschließlich die Gruppe der selbstständigen Wirtschaftsteilnehmer im Blick, konnten doch nur sie ohne Unterstützung des Staates von den Errungenschaften der Vertrags-, Eigentums- und Testierfreiheit sinnvoll Gebrauch machen. 52 Als Ausfluss dieser heimlichen Typenfi xierung stellten die liberalen Regelungen des BGB insbesondere für die mächtigsten und schwächsten Stände des Deutschen Reiches eine Bedrohung dar. 53 Während der neuen Schicht der Fabrikarbeiter, die in Abhängigkeit von ihrem Lohnherrn ohne Rückhalt eigenen Vermögens auf laufende Einkünfte angewiesen waren, mögliche Gefahren durch einseitige Interessenwahrung, ungleiche Machtverhältnisse und ungerechte Vertragsbedingungen drohten, wurden der regierende Hochadel und die Standesherren vor allem durch das bürgerliche Personen- und Familienrecht in ihren überlieferten Vorrechten beeinträchtigt. In den geschlossenen Vererbungszyklus der Großgrundbesitzer griff das System der freien Verfügung und Testierfreiheit ein; daneben setzte der freie Bodenkredit die Großgrundbesitzer der ungeschützten Überschuldung der Marktgesetze aus. 54 Weil man recht zuversichtlich war, die Probleme der Lohnarbeiterklasse und der Großgrundbesitzer über freien Wettbewerb in den Griff zu bekommen55, blieb eine Differenzierung innerhalb des BGB zunächst aus. 50 Basedow, in: Cian (Hrsg.): I cento anni del codice civile tedesco, S. 331 (S. 334, 335); Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 16); ders., Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher, III. (S. 10); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 11 I. (S. 142, 143); Westermann, AcP 178 (1978), 150 (152); Wilhelmsson, Critical Studies in Private Law, Chapt. II 3.2 (S. 35, 36). 51 Damm, JZ 33 (1978), 173 (174); L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, II. (S. 17). 52 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 II. 1. Rn. 38 (S. 30). 53 Krause, JuS 10 (1970), 313 (315); Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 II. 1. Rn. 40 (S. 31). 54 Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 16). 55 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 II. 1. Rn. 40 (S. 31). Der Hochadel entzog sich dagegen durch ein »Privatfürstenrecht« eigenmächtig der Gleichmacherei des

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Nur außerhalb des BGB war scheinbar eine Partikulärgesetzgebung erwünscht. So wurden alle sozialen Aspekte des privaten Rechtsverkehrs gezielt der »Specialgesetzgebung« des Reiches oder der einzelnen Bundesstaaten überlassen. 56 In diesem Sinne setzte der Obrigkeitsstaat dem Liberalismus mit Einzelmaßnahmen zum Boden-, Gesinde- und Dienstrecht bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Grenzen, um bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche in konservative Vorbehalte zu retten. 57 Maßnahmen gegen die Gleichmacherei des bürgerlichen Rechts wurden auch durch die deutschen Länder initiiert, um privatrechtliche Sonderbereiche zugunsten des Privatfürstenrechts, des feudalen Grundbesitzes und bestimmter Gewerbetreibender zu bewahren. 58 Indem das BGB einerseits kein Forum für Schwächen und Stärken bot, 59 andererseits aber in Anspruch nahm, eine umfassende Kodifi kation zu sein, war sein Haus eigentlich »nur für die bürgerliche Schicht gebaut«.60

C. Das grundrechtliche Anpassungsdefi zit der Sondervertragsrechte Um zu der vorbeschriebenen Einseitigkeit einen klassenindifferenten Ausgleich zu schaffen, der Rolle der Transaktionskosten Rechnung zu tragen und den Problemen der begrenzten Rationalität und Informationsasymmetrie Herr zu werden, stellt das Verbraucherrecht einen qualifi zierten Verkehrsschutz zur Verfügung, der über Informationspfl ichten, Widerrufsrechte und zwingende Inhaltsvorgaben die Interessen der Verbraucher in besonderem Maße berücksichtigt.61 Dadurch bedingt tritt das (Verbraucher-) Sondervertragsrecht aber auch gleichzeitig als ausgesprochene Problemgruppe in Erscheinung, weil gerade die typisierende Abweichung zu den bürgerlichen Abstraktionsbegriffen Spiegelbild seiner grundrechtsbezogenen Statik ist. Abgesehen von dem Missbrauchstatbestand der Klauselrichtlinie ist die Gesetzgebungsmethodik des Verbraucherrechts nicht abstrakt-einzelorientiert sondern kasuistisch-typisierend, sodass keine Möglichkeit besteht, über abstrakte Normbegriffe sich ändernde Wertmaßstäbe in das Privatrecht zu transformieren.62 Vielmehr zählt es abschließend disparate Fallkonstellationen auf, ohne auf wertausfüllungsbedürftige Generalklauseln Rückgriff zu nehmen. formalen Bürgerrechts [Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 16)]. 56 Planck, AcP 75 (1889), 327 (409, 410). 57 Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 20); ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, § 28 (S. 543 ff.). 58 Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, S. 9 (S. 22). 59 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 1. Kap. V. (S. 39, 40); Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 4 I. (S. 48, 49). 60 Rübesamen, Das italienische Zivilgesetzbuch, E. II. 1. (S. 102, 103). 61 Vgl. G.-P. Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, 1. Kap. I. (S. 14, 15). 62 Art. 3 Klauselrichtlinie.

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I. Die mangelnde Progressionstauglichkeit der Verbraucherrichtlinien Als Normmaterie ist das Verbraucherrecht nicht wertneutral, sondern setzt über die hohe Zahl an zwingenden Rechtsnormen ideologisch geprägte Wertmaßstäbe im Sinne eines starren unflexiblen Verbraucherschutzes um.63 Auf Grund seiner halbzwingenden Vorschriften, die eine marktbezogene Momentaufnahme widerspiegeln, ist es auf ein bleibendes Grundrechtsverständnis angewiesen, das eindimensional und langfristig durch die moderne Grundrechtsfunktion der Leistungs- und Teilhaberechte geprägt sein müsste. In diesem Sinne orientiert es sich lediglich an dem aktuellen Gemeingeist.64 Einen Wertewandel bzw. eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung, welche die gesetzliche Momentaufnahme der derzeit herrschenden »verbraucherrechtlichen Gerechtigkeit« hinter sich ließe und die eigenverantwortliche Freiheit in den Vordergrund stellte, könnte es nicht (bzw. nicht den praktischen Bedürfnissen eines beweglichen Wirtschaftssystems entsprechend) nachvollziehen.65 Damit die Gesetzgebungsorgane überhaupt mobilisiert werden könnten, müsste »evidence of a substantial need for a policy change« vorgelegt werden können.66 Welcher mühsame Prozess in einem solchen Fall in Gang zu setzen wäre, zeigen die derzeit auf Gemeinschaftsebene stattfi ndenden Revisionsbemühungen zum Verbraucherschutzrecht. So räumt mittlerweile auch die Kommission selbstkritisch ein, dass die »meisten Richtlinien, die Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz sind, . . . eher präskriptiver Art als grundsatzorientiert« sind.67 Nach Auffassung der Kommission werden sie den heutigen Anforderungen der sich rasch entwickelnden Märkte »größtenteils nicht mehr gerecht«.68 U. a. beruht dies darauf, dass im Zuge der technologischen Entwicklung ständig neue, im bisherigen Verbraucherrecht noch nicht erfasste Wege für Geschäfte zwischen Gewerbetreibenden und Verbrau63

Vgl. hierzu: Singer, JZ 50 (1995), 1133 (1133 ff.). Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, § 6 Ziff. 3 (S. 19). 65 Ein prominentes Beispiel hierfür liefert § 247 BGB a. F., wonach bei Vereinbarung eines höheren Zinssatzes als 6% für das Jahr »der Schuldner nach Ablauf von sechs Monaten das Kapital unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Monaten kündigen« konnte. War ein solcher Kreditzins von 6% bei Schaffung des BGB noch hoch, wäre die Einstufung als »hoch« in den 1960er und 1970er des 20. Jahrhunderts geradezu grotesk gewesen, sodass der Rechtsanwender den »Wandel der Normsituation« allenfalls mit einer teleologischen Reduktion bewältigen konnte [Canaris, WM 32 (1978), 686 (687 ff.)]. Das gleiche Schicksal könnte die zwingenden Normen der Verbraucherrichtlinien bei einem »Wandel der Normsituation« ereilen [Zum »Wandel der Normsituation« vgl. generell: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Kap. Ziff. 3. b) (S. 350–353)]. 66 Hadfi eld/Howse/Trebilcock, JCP 21 (1998), 131 (149). 67 Kommission – Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – ABl. 2007 Nr. C 61 S. 1 Tz. 3.1. 68 Kommission – Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – ABl. 2007 Nr. C 61 S. 1 Tz. 3.1. 64

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

chern entstehen, was die Kommission bereits nach nur kurzer Geltungsdauer zu einer Reform der Richtlinien drängt.69 Ad hoc-Maßnahmen sind wegen der Statik der Richtlinien aber nicht möglich, um sie ungeachtet ihrer bisher nur kurzen Geltungsdauer an die gewandelten Verhältnisse anzupassen. Vielmehr müssen erst einmal empirische Studien in Auftrag gegeben werden, um einen Diskussionsprozess zu neuen zwingenden Typisierungstatbeständen in Gang zu setzen. Dass insbesondere technische Neuerungen eine legislative Änderung der Richtlinien erforderlich machen70, verdeutlicht die Fernabsatzrichtlinie: Fernabsatzverträge über das Internet führen nicht selten zu kollisionsrechtlichen Subsumtionsschwierigkeiten (Art. 28, 29 EGBGB), die bei der Verabschiedung des EVÜ noch gar nicht berücksichtigt werden konnten.71 Verbraucherrechtlich ist insbesondere umstritten, ob bei Fernabsatzverträgen eine auf den bestimmten Staat zielende Werbung oder ein auf einen bestimmten Staat zielendes Angebot erforderlich ist72 oder die Verfügbarkeit der Werbung bzw. des Angebots im Aufenthaltsstaat des Verbrauchers ausreicht73. Dass derart innovationsbedingte Normdefi zite insbesondere bei typisierend zwingenden Normen lediglich durch den Richtliniengeber zu reparieren sind, zeigt die »Rom I«-Verordnung, die vom Jusitzministerrat am 6. Juni 2008 verabschiedet wurde und im Dezember 2009 in Kraft treten wird.74 Gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b) dieser Verordnung wäre in Reaktion zu den Auslegungsschwierigkeiten in Zukunft klarstellend eine auf das Heimatland des Verbrauchers »ausgerichtete Tätigkeit« des Unternehmers für eine Anknüpfung an das Verbraucherland für ausreichend zu erachten.75

69 Kommission – Grünbuch »Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Verbraucherschutz« – ABl. 2007 Nr. C 61 S. 1 Tz. 4. 70 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 4. Kap. C. X. (S. 125). 71 G.-P. Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, 3. Kap. I. 2. (S. 94 ff.); Kronke, RIW 42 (1996), 985 (985, 987 ff.). 72 Borges, ZIP 20 (1999), 565 (568 ff.); Rüßmann, K&R 1 (1998), 422 (424 ff.). 73 Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 3 Rn. 193; Kronke, RIW 42 (1996), 985 (988); Martiny, in: Rebmann/Säcker/Rixecker (Hrsg.): MünchKomm-BGB, Art. 29 Rn. 35; Mankowski, RabelsZ 63 (1999), 203 (244 ff.); Magnus, in: Staudingers Kommentar BGB, Art. 29 EGBGB Rn. 70, 71. 74 BMJ – Pressemitteilung vom 06. 06. 2008 – EuZW 19 (2008), 389; Europäisches Parlament/Rat – Verordnung 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) – ABl. 2008 Nr. L 177 S. 6. 75 Europäisches Parlament/Rat – Verordnung 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) – ABl. 2008 Nr. L 177 S. 6 (S. 11 f.); hierzu auch: Kommission – Vorschlag vom 15. 12. 2005 für eine VO über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (Rom I) – KOM(2005) 650 endgültig, Ziff. 4.2 (S. 7); G.-P. Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, 4. Kap. II. 2. (S. 160 ff.).

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II. Die Antiquiertheit der kaufmannsbezogenen Abgrenzung Dass gerade privatrechtliche Sondertypisierungen dazu prädestiniert sind, »mit zunehmender Alterung eine erhebliche Diskrepanz zwischen gesetzlicher Normierung und tatsächlichen Anschauungen sowie Wertungen innerhalb der Sozietät« hervorzurufen, wird signifi kant auch in der Typisierung des Kaufmannsbegriffs deutlich (§§ 1 ff. HGB).76 Beispielhaft ist hier auf die Land- und Forstwirte zu verweisen, deren Sonderbehandlung aus Leitbilderwägungen nicht mehr nachzuvollziehen ist.77 Zwar können Land- und Forstwirte mittlerweile durch Handelsregistereintragung den Kaufmannsstatus erlangen (§ 3 Abs. 2, § 2 HGB). Aber selbst diese Eintragungshürde schreibt letztlich nur allzu erkennbar die antiquiert rechtspolitische Einschätzung aus dem 19. Jahrhundert fort, wonach Land- und Forstwirte »entweder als Gutsherrn oder als ärmliche[.] Analphabeten« – »jedenfalls als ein vom ›Handelsstand‹ . . . weit entferntes Subjekt« – einzustufen waren.78 Im 19. Jahrhundert mag diese Qualifi zierung noch stichhaltig gewesen sein79, waren damals der »immobile, dem Publikum äußerlich erkennbare . . . Produktionsablauf« und die Mentalität der Land- und Forstwirte den Gepflogenheiten des Kaufmannsstands noch wenig artverwandt80. Heute sind professionelle land- und forstwirtschaftliche Betriebe aber in ganz ähnlicher Weise wie andere berufl iche Einheiten organisiert, sodass ihre Sonderstellung nicht zuletzt rechtspolitische Friktionen hervorruft.81 Zunehmend erfordern auch moderne land- oder forstwirtschaftliche Betriebe größeren Umfangs einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb82 , was den BGH schon im Jahre 1960 veranlasst hat, einen Landwirtschaftsbetrieb als Gewerbebetrieb im Sinne des § 196 Abs. 1 Nr. 1 BGB a. F. einzustufen83. Dem dadurch zum Ausdruck kommenden Anpassungsbedarf ist der Gesetzgeber dagegen selbst mit dem Änderungsgesetz aus dem Jahre 1976 nicht vollständig gerecht geworden.84 Denn auch im Rahmen des damaligen Erneuerungsprozesses stellte der Gesetzgeber Landwirte nur wahlweise den Kaufleuten gleich (letztlich vor allem wegen des Zugangs zur steuergünstigen

76

Neuner, ZHR 157 (1993), 243 (273). Raisch, JuS 7 (1967), 533 (538); P. Bydlinski, ZIP 19 (1998), 1169 (1172). 78 K. Schmidt, JZ 58 (2003), 585 (589). 79 Olshausen, ZHR 141 (1977), 93 (93); K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, § 2 Rn. 4. 80 Schmidt-Tedd, Kaufmann und Verbraucherschutz in der EG, 2. Teil I. 3. a) (S. 20). 81 K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, § 3 Rn. 4; zum Stand im Jahre 1975: Raisch, FS für Ballerstedt (70. Gebtg.), S. 443 (S. 451 ff.). 82 Hofmann, NJW 29 (1976), 1297 (1297). 83 BGH – Urteil v. 24. 10. 1960, Az.: III ZR 142/59 – BGHZ 33, 321 (321). 84 Gesetz über die Kaufmannseigenschaften von Land- und Forstwirten vom 13. Mai 1976 – BGBl. 1976 I, S. 1197. 77

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

GmbH & Co. KG) 85, obwohl schon seinerzeit z. B. Hofmann den generellen Ausschluss von Landwirten in Anbetracht geänderter Rahmenbedingungen seit der Jahrhundertwende für »anachronistisch« hielt86. Auf diese Weise trägt die Kaufmannstypisierung mit ihrem statischen Ansatz heute erst recht die sonderprivatrechtliche Unfähigkeit zur Schau, gesetzesimmanent Änderungen zu adaptieren.87 III. Typisierung und richterliche »Entscheidungsschranken« Zu der mangelhaften Adaptibilität kommt hinzu, dass insbesondere im Verbraucherrecht der Gesetzgeber den Richter durch die Rigidität der Typisierungstatbestände in gewissem Umfang vor »vollendete Tatsachen« stellt.88 Denn in Fällen, in denen an einem Vertrag typisierte Personengruppen beteiligt sind (Verbraucher, Unternehmer) und man es zudem mit einer typisierten Schutzsituation zu tun hat, beschränkt sich die richterliche Aufklärungspfl icht auf das tatsächliche Vorliegen der für den Typisierungstatbestand erforderlichen Normelemente. In diesem Zusammenhang wäre eine Prüfung der konkret-individuellen Schutzbedürftigkeit selbst dann nicht zulässig, wenn die typisierte Risikoverteilung im Einzelfall (etwa wegen eines Ausbrechens aus dem Typisierungsmuster) grob unbillig wäre.89 Das Ausmaß an richterlichem Aufwand wird erheblich verringert. Leff sieht sich dadurch sogar veranlasst, von einer judikativen »economy of scale« zu sprechen, seien individuelle Konstellationen in Anbetracht der legislativen Typisierung doch nicht mehr auf einer »case-by-case«-Basis jedes Mal aufs Neue zu entscheiden (»each one of which is economically trivial«).90 Andererseits wird durch die judikative »Kompetenzbeschränkung« aber auch die Einzelfallgerechtigkeit dezimiert und die Maßgeblichkeit des Parteiwillens abgeschwächt. Während die Verfasser des BGB nicht alle problematischen Fallgestaltungen ausdrücklich aufgegriffen und der Rechtsprechung Raum zu Gesetzeskonkretisierungen in unvorhersehbaren Einzelfällen gegeben haben, hat der Gesetzgeber vor allem im Verbraucherrecht abschließende Typisierungsentscheidungen getroffen, die selbst bei atypischen Sachverhal85 Hofmann, NJW 29 (1976), 1297 (1297 ff.); Ohlshausen, ZHR 141 (1977), 93 (93– 124); K. Schmidt, in: K. Schmidt (Hrsg.): MünchKomm-HGB, § 2 Rn. 4; K. Schmidt, JZ 58 (2003), 585 (589). 86 Hofmann, NJW 29 (1976), 1297 (1297). 87 K. Schmidt, JZ 58 (2003), 585 (589). 88 Vgl. auch Pfeiffer, der im Zusammenhang mit Generalklauseln im Hinblick auf das »Richtlinien-Privatrecht« von einer »besonders detailfreudige[n], manchmal fast detailbesessen anmutende[n] Regelungstechnik« spricht [Pfeiffer, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.): Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 25 (S. 30)]. 89 Vgl. in Bezug auf das Verbrauchervertragsrecht: Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 4. Kap. § 2 II. 2. c) (S. 196). 90 Leff, UnivPittsburghLR 31 (1970), 349 (356, 357).

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ten, sofern sie nur tatbestandsmäßig sind, eine judizielle Korrekturentscheidung ausschließen. Selbst in Fällen, in denen eine der Vertragsparteien offensichtlich eine Ermessensentscheidung treffen konnte und durfte (wie dies bei einem unternehmerischen Klauselverwender der Fall ist), verschärft das Verbraucherrecht die Freiheit zur Vertragsgestaltung, indem es ausschließlich transparente Abreden zulässt und ein etwaiger Verstoß gegen das Transparenzgebot nicht die Aufklärungspfl icht des Richters verstärkt, sondern schlicht in die Unwirksamkeit der betreffenden Klausel mündet (§ 307 Abs. 1 S. 2 BGB).91 Nüchtern betrachtet schüren die verbraucherrechtlichen Schutzvorgaben damit Zweifel, ob sie wirklich der Kategorie an Rechtssystemen mit einer starken judikativen Gewalt zugeordnet werden können. In plastischer Übertreibung erinnern sie eher an den doktrinär übersteigerten Gewaltenteilungsgrundsatz von Friedrich Wilhelm II., der es in seinem Publikationspatent zum Preußischen Landrecht den Richtern »bei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade und schwerer Ahndung« ausdrücklich verbat, »von klaren und deutlichen Vorschriften der Gesetze, auf den Grund eines vermeintlichen philosophischen Raisonnements, oder unter dem Vorwande einer aus dem Zwecke und der Absicht des Gesetzes abzuleitenden Auslegung, die geringste eigenmächtige Abweichung . . . sich zu erlauben«.92 Ganz zu schweigen davon könnte man das Verbraucherrecht in Anbetracht der staatlichen Einflussdichte und der Rigidität seiner Normen schon fast als »Beschäftigungsprogramm für Rechtsanwälte« verstehen, wenn man bedenkt, dass es durch die hohe Anzahl seiner zwingenden Rechtsnormen regelmäßig auch eine größere Wahrscheinlichkeit der (partiellen) Vertragsnichtigkeit bietet.93 IV. Die schleichende Ausweitung der EuGH-Kompetenzen Darüber hinaus ragt das Verbraucherrecht in seinem Geltungsgrund auch dadurch hervor, dass es als umgesetztes Gemeinschaftsrecht im Lichte der jeweiligen Richtlinie auszulegen und anzuwenden ist.94 Die sowieso schon schwache Stellung des mitgliedstaatlichen Richters wird so auf der vertikalen 91

Zur Vertragsdurchführungstransparenz: Brock, ZVglRWiss 99 (2000), 29 (31). Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 7 II. (S. 88). 93 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie – »Mehr Vertragsfreiheit, geringere Regulierungsdichte, weniger Bürokratie«, Stellungnahme vom 16. 09. 2006, Ziff. I. (S. 3). 94 Zur richtlinienkonformen Auslegung im einzelnen: Müller-Graff, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9 (S. 51, 52); W.H. Roth, in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.): Europ. Kaufgewährleistungsrecht, S. 113 (S. 126 ff.); Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 3. Kap. C. I. (S. 49 ff.); dies., Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 2. Kap. B. (S. 87 ff.); W.-H. Roth, in: Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 25 (S. 30 ff.); I. Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, 1. Kap. § 4 II. 92

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Ebene durch die Vorlagepfl icht an den EuGH noch einmal herabgesetzt (Art. 234 EG).95 Komplementär dazu erfährt die Stellung des EuGH eine Aufwertung, weil allein er in die Lage versetzt wird, für eine gemeinschaftsweit einheitliche und kohärente Auslegung zu sorgen.96 Wegen der konkreten Betrachtungsweise sind nicht nur letztinstanzliche Gerichte zur Vorlage verpfl ichtet (Art. 234 Abs. 3 EG), sondern beispielsweise auch Amts- oder Landgerichte, deren Entscheidungen wegen Nichterreichung der Berufungssumme unanfechtbar sind.97 Über die gesamte Auslegung urteilt der EuGH, lediglich die Würdigung der konkreten Einzelfallumstände verbleibt beim nationalen Richter.98 Mit der Ratifi kation der EU-Reformverträge könnte dieses Vorlagepostulat (Art. 234 EG) dann auch im Rahmen der »Brüssel I«-Verordnung sowie gegebenenfalls im Rahmen des reformierten EVÜ (»Rom I«-Verordnung«) Platz greifen, womit selbst die eingeschränkte Vorlageberechtigung des Art. 68 EG endgültig der Vergangenheit angehörte.99 Dass das Auslegungsmonopol des EuGH sich auch auf nicht harmonisiertes Vertragsrecht erstreckt, entspricht im Übrigen bereits der derzeit geltenden Rechtslage.100 Denn in der Leur-Bloem-Entscheidung hat der EuGH neue Maßstäbe gesetzt und festgestellt, dass sich die Auslegungskompetenz gemäß Art. 234 EG auch auf autonom nationales, nicht harmonisiertes (Vertrags-) Recht beziehen kann.101 Voraussetzung ist lediglich, dass »der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung der Bestimmungen einer Richtlinie in nationales Recht beschlossen hat, rein innerstaatliche Realitätsausschnitte und Sachverhalte, die unter die Richtlinie fallen, gleichzubehandeln«.102 Er muss also seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften an das Gemeinschaftsrecht lediglich angepasst haben, sei es, um Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen zu 1. (S. 33 ff.); Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 2. Teil G. (S. 82 ff.). 95 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 2. Kap. C. (S. 94 ff.); Georgiades, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. II, S. 603 (S. 609). 96 Vgl. zur Kompetenzverteilung zwischen EuGH und nationalem Richter hinsichtlich der Auslegung und Anwendung der allgemeinen Bestimmungen der Missbräuchlichkeit nach der Klauselrichtlinie: EuGH – Freiburger Kommunalbauten/Hofstetter – Urteil v. 01.04. 2004, Rs. C-237/02 – Slg. 2004, I-3403 Tz. 15 ff. 97 Müller-Graff, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9 (S. 55, 56). 98 EuGH – Freiburger Kommunalbauten/Hofstetter – Urteil v. 01. 04. 2004, Rs. C237/02 – Slg. 2004, I-3403. 99 U. G. Schroeter, ZEuP 14 (2006), 515 (545, 546). 100 W.-H. Roth, in: Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt (Hrsg.): Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 25 (S. 35, 36). 101 EuGH – Leur-Bloem/Inspecteur – Urteil v. 17. 07. 1997, Rs. C-28/95 – Slg. 1997, I4161. 102 EuGH – Leur-Bloem/Inspecteur – Urteil v. 17. 07. 1997, Rs. C-28/95 – Slg. 1997, I4161 Leitsatz 5.

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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verhindern oder Wettbewerbsverzerrungen entgegen zu treten. In all diesen Fällen bestehe ein »klares Interesse der Gemeinschaft daran, dass die aus dem Gemeinschaftsrecht übernommenen Bestimmungen und Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern«.103

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung Ist allein auf Grund der dargestellten sonderprivatrechtlichen Eigenarten und Defi zite die Kohärenz des »inneren Vertragsrechtssystems« aber bereits gestört? – Nicht notwendigerweise. Typisierungen erkaufen größere Rechtssicherheit zwar bewusst mit geringerer Einzelfallgerechtigkeit – ein Konzept, dem Hilfskonstruktionen zur Abschwächung der Typisierungsintensität der Sonderprivatrechte wie diejenige von F. Bydlinski (teleologische Reduktion des Verbraucherbegriffs in Einzelkonstellationen fehlender Schutzbedürftigkeit104) gerade zuwiderlaufen würden. Andererseits zeigt aber bereits das klassische Privatrecht, dass Typisierung kein dem Wesen des Privatrechts an sich zuwiderlaufendes Spezialphänomen abdriftender »Normorganismen« ist. Zwar vollzieht das BGB keine Typisierung, wie sie den Sonderprivatrechten inhärent ist. Im Hinblick auf Einzelaspekte einer Person erlauben aber selbst die Grundnormen des BGB eine Aufteilung von Menschen in konkrete Vergleichsgruppen nach Alter, Bildung, Lebensstellung und anderen Typisierungsfaktoren. § 276 BGB macht dies am Beispiel des Verschuldensmaßstabs anschaulich.105 Das objektive Maß an Sorgfalt, das an eine Hausfrau gestellt wird, ist danach z. B. anders zu beurteilen als der Sorgfaltsmaßstab, der berufstätigen Ärzten oder Kaufleuten abzuverlangen ist.106 Obwohl sich § 276 BGB auf die gesetzliche »Verschuldens«-Dogmatik beschränkt, ist die damit einhergehende Typisierung bereits der Privat- und Vertragsrechtsdogmatik im klassischen Sinne institutsimmanent. Dies gibt Anlass, zu der Frage überzuleiten, ob auch die Herausbildung von Sonderprivat103 EuGH – Leur-Bloem/Inspecteur – Urteil v. 17. 07. 1997, Rs. C-28/95 – Slg. 1997, I4161 Tz. 32. 104 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 4. Hteil. IV. 4 d) (S. 729 ff.); a. A.: Mohr, AcP 204 (2004), 660 (681). 105 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 3. Kap. III. (S. 41). 106 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 3. Kap. III. (S. 41); K. Schmidt., Handelsrecht, § 18 III. 1. a) (S. 526); Hefermehl, in: Schlegelberger, HGB-Kommentar, § 347 Rn. 1; Horn, in: Horn (Hrsg.): Heymann – HGB, § 347 Rn. 1, 2.

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

rechten nicht dem Vertragsbegriff an sich bereits eigen ist bzw. zumindest zu einem defi nierbaren Anteil einem natürlichen Vertragsverständnis entspricht. Zwar ist das Vertragsrecht kein natürliches Phänomen und als solches auch nicht der grundrechtlichen Kontrolle apriorisch vorgelagert. Um für den Schutz der Vertragsfreiheit einen normativ-realen Ausgangspunkt zu erlangen, muss aber ein den Grundrechten vorgelagerter Normbereich existieren, der die Frage danach, was unter einem von der Rechtsordnung akzeptierten Vertrag zu verstehen ist, defi niert und entsprechende Ausgestaltungsvorschriften bereit hält.107 Dadurch bedingt müssen die Grundrechte bei der Privatrechtsordnung eine Art »Anleihe« machen, um den Vertragsbegriff als rechtliches Gestaltungsmittel überhaupt zu defi nieren.108 Wäre in diesem Sinne bereits dem Vertragsbegriff eine gruppenbezogene Differenzierung inhärent, könnte es sich bei den Sondervertragsrechten um begriffsausgestaltende Vorschriften handeln, die der Prüfung an höherrangigen Legitimitätsmaßstäben – zu einem defi nierbaren Anteil – entzogen wären.109 Die Abspaltung von Sonderprivatrechten würde von vornherein kein Legitimitätsproblem aufwerfen, weil sie dem »inneren« System der Rechtsordnung bereits institutionsausgestaltend entsprechen würde.

107 Zwischen Vorschriften, die für die Privatrechtsgesellschaft konstitutiv sind, und solchen, die ihr entgegen wirken, differenzierend: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 6 II. 1. c) (S. 233, 234). 108 Roscher, Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem, 3. Teil 2. Abschnitt I. (S. 46); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. I. 5 b) bb) (S. 92). 109 Sicherlich zu weitgehend sind die vertragsfreiheitlichen Vorrangmodelle von Struck, Roscher und Huber: So ist Struck etwa der Ansicht, dass vertragsfreiheitliche Erwägungen nicht verfassungsrechtlich veranlasst, sondern in ihrer Quintessenz Ausfluss gesellschaftsund wirtschaftspolitischer Erwägungen seien. Struck verneint daher die verfassungsrechtliche Absicherung der Vertragsfreiheit in toto: Greife der Gesetzgeber etwa aus Gründen des Verbraucherschutzes in den Freiheitsraum des einzelnen ein, sei er keiner spezifisch verfassungsrechtlichen Rechtfertigungspfl icht unterworfen [Struck, DuR 16 (1988), 39 (39 ff.)]. Einen ähnlichen Ansatz in relativierter Form vertritt Roscher: Er lehnt einen grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit ab, da der grundrechtliche Schutz der Selbstbestimmung und der einfachgesetzliche Schutz der Vertragsfreiheit nicht gleichgesetzt werden könnten. Vielmehr bestehe zwischen der Verfassung und dem Privatrecht ein Verhältnis von Grundsatz – das sei die grundrechtliche Selbstbestimmung – und Ausformung des Verfassungsrechts durch das einfache Recht – das sei die privatrechtliche Vertragsfreiheit. Demzufolge sei der Gesetzgeber aus Gründen des Grundrechtsschutzes nicht daran gehindert, von der Tradition der freiheitlich geprägten Vertragsrechtsordnung abzugehen, sofern nur die verfassungsrechtlich gewährleistete Handlungsfreiheit eingehalten werde [Roscher, Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem, 3. Teil 2. Abschnitt I. und III. (S. 46 ff. und S. 55 ff.)]. Ähnlich ordnet auch Huber die Vertragsfreiheit weder den Grundrechten noch dem einfachen Recht zu. Vielmehr habe die Vertragsfreiheit ihre Wurzeln in einer Gesamtentscheidung des Grundgesetzes für eine Privatrechtsordnung. Sie sei zwar keine Institutsgarantie, aber ein Abstraktionsbegriff, der lediglich in seinem Kern eine der Institutsgarantie vergleichbare Wirkung entfalte (Huber, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit, S. 19, 29 und S. 30, 31).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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A. Vertragsrechtsmodelle in der Literatur Die vertragstheoretische Literatur zu der Frage, inwieweit ein unterschiedliches persönliches oder rollenspezifisches Sonderrecht für typisierbare Teilnehmer am Rechtsverkehr anzuerkennen ist, hat vor allem seit den 1970er Jahren unter dem Stichwort des »Verbraucherschutzes« zu einer kaum noch zu überschauenden Diskussion geführt.110 Dabei wird insbesondere im Hinblick auf die mögliche Begriffsimmanenz der sonderprivatrechtlichen Gruppentypisierung nicht einheitlich beurteilt, welche Vorschriften noch eine Ausgestaltung des Vertrages darstellen und welche Vorschriften bereits eine Einschränkung der Vertragsfreiheit und sonstiger Legitimitätsmaßstäbe postulieren. Abgesehen von der Ausbildung willenstheoretischer, konsenstheoretischer, wohlfahrtsökonomischer und welfaristischer Ansätze111, deren erschöpfende Behandlung den vorstehenden Rahmen übersteigen würde, hat häufig das jüngere Schrifttum eine antithetische Stellung gegenüber dem älteren Schrifttum bezogen, was wiederum auf der anderen Seite eine entsprechende Gegenstellungnahme hervorgerufen hat112 . I. Schmidt-Rimpler und die Lehre von der Richtigkeitsgewähr Ein oftmals behandeltes (aber an keiner Stelle im Hinblick auf die sonderprivatrechtliche Systembildung problematisiertes) Vertragsrechtsmodell geht auf Schmidt-Rimpler und dessen 1941 veröffentlichten Aufsatz zurück.113 Im Gegensatz zu dem bis dahin herrschenden rein prozeduralen Freiheitsbegriff stellte Schmidt-Rimpler die formal-prozedurale Freiheit in eine funktionale Beziehung zu dem materialen Aspekt der Gerechtigkeit.114 Als beherrschendes Prinzip seines Vertragsmodells erachtete er das Prinzip der Gerechtigkeit, das 110 Vgl. im Überblick: U. Neumann, Der persönliche Anwendungsbereich vertraglicher Schutzvorschriften, 2. Kap. C. (S. 12 ff.). 111 Hierzu im Überblick: Dreißigacker, Sprachenfreiheit im Verbrauchervertragsrecht, II. 1. c) (S. 136 ff.); Wilhelmsson, in: Wilhelmsson (Hrsg.): Perspectives of Critical Contract Law, S. 9 (S. 16 ff.); zum welfaristischen Modell: Wilhelmsson, Critical Studies in Private Law, Chapt. III (S. 51 ff.). 112 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (132); Wilhelmsson, in: Wilhelmsson (Hrsg.): Perspectives of Critical Contract Law, S. 9 (S. 9 ff.). 113 Zum geschichtlichen Hintergrund dieses Modells (Verteidigung der Vertragsrechtsordnung »gegen die Zurückdrängung durch den nationalsozialistischen Staat«): Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 3 II. 1. b) (S. 133). 114 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (130 ff.); vgl. hierzu auch: Limmer, in: RheinNotarK (Hrsg.): Notar und Rechtsgestaltung, S. 15 (S. 25); Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil A. II. 2. (S. 11); M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 3 VIII. 2. (S. 68 ff.); Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 4. Kap. D. I. 3. b) (S. 300 ff.); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 5. Kap. II. 1. (S. 174, 175); Limbach, KritV 72 (1986), 165 (176, 177); Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 3 II. 1. (S. 133 ff.).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

er dem Oberbegriff der Richtigkeit der Rechtsfolge zuordnet.115 Das Zweckmäßige sei nur gerecht, wenn es der Gerechtigkeit nicht widerspreche.116 Als grundsätzliche Richtigkeitsprinzipien setzt er die Rechtssicherheit und Verkehrssicherheit voraus, die dem Lebensbedürfnis der Gemeinschaft nach Ordnung und Vertrauensschutz entspringen.117 Sie verschaffen dem Erwerber einen individuellen Vorteil und gehen regelmäßig zu Lasten der sachlichen Richtigkeit, weil etwa eine für den Erwerb erforderliche Voraussetzung fehlt.118 Vor diesem Hintergrund könne die Verkehrssicherheit niemals das Grundprinzip für den Erwerb einer Rechtsstellung sein, sondern immer nur eine Ausnahme zu der sachlichen Richtigkeit darstellen.119 Das rechtspolitische Problem des Vertrages ist nach Schmidt-Rimpler ein Ordnungsproblem. Dieses läuft auf die Frage hinaus, inwieweit das Richtigkeitsprinzip verwirklicht werden kann, indem privaten Vertragsparteien die Gestaltung ihrer Beziehungen privatautonom in eigener Verantwortung überlassen wird, und inwieweit hoheitliche Gestaltung durch die Gemeinschaft selbst eingreifen muss, um richtige Ergebnisse zu erzielen.120 Grundsätzlich ordnet Schmidt-Rimpler dem Hoheitsträger nur die Aufgabe zu, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen der Einzelne auf ein Wollen, auf die Erklärung seines Willens und die Herbeiführung einer Rechtsfolge hin wirkt.121 Welche Verwirklichung des Willens das Recht vorschreibt, bestimme sich nach Richtigkeitserwägungen und folge nicht a priori aus dem Begriff der Willenserklärung oder der Rechtsfolge.122 Denn der Sinn des Rechtsgeschäfts sei es nicht, den einzelnen Rechtsgenossen die Gestaltung ihrer Verhältnisse zu beliebiger Selbstbestimmung zu überlassen, sondern einen Mechanismus zur Herbeiführung richtiger Regelungen zur Verfügung zu stellen.123 Durch die Kombination der beiden Gestaltungskräfte »individuell« und »überindividuell« (hoheitlich) 124 gelangt Schmidt-Rimpler zu der Erkenntnis, dass bei Verträgen die Richtigkeit der Rechtsfolge in aller Regel verbürgt sei; denn beide Parteien müssten der Rechtsfolge zustimmen. Der Ausgleichsprozess des Vertrages sei an sich bereits gerecht und führe zu »richtigen« Ergebnissen (individuell).125 Kein geeignetes Mittel zur Ordnung der Lebensverhältnisse sei der Vertrag dagegen, wenn die Funktionsvor115 Diese Ausrichtung kritisierend: Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, § 4 V. 2. (S. 52 ff.); Canaris, FS für Lerche (65. Gebtg.), S. 873 (S. 883); Enders, Neuerungen im Recht der Verbraucherdarlehensverträge, B. II. 3. c) (S. 39 ff.); zustimmend: Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 1. Teil (S. 70 ff.). 116 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (133). 117 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (133, 134); zustimmend: F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpfl ichtenden Rechtsgeschäfts, 1. Teil VII. (S. 62 ff.). 118 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (133 ff.). 119 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (137, 138). 120 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (138). 121 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (147). 122 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (147). 123 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (155, 156). 124 Vgl. hierzu: Reinhardt, FS für Schmidt-Rimpler (70. Gebtg.), S. 115 (S. 117 ff.). 125 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (154 ff.); vgl. auch: Brox, JZ 13 (1966), 761 (761, 762); diesen Aspekt in den Gesamtzusammenhang einer prozeduralen Vertragsge-

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aussetzungen seines Mechanismus versagen.126 Hiervon ist nach Schmidt-Rimpler z. B. auszugehen, wenn zwischen den Parteien eine solche Imparität besteht, dass die vereinbarte Rechtsfolge faktisch nur von einem Beteiligten »gewollt« ist.127 Um die Gefahr von Unrichtigkeiten zu vermeiden, sei in diesen Fällen eine hoheitliche Gestaltung durch den Gesetzgeber erforderlich (überindividuell) 128 – eine Notwendigkeit, welche der Liberalismus nicht zugelassen habe129.

Anhaltspunkte für einen gespaltenen Vertragsbegriff können Schmidt-Rimplers Ausführungen nur mittelbar entnommen werden. Ausdrücklich propagiert er weder bei Verbrauchern, Unternehmern noch Kaufleuten eine spezifisch sonderrechtliche Typenkorrektur – nicht einmal aus Richtigkeitsgründen. Selbst aus der Differenzierung zwischen funktionierendem Vertragsmechanismus (mit Richtigkeitsgewähr) und nicht funktionierendem Vertragsmechanismus (mit hoheitlicher Ausgestaltung) könnten Gebote sonderprivatrechtlicher Typisierung nur mit erheblichen Schwierigkeiten abgeleitet werden. Bei einer Funktionsstörung wäre ein staatlicher Eingriff zwar auch nach SchmidtRimpler auf der Grundlage staatlicher Sondertypisierung zulässig. Wann und mit welchem Typisierungsmuster dabei vorzugehen wäre, ließe sich aber lediglich dem Begriff der Richtigkeit entnehmen. Gerade dieser Ausgangsbegriff ist aber (obwohl Schmidt-Rimpler ihn zum Dreh- und Angelpunkt seiner Dogmatik macht) zu unpräzise, weil er ähnlich wie der utilitaristische Maßstab der »happiness« oder Richtlinien anderer philosophischer Strömungen keine eindeutigen Vorgaben für die sonderprivatrechtlichen Typenbildungen liefern kann.130 Vergleichbar dem »Greatest Happiness Principle« gibt es auch im Hinblick auf die Richtigkeit – den gesellschaftlichen Wertungen entsprechend – keine objektive, absolute Richtigkeit, sondern prinzipiell so viele »Richtigkeiten« wie Rechtssubjekte und Instanzen vorhanden sind, die über die Richtigkeit frei bestimmen.131 Schmidt-Rimpler selbst geht davon aus, dass unter Richtigkeit einerseits »die ethisch bestimmte Gerechtigkeit im engeren Sinne, andererseits aber auch die von der Gemeinschaft aus gesehene Zweckmäßigkeit« zu verstehen ist, wobei das Zweckmäßige nur richtig sein könne, wenn es der Gerechtigkeit nicht widerspreche.132 Auf diese Weise trete neben die Richtigkeit zur Wahrung des vertraglichen Interessenausgleichs die Richtigkeit zur rechtigkeit bringend: Canaris, AcP 200 (2000), 273 (284); kritisch: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 4 II. (S. 9 ff.). 126 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (157). 127 Vgl. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (151). 128 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (165 ff.). 129 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (157). 130 Zum Utilitarismus: Mill, On Liberty and Utilitarianism, Utilitarianism II. (S. 144). 131 L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 118); vgl. auch: Paw-lowski, Methodenlehre für Juristen, § 13 Rn. 588 ff. (S. 258 ff.). 132 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (132, 133).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Wahrung der Gemeinschaftsbelange. Ausdrücklich deutet er die Möglichkeit vertragsbegriffl icher Typisierung nur entfernt durch Anerkennung rechtsgeschäftlicher »Sonderverbindungen« (Hilfsverbindungen) an, die der Versorgung oder dem Zusammenwirken dienen und nicht nur vertraglich, sondern auch hoheitlich geregelt werden können.133 Im vorliegenden Zusammenhang ist ausgerechnet diese Art der Typisierung allerdings von geringer Relevanz. II. Flume – Privatautonome Gestaltung und Wesen der Privatautonomie Flume stimmt mit Schmidt-Rimpler insofern überein, als der Vertrag zur Herbeiführung einer »richtigen« Regelung beitrage.134 Im Gegensatz zu SchmidtRimpler hält er als Begründung für dieses Phänomen jedoch nicht den Vertrag als »Mechanismus« für entscheidend, sondern die »Willensherrschaft« der Vertragsparteien.135 Der Vertrag sei allenfalls deshalb richtig, »weil und soweit er von der beiderseitigen Selbstbestimmung der Vertragsschließenden getragen« sei.136 Deshalb könne sich das Richtigkeitsurteil von vornherein nur auf die Art des Zustandekommens des Vertrages beziehen, die aus einer selbstbestimmten Regelung der Vertragsparteien besteht.137 Darüber hinaus wäre das Urteil der »Richtigkeit« oder »Unrichtigkeit« als rechtliches Urteil über den Inhalt der privatautonomen Gestaltung dagegen ein Widerspruch in sich.138 Nach der Dogmatik Flumes schließen sich Privatautonomie und rechtliches Urteil gegenseitig aus; soweit die Privatautonomie reicht, sind Normen, an denen die Richtigkeit ausgerichtet werden könnte, gar nicht vorhanden.139 Denn Flume begreift Privatautonomie als Gestaltung der Rechtsverhältnisse nach eigenem Willen ohne Fremdbestimmung, bei der die willentliche Entscheidung gilt, weil sie gewollt ist und der Wille des Einzelnen als solcher respektiert wird.140 Aufschlussreich für den Vertragsbegriff, von dem Flume ausgeht, ist das Verständnis, das er dem Verhältnis von Privatautonomie und Grundrechten zugrunde legt. Dabei lehnt Flume es ab, das Recht auf Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse mit den sons133

Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (139, 140). Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 142, 143); ders., Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 6 a) (S. 7, 8). 135 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 142); die Unterschiede zwischen Schmidt-Rimpler und Flume herausarbeitend: Brox, JZ 13 (1966), 761 (761, 762). 136 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 143); hierzu kritisch: Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 5. Kap. III. 2. (S. 191, 192). 137 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 143); ders., Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 6 a) (S. 8). 138 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 143). 139 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 143). 140 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 136, 141); ders., Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 1 (S. 1); kritisch: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 4 I. (S. 8, 9). 134

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tigen im Grundrechtskatalog aufgeführten persönlichen Freiheitsrechten auf eine Stufe zu stellen. Die Vertragsfreiheit könne weder als »apriorisches Freiheitsrecht hypostasiert« werden noch dem Vorbehalt der »verfassungsmäßigen Ordnung« gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ausgesetzt werden; vielmehr erfordere die Vertragsfreiheit die Rechtsordnung als Korrelat.141 Weil nur Rechtsverhältnisse gestaltet und Akte zur Gestaltung von Rechtsverhältnissen eingesetzt werden könnten, welche die Rechtsordnung anerkennt, postuliere die Zivilrechtsordnung keine Einschränkung der Freiheit; lediglich eine Bestätigung der Vertragsfreiheit gehe mit ihr einher, sodass ihre Normen nicht dem Rechtfertigungsmaßstab des Art. 2 Abs. 1 GG genügen müssten.142 Vor dem Hintergrund, dass sich aus der verfassungsmäßigen Gewährleistung der Privatautonomie keine Folgerungen für den Inhalt der Privatrechtsordnung ergäben, sei es dem Gesetzgeber sogar erlaubt, überkommene Rechtsfiguren aufzuheben und den Bereich privatautonomer Gestaltungsmöglichkeiten einzuengen.143 Nach Flumes Vorstellung muss die rechtliche Anerkennung der privatautonomen Gestaltung unabhängig davon erfolgen, ob die Freiheit unter idealen Bedingungen ausgeübt worden ist144 ; andererseits könne Privatautonomie als Rechtsprinzip aber nur verwirklicht werden, wenn auch tatsächlich die Macht zur Selbstbestimmung besteht145. Damit seien Zwang und Privatautonomie miteinander unvereinbar, sodass ungleiche Machtverteilung ein ewiges Dilemma der Privatautonomie begründe.146 Sonderprivatrechten und privatrechtlichen Teilbereichen, in denen die Vertragsfreiheit in vielfältiger Weise eingeschränkt wird, steht Flume kritisch gegenüber. In den zwingenden Regelungen des Arbeitsrechts, des Mietrechts, des Kontrahierungszwangs und der Allgemeinen Geschäftsbedingungen erblickt er einen Beleg dafür, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts sich einerseits die Fälle einseitiger Machtlagen erheblich vermehrt haben, andererseits aber auch das Bewusstsein zur Regulierung dieser Machtlagen gewachsen sei.147 Seit dem 19. Jahrhundert habe sich nicht das Wesen der Privatautonomie geändert, sondern das Wesen selbst, also die tatsächlichen Umstände, unter denen von Selbstbestimmung Gebrauch gemacht werden kann.148

Anhaltspunkte dafür, ob und inwiefern Sonderprivatrechte dem Vertragsbegriff bereits inhärent sind, liefert Flume keine; die Anmaßung eines solchen Urteils würde nicht zuletzt auch seiner Vorstellung widersprechen, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Privatrechtsordnung keinen verfassungsrechtlichen Autonomieschranken unterliegt. Umso bemerkenswerter ist, dass Flume die Zunahme zwingender Rechtsvorschriften seit dem 19. Jahrhundert als Ausdruck dessen interpretiert, dass das Verständnis für das We141

Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 136, 137). Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 137); ders., Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 (S. 1 ff.). 143 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 138, 139). 144 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 141). 145 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 143); ders., Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 7 (S. 10). 146 Flume, Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 7 (S. 10); ders., FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 143). 147 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 145 ff.); ders., Das Rechtsgeschäft, AT BGB Bd. 2, § 1 Ziff. 7 (S. 10 ff.). 148 Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 147). 142

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

sen der Privatautonomie bei den Juristen rückläufig ist.149 Auch wenn Flume damit einerseits dem Gesetzgeber keine verfassungsrechtlichen Schranken auferlegt, die Privatautonomie einzuengen und entsprechende Sonderprivatrechte zu etablieren, bringt er andererseits hinsichtlich des Wesens der Privatautonomie unverblümt ein formal-liberales Selbstbestimmungsverständnis zum Ausdruck. Ob zwingendes Recht mit Typisierungscharakter zu einer systemgerechten Ordnung führe, sei letztlich danach zu beurteilen, ob die damit einhergehenden »Einschränkungen auch wirklich aus dem Wesen der Privatautonomie gerechtfertigt sei[n könnten]«.150 Gerade dieses Wesen der Privatautonomie wird durch die Vertragsrechtsdivergenz allerdings in Frage gestellt, indem es eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten bietet. Eine »Institutsimmanenz der Sonderprivatrechte« lässt sich aus Flumes Ausführungen folglich nicht deduzieren. III. M. Wolfs Theorie der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit M. Wolf führt den Gedanken der Selbstbestimmung fort und erweitert ihn in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1970 zum Dogma der rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit.151 Das selbsterklärte Ziel seiner Untersuchung besteht darin, orientiert an dem Prinzip der Privatautonomie in allen Fällen einer Beeinträchtigung der Selbstbestimmung auf Grund einheitlicher Schutzprinzipien Schutz zu gewähren.152 Dabei konzentriert er sich auf Konstellationen, in denen ein Vertragsteil in der selbstbestimmten Wahrnehmung seiner Interessen bei der Vertragsgestaltung beeinträchtigt ist und der andere Teil korrespondierend dazu die Möglichkeit erhält, einseitig seine Interessen durchzusetzen.153 Zu der Entwicklung allgemeiner Prinzipien über die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit sah er sich veranlasst, weil die damalige Rechtsprechung die Vertragsfreiheit mit »zweierlei Maß« durchsetzte: Während bei dem Einzelarbeitsvertrag und den Allgemeinen Geschäftsbedingungen die ungleichen Machtverhältnisse in richterlicher Rechtsfortbildung überprüft wurden154, war man bei der Inhaltskontrolle sonstiger unangemes149

Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 146). Flume, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 135 (S. 147). 151 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, S. 1 ff.; ders., JZ 26 (1971), 376 (376 ff.); hierzu kritisch: Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 5. Kap. III. 4. (S. 194). 152 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 1 I. 3. (S. 4). 153 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 1 I. 2. (S. 2, 3). 154 Zum Einzelarbeitsvertrag von M. Wolf als Beispiel aufgeführt: BAG – Urteil v. 03. 05. 1962, Az.: AZR 451/61 – NJW 15 (1962), 1587 (1587); zu von M. Wolf AGB u. a. als Beispiele genannt: BGH – Urteil v. 22. 05. 1968, Az.: VIII ZR 133/66 – NJW 21 (1968), 1718 (1720); Urteil v. 08. 10. 1969, Az.: VIII ZR 20/68 – NJW 23 (1970), 29 (31); Urteil v. 150

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sener Vereinbarungen bei den Grundsätzen zum Knebelungsvertrag (§ 138 BGB) stehen geblieben155. Mit Flume stimmt M. Wolf insofern überein, als er die Selbstbestimmung als das bestimmende Element der Vertragsfreiheit begreift.156 Dabei stellt M. Wolf maßgeblich auf das Verhältnis zwischen Selbstbestimmung und Willen im Hinblick auf die Entscheidungsfreiheit sowie auf das Verhältnis zwischen Vertragsgerechtigkeit und Selbstbestimmung ab.157 Während individualbezogen nur der freie, nicht jedoch der aufgezwungene Wille die Gültigkeit einer Willenserklärung und damit die Grundlage für rechtsgeschäftliche Rechtsfolgen bilden könne158, dürfe gemeinwohlbezogen die Vertragsgerechtigkeit nur in Ausnahmefällen den selbstbestimmten Interessenausgleich verdrängen, weil ansonsten den Vertragsparteien die Gestaltungsfreiheit völlig entzogen wäre159. Übe eine Partei ihre Vertragsfreiheit unter Beeinträchtigung der Selbstbestimmung der anderen Partei missbräuchlich aus, indem sie die Vertragsfreiheit einseitig einsetze, müsse die Vertragsgerechtigkeit an die Stelle der Vertragsfreiheit treten, um die Ordnungsfunktion des mangels Selbstbestimmung fehlgeschlagenen Interessenausgleichs zu übernehmen.160 Grundsätzlich geht M. Wolf davon aus, dass die Wahrnehmung der jeweils eigenen Interessen durch Vertragsparteien, die auch die Möglichkeit zur Geltendmachung dieser Interessen haben, zu einem gerechten Interessenausgleich führt.161 Rechtsfolgen, deren Eintritt eine Partei zielbewusst gewollt hat oder deren Eintritt sie hätte vermeiden können, werden ihr als Ausfluss der Selbstverantwortung zugerechnet; lediglich in Konstellationen ungleicher Machtlagen, in denen eine Partei ihre Rechtsfolgen nicht selbstbestimmt herbeiführen oder verhindern könne, scheide auch die Selbstverantwortung als Zurechnungsgrund aus.162 In solchen Konstellationen setzten die Gemein29. 09. 1960, Az.: II ZR 25/59 – BGHZ 33, 216 (218 ff.); Urteil v. 29. 10. 1962, Az.: II ZR 31/61 – BGHZ 38, 183 (185); Urteil v. 17. 02. 1964, Az.: II ZR 98/62 – BGHZ 41, 151 (153); Urteil v. 05. 05. 1969, Az.: II ZR 263/67 – BGHZ 52, 61 (63, 64). 155 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 1 I. 1. und § 3 II. 2. (S. 2 und S. 38, 39). 156 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 2 III. 1. (S. 19). 157 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 2 IV. 1. c) und § 3 (S. 27 und 35 ff.); im Rahmen der gerichtlichen Billigkeitskontrolle auf M. Wolf rekurrierend: BAG – Urteil v. 21. 12. 1970, Az.: 3 AZR 510/69 – WM 25 (1971, 573 (574). 158 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 2 IV. 1. c) (S. 27). 159 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 3 I. 3. b) (S. 35, 36). 160 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 3 VII. 1. (S. 59 ff.). 161 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 3 VIII. 2. a) (S. 69, 70). 162 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 4 (S. 75 ff.).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

schaftsinteressen ein, die in Form von zwingenden Vorschriften den Vorrang gegenüber der Selbstbestimmung beanspruchen könnten, um an Stelle der Selbstbestimmung Funktionsfähigkeit wiederherzustellen.163 Grundvoraussetzung eines selbstbestimmten Interessenausgleichs sei es, dass der Einzelne die Fähigkeit zur richtigen Beurteilung seiner Verhältnisse und Interessen habe, die auf eigener freier Beurteilung ruhende Entscheidung durchsetzen (Entscheidungsfreiheit) und die vom Vertragspartner gewollte Regelung inhaltlich erfassen könne (ordnungsgemäße Verständigung).164 Beeinträchtigt sieht M. Wolf die Entscheidungsfreiheit unter drei Voraussetzungen: Es müsse eine Verkoppelung vorliegen, bei welcher der stärkere Partner den Vertragsschluss von der Anerkennung unberechtigter Vertragsbedingungen abhängig macht; der stärkere Partner müsse sachfremde Interessen verfolgen; und die sachfremden Interessen müssen eine intensivere Wertausstrahlung einnehmen.165 Weil das Vorliegen von Entscheidungsfreiheit Gültigkeitsvoraussetzung sei, müsse deren Fehlen die vertragliche Bindung in irgendeiner Weise beeinträchtigen.166 In der Regel sei von der Unwirksamkeit derjenigen Regelung auszugehen, die ohne Entscheidungsfreiheit getroffen sei, wohingegen der wirksam vereinbarte Rest des Vertrages entgegen § 139 BGB in seiner Geltung unversehrt bleibe.167

M. Wolf fokussiert seine Untersuchungen nach eigenen Bekundungen ausdrücklich auf Ungleichgewichtslagen, bei denen die fehlende Entscheidungsfreiheit des zu Schützenden einer wirtschaftlichen Unterlegenheit entspringt.168 Weil gerade dieser Aspekt (d. h. der Aspekt der wirtschaftlichen Unterlegenheit) weder für die verbraucher- noch für die handelsrechtliche Sonderkodifikation leitbildprägend ist, liefert M. Wolf für die Legitimität der vorgenannten Sonderprivatrechte nur im entfernten Anhaltspunkte. Wirklich aufschlussreich ist lediglich seine »Verbraucher-Unternehmer«-Typisierung bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen: Während die Entscheidungsfreiheit von Endverbrauchern bereits dann gefährdet sei, wenn es um ihr Interesse auf Teilhabe an den zum allgemeinen Lebensstandard gehörenden Gütern und Leistungen gehe, sei die Entscheidungsfreiheit von Unternehmern nur hinsichtlich der Ausübung der Unternehmertätigkeit sowie hinsichtlich

163 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 5 II. (S. 85 ff.). 164 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 6 (S. 101 ff.); ähnlich: Zöllner, AcP 196 (1996), 1 (28); kritisch: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 4 IV. 1. (S. 18 ff.). 165 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, §§ 7 ff. 6 (S. 111 ff.). 166 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 14 I. 1. (S. 278); hierzu kritisch: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 1 IV. 3. (S. 8); Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, § 4 II. 3. (S. 40); Fikentscher, FS für Hefermehl (65. Gebtg.), S. 41 (S. 49, 50). 167 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 14 III. (S. 281 ff.). 168 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 2 II. 3. e) (S. 18).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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der Erhaltung des Unternehmens im Konkurrenzkampf geschützt, nicht jedoch hinsichtlich des Interesses auf Gewinnerzielung.169 Zumindest teilweise scheint sich damit auch die Dogmatik der Entscheidungsfreiheit an der »Verbraucher-Unternehmer«-Typisierung zu orientieren, denn auch M. Wolf vertritt die nahe liegende Ansicht, dass von einem Unternehmer eher als von einem Verbraucher erwartet werden kann, dass er seine Marktchancen ausnutzt, seine Kenntnisse funktional anwendet und die im Markt geforderten Mittel effektiv zum Einsatz bringt.170 IV. Dauner-Lieb – »Liberales Informationsmodell« Weil »über Stellenwert und sachlichen Gehalt des Topos Verbraucherschutz . . . wenig Klarheit besteht«171, sah Dauner-Lieb sich in ihrer 1983 veröffentlichten Dissertation veranlasst, das Verhältnis zwischen einem sachbezogenen Abnehmerschutz, in den alle betroffenen Rechtssubjekte in Einlang mit dem privatrechtlichen Prinzip der formal-abstrakten Gleichheit einbezogen werden, und einem bewusst privatrechtlichen Verbraucherschutz als Instrument zum Schutz ganz bestimmter benachteiligter Abnehmergruppen näher zu beleuchten.172 Nach Ansicht von Dauner-Lieb bedeutet privatrechtlicher Verbraucherschutz Ungleichbehandlung, weil das Prinzip formal-abstrakter Gleichheit, d. h. die Gleichheit aller vor dem Gesetz, zugunsten bestimmter Abnehmergruppen bzw. des Verwendungszwecks »Konsum« partiell durchbrochen werde.173 Als Grundlagen des Verbraucherschutzes begreift DaunerLieb zwei miteinander unvereinbare Tendenzen, die man »als liberales Informationsmodell einerseits und als soziales Verbraucherschutzmodell andererseits, kennzeichnen könnte«.174

169 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 12 VI. (S. 264). 170 M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, § 12 VI. (S. 265). 171 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. III. (S. 17). 172 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. IV., V. (S. 19 ff.). 173 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. VI. (S. 23). 174 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. VIII. (S. 26); vgl. hierzu aus der Perspektive der schwedischen Gesetzgebung auch: Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 1. Teil 1. Kap. A. IV. und B. II. (S. 36, 37 und S. 45, 46); zum liberalen Informationsmodell vgl. auch: Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 2 IV. 2. a) (S. 104 ff.); Enders, Neuerungen im Recht der Verbraucherdarlehensverträge, B. I. 1. (S. 25 ff.); Weick, in: Staudingers Kommentar BGB, § 13 BGB Rn. 4; Schön, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. I, S. 1191 (S. 1193 ff.).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Um zu untersuchen, ob der Systematik des allgemeinen Privatrechts bereits de lege lata ein verallgemeinerungsfähiger Ansatz zur Durchbrechung des Prinzips formal-abstrakter Gleichheit zugrunde liegt, geht Dauner-Lieb zunächst auf die Differenzierung zwischen dem bürgerlichen Recht und dem kaufmannsgeprägten Handelsrecht ein. Dabei bringt sie zum Ausdruck, dass die Unterscheidung zwischen Kaufleuten und Nichtkaufleuten in der Literatur vielfach mit einem negativen Verbraucherschutz gleichgesetzt wird, indem Kaufleute als weniger schutzbedürftig eingestuft würden.175 Ob ein derart am Nichtkaufmann orientierter Verbraucherschutz befürwortet werden könne, sei jedoch bereits wegen der mangelnden Tauglichkeit des Kaufmannsbegriffs als Anknüpfungs- und Abgrenzungskriterium zweifelhaft.176 Zudem fehle es materiell an einem Spannungsverhältnis zu dem Prinzip abstrakt-formaler Gleichheit, weil das HGB weitgehend schutzbedürftigkeitsneutrale Regelungen enthalte, die lediglich den Besonderheiten des kaufmännischen Geschäftsverkehrs Rechnung tragen.177 Nicht einmal den Befreiungsvorschriften der §§ 348, 350 HGB lasse sich entnehmen, dass bereits in der Dualität von HGB und BGB eine allgemeine Differenzierung nach schutzbedürftigen Personengruppen angelegt sei.178 Im einzelnen legt Dauner-Lieb anhand des damals relevanten AbzG, des AGB-Gesetzes und des sozialen Wohnungsmietrechts dar, dass bereits dem Zivilrecht selbst in gewisser Hinsicht eine Durchbrechung des Prinzips formal-abstrakter Gleichheit aller Vertragspartner inhärent ist. Mit den Regelungen des AbzG sei zwar ein erster Schritt in Richtung Anerkennung des Verbraucherschutzgedankens gegangen worden; seine Regelungen seien jedoch zu wenig homogen, als dass man ihnen verallgemeinerungsfähige Ansätze entnehmen könnte.179 Dagegen sei das AGB-Gesetz im Hinblick auf die Inhaltskontrolle trotz der Privilegierung des kaufmännischen Verkehrs schutzbedürftigkeitsneutral ausgestaltet worden.180 Selbst in der Anknüpfungsdogmatik des sozialen Wohnungsmietrechts komme nicht »die Anerkennung einer allgemeinen Unterlegenheit des Verbrauchers, sondern die existentielle Bedeutung des Vertragsgegenstands Wohnung« zum Ausdruck.181 Weil damit eine ausschließlich juristisch-pragmatische Lösung der Verbraucherschutz- und damit Sonderprivatrechtsproblematik am damals geltenden Recht nicht möglich war, sah Dauner-Lieb Anlass, die Rolle des Verbraucherschutzes bei der Weiterentwicklung des Zivilrechts aufzuwerfen.182 Dass ein Zielkonfl ikt zwischen Sonderprivatrechten und BGB besteht, begründet Dauner-Lieb letztlich damit, dass die Privatautonomie des BGB auf dem Postulat for175 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. (S. 28). 176 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 1. (S. 29). 177 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 1. a) (S. 31). 178 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 1. a) (S. 33). 179 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 1. b) (S. 34 ff.). 180 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 1. c) (S. 43, 44). 181 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 2. (S. 50). 182 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 3. (S. 51).

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mal-abstrakter Gleichheit beruht, das alle Rechtssubjekte gleichermaßen für fähig und bereit erklärt, ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten selbstständig und vernünftig wahrzunehmen.183 Ausgangspunkt dieser formal-abstrakten Gleichheit sei ein an liberalen, wirtschaftstheoretischen Vorstellungen orientiertes »liberales Sozialmodell«, das sowohl ein bestimmtes Menschenbild als auch eine Konzeption umfasse, wie die komplexen, wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Marktteilnehmern typischerweise beschaffen sind.184 Dem einzelnen Marktteilnehmer werde unterstellt, homo oeconomicus zu sein, d. h. die Fähigkeit zu besitzen, seine wirtschaftlichen Verhältnisse frei und vernünftig zu gestalten, was die Gewährleistung einer optimalen Ressourcenallokation sowie einer angemessenen Güterversorgung und Güterverteilung durch funktionierenden Wettbewerb und freies Unternehmertum voraussetze.185 Auf dieser Grundlage bestehe bei Verträgen eine Vermutung der Richtigkeitsgewähr, und zwar dahingehend, dass sich die Parteien ökonomisch sinnvoll verhalten und einen angemessenen Interessenausgleich herbeiführen.186

Weil bei Verträgen zwischen Verbrauchern und der Marktgegenseite die Parität wegen eines Informationsdefi zits des Verbrauchers typischerweise gestört sei, stellt Dauner-Lieb dem liberalen Sozialmodell ein liberales Informationsmodell zur Seite.187 Das Informationsdefi zit des Verbrauchers, welches subjektiv-intellektueller Art sei, trete dabei nur in konkret festzustellenden Situationen zu Tage; nur im Hinblick auf Leistung, Gegenleistung und Abwicklungsbedingungen seien mangelnde Kenntnisse denkbar.188 Während fehlende Kenntnisse über die Leistung und Gegenleistung ausschließlich Aufklärungspfl ichten rechtfertigten, sei bei einem Informationsdefi zit bezüglich der Abwicklungsbedingungen auch an eine auf AGB beschränkte Inhaltskontrolle zu denken; (halb-) zwingende Normen seien dagegen unzulässig.189 Da die Problematik ausreichender Information letztlich aber nicht allein den Verbraucher, sondern alle sonstigen schutzbedürftigen Personengruppen betreffe, sei die Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher aus dem liberalen Informationsmodell nicht ableitbar.190 183 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 2. b) (S. 55). 184 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. (S. 52); im Grundsatz zustimmend: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 V. 4. (S. 63). 185 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 2. (S. 54). 186 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 2. b) (S. 56). 187 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, C. I. (S. 63). 188 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, C. II. 1. (S. 67 ff.). 189 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, C. II. 2. (S. 69 ff.). 190 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, C. III. (S. 106, 107).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Angesichts dieser Erkenntnis gelangt Dauner-Lieb zu der Schlussfolgerung, dass allein das soziale Verbraucherschutzmodell die Herausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher stimmig zu rechtfertigen vermöge191 ; Ausgangspunkt dieses Gegenkonzepts zum liberalen Informationsmodell sei die Unterstellung, dass der Verbraucher wegen seiner Angewiesenheit auf Konsum selbst bei umfassender Information nicht vernünftig handeln könne.192 Einerseits ist Dauner-Lieb zwar der Ansicht, dass das soziale Verbraucherschutzmodell auf Grund dieser Annahme eine Relativierung des Grundsatzes »pacta sunt servanda« durch Einräumung umfassender Widerrufs- und Rücktrittsrechte193 , ein Verbot sozialpolitisch unerwünschter Geschäfte194 und selbst (halb-) zwingende Normen bei Individualvereinbarungen rechtfertigen könne195. Andererseits steht Dauner-Lieb diesem Modell jedoch äußerst kritisch gegenüber, weil es die gesamte Ordnung des BGB, welche »auf dem Grundsatz der Privatautonomie und dem Prinzip dezentralisierter Risikoverteilung« aufbaue, in Frage stelle.196

Eine vertragsbegriffl iche Gruppentypisierung propagiert Dauner-Lieb nicht. Vielmehr ist der Vertrag nach ihren Vorstellungen ein Kind des liberalen Sozialmodells. Auch wenn ihre Überlegungen damit keine Rechtfertigung für die aktuelle Vertragsrechtsdivergenz aus dem Vertragsmodell selbst heraus ermöglichen, liefert ihre Orientierung an dem liberalen Informationsmodell und dessen Gegenüberstellung zu dem sozialen Verbraucherschutzmodell zumindest wertvolle Anhaltspunkte für das Verhältnis zwischen bürgerlichem und sonderprivatrechtlichem Vertragsrecht. Beruht das bürgerliche Recht auf dem Prinzip formal-abstrakter Gleichheit und nimmt es zur Rechtfertigung dieser Ausgangslage auf den homo oeconomicus als idealtypischem Leitbild Bezug, so erlauben Dauner-Liebs Ausführungen die Schlussfolgerung, dass eine Durchbrechung des liberalen Sozialmodells nur dann erlaubt sein kann, wenn gleichsam abweichende Leitbilder für Unternehmer und Verbraucher als typisierungsfähige Personengruppen ermittelt werden können. V. Hönn – Multidimensionale Struktur der gestörten Vertragsparität Im Gegensatz zu Dauner-Lieb ging es Hönn in seiner 1981 erschienenen Habilitationsschrift um eine Standortbestimmung des (damals) geltenden Rechts. 191 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, D. (S. 109 ff.). 192 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, D. I. (S. 109 ff.). 193 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, D. II. 1. (S. 116 ff.). 194 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, D. II. 2. (S. 119, 120). 195 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, D. II. 4. (S. 127 ff.). 196 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, D. III. (S. 141); gegen Dauner-Lieb argumentierend: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 4 V. 2. (S. 27 ff.); Joerges, KJ 30 (1987), 166 (173 ff.); Limbach, KritV 72 (1986), 165 (170, 171).

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Weil er die Funktion des Vertrages in diesem Sinne allgemein anging, lassen sich seinen Ausführungen aber auch heute noch Anhaltspunkte für die Frage nach der begriffl ichen Immanenz sonderprivatrechtlicher Typisierungsentscheidungen entnehmen.197 Das Problem der gestörten Vertragsparität und ihre Kompensation mit einem positivistischen Ansatz untersucht er unter der Prämisse, dass vertragliche Imparität in gewisser Weise fi ktiv ist, weil die Störung jeweils nur dort feststellbar ist, wo die Rechtsordnung vertragsbezogene individualschützende Regelungen bereit hält.198 Mit dieser Erkenntnis analysiert er anhand der damals geltenden Regelungen, was in der Rechtsordnung als Unterlegenheit betrachtet wird, wie die Bewältigung dieser Unterlegenheit strukturiert ist und welche Wertungen dabei eine Rolle spielen. Er leitet systematische Konsequenzen ab und unternimmt den Versuch, die Regelungen der Rechtsordnung in einen inneren Zusammenhang zu stellen.199 Ausgangspunkt seiner Betrachtung ist der Wandel des Vertragsrechts von der formal verstandenen Vertragsfreiheit zu einem durch Rechtsprechung, Schrifttum und Gesetzgeber fortentwickelten Vertragsrecht der materialen Äquivalenz, des Verkehrsschutzes und der Sicherung der Daseinsvorsorge. 200 Anhand eines Überblicks über die Konzeptionen zu den Vertragsfunktionen gelangt er zu der Erkenntnis, dass in der Literatur eine Umorientierung von der Selbstbestimmung als Funktionsvoraussetzung der Vertragsfreiheit zu einer betont vertragsinhaltsbezogenen Betrachtung stattgefunden hat 201 ; am Maßstab der institutionellen Betrachtung des Vertrages werde deutlich, »daß der Rechtswert der Selbstbestimmung im Sinne des Prinzips der Privatautonomie in der Gegenüberstellung mit den öffentlichen Interessen zur Kennzeichnung der Funktion des Vertrages nicht ausreicht«202 . Das methodische Prinzip der funktionalen Äquivalenz des Soziologen Niklas Luhmann 203 biete laut Hönn die Möglichkeit, die Rechtsordnung umfassend auf Problemlösungsmöglichkeiten hinsichtlich der Kompensation gestörter Vertragsparitäten zu befragen. 204

Ein zentrales Kompensationsmittel gestörter Vertragsparität sei Wettbewerb; das GWB sichere Wettbewerb nicht nur als Institution, sondern bezwecke auch die Sicherung der Selbstbestimmung. 205 Wettbewerb gebe nicht nur die Möglichkeit zum Verzicht auf einen Vertragsschluss, sondern auch die Chan197 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, Einführung (S. 1); kritisch: Limbach, KritV 72 (1986), 165 (172, 173). 198 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, Einführung (S. 2). 199 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, Einführung (S. 2). 200 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1. Kap. III. (S. 7 ff.). 201 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 2. Kap. II. 3. (S. 30). 202 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 2. Kap. III. (S. 36). 203 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 9 ff.; m. w. N.: Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, Einführung und 5. Kap. II. 2. (S. 79 Fn. 27). 204 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, Einführung und 5. Kap. (S. 3 und S. 79 ff.). 205 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 7. Kap. I. (S. 109 ff.); gegen die Kompensationstauglichkeit der Wettbewerbsordnung argumentierend: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 4 V. 3. (S. 30 ff.).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

ce der positiven Mitbestimmung des Vertragsinhalts. 206 Das generelle Bindeglied zwischen dem Einfluss des Wettbewerbs und dem Vertragsschluss bestehe darin, dass die »Risiken und Chancen, die der Wettbewerber auf der wettbewerblichen Ebene trägt bzw. besitzt . . . das Spiegelbild der Chancen und Risiken der potentiellen Vertragspartner« seien. 207 Zwar lasse die Rechtsordnung nicht den Schluss zu, dass bei fehlendem Wettbewerb die Parität stets gestört sei; erst das Eingreifen bestimmter vertragsbezogener und individualschützender Regelungen rechtfertige es, auf Imparität zu schließen. 208 Gleichwohl führe Wettbewerb aber als Kompensationsmittel von Imparität regelmäßig dazu, dass der Schwächere auf den konkreten Vertrag verzichten könne, sodass ein subsidiäres Eingreifen sonstiger Kompensationsmittel überflüssig würde. 209 Anhand der damaligen GWB-Vorschriften untersuchte Hönn am Maßstab der »Wettbewerbsbeschränkungen durch Maßnahme« und der »Wettbewerbsbeschränkungen durch Zustand«, wann das Kartellrecht von einem Kompensationsbedarf gestörter Vertragsparität ausgeht. 210 Bei »Wettbewerbsbeschränkungen durch Maßnahme« stünden sich die Freiheitsinteressen der an der Beschränkungshandlung Beteiligten und die Freiheitsinteressen der von der Wettbewerbsbeschränkung negativ betroffenen Dritten gegenüber. 211 Indem die Rechtsordnung nicht alle Wettbewerbsbeschränkungen verbiete, sondern bestimmte erlaube, gebe sie zu erkennen, dass die Veränderung der Position des Dritten nur in den gesetzlich bestimmten Fällen – aber nicht ausnahmslos – als Paritätsstörung zu begreifen sei. 212 Bei den »Wettbewerbsbeschränkungen durch Zustand« sei ebenfalls nur in den Fällen von Imparität auszugehen, in denen neben die Marktmacht des beherrschenden Vertragspartners die Möglichkeit zur missbräuchlichen Ausnutzung bei Vertragsschluss trete. 213 Nach einem weitreichenden Überblick über die Kompensationsinstrumente des Privat- und öffentlichen Rechts gelangt Hönn schließlich zu dem Ausblick, dass der Schutz des Schwächeren auf vielerlei unterschiedlichen Wegen erreicht werden könne. 214 Den schlechthin Schwächeren gebe es nicht; vielmehr könne ein und dieselbe Person in ihren jeweiligen unterschiedlichen Beziehungen Unterlegener und Überlegener zugleich sein. 215 Entsprechend der unterschiedlichen Art der Unterlegenheit seien auch die Form ihres Ausgleichs für den Schwächeren und die damit für den Überlegenen verbundenen Konsequenzen verschieden: Man könne die Kompensation vor diesem Hintergrund als multidimensional bezeichnen. 216 Das innere System der Rechtsinstitution Vertrag setze sich dementsprechend aus formeller Vertragsfreiheit, vertragsbezogenem Individual206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216

Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 7. Kap. II. 2. (S. 115). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 7. Kap. II. 2. (S. 115). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 7. Kap. IV. (S. 117, 118). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 7. Kap. IV. (S. 118). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 8. Kap. (S. 119 ff.). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 8. Kap. I. 2. c) (S. 123). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 8. Kap. I. 2. c) (S. 123, 124). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 8. Kap. II. 3. (S. 132). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 14. Kap. III. (S. 309). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 12. Kap. III. 4. a) (S. 278). Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 12. Kap. III. 4. (S. 278, 279).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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schutz (Kompensation) und öffentlichen Interessen zusammen; angesichts seiner laufenden Veränderungen müsse dieses System denknotwendig offen sein. 217

Auf das Verbraucherrecht nimmt Hönn nur am Rande Bezug: Hinsichtlich der Struktur der Unterlegenheit sei der Verbraucherbegriff als Schlagwort des generell Schutzbedürftigen abzulehnen 218 ; die Erkenntnisse über die Kompensation gestörter Vertragsparität »verlangten vielmehr eine Orientierung an spezifischen Gefährdungen beschreibbarer Verbraucherbelange bei bestimmten Vertragsschlüssen«219. Hönn macht damit deutlich, dass auch das Phänomen von Sonderprivatrechten nicht allein mit einem bestimmten Vertragsmodell erklärbar ist; selbst die verbraucherrechtlichen Schutznormen können auf diese Weise nur als Einzelbestandteile der multidimensionalen Kompensationsstrategie begriffen werden. Dem Verfassungsrecht spricht Hönn die Kompetenz zu, die materielle Vertragsfreiheit »als Rechtsprinzip« zu legitimieren. 220 Auch wenn er sich vordergründig auf einen positivistischen Ansatz beschränkt, liefert er damit einen Anhaltspunkt, dass gegebenenfalls auch die gesetzgeberische Typisierung der Sonderprivatrechte als verfassungsgemäßer Gleichheits- und Freiheitsausgleich abgesegnet werden könnte. VI. L. Raiser – Soziale Funktion und Aufteilung nach Lebensbereichen Eine funktional-soziale Wende wurde für das Vertragsrechtsmodell bereits einige Zeit vor Hönn durch L. Raiser eingeläutet. Dass er Vertragsverhältnisse schon zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts funktional betrachtete, ist gerade verbraucherrechtlich von Interesse. Schon damals forderte er, dass nicht mehr die sich in dem Vertrag ereignende Willensübereinstimmung mehrerer Parteien zur Herbeiführung eines rechtlichen Erfolges, sondern die soziale Funktion, der Inhalt und die Wirkungen des Vertrages im Vordergrund der systematischen Auseinandersetzung stehen müssten. 221 Auf 217 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 13. Kap. III. (S. 301, 302); unter Berufung auf Hönn Vertragsfreiheit als Ausprägung eines »annährend ausgewogenen Kräfteverhältnisses« deutend: BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (233). 218 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 12. Kap. II. 2. (S. 307). 219 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 12. Kap. II. 2. (S. 308). 220 Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 12. Kap. IV. 1. c) (S. 281 ff.). 221 L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 102); auf die Funktion des Vertrages aus dem Blickwinkel der Rechtsvergleichung abstellend: Zweigert, FS für Rheinstein (70. Gebtg.) – Bd. 2, S. 493 (S. 493); für einen funktionalistischen Ansatz hinsichtlich des Kontrahierungszwangs: W. Kilian, AcP 180 (1980), 47 (76); zur funktionalen Methode bezüglich der subjektiven Rechte in der Wirtschaftsverfassung: Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 5 (S. 76 ff.); aus dem Blickwinkel des Gesellschaftsrechts: Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Gesellschaftsverträgen, § 3 Ziff. 3 (S. 14); kritisch: Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 4 IV. 2. (S. 21 ff.); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 5. Kap. III. 2. (S. 192, 193).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Grund des Inhaltswandels der Privatautonomie im 20. Jahrhundert sei es mittlerweile »Gemeingut auch der liberalen Wirtschaftstheorie«, dass das Spiel der wirtschaftlichen Kräfte nicht sich selbst überlassen bleiben dürfe, sondern vom Recht gestützt, eingegrenzt und gegen Missbrauch gesichert werden müsse, um leistungsfähig zu sein. 222 Denn die wirtschaftliche Funktion der Vertragsfreiheit verändere sich wesentlich, sobald ein Vertragspartner sich dem Wettbewerb entziehen könne und den Vertrag als Instrument der Herrschaft über den anderen einsetzen könne. 223 L. Raiser plädierte dafür, dass sich die Zivilrechtsordnung unter den geänderten Lebensbedingungen der Gesellschaft nicht mehr damit begnügen dürfe, »in strikter Neutralität zu sanktionieren, was Parteien in formaler Freiheit vereinbart haben«; vielmehr müsse sie zu der Frage durchstoßen, »ob der formalen auch eine soziale und wirtschaftliche Freiheit auf beiden Seiten entsprach, oder ob eine Partei ihre Überlegenheit ausgenützt hat, den Vertrag zum Herrschaftsinstrument zu machen«. 224 Bei der Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts sei die in der Vergangenheit vernachlässigte Frage nach der Funktion und der Wirkung des Vertrags in der Gesamtrechtsordnung zu stellen. 225 Das Bild von den Vertragspartnern als gleichgestellten Genossen in einer beide Teile umgreifenden Rechtsgemeinschaft habe das Problem der durch die formale Freiheit hervorgerufenen Ungleichheit lange Zeit verstellt. Weil durch die indifferente Rechts- und Handlungsfähigkeit »das ius commercii für jedermann mit jedermann gesichert schien«, sei die Ungleichheit in der Vertragsrechtsordnung lange Zeit verborgen geblieben. 226 Vor diesem Hintergrund stellt L. Raiser der privaten Selbstbestimmung die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesamtrechtsordnung gegenüber; dabei lenkt er den Blick auch auf die außerrechtlichen Erscheinungen und plädiert dafür, den einzelnen Vertrag in einen größeren sozialen Wirkungszusammenhang zu stellen. 227 Die aus der Selbstbestimmung entstehenden partikulären Ordnungen träten nur insoweit als rechtliche Ordnungen in Erscheinung, als sie Aussicht hätten, von der Gesamtrechtsordnung anerkannt und geschützt zu werden, also deren Voraussetzungen zu erfüllen. 228 Vor dem Hintergrund, dass der Staat »der guten Ordnung willen« auch die Pfl icht habe, private 222 L. Raiser, JZ 13 (1958), 1 (3); ders., Rechtsschutz und Institutionenschutz im Privatrecht, S. 145 (S. 145 ff.). 223 L. Raiser, JZ 13 (1958), 1 (3). 224 L. Raiser, JZ 13 (1958), 1 (6); diesen Ansatz weiterführend: Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, B III. 2. (S. 84 ff.). 225 L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 104); u. a. diese funktionale Betrachtung in einen verfassungsrechtlichen Kontext stellend: Huber, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Vertragsfreiheit, IV. (S. 16 ff.). 226 L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 106). 227 L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 120); ähnlich auch: Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 4 A. II. 1. (S. 53, 54). 228 L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 119).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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Rechte zu schützen 229, könnten die von den Vertragsparteien einzuhaltenden Voraussetzungen »weit oder eng gefasst, nur formeller oder auch inhaltlicher Art sein«230 . Regelmäßig sei den Parteien zwar zu unterstellen, dass sie bestrebt sind, die Voraussetzungen einzuhalten. 231 Es liege aber im Wesen der privat eingeräumten Freiheit, dass sich die Vorstellungen von zweckmäßiger oder gerechter Ordnung der Parteien von denen der Rechtsgemeinschaft unterscheiden könnten.

Auch wenn L. Raiser konkrete Vorgaben für eine gesetzliche Typisierung durch Sonderprivatrechte nicht aufstellt, macht er durch seine funktionale Betrachtungsweise und seine Orientierung an Lebenssachverhalten hinreichend deutlich, dass er einer Modifi zierung der Freiheitsfunktion und einer Anpassung des Willensprinzips an typisierbare Sondersituationen nicht ablehnend gegenüber steht. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang insbesondere seine Ausführungen zum Bedeutungsverlust der Willenserklärung: Maßgeblich für den Vertragsschluss seien mittlerweile nicht mehr die Einzelperson und ihr Wille, sondern »die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Einordnung des Einzelnen in dieses Beziehungsnetz«; das Handeln des Einzelnen sei somit nicht allein »nach dem . . . mehr oder weniger adäquat zum Ausdruck kommenden Willen, sondern danach zu beurteilen, wie derartiges Handeln in bestimmten, häufig wiederkehrenden Situationen des geschäftlichen Verkehrs üblicherweise aufgefaßt« wird. 232 Die Abschwächung der Willenserklärung im HGB, etwa durch § 362 HGB, könnte diese situationsabhängige Betrachtungsweise legitimieren. Konkret zur Berücksichtigung des wachsenden Öffentlichkeitsgehalts im Privatrecht schlägt L. Raiser ein Systematisierungskonzept vor. So sei das Privatrecht nach Funktionsbereichen zu gliedern, die typischen Lebensbereichen der Gesellschaft entsprächen, wobei als Unterscheidungskriterium der Grad der Privatheit und der Öffentlichkeit dieser Bereiche verwendet werden könne. 233 Grundsätze, die vom Gedanken der sozialen Verantwortlichkeit geprägt seien, könnten dabei umso deutlicher zur Geltung kommen, je stärker der Öffentlichkeitsgehalt des betroffenen Lebensbereichs in den Vordergrund trete. 234 Als einteilungsfähige Funktionsbereiche schlägt er in nicht abschließender Weise vor, den Bereich der privaten Lebenssphäre von der auch öffentlichen Schicht der modernen Industriegesellschaft, dem Wirtschaftsverkehr zwischen Unternehmen und dem öffentlich-rechtlich gehaltvollen Bereich der industrierechtlichen Großorganisationen abzugrenzen. 235

Auch wenn in L. Raisers privatrechtlicher Bereichsaufteilung nach dem Kriterium des Öffentlichkeitsgehalts der zu ordnenden Lebensbereiche die damals 229 230 231 232 233 234 235

L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 115). L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 119). L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 119). L. Raiser, FS zum 100-jährigen Bestehen des DJT – Bd. 1, S. 101 (S. 124). L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, IV. (S. 29). L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, IV. (S. 29, 30). L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, IV. (S. 30 ff.).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

bestehende »Gesamtnormlage« zum Ausdruck kam, versinnbildlicht seine Funktionsbetrachtung auch heute noch ein offenes System, das es nicht ausschließt, Willensmodifi zierungen – etwa in Gestalt der »Annahme durch Schweigen« (Handelsrecht) oder der »Widerruflichkeit ohne Sachgrund« (Verbraucherrecht) – mit dem inneren System der Rechtsordnung in Einklang zu stellen. VII. Reifners prinzipielle und symptomatische Zivilrechtskritik Einen – im Vergleich hierzu – eindimensionalen Sozialbezug fordert Reifner in seiner Abhandlung aus dem Jahre 1979. Indem er die Abhängigkeiten des Rechts zu gesellschaftlichen Vorgängen betont, stellt er die sozialwissenschaftliche Verankerung des Zivilrechts in den Vordergrund. 236 Seine Suche nach den sozialen Funktionen des persönlichen Verbrauchs mündet schließlich in eine soziale Auslegung, die er als maßgeblichen Faktor eines anzustrebenden Systemwechsels propagiert. Die verschiedenen Aspekte seiner Kritik fasst er in dem Vorwurf zusammen, »daß die Zivilrechtsdogmatik soziale Funktionen menschlicher Handlungen nicht in ihr System aufnimmt« und damit eine Vertragsfreiheit des Verbrauchers suggeriert, die in Wirklichkeit gar nicht besteht. 237 Das Zivilrecht versuche bewusst, diesen existierenden Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit zu legitimieren 238 ; sozialwissenschaftlichen Einflüssen werde kein Zugang zum Recht gewährt. Normative Theorien und die Gewährleistung von Rechtssicherheit fungierten als fadenscheinige Argumente, um den Widerspruch zwischen Sein und Sollen aufrecht zu erhalten. 239 Reifner ließ schon damals anklingen, dass die Ausklammerung sozialer Aspekte bei der Verwendung zivilrechtsdogmatischer Grundbegriffe nicht auf Dauer aufrecht erhalten werden könne. Erste Anzeichen hierfür sah er in der Anerkennung sozial motivierter Phänomene wie dem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, der culpa in contrahendo, dem Wegfall der Geschäftsgrundlage und dem kurze Zeit zuvor verabschiedeten AGB-Gesetz. 240 Diese Ausgangslage nahm Reifner zum Anlass und mahnte an, es nicht bei diesen singulären Verbraucherschutzmaßnahmen zu belassen, da sie Widersprüche im Gesamtsystem produzierten. 241 Vielmehr solle die Zivilrechts236

Vgl. Wilhelmsson, Critical Studies in Private Law, Chapt. II 3.1 (S. 31). Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, Teil A. I. und VI. (S. 24–28 und S. 43). 238 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, Teil A. III. und VI. (S. 31–33 und S. 43). 239 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, Teil A. (S. 28 ff. und S. 43). 240 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, Teil A. IV. und VI. (S. 33 ff. und S. 43). 241 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, Teil A. V. und VI. (S. 38–42 und S. 43). 237

1. 1. 1. 1. 1.

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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wissenschaft vor dem Hintergrund, »daß religiöse Wertsysteme oder das Naturrecht ihre Bedeutung als unmittelbare Lösungsangebote weitgehend eingebüßt haben«, den Begriff »sozial« als Wertungsfaktor berücksichtigen, um »in den Verknüpfungen der ›sozialen Adäquanz‹, ›sozialen Richtigkeitskontrolle‹, ›Berücksichtigung sozialer Belange‹ und der ›sozialen Funktion der Rechtsinstitute‹ eine Erweiterung und Veränderung der Zivilrechtsdogmatik [zu] legtimier[en] . . .«242 Das Zivilrecht sei vor die Aufgabe gestellt, den Prinzipienpragmatismus der Vergangenheit aufzugeben und »über den ›rechtlich relevanten Sachverhalt‹ hinaus die Sozialität der zu bewertenden Handlungen zu berücksichtigen«. 243

Konstruktiv – und in seinen Ausführungen konsequent – bringt Reifner eine prinzipielle und eine symptomatische Kritik am damaligen Zivilrecht an. Im Rahmen seiner prinzipiellen Kritik macht er deutlich, dass eine neue Zivilrechtsdogmatik die Legitimationsfrage privater Herrschaft stellen und in ein demokratisches Verhältnis zu den Grundwerten der Privatrechtsgesellschaft bringen müsse. Bezug nimmt er dabei ausdrücklich auf Marx, knüpft also an ein dialektisches Zivilrechtsverständnis an. Dabei stellt er die Überlegung an, dass »die Gestaltungsprinzipien des bürgerlichen Rechts, die sich aus dem marktmäßigen Warentausch ergeben, die entscheidende Verzerrung der Wirklichkeit darstell[en]«. 244 Das Recht werde zwar durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt. Die Zivilrechtsdogmatik hinke den realen gesellschaftlichen Verhältnissen jedoch hinterher, da sie nicht die soziale Wirklichkeit widerspiegele, sondern mit dem Eigentum als entscheidender Rechtsform noch auf die Leitprinzipien des klassischen Bürgertums abstelle. 245 Damit stehe selbst das Verbraucherrecht, indem es formale Aspekte der Tauschwirtschaft betont (Eigentum, Privatautonomie, Willensbegriff) und nicht ausreichend sozialen Zwängen und Konsumbedürfnissen Rechnung trage, im Dienste der Erwerbswirtschaft und lasse die Bedürfnisse der Verbraucher und deren Arbeits- und Lebensbedingungen außer acht. 246 Letztlich seien die formalen Paradigmen der Freiheit und des Eigentums lediglich Legitimationsgrundlage dafür, dass die unternehmerischen Mitglieder der Gesellschaft weiterhin über die Verwendung des Produzierten verfügen könnten, was im Gegenzug den Verbraucher zu prinzipienfremder Kollektivität, Sozialität und Prävention provoziere. 247 Damit sei die traditionelle Zivilrechtsdog-

242 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht Teil A. VI. (S. 43, 44 und 45). 243 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht Teil A. VI. und B. III. (S. 43 und S. 62). 244 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht Teil A. VI. und C. I. (S. 43 und S. 68). 245 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht Teil A. VI. und C. I. (S. 43 und S. 69). 246 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht Teil A. VI. und C. I. (S. 43 und S. 69 ff.). 247 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht Teil A. VI. und C. I. (S. 43 und S. 74, 75).

am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1.

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

matik in einen offenen Widerspruch zu den objektiv-sozialen Organisationsprinzipien der Gesellschaft getreten. 248

Diese prinzipielle Kritik macht Reifner zur Grundlage seiner symptomatischen Kritik: Die von der Rechtsdogmatik zugelassenen Ausnahmen sozialer Berücksichtigung im formalen System müssten zur Regel gemacht werden, damit materielle Wirklichkeit in eine alternative Auslegung der Zivilrechtsgesetze münden könne. 249 Dies impliziere inhaltlich den Übergang von der Willenserklärung zum Vertrauensschutz und zu sozialpfl ichtigem Verhalten, den Ausgleich zwischen formaler Freiheit und sozialem Interesse und den Bedeutungsverlust formaler Eigentumspositionen. Um Freiheit und Gleichheit aller herzustellen, müssten Sozialität und wirtschaftliche Notwendigkeiten Berücksichtigung fi nden. 250 Aus dem Blickwinkel der Sonderprivatrechte begnügt sich Reifner damit nicht mit der Etablierung einer konsumentenfreundlichen Situationstypisierung, sondern fordert eine Sozialisierung der gesamten Zivilrechtsdogmatik. 251 Zu der im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Freiheitstypisierung der Sondervertragsrechte leistet er keinen Beitrag. Denn bedingt durch die soziale Indienstnahme der Vertragsfreiheit, die er in umfassender Weise propagiert, entspräche seinen Ausführungen ausschließlich ein pauschal-sozialwissenschaftlicher Systemwechsel, den selbst das Verbrauchervertragsrecht jedoch nicht anstrebt. 252 VIII. Reichs sozialwissenschaftliches Verbraucherschutzmodell Eine ähnliche Fundamentalkritik an der allgemeinen Zivilrechtstheorie hat Reich in den 1970er Jahren geübt. Auch er erhob den Vorwurf, dass die verbraucherrechtlichen Einzelgesetze an der eigentlichen Problematik vorbeigingen, »daß gerade das Zivilrecht, das zu einem großen Teil die vermögensmäßige Rechtsstellung des Verbrauchers umschreibt und fi xiert, tendenziell den ökonomisch Stärkeren, d. h. den Unternehmer schützt«. 253 Dieser allgemeine Befund mache deutlich, dass eine sozialwissenschaftlich abgesicherte Zivilrechtsdogmatik, »die auf Grund einer theoretischen Reflexion über die öko248 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. Teil A. VI. und C. I. (S. 43 und S. 76). 249 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. Teil A. VI. und C. II. (S. 43 und S. 82, 83). 250 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. Teil A. VI. und C. II. (S. 43 und S. 82). 251 Vgl. auch: Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem, II. 1. c) (S. 27); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 IV. 2. b) (S. 31 ff.); Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 2 IV. 2. b) bb) (S. 110 ff.). 252 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1. Teil A. VI. (S. 44, 45). 253 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (187).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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nomische Verankerung des Zivilrechts einerseits und über seine verfassungsrechtliche Stellung andererseits verbraucherschützenden Konzeptionen zur Durchsetzung verhilft«, erst noch entwickelt werden müsse. 254 An sie seien folgende Anforderungen zu stellen: (1) ökonomische Verankerung des Zivilrechts in den aktuellen Gesellschaftsverhältnissen, (2) Auslotung der Relation von Zivilrecht und Verfassungsrecht, (3) Reflexion des Wechselspiels von dispositivem und zwingendem Recht und (4) Erarbeitung einer allgemeinen Dogmatik zur Umsetzung in die juristische Praxis. 255 Reich unterbreitete – wie bereits an anderer Stelle erwähnt 256 – in Anlehnung an Überlegungen der sozialistischen Zivilrechtstheorie den Vorschlag, das allgemeine Vermögensrecht in drei Bereiche zu unterteilen: den Rechtsverkehr zwischen Unternehmen (Unternehmensrecht), den Warenaustausch zwischen Unternehmen und Endverbrauchern (Verbraucherrecht im engeren Sinne) und den Bereich des privaten Rechtsverkehrs zwischen Bürgern (Bürgerrecht). Während das Unternehmensrecht den Bereich des Produktionskapitals betreffe, regele das Verbraucherrecht das Verhältnis des Produktionsmitteleigentums zum Eigentum an Konsumgütern; das Bürgerrecht wiederum betreffe Zuordnung und Austausch von Konsumtionsmitteleigentum. 257 Wichtig sei diese Unterscheidung vor allem deshalb, weil man mit dieser Systematik deutlich machen könne, »wo man sinnvollerweise die zivilrechtliche Grundkategorie der Privatautonomie anwenden« k[önne] und wo nicht«. 258

Im Bereich des Unternehmensrechts und des Bürgerrechts könne darauf verzichtet werden, das traditionelle Freiheits- und Autonomieverständnis der Zivilrechtsdogmatik anzugreifen. Zwar werde auch hier in Einzelfällen das formale Freiheitspostulat durchbrochen; als Korrekturinstrumente stünden dafür aber in ausreichendem Umfang die zivilrechtlichen Generalklauseln und das Kartellrecht zur Verfügung. 259 Anders sei die Ausgangslage dagegen im Verbraucherrecht, wo die bestehenden Zivilrechtsprinzipien notwendig zu kurz griffen. Hier sei es notwendig, »ähnlich wie im Arbeitsrecht, nach anderen Lösungen zu suchen . . ., um das Machtgefälle zwischen Unternehmen und Verbraucher . . . anders zu relativieren«. 260 Zum Ausbau des Verbraucherrechts müssten auch die Grundrechte im Lichte der verfassungsrechtlichen Sozialstaatsklausel »nicht so sehr als Schutz- und Abgrenzungsrechte, denn als Teilhabe- und soziale Rechte« interpretiert werden. 261 Im Bereich des Verbraucherrechts sei das Verhältnis von dispositivem und zwingendem Recht umzu-

254 255 256 257 258 259 260 261

Reich, ZRP 7 (1974), 187 (187, 188). Reich, ZRP 7 (1974), 187 (188). Siehe: Einleitendes Kap. § 3 (S. 19 f.). Reich, ZRP 7 (1974), 187 (188). Reich, ZRP 7 (1974), 187 (188). Reich, ZRP 7 (1974), 187 (188). Reich, ZRP 7 (1974), 187 (188). Reich, ZRP 7 (1974), 187 (189).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

kehren und – anders als im Unternehmens- und Bürgerrecht – die Möglichkeit von Haftungsausschlüssen zu versagen. 262 Die Unfähigkeit des Juristen, die Stellung des Verbrauchers zu umschreiben, beruhe darauf, dass die Stellung des Verbrauchers keine genuin rechtliche, sondern eine sozial-ökonomische sei; Aspekte der Ökonomie und Soziologie würden daher fälschlicherweise ausgeblendet. 263 Als Ansatzpunkte der Systemerneuerung müssten insbesondere auch Aspekte der sozialwissenschaftlichen Ideologiekritik, rollensoziologische Überlegungen zur Konsumentenforschung, Aspekte der Politökonomie und der Wettbewerbstheorie berücksichtigt werden. 264 Das Konzept der Konsumentensouveränität sei realitätsfern, der Modelltypus des homo oeconomicus in der Wirklichkeit nicht vorzufi nden und das marktkomplementäre Informationsmodell unzureichend. 265 Die sozial-ökonomische Stellung des Verbrauchers müsse durch rollensoziologische Überlegungen korrigiert werden, die den Verbraucher in seiner durch Umwelt, Rollensender, eigene Tätigkeit und Sozialstruktur geprägten Position begreifen. 266 Unter Wettbewerb versteht Reich nicht einen sich selbst regulierenden Entdeckungs-, sondern einen komplexen Sozialprozess. Um Wettbewerb sozial-ökonomisch Rechnung zu tragen, verlangt Reich über die Maßnahmen des Kartell- und Wettbewerbsrechts hinaus nach sozial-ökonomischen Marktinterventionsmaßnahmen in Gestalt von Anbietermacht- und Anbieterverhaltenskontrolle, Bereitstellung von Gegeninformationen (jenseits der Unternehmensinformationspolitik), Bildung von nachfrageorientierter Gegenmacht und gesetzgeberischen Maßnahmen zur Steigerung des Individualschutzes. 267 Der Verbraucher müsse zum wesentlichen Bestandteil, zum Subjekt, nicht nur zum Alibi des Wettbewerbes werden; diesem Ziel werde das traditionelle Wettbewerbsrecht, das zur »Missbrauchsbekämpfung« zivilrechtlicher Privatautonomie unter Abweisung eines besonderes Verbraucherrechts eingesetzt werde, nicht gerecht. Hier stelle sich Verbraucherschutz lediglich mittelbar – bei optimalen Wettbewerbsbedingungen – ein. 268

Reichs rollensoziologischer Ansatz ist im Ergebnis zwar zu weitgehend. Denn von einer schützenswerten Verbraucherstellung geht er schon dann aus, »wenn der Erwerb eines Gutes oder die Inanspruchnahme einer Dienstleistung nicht zu ›geschäftlichen Zwecken‹ . . . oder durch Unternehmen . . ., sondern zu persönlicher Bedarfsbefriedigung im weiteren Sinne geschieht«. 269 Bei konsequenter Umsetzung hieße dies letztlich nichts anderes, als dass das allgemeine 262

Reich, ZRP 7 (1974), 187 (189). Reich, ZRP 7 (1974), 187 (189, 190). 264 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (189–191). 265 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (190). 266 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (190). 267 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (191–194); vgl. hierzu auch die Analyse von Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 2 IV. 2. b) cc) (S. 113 ff.). 268 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (191). 269 Reich, ZRP 7 (1974), 187 (194). 263

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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Vertragsrecht zur Ausnahmeerscheinung degradiert würde. Unterstützung verdient jedoch sein methodologischer Ansatz – dies zumindest insofern, als Reich Bestrebungen zeigt, die Aktivitäten von Gesetzgebung und Rechtsprechung in ein zivilrechtliches System zu ordnen. Auch wenn Reichs konkreter Vorschlag, das Zivilrecht kategorisch in ein Unternehmens-, Verbraucher- und Bürgerrecht zu unterteilen, nur bedingt überzeugt, macht er durch seine Ausführungen hinreichend deutlich, dass die Unternehmer- und Verbrauchertypisierung vertragstheoretisch nicht apriorisch ist, sondern durch außerjuristische Leitbilderwägungen gerechtfertigt werden muss. Letzten Endes bleibt er aber eine Begründung schuldig, welche ökonomischen bzw. soziologischen Leitbilderwägungen er konkret für ausschlaggebend hält, um zu seiner Aufteilung in drei Vertragsbereiche zu gelangen. IX. Ökonomische Analyse des Rechts – Maßstab der Vertragsrechtsordnung? In einen noch intensiveren außerjuristischen Sinnzusammenhang lassen sich die Freiheitsmodifi zierungen der Sonderprivatrechte durch die ökonomische Analyse des Rechts stellen. 270 Neben der Ausgangserwägung, dass Menschen in Alternativen entscheiden und bei diesen Entscheidungen Opportunitätskosten als Ertrag der nicht gewählten Option entstehen 271, beruht das ökonomische Entscheidungsmodell auf dem Optimierungsgebot. Dabei steht die Effi zienz der Mittelverwendung im Vordergrund: Es geht um die Idee, dass entweder ein bestimmtes Ziel mit möglichst wenig Input an knappen Ressourcen erzielt werden soll (Minimalprinzip) oder dass ein bestimmter Ressourceneinsatz, der zur Verfügung steht, zu einem möglichst hohen Zielerreichungsgrad führen soll (Maximalprinzip). 272 Rechtsnormen werden nach einer alternativen Folgenbewertung beurteilt, die für die Mitglieder der Gesellschaft herbeigeführt werden. 273 Jede Änderung des Rechts einschließlich der Etablierung von Sonderprivatrechten verändert die Anreize, unter denen Entscheidungen getroffen werden können.

270 Zur ökonomischen Analyse des Vertragsrechts im Überblick: Martinek, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 161 ff.); ders., TSAR 2007, 1 (14 ff.). 271 Zu den Opportunitätskosten: Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 3. Kap. 4.1 (S. 81). 272 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 3. Kap. 2.1 (S. 59); vgl. auch: Mestmäcker, A Legal Theory without Law, II. (S. 11 ff.). 273 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, Einleitung 2. (S. 2); Mackaay, Economics of Information and Law, 1. Kap. A. (S. 4).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

1. Ökonomische Rechtsanalyse und Vertragsrecht Bewährtes Referenzsubjekt der ökonomischen Theorie bei der Ermittlung der Realfolgen von Rechtsnormen ist das rational und eigennützig handelnde Individuum, der sog. »homo oeconomicus«. Dieser verfügt über ein vollständiges, nicht-widersprüchliches, transitives und stabiles Präferenzsystem (REMM = resourceful, eva-luative, maximizing man). Als Akteur lässt sich der homo oeconomicus von egoistischen Interessen leiten, ist gegen moralische Kategorien und Pfl ichtbewusstsein grundsätzlich immun und verfolgt Ziele, die seinen eigenen Nutzen vergrößern. 274 Würde das abstrahierende Konstrukt der REMM-Hypothese einer Abstufung in verschiedene Privatrechtstypisierungen wegen der unterstellt einheitlichen Prognosezwecke grundsätzlich zuwiderlaufen, legt die Kritik an dem rational choise-Ansatz Zeugnis für den Bedarf nach ungleichen Sonderregelungen ab. So stellt etwa Simon dem vollkommen rational handelnden Akteur der ökonomischen Modellwelt sein Konzept eines nur eingeschränkt rationalen Verhaltens, die sog. »bounded rationality«, gegenüber. 275 Auch die Arbeiten von Kahneman, Tversky, Thaler und Smith wenden sich von dem homo oeconomicus wegen dessen nur unvollkommener Fähigkeit zur Informationsaufnahme- und verarbeitung, dessen Entscheidungsverhalten und dessen Grads an Uneigennützigkeit ab. 276 Aus ökonomischer Sicht ist Vertragsfreiheit vor allem deshalb wichtig, weil sie in einem funktionsfähigen Wettbewerb die Ressourcen an den Ort ihrer wertvollsten Verwendung steuert. 277 Es bilden sich Güterpreise, welche die echten Knappheitsverhältnisse anzeigen und Gütermengen, die bei gegebenem Stand der Produktionsmöglichkeiten die effi ziente Produktionsstruktur gewährleisten; es werden Anreize vermittelt, neue Produktionsmethoden zu entdecken, Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung zu verwirklichen und somit den materiellen Wohlstand einer Gesellschaft anzuheben. 278 Gleichzeitig existieren aber auch Vertragsrisiken: So wissen Vertragspartner nicht, wie sich während der Vertragslaufzeit die Umwelt verändert (Risiko), ob der jeweils andere Partner wichtige Informationen verheimlicht (hidden informati274 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, Einleitung 3. und 3. Kap. 2. (S. 3 und S. 58 ff.); Eidenmüller, JZ 60 (2005), 216 (217). 275 Simon, QJEcon 69 (1955), 99 (99 ff.); ders., in: Eatwell/Milgate/Newman (Hrsg.): The New Palgrave Dictionary of Economics, Vol. 1, Stichwort: »bounded rationality«, S. 266, 267; Oehler, VuR 21 (2006), 294 (296 ff.). 276 Tversky/Kahnemann, JournBusiness 59 (1986), S251 (S254 ff.); dies., CognPschol 5 (1973), 207 (207 ff.); Thaler, JEconBehavOrg 1 (1980), 39 (39 ff.); Kahnemann/Knetsch/ Thaler, JEconPersp 5 (1991), 193 (194 ff.); dies., JPE 98 (1990), 1325 (1342 ff.); Jolls/Sunstein/Thaler. StanLRev 50 (1998), 1471 (1476 ff.). 277 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 10. Kap. 1. (S. 393). 278 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 10. Kap. 1. (S. 393).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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on) und ob der jeweils andere Partner nachteilige Handlungen begeht (hidden action); außerdem können Vertragspartner vertragsspezifische Investitionen tätigen, die sich außerhalb des Vertrages gegebenenfalls nicht realisieren. 279 Das Vertragsrecht erleichtert anonyme Transaktionen, indem es Risiken zuordnet sowie den ex ante- und ex post-Opportunismus der Parteien vor und nach Vertragsschluss reduziert. 280 Dabei werden rationale Parteien im Falle eines vollständigen Vertrages die Risiken nicht beliebig sondern effi zient verteilen, sodass der Vertrag durch beiderseitige Nutzenförderung die Funktion der Wohlfahrtssteigerung erfüllen kann (Pareto-Kriterium). 281 Der vollständige Vertrag, bei dem die Parteien sich ex ante über die Zuordnung sämtlicher Risiken, die mit der Vertragsdurchführung verbunden sind, geeinigt haben, ist allerdings nur ein Gedankenspiel; die Praxis lässt wegen der ansonsten zu hohen Transaktionskosten nur unvollständige Verträge entstehen. 282 Als kostengünstige Rekonstruktionsfaktoren des vollständigen Vertrages fungieren daher Gesetz und Rechtsprechung 283 ; bei der Verteilung der Risiko- und Versicherungslasten sollten diese sich an dem Kaldor-Hicks-Kriterium orientieren und Kollektiventscheidungen nur dann durchführen, wenn aus dem Gewinn eines Begünstigten Benachteiligte unter Verbleib eines Nettogewinns beim Begünstigten voll entschädigt werden können 284. Demgemäß sollten Risiken, die nicht Gegenstand der Vereinbarung waren, dem »cheapest cost avoider« zugeordnet werden, vorausgesetzt, die Risikovermeidungskosten sind niedriger als der Erwartungswert des Risikos (Learned Hand-Formel). 285 Bei versicherbaren Risiken sollte der »cheapest insurer« haften. 286 Bei

279

Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 10. Kap. 3. (S. 396,

397). 280 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 10. Kap. 4. (S. 398). 281 Pareto, Manual of Political Economy, S. 1 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 11. Kap. 1. und 12. Kap. 1. (S. 401 und S. 422); Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 1 § 1 C. II. 1. (S. 48 ff.); Mestmäcker, A Legal Theory without Law, II. (S. 12); Posner, Economic Analysis of Law, Chapt. 1 § 1.2 (S. 12 ff.). 282 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 11. Kap. 1. (S. 401, 402). 283 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 11. Kap. 2. (S. 403). 284 Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 1 § 1 C. II. 2. (S. 52); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2 Kap. 6.1 (1) (S. 32); zum KaldorHicks-Kriterium vgl. auch: Hicks, EconJournal 49 (1939), 696 (696 ff.); Kaldor, EconJournal 49 (1939), 549 (549 ff.). 285 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 11. Kap. 3. (S. 406). 286 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 11. Kap. 4.1 (S. 407).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

nicht versicherbaren Risiken, die keine Partei mit vertretbarem Aufwand vermeiden kann, sollte der »superior risk bearer« haften. 287 Ein wichtiges Entscheidungskriterium bei der Risikobewertung und -zuordnung bilden die möglichen »Verhaltenskategorien unter Unsicherheit«, bei denen zwischen drei verschiedenen Haltungen differenziert werden kann: Risikoneigung, Risikoneutralität und Risikoaversion. Während risikogeneigte Vertragspartner zur Abwehr eines Risikos lediglich bereit sind, eine Versicherungsprämie zu zahlen, die unter dem Erwartungswert des Schadens liegt, ist ein risikoneutraler Partner bereit, eine Versicherungsprämie zu zahlen, die genau dem Erwartungswert des Risikos entspricht. 288 Nur risikoaverse Vertragspartner fi nden sich damit ab, eine Versicherungsprämie aufzuwenden, die in Anbetracht der verkehrsüblichen Kosten über dem Erwartungswert des Schadens liegt, sodass nur bei ihnen eine vertragliche Versicherung überhaupt zustande kommen kann. 289 Gesamtbetrachtend ist nach den ökonomischen Vertragsparadigma ein gültiger Vertrag jedenfalls nur dann gegeben, wenn eine Vereinbarung den Nutzen für beide Parteien fördert und auf diese Weise die ökonomische Funktion des Vertrags erfüllt; ein Vertrag, der nicht ex ante betrachtet Pareto-superior ist, sollte von Rechts wegen korrigiert werden. 290 Ähnlich wie der homo oeconomicus fungieren dabei die Abstraktionstypen des risikogeneigten, risikoneutralen und risikoaversen Marktteilnehmers als Orientierungsgrößen, um anhand des Kaldor-Hicks-Kriteriums den cheapest cost avoider, den cheapest insurer und den cheapest risk bearer ausfi ndig zu machen. 2. Ökonomische Analyse – Legitimation der Vertragsrechtsspaltung? Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich vor allem die Frage, ob und inwiefern die ökonomische Begründung der Vertragsfreiheit einschließlich der aus den ökonomischen Vertragsparadigma abgeleiteten Schlussfolgerungen in Einklang mit bestimmten sonderprivatrechtlichen Modellen – insbesondere dem Handels- und Verbraucherrecht – gebracht werden können. 291

287

Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 11. Kap. 6. (S. 412,

413). 288 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 11. Kap. 4.2 (S. 408). 289 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 11. Kap. 4.2 (S. 409); vgl. zu den Aspekten der Risikoneigung, Risikoneutralität und Risikoaversion am Beispiel der Finanz- bzw. Kapitalmärkte: Posner, Economic Analysis of Law, Chapt. 15 (S. 405 ff.). 290 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 12. Kap. 1 (S. 422). 291 Vgl. auch: Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 12. Kap. 2. (S. 422 ff.).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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Pauschal gehen Schäfer und Ott zumindest davon aus, dass das ökonomische und das rechtliche Vertragskonzept grundsätzlich übereinstimmen; ein Vertrag, der unter Verstoß gegen Fairness-Bedingungen zustande gekommen ist, könne weder ökonomisch noch rechtlich legitimiert und als »gültig« behandelt werden. 292 Ähnlich ist auch Eidenmüller der Ansicht, dass der homo oeconomicus »im Lichte stabiler und relevanter Rationalitätsdefizite, die systemimmanent bisher nicht erklärbar sind«, rekonstruiert werden müsse; nach der erforderlichen Anpassung werde das ökonomische Verhaltensmodell dann zu weniger weit reichenden, also spezielleren Theorien (Mikrotheorien) führen, als sie auf der Grundlage des »klassischen« homo oeconomicus möglich gewesen wären. 293 Dass auch der homo oeconomicus als positives Verhaltensmodell der Ökonomik einer Sonderbereichsbildung zugänglich sein könnte, wird durch Äußerungen wie diese also bestätigt. Gleichzeitig gibt Eidenmüller unter dem Eindruck der »Behavioral Law and Economics« aber zu bedenken, dass die Ausrichtung der gesamten Rechtspolitik am real existierenden Individuum mit allen seinen Rationalitätsdefi ziten zwar verhindern würde, dass es zu Fehlschlägen des Gesetzgebers käme, die auf irrigen Verhaltensannahmen aufbauten. Rationalitätsdefi zite abbauen würde das Recht in diesem Fall aber keine; vielmehr würde der real existierende – nur beschränkt rationale – (Verbraucher-) Typus mit all seinen Defi ziten eingerichtet und stabilisiert. 294 M. Lehmann wiederum sieht gerade in der rechtspolitischen Diskussion über die richtige Dimensionierung eines privatrechtlichen Verbraucherschutzes auch aus ökonomischer Sicht den Versuch, »der Nachfrageseite eine ihrer ökonomischen Funktion adäquate wirtschaftliche – und damit auch wirtschaftsrechtlich stärkere Position zu verschaffen«. 295 Das Handelsrecht und dabei insbesondere die Regelungen der Handelsgeschäfte im dritten und vierten Buch des HGB könnten dagegen aus ökonomischer Sicht als ein Instrument aufgefasst werden, »das gegenüber dem Bürgerlichen Recht die Transaktions- und Informationskosten, die mit Güteraustauschvorgängen notwendigerweise zusammenhängen, senken soll«. 296 Im Grunde würde die Annahme, dass die Sonderprivatrechte (Handels- und Verbraucherrecht) einer ökonomischen Fundierung zugänglich sind, allerdings voraussetzen, dass der legislative Grad freiheitsbezogener Ungleichbehandlung sich im Wege einer Kostenanalyse genau errechnen ließe. Dabei wären die Regulierungskosten mit den dadurch zu erzielenden Vorteilen in eine 292 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 12. Kap. 2. (S. 424). 293 Eidenmüller, JZ 60 (2005), 216 (221). 294 Eidenmüller, JZ 60 (2005), 216 (223). 295 M. Lehmann, Bürgerliches Recht und Handelsrecht – eine juristische und ökonomische Analyse, I. 2. (S. 8). 296 M. Lehmann, Bürgerliches Recht und Handelsrecht – eine juristische und ökonomische Analyse, VII. 2. (S. 262).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Waagschale zu werfen. 297 Dass das Ergebnis einer solchen pekuniären Abwägung genau oder zumindest annährend dem Typisierungsgrad der Sonderprivatrechte entspräche, ist jedoch unwahrscheinlich. Die ökonomische Analyse im Sinne eines möglichen Rechtfertigungsinstruments für eine bestimmte Einteilung von Verhaltensmodellen erscheint daher hypothetisch, um nicht zu sagen spekulativ. Dementsprechend vermag die ökonomische Analyse im vorliegenden Zusammenhang letztlich nicht mehr als eine Hilfestellung zu liefern, um die Abspaltung der Sonderprivatrechte anhand eines marktwirtschaftlichen Vorverständnisses mit einer größeren Überzeugungskraft zu untermauern und »auch die Funktion [der] Rechtsordnung als ein Instrument des social-engineering besser zu verstehen«. 298

B. (Sonder-) Vertragskonzeption im Rechtsordnungsvergleich Als Zwischenergebnis der vorstehenden Ausführungen lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass weder ökonomische Effi zienzüberlegungen noch vertragstheoretische Modelle in der Lage sind, den Sondervertragsrechten zu einer apriorischen Begriffsimmanenz im Hinblick auf das Vertragsinstitut zu verhelfen. Greift man allerdings einen anderen Gedanken, nämlich den der »corrective justice theory« auf, wonach die Aufgabe des Rechts, ausgleichende Gerechtigkeit zwischen den Vertragsparteien zu schaffen 299, immanent aus dem Recht selbst heraus entwickelt werden muss, wäre in Erwägung zu ziehen, ob nicht aus den positiven Rechtsnormen der EU-Mitgliedstaaten ein entsprechendes Erklärungsmodell abgeleitet werden kann. Herausbilden ließe sich ein solches Modell im Wege der Rechtsvergleichung als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, was allerdings voraussetzen würde, dass sich aus dem positiven Recht – seinen Begriffen, Regeln, Prinzipien und seiner Dogmatik300 – hinreichende Anhaltspunkte für das Dogma einer generellen b2c- bzw. b2bTypisierung ergäben. Um herauszufi nden, ob und inwiefern einer begriffsimmanenten Akzeptanz der Sondervertragsrechte, insbesondere auf Gemeinschaftsebene, das Wort zu reden ist, müsste daher untersucht werden, wie die Rechtsordnungen der EUMitgliedstaaten die Grenze zwischen Ausgestaltung und Einschränkung der Vertragsfreiheit determinieren.

297

Hadfi eld/Howse/Trebilcock, JCP 21 (1998), 131 (148, 164). M. Lehmann, Bürgerliches Recht und Handelsrecht – eine juristische und ökonomische Analyse, VIII. (S. 308). 299 Röckrath, ARSP 83 (1997), 506 (506, 507). 300 Röckrath, ARSP 83 (1997), 506 (506, 507). 298

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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I. Die kontinentalen Gesetzgebungen mit dualistischem Privatrecht Eine wichtige Rechtstradition für das Gemeinschaftsrecht ist die romanischkontinentale. Das moderne Vertragsrecht der Rechtsordnungen, die diesem Rechtskreis angehören, fi ndet seine historische Grundlage in der Tradition des römischen Gemeinen Rechts. Seine Kodifi kationsvorlage bildet der französische Code civil von 1804. 301 Im Gegensatz zum BGB, das den Vertrag implizit voraussetzt, sehen die übrigen modernen Kodifi kationen kontinentalromanischer Prägung eine gesetzliche Defi nition des Vertrages als Willenseinigung vor302 , entweder ausgehend von dem Eigentum303, dem Eigentumserwerb304, den Sachenrechten305 oder der Obligation306. 1. Französisches Vertragsrecht – Willensprinzip und Vertragsfreiheit Die französische Privatrechtsordnung weist mittlerweile, ähnlich wie die deutsche, ein System der vertragsrechtlichen Dreiteilung – bestehend aus allgemeinem, Handels- und Verbrauchervertragsrecht – auf. Dabei sind Verträge zunächst einmal Gegenstand der allgemeinen Regeln, wie sie im »Titre III« des Code civil (franzCcivil) enthalten sind, unterliegen aber davon abgesehen neben dem EG-rechtlich veranlassten Verbrauchervertragsrecht auch einem handelsrechtlichen Sonderregime. Die Einheit des Vertragsrechts wird maßgeblich durch die Willenstheorie gesichert (»théorie de l’autonomie de la volonté«), wobei der Liberalismusgedanke der Kodifi kationszeit heute noch in Art. 1134 Abs. 1 franzCcivil gesetzespositivistisch zum Ausdruck gelangt. 307 301

Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 6 I. (S. 74). So versteht Art. 1101 des französischen Code civil unter einem Vertrag »une convention par laquelle une ou plusieurs personnes s’obligent, envers une ou plusieurs autres, à donner, à faire ou à ne pas faire quelque chose«. Detaillierter und unter Formulierung seiner zentralen Voraussetzungen defi niert dagegen § 861 des österreichischen ABGB den Vertrag wie folgt: »Wer sich erklärt, dass er jemandem sein Recht übertragen, das heißt, dass er ihm etwas gestatten, etwas geben, dass er für ihn etwas tun, oder seinetwegen etwas unterlassen wolle, macht ein Versprechen; nimmt aber der andere das Versprechen gültig an, so kommt durch den übereinstimmenden Willen beider Teile ein Vertrag zustande. Solange die Unterhandlungen dauern, und das Versprechen noch nicht gemacht, oder weder zum voraus, noch nachher angenommen ist, entsteht kein Vertrag.« 303 Dabei bildet in den historisch ältesten Kodifi kationen, dem französischen Code civil von 1804 und dem österreichischen ABGB von 1811, das Eigentum – und nicht der Vertrag – den systematischen Ausgangspunkt des Kodifi kationsaufbaus. 304 Im französischen, belgischen und rumänischen Code civil sind Verträge im »Titre III« unter der Überschrift »Des différentes manières dont on acquiert la propriété« aufgeführt. 305 Im österreichischen ABGB werden Verträge im »Zweiten Teil« unter den »Teil«- und »Abteilungs«-Überschriften »Von dem Sachenrecht« bzw. »Von den persönlichen Sachenrechten« erörtert. 306 Erst der spanische Código civil von 1889 widmete dem Vertragsrecht und den vertraglichen Obligationen als bemerkenswerte Neuerung ein selbstständiges Viertes Buch (»De las obligaciones y contratos«). 307 »Les conventions légalement formées tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faites«: Die 302

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Der Gattungsbegriff der Generalklausel ist in der französischen Rechtstheorie nicht in gleichem Maße wie im BGB verankert. 308 Umso größer ist der Einfluss der Willenstheorie auf das gesamte Vertragsverständnis. So müssen die Vertragsparteien vor allem frei sein zu entscheiden, ob sie einen Vertrag eingehen wollen oder nicht. Sie können unter Ausschluss gerichtlicher Kontrolle grds. alle Vereinbarungen treffen, die inhaltlich nicht gegen zwingende öffentliche Interessen verstoßen. 309 Seinem Leitbild nach zu urteilen, ist der Code civil (1804) in seiner ursprünglichen Fassung das Gesetzbuch der Bourgeoisie, die sich in den Kämpfen der Französischen Revolution gegen die feudalen Herrschaftsstrukturen des ancien régime durchgesetzt hatte. 310 Auch der Code de commerce war mit seiner objektiven Ausrichtung an dem Begriff der »actes de commerce« gesetzgeberischer Ausdruck dieser Zeitepoche. Bereits in seiner ursprünglichen Fassung (1808) war er darauf angelegt, möglichst nicht noch zwischen verschiedenen Formen von Kaufleuten zu differenzieren, nachdem ohnehin schon die Berechtigung, überhaupt ein Sonderprivatrecht für bestimmte im Handelsverkehr auftretende Personen zu schaffen, angesichts des revolutionären Gleichheitsgedankens fragwürdig erschien. 311 Auch heute noch sieht das französische Recht nicht verschiedene Formen von Kaufleuten vor, sondern enthält lediglich Tendenzen, für kleinere Kaufleute vereinfachte Regeln zu entwickeln. 312 Verbraucherrechtlich weist Frankreich seit 1972 gesetzliche Regelungen zu Haustürgeschäften auf (Gesetz Nr. 72–1137) 313, besitzt seit 1978 ein Schutzgesetz für den Bereich der Kreditgeschäfte (Gesetz Nr. 78–22) 314 bzw. ein Verbrauchergesetz mit einem Verwaltungskontrollsystem für missbräuchliche

neuere Forschung hat ergeben, dass die Verfasser des Code Civil die Formeln der Art. 544 und 1134 franzCcivil, die schon seit Jahrhunderten in der europäischen Jurisprudenz verbreitet waren, ohne viel Nachdenken übernommen haben. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie zu liberalen Programmsätzen aufgewertet (Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 7 I. (S. 85). 308 Jung, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.): Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 37 (S. 41). 309 Schmidt-Szalewski, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, France, Tz. 41. 310 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 7 III. (S. 92). 311 Müller-Freienfels, FS für von Caemmerer (70. Gebtg.), S. 583 (S. 600); Kort, AcP 193 (1993), 453 (465, 466); Hamel/Lagarde, Traité de Droit Commercial, Bd. 1, Chapitre 1 Section II § 4 (S. 30 ff.); Sonnenberger, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, II 48 (S. 68); Raisch, Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht, IV. (S. 48). 312 Sonnenberger, Französisches Handels- und Wirtschaftsrecht, II 48 (S. 68); Kort, AcP 193 (1993), 453 (466). 313 Loi ní 72–1137 – J. O. 1972, S. 13348 ff.; vgl. auch: Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Sekundärrecht Nach A 2 Rn. 25 ff. 314 Loi ní 78–22 – J. O. 1978, S. 299 ff.; vgl. auch: Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 2. Teil A. V. 2. (S. 198 ff.).

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Klauseln (Gesetz Nr. 78–23) 315 und verfügt seit 1988 über ein Verbrauchergesetz zum Teleshopping (Gesetz Nr. 88–21) 316. Mit Erlass des Code de la consommation (Gesetz Nr. 93–949) wurden diese Gesetze im Wege der »codification à droit constant« in ein neu geschaffenes Verbrauchergesetzbuch überführt317, über das heute alle wesentlichen Verbraucherrichtlinien umgesetzt sind318. Neben dem »consommateur« fällt auch der »non-professionnel« unter den Schutzbereich des Verbraucherrechts – eine eigentümliche Erweiterung, die auch Handwerker und Kaufleute ohne berufsspezifische Spezialkenntnisse auf dem Gebiet des jeweiligen Vertrages als schutzbedürftig einstuft. 319 Anders als im deutschen Recht geht die Missbrauchskontrolle traditionell nicht von dem Begriff der AGB, sondern von dem Individualvertrag aus, konzentriert sich dafür aber auf »les contrats conclus entre professionnels et non-professionnels ou consommateurs« (L 132–1 franzCcon). 320 Obwohl das Zivilrecht insgesamt Aufgabe des Gesetzgebers ist (während Rspr. und Lehre gesetzliche Regeln lediglich konkretisieren sollen321), hat in der Vergangenheit vor allem die Rspr. die überkommenen Regeln an die modernen Erfordernisse adaptiert322 . Weil das Vertragsrecht seit 1804 durch gesetzgeberische Reformen weitgehend unbehelligt blieb323, musste notgedrungen die Rechtslehre das Vertragsverständnis an die geänderten Verhältnisse anpassen. 324 Beeinflussen nach dem Gesetz z. B. Irrtum, Zwang oder Täuschung die Wirksamkeit des vertraglichen Willenskonsenses (Art. 1109 franzCcivil), hat die Rspr. eine Täuschungsanfechtung auch für den Fall entwickelt, 315 Loi ní 78–23 – J. O. 1978, S. 301 ff.; vgl. auch: Sonnenberger, RIW 36 (1990), 165 (166); Lemmer, Die EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 4. Kap. D. (S. 84 ff.); Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 2. Teil A. V. 3. (S. 208 ff.). 316 Loi ní 88–21 – J. O. 1988, S. 271 ff.; vgl. auch: Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 3 Rn. 30 ff. 317 Gesetz Nr. 93–949 vom 26. 07. 1993 – J. O. 1993, S. 10538; vgl. auch: Witz/Wolter, ZEuP 3 (1995), 35 (35 ff.); Berger-Walliser, RIW 42 (1996), 459 (460). 318 Loi no 95–96 – J. O. 1995, S. 1755 ff.; vgl. auch: Witz/Wolter, ZEuP 3 (1995), 885 (885 ff.). 319 Cour de Cassation v. 25. 05. 1992 – Semaine Juridique 1992, édition générale, IV. Tableaux de Jurisprudence (1992) – 2142; Witz/Wolter, ZEuP 3 (1995), 885 (886); Fages, ZEuP 11 (2003), 514 (515); Berger-Walliser, RIW 42 (1996), 459 (461); Pfeiffer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 21 (S. 34). 320 Berger-Walliser, RIW 42 (1996), 459 (459, 462); Witz, FS für Sandrock (70. Gebtg.), S. 1045 (S. 1045 ff.); Burckhardt, Das AGB-Gesetz unter dem Einfluss der EG-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, B. II. 3. (S. 47 ff.). 321 Sonnenberger, ZEuP 15 (2007), 421 (422). 322 Vgl. zur allgemeinen Rechtswicklung: Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 7 III. (S. 93, 94). 323 Sonnenberger, ZEuP 15 (2007), 421 (421); Fauvarque-Cosson, ZEuP 15 (2007), 428 (430 ff.). 324 Zur Beurteilung der conditions générales: Sonnenberger, RIW 36 (1990), 165 (165 ff.).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

dass zwar keine Täuschung im engeren Sinne vorliegt, aber jemand die Zwangslage, in die ein anderer ohne sein Zutun geraten ist, erkennt und in missbräuchlicher Weise zu seinem eigenen Vorteil ausnutzt. 325 Eine solche Anfechtung wegen »dol« muss sich etwa gefallen lassen, wer das hohe Alter, die schwere Krankheit, die jugendliche Unerfahrenheit oder eine Zwangslage seines Kontrahenten ausnutzt, indem er ihm keine Zeit zu ruhiger Überlegung lässt oder ihm die Beratung durch seine Familienangehörigen oder einen Rechtsanwalt ausredet oder die Tragweite des Vertrags verharmlost oder verschleiert. 326 Vorerst sind zwar die seit 1804 gesetzlich verankerten Grundsätze des Code civil nach wie vor in Kraft327, sodass etwa für eine wirksame Vertragsabrede folgende vier Voraussetzungen wesentlich sind (Art. 1108 franzCcivil): »Le consentement de la partie qui s’oblige; Sa capacité de contracter; Un objet certain qui forme la matière de l’engagement; Une cause licite dans l’obligation.« Abgesehen davon hat das in Art. 1134 Abs. 3 franzCcivil angedeutete Gebot von Treu und Glauben, dem in Frankreich traditionell nicht der gleiche Einfluss wie in Deutschland zukommt328, in den letzten 25 Jahren jedoch erheblich an Bedeutung gewonnen329. Dies hat zur Folge, dass bereits aktuell zu einem gewissen Ausmaß natürliche Ungleichheiten über vertragliche Vereinbarungen bereinigt werden können. 330 In Zukunft könnte sich diese Tendenz durch gesetzgeberische Maßnahmen verstärken: Denn bedingt durch internen Reformdruck und die Turbulenzen der europäischen Vertragsrechtsentwicklung331 wurde dem französischen Justizminister im Jahre 2005 ein Vorentwurf für eine Reform des »Titre III« vorgelegt (»Avant-projet«) 332 , mit dem das seit 1804 bestimmende Willensprinzip eingeschränkt werden soll333. Der Vorentwurf enthält zahlreiche Neuerungen, wobei nicht nur die »bonne fois« durch gegenseitige Loyalitäts-, Kooperations- und sogar Fürsorge325

Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 II. (S. 321). Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 II. (S. 321). 327 Schmidt-Szalewski, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, France, Tz. 41. 328 Witz, ZEuP 12 (2004), 503 (505, 506); ders. /Wolter, ZEuP 3 (1995), 885 (889). 329 Fages, ZEuP 11 (2003), 514 (517 ff.); vgl. auch die Übersicht bei: Whittaker/Zimmermann, in: Whittaker/Zimmermann (ed.): Good Faith in European Contract Law, Part 1–1. V. (p. 32 ff.); Groves, ConstLJ 15 (1999), 265 (265 ff.). 330 Schmidt-Szalewski, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, France, Tz. 41. 331 Sonnenberger, ZEuP 15 (2007), 421 (422, 423); Fauvarque-Cosson, ZEuP 15 (2007), 428 (431, 432). 332 Vgl. Pierre Catala (Hrsg.): Avant-projet de réforme du droit des obligations et du droit de la prescription, URL: http://lesrapports.ladocumentationfrancaise.fr/BRP/054000 622/0000.pdf (04. 08. 2008); im Überblick: Sonnenberger, ZEuP 15 (2007), 421 (421 ff.); Fau-varque-Cosson, ZEuP 15 (2007), 428 (428 ff.). 333 Sonnenberger, ZEuP 15 (2007), 421 (425). 326

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pfl ichten präzisiert wird334, sondern auch weitere Vorschriften für das vertragliche Gleichgewicht Sorge tragen und sicherstellen sollen, dass die vertraglichen Rechte in sozialer Verantwortung wahrgenommen werden335. Darüber hinaus sieht der Entwurf Informationspfl ichten vor, die dem kenntnisstärkeren Verhandlungspartner gegenüber dem anderen auferlegt sind (Art. 1110). Obwohl auch der Verbraucher ausdrücklich benannt wird (Art. 1382–2 Abs. 2), bleiben das Recht der Handelsgeschäfte und verbrauchervertragsrechtliche Regelungen insgesamt ausgespart. In der Gesamtbetrachtung (mit den unveränderten handels- und verbraucherrechtlichen codices) basiert das französische Vertragsrecht damit immer noch auf einem Vertragsmodell, welches neben die abstrakt-generellen Regeln des allgemeinen Vertragsrechts gruppenspezifische Sonderregeln für Verbraucher, Unternehmer und Kaufleute stellt. Anhaltspunkte, die gegen einen dreidimensionalen Vertragsbegriff sprechen könnten, sind der französischen Privatrechtsordnung nicht zu entnehmen. 2. Vertragsrecht in Belgien – französische Wurzeln und Fortentwicklung Einer ähnlichen Dreiteilung folgt auch das zur französischen Rechtsfamilie gehörende belgische Vertragsrecht336, das sich ähnlich wie das französische Vertragsrecht durch eine starke Stellung des Gesetzgebers unter Degradierung der Judikative zum »Sprachrohr der Gesetzgebung« auszeichnet337. Nachdem das Gebiet des heutigen Belgien im Frieden von Campo Formio 1797 Frankreichs Staatsgebiet einverleibt wurde, trat dort 1804 automatisch der Code civil des Mutterlandes338 und zum 01. Januar 1808 auch der französische Code de commerce339 in Kraft. Selbst als Belgien in der Revolution von 1830 seine Unabhängigkeit erlangte und die neue Verfassung eine grundlegende Reform der Zivilgesetzbücher anmahnte, blieb der französische Code civil bestehen. 340 Ein größerer Einfluss des common law sowie niederländischer und deutscher Traditionen macht sich erst seit dem Zweiten Weltkrieg bemerkbar: Während seitdem die französischsprachigen Juristen immer noch nach Einflüssen im

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Vgl. Art. 1104, 1110 und 1150. Vgl. Art. 1121–4, 1121–5, 1135–2. 336 Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 17. 337 Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 18. 338 Convent, ZEuP 8 (2000), 733 (733); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 II. (S. 99). 339 Ryn/Heenen, Principes de Droit Commercial, Chap. II Sect. I (S. 28); Hoffmann E., Grundzüge des belgischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts, § 1 (S. 1). 340 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 II. (S. 99). 335

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Süden suchen (Frankreich), wenden die Flamen ihren Blick auch in Richtung common law, Niederlande und Deutschland. 341 Das Recht der Kaufleute, das u. a. durch den Code de commerce geregelt wird342 , stellte bis zum 18. Jahrhundert ein Ausnahmeregime innerhalb des Privatrechts dar, wohingegen es nach heutiger Konzeption dem Code civil nicht mehr untergeordnet ist. 343 Hinsichtlich der Abgrenzung des Handelsvon dem bürgerlichen Recht geht das belgische Handelsgesetzbuch einen Mittelweg zwischen objektiver und subjektiver Methode: Während Art. 1 belgCcom Kaufleute als Personen defi niert, die an sich bereits qualifi zierte »Handelsgewerbe« (hauptberufl ich oder nebenberufl ich) ausüben, folgt anschließend im Gesetz eine abschließende, jedoch unvollständige und unsystematische Aufzählung von gesetzlich defi nierten Handelstätigkeiten und gewissen Ausnahmen. 344 Für das Vertragsrecht im allgemeinen ist der Grundsatz der Vertragsfreiheit konstituierend (Art. 1134 belgCcivil), wobei traditionell wie im französischen Recht die Willenstheorie eine prädominante Rolle spielt. 345 Dagegen liegt der belgischen Vertragsdefi nition die Idee der Ausgewogenheit fern, setzt nach dem belgischen Selbstverständnis ein Vertrag doch nicht zwangsläufig die Erbringung einer angemessenen Gegenleistung für ein Versprechen voraus. Wirksamkeitsvoraussetzung ist lediglich, dass das jeweils Vereinbarte nicht gegen die öffentliche Ordnung verstößt. 346 Allenfalls im Hinblick auf Immobilien weist das Kaufvertragsrecht einen öffentlich-rechtlichen Ordnungscharakter auf, indem nach Art. 1674 ff. belgCcivil ein Verkauf unter Wert zur Vertragsaufhebung führen kann (lésion). 347 Eine Tendenz zur Regulierung bestimmter Verbraucherschutzbereiche existierte in Belgien bereits vor Umsetzung der europäischen Richtlinien. 348 Das 341 Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 17. 342 Vgl. zu den in der Rspr. »entwickelten« Handelsbräuchen zum Handelskauf: Hoffmann E., Grundzüge des belgischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts, § 2 Teil 3 (S. 18 ff.). 343 Hoffmann E., Grundzüge des belgischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts, § 1 (S. 1); Van Ryn/Heenen, Principes de Droit Commercial, Tome 1, Chap. 1 Sect. I (S. 3). 344 Vgl. van Ryn/Heenen, Principes de Droit Commercial, Chap. 1 Sect. III (S. 15 ff.); Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 33; Hoffmann E., Grundzüge des belgischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts, § 1 (S. 2); Stuyck, in: Blanpain (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Commercial & Economic Law, Belgium, Tz. 26. 345 Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 37, 51. 346 Herbots, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Belgium, Tz. 44. 347 Hoffmann E., Grundzüge des belgischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts, § 2 Teil 2 I. B. (S. 7). 348 Hoffmann E., Grundzüge des belgischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschafts-

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seinerzeitige »loi sur les pratiques du commerce« (1971), das den Wettbewerb und die guten Sitten im Geschäftsverkehr behandelte, wurde durch das Gesetz über Handelspraktiken vom 14. Juli 1991 (GesHandprakt) abgelöst. 349 Heute dient dieses Gesetz der Transformation der Haustürgeschäfte-, Klausel- und Fernabsatzrichtlinie, wohingegen zur Umsetzung der Timesharing- und Verbraucherkreditrichtlinie jeweils ein gesondertes Gesetz erlassen worden ist. 350 Dagegen hat die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zur Einfügung einer isolierten Sektion in den Code civil geführt (Art. 1649bis – 1649octies belgCcivil). 351 Generell hat der belgische Gesetzgeber vielfach von den Mindestharmonisierungsklauseln Gebrauch gemacht, wobei etwa bemerkenswert ist, dass eine Missbrauchskontrolle auch bei individuell ausgehandelten Verbraucherverträgen stattfi nden kann352 bzw. die Verbrauchereigenschaft verloren geht, wenn eine Ware oder Dienstleistung für gemischt private und geschäftliche Zwecke erworben werden soll (Art. 1 Nr. 7 GesHandprakt). 3. Vertragsrecht in Spanien – Zentralgewalt und Comunidades Autónomas Auch in Spanien hat die Unterscheidung zwischen Handels- und Zivilvertragsrecht Tradition; anders als in Deutschland hat sie sogar eine verfassungsrechtliche Bedeutung. Als im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck der französischen Kodifi kation der Plan entstand, ein einheitliches spanisches Zivilrecht zu schaffen353, konnte 1829 zunächst nur für das Handelsrecht eine Kodifi kation (Código de comercio) auf der Grundlage des französischen Code de commerce in Kraft gesetzt werden. 354 Der Código civil (spanCcivil), der auch heute noch Geltung beansprucht, wurde dagegen erst 1889 verkündet. 355 Hinsichtlich Inhalt und Struktur wurde er durch den französischen Code civil rechts, § 12 (S. 124 ff.); Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. B. I. (S. 53, 54). 349 Moniteuer Belge 23. 12. 1998, S. 40703 ff.; deutsche Übersetzung abgedruckt in: Hoffmann E., Grundzüge des belgischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts, Anhang 1. (S. 188 ff.). 350 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. B. (S. 53 ff.); zum Verbraucherkreditgesetz vom 12. 06. 1991 vgl.: Hoffmann E., Grundzüge des belgischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts, § 12 II. (S. 124 ff.); zur Umsetzung der Klauselrichtlinie: Lemmer, Die EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 4. Kap. A. (S. 79, 80). 351 Jacobs, Die Sachmängelgewähr im deutschen und belgischen Kaufrecht, 2. Kap. 2. Teil (S. 125 ff.); Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. B. (S. 53). 352 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. B. IV. (S. 55). 353 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 IV. (S. 106). 354 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 IV. (S. 106); im Überblick: Raisch, Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht, V. 2. (S. 56 ff.). 355 Peuster, Código Civil: Das spanische Zivilgesetzbuch, Einleitung Ziff. 1 (S. XXXI).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

beeinflusst. 356 Noch heute sind die Handelsgeschäfte in der Spezialkodifikation des Código de comercio (spanCcom) geregelt, der im Jahre 1885 wesentlich modernisiert worden ist. Zahlreiche privatrechtliche Regelungen sind in ihm enthalten, die in anderen Ländern wie Frankreich, der Schweiz und Deutschland, zum bürgerlichen Recht zählen. 357 Neben einer allgemeinen, nationalen Rechtsordnung (ordenamiento jurídico español) weist Spanien verschiedene Foralrechte (derechos forales) auf, bei denen es sich um selbstständige Rechtsordnungen einzelner spanischer Regionen (Comunidades Autónomas) handelt. 358 Während die Rechtsetzungskompetenz zum Handelsrecht ausschließlich der gesamtstaatlichen Legislative zugeordnet ist (Art. 149 Abs. 1 Ziff. 6 ConstEspañ), obliegt die Rechtsetzungskompetenz für das Zivilrecht sowohl dem gesamtspanischen Parlament als auch den Legislativorganen einiger Regionen (Art. 149 Abs. 1 Ziff. 8 ConstEspañ); dabei ist im Hinblick auf das Schuld- und Vertragsrecht wiederum die Besonderheit zu beachten, dass es der Rechtsetzungskompetenz der Regionen zugunsten der Zentralgewalt entzogen ist (Art. 149 Abs. 1 Ziff. 8 Nr. 2 ConstEspañ). Sind bestimmte Rechtsinstitute in den Regionen nicht geregelt, verweist unter bestimmten Voraussetzungen die Subsidiaritätsklausel des Art. 149 Abs. 3 ConstEspañ auf den gesamtspanischen Código civil. 359 Eckpfeiler des spanischen Vertragsrechts ist die Vertragsfreiheit (vgl. Art. 1255 spanCcivil), wobei der Código civil mit dem französischen Code civil das »Modell« persönlicher Freiheit unter weitgehender Außerachtlassung materialer Gerechtigkeit im Sinne einer individualistisch-liberalen Rechtsauffassung grds. teilt. 360 Abgesehen von den Fällen der Art. 1291 Nr. 1 und 2 spanCcivil (d. h. bei Verträgen, die von einem Vormund ohne gerichtliche Zustimmung oder die in Vertretung von Abwesenden geschlossen wurden, wenn eine Schädigung eintritt, die mehr als ein Viertel des Vertragsgegenstandes beträgt) kann ein Vertrag wegen laesio enormis nicht aufgehoben werden (Art. 1293 spanCcivil). Im Übrigen abstrahiert das spanische Recht ähnlich 356 Vaquer, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Spain, Tz. 14; Matthies, Die Unwirksamkeit von Verträgen im deutschen, englischen und spanischen Recht, III. 3.1 (S. 134, 135); vgl. zum direkten Vergleich in tabellenähnlicher Form: Schön, Allgemeines Vertragsrecht und Kaufvertragsrecht, Teil 1 VI. B. (S. 63 ff.). 357 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 2. Kap. III. (S. 20). 358 Die Comunidades Autónomas mit einer Rechtssetzungskompetenz sind namentlich Katalonien (Cataluña), Baskenland (País vasco), Galicien (Galicia), Aragonien (Aragón), Navarra und die Balearen (Islas Baleares); vgl.: Navas Navarro, ZfRV 45 (2004), 212 (213). 359 Navas Navarro, ZfRV 45 (2004), 212 (214). 360 Martínez de Aguirre, ADC 1994/I, 31 (34); Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, § 4 A. II. 1. (S. 65); Vaquer, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Spain, Tz. 17, 30; Matthies, Die Unwirksamkeit von Verträgen im deutschen, englischen und spanischen Recht, III. 3.2.1 (S. 136).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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wie im deutschen Recht über die generelle Anerkennung der Rechtsfähigkeit von der jeweiligen conditio humana und gewährt allen Geschäftsfähigen die formal gleiche Möglichkeit zur Vertragsautonomie. 361 Andererseits haben aber in Spanien bereits in den 1920er und 1930er Jahren, angestoßen u. a. von Alguer und Castán Tobeñas, Bemühungen um eine größere »Sozialisierung«, »Ent-Individualisierung«, »Moralisierung« bzw. »Humanisierung« des Privatrechts eingesetzt. 362 Auch Autoren wie de Cossio y Corral (1955) suchten nach Mitteln und Wegen, sozialen Anschauungen einen größeren Stellenwert einzuräumen. 363 Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang noch durch eine Phase des Suchens und Orientierens geprägt war, sticht die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Reform des Einführungstitels zum Código civil hervor (1973). 364 Seitdem ist auch im ersten Titel des Código civil die »buena fe« verankert (Art. 7 Abs. 1 spanCcivil), die damit implizit den Charakter eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes (principio general) einnimmt. 365 Die Vorschrift sieht vor, dass Rechte im Einklang mit den Anforderungen von Treu und Glauben auszuüben sind. Über Treu und Glauben gibt das spanische Zivilrecht den Vertragsparteien Nebenpfl ichten und Verhaltensanforderungen auf, schränkt subjektive Rechte ein und gewährt dem Richter die Möglichkeit, bestimmte Verhaltensstandards ex offi cium zu formulieren. 366 Neben der Reform des Título Preliminar hat das Phänomen der Moralisierung und Sozialisierung des Vertragsrechts auch in die Rechtsanwendung Eingang erhalten. Ansatzpunkte hierfür liefert nicht nur die Rechtsanwendung zu Art. 1256 spanCcivil, wonach Wirksamkeit und Erfüllung nicht dem Ermessen eines Vertragsschließenden anheim gestellt werden können; auch Art. 1258 spanCcivil lässt entsprechende Anhaltspunkte erkennen, indem er spezifisch für das Vertragsrecht auf die »buena fe« Bezug nimmt. 367 Andere Literaturstimmen sehen gerade in dieser Entwicklung ein Krisenszenario des Vertragsrechts. 368 361 Vaquer, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Spain, Tz. 115 ff. 362 Alguer, RJC 1927, 422 und 507 (422 ff. und 507 ff.); Castán Tobeñas, Hacia un Nuevo Derecho civil, S. 5 ff.; im Überblick: Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, Teil 1 § 4 B. II. und IV. (S. 75 ff. und S. 92 ff.); vgl. auch: Martínez de Aguirre, ADC 1994/I, 31 (58 ff.). 363 De Cossio y Corral, El dolo en el derecho civil, S. 1 ff.; vgl. auch: Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, Teil 1 § 4 C. I. (S. 112 ff.). 364 Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, Teil 1 § 5 (S. 139 ff.). 365 Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, Teil 1 § 5 B. (S. 149). 366 Vaquer, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Spain, Tz. 67, 68. 367 Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, Teil 2 § 8 D. (S. 220 ff.). 368 Siehe m. W. N. etwa: Váquez de Castro, Determinación del contendo del contrato, VIII. (S. 134).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Gegenüber dem allgemeinen Zivilrecht (Derecho común o general) ist das Handelsrecht (Derecho especial o particular) lex specialis. 369 Als objektives Abgrenzungskriterium fungiert dabei der »acto de comercio«. Gleichzeitig gibt es aber auch Bestimmungen, die an die Kaufmannseigenschaft anknüpfen, sodass über die Anwendbarkeit des Código de comercio ein »doppeltes Kriterium« entscheidet, »welches sowohl objektive als auch subjektive Elemente enthält«. 370 Im Verbraucherschutz nahm die Rechtsetzungsaktivität seit den 1980er Jahren ihren Lauf, wobei teilweise den Umsetzungsverpfl ichtungen der EG-Verbraucherrichtlinien bereits vorgegriffen wurde. 371 Denn bereits seit der Verabschiedung von Art. 51 der spanischen Verfassung vom 27. Dezember 1978 hatten die staatlichen Behörden den Auftrag, den Schutz von Verbrauchern und Nutzern zu garantieren372 , sodass schon 1984 ein allgemeines Verbraucherschutzgesetz verkündet werden konnte373. Die einzelnen EG-Verbraucherrichtlinien wurden dann in Spanien durch separate Umsetzungsgesetze in Kraft gesetzt, wobei allerdings bei keiner Richtlinie die vorgeschriebene Umsetzungsfrist eingehalten wurde. 374 Davon abgesehen ist seit geraumer Zeit eine Reformdiskussion im Gange, wie der Dreiklang zwischen Zivil-, Handels- und Verbraucherrecht erneuert werden könnte. Auch der Vorschlag Reichs zur Dreiteilung des Zivilrechts (Unternehmens-, Bürger- und Verbraucherrecht) fand dabei Beachtung375, wurde aber letztlich von Alternativvorschlägen verdrängt. So hat A. Bercovitz Rodríguez-Cano etwa die Möglichkeit aufgezeigt, das Verbraucherrecht als Medium zu betrachten, um die Vereinigung des Handels- und des allgemeinen Zivilrechts zu einem neuen Handelsrecht, d. h. zu einem Privatrecht des Wirtschaftsverkehrs voranzutreiben. 376 In ähnlicher Weise plädiert auch GarcíaCruces González für eine Überwindung des klassischen Inhalts des Handelsrechts und fordert ebenfalls ein neues Privatrecht des Wirtschaftsverkehrs mit 369

Navas Navarro, ZfRV 45 (2004), 212 (215). Navas Navarro, ZfRV 45 (2004), 212 (215). 371 Zur AGB-Inhaltskontrolle: Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 5 Vorbem. Rn. 74; zu Haustürgeschäften: Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 2 Rn. 59; zu Fernabsatzgeschäften: Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 3 Rn. 84 ff. 372 K. C. Fischer, Verbraucherschutz im spanischen Vertragsrecht, Teil 2 A. II. und C. I. (S. 25 ff. und S. 35 ff.); Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 2 Rn. 59. 373 K. C. Fischer, Verbraucherschutz im spanischen Vertragsrecht, Teil 2 C. III. 2. (S. 55 ff.); Ulmer, in: Ulmer/Brandner/Hensen (Hrsg.): AGB-Recht, Einl. Rn. 143. 374 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. W. (S. 162 ff.); zur Umsetzung der Klauselrichtlinie: Trejo/Vestweber, ZVglRWiss 97 (1998), 454 (454 ff.); Forner, ICCLR 11 (2000), N31 (N31 ff.). 375 Reich, Mercado y Derecho, Capítulo IV. II. 2. (S. 173 ff.). 376 A. Bercovitz Rodriguez-Cano, in: A. Bercovitz Rodriguez-Cano/R. Bercovitz Rodriguez-Cano (Hrsg.): Estudios jurídicos sobre protección de los consumidores, 1. IV. 2. (S. 35, 36). 370

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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integriertem Verbraucherrecht. 377 Dagegen hält etwa Bustos Pueche Konzepte wie diese für nicht ausreichend; er befürwortet eine Runderneuerung des gesamten Privatrechts, insbesondere eine Vereinheitlichung des Vertragsrechts auf der Basis des Handels-, Zivil- und Verbraucherrechts. 378 II. Österreich – Assimilierung von Unternehmerrecht und Verbraucherrecht Auch wenn Österreich im weiteren Sinne als »member of the German legal family« bezeichnet werden kann379, hat es im Verhältnis zu Deutschland mittlerweile vor allem handelsrechtlich eine Sonderentwicklung durchlaufen. Nachdem am 1. Juli 1963 das in Deutschland geltende ADHGB in Kraft getreten war, wurde während der Okkupation durch Deutschland mit Wirkung zum 1. März 1939 auch das deutsche HGB übernommen. 380 Wegen des Nebeneinanders einiger mitübernommener deutscher BGB-Vorschriften und des östABGB kam es dadurch zu einer eher befremdlichen Zweiteilung zwischen Zivil- und Handelsrecht381, die erst durch den Paradigmenwechsel des Handelsrechtsänderungsgesetzes (HaRÄG) 2005 beseitigt worden ist. Im Rahmen dieser Reform hat der österreichische Gesetzgeber ein Unternehmensgesetzbuch (östUGB) geschaffen, das nicht nur das ABGB in wichtigen Ordnungsfragen erneuerte, sondern auch den Wandel vom Handels- zum Unternehmensrecht bzw. vom Kaufmanns- zum Unternehmerrecht in die Wege geleitet hat. 382 Obwohl auch im österreichischen Vertragsrecht eines der Leitprinzipien die Privatautonomie ist und die Willensübereinkunft als zentrales Element für das Zustandekommen von Verträgen gilt383, war die Lehre vom Rechtsgeschäft mit ihren Voraussetzungen und Konsequenzen dem östABGB im Gegensatz zum deutschen BGB nicht in die Wiege gelegt. Vielmehr wurde die Rechtsgeschäftslehre in Österreich erst nachträglich rezipiert. So konservierte das östABGB in seiner ursprünglichen Fassung noch die gemeinrechtlichen Traditionen und das Naturrecht, wie sie zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung (1811) vorzufi nden waren. 384 Dies äußerte sich zum einen darin, dass nicht die 377

García-Cruces González, RDM 192 (1989), 327 (392 ff.). Bustos Pueche, La Ley 1990–3, 857 (857 ff.). 379 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 12 I. (S. 156). 380 Vierte Verordnung zur Einführung handelsrechtlicher Vorschriften im Lande Österreich – DRGBl. 1938 I, S. 1999; vgl. auch: Barth, Ergebnisse der Rechtsangleichungsbestrebungen, B. I. 3. (S. 55); Krejci, in: Krejci (Hrsg.): Reform-Komm. UGB/ABGB, Einführung Rn. 6 und 9; Siems, ICCLR 15 (2004), 273 (273). 381 Krejci, in: Krejci (Hrsg.): Reform-Komm. UGB/ABGB, Einführung Rn. 10. 382 Im Überblick: Fritz, GmbHR 97 (2007), 34 (34 ff.); Lurger, RIW 52 (2006), 408 (411, 412); Siems, ICCLR 15 (2004), 273 (273 ff.); Krejci, ZHR 170 (2006), 113 (113 ff.). 383 Posch, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Austria, Tz. 29. 384 Stagl, ZEuP 15 (2007), 37 (41). 378

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

fünf Teile der späteren deutschen Pandektensystematik, sondern die auf Gaius und Iustinian zurückgehende dreigliedrige Einteilung in personae, res und actiones für den Aufbau des ABGB bestimmend wurde. 385 Zum anderen nahm das ursprüngliche ABGB (noch) nicht die allgemeine Rechtsgeschäftslehre, sondern das Eigentum und den Vertrag zum Ausgangspunkt seiner Dogmatik. 386 Erst über die maßgeblich durch Unger 387 beeinflusste Rezeption der Lehre vom Rechtsgeschäft und die Gesetzesänderung von 1916 wurde die Lehre vom Rechtsgeschäft zusammen mit der Pandektistik und der historischen Rechtsschule tonangebend. 388 Eine weitere Besonderheit des österreichischen Systems bildet die laesio enor mis, die auf die Vertragsinhaltsfreiheit in spezifischer Weise einwirkt. 389 Ihre Grundsätze fi nden nach §§ 934, 935 ABGB Anwendung, wenn eine Partei eines synallagmatischen Vertrages weniger als fünfzig Prozent des Wertes ihrer selbst zu erbringenden Leistung zugute hat. Der wirtschaftlich Benachteiligte ist in diesem Fall berechtigt, die Aufhebung des Vertrages und die Herstellung in den vorigen Stand zu fordern. 390 Aber auch im Übrigen wird in der Literatur vielfach eine äquivalente ökonomische und intellektuelle Machtverteilung als Voraussetzung eines Vertragsschlusses gefordert, was die liberale Vertragskonzeption mittlerweile durch die Idee ersetzt, dass das Vertragsrecht auch die Aufgabe des Schwächerenschutzes hat. 391 Zur Verwirklichung dieses Schutzgedankens hat sich seit den 1970er Jahren ein spezielles Konsumentenvertragsrecht herausgebildet. 392 Mit Wirkung zum 1. Oktober 1979 mündete diese Entwicklung in ein Konsumentenschutzgesetz (östKonsG) 393, 385 Im ABGB: »Von dem Personenrechte/Von dem Sachenrechte/Von den Gemeinschaftlichen Bestimmungen der Personen- und Sachenrechte«; vgl. auch: Stagl, ZEuP 15 (2007), 37 (41). 386 Stagl, ZEuP 15 (2007), 37 (41 ff.). 387 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 1, S. 1 ff.; ders., System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 1 ff. 388 Stagl, ZEuP 15 (2007), 37 (46 ff.); Posch, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Austria, Tz. 30 ff. 389 Posch, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Austria, Tz. 186. 390 Seit der Änderung von § 935 ABGB (1979) ist § 934 östABGB vertraglich nicht mehr disponibel. Bis 01. 01. 2007 war es lediglich Kaufleuten nach § 351a östHGB a. F. verwehrt, ein Geschäft wegen mangelnder Äquivalenz der Leistungen unter Berufung auf § 934 ABGB anzufechten. Durch die Neuschaffung des östUGB zum 01. 01. 2007 wurde diese Besonderheit wegen des »größenunabhängigen Unternehmerbegriffes« des neuen Gesetzes jedoch beseitigt, sodass seitdem § 934 östABGB grds. auch für Unternehmer verpfl ichtend zur Anwendung gelangt, aber im Handelsverkehr nach § 351 östUGB vertraglich ausgeschlossen werden kann [vgl.: Reischauer, in: Rummel (Hrsg.): ABGB Kommentar, § 934 Rn. 1a; Schauer, in: Krejci (Hrsg.): Reform-Komm. UGB/ABGB, § 351 UGB Rn. 1 ff.]. 391 Posch, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Austria, Tz. 35; Rummel, in: Rummel (Hrsg.): ABGB Kommentar, § 859 Rn. 17. 392 Lurger, Vertragliche Solidarität, 3. Kap. (S. 65). 393 Konsumentenschutzgesetz – BGBl. 1979 Nr. 140, S. 775 (S. 775 ff.).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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mit dem sowohl die Willensbildung des Verbrauchers als auch die Inhaltskontrolle von Verbraucherverträgen einer stärkeren Überprüfung unterzogen werden sollten394 ; Vorschriften über Haustürgeschäfte, missbräuchliche Klauseln und Unterlassungsklagen waren in ihm enthalten395. Die EG-Verbraucherrichtlinien hat Österreich meist durch Änderung bzw. Ergänzung des östKonsG umgesetzt. Lediglich im Hinblick auf die Timesharing-, die Verbraucherkredit- und die Fernabsatzrichtlinie wurden eigene Rechtsakte verabschiedet. 396 Letztlich wird die vorstehend nur schemenhaft skizzierte Trennung zwischen Vertrags- und Verbrauchervertragsrecht formal allerdings nicht stringent durchgehalten. Während § 6 östKonsG einen Katalog von missbräuchlichen Klauseln enthält, die nur für den Verbraucher nicht verbindlich sind, erstreckt § 879 Abs. 3 östABGB die AGB-rechtliche Generalklausel auch auf den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern. 397 U. a. dadurch bedingt wird ein Großteil der Vorschriften zur AGB-Kontrolle und zum Verbrauchsgüterkauf im östABGB geregelt. Andererseits enthält auch das östKonsG (insbesondere in seinem Dritten Teil) Vorschriften, an denen nicht notwendigerweise ein Verbraucher beteiligt sein muss. Es geht über den »Verbrauchervertrag« der Richtlinien hinaus, da es alle Arten von gegenseitigen Verträgen und auch einseitige Rechtshandlungen wie Auslobungen und öffentliche Vertragsschlussangebote einbezieht; selbst juristische Personen können als Verbraucher Schutz erfahren. 398 III. Die kontinentalen Gesetzgebungen mit monistischem Privatrecht Jenseits der vorgenannt beispielhaft erörterten Rechtsordnungen (Frankreich, Belgien, Spanien) wird innerhalb der Staaten mit romanischer Tradition zunehmend der Übergang vom dualistischen System (Trennung von Handelsund Zivilrecht) zu einem monistischen Privatrechtssystem vollzogen. Im vorliegenden Zusammenhang sind diesbezüglich besonders die Kodifi kationen in Italien, Litauen und den Niederlanden von Interesse. 394

Krejci, in: Krejci (Hrsg.), Hdb. zum Konsumentenschutzgesetz, 3. Kap. I. (S. 86). Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. A. I. (S. 48); Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 2 Rn. 46 ff.; zum Schutz vor unbilligen Klauseln: Ulmer, in: Ulmer/Brandner/Hensen (Hrsg.): AGB-Recht, Einl. Rn. 134, 135. 396 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. A. II. (S. 48); zu Fernabsatzgeschäften: Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 3 Rn. 67 ff. 397 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 IV. (S. 330); Lemmer, Die EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 4. Kap. J. (S. 98, 99); Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 5 Vorbem. Rn. 70, 71; Engel, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 321 (S. 326 ff.). 398 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. A. V. (S. 49). 395

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

1. Das integrierte Zivil- und Handelsrecht in Italien So besitzt seit geraumer Zeit Italien ein einheitliches Gesetzbuch für das Zivilund Handelsrecht. 399 Als Kodifi kationsbeispiel eines integrierten Handelsrechts läuft es einer Aufspaltung des Vertragsbegriffs tendenziell zuwider. Weil der Codice civile bereits seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1942 Regelungen enthält, die sich speziell mit dem Problem der AGB beschäftigen (Art. 1341, 1342 und 1370 italCcivile), wird ihm zudem ein Modernitätsvorsprung bescheinigt.400 Im Grunde basiert aber auch das italienische Privatrecht auf römischen Rechtseinflüssen, die insbesondere auf die Rezeption des Corpus iuris civilis zurückzuführen sind. Nachdem der napoleonische Einfall in fast allen italienischen Staaten zur Einführung des französischen Code civil und des französischen Code commercial 401 und die große Einigungsbewegung des »Risorgimento« 1861 zur Ausrufung des Königreichs von Italien geführt hatte, wurden 1865 der Codice civile und der Codice di commercio als Rechtseinheit schaffende Gesetzbücher für ganz Italien verabschiedet.402 Bereits 1882 wurde ein neuer Codice di commercio erlassen, der als »modernste handelsrechtliche Kodifi kation im romanischen Rechtskreis« galt.403 Wenige Jahre danach übte der italienische Rechtswissenschaftler Vivante in seiner Habilitationsschrift »Per un Codice unico delle obbligazione« am Maßstab der einseitigen Handelsgeschäfte (Art. 54 italCcom) Kritik an dem Abgrenzungsprinzip zwischen Handelsrecht und bürgerlichen Recht und stellte die Forderung nach einem einheitlichen Privatrechtssystem auf. Auf diese Weise fand Endemanns Einheitsbetrachtung, die dieser für das deutsche Privatund Handelsrecht entwickelt hatte404, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Italien eine kraftvolle Fortsetzung und Erweiterung.405 Trotzdem hielt 399

Gesetzestext-Synopse »italienisch-deutsch«: Patti (Hrsg.): Codice Civile Italiano,

S. 2 ff. 400 Micklitz/Brunetta d’Usseaux, ZEuP 6 (1998), 104 (106); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 IV. (S. 332); Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 5 Vorbem. Rn. 64; Ulmer, in: Ulmer/Brandner/Hensen (Hrsg.): AGB-Recht, Einl. Rn. 126, 127. 401 Monetari/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 11; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 IV. (S. 102, 103). 402 Monetari/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 12; Rübesamen, Das italienische Zivilgesetzbuch, B. und C. IV. 1. (S. 15 ff. und 47 ff.); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 IV. (S. 103). 403 Rübesamen, Das italienische Zivilgesetzbuch, C. IV. 1. (S. 48); vgl. auch: Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 3. Teil 2. Abschnitt 2. Kap. I. 2. (S. 146 ff.). 404 Siehe: 1. Kap. E. I. 1. (S. 83 ff.). 405 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 3. Teil 2. Abschnitt 2. Kap. I. 1. (S. 146).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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die königliche Kommission in ihrem Entwurf für ein Handelsgesetzbuch aus dem Jahre 1925 an der Trennung zwischen Handelsrecht und allgemeinem Schuld- und Mobiliarsachenrecht fest.406 In eine andere Richtung zielten die Reformbemühungen einer 1923 eingesetzten Kommission, die in den Jahren 1930 bis 1936 Entwürfe der vier Bücher eines neuen Codice civile vorlegte.407 Nachdem man Ende 1939 den Entschluss gefasst hatte, das Zivilgesetzbuch wesentlich zu erweitern408 und auch das Handelsrecht in die Einheitskodifi kation mit einzubeziehen409, trat der neue – einem solchen Einheitsmodell folgende – Entwurf am 21. April 1942 in Kraft; er beansprucht noch heute (in seiner vom Faschismus bereinigten Form) Geltung.410 Seitdem ist das vormals selbstständige Handelsrecht unselbstständiger Bestandteil des Zivilgesetzbuchs411, sodass die Regeln über Verträge unterschiedslos allen Rechtssubjekten offenstehen und »nach den Bedürfnissen des Unternehmens und der kaufmännischen Welt gestaltet« sind412 . Die Parteien können den Vertragsinhalt frei bestimmen, und zwar »nei limiti imposti dalla legge . . . e dalle norme corporative« (Art. 1322 italCcivile). Dabei sind in napoleonischer Tradition für einen wirksamen Vertrag vier Voraussetzungen erforderlich: (1) »l’accordo delle parti« (Art. 1326 ff. italCcivile), (2) »la causa« (Art. 1343 ff., 1895 italCcivile), (3) »l’oggetto« (Art. 1346 ff. italCcivile) und (4) »la forma, quando risulta che è prescritta dalla legge sotto pena di nullità« (Art. 1350 ff. italCcivile). Seit 1942 kennt das italienische Zivilgesetzbuch fast nur noch Vertragstypen, die für alle Rechtsunterworfenen in gleicher Weise gelten. So sind im dritten Teil (»Die singoli contratti«) des vierten Buchs »Delle obbligazioni« (Art. 1470 ff. italCcivile) nicht nur die herkömmlichen Vertragstypen im Sinne der naturrechtlichen Doktrin und der bürgerlich-rechtlichen Kodifi kationen des 19. Jahrhunderts, sondern auch spezifisch handelsrechtliche Vertragsformen enthalten. Die Vorschriften über Beförderungsverträge (Art. 1678 ff. italCcivile) richten sich mit dem Schwerpunkt »Del trasporto di cose« (Art. 1683 bis 1702) nicht nur an gewerbsmäßige Beförderer, sondern an alle Rechtsgenossen, die eine Beförderung übernehmen.413 In ähnlicher Weise erstrecken sich auch die 406 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 3. Teil 2. Abschnitt 2. Kap. II. (S. 154 ff.). 407 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 IV. (S. 103). 408 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 IV. (S. 103, 104). 409 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 IV. (S. 104). 410 Rübesamen, Das italienische Zivilgesetzbuch, C. IV. und D. III. (S. 47 und S. 75 ff.); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 IV. (S. 104). 411 Monetari/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 25. 412 Rübesamen, Das italienische Zivilgesetzbuch, C. IV. 3. (S. 55). 413 Vgl. Art. 1678 italCcivile: »Col contratto di trasporto il vettore sie obbliga, verso corrispetivo . . ., a trasferire persone . . . o cose . . . da un luogo a un altro.«

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Regelungen zum Kommissionsvertrag (Art. 1731 ff. italCcivile), zum Speditionsvertrag (Art. 1737 ff. italCcivile) und zur Kontokorrentabrede (Art. 1823 ff. italCcivile) auf sämtliche Rechtssubjekte. Ebenfalls einheitlich sind im italienischen Recht Vertragstypen ausgestaltet, die im deutschen Recht teilweise im BGB und HGB geregelt sind: So sind die Vorschriften zum Maklervertrag (Art. 1754 ff. italCcivile) und Verwahrungsvertrag (Art. 1766 ff. italCcivile) erst einmal persönlich indifferent für alle Rechtsgenossen geregelt, wobei allerdings Sondervorschriften für Berufsmakler (Art. 1760 italCcivile) und öffentliche Lagerhäuser (Art. 1787 ff. italCcivile) existieren. Spezialrecht bilden die Vorschriften über Bankverträge (Art. 1834 ff. italCcivile). Reste besonderen Handelsrechts gelangen im fünften Buch zum Ausdruck (»Del lavoro«), indem unter anderem Sondervorschriften zur Arbeit im Unternehmen (Art. 2082 ff. italCcivile), zu dem Handelsregister (Art. 2188 ff. italCcivile) sowie den Kapital- und Handelsgesellschaften (Art. 2247 ff. italCcivile) zur Verfügung gestellt werden. Während nach der Grundideologie des 19. Jahrhunderts Verträge im wesentlichen noch als Frage der personalen Freiheit angesehen wurden, verlor diese Doktrin mit der Wende zum 20. Jahrhundert an Einfluss. Laissez faire wurde auch in Italien durch Wirtschaftstheorien ersetzt, die auf dem Verständnis eines Staates aufbauen, der in die Wirtschaftsabläufe eingreift, um schwache Marktteilnehmer zu schützen und die Ökonomie anzukurbeln.414 Die Idee der Vertragsfreiheit des 18. Jahrhunderts wurde in eine kontrollierte und eingeschränkte Vertragsfreiheit umgewandelt, die im Lichte des öffentlichen Interesses zu funktionieren hat.415 Obwohl Schwächerenschutz – ungeachtet der originär wettbewerbsorientierten Vertragsrechtskonzeption des italienischen Rechts416 – bereits vor der Umsetzung der EG-Verbraucherrichtlinien durch die allgemeinen Bestimmungen des Codice civile gewährleistet wurde417, hat sich der italienische Gesetzgeber bei der Richtlinienumsetzung im wesentlichen auf die copy-and-paste-Methode beschränkt.418 Von den

414 Monetari/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 46. 415 Monetari/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 47. 416 Monetari/Musy/Chiaves, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Italy, Tz. 47. 417 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. M. I. (S. 112). 418 Zu den Haustürgeschäften: Decreto legislativo Nr. 50 vom 15. Januar 1992 – GURI, Supplemento ordinario Nr. 27 vom 03. Februar 1992, S. 24; Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, Sekundärrecht Nach A 2 Rn. 37 ff.; zur AGB-Kontrolle: Micklitz/Brunetta d’Usseaux, ZEuP 6 (1998), 104 (107 ff.); Wurmnest, ZEuP 12 (2004), 971 (971 ff.); Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 5 Vorbem. Rn. 64 ff.; zu Fernabsatzgeschäften: Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 3 Rn. 51 ff.; im

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Öffnungsklauseln wurde nur singulär Gebrauch gemacht419, woran sich auch durch das am 23. Oktober 2005 neu in Kraft getretene Verbrauchergesetzbuch, dessen Hauptziel in der systematischen Neuordnung der zahlreichen und bruchstückhaften Verbraucherschutzgesetze durch ein einheitliches Gesetzbuch bestand, nichts wesentliches geändert hat.420 2. Niederlande – Burgerlijk Wetboek und Verbraucherrichtlinien Prägend ist ein einheitliches Zivilgesetzbuch auch für die Niederlande geworden, auch wenn dies historisch betrachtet nicht zwingend war. Nachdem Napoleon 1810 die Niederlande seinem Kaiserreich einverleibt hatte, setzte er in dem neu erworbenen Gebiet die Originalfassung des Code civil in Kraft.421 Nach der Befreiung des Landes und der Errichtung eines – Belgien einschließenden – Königreichs der Niederlande wurde der Code civil zunächst aufrechterhalten.422 Erst 1838 verabschiedete der niederländische Gesetzgeber das »Burgerlijk Wetboek«, das zwar in seinem System vom Code civil abwich, aber im großen und ganzen eine Übersetzung des französischen Gesetzbuchs darstellte.423 Zeitgleich mit diesem bürgerlichen Gesetzbuch wurde 1838 nach dem französischen Vorbild auch ein niederländisches Handelsgesetzbuch erlassen.424 Die Erkenntnis, dass die Gesetzbücher von 1838 Lücken und Defi zite aufwiesen, führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Entwurf für ein einheitliches niederländisches Zivilgesetzbuch, dessen einzelne Bücher seit 1959 bis heute nach und nach kodifi ziert worden sind.425 Bücher sechs und sieben über Obligationen im allgemeinen und spezifische Vertragstypen sind zum 1. Januar 1992 in Kraft getreten.426 Das neue Gesetzbuch regelt im zweiten Buch u. a. das Gesellschaftsrecht (»Rechtspersonen«), im siebenten Buch u. a. handelsrechtliche Verträge wie Versicherung und Wertpapiere (»Bijzondere overeenkomsten«) und im achten Buch das gesamte Transportrecht (Verkeer en vervoer). Damit ist die AufspalÜberblick: Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskom-pendium, Teil II. M. (S. 110 ff.). 419 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. M. IV. (S. 113). 420 Verabschiedet durch Gesetzesverordnung Nr. 206 vom 06. 09. 2005 – veröffentlicht in der Gazzetta Ufficiale Nr. 235 vom 08. 10. 2005, Serie ordinaria Nr. 162; im Überblick hierzu: Omodei-Salè, ZEuP 15 (2007), 785 (785 ff.). 421 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 II. (S. 100). 422 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 II. (S. 100). 423 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 8 II. (S. 100). 424 Hartkamp/Tillema/ter Heide, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Argentina, Tz. 11. 425 Hartkamp/Tillema/ter Heide, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Argentina, Tz. 22; Hartkamp/Tillema, Contract Law in the Netherlands, Tz. 22 (S. 39, 40). 426 Hondius, in: Weyers (Hrsg.): Europäisches Vertragsrecht, S. 45 (S. 63).

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tung des Privatrechts in ein zivilrechtliches und ein handelsrechtliches Gesetzbuch, wie sie in den Niederlanden aus der französischen Zeit herrührte, nunmehr aufgehoben.427 Korrespondierend dazu spielt das Vertrauensprinzip im Vertragsrecht insgesamt eine wesentlich größere Rolle als im übrigen Zivilrecht. So ist bei einem Rechtsgeschäft, bei dem Wille und Erklärung auseinanderfallen, die Bindung im Gegensatz zum deutschen Recht endgültig, sodass der Erklärungsempfänger nicht nur in seinem Erfüllungsinteresse, sondern auch in seinem Vertrauen auf das Zustandekommen des Rechtsgeschäfts geschützt wird (Art. 3: 35 BW). Nicht zuletzt der Umstand, dass auch durch das Gebot von Treu und Glauben unter Umständen eine Berufung auf die Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit bzw. auf die Rechtsfolgen derselben eingeschränkt sein kann, macht deutlich, dass die Rechtsfolgen der Unwirksamkeit im neuen Gesetzbuch weitgehend zurückgedrängt sind; zumindest kann die Nichtigkeit von Gerichten auf die Fälle beschränkt werden, in denen eine Unwirksamkeit unausweichlich ist.428 Die relativ junge Erscheinung des Verbraucherschutzrechts, deren Aufkommen mit der Ausarbeitung des BW zusammenfiel, konnte in die Entwürfe bereits organisch eingegliedert werden, wenn auch hauptsächlich erst in der Phase der Einführungsgesetzgebung (ab 1980).429 So sind im ersten Titel des siebenten Buchs spezielle Vorschriften für Verbraucherverträge enthalten, z. B. das Prinzip der Konformität, wonach alle gelieferten Waren, um vertragsgemäß zu sein, die Qualitätsmerkmale aufweisen, die ein Verbraucher berechtigterweise erwarten kann (Art. 7: 17 BW). Im Burgerlijk Wetboek inbegriffen sind im fünften Teil des sechsten Buches sowie im siebenten Buch aber auch Vorschriften über allgemeine Geschäftsbedingungen und verbraucherrechtliche Sonderbestimmungen, die zu derselben Zeit mit den Büchern drei, fünf und sechs in Kraft getreten sind (Konsumentenkauf, Konsumentenbürgschaft).430 Angesichts der formalen Integration des Verbraucherrechts geht Hondius sogar davon aus, dass das niederländische Verbraucherrecht nunmehr »nicht mehr als Sonderrecht, sondern als allgemeines Zivilrecht betrachtet werden muss«.431 Von den allgemeinen Geschäftsbedingungen zu unterscheiden ist die neue Rechtsfigur der Standardregelung (»standaardregeling«). Hierbei handelt es sich um eine Art von gesetzlichen Regelungen eines speziellen Vertragstyps, den ein vom Justizminister eingesetzter Ausschuss aufgestellt hat und der von 427

Hartkamp/Tillema, Contract Law in the Netherlands, Tz. 11 (S. 32). Hartkamp, AcP 191 (1991), 396 (402). 429 Hartkamp, AcP 191 (1991), 396 (399); Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. R. (S. 135). 430 Im Überblick: Hondius, VuR 11 (1996), 295 (296 ff.); zum AGB-Schutz: Ulmer, in: Ulmer/ Brandner/Hensen (Hrsg.): AGB-Recht, Einl. Rn. 132, 133. 431 Hondius, VuR 11 (1996), 295 (295). 428

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der Regierung verkündet worden ist (Art. 6: 214 BW). Ein unter den Anwendungsbereich der Regelungen fallender Vertrag ist ipso iure einem Gesetz unterworfen. Es steht den Parteien zwar frei, von den Regelungen abzuweichen, dies aber nur unter Einhaltung einer bestimmten Form, falls die Regelungen eine solche vorschreiben.432 Einen bemerkenswerten Schutz des Einzelhändlers sieht Art. 6: 244 BW vor. Werden seine AGB, die er gegenüber seinem Käufer stellt, angefochten oder sind sie durch ein Unterlassungsurteil betroffen, so kann es passieren, dass es einem Vormann in der Vertriebskette, zu dessen Bedingungen die angefochtenen Bedingungen in engem Zusammenhang stehen, seinerseits wegen Treu und Glauben verwehrt ist, sich auf die von ihm bedungenen Vertragsklauseln (AGB oder Individualvereinbarungen) zu berufen (vgl. auch Art. 6: 247 BW). Außerhalb des Umsetzungsbereichs der EG-Verbraucherrichtlinien werden die Rechtsfolgen eines jeden Vertrages (neben der Parteivereinbarung) weniger von typisierten Gruppeninteressen als vielmehr durch das personenindifferente Prinzip von Treu und Glauben bestimmt (Art. 6: 2 und 248 BW); dabei nehmen Treu und Glauben nicht nur eine Lücken füllende, sondern auch eine korrektorische Funktion ein.433 3. Litauen – Marktwirtschaft und monistisches Vertragsrechtssystem Maßgeblichen Einfluss haben die Zivilgesetzbücher Italiens und der Niederlande auf die Struktur des litauischen Civilinio kodekso patvirtinimo (litCkod) ausgeübt, der sich seit 1. Juli 2001 in Kraft befi ndet.434 Die Hauptziele bei der Erstellung dieses neuen litauischen Zivilgesetzbuchs, mit dem das vormals kommunistisch beeinflusste Zivilgesetzbuch (1964) ersetzt worden ist435, bestanden darin, das Zivilrecht an die im Lande wesentlich geänderten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen anzupassen; günstigere Voraussetzungen sollten zur Entwicklung von Unternehmen geschaffen werden, die Personenrechte und -freiheiten gestärkt und ein effektives Rechtsschutzsystem eingeführt werden.436 Vor dem Hintergrund, dass Litauens Privatrechtssystem historisch betrachtet als Mischsystem zwischen der napoleonisch-lateinischen und germanischen Rechtsfamilie in Erscheinung tritt, kann man sagen, dass sich der litauische Gesetzgeber nach der Unabhängigkeit im Jahre 1990 nach eingehender Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachtei-

432

Hartkamp, AcP 191 (1991), 396 (404, 405). Hartkamp, AcP 191 (1991), 396 (405). 434 Mikelënienë/Mikelënas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Lithuania, Tz. 36. 435 Mikelënienë/Mikelënas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Lithuania, Tz. 61 ff. 436 Mizaras/Nekrosius, ZEuP 10 (2002), 466 (466, 467). 433

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len des dualistischen und monistischen Systems bewusst für die Einheitskodifi kation entschieden hat.437 Für das Vorliegen eines Vertrages sind mehrere, für kontinentale Privatrechtssysteme typische Voraussetzungen erforderlich (vgl. Art. 6.154 und 6.159 litCkod). So können nur aktiv zivilrechtsfähige Personen438 über eine Willensübereinstimmung eine vertragsrechtliche Beziehung zueinander begründen und Erklärungen abgeben, die Rechtswirkungen hervorrufen. Eine doctrine of consideration, wie sie dem common law eigen ist, kennt das litauische Recht nicht.439 Dafür ist in allen Stadien des Vertrages das Prinzip von Treu und Glauben präsent.440 Jede Vertragspartei ist verpfl ichtet, in ihren vertraglichen und vorvertraglichen Beziehungen in Übereinstimmung mit Treu und Glauben zu agieren (Art. 6.158 und Art. 1.163 litCkod); auch die Auslegung von Verträgen hat sich an Treu und Glauben zu orientieren.441 Neben den allgemeinen Vertragsvorschriften enthält das Zivilgesetzbuch auch spezifische Vorschriften zu Verbraucherverträgen (vgl. Art. 1.39 litCkod) und b2b-Vorschriften zum Finanzierungsleasing (vgl. Art. 6.567 litCkod), sodass dem litauischen Privatrecht die Unterscheidung zwischen b2c, b2b und c2c trotz seiner monistischen Verfassung nicht völlig fremd ist. Während im vormaligen sowjetischen Zivilgesetzbuch vom 7. Juli 1964 noch keine Verbraucherschutzbestimmungen existierten, die denen der Verbraucherrichtlinien vergleichbar wären442 , wurden mit der Annahme des Gesetzes vom 10. November 1994 Nr. I-657 zum Verbraucherschutz (eine Folge des am 1. Februar 1998 in Kraft getretenen Europäischen Abkommens zur Schaffung einer Gemeinschaft zwischen der Europäischen Kommission, den EG-Mitgliedstaaten und der Republik Litauen) auch die EG-Verbraucherrichtlinien mit dem acquis communautaire in litauisches Recht transformiert. Seit dem Beitritt Litauens sind die Bestimmungen zu allen Verbraucherrichtlinien in einem spezifischen Verbraucherschutzgesetz enthalten, welches zum 30. April 2004 in

437 Mikelënienë/Mikelënas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Lithuania, Tz. 14, 36 und 63 ff. 438 Hierzu näher: Mikelënienë/Mikelënas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Lithuania, Tz. 285 ff. 439 Mikelënienë/Mikelënas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Lithuania, Tz. 52 und 201 ff. 440 Mikelënienë/Mikelënas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Lithuania, Tz. 150 ff. 441 Mikelënienë/Mikelënas, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Lithuania, Tz. 152. 442 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. O. I. (S. 121).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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Kraft getreten ist.443 Von der Möglichkeit der Mindestharmonisierung wurde dabei kein Gebrauch gemacht.444 IV. Die Kooperationsgesetzgebung der nordischen Staaten Besondere Aufmerksamkeit verdient aus dem Blickwinkel der Sonderprivatrechte die Vertragsrechtssystematik in den nordischen Ländern, die einen »Mittelweg zwischen dem deutschen abstrakt-theoretischen System und dem englischen konkret-pragmatischen System« beschreiten445 und somit als Untergruppe des civil law system verstanden werden können.446 Auf Grund ihrer geografischen, historischen, kulturellen und sprachlichen Verbindungselemente weisen die Vertragsrechtssysteme in Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden tiefverwurzelte konzeptionelle Ähnlichkeiten auf, auch wenn sie sich bedingt durch den unterschiedlichen EU-Mitgliedschaftsstatus bzw. den divergierenden E(W)G-Beitrittszeitpunkt marginal voneinander entfernt haben.447 1. Vertragsgesetz und traditioneller Verbraucherschutz in Dänemark Im Gegensatz zum deutschen weist das dänische Privatrecht weder eine Einteilung in einen »Allgemeinen Teil« des kodifi zierten Privatrechts noch eine kodifi katorische Aufteilung in Handels- und bürgerliches Recht auf.448 In Dänemark gibt es kein das gesamte Privatrecht umfassendes Bürgerliches Gesetzbuch, sondern lediglich bereichsspezifische Einzelgesetze. So ist das Vertragsrecht unter anderem im Kaufgesetz von 1906 (købeloven) und im Vertragsgesetz von 1917 (aftaleloven) geregelt.449 Eine grundsätzliche Trennung zwischen bürgerlichem Recht und Handelsrecht existiert nicht, auch wenn einige Bestimmungen der einzelnen Gesetze nur für Handelsverhältnisse Geltung beanspruchen (z. B. § 21 Abs. 3 dänKaufG).450 Lediglich die richterliche 443 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. O. II. (S. 122). 444 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. O. IV. (S. 122). 445 Iversen, ZEuP 10 (2002), 403 (410); vgl. auch: Nielsen, Contract Law in Denmark, Tz. 25 ff. (S. 23, 24); dies., in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 31. 446 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 9. 447 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 1, 12; dies., Contract Law in Denmark, Tz. 16 (S. 22); Korkisch, Einführung in das Privatrecht der nordischen Länder, Einleitung I. (S. 3 ff.); Wilhelmsson, Critical Studies in Private Law, Chapt. I 4. (S. 17, 18). 448 Nielsen, Contract Law in Denmark, Tz. 59 (S. 32). 449 Iversen, ZEuP 10 (2002), 403 (406); Nielsen, Contract Law in Denmark, Tz. 34 (S. 27). 450 Iversen, ZEuP 10 (2002), 403 (407).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Auslegung weist in originär handelsrechtlichen Streitigkeiten einige Besonderheiten auf.451 Insgesamt erscheinen Verträge durch die Zwischenschaltung der Voraussetzungen von »good faith« und »fair dealing« leichter revidierbar als etwa in den Ländern des common law.452 Als ein Vorreiter kann Dänemark in der Entwicklung des Verbraucherrechts angesehen werden. Bereits in den 1970er Jahren entstand das Verbraucherrecht als ein eigenständiger Teil des Rechts neben dem allgemeinen Recht – teils durch Sondergesetze für Verbraucher, teils durch Sonderbestimmungen für Verbraucher in den allgemeinen Privatrechtsgesetzen.453 Eine wichtige Neuerung brachte in diesem Zusammenhang der 1975 in das Vertragsgesetz eingefügte Art. 36, der heute als »most important provision in nordic contract law« bezeichnet wird.454 Danach kann ein Vertrag durch einen Richter ganz oder in Teilen abgeändert oder aufgehoben werden, wenn es unangemessen wäre oder im Widerspruch zu Treu und Glauben stünde, ihn zu vollziehen. Aus Anlass der Umsetzung der Klauselrichtlinie wurde Art. 36 dänVertrG schließlich durch ein Kapitel 4 ergänzt (Art. 38a bis 38d dänVertrG), dessen Bestimmungen bezogen auf Verbraucherverträge Art. 36 dänVertrG modifizieren und auf ihn verweisen.455 Was den Vollzug von Verbraucherrecht anbelangt, gelangen in skandinavischen Ländern vorherrschend staatlich-zentrale Agenturen zum Einsatz, die Konfl iktfelder überwiegend durch Kooperation auflösen.456 So gründete man in Dänemark etwa zeitgleich mit den Vorbereitungen des EWG-Beitritts (1969) eine Verbraucherschutzkommission, die durch vier Berichte zum Verbraucherschutz erste Maßnahmen einer nationalen Verbraucherschutzpolitik anstieß. 1974 wurde im Zuge dessen ein Gesetz über Handelspraktiken erlassen, das mittlerweile – u. a. zwecks Umsetzung der Klausel-, Fernabsatz- und Verbrauchsgüterkaufrichtlinie – mehrmals geändert worden ist. Institutionell wurde die Position eines Verbraucher-Ombudsmann geschaffen, dem ein marktgerichtliches Verfahren nachgeschaltet ist. Ebenfalls große Bedeutung hat das 1987 erlassene und 2000 revidierte Gesetz zu bestimmten Verbrau451 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 30. 452 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 31. 453 Iversen, ZEuP 10 (2002), 403 (407); Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 2 Rn. 16 ff.; ders., in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 3 Rn. 17 ff.; Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht A 5 Vorbem. Rn. 48; Micklitz, VuR 18 (2003), 2 (4). 454 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 45 und 48 ff. 455 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 242 ff.; dies., Contract Law in Denmark, Tz. 391 ff. (S. 105); Lemmer, Die EGRichtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 4. Kap. B. (S. 80, 81). 456 Micklitz, VuR 18 (2003), 2 (4).

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cherverträgen, über das heute die Haustürgeschäfterichtlinie sowie Teile der Klausel- und der Fernabsatzrichtlinie umgesetzt sind.457 Die Verbraucherkreditrichtlinie wurde wiederum durch ein Gesetz transformiert, das in seiner dänischen Ursprungsfassung bereits auf das Jahr 1954 zurückreicht.458 Die vertragsrechtlichen Modifi kationen durch die EG-Verbraucherrichtlinien hat die skandinavische Literatur gleichwohl nicht reaktionslos hingenommen.459 So kritisiert Wihelmsson etwa die Klauselrichtlinie mit dem Argument, dass sie den sozial-vertragsrechtlichen Pragmatismus des dänischen Rechts einschränke.460 In ähnlicher Weise stellt Madsen das skandinavische Modell des sozialen Vertragsrechts den europäischen Einflüssen gegenüber, wobei er die Europäische Union dafür verantwortlich macht, dass die flexiblen Rechtstraditionen Skandinaviens durch ein statisches Modell unter formaler Festsetzung von Rechtspositionen zunichte gemacht würden.461 Laut Nielsen resultiert in Dänemark aus den EG-Verbraucherrichtlinien sogar »a shift from a formal or content-neutral contract model, within which the events at the time of the conclusion of the contract are decisive for the content to the contractual obligation, towards a more material or content-oriented model where the substantive fairness of the outcome of a contract is of primary relevance when deciding whether a contractual obligation is binding«.462 2. Schweden – ein weiteres Beispiel nordischer Rechtskultur Auch das schwedische Recht trägt als Rechtssystem der nordischen Rechtsfamilie Züge des kontinentalen wie auch des englischen Rechtssystems.463 Obwohl in dem schwedischen Gesetzbuch von 1734 erste Regeln zum Warenkauf in dem als »Handels Balk« genannten Teil enthalten waren, kennt das schwedische Recht heute weder ein spezielles Handelsgesetzbuch noch spezifische Handelsgerichte. Seit der Aufhebung und Neukodifi zierung des Kaufgesetzes im Jahre 1905 hat sich die Zahl der Sonderregelungen für Kaufleute nochmals verringert, z. B. was strengere Regelungen hinsichtlich Verzug, Anzeige457 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 47. 458 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 52. 459 Im Überblick: Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. X. (S. 67 ff.). 460 Wilhelmsson, REDC 1992, 59 (59 ff.); vgl. auch: Wilhelmsson, TulJIntCompL 1 (1993), 23 (26 ff.). 461 Madsen, in: Wilhelmsson (Hrsg.): Perspectives of Critical Contract Law, S. 107 (S. 110 ff.). 462 Nielsen, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Denmark, Tz. 33. 463 Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 10 ff.

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

pfl ichten etc. anbelangt.464 Marginale Unterschiede sind jedoch geblieben; so erfolgt die Anwendung von Verzugs- und Anzeigeregelungen mit einer sehr viel größeren Nachsicht als in »non-commercial relations«. Gesetzliche Grundlage des allgemeinen Vertragsrechts ist das Vertragsgesetz aus dem Jahre 1915 (»The Act on Contracts and other acts in the law within the field of the law of contracts and property«). Sein Titel zeigt bereits, dass das Gesetz nicht auf andere als vermögensrechtliche Rechtsgeschäfte anzuwenden ist. Davon abgesehen will es keine erschöpfende Regelung zur Verfügung stellen; generelle Defi nitionen werden in nordischer Tradition gemieden.465 Es ist wesentlich von dem Grundgedanken der Vertragsfreiheit geprägt, wie sie bereits in der königlichen Verordnung über die Wirtschaftsfreiheit aus dem Jahre 1864 schriftlich verankert worden war.466 Unter Einbeziehung des kaufmännischen Geschäftsverkehrs will das Vertragsgesetz, ähnlich wie das vormalige Kaufgesetz aus dem Jahre 1905, gerade auch den Interessen des Wirtschaftsverkehrs dienen, wobei es vielleicht noch stärker als das deutsche BGB die marktliberale Grundhaltung des frühen 20. Jahrhunderts widerspiegelt.467 Der Grundsatz von Treu und Glauben spielt auch im schwedischen Recht eine große Rolle. So gewährt Art. 33 schwVertrG den Gerichten einen weiten Spielraum, Verträge wegen Unvereinbarkeit mit Treu und Glauben für nichtig zu erachten468 – etwa in Konstellationen, in denen eine Vertragspartei die Bedeutung ihrer Erklärung aus verschiedenen Gründen nicht erkennen konnte oder hinsichtlich des Rechtsgeschäftes eines qualifi zierten Motivirrtums erlegen ist.469 Darüber hinaus enthält, bedingt durch die Verbraucherschutzreform von 1970 bis 1976, auch das schwedische Vertragsgesetz in Art. 36 eine Generalklausel, wonach ein Vertrag ganz oder teilweise angepasst oder unbeachtet bleiben kann, wenn eine Vertragsbestimmung etwa im Hinblick auf den Vertragsinhalt, die Vertragsumstände, das Zustandekommen des Vertrages oder nachfolgende Ereignisse unangemessen ist.470 Ähnlich wie in

464 Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 21. 465 Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 26. 466 Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil 1. Kap. A. V. (S. 71, 72). 467 Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil 1. Kap. A. V. (S. 72, 73). 468 Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 177 ff., 198 ff. und 216 ff. 469 Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 202, 203. 470 Vgl. Ranieri, in: Riesenhuber (Hrsg.): Privatrechtsgesellschaft, S. 355 (S. 364 ff.).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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Dänemark ist die Angemessenheit einer speziellen Bestimmung unter Einbeziehung einer Gesamtbetrachtung zu prüfen.471 Verbraucherrecht wird in skandinavischen Ländern als eigenes Marktverhaltensrecht verstanden, wobei regulatorische Eingriffe zwischen Privatisierung und Etatisierung wechseln.472 So entstand auch in Schweden das Verbraucherrecht als eigenständiger Teil des allgemeinen Rechts bereits lange bevor die EG-Verbraucherrichtlinien in Kraft getreten sind.473 Neben Art. 36 schwVertrG wurde 1994 zur Umsetzung der EG-Klauselrichtlinie ein Gesetz zu Vertragsklauseln in Verbraucherverträgen (schwGVV) erlassen, dessen Art. 11 teilweise auf Art. 36 schwVertrG verweist.474 Bereits in den 1970er Jahren waren Maßnahmen ergriffen worden, um den Gebrauch von missbräuchlichen Werbepraktiken abzuwehren.475 In diesem Zusammenhang wurde als Kontrollinstanz auch in Schweden ein Verbraucher-Ombudsmann geschaffen, der Fälle mit unangemessenen Klauseln vor das ein- und letztinstanzliche Marktgericht bringen kann.476 Neben einem Verbraucherkreditgesetz (1977) 477 hat der schwedische Gesetzgeber ein Gesetz zum Verbrauchsgüterkauf (1973) 478, ein Schutzgesetz zu den Haustürgeschäften (1981) 479 und ein 471 Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 236. 472 Dahl, in: Dahl/Melchior/Tamm (Hrsg.): Danish law in a European Perspective, S. 413 (413 ff.); Micklitz, VuR 18 (2003), 2 (4). 473 Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil (S. 81 ff.); Micklitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Sekundärrecht Nach A 2 Rn. 53 ff.; Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 2. Teil A. III. (S. 156 ff.); Bernitz, RabelsZ 40 (1976), 593 (593 ff.); Korkisch, RabelsZ 37 (1973), 755 (755 ff.). 474 Lag (SFS 1994:1512); Lemmer, Die EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 4. Kap. L. (S. 102, 103); Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil 3. Kap. B. I. (S. 208 ff.); Ulmer, in: Ulmer/Brandner/Hensen (Hrsg.): AGB-Recht, Einl. Rn. 140. 475 Vgl. im Überblick: Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechts-kompendium, Teil II. X. I. (S. 169); Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 22 und 244 ff.; Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 2. Teil A. III. 2. (S. 162 ff.). 476 Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil 2. Kap. B. I. 2. a) (S. 98, 99); Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 245 ff.; K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, XI. Kap. V. (S. 294 ff.). 477 Lag (SFS 1977:981); Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil 3. Kap. B. II. (S. 214 ff.). 478 Lag (SFS 1973:877); zur Reform des Verbraucherkaufgesetzes im Jahr 1991: Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil 3. Kap. A. II. (S. 188 ff.). 479 Lag (SFS 1981:1361); vgl. auch: Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil 2. Kap. B. III. (S. 144 ff.); Adlercreutz, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Sweden, Tz. 101 ff.; Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompen-dium, Teil II. X. I. (S. 170).

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Verbraucherdienstleistungsgesetz (1985) erlassen480, die teilweise aus Anlass der Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie geändert werden mussten481. V. Vertragsrecht und common law – schwache Ansätze einer Systemdivergenz Mit den nordischen Ländern hat das common law gemeinsam, dass auch ihm ein besonderes Handelsrecht wesensfremd ist; eigene Handelsgerichte oder ein eigenes Handelsgesetzbuch kennt es nicht.482 Im Gegensatz zu dem kontinentalen Recht ist es primär weder an Gesetzestexten und ihrer Interpretation noch an der begriffl ichen Zergliederung eines Lebenssachverhalts und an seiner Einordnung in das System interessiert.483 Vorrangig baut es vielmehr an Präjudizien und Fallgruppen auf und wendet sich dabei in erster Linie einer Problemdiskussion zu, die vorzugsweise konkret und historisch als abstrakt und systematisch abläuft.484 Dabei ist die Rechtsfigur des »contract« maßgeblich dadurch geprägt, dass in England weder im Mittelalter noch in der Neuzeit eine Rezeption des römischen Gemeinen Rechts stattgefunden hat. Den Ausgangspunkt der Entwicklung bestimmte nicht das materielle Recht, sondern die Rechtspraxis der Königlichen Gerichte in Westminster durch unterschiedliche prozessuale forms of action, deren Verfahren jeweils durch die Gewährung eines writ einzuleiten waren.485 1. Das Vertragsrecht nach common law historisch betrachtet Wurde in England anfangs nur eine deliktische Klage aus trespass, das heißt der rechtswidrigen Schädigung von Körper und Eigentum anerkannt, sprachen die Gerichte ab dem 12. Jahrhundert auch den Ersatz von Schäden zu, die jemand dem Eigentum eines anderen, welches er in irgendeiner Weise zu

480 Lag (SFS 1985:716); vgl. auch: Ebersohl, Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz in der schwedischen Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, 2. Teil 3. Kap. A. I. (S. 176 ff.); Bernitz, EuZVR 3 (1988), 179 (179 ff.). 481 SFS 2002:587; SFS 2002:588; SFS 2002, 565; avgl. auch: Sandstedt, IHR 7 (2007), 90 (90 ff. und 150 ff.). 482 O’Connor/Friel, in: Herbots (Hrsg.): International Encyclopaedia of Laws – Contracts, Ireland, Tz. 25. 483 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 14 I. (S. 177); Samuel/ Rinkes, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 163 (S. 166). 484 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 14 I. (S. 177). 485 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Kap. 1. Ziff. 3. (S. 19); Samuel/Rinkes, in: Mül-ler-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 163 (S. 166, 167).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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behandeln versprochen hatte, zufügte.486 Über die action of assumpsit 487 und die action of debt 488 sowie andere prozessuale Figuren entwickelten die englischen Gerichte im 16. Jahrhundert die Vorstellung einer vertraglichen, prozessual durchsetzbaren Verpfl ichtung.489 Eingeführt wurde das Institut der consideration, das seitdem in der Form eines Gegenversprechens vertragliche Wirksamkeitsvoraussetzung ist.490 Vor allem in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts bewegten sich englische Richter allerdings weg von dem rein »procedural mechanism approach« und wandten sich einem mehr substantiven »law of contract«-Gedanken zu.491 Ende des 18. Jahrhunderts war schließlich der Weg von den einzelnen, aktionsrechtlich verstandenen Tatbeständen zu dem materiellrechtlich gefassten Vertragsbegriff vollendet.492 Gefördert und unterstützt wurde diese Entwicklung durch die im 19. Jahrhundert in England neu entstandene theoretische Rechtswissenschaft, deren Vertreter auch von dem kontinentalen Recht, vor allem von der deutschen Pandektenwissenschaft und der Naturrechtslehre, beeinflusst wurden.493 Heute wird das Vertragsrecht maßgeblich durch das »concept of bargain, including in particular the doctrine of consideration« beeinflusst.494 Ein Vertrag nach englischem Recht kommt wie im deutschen Recht zunächst nur aufgrund von inhaltlich korrespondierenden Erklärungen geschäftsfähiger Vertragspartner zustande. Einem Angebot (offer) hat eine Annahme (acceptance) zu entsprechen.495 Erforderlich ist des Weiteren ein rechtlicher Bindungswille (intention to create legal relations).496 Verträge sind nach englischem Rechtsverständnis regelmäßig entgeltlich, der Leistung muss also grds. eine Gegenleistung entsprechen (consideration). Verlangt wird die Verschaffung von »some right, interest, profit or benefit« von dem Versprechenden und im Aus486

Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Kap. 1. Ziff. 3. (S. 19, 20). Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Kap. 1. Ziff. 3. (S. 21); Simpson, in: Furmston (Hrsg.): Cheshire/Fifoot/Furmston’s Law of Contract, 1. B. (S. 4 ff.). 488 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Kap. 1. Ziff. 3. (S. 22, 23); Simpson, in: Furmston (Hrsg.): Cheshire/Fifoot/Furmston’s Law of Contract, 1. C. (S. 6, 7). 489 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Kap. 1. Ziff. 3. (S. 23). 490 Ein Verhalten, das auf Seiten des Adressaten bereits abgeschlossen ist, wenn diesem eine Zusage gemacht wird, kann allerdings nicht als consideration für dieses Versprechen gelten. Eine past consideration reicht nicht aus, um bei Verletzung eines Versprechens Schadensersatz zu erlangen [Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Kap. 1. Ziff. 3. (S. 25)]; vgl. auch: Simpson, in: Furmston (Hrsg.): Cheshire/Fifoot/Furmston’s Law of Contract, 1. D. (S. 7 ff.). 491 Samuel/Rinkes, in: Müller-Graff (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 163 (S. 172, 173). 492 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Kap. 1. Ziff. 3. (S. 28). 493 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Kap. 1. Ziff. 3. (S. 28, 29); Zimmermann, ZEuP 1 (1993), 4 (46). 494 Wheeler/Shaw, Contract Law, I. 2. III. A. (S. 52). 495 Treitel, The Law of Contract, Chapter 2 (S. 8 ff.). 496 Treitel, The Law of Contract, Chapter 4 (S. 162 ff.). 487

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tausch das Aufsichnehmen von »some detriment, forbearance, loss or responsibility« durch den Versprechensempfänger.497 Die consideration muss letztlich nur einen gewissen Wert besitzen – »something of value in the eyes of the law«; sie kann in einem Versprechen, aber auch in einer tatsächlichen Leistung bestehen.498 Das moderne Modell des Vertragsrechts legt damit den Fokus auf die vertragliche Vereinbarung, das Vertragsverhältnis erwächst aus dem freiwilligen Verhandeln (bargain), das seinerseits für die zentralen Vertragselemente bestimmend ist.499 Ausgehend von diesem Leitbild sucht das neoklassische Vertragsrecht den Ausgleich zwischen den individualistischen Idealen des klassischen Vertragsrechts und der Verantwortung gegenüber anderen: »In deciding the scope of contractual liability, courts weigh the classical values of liberty, privacy, and efficiency against the values of trust, fairness, and cooperation, which have been identified as important by post-classical scholars.«500 Eine Lehre von den Willenserklärungen und zu den Rechtsgeschäften kennt das common law dagegen nicht. 501 An abstrakten Begriffen gibt es grds. nur den Vertrag (contract) und seltener den des Leistungsversprechens (promise), wobei unter einem Vertrag nach der Standarddefi nition des common law »a promise or set of promises which the law will enforce« zu verstehen ist. 502 Weil das englische Recht – von Ausnahmen abgesehen – keine Vertragstypen aufweist, bei denen die Parteien nur einzelne Punkte zu regeln brauchen und die restlichen Bedingungen von der Rechtsordnung bereitgestellt werden, können Regelungslücken entstehen, welche die Gerichte mit Hilfe der »doctrine of implied terms« beheben. 503 2. Materialisierungstendenzen und Instrumentalisierung des Vertragsrechts Nach der klassischen contract theory gewährt das Vertragsrecht einen Freiraum, damit Individuen unbeeinflusst von staatlichem Zwang Vereinbarungen schließen können. 504 Wegen des hohen Abstraktionsgrades und der Generali497 Hierzu: Dunlop v. Selfridge [1915] AC 847 (855); Furmston, in: Furmston (Hrsg.): Cheshire/Fifoot/Furmston’s Law of Contract, 4. 1. (S. 70). 498 Thomas v. Thomas (1842) 2 QB 851 (851 ff.); vgl. auch: Chappel & Co. Ltd. v. Nestlé Co. Ltd. [1959] 2 All ER 701 (709 ff.); Furmston, in: Furmston (Hrsg.): Cheshire/Fifoot/ Furmston’s Law of Contract, 4. (S. 76 ff.). 499 Wheeler/Shaw, Contract Law, I. 2. III. A. (S. 54). 500 Wheeler/Shaw, Contract Law, I. 2. III. A. (S. 54). 501 Matthies, Die Unwirksamkeit von Verträgen im deutschen, englischen und spanischen Recht, III. 2.2.1 (S. 87). 502 Wheeler/Shaw, Contract Law, I. 1. VI. (S. 25); vgl. auch: Rinkes/Samuel, Contractual and non-contractual obligations in English law, Chapter 6 § 2 (S. 103 ff.). 503 Furmston, in: Furmston (Hrsg.): Cheshire/Fifoot/Furmston’s Law of Contract, 6. 2. (S. 126 ff.); Matthies, Die Unwirksamkeit von Verträgen im deutschen, englischen und spanischen Recht, III. 2.2.1 (S. 88). 504 Wheeler/Shaw, Contract Law, I. 2. III. A. (S. 53).

§ 17 Das Verhältnis zwischen Ausgestaltung und Einwirkung

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sierungstendenz des »nine-teenth-century doctrinal systems of contract law« kristallisierte sich im Laufe der Zeit aber auch im englischen Vertragsrecht der Mangel heraus, nicht ausreichend zwischen verschiedenen Vertragskonstellationen zu differenzieren. Während es bei Handelsgeschäften zwischen mehreren Geschäftsleuten nach wie vor sachgerecht erscheint, dass die Parteien privatautonom derjenigen Vertragspartei die Vertragsrisiken zuordnen können, welche die Risiken am kosteneffi zientesten vermeiden kann, versuchten englische Instanzgerichte etwa bei Verbraucherverträgen, einen Ausgleich über die »doctrine of ›fundamental breach‹« und andere »doctrinal developments« zu schaffen. 505 So wurde es einer Vertragspartei, die sich in einer besonderen Zwangslage auf eine für sie nachteilige Vertragsänderung eingelassen hat, etwa zugestanden, sich auf economic duress zu berufen. 506 Nach der doctrine of restraint of trade ist es einer Vertragspartei zudem verwehrt, Verträge durchzusetzen, durch die sich der andere Vertragsteil einer übermäßigen Beschränkung seiner persönlichen oder wirtschaftlichen Handlungsfreiheit aussetzt. 507 Voraussetzung ist, dass unter den Parteien des Vertrages eine besondere Vertrauensbeziehung bestand, aufgrund derer die eine Partei sich darauf verlassen durfte, von der anderen loyal beraten und vollständig informiert zu werden. 508 In diesem Sinne wäre es mit den Grundprinzipien der freiheitlichen Rechts- und Wirtschaftsordnung etwa unvereinbar, einen Vertrag als wirksam anzusehen, durch den sich ein Darlehensnehmer verpfl ichtet, nicht ohne schriftliche Zustimmung des Gläubigers seine Wohnung oder seinen Arbeitsplatz zu wechseln, weitere Darlehen aufzunehmen oder über sein Vermögen zu verfügen. Besondere Bedeutung haben auch die Regeln über die Aufhebung eines Vertrages wegen undue infl uence erlangt. 509 Dass diese verschiedenen Regeln ein allgemeines Prinzip verkörpern – wie Lord Denning dies vertritt510 – wurde vom Court of Appeal allerdings zurückgewiesen511. Demnach kann nach common law jedenfalls nicht von einem allgemeinen Prinzip ausgegangen werden, wonach eine Partei einen für sie offensichtlich nachteiligen Vertrag rückgängig machen kann, wenn sie zu dessen Abschluss durch Ausnutzung ihrer Zwangslage oder eines anderen Verhand505

Collins, Regulating Contracts, Part 2–3. (S. 47, 48). Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 II. (S. 322). 507 Furmston, in: Furmston (Hrsg.): Cheshire/Fifoot/Furmston’s Law of Contract, 12. 3. (S. 380 ff.); Matthies, Die Unwirksamkeit von Verträgen im deutschen, englischen und spa-nischen Recht, III. 2.2.3 (S. 95). 508 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 II. (S. 322). 509 Matthies, Die Unwirksamkeit von Verträgen im deutschen, englischen und spanischen Recht, III. 2.2.3 (S. 122). 510 Lloyd’s Bank Ltd. v. Bundy [1945], 3 All ER 757 (761 ff.); hierzu auch: Zweigert/ Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 II. (S. 322). 511 National Westminster Bank v. Morgan [1985] 1 All ER 821 (822 ff.). 506

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3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

lungshandicaps bestimmt worden ist. 512 Vielmehr wird die übervorteilte Partei nach case law lediglich durch eine Reihe verstreut umherliegender Regeln unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen geschützt. Vor diesem Hintergrund ist es letztlich auch in England zu Interventionen des Gesetzgebers gekommen, vor allem in den Bereichen des Verbraucher- und Arbeitsvertragsrechts, um den sozialen und ökonomischen Veränderungen in größerem Umfang Rechnung zu tragen. 513 Trotz gesetzgeberischer Intervention nimmt das englische Recht aber selbst verbraucherrechtlich eine Sonderstellung unter den europäischen Rechtsordnungen ein. Denn insgesamt reagieren common law-Länder auf verbraucherpolitische Fragen auffallend »pragmatisch-politisch«. 514 Präzise Regulierung in eng begrenzten Handlungsfeldern wird mit dem Vertrauen auf Selbstregulierung in allen übrigen Bereichen kombiniert. 515 So wurde Verbraucherschutz einerseits schon lange vor jeglichen europäischen Aktivitäten anerkannt; andererseits hat der englische Gesetzgeber sich im Rahmen der Richtlinienumsetzung regelmäßig mit der copy-and-paste-Methode begnügt. 516 Bereits Teil III des Fair Trading Act 1973 ermächtigte den Generaldirektor des Office of Fair Trading zu Maßnahmen, um Gewerbetreibende von rechtswidrigem Verhalten abzuhalten und auf angemessene Vertragsbedingungen hinzuwirken; die Grundlage für eine gerichtliche Kontrolle unangemessener Vertragsklauseln wurde dann durch den Unfair Contract Terms Act 1977 (UCTA) geschaffen. Zwecks Umsetzung der Klauselrichtlinie folgten schließlich die »Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1994« als zweites System der Klauselkontrolle. 517 Dagegen musste der Consumer Credit Act 1974 infolge der Verbraucherkreditrichtlinie nur marginal geändert werden. 518 Auch der Sale of Goods Act 1979 und der Timesharing Act 1992 wurden unter Beachtung des Verbraucherschutzgedankens reformiert.

512

Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 II. (S. 322). Collins, Regulating Contracts, Part 2–3. (S. 48 ff.). 514 Micklitz, VuR 18 (2003), 2 (4). 515 Micklitz, VuR 18 (2003), 2 (4). 516 Im Überblick: Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.): EG-Verbraucherrechtskompendium, Teil II. Y. (S. 173 ff.). 517 Lemmer, Die EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, 4. Kap. F. (S. 91); zum »Umsetzung« von good faith in diesem Zusammenhang: Teubner, ModLawRev 61 (1998), 11 (11 ff.). 518 Lomnicka, JBL (2004), 129 (130). 513

§ 18 Zusammenfassende Auswertung und weiterer Prüfungsbedarf

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§ 18 Zusammenfassende Auswertung und weiterer Prüfungsbedarf Der vorstehende Überblick hat zunächst einmal paradigmatisch gezeigt, dass Gleichheit kein normativer Wert an sich ist, sondern in Bezug auf Freiheit stets eine unterstützende Funktion einnimmt. Die Freiheit, insbesondere diejenige zur privatautonomen Vertragsgestaltung, steht ihrerseits in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Tätigkeiten des Gesetzgebers. So kann die Freiheit zum Vertragsabschluss und zur Vertragsgestaltung grundsätzlich nur wirksam ausgeübt werden, wenn und soweit die Rechtsordnung dies bestimmt, wobei das Institut der Freiheit allerdings nicht zur Totaldisposition des Staates steht. Was die Tätigkeit des Gesetzgebers in concreto anbelangt, legt zwar die heimliche Typenfi xierung des BGB auf den selbstständigen »Besitzbürger« einen Bedarf nach ausdrücklichen Sondertypisierungen nahe; andererseits können die Normgruppen des Handels- und Verbrauchervertragsrechts in ihrer statischen Fixierung und ihrer Unfähigkeit zur Adaption gesellschaftlicher Wertungswandel dieses reale Abstraktionsdefi zit aber nicht auf Dauer ausgleichen. Ungeachtet dessen bedarf es einer Rechtfertigung oder zumindest eines Erklärungsmusters für die Ungleichbehandlung. In Anbetracht des Umstandes, dass die grundrechtliche Verbürgung der Vertragsfreiheit bei der Rechtsordnung eine Anleihe machen muss um zu eruieren, was unter einem grundrechtlich als vorgegeben zu akzeptierenden Vertrag überhaupt verstanden werden kann, wäre der Gedanke nicht fernliegend, die sonderprivatrechtliche Typisierung zu einem defi nierbaren Anteil bereits als institutsimmanent zu qualifi zieren. Wie aus dem vorstehenden Überblick allerdings hervorgeht, ist ein solcher Ansatz recht schnell zum Scheitern verurteilt. Denn weder vertragstheoretische Modellansätze noch ein im Wege der Rechtsvergleichung zu ermittelnder ungeschriebener EG-Systematisierungsgrundsatz sind in der Lage, Anhaltpunkte zu liefern, dass bereits im Vertragsinstitut eine handels- oder verbraucherrechtliche Ungleichbehandlung apriorisch angelegt wäre. Zwar weisen wichtige Rechtsordnungen des romanisch-kontinentalen Rechtskreises (Frankreich, Belgien, Spanien) eine ähnliche Dreiteilung des Vertragsrechts wie Deutschland auf. Andererseits distanzieren sich einige Staaten aber auch von dem traditionellen Dualismus zwischen Zivil- und Handelsrecht (Italien, Niederlande, Litauen). In wiederum anderen Staaten wie den nordischen Ländern und denjenigen des common law würde ein besonderes Handelsrecht bereits der eigenen Rechtstradition widersprechen. Das Verbraucherrecht ist zwar bedingt durch die EG-Richtlinien in allen Mitgliedstaaten vergleichbar ausgestaltet. Unterschiede bleiben jedoch vorhanden. 519 519 Vgl. auch die Übersicht bei: Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der EU, 3.2.1. (S. 305 ff.).

238

3. Kapitel: Sonderrechtlicher Gleichheits- und Freiheitsausgleich

Reich schreibt dem europäischen Verbraucherrecht unter dem Leitbild einer Maximierungsstrategie sogar hypostasierend einen eigenen Rechtskreis zu und stellt ihn dem Pragmatismus der common law-Länder, dem Zentralismus der romanischen Länder, dem Perfektionismus der deutsch-rechtlichen Länder und der Effi zienz und Effektivität der skandinavischen Länder gegenüber. 520 Gleichwohl erkenntnisreich waren die vertragsmethodischen Untersuchungen insofern, als sie es in ihrer Gesamtschau nahelegen, dass Privatrechtsbildung durch gesetzliche Sondertypisierung der Vertragstheorie nicht per se widerspricht, jedoch ein Legitimationsgrund bzw. Erklärungsmuster gefunden werden muss, um das systematische Abweichen von dem Grundsatz formaler Gleichheit zu rechtfertigen: Hält Schmidt-Rimpler beispielsweise Ungleichbehandlung bei Einhaltung transnormativer Bezugspunkte wie der »Richtigkeit« für legitim, fragt Dauner-Lieb im Hinblick auf Sonderprivatrechte nach den zugrunde liegenden Leitbildvorstellungen und kombiniert L. Raiser Ungleichbehandlung mit festzulegenden Funktionsbereichen, lässt die Fortführung dieser Ansätze den Ruf nach einer hinreichenden Konkretisierung aufkommen, welcher Bezugspunkt, welches Leitbild bzw. welche Funktionsvorstellungen in der Lage sind, die Sonderprivatrechte in ihrer Existenzberechtigung zu stützen und gleichsam zu kontrollieren.

520

Micklitz, VuR 18 (2003), 2 (5).

4. Kapitel

Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung? Sind weder vertragstheoretische noch rechtsvergleichende Ansätze in der Lage, die vertragsrechtliche Typenbildung zu erklären, bieten gegebenenfalls die Schutzpfl ichten- bzw. Drittwirkungsgedanken oder Rechtsprinzipien genereller Art einen legitimen Maßstab für die Verschiebung der Freiheitsparameter durch das Handels- und Verbraucherrecht. Während die Drittwirkungsproblematik in Bezug auf die Grundrechte und Grundfreiheiten eng mit der Frage nach dem Verflechtungsgrad zwischen Hoheits- und Privatrechtsbereich verknüpft ist, kann die Schutzpfl ichtenlehre auch maßgeblich dazu herangezogen werden, die Lenkungsaufgaben des Staates im Privatrechtsverkehr zu distribuieren. Rechtsprinzipien treten wiederum als »richtungsgebende Maßstäbe rechtlicher Normierung« in Erscheinung, »die vermöge ihrer eigenen Überzeugungskraft rechtliche Entscheidungen zu rechtfertigen vermögen«1, sodass sie möglicherweise auch für die Typenbildung durch Sonderprivatrechte ein Erklärungsmuster liefern können.

§ 19 (Un-)Mittelbare Drittwirkung – Vorgaben für die Normgestaltung? Die »Auflösung der nebulosen Formel von der ›Dritt-Wirkung‹ der Grundrechte«2 ist eng mit der Frage verknüpft, in welcher ihrer verschiedenen Funktionen die Grundrechte auf das Privatrecht einwirken – nämlich als Eingriffsverbote, Auslegungsrichtlinien, Grundsatznormen, institutionelle Garantien oder Schutzgebote. 3 Weil die Verpfl ichtung, das Vertragsinstitut an sich und die Umstände von Vertragsabschlüssen einfachgesetzlich auszugestalten, bereits per defi nitionem ausschließlich an den Gesetzgeber adressiert ist, kann sich die Frage, ob Private untereinander unmittelbar oder nur mittelbar an die Grundrechte gebunden sind, von vornherein nur auf die voluntativen Elemente 1 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Kap. Ziff. 3. a) (S. 474); so auch: Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, § 2 II. 2. a) aa) (S. 12, 13). 2 Geiger, Die Grundrechte in der Privatrechtsordnung, S. 7 (S. 9). 3 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (202); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, § 6 A. Rn. 397.

240

4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

eines Vertragsabschlusses beziehen. Auf diese Weise provoziert die Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte eine echte Grundsatzdebatte über die Wächterfunktion des Staates, die sich insbesondere mit der Wechselwirkung zwischen Grundrechtsgeltung und Privatrechtsgesellschaft befasst: Je größer sich der Geltungsgehalt der Grundrechte zwischen Privaten darstellt, desto geringer wird die Staatsdistanz der Privatrechtsgesellschaft und der Freiheitsgehalt formaler Selbstständigkeit.4

A. Gesetzgeberische Grundrechtsbindung bei (Privatrechts-) Gesetzen Für die Gesetzgebung ist der Streit um die Drittwirkung der Grundrechte nur indirekt erheblich. Denn der Gesetzgeber muss die Grundrechte – ungeachtet zum Teil undifferenzierter Ausführungen zu diesem Bereich 5 – bei dem Erlass privatrechtlicher Legislativakte in gleicher Weise wie bei dem Erlass öffentlich-rechtlicher Gesetze einhalten.6 Diese rigide Grundrechtsbindung der Gesetzgebung folgt in Bezug auf das Grundgesetz aus Art. 1 Abs. 3 GG und in Bezug auf die EU-Grundrechte aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass die EG- und mitgliedstaatszugehörigen Legislativorgane unmittelbar an die EU-Grundrechte gebunden sind.7 Dass im Privatrecht ein vertraglicher Willensakt der Parteien hinzutreten muss, damit eine gesetzliche Regelung zwischen den Parteien Geltung entfalten kann, ist für die (unmittelbare) Grundrechtsbindung des Gesetzgebers unbeachtlich8, exemplifi ziert doch vor allem das Verbraucherrecht, dass die Parteien oftmals keine andere Wahl haben als die vorgegebenen Vorschriften des Gesetzgebers in ihren vertraglichen Regelungskanon aufzunehmen. Vorstehendes bedeutet andererseits aber auch, dass die Diskussion um die Drittwirkungsproblematik im legislativen Bereich nicht völlig irrelevant ist. Denn gerade das Vertragsrecht zeichnet sich durch einen Auftrag an den Gesetzgeber aus, divergierende Grundrechtspositionen mehrerer Vertragspartner auf der Grundlage praktischer Konkordanz in einen verfassungsgemäßen 4 Vgl. Lurger, Grundfragen der Vereinheitlichung des Vertragsrechts in der EU, 2.1.1.1. (S. 228). 5 Vgl. im Überblick: Canaris, AcP 184 (1984), 201 (210, 211); Nannen, Grundrechte und privatrechtliche Verträge, A: 1. Teil (S. 4 ff.). 6 Canaris, JZ 42 (1987), 993 (993, 994); F. Bydlinski, in: Rack (Hrsg.): Grundrechtsreform, S. 173 (S. 174); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 6 II. 1. a) (S. 230); a. A.: Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (225 ff.); ders., in: Starck (Hrsg.): Rangordnung der Gesetze, S. 39 (S. 46 ff.). 7 Vgl. hinsichtlich des Grundgesetzes: W. Roth, in: Wolter/Riedel/Taupitz (Hrsg.): Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 229 (S. 230); Canaris, Grundrechte und Privatrecht, II. (S. 11 ff.); ders., JZ 42 (1987), 993 (993, 994). 8 W. Roth, in: Wolter/Riedel/Taupitz (Hrsg.): Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 229 (S. 233 ff.).

§ 19 (Un-)Mittelbare Drittwirkung – Vorgaben für die Normgestaltung?

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Ausgleich zu bringen.9 Hat der Gesetzgeber zum Schutz der einen Partei und zu Lasten der anderen Partei bereits gesetzliche Vorschriften erlassen, sind diese zwar unmittelbar an den Grundrechten zu messen. Bei der Frage, wie im Gesetzgebungsverfahren der Schutzanspruch des einen Vertragspartners mit dem typisierten Abwehranspruch des anderen Vertragspartners in einen gerechten Ausgleich zu bringen ist, sind gleichwohl aber ähnliche Erwägungen wie bei der richterlichen Beurteilung rein privater Handlungsakte anzustellen. Zumindest inzident liefert damit die Auflösung der Drittwirkungsproblematik auch wichtige Abwägungshinweise, die der Gesetzgeber bei der Verabschiedung von Vertragsrechtsnormen grundrechtsspezifisch verwerten kann.10 I. Die Drittwirkungsproblematik im Handels- und bürgerlichen Recht In Deutschland wird die Frage nach der unmittelbaren oder mittelbaren Drittwirkung zwar immer noch streitig behandelt.11 Im Grunde ist ihre Beantwortung durch den Verfassungswortlaut und die Rechtsprechung des BVerfG aber klar vorgezeichnet.12 Die maßgeblichen Argumente für eine nur mittelbare Grundrechtswirkung wurden vielfach ausgetauscht und sind bekannt.13 Bereits der Wortlaut des Grundgesetzes spricht gegen eine unmittelbare Drittwirkung, sind nach Art. 1 Abs. 2 S. 2 GG die Grundrechte doch nicht für jedermann, sondern nur für die staatliche Gewalt, also für Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht bindend (Art. 1 Abs. 3 GG).14 Aber auch im Übrigen wäre eine unmittelbare Grundrechtsbindung von Privatrechtssubjekten nicht begründbar. Die rechtstheoretische Erkenntnis, dass 9 W. Roth, in: Wolter/Riedel/Taupitz (Hrsg.): Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, S. 229 (S. 244 ff.). 10 Vgl. auch: Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, III. (S. 28 ff.). 11 Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (199 ff.); Singer, JZ 50 (1995), 1133 (1134 ff.); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpfl ichten, E. I. (S. 66 ff.); eine unmittelbare Drittwirkung ablehnend: Geiger, Die Grundrechte in der Privatrechtsordnung, S. 7 (S. 18); eine unmittelbare Drittwirkung bejahend: Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, § 14 I. 4. (S. 221 ff.); ders., NJW 27 (1974), 670 (670 ff.); ders., AcP 185 (1985), 1 (1 ff.); ders., Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, IV. (S. 75 ff.). 12 Vgl. im Überblick: Canaris, AcP 184 (1984), 201 (201 ff.); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. II. 3. (S. 112 ff.); Jaeckel, Schutzpfl ichten im deutschen und europäischen Recht, 1 Kap. A. II. 2. (S. 40 ff.). 13 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, IV. (S. 33 ff.); Oeter, AöR 119 (1994), 529 (530 ff.). 14 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (203, 204); ders., JuS 29 (1989), 161 (161, 162); Nannen, Grundrechte und privatrechtliche Verträge, A: 1. Teil I. (S. 8); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 6 II. 1. a) (S. 230); Isensee, in: Bayer/Koch (Hrsg.): Schranken der Vertragsfreiheit, S. 9 (S. 23); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. II. 3. b) bb) (S. 117).

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

die privatautonome »Rechtsetzungsbefugnis« sich aus staatlichen Normen ableitet und identischen Rechtssystemen angehört wie die staatlichen Normen, liefert keine ausreichende Begründung dafür, Unternehmer dem gleichen Pfl ichtenstatus wie staatliche Organe zu unterstellen.15 Mit dem Grundgesetz sollte vor allem der staatlichen Diktatur des Nationalsozialismus eine scharfe Absage erteilt werden, sodass die vorrangige Bindung von Hoheitsträgern nicht zuletzt genetischen Ursprung hat.16 Darüber hinaus sind auch die Gesetzesvorbehalte der Grundrechte ersichtlich auf den Staat als Grundrechtsadressaten zugeschnitten und lassen sich auf Privatrechtssubjekte nur schwer übertragen.17 Folglich würde jede unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte den privatautonomen Wirtschaftsverkehr zum Erliegen bringen und Eingriffsrechtfertigungen angesichts der auf die öffentliche Hand zugeschnittenen Schrankenvorbehalte erschweren.18 II. Die EG-rechtliche Drittwirkungsproblematik im Verbraucherrecht Lediglich für das Verbraucherrecht, das auf Grund seiner EG-rechtlichen Wurzeln primär an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen ist, könnte die Frage nach der Drittwirkung abweichend zu beantworten sein. Der EuGH hat bislang zu dieser Frage noch nicht Stellung bezogen.19 Nur hinsichtlich der EMRK steht verlässlich fest, dass sie keine unmittelbare Drittwirkung zwischen Privaten entfaltet, sondern allenfalls staatliche Schutzpfl ichten begründen kann. 20 1. Unmittelbare Grundrechtsbindung im Verbraucherrecht? Auch die Grundrechtsordnungen der Mitgliedstaaten bieten ein zu heterogenes Bild, um als ausreichende Erkenntnisquelle eines (auf Rechtsvergleichung beruhenden) allgemeinen Rechtsgrundsatzes zu fungieren, demzufolge die EG-Grundrechte unmittelbare Drittwirkung besäßen. So wird eine unmit-

15

So aber: Kelsen, Allgemeine Staatslehre, § 26 C. (S. 153 ff.). Canaris, AcP 184 (1984), 201 (205); Reimers, Die Bedeutung der Grundrechte für das Privatrecht, S. 11; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. II. 3. b) bb) (S. 117, 118). 17 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (204, 205); ders., JuS 29 (1989), 161 (162). 18 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (208, 209); Reimers, Die Bedeutung der Grundrechte für das Privatrecht, S. 19; Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, II. (S. 25); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. II. 3. b) bb) (S. 118); Hönn, Jura 6 (1984), 57 (63). 19 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, § 4 B. III. Rn. 331; Nowak, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.): Hdb. der Europäischen Grundrechte, § 6 IV. (S. 254). 20 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, § 4 B. III. 3. Rn. 339. 16

§ 19 (Un-)Mittelbare Drittwirkung – Vorgaben für die Normgestaltung?

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telbare Drittwirkung in Frankreich 21, Irland 22 , den Niederlanden 23, Portugal 24 und Spanien 25 zwar anerkannt, in Dänemark 26 und Luxemburg 27 aber verneint. Eine noch nicht ausgereifte Kontroverse über die Drittwirkungsproblematik ist wiederum in Belgien 28, Österreich 29 und Griechenland30 anzutreffen. Im Vergleich subtiler ist die Grundrechtsdogmatik zwischen Privaten in Italien ausgestaltet: Während dort in gleichgeordneten Rechtsbeziehungen von einer mittelbaren Grundrechtsbindung ausgegangen wird, werden Private, die in Verhältnissen gestörter Vertragsparität die stärkere Ausgangsposition haben, einer unmittelbaren Drittwirkung unterworfen. 31 In Finnland ist als Besonderheit ein ausgeprägteres Subordinationsdenken vorzufinden: Auch wenn der Einzelne hier nicht selbst an die Grundrechte gebunden ist, werden in privaten Ungleichgewichtslagen zumindest staatliche Schutzpfl ichten aus den Grundrechten abgeleitet. 32 Angesichts dieser Heterogenität ist grundrechtsdogmatisch keine hinreichende Grundlage gegeben, um auf Gemeinschaftsebene (mittelbar also im Verbraucherrecht) eine unmittelbare Drittwirkung ohne weiteres anzunehmen. Dass der EuGH im Bereich einiger Grundfreiheiten eine unmittelbare Bindung von privaten Kollektivgruppierungen33 – und teilweise auch von Indi-

21 Savoie, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 4. Kap. VI. 2. (S. 232, 233); Classen, JöR 36 (1987), 29 (39 ff.); Itin, Grundrechte in Frankreich, 2. Teil A. 4. (S. 47, 48). 22 Grehan, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 5. Kap. VI. 2. (S. 318, 319); Costello, in: Weber (Hrsg.): Fundamental Rights in Europe und North America – Ireland, Chapt. 5 III. (S. IRE 56 ff.). 23 De Blois/Heringa, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 8. Kap. VI. 2. (S. 541 ff.). 24 Thomashausen, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 9. Kap. VI. 2. (S. 627); Polakiewicz, ZaöRV 54 (1994), 340 (377 ff.). 25 Prats-Canut, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 10. Kap. VI. 2. (S. 682); Polakiewicz, ZaöRV 54 (1994), 340 (377 ff.). 26 Germer, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 2. Kap. VI. 2. (S. 105). 27 Pieters, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 7. Kap. VI. 2. (S. 479, 480). 28 Pieters, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 1. Kap. VI. 2. (S. 43 ff.). 29 Berka, Die Grundrechte: Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich, Rn. 225 ff. (S. 129 ff.). 30 Iliopoulos-Strangas, JöR 32 (1983), 395 (422 ff.); siehe auch: Doris, FS für Canaris (70. Gebtg.), Bd. II, S. 535 (S. 535 ff.). 31 Monaco, in: Grabitz (Hrsg.): Grundrechte in Europa und USA, 6. Kap. VI. 2. (S. 406 ff.); vgl. auch: Luther, JöR 43 (1995), 475 (488 ff.). 32 Scheinin, in: Weber (Hrsg.): Fundamental Rights in Europe und North America – Finland, Chapt. 5 III. 1. (S. FIN 47). 33 EuGH – Walrave & Koch/A. U. C. I. – Urteil v. 12. 12. 1974, Rs. 36/74 – Slg. 1974, 1405 Tz. 16/19.

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

viduen34 – bejaht hat, lässt sich angesichts der unterschiedlichen Zielkonzeptualisierung auf die Grundrechte nicht übertragen. Vielmehr würde eine Pauschalanerkennung der unmittelbaren Drittwirkung von Grundrechten nicht nur einen Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung darstellen, wonach die Gemeinschaft nur dann Kompetenzen wahrnehmen sowie Rechte und Pfl ichten des Einzelnen begründen darf, wenn die Mitgliedstaaten ihr hierzu eine ausdrückliche Ermächtigung eingeräumt haben. Sie würde auch der Wirtschaftsverfassung des EG-Vertrages zuwiderlaufen und insbesondere die Systempfeiler der Wettbewerbspolitik untergraben. 2. Grundrechtsdogmatische Besonderheiten im Verbraucherrecht? Nichtsdestotrotz könnte bezüglich des Verbraucherrechts das übliche Argument, dass zwischen Privatrechtssubjekten nicht dasselbe Machtgefälle wie zwischen dem Staat und seinen Bürgern existiert (insbesondere Zwangsmittel wie Normerlass, Verwaltungsakt und Strafverhängung nicht zur Verfügung stehen) 35, dazu verleiten, speziell in diesem Sonderbereich doch eine stärkere Grundrechtsbindung zu propagieren. Denn ausgehend von der Überlegung, dass sich Unternehmer und Verbraucher in einer Zwischenstufe zur Über- und Unterordnung des öffentlichen Rechts gegenüberstehen, wäre zumindest auf Unternehmerseite in Erwägung zu ziehen, eine unmittelbare Grundrechtsbindung zu postulieren. 36 Eine solche Differenzierung in Erwägung zu ziehen, heißt jedoch, sie im Ergebnis zu verneinen. Denn Unternehmer stärker als alle übrigen Marktteilnehmer an Grundrechte zu binden, wäre letztlich nicht nur willkürlich, sondern würde auch der klassischen Auffassung des BVerfG widersprechen, wonach die mittelbare Ausstrahlungswirkung der Grundrechte privatrechtsübergreifend nur über bestimmte Einbruchstellen zum Tragen kommen kann. 37 Als Einbruchstellen in diesem Sinne fungieren nicht nur die privatrechtlichen Generalklauseln, sondern auch die zwingenden Rechtsvorschriften des Privatrechts sowie solche Normen, über die der Gesetzgeber originär staatliche Aufgaben auf Privatleute delegiert. 38 Die Tatsache, dass als Einbruchstellen neben den zivilrechtlichen Generalklauseln gerade auch zwingende Vertragsrechtsvorschrif34 EuGH – Angonese/Cassa di Risparmio – Urteil v. 06. 06. 2000, Rs. C-281/98 – Slg. 2000, I-4139 Tz. 36. 35 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (205, 206); Jaeckel, Schutzpfl ichten im deutschen und europäischen Recht, 1 Kap. A. II. 2. (S. 41). 36 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das BAG eine unmittelbare Grundrechtsgeltung für das Arbeitsrecht, also einem Sonderprivatrecht mit ähnlich disparater Ausgestaltung wie dem Verbraucherrecht, vertritt [BAG – Urteil v. 10. 05. 1957, Az.: 1 AZR 249/56 – BAGE 4, 274 (274)]. 37 BVerfG – »Lüth« – Urteil v. 15. 01. 1958, Az.: 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 (198 ff.). 38 BVerfG – »Lüth« – Urteil v. 15. 01. 1958, Az.: 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 (206).

§ 19 (Un-)Mittelbare Drittwirkung – Vorgaben für die Normgestaltung?

245

ten (also Vorschriften, die wie das Verbraucherrecht »der Herrschaft des Parteiwillens entzogen« sind39) anerkannt sind, zeigt, dass es auch an einem praktischen Bedürfnis für eine spezifisch verbraucherrechtliche Drittwirkungsqualifi zierung fehlt. Als Legitimationsgrund vertragsrechtlicher Sphärenbetrachtungen ist der Aspekt einer qualifi zierten Drittwirkung der Grundrechte daher selbst im Verbrauchervertragsrecht abzulehnen.40

B. Systemvorgaben durch die Drittwirkung der Grundfreiheiten? Eindeutiger ist die Drittwirkungsfrage im Hinblick auf die Grundfreiheiten zu beantworten. Denn diesbezüglich hat der EuGH unmissverständlich klargestellt, dass auch private Rechtsträger die Vorgaben der Grundfreiheiten zu beachten haben.41 Diese Rechtsfortbildung erfolgte im Bereich der Arbeitnehmer-, Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit letztlich in zwei Schritten. In einem ersten Schritt machte der EuGH deutlich, dass jedenfalls privatrechtliche Akte mit gesetzesähnlichem Charakter (z. B. Satzungen von Berufsorganisationen und Verbänden) dem Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten unterliegen.42 Das »Verbot der unterschiedlichen Behandlung g[elte] nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstreck[e] sich auch auf sonstige Maßnahmen, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten«.43 In einem zweiten Schritt ging der EuGH dann dazu über, die Grundfreiheiten selbst in solchen Fällen zwischen Privaten anzuwenden, in denen punktuelle – also keine verbandsmäßigen – Akte privater Rechtsträger in Rede stehen. Das »Verbot der Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit g[elte] . . . auch für Privatpersonen«44, sei von Privatpersonen also auch außerhalb verbandsmäßiger Selbstorganisationsstrukturen einzuhalten45. 39

BVerfG – »Lüth« – Urteil v. 15. 01. 1958, Az.: 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 (206). Vgl. Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, IV. 1. (S. 373). 41 Im Überblick: Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, § 2 (S. 33 ff.); a. A.: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 3 Rn. 100, 101 (S. 48, 49). 42 EuGH – Union royale/Bosman – Urteil v. 15. 12. 1995, Rs. C-415/93 – Slg. 1995, I4921 Tz. 92 ff.; Haug-Adrion/Versicherungs-AG – Urteil v. 13. 12. 1984, Rs. 251/83 – Slg. 1984, 4277 Tz. 14 ff.; Dona/Mantero – Urteil v. 14. 07. 1976, Rs. 13/76 – Slg. 1976, 1333 Tz. 17/18; Walrave & Koch/A. U. C. I. – Urteil v. 12. 12. 1974, Rs. 36/74 – Slg. 1974, 1405 Tz. 16/19. 43 EuGH – Walrave & Koch/A. U. C. I. – Urteil v. 12. 12. 1974, Rs. 36/74 – Slg. 1974, 1405 Tz. 16/19. 44 EuGH – Angonese/Cassa di Risparmio – Urteil v. 06. 06. 2000, Rs. C-281/98 – Slg. 2000, I-4139 Tz. 36. 45 A. A.: W.-H. Roth, der die unmittelbare Drittwirkung unter privaten Rechtsträgern auf die Konstellationen »kollektiver Rechtsetzung« beschränkt wissen will: W.-H. Roth, FS für Everling – Bd. 2 (70. Gebtg.), S. 1231 (S. 1246, 1247). 40

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

Bei konsequenter Umsetzung der EuGH-Rechtsfortbildung wird damit sogar der Marktbürger im Bereich seiner privatautonomen Eigensphäre in die Verantwortung genommen, keine Schranken zu errichten, welche die Schaffung des Binnenmarktes beeinträchtigen könnten. Dementsprechend würden die »EuGH-Urteile zu den Marktfreiheiten . . . nicht mehr so sehr – wie es der formalen Konstruktion des EG-Vertrages entspricht – als gegen einen Mitgliedstaat gerichtet wahrgenommen . . ., sondern [wirkten] unmittelbar als Hinweise für Verbote oder Erlaubnisse bei der Vertragsgestaltung von Privatrechtssubjekten«.46 Nach Ansicht von Ganten entspricht allein diese unmittelbare Drittwirkung dem telos des EG-Vertrages.47 Aber selbst wenn man mit dem EuGH (entgegen einiger Stimmen in der Literatur48) von einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten ausgehen würde, lieferte dies kein Argument, die Aufspaltung des Vertragsrechts, die Aufrechterhaltung von Sonderprivatrechten und die Berücksichtigung von Gruppeninteressen zu rechtfertigen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Denn entsprechend ihrem Schutzzweck sind die Grundfreiheiten gerade nicht auf Regulierung – also nicht auf Markterhaltung durch gesetzliche Sonderregimes –, sondern auf Deregulierung von Vorschriften mit Protegierungsgehalt gerichtet.49 Allenfalls mittelbar ließe sich ein Zusammenhang zwischen der Sonderbereichsbildung im Vertragsrecht und dem deregulierenden Drittwirkungsgehalt der Grundfreiheiten konstruieren. Denn indem die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten die Privatautonomie beschränkt, kann es zu einem Bedeutungsverlust formal gleicher Privatautonomie zugunsten einer binnenmarktspezifischen Freiheitsmaterialisierung kommen. 50 Aber auch unter Betonung dieses Einzelaspekts ließe sich eine Legitimationsbasis zugunsten der Sondervertragsrechte nicht herleiten. So ist die Grundfreiheitenverpfl ichtung Privater weder mit den Bereichscharakteristika des Handelsvertragsrechts noch mit den Leitbilderwägungen des Verbrauchervertragsrechts deckungsgleich. Genauer gesagt lassen sich der Drittwirkung als solcher keine konkreten Leitbildaussagen entnehmen, die als Referenzmodell für sonderprivatrechtliche Vertragsmodelle dienen könnten.

46 W. Kilian, in: Grundmann (Hrsg.): Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 427 (S. 430); a. A.: Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 2. Kap. C. II. 1. (S. 18). 47 Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, § 3 V. (S. 106 ff.). 48 Reich, in: Reich/Micklitz (Hrsg.): Europäisches Verbraucherrecht, § 2 I. 1. (S. 54, 55). 49 Vgl. in diesem Zusammenhang: Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, § 5 III. 2. (S. 103, 104). 50 Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.): EU/EG, Art. 28 EG Rn. 306; Wölker/Grill, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.): EU/EG, Art. 39 EG Rn. 17, 18.

§ 20 Die vertragsrechtlichen Schutzpfl ichten des Staates

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§ 20 Die vertragsrechtlichen Schutzpflichten des Staates Neben dem Drittwirkungsgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten wird das Verhältnis der Privatrechtsgesellschaft zum Staat schon seit Thomas Hobbes (1588–1679)51, Edward Coke (1552–1634)52 und John Locke (1632– 1704) 53 maßgeblich durch staatliche Schutzpfl ichten geprägt. 54 Während heutzutage die Pfl icht zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Vertragsinstituts und des Zustandekommens von Verträgen kein originärer Schutzauftrag des Staates gegenüber dem Individuum, sondern ein Auftrag gegenüber der Allgemeinheit ist, treten die grundrechtlichen Schutzpfl ichten als Pfl ichten gegenüber bestimmten Personen (-gruppen) in Erscheinung, was sie auf den ersten Blick als Legitimationsfaktor der Sonderprivatrechte geradezu prädestinieren könnte. Vertragsrechtlich zum Tragen kommen sie, wenn der Gesetzgeber die rechtliche Privatautonomie eines typisierungsfähigen Personenkreises entweder vollständig ungeregelt lässt, nicht hinreichend ausgestaltet oder die Rahmenumstände zur tatsächlichen Freiheitsausübung allgemein einschränkend oder einseitig belastend festlegt.

A. Grundrechtliche Schutzpflichten – symmetrischer Grundrechtsschutz? Seit einiger Zeit haben die grundrechtlichen Schutzpfl ichten ihren Siegeszug durch ganz Europa angetreten. 55 Als erstes haben sie wohl Eingang in die Rechtsprechung des deutschen BVerfG gefunden, das sie aus der objektivrechtlichen Funktion der Grundrechte abgeleitet hat. 56 Unter dem synonymen Begriff der »positiven Pfl ichten« sind sie inzwischen auch fester Bestandteil 51

Hobbes, De Cive, Chap. XIII. (S. 156 ff.). Coke, The fi rst part of the Institutes of the lawes of England, S. 1 ff.; ders., The second part of the Institutes of the lawes of England, S. 1 ff. 53 Locke, Two treatises of Civil Government, Book I, Chap. II. (S. 5 ff.), Book II, Chap. VI. (S. 141 ff.). 54 Im Überblick: Jaeckel, Schutzpfl ichten im deutschen und europäischen Recht, Einleitung B. (S. 20 ff.). 55 Ausführlich hierzu: Szczekalla, in: Rengeling (Hrsg.): Hdb. zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. 1, § 12 Rn. 20 ff. (S. 325 ff.); ders., Die sog. grundrechtlichen Schutzpfl ichten im deutschen und europäischen Recht, 2. Teil (S. 459 ff.); Suerbaum, EuR 38 (2003), 390 (390 ff.); Jaeckel, Schutzpfl ichten im deutschen und europäischen Recht, S. 29 ff.; in Bezug auf Österreich: Kind, ÖJZ 57 (2002), 81 (89 ff.). 56 BVerfG – »Schwangerschaftsabbruch I« – Urteil v. 25. 02. 1975, Az.: 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – BVerfGE 39, 1–68 (42 ff.); siehe auch: Bleckmann, FS für Bernhardt (70. Gebtg.), S. 309 (S. 311); Szczekalla, Die sog. grundrechtlichen Schutzpfl ichten im deutschen und europäischen Recht, 1. Teil A. (S. 92 ff.); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpfl ichten, C. II. (S. 29 ff.). 52

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

der Rechtsprechung des EuGMR. 57 Hinzu kommt ihre Aufnahme in den internationalen Menschenrechtsschutz, namentlich in den IPbürgR. 58 Exemplarisch und modellhaft mag in diesem Zusammenhang die Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofs erscheinen, welcher früher einer objektiven Werteordnung gänzlich ablehnend gegenüber gestanden und die Grundrechte strikt auf ihre Funktion als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat reduziert hatte59, während es in neueren Entscheidungen unter Hinweis auf den EuGMR den Begriff der Schutzpfl ichten ausdrücklich in Bezug nimmt60. Nicht zuletzt enthält auch die EU-Grundrechtscharta in Art. 1 S. 2 eine Bestimmung zur positiven Achtung und zum Schutz der Menschenwürde61, sodass von einem Herleitungs- oder Rechtsquellenproblem der Schutzpfl ichten auch auf Gemeinschaftsebene nicht auszugehen ist62 . I. Der Wirkungsgehalt der grundrechtlichen Schutzpflichten Die Schutzpfl ichten verpfl ichten die gesamte öffentliche Gewalt zur Bewahrung der Integrität der grundrechtlichen Schutzgüter (status quo). Dies geschieht vor allem im Wege der Gesetzesmediatisierung – also durch den Erlass von Gesetzen, bei denen es nicht um den Schutz vor Verletzungen durch den Staat, sondern um den Schutz vor Verletzungen durch Privatpersonen, folglich um die klassische Ausgestaltung einer Drittwirkungsproblematik geht.63 Im Vertragsrecht ist dabei die grundrechtlich garantierte Vertragsfreiheit der ei57 EGMR – Odièvre/Frankreich – Urteil v. 13. 02. 2003, Az.: 42326/98 – NJW 56 (2003), 2145 (2145 ff.); Plattform »Ärzte für das Leben«/Österreich – Urteil v. 21. 06. 1988 – EuGRZ 16 (1989), 522 (522 ff.); X und Y/Niederlande – Urteil v. 26. 03. 1985 – EuGRZ 12 (1985), 297 (297 ff.); Artico/Italien – Urteil v. 13. 05. 1980 – EuGRZ 7 (1980), 662 (662 ff.); Airey/ Irland – Urteil v. 09. 10. 1979 – EuGRZ 6 (1979), 626 (626 ff.); Marckx/ Belgien – Urteil v. 13. 06. 1979 – EuGRZ 6 (1979), 454 (454 ff.); vgl. auch: Bleckmann, FS für Bernhardt (70. Gebtg.), S. 309 (S. 310 ff.); Dröge, Positive Verpfl ichtungen der Staaten in der EMRK, S. 11 ff. 58 Im Überblick: Klein, in: Klein (Hrsg.): The Duty to Protect and to Ensure Human Rights, S. 295 (S. 295 ff.); vgl. auch: Human Rights Committee – General Comment 31, Nature of the General Legal Obligation on States Parties to the Covenant, U. N. Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.13 (2004), insbesondere Tz. 6 – URL: http://www.unhchr.ch/tbs/ doc.nsf/(Symbol)/CCPR.C.21.Rev.1.Add.13.En?Opendocument (04. 08. 2008). 59 VfGH (Wien) – Erkenntnis v. 03. 10. 1977, Az.: G 13/76, G7/77 – EuGRZ 5 (1978), 7 (13 ff.); Erkenntnis v. 11. 10. 1974, Az.: G 8/74 – EuGRZ 2 (1975), 74 (76). 60 Beginnend: VfGH (Wien) – Erkenntnis v. 05. 10. 1981, Az.: W I-9/79 – EuGRZ 9 (1982), 22 (25); vgl. auch: VfGH (Wien) – Erkenntnis v. 12. 10. 1990, Az.: B 20/89 – EuGRZ 17 (1990), 550 (550 ff.). 61 Ähnlich: L. V. Schmidt, ZEuS 5 (2002), 631 (631 ff.). 62 Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der EG, B. III. 4. b) bb) (2) (S. 59 ff.). 63 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (225, 226); ders., Grundrechte und Privatrecht, VI. 2. b) (S. 75); Hermes, NJW 43 (1990), 1764 (1765); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 6 II. 1. d) (S. 234, 235).

§ 20 Die vertragsrechtlichen Schutzpfl ichten des Staates

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nen Vertragspartei mit der grundrechtlich geschützten Selbstbestimmung der anderen Partei in einen Ausgleich zu bringen.64 Der Richtlinien- bzw. Gesetzgeber hat die Entwicklung der tatsächlichen und rechtlichen Lage zu beobachten (Beobachtungspfl icht) und die bestehenden Gesetze gegebenenfalls nachzubessern (Nachbesserungspfl icht).65 Sieht der einfache Gesetzgeber davon ab, »zwingendes Vertragsrecht für bestimmte Lebensbereiche oder für spezielle Vertragsformen zu schaffen«, bedeutet dies allerdings nicht, »daß die Vertragspraxis dem freien Spiel der Kräfte unbegrenzt ausgesetzt wäre«.66 Bereits aus den grundrechtlichen Schutzpfl ichten in Verbindung mit den bürgerlichrechtlichen Generalklauseln könnte (verbraucherrechtlicher) Schwächerenschutz gewährleistet werden67, wobei sich lediglich die Aufgabe der Konkordanzprüfung auf den Richter verlagern würde.68 II. Der Vorrang der dezentralisierten Eigenverantwortlichkeit Speziell im Vertragsrecht bestehen für die Annahme einer gesetzgeberischen Schutzpfl icht allerdings hohe Hürden.69 Denn grundsätzlich sind Privatpersonen nur in die Lage zu versetzen, ihre Rechtsbeziehungen auf der Grundlage der Privatautonomie, die Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist, eigenverantwortlich und ohne staatliche Modifi zierung gestalten zu können (formale Vertragsfreiheit).70 Die Vertragsparteien »bestimmen selbst, wie ihre gegenläufigen Interessen angemessen auszugleichen sind, und verfügen damit zugleich über ihre grundrechtlich geschützten Positionen ohne staatlichen Zwang. Der Staat hat die im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen erst einmal zu respektieren.«71 Die Wirksamkeit eines Vertrages darf nicht schon bei jeder Störung des Verhandlungsungleichgewichts nachträglich in Frage gestellt werden.72 Frei nach dem Grundsatz »volenti non fit iniuria« sind Verträge, deren Verhandlungsergebnis in freiwilliger Selbstbindung gefunden worden ist, für richtig zu halten, auch wenn sie objektiv inäquivalent und unvernünftig sind.73 64

Nannen, Grundrechte und privatrechtliche Verträge, C: 3. Teil I. 1. b) aa) (S. 94 ff.). Szczekalla, Die sog. grundrechtlichen Schutzpfl ichten im deutschen und europäischen Recht, 1. Teil A. V. 4. (S. 174 ff.). 66 BVerfG – »Handelsvertreter« – Beschluss v. 07. 02. 1990, Az.: 1 BvR 26/84 – BVerfGE 81, 242 (255, 256). 67 Oeter, AöR 119 (1994), 529 (538). 68 BVerfG – »Handelsvertreter« – Beschluss v. 07. 02. 1990, Az.: 1 BvR 26/84 – BVerfGE 81, 242 (256); vgl. auch: Hillgruber, AcP 191 (1991), 69 (76). 69 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. II. 2. (S. 109 ff.). 70 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. II. 2. (S. 112). 71 BVerfG – »Handelsvertreter« – Beschluss v. 07. 02. 1990, Az.: 1 BvR 26/84 – BVerfGE 81, 242 (254). 72 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (232). 73 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 1. Teil A. I. (S. 9). 65

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

Nur bei (typisierbaren) Fallgestaltungen, bei denen die strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennbar ist, und die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind, kann bzw. muss der Gesetzgeber reagieren und Maßnahmen treffen, die der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie Rechnung tragen.74 Es muss sich um solche Fälle handeln, in denen »mit den Mitteln des Vertragsrechts allein kein sachgerechter Interessenausgleich zu gewährleisten« wäre.«75 Dabei braucht die Grundrechtskollision »keineswegs immer durch eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen den Grundrechten zu erfolgen«, sondern kann auch in eine generelle und abstrakte Vorrangentscheidung zugunsten eines der beiden Grundrechte münden.76 Ist der Staat verpfl ichtet einzugreifen, weil eine Vertragspartei ein so starkes Übergewicht hat, dass sie vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen kann und die andere Vertragspartei fremdbestimmt77, ist der mit der gesetzgeberischen Schutzmaßnahme korrespondierende Eingriff in aller Regel als gerechtfertigt zu erachten (Symmetrie des Grundrechtsschutzes). Nur in derartigen Übergriffsfällen wird die Schutzpfl icht zur negativen Ausgrenzung der Freiheitssphären aktiviert, ohne ein dauerhaftes (positives) Pfl ichtenverhältnis zu begründen.78 III. Die mangelnde Generalisierungseignung der Schutzpflichtenlehre Als typisierungsfeindlich ist die Schutzpfl ichtenlehre insofern zu qualifi zieren, als die genaue Grenzziehung, inwiefern die Privatautonomie des einen eingeschränkt werden muss, damit der andere von seiner Selbstbestimmung frei Gebrauch machen kann, weder dem EG-Vertrag noch der Verfassung unmittelbar zu entnehmen ist.79 Auch Rechtsprechung und Literatur haben in der Vergangenheit keine verlässlichen Kriterien oder Anhaltspunkte entwickelt, wann Ungleichgewichtslagen so schwer wiegen, dass die Vertragsfreiheit

74 BVerfG – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (232); Hillgruber, AcP 191 (1991), 69 (75, 76); Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, B III. 4. (S. 108 ff.); Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 1. Teil C. IV. (S. 92); kritisch: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 6 III. 4. a) (S. 273 ff.). 75 BVerfG – »Handelsvertreter« – Beschluss v. 07. 02. 1990, Az.: 1 BvR 26/84 – BVerfGE 81, 242 (255). 76 Canaris, JuS 29 (1989), 161 (164). 77 BVerfG – »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – BVerfGE 89, 214 (233). 78 Noch restriktiver: Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 3. Kap. II. 2. (S. 112). 79 Trotzdem erachtet es Zöllner als »Aufgabe der Rechtswissenschaft und der Gerichte, nach Regeln oder wenigstens Prinzipien zu suchen, anhand derer sich Gang und Ausmaß rechtlicher Beschränkungen der Vertragsfreiheit bestimmen lassen« [Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, IV. (S. 29)].

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durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt oder ergänzt werden müsste.80 So hat bereits Zöllner darauf hingewiesen, dass die Gründe für eine fehlende Selbstbestimmung (als Rechtfertigungsbasis für das Eingreifen von grundrechtlichen Schutzpfl ichten) z. B. »geringes Lebensalter (21), Fehlen qualifi zierter Berufsausbildung, Fehlen großer Lebenserfahrung, fehlende Gewandtheit und Erfahrung in Geldgeschäften und dadurch hervorgerufene Undurchschaubarkeit von Bedeutung und Ausmaß des übernommenen Risikos, schließlich der Zwang zur Unterschrift durch familiäre Bindung an den Hauptschuldner, . . .«

sämtlich Umstände sind, »deren Auswirkung auf die Selbstbestimmung – sprich Entscheidungsfreiheit – sich nicht im Vorhinein allgemein festlegen läßt«.81 Anhaltspunkte bietet zwar Canaris mit seinem Konzept zur relativen Wirkungsschwäche der Schutzgebotsfunktion82 , das auf der Überlegung basiert, »daß die Wirkungskraft der Schutzgebotsfunktion i.V. mit dem Untermaßverbot grundsätzlich schwächer ist als die der Eingriffsverbotsfunktion i. V. mit dem Übermaßverbot«.83 Die Argumentationsschwelle, um den Gesetzgeber von seinem »Untätigbleiben« (im Sinne staatlicher Zurückhaltung gegenüber der Privatrechtsgesellschaft) zu lösen (Schutzfunktion), wäre danach höher, als der Begründungsbedarf, um in vergleichbaren Fällen gegen ein staatliches Eingreifen vorgehen zu können (Abwehrfunktion). Letztlich sind aber selbst Hilfskonstruktionen wie diese, die im Zweifel zum Schutz formaler Freiheit tendieren, zu abstrakt, um ein normativ fundiertes Legitimationsmodell für sonderprivatrechte Typenbildungen verlässlich festzuschreiben. Realistischerweise ist vielmehr einzugestehen, dass ein exakter allgemeiner Maßstab für das Vorliegen der Schutzbedürftigkeit bzw. Unterlegenheit nicht existiert und angesichts der Vielfältigkeit möglicher Lebenskonstellationen auch kaum festzustellen ist.84 Konkretisierungsversuche wie derjenige von Wellenhofer-Klein, die Begriffe der strukturell ungleichen Verhandlungsmacht zur näheren Eingrenzung durch den Begriff der »existenziellen Abhängigkeit« zu ersetzen (unter den Arbeit und Wohnung, nicht jedoch die »viel beschworene, allgemeine Unterlegenheit des Verbrauchers« eingeordnet werden könnte) 85, tragen das unzureichende Deduktionssubstrat der grundrechtlichen Schutzpfl ichten plakativ zur Schau, betreffen die grundrechtlichen 80 Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, § 1 (S. 1). 81 Zöllner, AcP 196 (1996), 1 (31). 82 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, IV. 3. c) (S. 43 ff.); vgl. auch: Canaris, JuS 29 (1989), 161 (163, 164). 83 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, IV. 3. c) (S. 43); a. A.: Hager, JZ 49 (1994), 373 (381 ff.). 84 Hönn, Jura 6 (1984), 57 (74); Limmer, in: RheinNotarK (Hrsg.): Notar und Rechtsgestaltung, S. 15 (S. 40); Mohr, 204 (2004), 660 (679). 85 Wellenhofer-Klein, ZIP 18 (1997), 774 (775).

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

Schutzpfl ichten unmittelbar doch einen ganz anderen Rechtsstoff als der vertragliche Leistungsaustausch86. Würde man die Typisierungstatbestände der sonderprivatrechtlichen Normen an der Schutzpfl ichtenlehre messen, wären demgemäß auch sie dem permanenten Verdacht ausgesetzt, die Schutzpfl ichtendogmatik nicht maßstabsgerecht widerzuspiegeln. Man denke nur an diverse Situationen, in denen auch Nichtverbraucher gegenüber Unternehmern Schutz bedürfen (z. B. Subunternehmer gegenüber Generalunternehmern) 87 oder Verbraucher Schutz gerade nicht benötigen88.

B. Die Deliberalisierungswirkung der Grundfreiheiten Im Gegensatz zu dem grundrechtlichen Auftrag zur aktiven Regulierung erteilen die Schutzpfl ichten, die mit den Grundfreiheiten einhergehen, einen Auftrag zur aktiven Deregulierung. Ähnlich wie die Grundrechte entfalten sie nicht nur negativ wirkende Verbote hinsichtlich binnenmarktbeschränkender Maßnahmen, sondern verpfl ichten in Verbindung mit dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EG) die Mitgliedstaaten auch positiv dazu, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Deregulierungswirkungen der Grundfreiheiten auf ihrem Gebiet Wirkungen entfalten können. I. Urteil »désordre public« als Anerkennung von Schutzpflichten Wie der EuGH in seinem »désordre public«-Urteil (1997) unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, können auch die Grundfreiheiten einen Mitgliedstaat zu aktivem Handeln verpfl ichten.89 In diesem Vorabentscheidungsverfahren wurde Frankreich vorgeworfen, gegenüber protestierenden und randalierenden französischen Landwirten keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen zu haben, damit eine Beschränkung des freien Warenverkehrs (Verbringen von Obst und Gemüse) durch Handlungen von Privatpersonen verhindert wurde.90 Konkret seit 1993 waren die französischen Behörden untätig geblie86 So auch Oechsler im Hinblick auf die Deduktionsmöglichkeit von Vertragsgerechtigkeit aus der Verfassung: »Der vertragliche Leistungsaustausch erzeugt . . . erkennbar eigene Probleme und Rechtsfragen, deren konsistente Lösung (Gleichbehandlung gleicher, Ungleichbehandlung ungleicher Fälle) nicht auf der Grundlage der allgemeinen Verfassungsnormen erfolgen kann . . .« [Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, § 2 II. 5. b) bb) (S. 142)]. 87 Vgl. hierzu: Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, § 11 III. 3. f) bb) (S. 255); Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 1. Teil C. IV. 2. (S. 103). 88 Martinek, TSAR 2007, 1 (10); ders., in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 157). 89 Im Überblick: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 3 Rn. 71 und Rn. 116 ff. (S. 35 und S. 55, 56). 90 EuGH – Kommission/Französische Republik – Urteil v. 09. 12. 1997, Rs. C-265/95 – Slg. 1997, I-6959 Tz. 1.

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ben, obwohl französische Privatleute und Bauern u. a. Gewalttaten gegenüber landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten, insbesondere aus Spanien, verübt hatten. Die Taten bestanden im einzelnen u. a. im Anhalten von Lastwagen, Vernichtung ihrer Ladungen, Angriffen auf Lastwagenfahrer, in der Bedrohung französischer Supermärkte, die landwirtschaftliche Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten verkauften, und in der Beschädigung von Importwaren, welche in französischen Geschäften auslagen.91 In Anbetracht dieser Ausgangslage folgte der Gerichtshof dem Votum des Generalanwalts Lenz, der in seinem Schlussantrag den Vorschlag unterbreitet hatte, »festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpfl ichtungen aus den gemeinsamen Marktorganisationen für Agrarprodukte und aus Artikel 30 in Verbindung mit Artikel 5 EG-Vertrag verstossen hat[te], daß sie nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat[te], damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Ausschreitungen von Privatpersonen behindert wird.«92 Somit steht die Warenverkehrsfreiheit nach Ansicht des EuGH nicht nur Maßnahmen entgegen, »die auf den Staat zurückzuführen sind und selbst Beschränkungen für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten schaffen, sondern [fi ndet] auch dann Anwendung [. . .], wenn ein Mitgliedstaat keine Maßnahmen ergriffen hat, um gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs einzuschreiten, deren Ursachen nicht auf den Staat zurückzuführen sind«.93 Der innergemeinschaftliche Handelsverkehr könne »ebenso wie durch eine Handlung dadurch beeinträchtigt werden, daß ein Mitgliedstaat [. . .] es versäumt, ausreichende Maßnahmen zur Beseitigung von Hemmnissen für den freien Warenverkehr zu treffen, die insbesondere durch Handlungen von Privatpersonen [. . .] geschaffen wurden«.94 Im Jahre 2003 bestätigte der EuGH im Urteil Schmidberger/Österreich die vorgenannte Rechtsfortbildung: Obwohl die Republik Österreich nicht die grundfreiheitlich gebotenen Maßnahmen gegen eine ca. 30-stündige Blockade der Brenner-Autobahn durch eine nach österreichischem Recht zulässige Demonstration unternommen hatte, verneinte der EuGH im Ergebnis allerdings eine Verletzung des freien Warenverkehrs.95 Die Freiheit der Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit sowie das weite Ermessen Österreichs bei 91 EuGH – Kommission/Französische Republik – Urteil v. 09. 12. 1997, Rs. C-265/95 – Slg. 1997, I-6959 Tz. 2. 92 Generalanwalt Lenz - Schlussanträge Kommission/Französische Republik, Rs. C265/95 – Slg. 1997, I-6959 Tz. 79. 93 EuGH – Kommission/Französische Republik – Urteil v. 09. 12. 1997, Rs. C-265/95 – Slg. 1997, I-6959 Tz. 30. 94 EuGH – Kommission/Französische Republik – Urteil v. 09. 12. 1997, Rs. C-265/95 – Slg. 1997, I-6959 Tz. 31. 95 EuGH – Schmidberger/Österreich – Urteil v. 12. 06. 2003, Rs. C-112/00 – Slg. 2003, I-5659.

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

der Auswahl der zum Schutz dieser Grundrechte erforderlichen Maßnahmen gaben dabei den Ausschlag.96 Dies verdeutlicht, dass der EuGH den Mitgliedstaaten bei der Auswahl der Schutzmaßnahmen im einzelnen einen weiten Beurteilungsspielraum zugesteht. So ist es eine Frage des mitgliedstaatlichen Ermessens, »zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer bestimmten Situation am geeignetsten sind, um Beeinträchtigungen der Einfuhr zu beseitigen. Es ist daher nicht Sache der Gemeinschaftsorgane, sich an die Stelle der Mitgliedstaaten zu setzen und ihnen vorzuschreiben, welche Maßnahmen sie erlassen und tatsächlich anwenden müssen, um den freien Warenverkehr in ihrem Gebiet zu gewährleisten.«97 Dass der Gerichtshof aus den Grundfreiheiten keinen Anspruch auf konkrete Schutzmaßnahmen ableitet, sondern lediglich ein am effet utile des Binnenmarktes orientiertes Schutzergebnis fordert, ist in Anbetracht des Rechtscharakters der Grundfreiheiten nur konsequent. Denn im Gegensatz zu den Grundrechten sind die Grundfreiheiten nicht in erster Linie individual-, sondern institutionenschützend, sodass nicht bei jeder individuellen Freiheitsbeeinträchtigung, sondern nur dann ein Handlungsauftrag hervorgerufen wird, wenn aus den individuellen Freiheitsbeschränkungen eine Beeinträchtigung der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarktprinzips erwächst.98 Dies setzt wiederum voraus, dass das eigenverantwortliche Handeln von Privatpersonen »zu massiven Handelsbehinderungen führ[t] . . ., ohne daß ihm durch Marktmechanismus, Wettbewerb oder Wettbewerbsregeln Einhalt geboten würde.99 Die Handelsbeeinträchtigung durch Private muss eine objektive Schwere besitzen, sodass ähnlich wie beim Spürbarkeitsmerkmal in Art. 81 EG nicht jede Behinderung ausreichend ist.100 Hinsichtlich der dann zu ergreifenden Schutzmaßnahmen genießt jeder Mitgliedstaat einen Ermessensund Gestaltungsspielraum, der nur auf evidente Ermessensfehler überprüfbar ist.101 II. Grundfreiheitliche Schutzpflichten und Privatrecht Eine Ausweitung der grundfreiheitlichen Schutzpfl ichten auf den Erlass privatrechtlicher Gesetze ist im Ergebnis zu verneinen. Eine solche Ausdehnung wird in der Literatur zwar vertreten, weil insbesondere Lücken im Bereithal96 EuGH – Schmidberger/Österreich – Urteil v. 12. 06. 2003, Rs. C-112/00 – Slg. 2003, I-5659 Tz. 78 ff. und Tz. 93, 94. 97 EuGH – Kommission/Französische Republik – Urteil v. 09. 12. 1997, Rs. C-265/95 – Slg. 1997, I-6959 Tz. 33, 34. 98 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 3. Teil 1. Abschnitt § 3 A. II. 5. (S. 393). 99 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 3. Teil 1. Abschnitt § 3 A. II. 5. (S. 393, 394). 100 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 3. Teil 1. Abschnitt § 3 A. II. 5. (S. 393). 101 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 3. Teil 1. Abschnitt § 3 A. II. 4. (S. 392); Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 3 Rn. 103 (S. 49, 50).

§ 20 Die vertragsrechtlichen Schutzpfl ichten des Staates

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ten sachenrechtlicher Rechtsinstitute (numerus clausus des Sachenrechts) oder das legislative Untätigbleiben, marktabschottende Verträge zu verbieten (Ausschließlichkeitsbindungen), eine Verletzung der Grundfreiheiten hervorrufen könnten.102 Dies würde jedoch voraussetzen, dass man die Grundfreiheiten an sich als Rechtsinstitute qualifi ziert, die auch verantwortlich dafür sind, dass die Schaffung marktunterstützender Normen des Privatrechts oder die Bereitstellung gruppentypisierter Sondernormbereiche angemahnt wird. Würde man einen solch weitgehenden Ansatz vertreten, ließe man außer Betracht, dass im Grunde lediglich hinsichtlich der Integrationsfunktion eine Überschneidung der Zielsetzung von Privatrecht und Grundfreiheiten eintritt, indem beide Rechtsmaterien mit mehr oder weniger starkem Impetus auf die Verwirklichung des Binnenmarktprinzips ausgerichtet sind. Was dagegen die eigentliche Marktfunktion anbelangt, können die Grundfreiheiten weder marktermöglichende noch markterhaltende Vorschriften erzwingen, sondern setzen diese lediglich voraus. Das Fehlen privatrechtlicher Normen als solches ist grds. »nicht geeignet, die Grundfreiheiten zu verletzen, solange den privaten Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit privatautonomer Selbstgestaltung gelassen wird« (Körber).103 Genauso wenig könnte das Fehlen gruppentypisierter Sondernormbereiche den Schutzpfl ichten der Grundfreiheiten zuwiderlaufen. Zwar käme eine aktive Fördergesetzgebung auch dem zwischenstaatlichen Handelsverkehr zugute; die Ermöglichung des Tauschverkehrs ist jedoch keine originäre Aufgabe der Grundfreiheiten, sondern des Privatrechts. Da die Grundfreiheiten traditionell als Deregulierungsinstrumente Wirkung entfalten, »erscheint es recht fernliegend, . . . [d]aß eine zu geringe Regulierungsdichte gegen die Grundfreiheiten verstoßen könnte«.104 Inwiefern ein (Mitglied-) Staat marktunterstützende Basisvorschriften des Privatrechts zur Verfügung stellt, liegt grds. in seinem Ermessen, das im legislativen Bereich noch größer ist als in dem durch das »désordre public«-Urteil angesprochenen Vollzugsbereich. Selbst der verbreitete Gedanke, dass spezifisch der aktive Verbraucher im grenzüberschreitenden Handelsverkehr geschützt werden müsse105, kann es vor diesem Hintergrund nicht rechtfertigen, den Grundfreiheiten positive Förderpfl ichten zum Schutz privatrechtlicher Sondernormgruppen abzuverlangen.

102 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, Abschnitt 2 I. (S. 49); Reich, in: Basedow/ Schwark/Schwintowski (Hrsg.), Informationspfl ichten – Europäisierung des Versicherungswesens, S. 91 (S. 109 ff.); vgl. auch: von Wilmowsky, Europäisches Kreditsicherungsrecht, § 2 I. 1. (S. 32 ff.). 103 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 3. Teil 1. Abschnitt § 3 B. II. (S. 396). 104 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 3. Teil 1. Abschnitt § 3 B. III. (S. 397). 105 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 4. Kap. B. II. (S. 82, 83).

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung Vorstehendes vorausgeschickt, liegt angesichts der mangelnden Legitimationseignung der Schutzpfl ichten bzw. der Drittwirkungsgebote die volle Argumentationslast schließlich auf der Frage, ob bestimmte Rechtsprinzipien festgestellt werden könnten, welche die Freiheitsmodifi zierungen der Sonderprivatrechte rechtfertigen können. Als »materiale Rechtsgedanken« sind Rechtsprinzipien besondere Ausprägungen der Rechtsidee, wie sich diese auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe darstellt und in Gesetzgebung und Rechtsprechung, vor allem in dieser, fortdauernd konkretisiert. Einige von ihnen sind in der Verfassung oder in anderen Gesetzen ausdrücklich ausgesprochen; andere können aus der gesetzlichen Regelung, ihrem Sinnzusammenhang, im Wege einer »Gesamtanalogie« oder des Rückganges auf die ratio legis erschlossen werden; einige sind in der Lehre oder der Rechtsprechung, meist im Hinblick auf bestimmte, nicht anders lösbare Fälle, erstmals »gefunden« und ausgesprochen worden, und haben sich sodann dank der ihnen innewohnenden Überzeugungskraft im »allgemeinen Rechtsbewusstsein« durchgesetzt.106 In allen Fällen bleibt entscheidend ihr Sinnbezug auf die Rechtsidee.107 Rechtsprinzipien bedürfen ausnahmslos der Konkretisierung, wobei sich verschiedene Konkretisierungsstufen unterscheiden lassen.108 Auf der höchsten Stufe enthält das Prinzip noch keine Sonderung von Tatbestand und Rechtsfolge, sondern nur einen »allgemeinen Rechtsgedanken«, an dem sich die weitere Konkretisierung als an einem Leitfaden orientiert. In der Regel bedarf es weiterer Konkretisierungen, die zunächst einmal der Gesetzgeber vornimmt. Die letzte Konkretisierung erfolgt immer durch die Rechtsprechung im Hinblick auf den jeweiligen Einzelfall. Im Gesamtbild ergibt sich damit eine Wechselbeeinflussung der verschiedenen Konkretisierungsebenen. Das Prinzip wird aus seinen Konkretisierungen, und diese werden aus ihrer sinnhaften Verbindung in dem Prinzip deutlich gemacht. Die Bildung des »inneren Systems« erfolgt durch einen Prozess »wechselseitiger Erhellung«, der als die hermeneutische Grundstruktur der »Verstehensprozesse« im engeren Sinne begriffen werden kann.109

106

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Kap. Ziff. 3. a) (S. 474). Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Kap. Ziff. 3. a) (S. 474). 108 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Kap. Ziff. 3. a) (S. 474, 475); Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, § 2 II. 2. a) aa) (S. 13). 109 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Kap. Ziff. 3. a) (S. 475); Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, § 2 II. 2. a) bb) (S. 14). 107

§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung

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A. Die Peronenbilder als rollenspezifische Rechtsprinzipien Als maßgeblicher Sachgrund für die ungleiche Freiheitsausgestaltung durch die (sonder-) vertragsrechtlichen Normgruppen könnten in Gestalt von Rechtsprinzipien die Peronenbilder begriffen werden, die der Gesetz- und Richtliniengeber seiner Normgestaltung jeweils zugrunde legt. In diesem Sinne könnte methodologisch – bezogen auf die Sonderprivatrechte – das Verbraucher- und Unternehmerleitbild dazu dienen, das »Ob« und »Wie« der ungleichen Freiheitsgewähr im vertragsrechtlichen Dreiklang mustergültig zu erklären. Denn vertragsrechtlich betrachtet könnte die Bestimmung von Leitbilderwägungen in einen engen Zusammenhang mit dem Autonomieverständnis und dem Maß an Eigenständigkeit gebracht werden, das den Teilnehmern am Rechtsverkehr normativ zuzusprechen wäre. Art und Beschaffenheit des jeweils konstruierten Personenbildes könnten Aussagen darüber treffen, ob die Grenzen zwischen staatlicher Fremd- und individueller Eigenverantwortung weit oder eng zu ziehen wären.110 Bereits der Lauf der Geschichte hat gezeigt, dass verschiedene Vorstellungsbilder von dem Durchschnittstypus der Rechtsgenossen möglich sind111, um einen Maßstab zu gewinnen, anhand dessen ein Ausgleich zwischen der Schutz- und Eigenverantwortungssphäre über privatrechtliche Vorschriften hergestellt werden kann. In diesem Sinne lieferte bereits das damalige Abzahlungsgesetz ein Beispiel für eine idealisierte Variante des homo oeconomicus, die zwar nicht so weit wie das heutige Verbraucherleitbild ging, aber dennoch einem ganz bestimmten Menschentyp, der meist am Anfang seiner Kapitalbildung stand, ein Kompensationsmittel für seine wirtschaftliche Unterlegenheit zur Verfügung stellte.112 Desweiteren hat etwa auch die Nationalökonomie über historische Auswertungen verschiedene Typen langfristig und kurzfristig planender Marktteilnehmer herausgebildet.113 Während z. B. der Mensch des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Wirtschaftspläne für lange Fristen machte (sparte, um für die Zukunft zu sorgen), waren die Wirtschaftspläne der ersten Christen eher kurzfristig ausgestaltet, weil sie sich im Glauben an das baldige Kommen des Gottesreiches um spätere Zeiten gar nicht sorgten.114

110 Im Hinblick auf das Verbraucherleitbild: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 9 III. 1. (S. 414). 111 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 3. Kap. I. (S. 30). 112 Baltes, Das Abzahlungsgesetz als Verbraucherschutzgesetz, 1. Teil A. II. 2. a) (S. 52); Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. I. 1. b) (S. 37, 38). 113 Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 3. Teil 5. Kap. (S. 341). 114 Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 3. Teil 5. Kap. (S. 340, 341).

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

I. Leitbilder als empirisch-normative Sachgründe Vor diesem Hintergrund ist die Vermutung gerechtfertigt, dass hinter typisierten Sonderprivatrechten regelmäßig prinzipientaugliche Leitbilder stehen. Diese Leitbilder haben mehrere Facetten, bedenkt man, dass das »Personenbild« in den Privat- und Sonderprivatrechten mit einer empirisch-normativen Doppelseitigkeit Verwendung fi ndet: Während sich regelmäßig eine Seite damit befasst, wie der Mensch ist (empirisches Leitbild), beschäftigt sich eine zweite mit der Frage, wie er sein sollte (normatives Leitbild).115 In diesem Sinne liegt dem Vertragsrecht aufbauend auf empirischen Vermutungen ein normativ-konstruiert idealisiertes Rollenverständnis zugrunde, woraus sich ein »positives Modell menschlichen Verhaltens« ergibt, das es ermöglicht, »die Folgen rechtlicher Regeln ab[zu]schätzen und im Lichte (vorgegebener) gesetzgeberischer Zielvorstellungen [zu] bewerten«.116 Bedeutet dies nun aber, dass die Leitbilder, die dem Vertragsrecht bzw. bestimmten Normgruppen zugrunde liegen, rein empirisch oder normativ sind? Nichts von beiden in der reinen Form. Vielmehr ist generell – sowie im Rahmen der vorliegenden Untersuchung – davon auszugehen, dass es sich bei den Leitbildern um normative Maßstäbe handelt, die gruppen- bzw. schichtenspezifische Anschauungen zum Ausdruck bringen und durch Rechtsschöpfung oder -auslegung in das Gesetz Eingang erhalten haben.117 Sie sind prinzipientauglich entweder aus höherrangigem Recht abzuleiten oder hilfsweise aus empirischen bzw. ökonomischen Selbstverständlichkeiten zu deduzieren.118 Normativ erfüllen sie eine »Schaltstellenfunktion«, indem sie immer dann zum Einsatz gelangen, wenn Ungleichbehandlungen in Bezug auf Freiheitsgewährungen gerechtfertigt werden sollen. Daraus folgt, dass Leitbilder Sonderprivatrechten nicht nur zugrunde liegen können, sondern sogar müssen. Bei dem Unterfangen, eine Personengruppe mit einem anderen Freiheitsgehalt als eine vergleichbare Personengruppe auszustatten, nehmen Leitbilder auf diese Weise eine ähnlich legitimierende Funktion ein wie der sachliche Grund bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer grundrechtsrelevanten Ungleichbehandlung im Rahmen einer Prüfung, ob ein Grundrecht verletzt oder eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist.

115 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 9 III. 4. a) (S. 430, 431); vgl. auch: Seibt, GRUR 104 (2002), 465 (466). 116 Eidenmüller, JZ 60 (2005), 216 (217). 117 Vgl. Enders, Neuerungen im Recht der Verbraucherdarlehensverträge, B. II. 4. b) aa) (S. 62); siehe hierzu die Ausführungen zum »Sozialmodell« bei: Westermann, AcP 178 (1978), 151 (158, 159); gegen ein normatives Menschenbild argumentierend: F. Bydlinski, FS für Großfeld (65. Gebtg.), S. 119 (S. 120, 121). 118 Vgl. hierzu auch: Micklitz, in: Rebmann/Säcker/Rixecker (Hrsg.): MünchKommBGB, Vor §§ 13, 14 Rn. 98 ff.

§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung

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II. Die Legitimationseignung der sonderprivatrechtlichen Personenbilder Woraus leiten Leitbilder aber ihre Legitimationseignung ab? – Die Beantwortung dieser Frage geht Hand in Hand mit der Art der Ermittlung des jeweiligen Leitbildes. Denn aus dem Stufenbau der Rechtsordnung folgt, dass Leitbilder, die in höherrangigen Rechtsnormen verankert und wiedergegeben werden, auch in niederrangigen Vorschriften kongruent übernommen werden müssen. Hat der Verfassungs- bzw. Gesetzgeber – aufbauend auf bestimmten empirischen Erkenntnissen – ein Leitbild von einer typisierungsfähigen Menschengruppe gezeichnet, ist der Gesetzgeber bei der Gestaltung anderer Rechtsnormen, die im Stufenbau darunter anzusiedeln sind, nicht mehr ohne weiteres berechtigt, von diesen Leitbilderwägungen willkürlich abzuweichen. Ansonsten würde er Ungleichheit produzieren, die ohne Sachgrund dastünde, möglicherweise sogar verfassungswidrig wäre. Vor dem Hintergrund, dass Leitbilder letztlich aber als nicht mehr als eine normative Reflexion bestimmter empirischer Abläufe und Eigenschaften in Erscheinung treten, kann die Tatsache, dass ein Leitbild einmal normativen Ausdruck gefunden hat, nicht bedeuten, dass beim Erlass anderer staatlicher Maßnahmen keine Abweichung mehr von ihm möglich wäre. Vielmehr können gesellschaftliche Veränderungen oder Erkenntnisse, die empirisch nachgewiesen werden, jederzeit dazu führen, dass der Gesetzgeber ein bestimmtes Leitbild als Rechtsprinzip neu defi niert und im Zuge dessen u. U. auch von einem höherrangig kodifi zierten, aber obsoleten Leitbild abweicht. Um den Inhalt der Leitbilder, welche den Sonderprivatrechten zugrunde liegen, zu ermitteln, ist demzufolge in erster Linie auf das Primärrecht der Gemeinschaft, auf das Sekundärrecht der Gemeinschaft, auf die Leitbildaussagen der Verfassung und auf die Leitbilderwägungen der einfachgesetzlichen Normen abzustellen. Auf empirische Erwägungen wäre dagegen nur dann Rückgriff zu nehmen, wenn normativ ermittelte Leitbildaspekte erkennbar im Widerspruch zu nachgewiesenen (neuen) empirischen Erkenntnissen stünden oder eine normative Abbildung des betreffenden Leitbilds bisher gar nicht stattgefunden hat. Damit ergibt sich die Legitimationseignung letztlich aus der empirischen Verwurzelung des über den Stufenbau der Rechtsordnung normativ abgebildeten Menschentypus. Als empirisch vermutete Personenbildprofile, die jeweils eine Typisierungseignung aufweisen und sich von anderen Personenbildern unterscheiden, bieten Leitbilder auf prinzipientauglicher Ebene einen nachvollziehbaren Sachgrund, dessen Verallgemeinerungsfähigkeit und stufenförmige Abbildung im inneren System der Rechtsordnung zum Ausdruck gelangt.

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

B. Leitbild und Personenbild der (Sonder-) Vertragsrechte Dass ein »einheitliches Menschenbild als orientierende Regelungsvorgabe für Rechtsetzung und Rechtsanwendung . . . überhaupt nicht konstruierbar« ist, hat bereits Rebe überzeugend dargelegt.119 Zu Recht hat er eingewandt, dass nicht nur die Sozialwissenschaft, sondern auch das Recht danach differenzieren müsse, »ob es den Menschen in seinem legitimen und rechtlich geschützten Anspruch auf Freiheit in seiner Privatsphäre, seinem sozial irrelevanten Fürsichsein oder als soziales Wesen in einem gesellschaftlichen Interaktionsprozeß anspricht, in dem er die Freiheit für Entscheidungen beansprucht, die nicht nur Wirkung auf Dritte haben, sondern . . . für die Integration der Gesamtordnung von Bedeutung sind«.120 Dieses Freiheitsverständnis sei »nicht auf ein neues oder anderes, universal gemeintes Menschenbild bezogen, sondern am wirtschaftenden Menschen ›als solchen‹ ausgerichtet, der als ökonomischer Rollenträger begriffen wird«.121 Einer ähnlichen Leitbildpluralität redet auch Herresthal das Wort, indem er privates und unternehmerisches Handeln für »deutlich verschiedene Stufen ökonomisch-rationalen Handelns« hält, »wobei das private Handeln durch eine typischerweise substantiell geringere ökonomische Rationalität sowie eine Ansprechbarkeit für unökonomische, v. a. emotionale Argumente geprägt wird«.122 I. Das Personenbild des homo oeconomicus als Vertragsrechtsgrundlage Innerhalb dieser Rollenfunktionsbetrachtung liegt dem BGB als Grundkodifikation des Privatrechts das Menschenbild des ethischen Personalismus zugrunde. Es geht davon aus, dass der Mensch als vernunftmäßig bestimmte Person sein Dasein und seine Umwelt im Rahmen der ihm jeweils gegebenen Möglichkeiten frei und verantwortlich gestaltet, sich Ziele setzt und sich selbst Schranken auferlegt.123 Der im BGB reflektierte Menschentypus beansprucht unabhängig davon Geltung, ob ein Individuum zur Bedarfsdeckung oder zu Erwerbszwecken tätig wird. In beiden Fällen nimmt es einen rationalen Typus zum Modell, der seine durch individuellen Arbeitseinsatz knapp erzielten Ressourcen möglichst optimal zur Deckung seiner Bedürfnisse einsetzen will.124 119 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 4 A. I. 2. (S. 54); ähnlich auch: F. Bydlinski, FS für Großfeld (65. Gebtg.), S. 119 (S. 122). 120 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 4 A. I. 2. (S. 55). 121 Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, § 4 A. I. 2. (S. 55). 122 Herresthal, JZ 61 (2006), 695 (697). 123 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 I. Rn. 2 (S. 21); Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, A. III. 1. a) (S. 67). 124 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 1. (S. 52 ff.); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, 1. Kap. V. (S. 38); E. Schmidt, JZ 35 (1980), 153 (154).

§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung

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Mit formaler Gleichheit wählt das BGB ein simplifi ziertes Sozialmodell zum Ausgangspunkt seiner Typisierungen, nach dem die Bedürfnisbefriedigung des Menschen über Märkte erfolgt, auf denen jeder Einzelne potenziell als Anbieter oder Nachfrager und Teil der Gesamtheit die Möglichkeit hat mitzuentscheiden, welche Güter zu welchem Preis und zu welchen Konditionen angeboten werden.125 Normativ zum Ausdruck gelangt dieses Personenbild darin, dass die vertragsrechtsrelevanten Vorschriften des BGB – wie bereits dargelegt werden konnte – im Grundsatz nur ein Modell der prozeduralen Fairness (Empfängerschutz) kennen, grundsätzlich jedoch keine Ausgleichsnormen zur Schaffung inhaltlicher Fairness kennen.126 Vielfach wird das BGB-Personenbild in Anlehnung an die neoklassische Theorie mit dem ökonomischen Verhaltensmodell des homo oeconomicus in Verbindung gebracht.127 Geistesgeschichtlich kann dieses Verhaltensmodell wiederum als Nachfahre des utilitaristischen Individuums aufgefasst werden, dessen ganzes Streben laut Bentham der Vermeidung von Schmerz und dem Gewinn von Freude gilt.128 Als homo oeconomicus ist der BGB-Marktteilnehmer darauf aus, seine materiellen Lebensverhältnisse zu verbessern und seine individuellen Präferenzen möglichst kostengünstig zu befriedigen. Unabhängig von seinen beruflichen und persönlichen Kenntnissen, seinen sozialen Lebensumständen und seinem Einkommen hat er die Fähigkeit, seine wirtschaftlichen Belange frei und selbstverantwortlich zu gestalten.129 Sowohl in der Rolle des Kaufmanns als auch in der Rolle des Verbrauchers oder Unternehmers kann er seine Bedürfnisse eigenständig artikulieren und sie mit den ihm zur Verfügung stehenden fi nanziellen Mitteln und dem Marktpreis in Einklang bringen.130 Er entwickelt eine auf seine Person und seine Verhältnisse abgestimmte Bedürfnishierarchie und stellt eine Zweck-Mittel-Relation zwischen dem zur Verfügung stehenden Einkommen, eigenen Präferenzen und dem Preis der angebotenen Güter her.131 125 Berens, Fremdbestimmung des Konsumenten bei der Vertragsanbahnung insbesondere durch Irreführung, Einleitung (S. 30); Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 1. (S. 52 ff.); Joerges, Verbraucherschutz als Rechtsproblem, II. 1. a) (S. 18). 126 Hierzu im Einzelnen: 2. Kap. § 13 C. I. und II. (S. 174 ff.). 127 Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, B. III. 1. a) (S. 67). 128 Bentham, A Fragment on Government and An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Part: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Chap. I Sec. 7 (S. 127); vgl. auch: Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip, Teil 1 § 1 A. III. (S. 28). 129 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 1. a) (S. 52); Martinek, in: Willoweit (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, S. 141 (S. 151). 130 Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 II. 1. Rn. 37 (S. 30); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 I. (S. 315). 131 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, B. II. 1. a) (S. 52).

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

II. (Verbraucher-) Personenbild – soziologische Leitbildmodifizierung Im Gegensatz zu dem vorgenannten Leitbild des BGB, das gewissermaßen Grundlage des Privatrechts insgesamt ist, bemüht sich das Verbraucherrecht deutlich mehr darum, die Wechselwirkungen von Wirtschaft, Institutionen und Gesellschaft zu berücksichtigen und das Personenbild des homo oeconomicus um vermeintlich realitätsnähere Annahmen zu ergänzen. Ähnlich wie die Nationalökonomie (deren klassische Theorie noch unterstellte, dass alle Menschen Kaufleute seien und »wie die Besucher einer Börse« handelten, deren neoklassische Vertreter aber zu der Erkenntnis gelangten, dass dieses Schema auf den Verbrauch und den Verbraucher überhaupt nicht anwendbar ist132) musste auch das Privatrecht von der bürgerlich-rechtlichen Vorstellung des homo oeconomicus das Verbraucherleitbild als Ausnahme zulassen. Demgemäß liegt im Verbraucherrecht der homo oeconomicus nur dem Unternehmerbegriff zugrunde. Auf der Seite des Verbrauchers wird dagegen von der REMM-Hypothese abgewichen, indem unterstellt wird, dass der Verbraucher sich gegen alle Vernunft in Versuchung führen lässt, beeinflussbar ist und nur begrenzte Handlungskapazitäten besitzt.133 Veranlasst durch diese Unvollkommenheit, wie sie in der christlich-abendländischen Überlieferung zum Ausdruck kommt, liefert das Verbraucherleitbild das Schutzprofil, um formal nicht herstellbare Gerechtigkeit in Vertragsverhältnissen zu gewährleisten.134 Teilweise wird dem Verbraucherleitbild ein eigenständiger Erkenntnis- und Legitimationswert zwar von Grund auf abgesprochen.135 »Leitbilder wie das des Verbrauchers oder das des Unternehmers« nähmen nur eine »Vermittlungs- und Vereinfachungsfunktion« ein; sie bildeten »eine Kurzformel, die gerade durch ihre bildliche Umschreibung einfach zu handhaben« sei.136 Eine derart oberflächliche Einstufung des Verbraucherleitbilds als »bloß formelhafte Umschreibung der maßgeblichen Wertungen« würde jedoch die Rechtsnatur von Leitbilderwägungen verkennen.137 Denn der Struktur nach handelt es sich bei dem Verbraucherleitbild um weit mehr als um ein »Tatbestandsmerkmal« oder um eine »Form der Regel, das in Kurzform den Ausgleich von 132 Mises, Grundprobleme der Nationalökonomie, Bemerkungen zum Grundproblem der subjektivistischen Wertlehre, III. und IV. (S. 164 und S. 168). 133 N. Neumann, Bedenkzeit vor und nach Vertragsschluss, Teil 1 Kap. 1 I. A. 2. (S. 14); Pfeiffer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 21 (S. 31). 134 Pfeiffer, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.): Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 21 (S. 31); vgl. auch: Weick, in: Staudingers Kommentar BGB, § 13 BGB Rn. 6. 135 So sprechen Dauses und Sturm etwa davon, dass das gemeinschaftsrechtliche Verbraucherleitbild »kein klar umrissenes« sei [Dauses/Sturm, ZfRV 37 (1996), 133 (141)]. 136 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 7 Rn. 214 (S. 100); vgl. auch: Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Privatrechts, § 12 III. (S. 264 ff.). 137 Anders: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 7 Rn. 213 (S. 100).

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verschiedenen Prinzipien zusammenfaßt«.138 Ausgehend von der Annahme, dass Verbrauchergesetze als Institutionen, also als Systeme von Regeln und Normen begriffen werden können, entscheidet das Verbraucherleitbild eigenständig darüber, welche Verbrauchererwartungen »berechtigt« sind.139 Kraft rechtsprinzipieller Ausgestaltung kann es freiheitliche Ungleichbehandlungen rechtfertigen und ungeschriebene Ausnahmen zu den Grundfreiheiten qua eigener Geltungskraft begründen. 1. Verbraucherleitbild und Verbraucherbegriff In diesem Sinne will das Leitbild des Verbrauchers kein bloßes Abbild der Wirklichkeit oder schlichtes Produkt einfachgesetzlicher Maßnahmen sein, sondern bildet »eine normativ-typisierende Modell- oder Zielgröße zur inhaltlichen Kennzeichnung bestimmter Merkmale, namentlich von Kompetenzen bzw. Inkompetenzen von Verbrauchern«.140 Es beinhaltet ein Bild, »das sich der Normgeber von denjenigen Personen macht, denen der Verbraucherschutz zugute kommen soll«.141 Nicht zu verwechseln ist das Verbraucherleitbild vor diesem Hintergrund mit dem Verbraucherbegriff.142 Spricht der Verbraucherbegriff den subjektiven Geltungsbereich der verbraucherrechtlichen Vorschriften an, beschreibt das Verbraucherleitbild die kognitiven Eigenschaften und die intellektuellen Fähigkeiten, die typischerweise bei Verbrauchern vorausgesetzt werden dürfen.143 Es ist gleichbedeutend mit dem »Bild, welches sich der Gesetzgeber von den schutzwürdigen Rechtspersonen macht, denen er unter dem diffusen Schlagwort vom Verbraucherschutz seine Wohltaten angedeihen lässt«.144 Es betrifft die Charakterisierung und Mentalitätsbestimmung zur Gewinnung eines sachgerechten Regelungsmaßstabes, fragt aber nicht danach, wer überhaupt Verbraucher ist. Dementsprechend kann von der Abgrenzungsqualität des Verbraucherbegriffs nicht ohne weiteres auf den status quo des Leitbildverständnisses geschlossen werden. Denn das Verbraucherleitbild stellt in erster Linie ein Referenzmodell zur Verfügung. Es tritt – auch im Rahmen der Auslegung145 – als normativer Maßstab in Erscheinung und kann nicht bereits deshalb falsch sein, weil die bloße Möglichkeit besteht, dass es mit empirischen Befunden 138

Anders: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 7 Rn. 213 (S. 100). Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 4. Kap. C. V. (S. 111 ff.). 140 Damm, VersR 50 (1999), 129 (133). 141 Blaurock, JZ 54 (1999), 801 (802); ähnlich auch: Dreher, JZ 52 (1997), 167 (170). 142 Mohr, AcP 204 (2004), 660 (674, 675). 143 Wiedenmann, Verbraucherleitbilder und Verbraucherbegriff im deutschen und europäischen Privatrecht, D. (S. 198); Zwicker, Das europäische Verbraucherleitbild bei Finanzdienstleistungen, § 2 II. 2. (S. 12). 144 Dreher, JZ 52 (1997), 167 (170); vgl. auch: Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 4. Kap. B. III. 2. (S. 86 ff.); Denkinger, Der Verbraucherbegriff, 1. Teil D. I. 2. (S. 109 ff.). 145 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, 4. Kap. B. III. 2. (S. 87). 139

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

nicht übereinstimmt.146 Als Reflexionsmaßstab und Sachgrund der verfassungsrechtlichen Ungleichbehandlung stellt es entscheidende Weichen dafür, ob ein informatorischer, konstitutiver oder kompensatorischer Schwächerenschutz zur Verfügung zu stellen ist.147 Obwohl absolute Deckungsgleichheit mit dem Realtypus des Durchschnittsverbrauchers, wie er mit Hilfe von demoskopischen und sozial-empirischen Überlegungen zu ermitteln wäre, normativ nicht zu erlangen ist148, orientiert sich das Verbraucherleitbild in aller Regel an dem vermeintlichen Durchschnittsverbraucher, wobei es im Fokus seiner Leitbildbemühungen weder auf besonders schutzbedürftige noch auf besonders aufgeklärte Konsumentengruppen Rücksicht nimmt149. 2. Die Notwendigkeit perspektivischer Konzentration Um das Leitbild des Verbrauchers allerdings prinzipientauglich ermitteln zu können, müssen bestimmte Verwässerungs- und Ausbreitungstendenzen ausgeblendet werden, die sich daraus ergeben, dass das Verbraucherprivatrecht vielfach mit begriffsverwandten Rechtsbereichen in Verbindung gebracht wird – Rechtsbereiche, die mit dem Verbraucherrecht im engeren Sinne wenig gemeinsam haben. In einem sehr weitgehenden Umfang wird der Verbraucherschutz als Querschnittsmaterie und soziologische Strömung heute herangezogen, um auf diffuse gesellschaftliche Bereiche Einfluss auszuüben.150 Konstellationen, in denen der Verbraucher als Sachwalter von Gemeinbelangen auftritt, um kollektive Bürgerinteressen zu vertreten, werden mit dem eigentlichen Kernbereich vermischt, in dem der Verbraucher als Vertreter egoistischer Eigeninteressen tätig wird.151 Sollte Verbraucherschutz ursprünglich primär Konsum sichern, hat mit der wachsenden Ökologisierung auch der Umweltschutz Bedeutung gewonnen.152 Selbst so unterschiedliche Bereiche wie die Ernährungspolitik, die Lebens- und Arzneimittelüberwachung sowie die Wohnraummiete werden spätestens seit dem Übergang zur risikofreien Ge-

146 Zwicker, Das europäische Verbraucherleitbild bei Finanzdienstleistungen, § 2 II. 2. (S. 12). 147 Vgl. hierzu auch Micklitz’ Konzeptdifferenzierung: Micklitz, in: Rebmann/Säcker/ Rixecker (Hrsg.): MünchKomm-BGB, Vor §§ 13, 14 Rn. 67 ff. 148 Vgl. Doepner, WRP 43 (1997), 999 (1000). 149 Zwicker, Das europäische Verbraucherleitbild bei Finanzdienstleistungen, § 2 II. 2. (S. 12). 150 Für einen umfassenden Verbraucherschutz: von Hippel, Verbraucherschutz, § 1 II. (S. 21 ff.). 151 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, § 2 I. (S. 103, 104). 152 Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. II. (S. 14); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 V. 2. (S. 58, 59).

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sellschaft153 als Verbraucherschutzprobleme deklariert.154 Nicht »nur private, sondern auch öffentliche, dh nicht über den Markt bereitgestellte Güter« werden in seinen Schutzbereich einbezogen.155 Diese Bereichsausweitung kam bereits im ersten EWG-Verbraucherschutzprogramm vom 14. April 1975 zum Ausdruck, wonach »[d]er Verbraucher . . . jetzt nicht mehr lediglich als Käufer oder Benutzer von Gütern und Dienstleistungen für den persönlichen, familiären oder kollektiven Bedarf betrachtet [werden sollte], sondern . . . jemand [ist], der an allen Aspekten des sozialen Lebens, die unmittelbar oder mittelbar auf ihn als Verbraucher Auswirkungen haben können, Anteil nimmt«.156 Die weitläufige Verbindung des Verbraucherschutzes mit der Daseinsvorsorge, mit der Gesundheits-, Umwelt- und Sozialpolitik sowie mit Elementen der Bürgerwehr betrifft lediglich altruistische Interessen der Verbrauchergesellschaft157, die den Verbraucher nicht in seiner originären Konsumtionsrolle ansprechen158. Weil das Verbrauchervertragsrecht in erster Linie die individuell-verhandlungsbezogenen – egoistischen – Interessen des Verbrauchers und keine bürgeraltruistischen Aspekte schützen will, ist das Verbraucherleitbild, um einer Zerfaserung oder Verfälschung vorzubeugen, auf diejenigen Leitbilderwägungen zu konzentrieren, die den Schutz als Individuum im Blickfeld haben. 3. Das Verbraucherleitbild im primärrechtlichen Koordinatensystem Verallgemeinerungsfähige Anhaltspunkte, die im Hinblick auf das Verbraucherleitbild einen eigenständigen Aussagegehalt und nicht bloß eine »griffige Kurzformel« für die Praxis verkörpern159, bietet die Rspr. zur Warenverkehrsfreiheit. Zwar ist der Verbraucher weder in Art. 28 EG noch in Art. 30 EG als Schutzsubjekt ausdrücklich verankert. Dennoch sind der Rspr. zu den Grund153 Vgl. hierzu: Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, A. II. (S. 14, 15); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 V. 3. (S. 59–61). 154 Tonner, JZ 51 (1996), 533 (535); vgl. auch den Verbraucherschutzkatalog bei: K. Simitis, Verbraucherschutz, Schlagwort oder Rechtsprinzip?, II. Kap. (S. 21 ff.). 155 Schuhmacher, in: Krejci (Hrsg.), Hdb. zum Konsumentenschutzgesetz, 1. Kap. II. B. (S. 11); so auch: Stober, FS für Lukes (65. Gebtg.), S. 591 (S. 592). 156 Rat – Erstes Programm der EWG für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher v. 14. 04. 1975 – ABl. 1975 Nr. C 26 S. 2 Tz. 3; vgl. zur Terminologie in der jüngeren Vergangenheit: Kommission – Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, KOM(2002) 208 endgültig, Ziff. 1.2 (S. 6). 157 Vgl. hierzu Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, § 2 V. 2. (S. 58). 158 Schuhmacher, in: Krejci (Hrsg.), Hdb. zum Konsumentenschutzgesetz, 1. Kap. II. B. (S. 11). 159 So aber im Hinblick auf Leitbilder: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 7 Rn. 216 (S. 101).

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freiheiten substanzielle Kernaussagen zum Verbraucherleitbild zu entnehmen.160 Zurückzuführen ist dies auf die Rechtsfortbildung des EuGH, Handelsregelungen als gerechtfertigt erscheinen zu lassen, die eigentlich geeignet wären, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar, mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, aber diskriminierungsfrei in einem Notwendigkeitszusammenhang mit einem zwingenden Erfordernis des Allgemeinwohls stehen. Weil als Ausprägung des Verbraucherleitbilds gerade der »Verbraucherschutz« als zwingendes Allgemeininteresse anerkannt worden ist161 und jeder Mitgliedstaat bei der Auswahl zwischen mehreren zum Verbraucherschutz gleich geeigneten Mitteln aus Verhältnismäßigkeitsgründen auf Maßnahmen zurückgreifen muss, welche die Warenverkehrsfreiheit am wenigsten beschränken162 , spiegelt die Rspr. zu den Grundfreiheiten das empirisch-normative Eigenschaftsprofil des Verbrauchers anschaulich wider, ist für eine Induktion des Verbraucherleitbildes also geradezu prädestiniert.163 a) Verbraucherschutz als zwingendes Allgemeininteresse der Grundfreiheiten Den Dreh- und Angelpunkt der Rspr. zu den Grundfreiheiten bildet das Cassis de Dijon-Urteil aus dem Jahre 1978. Der Entscheidung lag ein Vorlageverfahren zugrunde, in dem die Klägerin des Ausgangsstreites, die Rewe-Zentral AG, eine Partie »Cassis de Dijon« von Frankreich nach Deutschland importieren wollte. Die deutsche Bundesmonopolverwaltung versagte ihr dies mit der Begründung, dass die Einfuhrware einen Alkoholgehalt von weniger als 20% aufwies, was den Verbrauchervorstellungen nach dem Branntweingesetz widerspreche.164

Der EuGH befand, dass die Einfuhrversagung der Bundesmonopolverwaltung einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit darstellte, der durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses nicht zu rechtfertigen war. Obwohl die Bun160 Im Überblick: Sack, WRP 44 (1998), 264 (266, 267); ders., GRUR 100 (1998), 871 (873); W.-H. Roth, VuR 22 (2007), 161 (163, 164); Seiler, Verbraucherschutz auf elektronischen Märkten, § 4 II. 2. (S. 159 ff.). 161 EuGH – Kommission/BRD (Reinheitsgebot) – Urteil v. 12. 03. 1987, Rs. 178/84 – Slg. 1987, 1227 Tz. 28 ff.; Drei Glocken & Kritzinger/Centro-Sud & Bolzano – Urteil v. 14. 07. 1988, Rs. 407/85 – Slg. 1988, 4233 Tz. 15 ff.; Kommission/BRD – Urteil v. 11. 05. 1989, Rs. 76/86 – Slg. 1989, 1021 Tz. 15 ff. 162 Vgl. EuGH – Buet/Ministère Public – Urteil v. 16. 05. 1989, Rs. 382/87 – Slg. 1989, 1235 Tz. 11; Kommission/Deutschland – Urteil v. 18. 09. 1986, Rs. 116/82 – Slg. 1986, 2519 Tz. 21; Hauer/Rheinland-Pfalz – Urteil v. 13. 12. 1979, Rs. 44/79 – Slg. 1979, 3727 Tz. 23; Rewe Zentral/Bundesmonopolverwaltung (Cassis de Dijon) – Urteil v. 20. 02. 1978, Rs. 120/78 – Slg. 1979, 649 Tz. 8. 163 Im Überblick: Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.): EU/EG, Art. 28 EG Rn. 214 ff. 164 EuGH – Rewe Zentral/Bundesmonopolverwaltung (Cassis de Dijon) – Urteil v. 20. 02. 1978, Rs. 120/78 – Slg. 1979, 649 Tz. 1–4.

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desregierung vorgetragen hatte, dass es sich bei Alkohol um den teuersten Likörbestandteil handelt, hielt der Gerichtshof ein Einfuhrverbot nicht für erforderlich, um den Verbraucher vor einem niedrigprozentigen und damit wirtschaftlich weniger werthaltigen und qualitativ minderwertigen Likör zu schützen.165 Aus Verbraucherschutzperspektive wäre eine ausreichende Etikettierung, etwa durch die Angabe von Herkunft und Alkoholgehalt auf der Verpackung des Erzeugnisses, weniger einschneidend und in gleicher Weise geeignet gewesen.166 Damit hat der EuGH den Auftakt zu der Leitbildeinführung des informierbaren Verbrauchers gegeben, »der die auf Waren angebrachten Angaben liest und in seinen Entscheidungsprozess mit einbezieht«.167 Dieses Leitbild hat der EuGH in einer Vielzahl von Urteilen bestätigt.168 Zur Konkretisierung haben insbesondere Entscheidungen aus den 1970er Jahren beigetragen, in denen sich der Gerichtshof mit verbraucherschützenden Produktinhaltsvorgaben auseinandersetzen musste. Gegenständlich bezogen sich diese Entscheidungen u. a. auf Verbote, Lebensmittel mit Obstessig- statt Weinessigsäure zu vertreiben169, Brot ohne einen bestimmten Anteil an Trockenmasseanteil in den Verkehr zu bringen170, Bier zu verkaufen, dessen Säuregehalt unter einem bestimmten Mindestsäuregehalt liegt oder nicht nach einer bestimmten Brauart gebraut ist171, und Milchpulver bzw. Kondensmilch anzubieten, die überwiegend aus Ersatzstoffen bestand172 . Außerdem befasste sich der Gerichtshof mit Verboten, Teigwaren zu vertreiben, die nicht mit Hartweizen gefertigt waren173, tief165 EuGH – Rewe Zentral/Bundesmonopolverwaltung (Cassis de Dijon) – Urteil v. 20. 02. 1978, Rs. 120/78 – Slg. 1979, 649 Tz. 14. 166 EuGH – Rewe Zentral/Bundesmonopolverwaltung (Cassis de Dijon) – Urteil v. 20. 02. 1978, Rs. 120/78 – Slg. 1979, 649 Tz. 13. 167 Zwicker, Das europäische Verbraucherleitbild bei Finanzdienstleistungen, § 5 I. 1. a) (S. 42). 168 EuGH – Rau Lebensmittelwerke/P. V. B. A. Smedt – Urteil v. 10. 11. 1982, Rs. 261/81 – Slg. 1982, 3961 Tz. 17; Strafverfahren Prantl – Urteil v. 13. 03. 1984, Rs. 16/83 – Slg. 1984, 1299; EuGH – Kommission/BRD – Urteil v. 04. 12. 1986, Rs. 179/85 – Slg. 1986, 3879; Strafverfahren van der Laan – Urteil v. 09. 02. 1999, Rs. C-383/97 – Slg. 1999, I0731 Tz. 43. 169 EuGH – Kommission/Italienische Republik – Urteil v. 09. 12. 1981, Rs. 193/80 – Slg. 1981, 3019; Strafverfahren Gilli & Andres – Urteil v. 26. 06. 1980, Rs. 788/79 – Slg.1980, 2071 Tz. 1, 2 und 7. 170 EuGH – Strafverfahren Fabriek – Urteil v. 19. 02. 1981, Rs. 130/80 – Slg. 1981, 527 Tz. 1, 2 und 12. 171 EuGH – Kommission/BRD (Reinheitsgebot) – Urteil v. 12. 03. 1987, Rs. 178/84 – Slg. 1987, 1227; Strafverfahren Kikvorsch – Urteil v. 17. 03. 1983, Rs. 94/82 – Slg. 1983, 947 Tz. 2, 12. 172 EuGH – Kommission/BRD – Urteil v. 11. 05. 1989, Rs. 76/86 – Slg. 1989, 1021; Kommission/Französische Republik – Urteil v. 23. 02. 1988, Rs. 216/84 – Slg. 1988, 793 Tz. 3, 16. 173 EuGH – Drei Glocken & Kritzinger/Centro-Sud & Bolzano – Urteil v. 14. 07. 1988, Rs. 407/85 – Slg. 1988, 4233.

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gefrorenen statt frischen Joghurt zu verkaufen174, Käse einzuführen, der einen bestimmten Fettgehalt nicht überstieg175, und Fleischerzeugnisse in den Verkehr zu bringen, die fleischfremde Stoffe enthielten176. Die entscheidende Leitaussage all dieser Urteile besteht darin, dass der Gerichtshof eine zwingende Regelung über die Produktzusammensetzung oder die Verpackungsform aus Gründen des Verbraucherschutzes immer dann für gerechtfertigt hält, wenn der Verbraucher über Informationsregeln ausreichend geschützt werden kann (sog. »Labelling«-Doktrin).177 Demnach reicht grundsätzlich die Verpfl ichtung zu einer produktbezogenen Information aus. Von Verbrauchern könne nicht nur »die Akzeptanz unbekannter Waren«, sondern auch »ein Mindestmaß an Kritikfähigkeit, soll heißen mehr als eine ›flüchtige‹ Betrachtungsweise der Werbeangaben« verlangt werden.178 Berechtigten Verbrauchererwartungen wird nach der »Labelling«-Doktrin ausreichend dadurch Rechnung getragen, dass auf der Warenetikettierung Art, Inhaltsstoffe und Eigenschaften der Produkte mitgeteilt werden. Auch für das Verbrauchervertragsrecht könnte dies als Postulat für einen Vorrang von Informationspfl ichten vor freiheitseinschneidenderen Widerrufsrechten und Inhaltsvorgaben gedeutet werden. b) Keine übertriebenen Anforderungen an Produktangaben Einen zweiten Leitgedanken zum informierbaren Verbraucher liefert der EuGH insofern, als an die auf der Etikettierung ausgewiesenen Produktangaben keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden dürfen. Der informierbare Verbraucher muss nicht mit allen, sondern nur mit produktwesentlichen Informationen versorgt werden.179 So darf neben einer hinreichenden Etikettierung aus dem Ursprungsmitgliedstaat für ein rechtmäßig in den Verkehr gebrachtes Produkt etwa allein wegen Überschreitung eines bestimmten Alkoholgehalts keine zusätzliche Etikettierung unter der Bezeichnung »Likeur« verlangt werden.180 Ein Etikettierungsschutz durch das Bestimmungsland wird stets überflüssig, wenn die Etikettierungsvorgaben des Ursprungs174 EuGH – Unternehmenssanierung Smanor – Urteil v. 14. 07. 1988, Rs. 298/87 – Slg. 1988, 4489. 175 EuGH – Ministere Public/Deserbais – Urteil v. 22. 09. 1988, Rs. 286/86 – Slg. 1988, 4907 Tz. 19. 176 EuGH – Kommission/BRD – Urteil v. 02. 02. 1989, Rs. 274/87 – Slg. 1989, 229 Tz. 13. 177 Dauses/Sturm, ZfRV 37 (1996), 133 (140); Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2. Teil 1. Abschnitt § 6 C. III. 3. c) (S. 131, 132); Reich, in: Reich/Micklitz (Hrsg.): Europäisches Verbraucherrecht, § 2 I. 4. b) (S. 86). 178 A. H. Meyer, WRP 39 (1993), 215 (223). 179 EuGH – Pall/Dahlhausen – Urteil v. 13. 12. 1990, Rs. C-238/89 – Slg. 1990, I-4827 Tz. 19. 180 EuGH – Strafverfahren Fietje – Urteil v. 16. 12. 1980, Rs. 27/80 – Slg. 1980, 3839 Tz. 12.

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landes einen zumindest äquivalenten Informationsgehalt aufweisen.181 Demzufolge dürfen solange keine zusätzlichen Informationsmaßnahmen ergriffen werden, als »die Angaben auf dem ursprünglichen Etikett des eingeführten Erzeugnisses einen Informationsgehalt haben, der zumindest die gleichen Informationen vermittelt und ebenso verständlich für die Verbraucher des Einfuhrstaates ist wie die nach den Vorschriften dieses Staates verlangte Bezeichnung«.182 Aus Verbraucherschutzgründen wäre es beispielsweise nicht zu rechtfertigen, dass der Einfuhrstaat das Inverkehrbringen einer in einem anderen Mitgliedstaat mit Pflanzenfett an Stelle von Butter und Eiern hergestellten Sauce béarnaise und Sauce hollandaise von einem zusätzlichen Hinweis auf die Verwendung von Pflanzenfett abhängig macht, obwohl das allgemeine Zutatenverzeichnis diese Angabe bereits enthält.183 Die Leitbildkoordinaten würden in ähnlicher Weise überschritten, wenn für die Verwendung des gelb färbenden Zusatzstoffes »E 160 F« in Keks- und Gebäckerzeugnissen ein besonderer Hinweis in Verbindung mit der Verkehrsbezeichnung verlangt werden würde.184 Im Hinblick auf das Verbrauchervertragsrecht soll an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass auch auf dessen Vorschriften die vorgenannten Leitbildvorgaben abfärben könnten, was die Informationspfl ichten der Timesharingrichtlinie, sogar vertragliche Nebeninformationen nicht nur in den vorvertraglichen Prospekt sondern auch in identischer Ausgestaltung in den eigentlichen Vertrag mit aufnehmen zu müssen185, in einem zweifelhaften Licht erscheinen ließe. c) Zugang zu wahren Informationen und situationsspezifi sche Leitbildfl exibilität Ebenfalls leitbildprägend ist die Aussage, dass dem informierten Verbraucher der Zugang zu wahren Informationen nicht versperrt werden darf. So hielt der Gerichtshof es beispielsweise für unzulässig, ein Werbeverbot aufzustellen, wonach bei einem Sonderangebot nicht die Dauer des Angebots angegeben und dem neuen niedrigeren der alte höhere Preis gegenüber gestellt werden 181 EuGH – Strafverfahren Fietje – Urteil v. 16. 12. 1980, Rs. 27/80 – Slg. 1980, 3839 Tz. 12. 182 EuGH – Strafverfahren Fietje – Urteil v. 16. 12. 1980, Rs. 27/80 – Slg. 1980, 3839 Tz. 12; vgl. auch: EuGH – Strafverfahren Robertson – Urteil v. 22. 06. 1982, Rs. 220/81 – Slg. 1982, 2349; Piageme/Peeters – Urteil v. 18. 06. 1991, Rs. 369/89 – Slg. 1991, I-2971; Strafverfahren Robertson – Urteil v. 22. 06. 1982, Rs. 220/81 – Slg. 1982, 2349 Tz. 11, 12. 183 EuGH – Kommission/BRD – Urteil v. 26. 10. 1995, Rs. C-51/94 – Slg. 1995, I-3559 Tz. 41. 184 EuGH – Kommission/BRD – Urteil v. 26. 10. 1995, Rs. C-51/94 – Slg. 1995, I-3559 Tz. 41. 185 Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Spstr. 1 Timesharingrichtlinie.

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darf.186 Auch ein Verbot des blickfangmäßigen Gegenüberstellens von alten und neuen Preisen sei zum Schutz des Verbrauchers nicht erforderlich, sofern Werbung betroffen sei, die in keiner Weise irreführe. Derartige Gegenüberstellungen können sehr nützlich sein, um es dem Verbraucher zu ermöglichen, seine Wahl in voller Kenntnis der Sachlage zu treffen187, sodass Vorschriften, die dem Verbraucher den Zugang zu vergleichbaren Informationen verwehren, nicht durch zwingende Erfordernisse des Verbraucherschutzes gerechtfertigt werden können.188 Zudem sind die leitbildorientierten Anforderungen, die der Gerichtshof an die Gesetzgebung stellt, keine »situationsunabhängig statischen«. Vielmehr richten sie sich nicht nur nach der Art des vertriebenen Produkts und nach der Beschaffenheit des betroffenen Wirtschaftssektors, sondern auch nach der Vorgehens- und Verhaltensweise des Unternehmers bei der Vertragsanbahnung. Als besonders sensiblen Bereich erkannte der EuGH beispielsweise den Markt für Edelmetalle an. Der Verbraucher könne in diesem Bereich leicht getäuscht werden und bedürfe bereits deshalb eines Schutzes, weil er nicht in der Lage sei, »durch Betasten oder Augenschein den genauen Feingehalt eines Gegenstandes aus Edelmetall zu bestimmen«.189 Überdurchschnittlich schutzbedürftig seien zudem Käufer von pädagogischem Material, da diese in der Regel eine Wissenslücke auffüllen wollten, also zu einem Bevölkerungskreis zählten, der einen Bildungsrückstand aufweise. Ihre Schutzbedürftigkeit potenziere sich, wenn es sich um einen Kauf von Unterrichtsmaterial in einer Haustürgeschäftesituation handele.190 Eine wesentliche Bedeutung für den Verbraucherschutz räumt der EuGH auch dem Banken- und Versicherungssektor ein, mit dem für den Verbraucher jeweils besondere Schutzbedürfnisse einhergingen.191 Dem Verbraucher falle es beispielsweise schwer, den Versicherungsbedingungen den Umfang der Deckung zu entnehmen192 , komplexe Anlageformen wie z. B. solche an Warenterminmärkten zu durchschauen193 und wesentliche Informationen wie z. B. sol186 EuGH – GB-INNO/Confederation du Commerce – Urteil v. 07. 03. 1990, Rs. 362/88 – Slg. 1990, I-667 Tz. 13 ff. 187 Schutzverband/Yves Rocher – Urteil v. 18. 05. 1993, Rs. C-126/91 – Slg. 1993, I-2361 Tz. 17. 188 EuGH – GB-INNO/Confederation du Commerce – Urteil v. 07. 03. 1990, Rs. 362/88 – Slg. 1990, I-667 Tz. 18. 189 EuGH – Strafverfahren Houtwipper – Urteil v. 15. 09. 1994, Rs. C-293/93 Tz. 14. 190 EuGH – Buet/Ministere Public – Urteil v. 16. 05. 1989, Rs. 382/87 – Slg. 1989, 1235. 191 EuGH – Parodi/Banque Albert de Bary – Urteil v. 09. 07. 1997, Rs. C-222/95 – Slg. 1997, I-3899 Tz. 22. 192 EuGH – Kommission/BRD – Urteil v. 04. 12. 1986, Rs. 205/84 – Slg. 1986, 3755 Tz. 30. 193 EuGH – Alpine Investments/Minister van Financien – Urteil v. 10. 05. 1995, Rs. C384/93 – Slg. 1995, I-1141.

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che über die Art der Einlagensicherung bei der Einrichtung eines Sparkontos richtig zu würdigen194. Bei dem Abschluss eines Vertrages über ein Hypothekendarlehen sei der Verbraucher beispielsweise anderen Risiken und damit einem größeren Schutzbedürfnis als bei der Anlage von Geld ausgesetzt.195 Dabei ist der höhere Verbraucherschutz nicht Folge fehlender Fachkompetenz, sondern Resultat des generell hohen Schadenspotenzials, der Komplexität der betreffenden Produkte und der schwierigen Situation des Verbrauchers, wenn er in sensiblen Märkten tätig werden möchte.196 Dass auch die Verhaltensweise des Unternehmers die erforderliche Schutzintensität beeinflussen kann, lässt sich den EuGH-Urteilen zu aggressiven Werbemaßnahmen entnehmen.197 Während die Phase der Vertragsanbahnung grundsätzlich im Verantwortungsbereich der Beteiligten liegt, hat der EuGH in den Urteilen Alpine Investments und Parodi zum Ausdruck gebracht, dass aggressive Werbemaßnahmen im Einzelfall verboten werden können. Zumindest in sensiblen Bereichen wie dem Versicherungs- oder Bankensektor, die für den Verbraucher wenig durchschaubar sind, müsse er vor aggressiver Werbung geschützt werden.198 In solchen Märkten bestehe traditionell eine größere informatorische Asymmetrie zwischen Verbraucher und Anbieter; zudem seien zukünftige Schäden schwerer abschätzbar und die sektorspezifi schen Vertragsabschlüsse wiesen oftmals Massecharakter auf.199 d) Das Leitbild des verständigen Durchschnittsverbrauchers Trotz der Sektorabhängigkeit der Leitbildaussagen wäre dem Prinzipiencharakter des Leitbilds nicht ausreichend Rechnung getragen, wenn man davon ausginge, dass in das Verbraucherleitbild je nach Schutzaspekt unterschiedliche Wertungen einfl ießen. Es wäre systematisch zu kurz gegriffen zu unterstellen, dass die Informationspfl ichten gegenüber Verbrauchern nicht Ausdruck des Verbraucherleitbilds selbst, sondern etwa im rechtsgeschäftlichen Verkehr auf dem Prinzip der wirtschaftlichen Selbstbestimmung beruhen und

194 Generalanwalt Léger - Schlussanträge Deutschland/Parlament u. Rat, Rs. C-233/94 – Slg. 1997, I-2405 Tz. 158, 159. 195 EuGH – Parodi/Banque Albert de Bary – Urteil v. 09. 07. 1997, Rs. C-222/95 – Slg. 1997, I-3899 Tz. 29. 196 Zwicker, Das europäische Verbraucherleitbild bei Finanzdienstleistungen, § 5 II. 6. a) (S. 84). 197 EuGH – Alpine Investments/Minister van Financien – Urteil v. 10. 05. 1995, Rs. C384/93 – Slg. 1995, I-1141; Parodi/Banque Albert de Bary – Urteil v. 09. 07. 1997, Rs. C222/95 – Slg. 1997, I-3899. 198 EuGH – Alpine Investments/Minister van Financien – Urteil v. 10. 05. 1995, Rs. C384/93 – Slg. 1995, I-1141 Tz. 46. 199 EuGH – Parodi/Banque Albert de Bary – Urteil v. 09. 07. 1997, Rs. C-222/95 – Slg. 1997, I-3899 Tz. 22; Kommission/BRD – Urteil v. 04. 12. 1986, Rs. 205/84 – Slg. 1986, 3755 Tz. 30, 31.

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

im Deliktsrecht auf dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes basieren. 200 Differenzierungs-, Sach- und Rechtfertigungsgrund für die normative Ungleichbehandlung, warum in einem Fall Informationspfl ichten bestehen und Rechtsgüterschutz gewährt wird, in anderen Fällen dagegen nicht, ist vielmehr das Verbraucherleitbild selbst als tonangebendes Typisierungsprinzip. Als Rechtsprinzip beansprucht es in gleicher Weise im Vertragsrecht Geltung, auch wenn der EuGH es bedingt durch die Vorgaben der Rechtsanwendung aus staatlichen Einfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung deduziert hat. Die Ausgangssituationen zwischen staatlichen Einfuhr- und Vertragsbeschränkungen mögen zwar sachbereichverschieden sein. Sie sind jedoch nicht derart wesensverschieden, dass es gerechtfertigt wäre, das Vertragsrecht dem rechtsordnungsimmanenten Prinzip der Leitbildaussagen zu entziehen. Gerade der EuGH selbst stellt in seinen Entscheidungen auf die Bedeutung des irreführenden Umstandes für den Vertragsabschluss ab. 201 Folglich können Maßnahmen, welche ein Mitgliedstaat der Einfuhr und dem Vertrieb von Waren und Dienstleistungen aus Verbraucherschutzgründen nicht entgegen setzen darf, genauso wenig zugelassen werden, um eine staatliche Intervention in das b2c-geprägte Vertragsverhältnis zu rechtfertigen. Um den Verbraucher nicht stärker vor Interventionen des Unternehmens als vor Interventionen des Staates zu schützen, ist ihm letztlich auch in Vertragsverhältnissen die Fähigkeit zuzusprechen, verständiger Verbraucher zu sein. 202 Exemplarisch hierfür ist die Mars-Entscheidung des EuGH 203, deren Ausgangssachverhalt darin bestand, dass auf der Verpackung von Eiskremriegeln der Aufdruck »+ 10% Eiskrem« angebracht war. Dieser Hinweis entsprach zwar der Wahrheit, nahm auf der Verpackung aber mehr Platz ein, als es einer 10%igen Erhöhung der Menge tatsächlich gleichwertig gewesen wäre. Den EuGH veranlasste dies festzustellen, dass »[v]on verständigen Verbrauchern . . . erwartet werden [könne], daß sie wissen, dass zwischen der Größe von Werbeaufdrucken, die auf eine Erhöhung der Menge des Erzeugnisses hinweisen, und dem Ausmaß dieser Erhöhung nicht notwendig ein Zusammenhang besteh[e].«204 Aussagen wie diese beanspruchen nicht nur für Handelsverkehrsbeschränkungen und wettbewerbsrelevante Werbemaßnahmen Geltung, 200

So aber: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 7 Rn. 215 (S. 101). Sack, GRUR 100 (1998), 871 (882); unter Hinweis auf: EuGH – Pall/Dahlhausen – Urteil v. 13. 12. 1990, Rs. C-238/89 – Slg. 1990, I-4827 Tz. 19. 202 Meller-Hannich, Verbraucherschutz im Schuldvertragsrecht, 2. Teil D. (S. 74, 75); ohne weitere Begründung eine Verallgemeinerung für problematisch haltend: Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 153 EGV Rn. 22. 203 EuGH – Verein gg. Unwesen in Handel u. Gewerbe/Mars – Urteil v. 06. 07. 1995, Rs. C-470/93 – Slg. 1995, I-1923. 204 EuGH – Verein gg. Unwesen in Handel u. Gewerbe/Mars – Urteil v. 06. 07. 1995, Rs. C-470/93 – Slg. 1995, I-1923 Tz. 24; vgl. zum Leitbild des verständigen Verbrauchers auch: 201

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sondern sind in gleicher Weise auch auf das Individualvertragsrecht anzuwenden. Wie die Leitbildaussagen auch im Vertragsrecht zum Einsatz gebracht werden können, lässt sich in ähnlich abstrakter Weise den Vorgaben der Estée Lauder-Entscheidung entnehmen. Der EuGH stufte in dieser Entscheidung ein Vertriebsverbot, wonach die Einfuhr und der Vertrieb kosmetischer Produkte wegen täuschungstauglicher Gleichstellung des Bezeichnungszusatzes »lifting« mit einem operativen Gesichtslifting als unverhältnismäßig ein, weil »die klinische oder medizinische Konnotation des Begriffs ›Clinique‹ angesichts der Tatsache, daß die betreffenden Erzeugnisse weder in Apotheken erhältlich noch als Arzneimittel aufgemacht sind« einen durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher nicht irreführen könnten. 205 Dies macht deutlich, dass das leitbildprägende Element der Verständigkeit durchgehend ein gewisses »Mindestmaß an Reflexionsfähigkeit und gesundem Menschenverstand voraussetzt«. 206 In diesem Sinne ist auch für das Vertragsrecht zu berücksichtigen, dass gemäß den Bestimmungen des EG-Vertrages grds. »auf die mutmaßliche Erwartung eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers« abzustellen ist. 207 4. Verbraucherschutz durch die Europäische Grundrechte-Charta (GRCh) Dass der Vertragsfreiheit des Verbrauchers eine andere Rechtsqualität als der Vertragsfreiheit des Unternehmers beizumessen ist, folgt darüber hinaus auch aus den grundrechtlichen Vorgaben. So werden zwar nicht nur professionelle, sondern auch privat agierende Teilnehmer am Geschäftsverkehr durch die Grundrechte in ihrer Vertragsabschluss- und Vertragsausübungsfreiheit geschützt. Während Verbraucher und privat handelnde Vertragspartner aber in Deutschland lediglich über das Auffangsgrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in ihrer Privatautonomie Schutz erfahren, können sich Unternehmer und alle sonstigen Berufstätigen im Rahmen ihrer berufsausübenden Tätigkeit auf das Sondergrundrecht auf Berufsfreiheit stützen (Art. 12 Abs. 1 GG). 208 Für ein Grundrecht auf unternehmerische Dispositionsfreiheit, dessen Rechtsgehalt aus Art. 2 Abs. 1 GG abzuleiten wäre, verEuGH – Verband sozialer Wettbewerb/Clinique & Estée Lauder – Urteil v. 02. 02. 1994, Rs. C-315/92 – Slg. 1994, I-317. 205 EuGH – Estée Lauder/Lancaster – Urteil v. 15. 06. 1998, Rs. C-220/98 – Slg. 2000, I-1891 2. Leitsatz. 206 Zwicker, Das europäische Verbraucherleitbild bei Finanzdienstleistungen, § 5 I. 2. a) (S. 53); kritisch zur Frage eines einheitlichen Verbraucherleitbilds der Grundfreiheiten: Sack, GRUR 100 (1998), 871 (879 ff.). 207 EuGH – Estée Lauder/Lancaster – Urteil v. 15. 06. 1998, Rs. C-220/98 – Slg. 2000, I-1891 Tz. 27; so auch: Mohr, AcP 204 (2004), 660 (675). 208 BVerfG – Urteil v. 09. 10. 2000, Az.: 1 BvR 1627/95 – GRUR 2001, 266 (266 ff.).

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

bleibt wegen des Vorrangs der speziellen Normen kaum ein Anwendungsbereich. 209 Die damit einhergehende Divergenz in der Reichtweite des jeweiligen Schutzbereichs gelangt anschaulich bereits darin zum Ausdruck, dass die Berufsausübungsfreiheit in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit nur auf der Grundlage von ausreichenden Gründen des Gemeinwohls – zu denen antagonistisch auch der Verbraucherschutz zählt – eingeschränkt werden kann 210, wohingegen die allgemeine Handlungsfreiheit unter dem weitergehenden Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung steht 211. Darüber hinaus wird ausschließlich der Verbraucherschutz mit der verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmung des Sozialstaatsprinzips in Verbindung gebracht. 212 In diesem Sinne werden ordnungspolitische Belange des Sozialstaates als Grundlage des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes aufgefasst, mit dem Ziel, den schwächeren oder weniger informierten Marktteilnehmer vor der Übervorteilung zu bewahren. 213 Dagegen nicht zum Tragen gelangt diese ordnungspolitische Komponente im Rahmen der unternehmerischen Handlungsfreiheit. Über kurz oder lang wird die Sonderrolle des Verbrauchers zudem durch die EU-Grundrechte Rückhalt erfahren. Zwar verbürgt Art. 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh), zumindest derzeit, kein subjektives Recht auf Verbraucherschutz, sondern rundet subjektiv-rechtliche Teilaspekte des Verbraucherschutzes – vergleichbar einer Staatszielbestimmung – objektiv-rechtlich ab. 214 Bereits jetzt aber wird Art. 38 GRCh eine »Leitbildfunktion für die Auslegung und Anwendung von Unionssekundärrecht« zugesprochen. 215 Diese könnte sich künftig an den Leitbildinhalt, wie er durch die Cassis-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten zum Ausdruck gelangt, anpassen und auf diese Weise dem Personenbild des verständigen Durchschnittsverbrauchers eine verfassungsrechtliche Grundlage geben.

209 Erichsen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.): Hdb. des Staatsrechts, § 152 Rn. 62 (S. 1212 f.). 210 BVerfG – Urteil v. 12. 12. 2006, Az.: 1 BvR 2576/04 – NJW 2007, 979 (980 ff.); Urteil v. 28. 03. 2006, Az.: 1 BvR 1054/01 – NJW 2006, 1261 (1263 ff.). 211 BVerfG – »Preisgesetz« – Beschluss v. 12. 11. 1958, Az. 2 BvL 4/56, 2 BvL 26/56, 2 BvL 40/56, 2 BvL 1/57, 2 BvL 7/57 – BVerfGE, 8, 274 (328). 212 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 3. Teil II. 2. b) bb) aaa) (S. 278); vgl. auch: BVerfG – »Bürgschaftsvertrag II« – Kammerbeschluss v. 05. 08. 1994, Az.: 1 BvR 1402/89 – NJW 47 (1994), 2749 (2750); »Bürgschaftsvertrag I« – Beschluss v. 19. 10. 1993, Az.: 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89 – NJW 1994, 36 (38). 213 Breuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.): Hdb. des Staatsrechts, § 148 Rn. 22 (S. 975); vgl. auch: BVerfG – Beschluss v. 25. 10. 1977 – »Margarinegesetz«, Az.: 1 BvR 173/75 – BVerfGE 49, 246 (257). 214 Pielow, in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europ. GRCh, Art. 38 Rn. 6; Riedel, in: Meyer (Hrsg.): Charta der Grundrechte der EU, Art. 38 Rn. 5. 215 Wichard, in: C. Calliess/Ruffert, EUV/EGV-Kommentar, Art. 38 GRCh Rn. 6.

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Art. 38 GRCh wurde anlässlich des Europäischen Rates von Nizza am 7. Dezember 2000 unterzeichnet und feierlich verkündet; er sieht vor, dass die Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellt. Auch wenn der Verbraucherschutz im Vergleich zu thematisch verwandten Vorschriften (Datenschutz, Informationszugang) verhältnismäßig spät in den Grundrechtekonvent Eingang gefunden hat 216, steht 38 GRCh systematisch in enger Verbindung mit der im EG-Vertrag enthaltenen Querschnittsaufgabe des »Verbraucherschutzes«. Durch die eng an Art. 153 EG angelehnte Formulierung wird dies unterstrichen. 217 Art. 38 GRCh verkörpert damit als Bestandteil des grundrechtlichen Wertekonsenses einen Ausläufer des primärrechtlichen Verbraucherleitbilds, der durchaus als Bekräftigung und Fortführung des verständigen Durchschnittsverbraucherprofils (Grundfreiheiten) aufgefasst werden kann. 5. Lokalisierung der Normvorgaben für das Verbraucherleitbild Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die empirischen Elemente des Verbraucherleitbildes – wenn man die höherrangigen Normen der Rechtsordnung durchleuchtet – in den Grundfreiheiten und Grundrechten zum Ausdruck gelangen. Aus welchen höherrangigen Regelungen kann der normative Aussagegehalt des Verbraucherleitbildes aber konkret abgeleitet werden? Oder anders gefragt: Kann das Verbraucherleitbild überhaupt aus einer oder mehreren bestimmten Normen deduziert werden? Bei dem Verbraucherschutz handelt es sich um ein von der Rechtsprechung anerkanntes zwingendes Allgemeininteresse bzw. um einen Grund des Gemeinwohls, der Freiheitsbeschränkungen legitimiert. Er stellt eine anerkannte Zielgröße dar, zu dessen Verfolgung nicht nur die Grundrechte – respektive das Grundrecht auf Berufsausübungsfreiheit –, sondern auch die Grundfreiheiten eingeschränkt werden können. Er bietet einen Maßstab, mit dem materiale Schutzräume in formale Freiheitsgewährleistungen »mit Fug und Recht« gemeißelt werden dürfen. Das Verbraucherleitbild fungiert in diesem Rahmen als personalisiertes Schutzprofi l, anhand dessen der typisierte Schutzbedarf konkret festgelegt werden kann. Weil der Verbraucherschutz ein normübergreifendes Allgemeininteresse ist, das Freiheitsgarantien üblicherweise antagonistisch gegenüber gestellt wird, lässt es sich nicht positiv über singuläre Freiheitsrechte lokalisieren, sondern nur negativ über legitime Beschränkungskonstellation konkretisieren – Beschränkungskonstellationen, wie sie von der Rechtsprechung wiederholt anerkannt wurden. Sowohl über die Grundfreiheiten als auch über die Grund216

Pielow, in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europ. GRCh, Art. 38 Rn. 1. Pielow, in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europ. GRCh, Art. 38 Rn. 1; vgl. auch: Wichard, in: C. Calliess/Ruffert, EUV/EGV-Kommentar, Art. 38 GRCh Rn. 2. 217

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

rechte (z. B. Art 12 Abs. 1 GG) tritt das Verbraucherleitbild als gerichtlich anerkanntes Marktteilnehmerprofi l in Erscheinung, das dem einfachen Gesetzgeber eine Hilfestellung gibt, Beschränkungsmaßnahmen zu fi xieren, die aus Verbraucherschutzgründen erforderlich sind. Normativ zum Ausdruck gelangt es letzten Endes über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wobei die Grundfreiheiten und Grundrechte lediglich als unterschiedliche Abbildungssphären zu begreifen sind. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass das Verbraucherleitbild nicht bestimmten höherrangigen Normen zugeordnet werden kann, sondern ein empirisches Marktteilnehmerprofi l darstellt, das bei der (richterlichen) Auslegung höherrangiger Freiheitsgarantien immer wieder als Rechtfertigungsmaßstab herangezogen wird und erst in Verbindung mit dem Übermaßverbot und konkreten Freiheitsbeschränkungskonstellationen Gestalt annimmt. III. Das Unternehmerleitbild als Personenbild des Handelsrechts Korrespondierend dazu ist auch das Unternehmerleitbild nicht lediglich als Zusammenfassung heterogener Wertungsaussagen zu begreifen. Auch seine Leitbildaussagen liefern prinzipielle Anhaltspunkte, warum einigen (unternehmerischen) Marktteilnehmern ein anderes Maß an individueller Freiheit zugesprochen wird als anderen (nicht unternehmerischen) Marktteilnehmern. Es handelt sich um »Wertungen, die . . . die geltende Rechtsordnung beherrschen«. 218 So stellen z. B. Art. 81 und 82 EG nur für Unternehmen, d. h. für alle Einheiten, die unabhängig von Rechtsform und Art der Finanzierung eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben 219, einen Maßstabskatalog der individuellen Freiheitsbeschränkung auf, von dem Verbraucher wiederum profitieren sollen. Ähnliche Abstufungen sind im Bereich der Grundfreiheiten festzustellen, wo Arbeitnehmer (Art. 39 EG) und selbständige Unternehmer (Art. 43 EG) eine andere Freiheitsbehandlung erfahren als Verbraucher und sonstige Unionsbürger. Die Antwort auf die Frage nach dem Sachgrund dieser Differenzierung besteht auch hier aus einem Leitbild, das sich aus dem Eigenschafts- und normativen Verhaltensmodell des geschäftsgewandten Unternehmers zusammensetzt (Unternehmerleitbild). Dieses muss lediglich aus der ratio legis und dem inneren Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung herausgebildet, erkannt und beim Namen genannt werden. Auch wenn es in unterschiedlichen Normzusammenhängen zum Einsatz gelangt, bringt es als Leitbild nicht le218

Canaris, WM 32 (1978), 686 (696). EuGH – Job Centre coop., Rs. 55/96 – Slg. 1997, I-7119 Tz. 21; Fédération Francaise des Societés d’Assurance,Rs. C-244/94 – Slg. 1995, I-4113 Tz. 14; SAT Fluggesellschaft/Eurocontrol, Rs. C-364/92 – Slg. 1994, I-43 Tz. 18; Höfner & Elser/Macrotron, Rs. C-41/90 – Slg. 1991, I-1979 Tz. 21; ebenso: Kommission – Entscheidung Karton, 94/601/EG – ABl. 1994 Nr. L 243 S. 1 Tz. 140. 219

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diglich einen bereichsabhängigen »Teil der maßgeblichen Wertungen« zum Ausdruck, sondern tritt selbst als eigenständiges Rechtsprinzip in Erscheinung. Mit prinzipientreuer Konstanz stellt es einen empirisch-normativen Sachgrund für freiheitliche Ungleichbehandlung zur Verfügung, und zwar unabhängig davon, ob es mit dem Korrespondenzprinzip der Wettbewerbsfreiheit, dem Vertrauensschutz oder der individuellen Vertragsfreiheit zusammentrifft. 220 1. Der Aussagegehalt des Unternehmerleitbilds Inhaltlich weicht das Unternehmerleitbild von dem grundsätzlichen Personenbild des BGB sowie den Aussagen des Verbraucherleitbilds nicht unerheblich ab, führt doch bereits der »Stand der Kaufleute« nicht umsonst »seine Bezeichnung nach einer rechtsgeschäftlichen Thätigkeit«221. Ähnlich wie das bürgerliche Personenbild des gemeinen Bürgers folgt auch das kaufmännische Personenbild dem homo oeconomicus, spricht allerdings nur die professionelle Seite dieses Personenbilds an. Frei nach Mises will der Kaufmann »jedes einzelne Geschäft mit dem höchsten erzielbaren Geldgewinn durchführen, er will so billig als möglich einkaufen, so teuer als möglich verkaufen«. 222 Im Sinne des Erwerbs- und nicht bloß des Bedarfsdeckungsprinzips trachtet er danach, »durch Fleiß und Aufmerksamkeit alle Fehlerquellen auszuschalten, damit der Erfolg seines Handelns nicht durch Unkenntnis, Nachlässigkeit, Irrtum u. dgl. mehr beeinträchtigt« wird. 223 Unverzichtbar für die Prägung des Unternehmerleitbilds sind diese Aspekte allerdings nicht. Zwar beruht die Kalkulation des Unternehmertypus weniger auf dem Einsatz knapp erzielter Ressourcen, als vielmehr auf der Anlage von Überschüssen, um im Idealfall noch größere Überschussgewinne einfahren zu können. Leitbildprägend sind aber nicht nur die Massenhaftigkeit der Rechtsgeschäfte und der spekulative Charakter des Handels, sondern auch die Berufsmäßigkeit der Kapitalansammlung und »die Funktion des Unternehmers im Volksganzen« (Krause). 224 Diese Betrachtung legt die Gleichstellung aller berufl ich am Markt Tätigen nahe, führen der Bauer und der Unternehmer doch in gleicher Weise ihre Tätigkeit zur »wirtschaftliche[n] Erhaltung des Volkes [Anm. d. Verf.: bzw. der »Volkswirtschaft«] durch[.], jeder auf seinem Gebiet, in seiner Weise, mit seinen Mitteln« (Krause). 225 Damit bilden neben 220

A. A.: Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, § 7 Rn. 215 (S. 100, 101). Heck, AcP 92 (1902), 438 (456). 222 Mises, Grundprobleme der Nationalökonomie, Bemerkungen zum Grundproblem der subjektivistischen Wertlehre, IV. (S. S. 168). 223 Mises, Grundprobleme der Nationalökonomie, Bemerkungen zum Grundproblem der subjektivistischen Wertlehre, IV. (S. S. 168). 224 Krause, ZHK 1938, 69 (127). 225 Krause, ZHK 1938, 69 (127). 221

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

der Gewinnorientierung an sich auch Art und Sinn der Markttätigkeit bezogen auf die Gemeinschaft ein Sachargument für die besondere Ausgestaltung des Handelsvertragsrechts. 226 Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass auch soziologische Erwägungen in einem engeren Sinne für das Unternehmerleitbild relevant seien, wäre gleichwohl zu weitgehend. Vielmehr würden Bestrebungen, den Unternehmer im Sinne einer »Lehre von der kaufmännischen Klugheit« (Thöls) zum homo sociologicus zu stilisieren 227, wiederum mit den handelsrechtlichen Paradigmen der Verkehrserleichterung kollidieren, nach denen der Bedarf nach Beschleunigung primär in der Zwecksetzung unternehmerischer Tätigkeit und weniger in den intellektuellen Sonderfähigkeiten der professionell Agierenden begründet ist. Beispiele unzulässiger Vermischungen zwischen dem, was idealiter sein sollte und dem, was soziologisch feststeht 228, spielten sich in der Vergangenheit etwa im schweizerischen Bundesrat ab, der 1879 die Ausweitung kaufmännischer Rechtsinstitute (ADHGB) auf das allgemeine Obligationenrecht (1881) mit der hohen Schulbildung und der geschäftlichen Begabung des schweizerischen Volkes rechtfertigte. 229 Ebenfalls in diese Richtung wies die Begründung der Redaktoren eines italienischen Handelsgesetzbuchs, die in ihrem Entwurf aus dem Jahre 1925 die Beibehaltung der Trennung von Handelsrecht und allgemeinem Schuldrecht mit dem Hinweis auf die vorwiegend bäuerliche Struktur mancher Regionen Italiens verteidigten. 230 2. Ableitung des Unternehmerleitbilds aus den Grundrechten Bleibt die zentrale Frage zu beantworten, aus welchen höherrangigen Rechtsordnungselementen normative Aussagen des Unternehmerleitbilds konkret abgeleitet werden können. a) Die unternehmerische Freiheit nach der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) Auf EU-Ebene sieht Art. 16 GRCh seit 2000 – wenn auch zunächst nur als soft law-Regelung – vor, dass die unternehmerische Freiheit nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelnen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten aner226

Krause, ZHK 1938, 69 (127). Thöl, Das Handelsrecht – Bd. 1, § 2 (S. 5, 7 ff.); zum Modellmensch des homo sociologicus vgl.: Richter R. /Furubotn, Neue Institutionenökonomik, I.14 (S. 47); Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1. größerer Teil, Einleitung II. 5. und 7. (S. 26 ff. und S. 41 ff.). 228 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1. Teil 3. Kap. I. (S. 29). 229 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 2. Teil 2. Abschnitt 3. Kap. III. 2. (S. 92). 230 Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 3. Teil 2. Abschnitt 2. Kap. II. (S. 154). 227

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kannt wird. Diese Regelung war in der vom Präsidium des Grundrechtekonvents herausgegebenen Grundrechtsliste zunächst nicht enthalten, wurde dann aber aufgenommen, um in der Charta auch die wirtschaftlichen Rechte zu berücksichtigen und nicht zu stark auf die Rechte von abhängig Beschäftigten abzustellen. 231 Sachlich erfasst Art. 16 GRCh nicht nur die Freiheit, eine Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit auszuüben, sondern bezieht sich auch auf die hier in Frage stehende Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit von Unternehmern. 232 In persönlicher Hinsicht gewährleistet Art. 16 GRCh die unternehmerische Betätigungsfreiheit für alle Selbstständigen, wobei sowohl natürliche als auch juristische Personen in seinen Schutzbereich fallen. 233 Die in Art. 16 GRCh kodifi zierte Garantie der unternehmerischen Freiheit ist in engem Zusammenhang mit der in Art. 15 GRCh gewährleisteten Berufsfreiheit und der in Art. 17 GRCh kodifi zierten Eigentumsfreiheit zu sehen. Gemäß Art. 15 GRCh hat jede Person das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. Für den Berufsbegriff fi ndet sich in der Rechtsprechung des EuGH zwar keine Defi nition. 234 Die Literatur geht in Anbetracht der bisherigen EuGH-Rechtsprechung jedoch davon aus, dass unter den Berufsbegriff jede »entgeltliche«, nicht nur vorübergehende, dem Erwerb dienende Tätigkeit fällt 235, sodass nach deutscher Diktion nicht nur Kaufleute, sondern auch Freiberufler und Landwirte unter den Berufsbegriff einzustufen sind. Flankierend zur Berufsfreiheit hat nach Art. 17 GRCh jede Person das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Bezüglich des Schutzes wohlerworbener vermögenswerter Rechte differenziert Art. 17 GRCh dabei nicht danach, von welcher natürlichen oder juristischen Person ein Eigentumsrecht zu welchem privaten oder unternehmerischen Zweck erworben worden ist. Während die unternehmerische Initiative über Art. 16 GRCh einen besonderen Schutz erfährt – also Unternehmer im Rahmen ihrer Vertragsabschlussund Vertragsinhaltsfreiheit einen spezifischen Freiheitsgrad zugesprochen erhalten – (Art. 16 GRCh), erfolgt der Schutz für den Bestand eines Vermögensguts unabhängig davon, ob der jeweilige Grundrechtsträgers Unternehmer oder sonstiger Marktteilnehmer ist bzw. zu einem privaten oder beruflichen Zweck er agiert (Art. 17 GRCh). 236

231 Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.): Charta der Grundrechte der EU, Art. 16 Rn. 4 ff.; Blanke, in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europ. GRCh, Art. 16 Rn. 1. 232 Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.): Charta der Grundrechte der EU, Art. 16 Rn. 11 ff.; Blanke, in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europ. GRCh, Art. 16 Rn. 10 f. 233 Ruffert, in: C. Calliess/Ruffert, EUV/EGV-Kommentar, Art. 16 GRCh Rn. 3. 234 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 4. Teil B. I. 2. (S. 133). 235 Blanke, in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europ. GRCh, Art. 15 Rn. 25 ff. 236 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 4. Teil C. III. (S. 163).

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

b) Die Rechtsprechung des EuGH zum unternehmerischen Grundrechtsschutz Weil mit der Europäischen Grundrechtecharta keine neue Ordnung entworfen, sondern das bestehende Gemeinschaftsrecht kodifi ziert und weiterentwickelt werden sollte, kommt der Rechtsprechung des EuGH für die Ausprägung des Unternehmerleitbilds maßgebliche Bedeutung zu. Zwar schützt der EuGH die Freiheit des Unternehmers nicht als Gesamtkonzept im Sinne einer umfassenden Freiheitsgarantie. Im Laufe seiner Rechtsprechung hat er jedoch diverse Teilaspekte des Grundrechtsschutzes hervorgebracht (Ausübung der Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit, Vertragsfreiheit, Wettbewerbsfreiheit), die gesamtbetrachtend als Ausläufer eines unternehmerischen Freiheitsprofi ls begriffen werden können. (1) Freiheit zur Ausübung einer Geschäftstätigkeit und Eigenverantwortung. Ein für den Wirtschaftsverkehr konstituierender Teilbereich des durch den EuGH entwickelten Schutzes unternehmerischer Interessen betrifft die Freiheit zur Ausübung einer Geschäftstätigkeit. Ein in diesem Zusammenhang oft zitiertes Urteil ist das Urteil J. Nold/Kommission. In diesem wandte sich die Firma Nold gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der eine neue Handelsregelung der Ruhrkohle AG genehmigt worden war. Diese ermöglichte es der Ruhkohle AG, die Firma Nold als Großhändler erster Hand aus dem Vertrieb mit Kohle auszuschließen. 237 Die Firma Nold rügte neben anderen Positionen, in ihrem Grundrecht auf Eigentumsschutz, der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung verletzt worden zu sein. Zwar verneinte der Gerichtshof apodiktisch eine Verletzung der geltend gemachten Grundrechtspositionen 238, erkannte implizit aber die Existenz eines unternehmerischen Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene an 239. Trotz der Knappheit seiner Ausführungen arbeitet der EuGH heraus, dass unternehmerische Freiheit nicht mit »Anspruch auf Protektionismus« gleichgesetzt werden kann, sondern »Freiraum zur Eigenverantwortlichkeit« bedeutet. Denn nach Ansicht des Gerichtshofs war es »[a]ngesichts der Veränderungen in der Wirtschaft, zu denen der Rückgang der Kohleerzeugung nötigte«, Sache der Firma Nold, »sich mit der neuen Lage auseinanderzusetzen und ihrerseits die unerlässlichen Umstellungen vorzunehmen«. 240

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EuGH – J. Nold/Kommission – Urteil v. 14. 05. 1974, Rs. 4/73 – Slg. 1974, 491 Tz. 1 ff. 238 EuGH – J. Nold/Kommission – Urteil v. 14. 05. 1974, Rs. 4/73 – Slg. 1974, 491 Tz. 14 f. 239 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 3. Teil A. II. 1. a) bb) (S. 94). 240 EuGH – J. Nold/Kommission – Urteil v. 14. 05. 1974, Rs. 4/73 – Slg. 1974, 491 Tz. 15.

§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung

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Das relativ hohe Maß an Eigenverantwortung, welches der Gerichthof Unternehmern auferlegt, fi ndet sich auch in der S. p. A. Eridania-Entscheidung wieder. 241 Dieser lag als Sachverhalt zugrunde, dass sich die Gesellschaft S. p. A. Eridania (Zuckerhersteller) gegen eine italienische Ministerialverordnung wehrte, mit welcher der Minister für Landwirtschaft die der Gesellschaft zugewiesene »Grundquote« zur Zuckerherstellung herabgesetzt und gleichzeitig die Produktionsquote für einen Konkurrenten erhöht hatte. Der EuGH hielt es für ausgeschlossen, dass die Beschneidung eines solchen Vorteils als Verletzung eines Grundrechts angesehen werden könne. Er begründete dies damit, dass sich ein Unternehmen »nicht auf ein wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung eines Vorteils berufen [könne], der sich für dieses Unternehmen aus der Einführung der Gemeinsamen Marktorganisation ergibt und der ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt zugute gekommen ist«. 242 In der Entscheidung Rau/Bundesanstalt bestätigte der EuGH den Grundsatz, dass Unternehmer auf existierende Marktorganisationen nicht – grundrechtlich geschützt – vertrauen können und weitete die Grundannahme, dass Unternehmer sich eigenständig auf sich ändernde Marktverhältnisse einstellen müssen, auch auf Marktteilnehmer aus, die an sich gar nicht unter die betreffende Marktorganisation fallen. 243 Im Ergebnis verneinte der Gerichtshof eine Verletzung der »Grundsätze der freien Berufsausübung, der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Wettbewerbsfreiheit«. 244 (2) Vertrauensschutz und Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit. Fortgeführt und zugleich weiterentwickelt hat der EuGH den Grundsatz, dass Unternehmer in ihrer grundrechtlichen Freiheit durch die Beibehaltung oder Änderung einer gemeinsamen Marktorganisation nicht beeinträchtigt werden können, in der Entscheidung Finsider/Kommission. 245 Diesem Verfahren lag als Sachverhalt zugrunde, dass der italienische Stahlerzeuger Finsider eine neue Walzstraße gebaut hatte, weil die damals geltenden EG-rechtlichen Regelungen eine Erhöhung der Produktionsquote im Anschluss an eine solche Baumaßnahme vorsahen. Wegen zwischenzeitlicher Änderung der gesetzlichen Lage lehnte die Kommission jedoch eine Produktionsquotenerhöhung ab, weshalb das Unternehmen Finsider eine Verletzung des Rechts auf wirt241 EuGH – S. p. A. Eridania/Minister für Landwirtschaft – Urteil v. 27. 09. 1979, Rs. 230/78 – Slg. 1979, 2749. 242 EuGH – S. p. A. Eridania/Minister für Landwirtschaft – Urteil v. 27. 09. 1979, Rs. 230/78 – Slg. 1979, 2749 Tz. 22. 243 EuGH – Rau/Bundesanstalt – Urteil v. 21. 05. 1987, Rs. 133 bis 136/85 – Slg. 1987, 2289 Tz. 18. 244 EuGH – Rau/Bundesanstalt – Urteil v. 21. 05. 1987, Rs. 133 bis 136/85 – Slg. 1987, 2289 Tz. 19. 245 EuGH – Finsider/Kommission – Urteil v. 19. 09. 1985, Rs. 63 und 147/84 – Slg. 1985, 2857.

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

schaftliche Betätigungsfreiheit vor dem EuGH rügte. 246 Der EuGH verneinte eine Grundrechtsverletzung wegen der vorgetragenen Rentabilitätserwägungen und stellte darauf ab, dass es dem Unternehmen durch die geänderte Rechtslage nicht versagt werde, die neue Anlage (wenn auch weniger rentabel) in Betrieb zu nehmen. 247 Eine Art »Wendepunkt« in der EuGH-Rechtsprechung zur unternehmerischen Eigentumsfreiheit wird in der Entscheidung Deutschland/Rat gesehen. 248 Mit der Anfechtungsklage in diesem Verfahren begehrte die Bundesrepublik Deutschland die Nichtigerklärung der Verordnung über die gemeinsame Marktorganisation für Bananen, die u. a. zu einer Beschränkung der Einfuhr von sog. »Drittlandsbananen« in die Bundesrepublik Deutschland führte. Die Bundesrepublik machte geltend, dass solche Unternehmer in ihrem Grundrecht auf freie Berufsausübung beeinträchtigt seien, deren Geschäftsbereich gerade auf den Import und den Vertrieb solcher Drittlandsbananen zugeschnitten war. 249 Der EuGH bestätigte zunächst, dass das Eigentumsrecht und die freie Berufsausübung zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehören, gleichwohl aber die »Ausübung des Eigentumsrechts und die freie Berufsausübung . . . im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation Beschränkungen unterworfen werden« könnten. 250 Die Beschränkungen müssten lediglich »tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet«. 251 Letztlich bemerkenswert ist die Entscheidung Deutschland/Rat insofern, als der EuGH im Grundsatz einen Eingriff in den Schutzbereich der unternehmerischen Berufsausübungsfreiheit bejaht, weil »die Einführung des Zollkontingents und des Mechanismus seiner Aufteilung tatsächlich die Wettbewerbsstellung insbesondere der Wirtschaftsteilnehmer auf dem deutschen Markt ändert«, und lediglich im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung den Eingriff für gerechtfertigt hält. 252

246 EuGH – Finsider/Kommission – Urteil v. 19. 09. 1985, Rs. 63 und 147/84 – Slg. 1985, 2857 Tz. 23. 247 EuGH – Finsider/Kommission – Urteil v. 19. 09. 1985, Rs. 63 und 147/84 – Slg. 1985, 2857 Tz. 24. 248 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 3. Teil A. II. 2. a) bb) (S. 100). 249 EuGH – Deutschland/Rat – Urteil v. 05. 10. 1994, Rs. C-280/93 – Slg. 1994, I-4973 Tz. 1 ff. 250 EuGH – Deutschland/Rat – Urteil v. 05. 10. 1994, Rs. C-280/93 – Slg. 1994, I-4973 Tz. 78. 251 EuGH – Deutschland/Rat – Urteil v. 05. 10. 1994, Rs. C-280/93 – Slg. 1994, I-4973 Tz. 78. 252 EuGH – Deutschland/Rat – Urteil v. 05. 10. 1994, Rs. C-280/93 – Slg. 1994, I-4973 Tz. 81 ff.

§ 21 Rechtsprinzipien – Maßstab freiheitlicher Ungleichbehandlung

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(3) Die Privatautonomie als notwendiger Bestandteil der unternehmerischen Freiheit. Die Freiheit der Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit setzt notwendig voraus, dass Unternehmer von ihrer Möglichkeit zur privatautonomen Vertragsbindung und -gestaltung frei Gebrauch machen können. 253 Auf diesen Zusammenhang zwischen unternehmerischer Freiheit und Vertragsfreiheit macht auch das Präsidium des Konvents in seinen Erläuterungen aufmerksam. 254 Der EuGH selbst hat in der Entscheidung Sukkerfabriken/Landwirtschaftsministerium implizit anerkannt, dass der Grundsatz der Vertragsfreiheit auf Gemeinschaftsebene existiert, auch wenn es im Ergebnis eine Verletzung dieses Grundsatzes in dem betreffenden Verfahren verneinte. 255 In Frage stand u. a. eine Regelung, welche den Mitgliedstaaten die Befugnis einräumte, Vorgaben für die Aufteilung der Zuckerrübenmenge auf der Grundlage eines gemeinschaftsweiten Quotensystems zuzuteilen. 256 Bislang war diese Aufteilung – abgesehen von grundlegenden Rahmenbedingungen – in den Aufgabenbereich der Unternehmer gefallen, welche die Aufteilung auf der Grundlage privatautonomer Gestaltung vorgenommen hatten. Der Gerichtshof erachtete die neue Regelung als grundrechtlich wenig problematisch, weil sie nicht darauf abzielte, die Vertragsfreiheit zu beschränken, sondern »lediglich präzisieren soll[te], dass die gemeinsamen Marktorganisationen einem Eingreifen der Mitgliedstaaten in den bezeichneten Fällen nicht entgegensteht [sic!]«. 257 Eine ausdrückliche Bekräftigung der (unternehmerischen) Vertragsfreiheit enthält die Entscheidung Spanien/Kommission, in welcher der EuGH feststellte, »daß das Recht der Parteien, von ihnen geschlossene Verträge zu ändern, auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit beruht und daher nicht eingeschränkt werden kann, wenn es keine Gemeinschaftsregelung gibt, die in dieser Beziehung besondere Beschränkungen festlegt«. 258 Indem Art. 16 GRCh nunmehr mit der unternehmerischen Freiheit einen besonderen Schutzbereich für die Vertragsfreiheit von Unternehmern bzw. Berufstätigen zur Verfügung stellt, macht er in vorliegendem Zusammenhang (Unternehmerleitbild) deut-

253

Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 3. Teil A. III. (S. 104). Abgedruckt in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europ. GRCh, Art. 15 Ziff. A. IV. vor Rn. 1. 255 EuGH – Sukkerfabriken/Landwirtschaftsministerium – Urteil v. 16. 01. 1979, Rs. 151/78 – Slg. 1979, 1. 256 EuGH – Sukkerfabriken/Landwirtschaftsministerium – Urteil v. 16. 01. 1979, Rs. 151/78 – Slg. 1979, 1 Tz. 2 ff. 257 EuGH – Sukkerfabriken/Landwirtschaftsministerium – Urteil v. 16. 01. 1979, Rs. 151/78 – Slg. 1979, 1 Tz. 19. 258 EuGH – Spanien/Kommission – Urteil v. 05. 10. 1999, Rs. C-240/97 – Slg. 1999, I6571 Tz. 99. 254

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4. Kapitel: Leitbilder – Legitimation ungleicher Ausgestaltung?

lich, dass die Privatautonomie des Unternehmers einen gehobenen Freiheitsgehalt verkörpert und eine ganz spezielle Schutzqualität genießt. 259 (4) Die Vertragsabschlussfreiheit als Ausfl uss der Berufsausübungsfreiheit. In der Annahme, dass die unternehmerische Freiheit zum Vertragsschluss qualifi ziert geschützt ist und einen gegenüber der Vertragsfreiheit von Nichtberufstätigen eigenständigen Rechtsgehalt aufweist, wird man durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs auch im Übrigen bestätigt. So brachte der EuGH etwa in der Entscheidung Jean Neu/Secrétaire d’État zum Ausdruck, dass die unternehmerische Freiheit zur »Wahl des Geschäftspartners« nicht wie bei sonstigen Bürgern bzw. Verbrauchern aus der allgemeinen Handlungsfreiheit abzuleiten ist, sondern eine Ausprägung der grundrechtlichen Freiheit zur Berufsausübung darstellt. Dem betreffenden Vorabentscheidungsverfahren lag als Sachverhalt zugrunde, dass der Staatssekretär für Landwirtschaft in Luxemburg eine Entscheidung erlassen hatte, wonach in Luxemburg ansässige Milcherzeuger 10% der Milchquote an eine nationale Reserve des Großherzogtums Luxemburg abführen mussten, falls sie einen Käuferwechsel im Rahmen ihrer Geschäftsbeziehungen (Auswahl einer anderen Molkerei) vollzogen. 260 Der Gerichtshof stellte fest, »daß die freie Berufsausübung, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes [. . .] zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, als einen besonderen Ausdruck die freie Wahl des Geschäftspartners umfasst«. 261 Dieses Wahlrecht wäre nach Ansicht des Gerichthofs nicht gewährleistet, wenn der auf Betreiben des Erzeugers eingetretene Wechsel in der Zugehörigkeit zu einer Molkerei vermittels der Zuweisung eines Teils der individuellen Referenzmenge des Erzeugers zur nationalen Reserve zu einer Kürzung dieser Referenzmenge führen könnte, während diese Kürzung nicht vorgenommen werden könnte, wenn der Erzeuger der gleichen Molkerei angeschlossen bleibt. Eine solche Regelung sei mit der Berufsausübungsfreiheit unvereinbar, weil sie den Erzeuger davon abhalten könne, den Käufer zu wechseln, um sich der Molkerei anzuschließen, die ihnen die günstigsten Konditionen bietet. 262

259 Vgl. Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 3. Teil A. III. (S. 104 ff.); a. A. scheinbar Schöbener/Stork, welche die Vertragsfreiheit dogmatisch in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit bzw. der Eigentumsgarantie (Art. 17 GRCh) bringen möchten: Schobener/Storck, ZEuS 7 (2004), 43 (57). 260 EuGH – Jean Neu/Secrétaire d’État – Urteil v. 10. 07. 1991, Rs. C-90/90 und C-91/90 – Slg. 1991, I-3617 Tz. 1 ff. 261 EuGH – Jean Neu/Secrétaire d’État – Urteil v. 10. 07. 1991, Rs. C-90/90 und C-91/90 – Slg. 1991, I-3617 Tz. 13. 262 EuGH – Jean Neu/Secrétaire d’État – Urteil v. 10. 07. 1991, Rs. C-90/90 und C-91/90 – Slg. 1991, I-3617 Tz. 13.

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Der EuGH setzt mit dieser Entscheidung die Vertragsfreiheit nicht nur in einen funktionalen Zusammenhang mit der Berufsausübungsfreiheit und macht implizit deutlich, dass die Vertragsabschlussfreiheit grundrechtlich bedingt bei Erwerbstätigen (Berufsfreiheit) eine andere Qualität besitzt als bei Nichterwerbstätigen (allgemeine Handlungsfreiheit). 263 Er gibt darüber hinaus auch zu verstehen, dass die Vertragsfreiheit eine »grundrechtliche« Freiheitsgarantie ist, die als Verkehrs- und Marktausübungsfreiheit Bestandteil und spezifische Ausprägung der berufl ichen Freiheitssphäre ist. 264 (5) Vertragsfreiheit und der Eigentumsschutz wohlerworbener Rechte. Dass Unternehmer in ihrer Vertragsabschluss- und Vertragsinhaltsfreiheit wegen des Grundrechts der Berufsfreiheit einem Sonderschutzregime unterliegen und lediglich auf der (verbleibenden) Ebene der Eigentums- und allgemeinen Handlungsfreiheit denselben Schutzbereichen wie Bürger und Verbraucher unterliegen, lässt auch die EuGH-Entscheidung von Deetzen/Hauptzollamt Oldenburg erkennen. 265 Gegenstand dieses Verfahrens war eine Vorlage des Finanzgerichts Hamburg, ob eine EWG-Verordnung zulässig ist, nach der die einem Milchbetrieb jeweils zugewiesene Reverenzmenge unter bestimmten Voraussetzungen beim Verkauf oder einer Verpachtung des Betriebs der europäischen Gemeinschaftsreserve zugeführt wird. 266 Ähnlich wie in der Entscheidung Biovilac/EWG kam der EuGH hier nicht auf die bei Unternehmern (als Ausfluss der Berufsfreiheit) spezifisch ausgeprägte Vertragsfreiheit zu sprechen, sondern prüfte und verneinte eine Verletzung der Eigentumsgarantie. 267 Letztlich ging es in beiden Entscheidungen nicht um Regelungen, die den Vertrag bzw. den Vertragsabschluss an sich betrafen, sondern um negative mittelbare Folgen (Stichwort: Verlust wohlerworbener Rechte), die lediglich an einen Geschäftsabschluss als Ereigniseintritt anknüpften. c) Die Unternehmerfreiheit in den EU-Mitgliedstaaten Ein Kerngehalt der unternehmerischen Freiheit ist auch den Verfassungstraditionen der einzelnen Mitgliedstaaten zu entnehmen. Für das Unternehmerleitbild aus Gemeinschaftsperspektive ist dies ebenfalls von Interesse, weil die 263

Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 3. Teil A. III. 2. b) (S. 109). Vgl. Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 3. Teil A. III. 2. b) (S. 109); zur Berufsfreiheit siehe auch: EuGH – Hauer/Rheinland-Pfalz – Urteil v. 13. 12. 1979, Rs. 44/79 – Slg. 1979, 3727. 265 EuGH – von Deetzen/Hauptzollamt Oldenburg – Urteil v. 22. 10. 1991, Rs. 44/89 – Slg. 1991, I-5119. 266 Zum Sachverhalt im einzelnen: EuGH – von Deetzen/Hauptzollamt Oldenburg – Urteil v. 22. 10. 1991, Rs. 44/89 – Slg. 1991, I-5119 Tz. 1 ff. 267 EuGH – von Deetzen/Hauptzollamt Oldenburg – Urteil v. 22. 10. 1991, Rs. 44/89 – Slg. 1991, I-5119 Tz. 26 ff.; EuGH – Biovilac/EWG – Urteil v. 06. 12. 1984, Rs. 59/83 – Slg. 1984, 4057 Tz. 22. 264

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mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen neben der EMRK als wesentliche Bezugsquellen der grundrechtlichen Entwicklung auf Gemeinschaftsebene fungieren. (1) Verfassungen mit ausdrücklicher Unternehmerfreiheitsgarantie. Die Verfassung des Königreichs Spanien aus dem Jahr 1978 erkennt die »Unternehmerfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft« ausdrücklich an (Art. 38 S. 1 spanVerf). Der öffentlichen Gewalt erteilt sie den Auftrag, die »Ausübung [der Unternehmerfreiheit] und die Erhaltung der Produktivität [zu gewährleisten und zu schützen], in Einklang mit den Erfordernissen der allgemeinen Wirtschaft und gegebenenfalls der Planung« (Art. 38 S. 2 spanVerf). Die Berufsfreiheit wird – ähnlich wie in der Europäischen Grundrechtecharta – in einem separaten Artikel geschützt (Art. 35 spanVerf). Der Anschein eines »besonders exponierten Schutzes unternehmerischer Tätigkeit durch die spanische Verfassung« sollte allerdings nicht überbewertet werden. 268 Denn zum einen handelt es sich bei der Unternehmerfreiheit nach der spanischen Verfassungsdogmatik gewissermaßen um ein »Grundrecht zweiter Klasse«. 269 Zum anderen wird in erster Linie die Aufnahme unternehmerischer Tätigkeit geschützt, wohingegen der vertragsrechtsrelevante Bereich der Ausübung unternehmerischer Tätigkeit lediglich als objektive institutionelle Garantie Schutz genießt. 270 Schutz erfährt die Unternehmerfreiheit auch in Italien, wo in Art. 41 Abs. 1 italVerf die »privatwirtschaftliche Initiative« als frei erklärt wird. Im Gegensatz zum spanischen Verfassungsrecht wird dabei nicht nur die Aufnahme, sondern auch die Ausübung der wirtschaftlichen Initiative als Grundrecht geschützt. 271 Neben der freiheitlichen Entscheidung des Einzelnen über Art, Umfang etc. der produzierten oder angebotenen Güter erfährt über dieses Grundrecht auch die Gewährleistung freien Wettbewerbs mit privaten Konkurrenten sowie die unternehmerische Vertragsfreiheit einen spezifischen Schutz. 272 Zwar werden vom persönlichen Schutzbereich freie »geistige« Berufe sowie abhängige und hoheitliche Tätigkeiten nicht erfasst. Im Übrigen wird aber 268

Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 1. (S. 61). Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 1. (S. 61); Ibler, JZ 54 (1999), 287 (289 ff.). 270 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 1. (S. 60 f.); Günter, Berufsfreiheit und Eigentum, 2. Kap. XI. 2. b) (S. 166 f.); Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien, 4. Kap. III. 3. b) hh) (S. 181 f.). 271 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 2. (S. 64); Stadler, Die Berufsfreiheit in der EG, V. Kap. 1. Abschnitt 9. b) (S. 293); Weber, Menschenrechte, 9. Kap. B. I. (S. 744). 272 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 2. (S. 64); zur Vertragsfreiheit: Ritterspach, EuGRZ 3 (1976), 118 (118 f.); Astuti, EuRGZ 8 (1981), 77 (81). 269

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jede Form von selbstständiger Betätigung handwerklicher bzw. gewerblicher Tätigkeit und das Betreiben von Handelsgesellschaften geschützt. 273 Der Unternehmerfreiheit in der italienischen Verfassung vergleichbar ist das Recht auf Schutz der privaten Wirtschaftsinitiative, wie es in der portugiesischen Verfassung geschützt wird. Art. 61 Abs. 1 portVerf sieht in diesem Zusammenhang vor, dass sich »die Wirtschaftsinitiative von Privaten« innerhalb »des in der Verfassung und im Gesetz festgelegten Rahmens . . . frei entfalten [kann], solange sie als Instrument dem kollektiven Fortschritt dient«. Zwar erfasst auch die hierin zum Ausdruck kommende Freiheitsgarantie neben der Aufnahme der wirtschaftlichen Betätigung die unternehmerische Tätigkeit an sich. 274 Ähnlich wie in Spanien handelt es sich aber auch in Portugal bei der Unternehmerfreiheit materiell um eine Grundrechtsgarantie zweiten Ranges. 275 Eine relativ extensive Schutzregelung bezüglich der Unternehmerfreiheit weist wiederum die luxemburgische Verfassung auf. Gemäß Art. 11 Abs. 5 gewährleistet sie »die Freiheit des Handelns und der Industrie sowie die Ausübung der freien Berufe und der landwirtschaftlichen Arbeit, vorbehaltlich der Einschränkungen, welche die gesetzgebende Gewalt festlegt«. 276 Mit einem inhaltlich vergleichbaren Wortsinn gewährleistet auch die irische Verfassung die Unternehmerfreiheit, allerdings nicht im systematischen Rahmen der allgemeinen klassischen Freiheitsrechte, sondern innerhalb der Grundsätze zur Sozialpolitik (Art. 45 irischVerf). Nach Art. 45 Abs. 3 irischVerf begünstigt und unterstützt der Staat die Privatinitiative in Industrie und Handel, sofern dies notwendig ist. (2) Die Unterenehmerfreiheit als Konglomerat mehrerer Grundrechtsgarantien. Zahlreiche andere europäische Verfassungen – allen voran das deutsche Grundgesetz – enthalten zwar keine gesonderte Grundrechtsnorm zur Gewährleistung der Unternehmerfreiheit, stellen aber über mehrere Einzelnormen einen besonderen Freiheitsgrad für die unternehmerische Betätigung zur Verfügung. Im Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes sind als relevante Grundrechte zum Schutz der spezifisch unternehmerischen Vertragsfreiheit die Freiheit des Berufs (Art. 12 GG), die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) und die wirtschaftliche Freizügig273 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 2. (S. 64); Stadler, Die Berufsfreiheit in der EG, V. Kap. 1. Abschnitt 9. b) (S. 293); Dicke, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftslenkung, 2. Kap. (S. 22 ff.); Weber, Menschenrechte, 9. Kap. B. I. (S. 744 f.). 274 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 3. (S. 65). 275 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 3. (S. 66). 276 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C. I. 4. (S. 67).

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keit (Art. 11 GG) zu nennen. Schon früh erkannte das BVerfG die Unternehmerfreiheit als einen Teilaspekt der Freiheitsgarantie des Art. 12 Abs. 1 GG an 277 und erklärte einen angemessenen Spielraum zur Entfaltung der Unternehmerinitiative für unantastbar278. Besonders anschaulich gelangt die vertragsrechtliche Sonderposition des Unternehmerleitbilds aber in der Verortung der Vertragsfreiheit in dem Grundrecht auf Berufsausübungsfreiheit zum Ausdruck. Zwar neigte das BVerfG in früheren Entscheidungen dazu, die Vertragsfreiheit als Teilgewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit unter Art. 2 Abs. 1 GG zu subsumieren 279, auch wenn dies teilweise darauf beruhte, dass keine Berufsträger in die einschlägigen Ausgangsverfahren involviert waren 280. Die nunmehr h. M. ordnet den Schutz der unternehmerischen Vertragsfreiheit wegen des Sachzusammenhangs zwischen der Bestätigung, Verträge abzuschließen, und anderen berufl ichen Einzelfreiheiten, aber vorrangig Art. 12 Abs. 1 GG zu. 281 Damit können sich allein Berufsträger auf einen besonderen Schutzbereich – demgegenüber das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit subsidiär ist – stützen, um Privatautonomie einzufordern. 282 Ähnlich ist die Ausgangssituation in Österreich, wo die unternehmerische Vertragsfreiheit zwar nicht explizit durch ein spezielles Grundrecht geschützt wird, aber Art. 6 Abs. 1 österStGG einen besonderen Schutztatbestand zur Verfügung stellt, wonach »[j]eder Staatsbürger« u. a. »unter den gesetzlichen Bedingungen jeden Erwerbszweig ausüben« kann. 283 Mit einem größeren Berufsbezug als in Österreich wird die unternehmerische Vertragsfreiheit wiederum in Schweden geschützt. Historisch bedingt 277 BVerfG – »Arbeitnehmer-Überlassung« – Urteil v. 04. 04. 1967, Az.: 1 BvR 84/65 – BVerfGE 21, 261 (266); vgl. auch: BVerfG – »Krankenhausfi nanzierungsgesetz« – Beschluss v. 12. 06. 1990, Az.: 1 BvR 355/86 – BverfGE 82, 209 (223 f., 229 f.); Beschluss v. 19. 11. 1985, Az. 1 BvR 38/78 – BverfGE 71, 183 (194 ff.); »Mitbestimmungsgesetz« – Urteil v. 01. 03. 1979, Az.: 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und 1 BvL 21/78 – BVerfGE 50, 290 (362 f.). 278 BVerfG – »Mitbestimmungsgesetz« – Urteil v. 01. 03. 1979, Az.: 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und 1 BvL 21/78 – BVerfGE 50, 290 (366); Beschluss v. 14. 10. 1970, Az.: 1 BvR 306/68 – BverfGE 29, 260 (267); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 33. 279 BVerfG – Beschluss v. 16. 05. 1961, Az.: 2 BvF 1/60 – BverfGE 12, 341 (347); »Mitbestimmungsgesetz« – Urteil v. 01. 03. 1979, Az.: 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und 1 BvL 21/78 – BVerfGE 50, 290 (327 f.). 280 BVerfG – »Grundstücksverkehrsgesetz« – Urteil v. 12. 01. 1967, Az.: 1 BvR 335/63 – BVerfGE 21, 87 (90 f.). 281 BVerfG – Urteil v. 09. 10. 2000, Az.: 1 BvR 1627/95 – GRUR 2001, 266 (266 ff.); Scholz, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 12 Rn. 123. 282 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil B. II. 3. b) (S. 49 f.); vgl. auch: Scholz, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 12 Rn. 122; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 80. 283 Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C II. 1. (S. 70 ff.).

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sind dort die Grundrechte keine klassischen Abwehrrechte, sondern vielmehr »schriftlich fi xierte, gesellschaftliche Wertekonsense bzw. Ausformulierungen bestimmter, gemeinschaftlich beschlossener Handlungsaufträge an Hoheitsträger«. 284 Zwar ist in Schwedens Verfassung keine ausdrückliche Garantie der Unternehmerfreiheit vorzufi nden; in der Fassung vom 1. Januar 1995 schützt sie jedoch die Freiheit unternehmerischer Betätigung zumindest mittelbar. So sieht § 20 schwVerf vor, dass »Einschränkungen des Rechts, Erwerb zu treiben oder einen Beruf auszuüben[,] nur vorgenommen werden [dürfen], um dringende öffentliche Interessen zu schützen und niemals zu dem einzigen Zweck, bestimmte Personen oder Unternehmen wirtschaftlich zu begünstigen«. Die in dieser Form geschützte Erwerbs- und Berufsfreiheit, die auch für die unternehmerische Vertragsfreiheit prägend ist, wird durch die wirtschaftsrelevanten Garantien des Eigentums (§ 18 schwVerf) und der Vereinigungsfreiheit (§ 14 Abs. 2 schwVerf) flankiert. 285 Andere europäische Grundrechtsordnungen wie die französische, englische, dänische, belgische und niederländische kennen zwar weder eine ausdrücklich kodifi zierte oder über die Berufsfreiheit ableitbare unternehmerische Freiheit, erkennen aber in anderer Weise (z. B. als richterlich entwickelter Rechtsgrundsatz) die Freiheit der spezifisch wirtschaftlichen Betätigung an. 286 Somit lassen sich gesamtbetrachtend auch den europäischen Verfassungen hinreichende Anhaltspunkte entnehmen, dass Berufstätigen bzw. Wirtschaftstreibenden eine andere – tendenziell mit einem liberaleren Ansatz grundrechtlich geschützte – Privatautonomie zuzusprechen ist als Bürgern und Verbrauchern. 3. Der negative Aussagegehalt der Cassis-Grundfreiheitendogmatik Prinzipielle Aussagen im Hinblick auf das Unternehmerleitbild lassen sich auch der Grundfreiheitendogmatik entnehmen. Zwar tritt das Unternehmerleitbild nicht derart offensichtlich wie das Verbraucherleitbild – nämlich nicht in Gestalt eines »zwingenden Allgemeininteresses« – über die Grundfreiheiten in Erscheinung. Zumindest mittelbar liefern die Grundfreiheiten jedoch leitbildrelevante Rückschlüsse, indem sie nur zur Verfolgung zwingender Gründe nichtwirtschaftlicher Art die Möglichkeit einer gerechtfertigten Grundfreiheitenbeschränkung vorsehen. 287 Nur bei unmittelbaren oder mittelbaren, 284

Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C II. 3. (S. 75). Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C II. 3. (S. 75 f.). 286 Vgl. im Überblick: Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, 2. Teil C III. (S. 78 ff.). 287 Vgl. hierzu die ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestände der Art. 30 EG, Art. 39 Abs. 3 und 4 EG, Art. 45, 46, Art. 55 EG, Art. 58 EG sowie die immanenten Schranken der Cassis-Dogmatik (Rechtsfortbildung des EuGH); zu den Rechtfertigungsgründen der Cassis-Formel im Überblick: Kingreen, in: C. Calliess/Ruffert, EUV/EGV-Kommentar, Art. 28–30 EGV Rn. 80 ff. 285

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tatsächlichen oder potenziellen Beschränkungen des zwischenstaatlichen Handelsverkehrs, die etwa dem Verbraucherschutz, der Lauterkeit des Handelsverkehrs, einer wirksamen steuerlichen Kontrolle oder wichtigen (nichtwirtschaftlichen) Grundrechten notwendig dienen, können Grundfreiheitenbeschränkungen gerechtfertigt werden. 288 Rein berufsorientierte, erwerbswirtschaftlich geprägte Lebensbereiche unterliegen dagegen vorbehaltslos den grundfreiheitlichen Beschränkungsverboten. Auf diese Weise wird der »beschränkbare« Vertragsverkehr der Bürgerund Verbrauchergeschäfte dem »nicht beschränkbaren« Vertragsverkehr von Unternehmern und Professionsträgern implizit gegenüber gestellt. Folgenden Umkehrschluss erlauben die Grundfreiheiten somit: Zumindest dadurch, dass im Bereich der Grundfreiheiten weder ausdrückliche noch immanente Rechtfertigungstatbestände im Hinblick auf die (i. d. R. rein wirtschaftlichen) Interessen des Unternehmertypus eingreifen, trifft der EG-Vertrag implizit Systemaussagen, die auf Konturen eines besonders liberal geprägten Unternehmerleitbilds schließen lassen. Indem die ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestände des EG-Vertrages (Art. 30, Art. 45, 46 EG etc.) und die Rechtsfortbildung der Cassis-Rechtsprechnung gerade auf Gründe nichtwirtschaftlicher Art abstellen, um den Handelsverkehr einzuschränken, perpetuieren sie einen negativen Profi labdruck der entgegengesetzt auf Ökonomisierung abzielenden Unternehmertypisierung. Dadurch also, dass Gründe, die im Interesse des Unternehmers stehen, eine Grundfreiheitenbeschränkung gerade nicht rechtfertigen können, produzieren die Grundfreiheiten in ihrer Grundkonzeption (d. h. ohne Berücksichtigung von Rechtfertigungstatbeständen) einen auf Liberalisierung angelegten Leitbildrahmen. 4. Die freiheitswahrende Funktion der Wettbewerbsregeln Noch deutlichere Anhaltspunkte für ein vertragsrechtliches Unternehmerleitbild lassen sich den EG-Wettbewerbsregeln entnehmen. Während die Grundfreiheiten den Unternehmer davor bewahren wollen, dass ein Hoheitsträger – beispielsweise ein Mitgliedstaat – in seine (Vertrags-) Freiheit eingreift, sollen die EG-Wettbewerbsregeln ihn davor schützen, dass seine (Vertrags-) Freiheit durch Maßnahmen anderer Unternehmen verkürzt werden könnte. 289 Nach Art. 81 Abs. 1 EG sind mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten alle kooperativen Maßnahmen zwischen Unternehmen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Wettbewerbsbeschränkung innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder 288 Hierzu m. w. N.: Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.): EU/EG, Art. 28 EG Rn. 186 ff. 289 Schröter, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.): EU/EG, Vorbem. zu den Artikeln 81 bis 89 EG Rn. 13.

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bewirken. Zulässig sind derartige Maßnahmen nach dem ausdrücklichen Rechtfertigungstatbestand des Art. 81 Abs. 3 EG u. a. nur dann, wenn Marktteilnehmer mit nicht professioneller Zwecksetzung – nämlich Verbraucher – am Gewinn beteiligt werden. Ebenfalls verboten ist nach Art. 82 EG die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen. Resultiert eine Wettbewerbsbeschränkung daraus, dass ein oder mehrere Unternehmen an den Abschluss von Verträgen die Bedingung knüpfen, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen, führt dies nach Art. 81 Abs. 1 lit. e) EG bzw. Art. 82 S. 2 lit. d) EG zur Unwirksamkeit einer derartigen Vereinbarung bzw. zur Unzulässigkeit einer derartigen Maßnahme. Während zwischen Verbrauchern auch derartige Vereinbarungen zumindest kartellrechtlich nicht verboten wären, bringen die Wettbewerbsregeln in Bezug auf Unternehmen zum Ausdruck, dass ein bestimmtes Mindestmaß an liberalem Bewegungsspielraum stets erhalten bleiben muss, damit Wettbewerb zwischen Unternehmen bewahrt und entwickelt werden kann. Zudem können privat agierende Bürger bzw. Verbraucher durch staatliche Zuschüsse auch grundsätzlich unterstützt werden, selbst wenn damit eine Stärkung beim Abschluss oder bei der Durchführung von Verträgen einhergehen sollte. Dagegen sind staatliche Beihilfen, die Unternehmer (im Vertragsverkehr) begünstigen, nach Art. 87 EG in weitem Maße unzulässig, jedenfalls soweit sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen. Damit gelangt auch über die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages zum Ausdruck, dass die unternehmerische (Vertrags-) Freiheit stets eine besonders liberale und qualifi zierte sein muss. Sie dient keinem Selbstzweck, sondern soll stets auch den unverfälschten Wettbewerb bewahren. 290 Einer dominierenden Stellung von einzelnen oder mehreren Unternehmen oder einer Kartellierung von Unternehmen soll vorgebeugt werden, um die Kräfte des freien Marktverkehrs zu erhalten und letztlich auch den Verbraucher als Abnehmer auf der Marktgegenseite hiervon profitieren zu lassen. 291 5. Das Unternehmerleitbild des umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers Was die inhaltliche Konkretisierung des normativen Unternehmerleitprofi ls anbelangt, lassen sich ebenfalls der EuGH-Rechtsprechung präzisierende Vorgaben entnehmen. Der Gerichtshof nahm in seiner Rechtsprechung bereits wiederholt auf den Typus des »umsichtigen Unternehmers« bzw. »umsichtigen 290 Mestmäcker, JZ 19 (1964), 441, 442 ff.; aus nationalökonomischer Sicht: Herdzina, Wettbewerbspolitik, Ziff. 1.2.1 (S. 12 ff.). 291 Zum Wettbewerbs- bzw. Effi zienzprinzip aus Verbraucherperspektive: Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, 2004, 195 ff.

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Wirtschaftsteilnehmers« Bezug, um unbestimmte Rechtsbegriffe auszufüllen und differenzierte Eigenschaftsmuster zu entwickeln. 292 Verallgemeinerungsfähige Grundsätze zu dem unternehmerischen Leitbildprofi l hat der EuGH vor allem im Bereich von währungspolitischen Ausgleichsbeträgen sowie bei der Gewährung von Ausfuhrlizenzen und staatlichen Beihilfen aufgestellt, wo sich für Unternehmer häufig die Frage des Vertrauensschutzes stellt. 293 Im Urteil UNCAC/Kommission hatte etwa die französische Union Nationale des Coopératives Agricoles de Céréales (UNCAC) mit dem polnischen Unternehmen Rollimpex einen Ausfuhrvertrag über 35.000 Tonnen europäische Gerste geschlossen. 294 Im einzelnen hatte die UNCAC bei der vertraglichen Festsetzung von Preis und Konditionen mit der zu diesem Zeitpunkt in Geltung befi ndlichen Berechnungsmethode der Ausgleichsbeträge für landwirtschaftliche Ausfuhren kalkuliert. Nach Abschluss des Ausfuhrvertrages änderte der Rat die Berechnungsmethode der Ausgleichsbeträge zu Lasten der UNCAC, woraufhin die UNCAC unter Berufung auf Vertrauensschutz Schadensersatz forderte.

Den EuGH veranlasste dies, mit dem Leitbild des »umsichtigen Unternehmers« zu argumentieren und festzustellen, dass es »für einen umsichtigen Unternehmer zumindest klar erkennbar [hätte] sein [müssen], dass die Einführung einer neuen Berechnungsmethode unmittelbar bevorstand«. 295 Demgemäß käme eine Haftung der Gemeinschaft – wie der EuGH in dem nachfolgenden Urteil Merkur Außenhandel klargestellt hat – grds. nur dann in Betracht, wenn die Abschaffung oder Änderung von Ausgleichsbeträgen »für einen umsichtigen Wirtschaftsteilnehmer nicht vorhersehbar« sei. 296 Im Urteil ODS/Landbrugsministeriet konkretisierte der EuGH den Eigenverantwortungsgrad des typischerweise umsichtigen Unternehmers. 297 Ein Unternehmer hatte die Verlängerung einer Ausfuhrlizenz beantragt, weil er infolge eines sich bereits bei ursprünglicher Beantragung anbahnenden Streiks in Dänemark nur eingeschränkt von dieser Ausfuhrlizenz Gebrauch machen konnte. 298 Der EuGH stellte fest, dass die Streikbeeinträchtigungen keinen unvorhersehbaren und ungewöhnlichen Charakter 292 Vgl. EuGH – Pall/Dahlhausen – Urteil v. 13. 12. 1990, Rs. C-238/89 – Slg. 1990, I4827 Tz. 21. 293 EuGH – UNCAC u. a./Kommission – Urteil v. 10. 12. 1975, verb. Rs. 95 bis 98/74, 15 und 100/75 – Slg. 1975, 1615 Tz. 38/41. 294 EuGH – ODS/Landbrugsministeriet – Urteil v. 07. 05. 1991, Rs. C-338/89 – Slg. 1991, I-2315 Tz. 21; Merkur Außenhandel/Kommission – Urteil v. 08. 06. 1977, Rs. 97/76 – Slg. 1977, 1063 Tz. 5; UNCAC u. a./Kommission – Urteil v. 10. 12. 1975, verb. Rs. 95 bis 98/74, 15 und 100/75 – Slg. 1975, 1615 Tz. 38/41. 295 EuGH – UNCAC u. a./Kommission – Urteil v. 10. 12. 1975, verb. Rs. 95 bis 98/74, 15 und 100/75 – Slg. 1975, 1615 Tz. 38/41. 296 EuGH – Merkur Außenhandel/Kommission – Urteil v. 08. 06. 1977, Rs. 97/76 – Slg. 1977, 1063 Tz. 5. 297 EuGH – ODS/Landbrugsministeriet – Urteil v. 07. 05. 1991, Rs. C-338/89 – Slg. 1991, I-2315. 298 EuGH – ODS/Landbrugsministeriet – Urteil v. 07. 05. 1991, Rs. C-338/89 – Slg. 1991, I-2315 Tz. 6 ff.

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gehabt hätten, sodass sie in den Risikobereich des Konservenfabrikanten fielen. Als ungewöhnlich hätte der Streik nur dann erachtet werden können, wenn er »von einem umsichtigen und mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns handelnden Unternehmer als unwahrscheinlich« hätte angesehen werden müssen 299, was jedoch nicht der Fall gewesen sei. 300 Auch der Beihilfenrechtsprechung des EuG sind ähnliche Anhaltspunkte zu entnehmen: Nur »außergewöhnliche Umstände« könnten ein schutzwürdiges Vertrauen eines Unternehmers auf die Ordnungsmäßigkeit einer Beihilfe begründen. 301 Dies setze regelmäßig voraus, dass eine Beihilfe unter Einhaltung des Verfahrens nach Artikel 88 EG gewährt worden sei, müsse sich ein »umsichtiger Wirtschaftsteilnehmer« doch »normalerweise vergewissern . . ., ob dieses Verfahren beachtet worden [sei]«. 302

Mit Erwägungen wie diesen orientiert sich der EuGH zunehmend an dem »normativen Leitbild eines dynamischen eigenverantwortlichen Unternehmers«, dessen auf den Markt gerichtete Tätigkeit unabhängig von dem Umstand ist, ob die ausgeübte wirtschaftliche Aktivität in ihrer Durchführung privatrechtlich, öffentlich-rechtlich oder freiberufl ich ist. 303 Damit ist das Leitbild des Unternehmers, das der EuGH zeichnet, nicht mehr »durch heteronome Vorgaben ständischer Korporationen im Rahmen staatlicher Aufgabenzuweisung« begrenzt, sondern vorwiegend geprägt durch das unternehmerische Modell der Marktpräsenz. 304 6. Keine Gleichsetzung von Leitbild und Kaufmannsprofil Die vorstehenden Leitbilderwägungen demonstrieren, dass das Unternehmerleitbild nicht simplifi zierend gleichgestellt werden kann mit dem tatsächlichen Marktteilnehmerprofi l, welches dem Adressatenkreis des HGB – den Kaufleuten – zugrunde liegt. 305 Denn im Gegensatz zum handelsrechtlichen Unternehmerleitbild, das Gegenstand originärer Erkenntnis ist, ist das HGB nicht mehr als ein Produkt von Gesetzgebungshoheit und handwerklicher Gesetzgebungstechnik. 306 Dies hat zur Folge, dass der Kaufmannsbegriff genauso wenig wie der Unternehmensbegriff (Art. 81, 82 EG), der Begriff des selbststän299 EuGH – ODS/Landbrugsministeriet – Urteil v. 07. 05. 1991, Rs. C-338/89 – Slg. 1991, I-2315 Tz. 21. 300 EuGH – ODS/Landbrugsministeriet – Urteil v. 07. 05. 1991, Rs. C-338/89 – Slg. 1991, I-2315 Tz. 21. 301 EuG – Alzetta Mauro u. a./Kommission – Urteil v. 15. 06. 2000, verb. Rs. T-298/97, T-312/97, T-313/97, T-315/97, T-600/97 bis 607/97, T-1/98, T-3/98 bis T-6/98 und T23/98 – Slg. 2000, II-2319 Tz. 171. 302 EuG – Alzetta Mauro u. a./Kommission – Urteil v. 15. 06. 2000, verb. Rs. T-298/97, T-312/97, T-313/97, T-315/97, T-600/97 bis 607/97, T-1/98, T-3/98 bis T-6/98 und T23/98 – Slg. 2000, II-2319 Tz. 171. 303 Micklitz/Keßler, WRP 49 (2003), 919 (924, 925); zum Unternehmerleitbild aus Verbrauchersicht: Sack, WRP 44 (1998), 264 (268); ders., GRUR 100 (1998), 871 (880). 304 Micklitz/Keßler, WRP 49 (2003), 919 (925). 305 Raisch, JA 32 (1990), 259 (261). 306 K. Schmidt, JuS 25 (1985), 249 (250).

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dig Erwerbstätigen (Art. 43) oder der Begriff des Arbeitnehmers (Art. 39 EG) als Sinnbild des Unternehmertypus, sondern lediglich als dessen positivrechtliche Abbildung begriffen werden kann. Bereits dem Gesetzeswortlaut lässt sich entnehmen, dass insbesondere der Kaufmannsbegriff keine »vorgesetzliche«307, sondern lediglich eine unter mehreren denkbaren Typisierungsmöglichkeiten unternehmerischer Verkehrs- und Marktteilnahmebedürfnisse bildet, die einer verifi zierenden Legitimationsprüfung am zugrunde liegenden Leitbildprinzip nicht entzogen sein kann. So nimmt etwa § 2 S. 2 HGB neben Kaufleuten noch auf andere (leitbildäquivalente) Unternehmer Bezug, indem er den Kleingewerbetreibenden als »Unternehmer« bezeichnet und ihn nur dann zum Kaufmann stilisiert, wenn er für sein Unternehmen »nach den für die Eintragung kaufmännischer Firmen geltenden Vorschriften« die Eintragung in das Register herbeiführt. Auch durch den weiter gefassten Unternehmerbegriff des Handelsvertreterrechts, der seit der Gesetzesnovelle von 1953 auch Nichtkaufleute erfasst308, wird deutlich, dass das Kaufmannsrecht nur einen – möglicherweise unvollständigen – Ausschnitt des Unternehmerleitbilds verkörpert. 309 Von Unternehmern, die keine Kaufleute sind, ist ausdrücklich in § 91 Abs. 1 HGB sogar die Rede. Darüber hinaus demonstrieren neben dem EG-rechtlich harmonisierten UStG (das in § 2 Abs. 1, § 6a Abs. 4, § 25d Abs. 1 UStG jedem gewerblich und berufl ich Selbstständigen die »Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns« abverlangt), und § 9a Abs. 3 GmbHG (der die »Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns selbst von Gesellschaftern und Geschäftsführern einfordert) auch die steuerrechtlichen Buchführungspfl ichten, dass nicht primär die Kaufmannseigenschaft, sondern neben anderen Aspekten auch eine bestimmte Höhe des Gesamtumsatzes, des Betriebsvermögens oder des Gewerbeertrags unternehmerische Kardinalpfl ichten begründen können (§ 141 AO). 310 Ganz ähnlich vom Betrieb her wird das Unternehmerleitbild durch die gesetzliche Unfallversicherung bestimmt, die ausdrücklich z. B. von dem »Unternehmer eines landwirtschaftlichen Unternehmens« spricht (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 lit. a SGB VII). 311 Vor allem die Rspr. macht letztlich deutlich, dass nicht »rein äußerlich das Wort«, sondern »der sachliche Gehalt« entscheidend für die Herausarbeitung eines inhaltlich bestimmten Unternehmerleitbilds ist. 312 Vor diesem Hintergrund ist auch die »große präto