Glück paradox: Moderne Literatur und Medienkultur - theoretisch gelesen [1. Aufl.] 9783839413685

Das Glück und seine Widersprüche - ein altbekanntes Thema in Literatur und Philosophie. Dieser Band hingegen macht spezi

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Glück paradox: Moderne Literatur und Medienkultur - theoretisch gelesen [1. Aufl.]
 9783839413685

Table of contents :
INHALT
Lesbarkeit des Glücks – theoretische Grundfiguren
I. MODERNE-KONDITIONEN
Glück im Spiel. Das Glücksspiel als Kontingenzmetapher in Lessings Minna von Barnhelm
Verschaltete Ordnungen, verschachtelte Identitäten: E.T.A. Hoffmanns Spieler-Glück und das Strukturschicksal der Moderne
Zeichen machen Leute. Semiose und Glück in Gottfried Kellers Kleider machen Leute
Glückhaftes Schweigen? Überlegungen zu Kleists Dichterbrief
II. GLÜCK IM UN-SINN
Joe Lederer und Irmgard Keun – Glück als Ästhetik der Oberfläche und Vergnügen bei der Lektüre
Performative Glücksräume und literarische Praxis. Camus – Beckett – Kertész – Böll
Der glückliche Moment im/des Gedichts. Paradoxien moderner Lyrik, von Mayröcker zu Hölderlin
III. DE-KONSTRUKTIONEN DES HAPPY ENDS
The Trouble with Endings. Schließungsfiguren in Screwball Comedies und Sex Comedies
Eine kleine Zeitkritik – oder warum es Glück nur noch als Risiko gibt. Zu Gaspar Noés Irreversibel
IV. KULTURTHEORIE
Macht Lesen glücklich? Bemerkungen zur theoretischen Relevanz des Glücksbegriffes in der vormodernen Literatur
Das prekäre Verhältnis von Glück und Freiheit
Autorinnen und Autoren

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Anja Gerigk (Hg.) Glück paradox

2010-01-18 11-40-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0334231599613410|(S.

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Anja Gerigk (Hg.) Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen

2010-01-18 11-40-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0334231599613410|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: zettberlin, Quelle PHOTOCASE Satz: Anja Gerigk Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1368-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT

Lesbarkeit des Glücks – theoretische Grundfiguren ANJA GERIGK 7

I. MODERNE-KONDITIONEN Glück im Spiel. Das Glücksspiel als Kontingenzmetapher in Lessings Minna von Barnhelm CHRISTIAN KIRCHMEIER 35 Verschaltete Ordnungen, verschachtelte Identitäten: E.T.A. Hoffmanns Spieler-Glück und das Strukturschicksal der Moderne MARIO GRIZELJ 67 Zeichen machen Leute. Semiose und Glück in Gottfried Kellers Kleider machen Leute FRANK HABERMANN 89 Glückhaftes Schweigen? Überlegungen zu Kleists Dichterbrief SANDRA MARKEWITZ 115

II. GLÜCK IM UN-SINN Joe Lederer und Irmgard Keun – Glück als Ästhetik der Oberfläche und Vergnügen bei der Lektüre MAREN LICKHARDT 153

Performative Glücksräume und literarische Praxis. Camus – Beckett – Kertész – Böll ALAN CORKHILL 183 Der glückliche Moment im/des Gedichts. Paradoxien moderner Lyrik, von Mayröcker zu Hölderlin ANJA GERIGK 203

III. DE-KONSTRUKTIONEN DES HAPPY ENDS The Trouble with Endings. Schließungsfiguren in Screwball Comedies und Sex Comedies CLAUDIA LIEBRAND 227 Eine kleine Zeitkritik – oder warum es Glück nur noch als Risiko gibt. Zu Gaspar Noés Irreversibel TANJA PROKIĆ 261

IV. KULTURTHEORIE Macht Lesen glücklich? Bemerkungen zur theoretischen Relevanz des Glücksbegriffes in der vormodernen Literatur CHRISTIAN SINN 287 Das prekäre Verhältnis von Glück und Freiheit OLIVER JAHRAUS 317 Autorinnen und Autoren 329

Lesbarkeit des Glücks – theoretische Grundfiguren ANJA GERIGK Glück denken, ohne den Gehalt des guten Lebens zu bestimmen, Glück darstellen, ohne bloß dessen kulturelle Semantik zu gebrauchen – den modernen Umweg gewährt Philosophie und Literaturwissenschaft schon seit Längerem die Figur der Paradoxie. Allerdings zerfällt jene Figur, sieht man sie genauer an, in mehr als einen Begriff des Paradoxen, in verschiedene Auffüllungen der theoretischen Formung. Dennoch herrscht ein Grundverständnis vor: die Annahme eines objektspezifischen inneren Widerspruchs, der aber als auflösbar gedacht wird. Solche Dialektiken des Glücks werden hier nur deshalb in ihrer Vielfalt dargeboten, um beim paradoxen Problem der Ebenenunterscheidung neu zu beginnen. Es ist das Verhältnis von Bedingung und Erfüllung, in dem modernes Glück mit den Regeln der klassischen Logik kollidiert und sie zugleich durch differenztheoretische Möglichkeiten austauscht. In der dreifachen Hinsicht auf Subjekt, Zeit und Bedeutung vs. Performanz wird die Paradoxie des Glücks historisiert, da sie sich nur aufgrund von Wissen über die Moderne so konstruieren lässt. Vom überlieferten Bezug Denken – Darstellen wechselt man außerdem auf diesem Wege zur interpretationstheoretisch gelagerten Lesbarkeit. Während die textanalytische Ausführung dem später im Band folgenden Lyrik-Aufsatz vorbehalten bleibt, werden bereits im Vorlauf und auf derselben Grundlage eine kulturtheoretische sowie eine medientheoretische Abwandlung erwogen, nicht, um die Reflexion abzuschließen, sondern um durch Verlängerung der Perspektiven zur Reihe der theoretischen Lektüren überzuleiten.

Glück paradox I Die gedachte Unverfügbarkeit des Glücks und die Frage nach seiner Darstellbarkeit in literarischen Texten sind häufig benachbart verhandelt worden, meist aber ohne den Zusammenhang theoretisch zu vermitteln. Dies betrifft zum Beispiel die Widersprüchlichkeit ei7

Anja Gerigk ner Lehre des guten Lebens, die als »strebensethisches Paradox« bezeichnet werden kann. Paradox sei Glück deshalb, weil es »genau und gerade in dem Maße, in dem wir es intendieren«1 unverfügbar wird. Die Unvereinbarkeit erwächst aus den Prämissen der Strebensethik, da in dem besonderen Fall ein Ziel vorgegeben ist, welches ausgerechnet dadurch verfehlt werden kann, dass man es verfolgt. Indirekte Annäherung an den glücklichen Zustand mag daher geboten sein, in der Erwägung, »ob der Mensch, wenn es um den Beitrag zu seinem je eigenen Unglück und Glücke geht, sich auch und vielleicht sogar vorrangig auf andere Formen des Selbstumgangs besinnen muß«2. Im Analogieschluss wäre demnach eine indirekte Ästhetik vorstellbar, die es vermeidet, glückliche Erfahrung als solche zu benennen oder den erzählerischen Verlauf entsprechend umleitet – doch bleibt dies eine bloße Ähnlichkeit ohne jeden konzeptuellen Grund, da Intentionalität für neuere Theoriebildung zu Text und Interpretation kaum maßgeblich ist, es sei denn für Spielarten der Rezeptionsästhetik. Man käme dazu, das (un)lesbare Glück auf die Lust der Lektüre zu verschieben.3 Der stärkste Widerspruch und somit die größte Herausforderung für eine dialektische Reflexion entsteht, wenn Glück über sein begriffliches oder zu erfahrendes Gegenteil definiert wird, und zwar nicht abgrenzend, sondern im notwendigen Bedingungsverhältnis, das obendrein als einzig möglicher Zugang ausgewiesen wird. Diese These kennzeichnet denkgeschichtlich die Beschäftigung mit Glück in der Moderne, wobei die Spanne vom aufklärerischen Aphorismus Lichtenbergs bis hin zur freudschen Kulturtheorie reicht. Formal scheint ein Zirkelschluss vorzuliegen bzw. eine logische Umkehrung – die Verneinung als Bestimmungsgrund des Verneinten. Tatsächlich erhält das, was wie ein wesensmäßiges, gedankliches Paradox aussieht, eine in sich widerspruchsfreie Bedeutung durch die jeweilige Anthropologie, Philosophiegeschichte, Auffassung von Kultur. Zudem hat der Verweis auf das Gegenteil nicht immer paradoxe Qualität: »Die Theorie des Glücks und des Unglücks ist eine Sache. Sie versucht das Unglück aus der Möglichkeit des Glücks und das Glück in der Möglichkeit des Unglücks zu verstehen.«4 Vermeintlich spricht Martin Seel in seiner ethischen Analyse von der »kontrasti1 2

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Viktor E. Frankl: »Paradoxien des Glücks«, in: Ulrich Hommes (Hg.): Was ist Glück? Ein Symposion, München 1976, S. 109. Ulrich Pothast: »Glück und Unverfügbarkeit«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 60. Vgl. auch zur NichtIntendierbarkeit ebd., S. 54. Vgl. Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998. Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, Frankfurt a.M. 1995, S. 54.

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Lesbarkeit des Glücks ven Natur«5 der Sache, doch erweist sich der Satz im Nachhinein als methodische Vorbemerkung. Gemeint ist in erster Linie nicht der glückliche Zustand, sondern die philosophische Herstellung jenes Denkobjekts. In der Art ermittelt Seel den ermöglichenden Rahmen und die Struktur glücklicher Erfahrung. Inwiefern auch die Bewusstseinsform kontrastive Züge trägt, liest man etwa bei Lichtenberg: »Um uns ein Glück, das uns gleichgültig scheint, recht fühlbar zu machen müssen wir immer denken, daß es verloren sei«6. Glücklich-Sein hängt mit dem Wissen um vergangenes oder zukünftiges Unglück ursächlich zusammen. In der Absicht, jene anthropologische Aussage ins Ästhetische zu wenden, zitiert Wellbery das »Figur-Grund-Verhältnis«7, welches den Gegensatz in die Nähe einer ästhetischen Erfahrungsmöglichkeit rückt. Dies wäre auch der einzige Übergang zur Literatur. Glücksdarstellung in literarischen Texten zeugt mithin von der »Paradoxie, daß ihr Gelingen allererst durch die Leidenserfahrung ermöglicht wird«8. Zwischen erlebter und dargestellter Glückseligkeit wird generalisierend ebenso wenig unterschieden wie zwischen Genretraditionen und moderner Literatur. Allerdings führen Wellberys Deutungen von Lessing bis Hebbel solche Differenzen im Speziellen ein. Davon abgesehen zielt schließlich die Reihe seiner Interpretationen auf ein dezidiert modernes, insbesondere post-aufklärerisches Glücksverständnis, wonach die Unaussprechlichkeit der Erfahrung aus ihrer begrifflich nicht mehr zu fassenden Individuierung folgt. Nur in Texten, die das Subjekt erzählen, wird Glück in der Moderne überhaupt noch »explizierbar und exponierbar«9; bei Kleist führt jene Modernisierung jedoch zu derart instabilen Wertungen, dass Seligkeit und Katastrophe in einander umschlagen.10 Die paradoxe Formulierung »Glück im Unglück« benennt im Falle von Odo Marquard keinen literarhistorischen, sondern einen philosophiegeschichtlichen Stand. Zu Zeiten der Theodizee und später der Geschichtsphilosophie wurde das Unglück teleologisiert, sprich durch Vorstellungen einer historischen Zielrichtung des Leidens ge5 6

M. Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 54. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 1. Sudelbücher, hg. v. Wolfgang Promies, München 1968, S. 25. Dieser Stellenhinweis verdankt sich dem unten zitierten Aufsatz von Wellbery. 7 Dieter Henrich: »Glück und Not«, in: ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, S. 136. 8 David E. Wellbery: »Prekäres und unverhofftes Glück. Zur Glücksdarstellung in der klassischen deutschen Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 18f. 9 Ebd. 10 Vgl. ebd., S. 26-33.

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Anja Gerigk rechtfertigt.11 Anstelle einer Legitimierung tritt aber in der Moderne die Kompensation, das dynamische Vermögen, unglückliche Umstände glückhaft zu bewältigen. Marquard interessiert sich somit nicht für die Redensart gleichen Wortlauts; er verwirft die »schwache Version« der Entschädigung, des gleichzeitigen Trotzdem zugunsten der »starken Version«, durch modern erzeugtes bzw. wahrgenommenes Unglück würden eigens »Glückspotentiale«12 frei. Diese Auflösung des Widerspruchs wird sowohl für die philosophische Reflexion produktiv als auch für kulturelle Projekte wie Bildung und Fortschritt, die Kompensation qua Progression umsetzen. Moderne Literatur braucht trotzdem nicht utopisch ausgerichtet sein oder den Fortschritt zu propagieren, um dennoch dem Prinzip der »indirekt resultierenden Positivitäten«13 Raum zu geben, in konflikthaften Bildungsgeschichten sowie durch eine Ästhetik der »indirekten Beglückung«14: Lust durch Unlust am Erhabenen, Schrecklichen, Hässlichen folgt demselben Kalkül wie Zivilisation und Hochkultur. Das jedenfalls besagt in ihrer Konsequenz Marquards historiographische These »mit quasisystematischer Kadenz«15. Freud gibt der Formel »Glück im Unglück«, die er selbst so nicht verwendet, eine ahistorische, d.h. universelle Reichweite. Was seine Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1929) ausführt und dialektisch bearbeitet, ist die Ambivalenz der Kultur gegenüber dem »Lustprinzip«, dem freudschen Begriff für das menschlich fundamentale Streben nach Glück. Einerseits bieten die zivilisatorischen Einrichtungen Schutz vor Unlust und Schmerz,16 kulturell werden außerdem nicht erfüllbare Triebwünsche sublimierend umgelenkt, z.B. in die Freude an künstlerischer oder wissenschaftlicher Tätigkeit.17 Andererseits verschweigt der Theoretiker und Therapeut nicht, dass die dabei empfundene Lust weniger intensiv ist als jene der unmittelbaren Triebbefriedigung.18 Mehr noch, Kultur liefert nicht nur den schwächeren Ersatz, sie wird auch als Quelle tiefer Unlust entlarvt: Durch Meidungsgebote wie das Inzesttabu wird die Erfüllung libidinöser Wünsche versagt, doch selbst die Entsagung bringt unter11 Vgl. Odo Marquard: »Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie«, in: ders.: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 16. 12 Ebd., S. 30. 13 Ebd., S. 34. 14 Ebd., S. 33. 15 Ebd., S. 36. 16 Vgl. Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders.: Studienausgabe. Bd. IX. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. 1982, S. 217. 17 Vgl. ebd., S. 211. 18 Vgl. ebd.

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Lesbarkeit des Glücks gründig Schuldgefühl mit sich.19 Obwohl die Zweiwertigkeit Glück/ Unglück den Prozess der Kultur antreibt, mag Freud das Unbehagen nicht aufheben, weil er mit dem individuellen »Erleben starker Lustgefühle«20 weitaus mehr sympathisiert als mit dem kollektiven Wohlergehen und seiner Zivilisationstechnik. Eine anthropologisch gleichbleibende Libidoökonomie fällt in die von Marquard als modern angesehene Strategie, da die »plötzliche Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse«21 einen Mangel voraussetzt, ohne den Abhilfe nicht so lustvoll, wenn überhaupt glücklich wäre. Anhand des Glücks ist immer auch zu sehen, wie paradoxe Formen entstehen und wie man mit ihnen umgehen kann. Die bisher gesammelten Beispiele zeigen eine Gedanken- und Redefigur, in der Eigenschaften, Formulierungen, Propositionen einander scheinbar ausschließen, dann aber durch dialektische oder analytische Operationen zur Einheit aufgehoben bzw. hinreichend von einander geschieden werden. Letzteres geschieht mit dem »philosophiehistorische[n] Paradox«22, das Günther Bien aufgestellt hat. Während Hegel die »Glückseligkeitslehre« als das »allgemeine Prinzip der gesamten Philosophie vor Kant« ausmacht, befindet Saint Just, das Glück sei »ein neuer Gedanke in Europa«.23 Bei näherer Betrachtung handelt es sich jedoch um einen Scheinwiderspruch, der daher gar nicht erst bis zur Synthese geführt werden muss. Die beiden Sätze erweisen sich als »kompatibel«, weil sie je »von einer anderen Sache sprechen«,24 wobei jener Unterschied historisch den »aufgeklärten Eudämonismus und Utilitarismus«25, auf den sich die Französische Revolution berufen konnte, von der antiken Tradition maßhaltender Selbstsorge abhebt. Ein Wandel, der für die europäische wie amerikanische Kulturgeschichte derart folgenreich gewesen ist, hat zweifellos auch in der modernen Literatur seine Spuren hinterlassen. Dennoch soll im Weiteren kein verändertes philosophisches Konzept glücklichen Lebens, sondern dafür ein anderer Paradoxiebegriff die Modernität literarischer Texte über das Glück lesbar machen. Dabei ist »über« nicht einfach motivisch, vielmehr als methodischer Zugang zu verstehen.

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Vgl. S. Freud: Unbehagen in der Kultur, S. 260. Ebd., S. 208. Ebd. Günther Bien: »Die Philosophie und die Frage nach dem Glück«, in: ders. (Hg.): Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Canstatt 1978, S. XI. 23 Zitiert nach ebd., S. XII. Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund und zur diskursanalytischen Auswertung dieser Äußerung vgl. den Aufsatz von Jahraus in diesem Band. 24 G. Bien: Die Frage nach dem Glück, S. XII. 25 Ebd., S. XIV.

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Anja Gerigk

Glück paradox II Für das literaturtheoretische und zugleich historisierende Vorhaben benötigt man eine erweiterte Definition des Paradoxen. Diese ist formallogisch bestimmt statt rhetorisch oder dialektisch wie der zuvor präsentierte denkgeschichtliche Topos. Zur paradoxen Konstellation gehört die Selbstbezüglichkeit einer Aussage, die den Widerspruch erst hervorbringt, außerdem der argumentative Zirkel, der daraus resultiert.26 Das Ausgangsproblem besteht darin, dass die klassische Logik solche Zirkelschlüsse nicht erlaubt; sie muss in der Lage sein, die Prämisse von der Folgerung zu trennen; sie muss eine Aussage immer klar als entweder wahr oder falsch bestimmen, was durch die Paradoxie verhindert wird. Die kennzeichnende Situation der Unentscheidbarkeit wird für das bekannte Kreter-Paradox so beschrieben: »Die Aussage des Lügners kann nicht falsch sein, ohne wahr zu sein, und sie kann nicht wahr sein, ohne falsch zu sein«27. In der alten logischen Ordnung hat der Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten verlangt, das Dilemma aufzulösen, meist indem man Zusatzbedingungen einführt, mit denen sich doch zwischen Meta- und Objektebene und so auch zwischen den Aussagewerten unterscheiden lässt. Erst die Theorie und Praxis der Dekonstruktion hat in Abkehr von der zweiwertigen Logik den Störfall des Denkens zum positiven Erkenntnisziel umgewertet. Es wird der Versuch unternommen, formale Unentscheidbarkeit für die Lektüre des Glücks in der Moderne nachzubilden. Systemtheoretisch geprägte Umgangsformen hiermit kommen danach zur Anwendung. Der wichtigste Schritt der Übertragung wurde im Ergebnis vorangestellt: Die Schwierigkeit liegt nicht etwa in der unmöglichen, jedoch geforderten logischen Wertung, stattdessen gilt, dass man in der Frage nach dem Glück Bedingung und Erfüllung, Meta- und Objektebene vergleichbar, auseinanderhalten sollte, dass dies aber aufgrund der modernen Lage in paradoxer Weise problematisch ist. Das entspricht kaum dem autoperformativen Widerspruch, hat aber umso mehr mit der Handhabung von Differenzen zu tun, mit der Notwendigkeit und (Un-)Möglichkeit des Unterscheidens. Konventionelle Auflösungsstrategien sind mit Verfahren der entparadoxierenden Beobachtung zu vergleichen; die Reflexion auf Subjektivität nimmt dabei eine Sonderstellung ein. 26 Vgl. dazu auch Roland Hagenbüchle: »Was heißt ›paradox‹? Eine Standortbestimmung«, in: Paul Geyer/Roland Hagenbüchle (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992, S. 37. 27 Elena Esposito: »Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 37.

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Lesbarkeit des Glücks Wie die Forschung vielfältig aufgezeigt hat, ist Selbsterfüllung ein modernes Glücksziel, das die Perfektionierung der Gesellschaft tendenziell ersetzt. Der Paradigmenwechsel findet nicht sofort vollständig statt, sondern in Phasen der Parallelität und Ablösung. So tritt die Spannung zwischen dem kollektiv idealen Leben und der subjektiv glücklichen Erfahrung literarhistorisch sowie kulturgeschichtlich im späten 18. Jahrhundert auf.28 Die Gattung der Utopie kehrt nach einer vormodernen Hochzeit während der Aufklärung Ende des 19. und verstärkt im frühen 20. Jahrhundert zurück;29 trotzdem setzt sich nach den Weltkriegen die Entwicklung hin zur »egozentrischen« Gesellschaft fort, die der Gegenwartssoziologe und Glücksforscher Gerhard Schulze diagnostiziert.30 Nach einer theozentrischen und der soziozentrischen Großepoche ist in der späten Moderne eine neue, sich aber schon länger ankündigende Qualität erreicht. In der gegenwärtigen Kulturkritik wird dazu überwiegend die simple Ansicht verbreitet, die Subjektivierung des Glücks beinhalte lediglich eine Individuierung der Strebensziele sowie ein mehr oder weniger egoistisches Verfolgen derselben. Dem epochalen Paradox der Selbsterfüllung wird dies jedoch nicht gerecht. Das Subjekt ist beides, irreduzible Voraussetzung des Glücks, das nur in Bezug auf subjektive Gegebenheiten bestimmt werden kann, und Inhalt des Glücks, in dem das Subjekt zu sich selbst kommt. Nicht, dass dieses Problem literarisch oder logisch unlösbar wäre, darauf wird im Anschluss einzugehen sein; bedeutsam ist dennoch vorderhand, dass es sich in einer göttlich geordneten oder einer gesellschaftszentrierten Weltsicht gar nicht erst stellt. Es ist davon abgesehen unschwer als kulturspezifisch zu erkennen und kaum mit einer buddhistischen Haltung zu verwechseln, nach der das Ich in seiner Verkörperung die Quelle des Unglücks darstellt und also überwunden werden muss. Im Blick auf die eigene Kultur

28 Vgl. Alan Corkhill: Glückskonzeptionen im deutschen Roman von Wielands »Agathon« bis Goethes »Wahlverwandtschaften«, St. Ingbert 2003, S. 223: »In dem Maße, in dem das Pendel ab dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts von der Maximierung des Glücks des Gemeinwesens in Richtung der Optimierung individuellen Wohlergehens hinschlägt [...], wird jegliche Vorstellung von der Objektivierbarkeit der Glückserfahrung entsprechend in Zweifel gezogen«. 29 Vgl. Werner Michler: »Zukunft und Augenblick. Utopien der Jahrhundertwende«, in: Ulrike Tanzer u.a. (Hg.): Das glückliche Leben – und die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österreichischen Literatur, Wien 2002, S. 17-31. 30 Vgl. zu den folgenden Einteilungen Gerhard Schulze: »Das Projekt des schönen Lebens. Zur soziologischen Diagnose der modernen Gesellschaft«, in: Alfred Bellebaum/Klaus Barheier (Hg.): Lebensqualität. Ein Konzept für Praxis und Forschung, Opladen 1994, S. 14ff.

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Anja Gerigk wird allerdings die paradoxe Zweiseitigkeit nicht immer als solche erkannt. »Selbstverwirklichung kann aber ferner bezogen sein auf das Selbst als Ausgangslage des Verwirklichungsprozesses [...] oder aber es kann bezogen sein auf das Selbst als Ziel und Resultat des Formierungsvorgangs«31. Hans Krämer setzt zunächst zwei alternative Auffassungen und entscheidet sich dann für Letztere, subjektive Identität sei »erst zu bilden«32, bevor sie sich glücklich erfüllen könne. Sie bildet aber zugleich eine notwendige Voraussetzung der Zielsetzung, nicht bloß deren zeitliche »Ausgangslage«. Mit dem Votum für die Konstituierung – das sollen die folgenden Exempel aus der Erzählliteratur zeigen – springt Krämer gewissermaßen direkt zur prozessualen Lösung, ohne vorher die moderne Komplikation der Glücksproduktion und -reflexion zu identifizieren. Dass die Paradoxie des subjektiven Glücks eine narrative Angelegenheit ist, zunächst einmal innerhalb der Literatur, kann man sich anhand von Ludwig Marcuses Interpretation des grimmschen Märchens Hans im Glück verdeutlichen. In einer kulturhistorischen Erzähllinie avanciert Hans zum »Ersten Philosophen des Glücks«33, weil er durch seine Geschichte das erfährt, was Marcuse als Lehre des Märchens begreift: »Das Glück liegt in dir selbst«34. Er unterlegt der erzählten Figur den Kernsatz seiner eigenen Philosophie, der noch genauer lautet: »Jeder Einzelne ist ein spezifisches GlückPotential.«35 Obwohl sie mit dem angezeigten Paradigmenwechsel zusammenstimmen, sind diese Positionen doch im Blick auf den interpretierten Text durch eine erzählanalytische Perspektive zu hinterfragen. Die genannte Lehre leitet Marcuse daraus her, dass keines der erstrebten Güter – Goldklumpen, Pferd, Kuh, Schwein, Gans, Schleifstein – Hans dauerhaft glücklich macht. Dafür lehnt er die Moral ab, die durch den Schlusspunkt nahegelegt wird: Erst als sich der Held vom letzten materiellen Objekt, dem Stein, »befreit« hat und so »frei von aller Last«36 ist, wird die höchste Steigerung der Glücksäußerung erreicht. Das Happy End scheint ein von keinem

31 Vgl. Hans Krämer: »Selbstverwirklichung«, in: Günther Bien (Hg.): Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Canstatt 1978, S. 27. 32 Ebd. 33 Ludwig Marcuse: Philosophie des Glücks. Von Hiob bis Freud. Vollst. Neuausg., Zürich 1972, S. 40. 34 Ebd., S. 42. 35 Ebd., S. 22. In diese Richtung geht auch der ganz bezeichnende Titel des Aufsatzes von Harald Weinrich: »Welcher Hans in welchem Glück? Von der Utopie der Glücksforschung«, in: Hiltrud Gnüg (Hg.): Literarische UtopieEntwürfe, Frankfurt a.M. 1982, S. 53-69. 36 Brüder Grimm: »Hans im Glück«, in: dies.: Kinder- und Hausmärchen. Bd. 1. Märchen Nr. 1-86, Stuttgart 1980, S. 412. Im Folgenden zitiert unter der Sigle H.

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Lesbarkeit des Glücks Besitz beschwertes Leben als selig machend zu empfehlen. Vielleicht lässt sich gleichwohl Marcuses Deutung stützen, mit anderen Argumenten als den von ihm selbst angeführten. Marcuse weist darauf hin, dass Hans nicht nur am Ende, sondern immer, wenn er ein altes Gut gegen ein neues eintauscht, glücklich oder gar »seelenfroh« (H 408) ist. Jedes Mal vermerkt der Märchentext den Zustand, womit aber unbeantwortet bleibt, was das Subjektive der beglückenden Tauschaktionen sein könnte. Es wird nicht erzählt, weshalb das Individuum Hans gerade mit einem Pferd oder doch lieber mit einer Kuh froh wird. Wir kennen so nur seine situativen Wünsche und Bedürfnisse, was für eine Entwicklungsgeschichte kaum ausreichen dürfte. Trotzdem ist der Reihe ein Moment der Entwicklung inhärent, obgleich die wechselnden Objekte wenig Auskunft darüber geben. Subjektiv bedeutungsvoll sind indes die Selbstreflexionen, welche dadurch initiiert werden. Während Hans nach dem Erwerb der Kuh noch den »glücklichen Handel« (H 408) bedenkt, richten sich seine Überlegungen spätestens nach dem Stein auf sich selbst als jemanden, der in einer »Glückshaut« geboren wurde, ein »Sonntagskind« (H 412). So gelesen wird aus ›Hans im Glück‹ im Laufe der Erzählung der ›glückliche Hans‹, der zum Schluss seine Individualität durch die Äußerung des nämlichen Gefühls artikuliert: »So glücklich wie ich [...] gibt es keinen Menschen unter der Sonne« (H 412f.). Die Bedingung individueller Glücksinhalte, das Subjekt, konstituiert sich also erst im narrativen Verlauf. Eine solche erzählende Prozessualisierung des paradoxen Verhältnisses findet man nicht nur im Märchen. Den Quellen und der typisierenden Gattung nach scheint jene Auslegung des Hans im Glück unangemessen, sie demonstriert jedoch an einer einfachen Erzählstruktur die Verlaufsform des für das subjektive Glück exemplarischen Bildungsromans. Dabei fungiert Goethes Poetik der Entelechie, die im Wilhelm Meister mitunter thesenartig zur Sprache kommt, als Verdeckung der Paradoxie, verarbeitet wird diese durch den nicht mehr märchenhaften, weil weitaus komplexeren narrativen Aufbau. Aus dem Beginn der Lehrjahre kann man ersehen, mit welchen erzählerischen Mitteln der Zustand erfüllter Subjektivität hergestellt wird. Wilhelms »höchste Glückseligkeit« in der Liebe zu Mariane beruht darauf, dass sie ihm »zuerst in dem günstigen Lichte theatralischer Vorstellung erschienen«;37 die Wahl des beglückenden Liebesobjekts wird subjektiv durch die »Leidenschaft zur Bühne«38, die der junge Mann seit seiner Kindheit 37 Johann Wolfgang von Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: ders.: Sämtliche Werke. Vierzig Bände. Bd. 9. Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Frankfurt a.M. 1992, S. 365. 38 Ebd.

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Anja Gerigk pflegt. Es genügt aber nicht, die Motivation anzugeben, sie wird von Wilhelm, der ausnahmsweise das Erzählen übernimmt, rückgreifend dargeboten, unterbrochen durch Liebkosungen in der Erzählgegenwart. Nur indem die Selbstwerdung solchermaßen analeptisch eingeholt wird, ist die Voraussetzung für jenes prekäre Happy End am Anfang des Romans gegeben. Was sich sonst im Fortschreiten der Handlung herausbildet, konzentrieren hier die Verfahren zeitlicher Perspektivierung. Auf der Ebene des Erzählens, nicht der Geschichte wird das individuelle Glück produziert. In ihrer Strukturanalyse zum Wilhelm Meister arbeitet Gerda Röder heraus, dass der glückhafte Sinnzusammenhang sowohl der Lehrjahre als auch der den Zusammenhang erweiternden Wanderjahre v.a. von temporalen Erzählmaßnahmen abhängt. Sie entdeckt »Vorausverweisungsketten«39, die nötig sind, um den Schlusspunkt der Lehrjahre, die Liebes- und Eheverbindung mit Natalie, als Erfüllung einer eigenen Bestimmung des Titelhelden zu beglaubigen: u.a. der Amazonen-Traum, der Lehrbrief der Turmgesellschaft über Wilhelm, die »Aufzeichnungen der schönen Seele«, der Verwandten Natalies. Im Erzählkreis der Wanderjahre nehmen diese Vorgriffe die Bedeutung der Berufung zum Wundarzt an. Das zweite und letzte Happy End wird zusätzlich durch eine weitere Rückblende vorbereitet, die in einem Brief an Natalie mitgeteilte Kindheitserinnerung an das Ertrinken eines Freundes, welche auf die finale Rettungstat Wilhelms vorausdeutet.40 Jene narrative Gesamtanlage unterscheidet die glückliche Bildungserzählung von dem barocken »Fortunaroman«41. Daher steht Wilhelms Sohn aus seinem ersten Liebesglück, »Felix«, nicht für das Schicksal, sondern für das begünstigte Subjekt. Mehr noch, Röder zufolge wird die Figur zum Zeichen der Erzählkohärenz, die Lehr- und Wanderjahre aufeinander bezieht.42 Wie der Bezug der beiden Romane prozessual entsteht, so vollzieht sich in Richtung auf das verwirklichte Bildungsziel, den individuell stimmigen Beruf, zeitlich eine Entparadoxierung. Um die textuellen Zeitverhältnisse des Glücks in der Moderne soll es als Nächstes gehen, nicht als Mittel der Lösung, sondern als besonderes Denk- und Darstellungsproblem. In gewisser Hinsicht rückt Zeitlichkeit erst im modernen Kontext zur Grunddimension auf: die fragliche Positionierung der Gegenwart im historischen Verlauf,43 subjektives Zeiterleben. Ersteres prägt literarische Glücks39 Gerda Röder: Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman. Eine Studie zu Goethes »Wilhelm Meister«, München 1968, S. 172. 40 Vgl. ebd., S. 191ff. 41 Ebd., S. 176. 42 Vgl. ebd., S. 178. 43 Zum modernen historischen Zeitverständnis vgl. Manfred Riedel: »Historischer, metaphysischer und transzendentaler Zeitbegriff. Zum Verhältnis

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Lesbarkeit des Glücks verhandlungen vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert in ihrer auf keine einzige Linie festzulegenden Auseinandersetzung mit utopischen Geschichtsphilosophien; die Relativierung der »Dauer« (Bergson)44 erscheint um 1900. Das erste Datum markiert dennoch der Bildungsroman, da er laut Voßkamp vom Paradigma der Raumzur Zeitutopie wechselt.45 In jenem größeren Rahmen der Moderne führt glückliche Zeit in eine etwas andere Paradoxie hinein als eben solche Subjektivität, obwohl beides doch nicht unverbunden ist. Erschwert wird wiederum die strikte Unterscheidung von Bedingung und Erfüllung, Voraussetzung und Ereignisfall. Die Unhintergehbarkeit von Zeit für die menschliche Erfahrung, wie sie philosophische Ansätze zugrunde legen, sagt über die Zeitbedingtheit des Glücklichseins noch nichts aus. Diese ergibt sich zum einem aus dem Erzählprozess, der zur Herstellung des glücklichen Subjekts notwendig ist. Zum anderen kann das Glück als Kontrastphänomen eine temporale Folge implizieren. Somit wird ohne Verweis auf zeitliche Ordnung in der persönlichen analog zur historisch verlaufenden Geschichte gar kein erfüllter Augenblick eintreten. Das vermeintlich Selbstverständliche haben Theoretiker deshalb häufiger betont, weil die empirische Rede von der ›Zeitlosigkeit‹ als Gehalt des Glückszustands verbreitet ist. In Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen klingt dies ähnlich: Um glücklich zu sein, brauche man »das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden«46. Daraus spricht neben der reinen Erfahrung auch Nietzsches anti-utopische Geschichtsphilosophie.

von Geschichte und Chronologie im 18. Jahrhundert«, in: Reinhard Koselleck (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 301316. Mitte des 18. Jahrhunderts entsteht das Bewusstsein für eine eigene Zeit der Geschichte, im Unterschied zu den früheren theologischen Zeitmodellen der Natur und des Kosmos (vgl. ebd., S. 303). Die Ermittlung einer durch die Historie erst hervorgebrachten Chronologie, die »Neugliederung der historischen Zeit« (ebd., S. 309), wird zur Aufgabe der Geschichtsschreibung und -philosophie. Nicht zuletzt weiß das geschichtliche Denken der Moderne um die »Zeitbezogenheit und Reflexionsbedürftigkeit chronologischer Begriffe« (ebd., S. 314). 44 Vgl. Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, Jena 1911, zuerst 1889. 45 Vgl. Wilhelm Voßkamp: »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution. Begriffs- und funktionsgeschichtliche Überlegungen zum deutschen Bildungsroman am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts«, in: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart 1989, S. 338. 46 Vgl. Friedrich Nietzsche: »Unzeitgemäße Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische

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Anja Gerigk Wie es die phänomenlogische Schule mit dem angeblich zeitenthobenen Gefühl hält, zeigt Bollnows Untersuchung über das Wesen der Stimmungen (1941) und die Eigenqualität glücklichen Zeiterlebens. Dort heißt es unübertrefflich klar: »Seligkeit ist Zeitlosigkeit und Zeitlosigkeit Seligkeit.«47 In den Erläuterungen treten jedoch durchaus Widersprüche auf, wie die Bemerkung, dass die glückliche Stimmung eine »Enthebung über die Zeitlichkeit« sei, die »in der Zeitlichkeit selbst vor sich geht«48. Um dieses Paradox nicht stehen zu lassen, geht Bollnow den logisch bewährten Weg, die auf den ersten Blick identische Aussagegröße ›Zeitlichkeit‹ zu differenzieren: Zeitlichkeit »selbst« wäre der unaufhebbar gerichtete Verlauf der »menschlich-geschichtlichen Zeit«49 und die Enthebung nur das zeitweilig fehlende Bewusstsein des Vergehens von Zeit. Ewigkeit meint ebenso gefühlte Dauer statt einer »unendlichen zeitlichen Ausdehnung«50. Übereinstimmend argumentiert Martin Seel, der erfüllte Augenblick trete keineswegs aus »der Sukzession des Früher, Jetzt und Später«51 heraus, es werde das Vergehen von Zeit ausnahmsweise nicht als solches empfunden,52 positiv eine »selbstgenügsame Gegenwart«53 erfahren. Offensichtlich hat die bergsonsche Wende auch die Reflexion des Glücks erfasst. Um die Phänomenologie des Glücks zu verlassen und die Theoretisierung seiner modern literarischen Paradoxien fortzusetzen, lohnt sich dennoch ein Blick auf Bollnows Lektüre des MadeleineErlebnisses in Prousts Recherche. Was im Text ineinandergreift, sind »Wahrnehmung und Erinnerung«54. Läge das Entzücken allein im Geschmack, in dessen selbstgenügsam präsenter Sinnlichkeit, wäre die im erinnernden Zeitbezug zustande kommende Bedeutung jener Wahrnehmung zwar eine Voraussetzung, nicht aber Teil des erfüllten Augenblicks – dann könnte man die Ebenen in der von Bollnow und Seel vorgeschlagenen Weise trennen. Die Interpretation geht jedoch mit Recht dahin, das Glücksgefühl in den Moment des Sich-Erinnerns zu verlegen, ohne dem Sinneseindruck jene Intensität abzusprechen. Obwohl sie im Erzähltext aufeinanderfolgen, stellt sich die Einheit des Madeleine-Erlebnisses für den Leser aus

47 48 49 50 51 52 53 54

Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München u.a. 1988, S. 250. Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen. 2. durchges. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M. 1943, S. 189. Ebd., S. 177. Ebd., S. 211. Ebd., S. 177. M. Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 164. Vgl. ebd., S. 105. Ebd., S. 107. O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 215.

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Lesbarkeit des Glücks beidem her; Bollnow schließt damit, »daß sich eine zeitliche und eine überzeitliche Seite« derart »durchdringen, daß jede der beiden Auffassungen für sich allein die volle Wahrheit verfehlen würde«55. Meinte dies nicht die Wahrheit der dargestellten Erfahrung, sondern das, was sich in der Interpretation abspielt, könnte man dem zustimmen und es doch dabei nicht bewenden lassen. Im Falle des Glücks gibt es keinen Qualitätenwechsel Zeit – Zeitlosigkeit, durch den sich das Umschlagen von Bedingung in Erfüllung ereignen könnte; so viel haben schon die phänomenlogischen Studien ergeben. Neues bringt eine differenztheoretische Formulierung der paradoxen Ebenenrelation, einschließlich der Entparadoxierung. Auf der bisherigen Grundlage war zu erkennen, dass sich Zeitlichkeit auf beiden Seiten positioniert, was die Grenze zwischen Voraussetzung und sich vollziehender Erfahrung einebnet, sie quasi unauffällig macht. Die eigentliche Paradoxie ist besser über den Vergleich zur Systemtheorie zu beschreiben. Elena Esposito hat für die Startdifferenz System – Umwelt erklärt, dass diese genutzt wird, das System zu bezeichnen, es zu beobachten. Der dadurch konstituierte Prozess besteht darin, dieselbe Unterscheidung laufend zu treffen, mit ihr zu operieren. Paradox wäre Unentscheidbarkeit nach den üblichen Kriterien von Status oder Identität als Resultat der »Selbstreferenz, die sich aus dem Gebrauch derselben Unterscheidung in der Beobachtung ergibt, die beobachtet werden soll«56. Die Optionen, die systemtheoretisch offen stehen, sind – zusammenhängend – die Verzeitlichung durch das Operieren und die Beobachtung zweiter Ordnung, hier als Bezeichnung der Differenz Beobachtung (= System)/Operation (= System/Umwelt).57 Parallel dazu lässt sich die Zeit des lesbaren Glücks denken: Auf der Seite der Voraussetzung wird Zeitlichkeit beobachtet, die Seite der Zeitlosigkeit bleibt verdeckt; sobald nun der erfüllte Augenblick eintritt, operiert man dagegen mit jener Differenz oder bezeichnet sie selbst. Glücklich wäre insofern der Vorgang, in dem das Lesen operativ Zeit und Zeitlosigkeit differenziert oder diese Unterscheidung in einer Beobachtung zweiter Ordnung reflexiv wird. Beides sind entparadoxierende Bewegungen, die für moderne Erzählungen glücklicher Subjektivität greifen, genauer gesagt für deren Interpretation. Die Madeleine-Episode dürfte nicht das einzige Beispiel der konstruierten Figur sein. Sie müsste sich anhand subjektiver happy endings der literarischen Moderne bewähren und soll außerdem den glücklichen Moment im Gedicht auffinden helfen.

55 O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 215. 56 E. Esposito: Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen, S. 49. 57 Zur Begründung über die logisch vernachlässigte Differenz Monovalenz – Bivalenz vgl. ebd., S. 45.

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Anja Gerigk Nun sei die soeben anhand der Zeitlichkeit entwickelte theoretische Technik auf eine letzte glücksrelevante Beziehung übertragen. Dies erfordert allerdings einen hinführenden Exkurs: Auf einem theozentrischen oder soziozentrischen Stand der Kulturgeschichte kommt es zu keiner Unentscheidbarkeit von Bedingung und Erfüllung, weil diese von einer göttlich oder gesellschaftlich gesetzten Glückssemantik her immer schon qualitativ zusammenfallen. Der Effekt ist wohlgemerkt nur scheinbar derselbe wie beim Subjekt: Innerhalb der Theologie oder auch Gesellschaftsutopie wird eben nicht von einer zu treffenden Unterscheidung, sondern von einer bestehenden Einheit ausgegangen; ohne Differenz keine Paradoxie. Das Einzige, was Bedingung und Erfüllung in der vormodernen Kondition ausdifferenziert, ist historische Zeit – daher auch die geschichtsphilosophischen Einteilungen. Sie müssen anzeigen, wann die Zeit der vollendeten Heilsgeschichte gekommen sein wird, wann Geschichte aufhören kann, weil das soziale Glück verwirklicht ist. Der »Übergang vom alten in den neuen Zustand«58, das erkennt Werner Michler, bringt Utopien in Literatur und Kultur am ehesten in Verlegenheit, will er doch nicht nur motiviert, sondern überdies markiert sein. Eine Dekonstruktion von Ideologien könnte daher bei diesem Unterscheidungszwang einhaken. Wenn die Glückssemantik gesetzt ist und historisch oder erzählend eingeholt werden kann, dann besteht auch keine Veranlassung, sie im Eintritt des glücklichen Augenblicks mit einer Differenz zu konfrontieren, eine andere Seite zu bezeichnen. Genau dies ist indessen charakteristisch für das modern paradoxe Glück. Als Gegenpart zur erfüllten Bedeutung kommt zum einen die sinnliche Wahrnehmung in Frage, im Madeleine-Beispiel der beglückende Geschmack. In der literarisch-philosophischen Reflexionsgeschichte der glücklichen Verfassung finden sich genügend Zeugen dafür, dass Sinneserfahrung den Ausschlag gibt: von den leiblichen Genüssen (Epikur) über die Lust ausagierter Sexualität (Freud) bis zu jeglicher Form ekstatischer Rauscherfahrung. Die Rolle des »Gegenglücks«59, wie Benn es genannt hat, übernimmt naheliegend der Geist, wenngleich man seit der Postmoderne verstärkt dem Ausüben intellektueller Fähigkeiten ebenfalls libidinöses Potential zugeschrieben hat. Keine dieser Denkpositionen oder Erfahrungswerte betrifft die bisher verfolgte literaturtheoretische Fragestellung unmittelbar. Das geeignete Stichwort gibt abermals ein Gedicht, Ernst Stadlers Form ist Wollust.60 Diskursiv will der Text die einengende 58 W. Michler: Zukunft und Augenblick, S. 31. 59 Gottfried Benn: »Einsamer nie«, in: ders.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt a.M. 1986, S. 140. 60 Vgl. Ernst Stadler: »Form ist Wollust«, in: ders.: Dichtungen, Schriften, Briefe, München 1983, S. 138.

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Lesbarkeit des Glücks Form überwinden, performativ spricht er jedoch in lyrisch streng geregelten Strukturen. Gerade die literarische Performanz, erweitert um deren ästhetische Erfahrbarkeit, bildet im Lesen des Glücks den relevanten Unterschied zur narrativ eingelösten Semantik dessen, was das erzählte Subjekt glücklich macht. Mit Performativität als Perspektive neben Bedeutung wird eine Hauptorientierung gegenwärtiger Literaturtheorie in Anspruch genommen, der Glücksforschung ist die begriffliche Alternative, nicht aber der Ansatz fremd, denkt man an das psychologische Konzept des »Flow«.61 Auch deshalb wäre es zu wenig, textuelle Performanz mit literarischer Glückserfahrung schlicht gleichzusetzen. Erst die anhand von Zeitlichkeit ausgeführte differenztheoretisch gefasste Paradoxie verspricht für moderne Literatur interessant zu sein. Dabei wird das perfomative Moment keineswegs isoliert, Bedeutung behält den Status der Bedingung. Textglück vollzieht sich also im »Oszillieren zwischen Präsenz- und Sinneffekten«62. Das Eintreten des glücklichen Zeitpunkts im Text äußert sich darin, dass mit der erfüllten Semantik etwas ins Spiel kommt, das nicht semantisch ist; es kann sich folglich nur um eine spezielle Performanz des Lesens handeln. Beim Happy End besteht das Leseglück nicht zuletzt darin, den Erzählzusammenhang erfolgreich herzustellen, der die subjektiv glücklichen Bedeutungen als solche ausweist: Dass Wilhelm am Schluss der Lehrjahre die geliebte Natalie heiraten darf, ist nicht allein entscheidend, vielmehr entsteht darin die glückende Interpretation, in der sich die komplexe narrative Struktur sinnvoll auflöst. Man könnte sagen, Bedeutung und Performanz verweisen aufeinander, spricht man stattdessen von einer Verarbeitung der nämlichen Differenz, so wird klarer, dass darin ein entparadoxierendes Verfahren zum Zuge kommt. Die für die Moderne typische strukturelle Unauffälligkeit der Erfüllung und damit des Glücks selbst wird dadurch bewältigt. »Glück paradox«, so wie es hier für moderne Literatur gedacht wurde, argumentiert differenztheoretisch und meidet die These der Transzendenz glücklicher Erfahrung ebenso wie die Methode der Dekonstruktion. Daher ist es umso wichtiger, die vorgestellte Theorie in beide Richtungen zu überprüfen und abzugrenzen. Kulturgeschichtlich drängt sich die Ekstase auf, jener primär als lustvoll überlieferte Zustand, in dem das Subjekt das Bewusstsein seiner selbst verliert. Obwohl sich Bedingungen und Ausdeutung des em61 Vgl. Mihaly Csikszentmihalyi: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 1992. 62 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, S. 131. Gumbrechts präsenztheoretische Schrift widmet sich ausschließlicher den Bedingungen ästhetischer Erfahrung als – z.B. glückliche – Intensität.

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Anja Gerigk pirischen Modus historisch verändert haben, trifft diese Veränderung doch nicht so exklusiv literarische Modernität wie die dreifache Paradoxie. Darin wird weder das Subjekt noch Zeit in der überhaupt möglichen Weise transzendiert. Die Konzeptualisierung beabsichtigt keine Phänomenologie der Ekstase oder sonstiger Seligkeiten, sie kann aber deren Sätze konsequent umdeuten. Seel macht die Beobachtung, dass »Glück etwas ist, das nicht selten unseren persönlichen Begriff des Glücks übersteigt«63. Er meint dies nicht ekstatisch, sondern ethisch, sofern es dem guten Leben dienlich wäre, »für Zustände der Transzendierung des eigenen Wünschens und Wollens offen zu sein«64. Anders erklärt sich der Eindruck des »Übersteigens« aus dem subjektiv paradoxen Verhältnis von Bedingung und Erfüllung. Nur auf dem je bewussten Stand andauernder Identitätsbildung kann das Subjekt beurteilen, ob das Eintretende über sein »Wünschen und Wollen« hinausgeht. Der Prozess wird so nur scheinbar angehalten, Glücksbewusstsein zeigt mithin die Prozesshaftigkeit subjektiver Identität an und setzt die Dynamik fort, wenn der Überschuss in ein aktualisiertes, wiederum nur zeitlich be- und entstehendes Selbstbild integriert wird. Derselben Verzeitlichung des sich erzählenden Subjekts könnte die transzendenzverdächtige Zeitlosigkeit geschuldet sein. Dem Glücklichen kommt es nur so vor, als gäbe es keinen Verlauf mehr, weil entweder eine Diskontinuität in seiner Selbsterzählung aufbricht oder weil durch Erreichen des narrativ vorab produzierten Glücksziels ein, immer nur vorläufiger, Abschluss eintritt. Wie die Theorie bis jetzt steht, bezieht sie sich auf die moderne Literatur und beschreibt Textverhältnisse. Von daher bezeichnet die »Zeitlosigkeit« keine absolute Qualität, wie man sich ohnehin denken kann, sondern den jeweiligen Unterschied zur narrativen Zeit, sofern sie für die Interpretation des subjektiven Happy Ends bestimmend ist. Nun hat die soeben versuchte phänomenologische Umdeutung eine Narrativität des glücklichen Subjekts außerhalb literarischer Texte geltend gemacht. Das ist kulturtheoretisch ein ebenso wenig ungewöhnlicher Schritt wie die vorherige Berücksichtigung von Performanz, deshalb soll die erzählende Konstituierung des Subjekts nicht von Grund auf diskutiert werden. Sie stellt eine notwendige Vorannahme dar für die Ausweitung des paradoxen Glücks von der Literatur- auf die Kulturtheorie. Jene theoretische Ausformulierung des Paradoxen, die auf die Glücksverhältnisse moderner literarischer Texte ebenso gut bezogen werden kann wie auf das Zusammenspiel von Subjekt, Zeit und Be-

63 M. Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 101. 64 Ebd., S. 113. Innerhalb von Seels Projekt gehört diese Offenheit zu den Ermöglichungsbedingungen des »episodischen« Glücks, vgl. ebd., S. 107.

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Lesbarkeit des Glücks deutung/Performanz außerhalb von Literatur, soll im Weiteren stets »(De-)Konstruktion des Happy Ends« heißen. Fern liegt dem Zugang der ideologiekritische Grundsatz, das ›falsche‹, weil weltanschaulich propagierte Glück zu entlarven. Dass Literatur generell ein »Ort der Negation des falschen Glücks«65 zu sein habe, durchzieht als leitende Überzeugung die thematische Behandlung der literarischen Moderne. Eine an der Kritischen Theorie geschulte Glücksforschung war längere Zeit zu sehr etabliert, um noch Lektüreanregungen zu geben. Obwohl der hier verfolgte Neuansatz wie die Dekonstruktion darauf zielt, Paradoxien auszustellen,66 werden darüber hinaus jene unterscheidenden Verfahren nachvollzogen, mit denen sich subjektives Glück erfolgreich erzählen lässt. Wenn dies außerdem eine dekonstruktive Stoßrichtung hat, dann deshalb, weil die in mehrfacher Hinsicht paradoxe Konstituierung und deren zeitlicher Vollzug meist unsichtbar bleiben. Selbst für den Augenblick der literarischen Epiphanie, moderne Ablösung der Utopie, hat Michler scharfsichtig festgestellt, dass dazu »erzählstrukturell« eine »Konstruktionsleistung« vonnöten ist, die durch die Texte wie durch Bohrers bekannte Theorie67 eher »verschleiert«68 wird. Es liegt jedoch längst nicht immer eine Verschleierung vor: Die temporale Paradoxie lenkt den Blick auf Erzählexperimente, die durch einen Umbau der narrativen Struktur die Konstruiertheit jedes glücklichen Moments, nicht nur des Endes hervorkehren. Damit ergibt sich ein erster Verweis auf die beiden ebenso theoretischen wie filmanalytischen Beiträge von Liebrand und Prokić. Vorerst kann man sich noch an die Literatur halten; Wilhelm Meisters 65 Ulrike Tanzer/Erhard Beutner/Hans Höller: »Vorwort«, in: Ulrike Tanzer u.a. (Hg.): Das glückliche Leben – und die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österreichischen Literatur, Wien 2002, S. 8. 66 Dies hat Luhmann als Wende gegenüber der alten Logik erkannt: »Die Paradoxien werden nicht vermieden oder umgangen, sondern vorgeführt«, ja geradezu »zelebriert«. Niklas Luhmann: »Stenographie und Euryalistik«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 58. Glück in Literatur systemtheoretisch zu lesen, ist aufgrund der besonderen differenztheoretischen Technik doch noch etwas anderes als ›zelebrierende‹ Dekonstruktion. 67 Vgl. Karl Heinz Bohrer: »Utopie des ›Augenblicks‹ und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur«, in: ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, S. 180218. Zu Bohrers literarhistorischem Konzept der Epiphanie und einem vor allem interpretationspraktischen Vergleich mit dem Paradoxie-Modell vgl. den Lyrik-Aufsatz in diesem Band. 68 W. Michler: Zukunft und Augenblick, S. 31. Michler zielt mit seiner erzählstrukturellen Offenlegung mehr darauf, dass die ephiphanischen Momente »durch vorausliegende Diskurse legitimiert« (ebd.) seien.

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Anja Gerigk erzähltechnische Komplexität und deren glückserzeugende Funktion wurden bereits angebracht. Vielleicht wäre ein weiteres Exempel entschleiernder (De-)Konstruktion das von Wellbery so unverkennbar gezeichnete Katastrophen-Glück bei Kleist: Die drastischen Schicksalswendungen, in denen aber allein subjektive Intensität bzw. Intensität der Darstellung über Glück und Unglück entscheidet,69 macht alle an der Paradoxie beteiligten Differenzen sichtbar, sprich lesbar. Der Widerspruch vom »Glück im Unglück« könnte in seiner Drastik das kleistsche Mittel sein, Unentscheidbarkeiten grell zu beleuchten und der dadurch bedingten Unmarkiertheit der Erfüllung, welche für das modern subjektive Glück anders begründet ist als für das utopische, entgegenzuwirken. In einer letzten Ableitung soll die bisherige Grundfigur medientheoretisch umgebaut werden. Man kann fragen, ob schon in der basalen Konzentration auf Dimensionen wie Zeit und Subjektivität ein Medienverständnis angelegt ist. Der Medium/Form-Differenz70 nachgehend wäre das Bedingt-Sein durch zeitliche, subjektive Umstände noch kaum medial zu nennen. Wenn bis hierher bereits eine Medialität des modernen Glücks theoretisiert worden ist, dann nur in der vollständigen Zusammensetzung der dreifachen Paradoxie: Glückliche Formen in der Moderne bilden sich je nachdem aus, wie sich diese Anordnung im Erzählprozess herstellt bzw. auflöst. Um aber das Gesagte nicht einfach zu wiederholen, wird von derselben Fundierung her das Vorurteil über Glückserfahrung und ihr Verhältnis zur technischen Medialität einer Revision unterzogen. Besonders das filmische Happy End und seine trivialen Genres sind seit der Kritischen Theorie dafür verschrien, dass darin die emotionalisierte Affirmierung ideologischer Diskurse durch kein Bewusstsein der filmspezifischen Produktion der glücklichen Schließung gebrochen wird. Demzufolge fördert eine möglichst perfekte Illusion die erforderliche Einfühlung in die schlussendlich beglückten Figuren, jegliche mediale Reflexion scheint dabei nur hinderlich. Wird aber nicht genau diese althergebrachte, aburteilende Sichtweise bestätigt, wenn man – wie in der folgenden Skizze – das »Glück als Medienvergessenheit« zu denken unternimmt? Der Terminus hat zwar einen Anklang, jedoch keinerlei theoretische Parallele zur heideggerschen ›Seinsvergessenheit‹. Analytisch wäre immerhin festzustellen, dass nur etwas vergessen werden kann, was vorher bewusst gewesen ist. Doch auch diese Nachzeitig69 Zur Rolle des affektiv besetzten inneren Bildes nach Beda Allemann vgl. D. E. Wellbery: Prekäres und unverhofftes Glück, S. 31. 70 Vgl. dazu Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 52. Damit wird ein allgemeiner und reduzierter Medienbegriff angesetzt, der weder medientechnische Unterschiede einbezieht noch Medialität erkenntnistheoretisch vertieft.

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Lesbarkeit des Glücks keit erlaubt hier noch keine Theorie des medial erfahrenen Glücks. Vielmehr sei an die differenztheoretischen Möglichkeiten angesichts von Paradoxien erinnert: Es muss nicht eine Seite festgelegt werden, der Prozess des Glücks im Medium kann daher im intensiven Wechsel zwischen dem Bewusstmachen aller medialen Voraussetzungen und dem Ausblenden der Voraussetzungen bestehen. Wenn »Medienvergessenheit« diese Bedeutung annimmt, wird sie sogar offen für ein Weiteres – die Beobachtung ebenjener Unterscheidung, was die Reflexivität gewissermaßen potenziert. Soweit das Konstrukt, das von der Empirie der Rezeption glücklicher Erzählschlüsse gar nicht so weit entfernt sein muss. Es erklärt sich womöglich, weshalb einerseits Filme, die durch Gattungsregeln des Happy Ends medial codiert sind, gerade in der Differenz von Klischee und Identifikation als lustvoll wahrgenommen werden. Andererseits dürfen Filme, die mit den paradoxen Glücksumständen experimentell umgehen, über die Bilder sinnlich-performative Wirkungen entfalten, die nicht aus dem Bewusstsein für die verarbeiteten Paradoxien hervorgehen und trotzdem in der Einheit des Rezeptionsvorgangs differentiell darauf bezogen sind.

Theorie-Lektüren für die glückliche Moderne Die Zählung der »Glück paradox«-Figuren endet nicht bei ›zwei‹, alle folgenden Beiträge entwickeln anhand ihrer Texte und Medien theoretische Thesen dazu, wie sich das textuelle, mediale Glück in der Moderne gewandelt hat. Das in der Absicht historisierende Projekt führt über die Grundlagenreflexion im ausgedehnten Feld der Literatur- und Kulturtheorie, um jenseits von Gattungsbegriffen und Ideologiekritik das Glück zu suchen. Glückliche Zustände und Erzählverläufe sind auch in nachaufklärerischen, postmodernen Zeiten noch Gegenstand kultureller Formenbildung, es fehlte höchstens daran, deren methodische Betrachtung zu modernisieren – darin haben die Aufsätze des Bandes ihre gemeinsame Ambition. Zentrale Fragestellungen kreuzen sich dabei so, dass die theoretisch verschiedenen Antworten einander unausgesprochen reflektieren: Wie verändert die Organisationsform der modernen Gesellschaft die Vermittlung des Glücks? Welche Funktion übernehmen dabei basale kommunikative Zeichenprozesse oder bestimmte Medienkonventionen? Kann man dem Widerspruch des Glücks in sich literarhistorische Bedeutungen verleihen? Stoßen glücksbedingte Denk- und Formprobleme kulturelle Umwertungen an, auch des Bildes einer ›unglücklichen‹ Moderne? Die Überlegungen werden im Großteil der Aufsätze als Lektüren vollführt, d.h. an literarischen oder filmischen Beispielen, kanonischen und weniger erwartbaren.

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Anja Gerigk Die erste Abteilung – literarhistorisch in einer Reichweite von später Aufklärung, Romantik, Realismus bis zur klassischen Moderne – theoretisiert die »Moderne-Konditionen« des Glücks. Christian Kirchmeier beobachtet an Lessings Minna von Barnhelm einen kulturgeschichtlichen Einschnitt: Das Glücksspiel wird zur textuellen Metapher des Zufalls als Kontingenz statt Providenz, historisch parallel zur diskursiven Behandlung jener Praxis. Indem Figuren des Dramas die wechselvollen Abenteuer Liebe, Krieg und Geldgewinn zu lenken versuchen, geraten sie durch die Zufälle des Sozialen wie der dramatischen Handlung in unkontrollierbare Situationen. Mario Grizelj liest sozialtheoretisch grundlegend E.T.A. Hoffmanns Spieler-Glück: In seiner metaleptischen, insofern paradoxen Erzählform lotet der Text die Folgen der funktional differenzierten Kontingenzgesellschaft aus: Die narrative Reflexion sozialer Modernität ist so literarhistorisch über Moraldidaxe hinaus und verarbeitet strukturell die Konflikte jenes Umbruchs. Dass trotzdem das Glück des Einzelnen nicht so zufällig auftreten muss wie in den Spieler-Schicksalen der modernen Literatur, argumentiert Frank Habermanns Interpretation von Kellers Kleider machen Leute. Die reiche Glücksmotivik der Novelle wird mit Peirce auf semiotische Basalvorgänge zurückgeführt: Wenzel Strapinski existiert nur im Hinblick auf Zeichenprozesse und verdankt sein Glück den konventionellen, nicht abduktiven Schlüssen der Goldacher Gesellschaft. Die Selbstreflexion des literarischen Mediums in Habermanns Schlusswendung setzt Sandra Markewitz in einer sprachphilosophischen Linie fort, von Kleists Dichterbrief hin zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Glücksausdruck durch Schweigen, das Phantasma der Unmittelbarkeit, erweist sich als Kehrseite moderner Sprachkritik und ist als widersprüchliches Prinzip literarischer Produktivität statt als Verzicht zu begreifen. »Glück im Un-Sinn« will nicht, wie man meinen könnte, auf lustvollen Nonsens hinaus: Die zweite Gruppe von Beiträgen untersucht literaturgeschichtliche Konkretisierungen glücklicher Performanz statt Text-Bedeutung. Maren Lickhardt findet an der ästhetischen Oberfläche sowie im ästhetizistischen Intertext der Romane von Joe Lederer und Irmgard Keun ein reflexives Spiel mit den rhetorisch-narrativen Konventionen melodramatischen Erzählens. Das als ›glänzend‹ ausgestellte Glück wird durch Leerstellen, Gattungsund Medienzitate an den Leser delegiert. Alan Corkhill deckt eine Reihe von Autoren des absurden Glücks auf: Camus, Beckett, Kertész und Böll literarisieren das philosophisch-pragmatische Paradox, dass aus der performativen Bewältigung von Sinnwidrigkeit bzw. Sinndefizit glückliche Erfahrung erwachsen kann – selbst in der Verschärfung des Holocaust. Anhand von Bölls satirischen Erzählungen Mein trauriges Gesicht und Der Lacher wird die politische

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Lesbarkeit des Glücks Gefahr eines totalitären Unglücks in der reinen, entleerten Performanz aufgezeigt. Es folgt eine lyrikgeschichtliche Betrachtung zu Texten von Mayröcker und Hölderlin, die zeigen will: Der glückliche Moment wird im modernen Gedicht nicht repräsentiert, sondern durch die (ent-)paradoxierenden Unterscheidungen des Interpretierens vollzogen. Subjektpositionen, Zeitlichkeit, Glückssemantik und lyrische Performanz sind auf ihr Verhältnis zu den Reflexionsseiten Bedingung und Erfüllung zu untersuchen. Claudia Liebrand würdigt zwei Genres des klassischen Hollywood-Kinos, Screwball Comedy und Sex Comedy; sie weist nach, dass sich diese meist unterschätzten Formate durch den äußerst medienbewussten Einsatz von Schließungsfiguren auszeichnen, der nicht selten Gender-Stereotypen überraschend konterkariert. Liebrands Vorgehen demonstriert, wie eine kulturkritische Lesart filmischer oder literarischer Happy Ends auf dem methodischen Stand der Dekonstruktion und ihr verwandter Ansätze aussieht. In seiner Auseinandersetzung mit Gaspar Noés Irreversibel könnte der Beitrag von Tanja Prokić in der modernetheoretischen ersten Abteilung stehen. Ein Film, der seine Episoden in rückwärts verlaufender Chronologie erzählt und dabei das Gattungsschema des Rape and Revenge zeitlich umkehrt, steht dem Happy End, in dem Erzählzeit und erzählte Zeit am glücklichen Schluss zur Deckung kommen, einerseits fern. Andererseits dekonstruiert die dadurch bewirkte Rezeptionserfahrung, von Prokic soziologisch-diskursiv begründet, die auf Erzähl-Ordnung angewiesene und obendrein subjektiv riskante Glückskonstruktion der sozialen Moderne. Von der modernen zur antiken und neuesten Philosophie, von realistischer zu aufklärerischer und neuzeitlicher Literatur spannen sich die Erkundungen von Christian Sinn. Sie zielen auf eine Neufassung des Leseglücks: Die Selbstdekonstruktion des Mediums Schrift im Text weist alle Glücksentwürfe, gleich ob philosophische oder literarische, als Setzungen aus und fordert den Lesenden daher stets neu zur Kritik sowie zur Selbstsetzung eigener Glückseligkeit heraus. Darin sind literarische Fiktionen – auf diese Ungleichzeitigkeit kommt es Sinn an – schon vor der Moderne weiter als das zeitgenössische Denken in seiner Anlehnung an die ethische Erfahrung der Lektüren. Oliver Jahraus problematisiert abschließend die nur scheinbar selbstverständliche Vermittlung von Glück und Freiheit. Kultur – so die theoretische These – kann nicht umhin, jenes prekäre Verhältnis zu gestalten, sei es durch Austragen des Konflikts oder dessen ideologische Leugnung. Historisch ergibt sich eine weitreichende Formation, in der Denkgeschichte und politische Historie, Sozialstruktur und literarische Textfiguren miteinander in Beziehung gesetzt werden; die »Geschichte des Glücks« (Jahraus mit Foucault) nimmt teil an der Archäologie der Moderne.

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Anja Gerigk »Es steht also schlecht um das Glück in der modernen Literatur. Das zu wissen, gehört auch zur Glücksforschung.«71 Als Einspruch gegen diese ältere Bilanz dokumentiert die vorliegende Sammlung, dass es mittlerweile besser steht um Glück als literatur- und medienkulturwissenschaftlichen Gegenstand; das angekündigte interdisziplinäre Handbuch wird dies umfassender belegen.72 Nicht nur ein »guter Stoff für Dichter«73 ist wiederentdeckt, es gibt die neue »Sympathie«74 theoretisch orientierter Interpretationsansätze für ein Motiv, das eben nicht nur in einfach geformten, trivialen75 oder auch ideologisch doktrinären Texten und Kontexten vorkommt. Angesichts der sozialen Unwahrscheinlichkeit glücklicher Zustände in der Moderne und ihrer zugleich medial erhöhten Wahrscheinlichkeit sind die historische Analyse und die Konzeptualisierung von Literatur/Kultur besonders aufgerufen. Diese Beschäftigung braucht kein Happy End, ihre Selbstverständigung ist Erfüllung in sich und lebt von den vielfältigen Spannungen des Paradoxen.

Literatur Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998. Benn, Gottfried: »Einsamer nie«, in: ders.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt a.M. 1986, S. 140. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, Jena 1911 [1989].

71 H. Weinrich: Welcher Hans in welchem Glück?, S. 68. 72 Dieter Thomä u.a. (Hg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart u.a. 2010, im Erscheinen. 73 So lautet Tanzers Bejahung gegenüber Brenner, der die Gründe resümiert, weshalb das Glück »so wenig zur literarischen Darstellung« tauge: z.B. das Schweigegebot und die kleinbürgerliche Banalität; Peter J. Brenner: »Das Glück in der Literatur«, in: Alfred Bellebaum (Hg.): Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2002. S. 250. Vgl. stattdessen Ulrike Tanzer: »Kein guter Stoff für Dichter? Das Glück in der Literatur«, in: Gerda E. Moser u.a. (Hg.): »Klug und stark, schön und erotisch«. Idyllen und Ideologien des Glücks in der Literatur und in anderen Medien, Innsbruck 2006, S. 39. 74 Elm konstatiert im Blick auf Literatur, nicht deren Wissenschaft, zeitgleich mit der Postmoderne die Wiederkehr einer alten Vorliebe, vgl. Theo Elm: »Das Glück und die Literatur. Neue Beweise einer alten Sympathie«, in: Weimarer Beiträge 37 (1991), H. 6, S. 853-865. 75 Den Abstieg des Glücks in die Trivialliteratur erwähnt u.a. Helmut Kreuzer: »Vom Glück und Unglück ›auf den Flügeln der Wörter‹. Zur Einführung in dieses Heft (Introduction)«, in: LiLi 50 (1983): Glück, S. 9.

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Lesbarkeit des Glücks Bien, Günther: »Die Philosophie und die Frage nach dem Glück«, in: ders. (Hg.): Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Canstatt 1978, S. IX-XIX. Bohrer, Karl Heinz: »Utopie des ›Augenblicks‹ und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur«, in: ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981, S. 180-218. Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen. 2. durchges. u. erw. Aufl., Frankfurt a.M. 1943/41. Brenner, Peter J.: »Das Glück in der Literatur«, in: Alfred Bellebaum (Hg.): Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2002. S. 245-259. Brüder Grimm: »Hans im Glück«, in: dies.: Kinder- und Hausmärchen. Bd. 1. Märchen Nr. 1-86, Stuttgart 1980, S. 407-413. Corkhill, Alan: Glückskonzeptionen im deutschen Roman von Wielands »Agathon« bis Goethes »Wahlverwandtschaften«, St. Ingbert 2003. Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 1992. Elm, Theo: »Das Glück und die Literatur. Neue Beweise einer alten Sympathie«. In: Weimarer Beiträge 37 (1991), H. 6, S. 853-865. Esposito, Elena: »Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 35-57. Frankl, Viktor E.: »Paradoxien des Glücks«, in: Ulrich Hommes (Hg.): Was ist Glück? Ein Symposion, München 1976, S. 108126. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders.: Studienausgabe. Bd. IX. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. 1982, S. 197-270. Goethe, Johann Wolfgang: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: ders.: Sämtliche Werke. Vierzig Bände. Bd. 9. Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Frankfurt a.M. 1992, S. 355-992. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004. Hagenbüchle, Roland: »Was heißt ›paradox‹? Eine Standortbestimmung«, in: Paul Geyer/Roland Hagenbüchle (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992, S. 27-43. Henrich, Dieter: »Glück und Not«, in: ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, S. 131-141.

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Anja Gerigk Krämer, Hans: »Selbstverwirklichung«, in: Günther Bien (Hg.): Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Canstatt 1978, S. 21-43. Kreuzer, Helmut: »Vom Glück und Unglück ›auf den Flügeln der Wörter‹. Zur Einführung in dieses Heft (Introduction)«, in: LiLi 50 (1983). Glück, S. 7-15. Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Bd. 1. Sudelbücher, hg. v. Wolfgang Promies, München 1968. Luhmann, Niklas: »Stenographie und Euryalistik«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 58-82. Marcuse, Ludwig: Philosophie des Glücks. Von Hiob bis Freud. Vollst. Neuausg., Zürich 1972. Marquard, Odo: »Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie«, in: ders.: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 11-38. Michler, Werner: »Zukunft und Augenblick. Utopien der Jahrhundertwende«, in: Ulrike Tanzer u.a. (Hg.): Das glückliche Leben – und die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österreichischen Literatur, Wien 2002, S. 17-31. Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München u.a. 1988, S. 241334. Pothast, Ulrich: »Glück und Unverfügbarkeit«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 51-84. Riedel, Manfred: »Historischer, metaphysischer und transzendentaler Zeitbegriff. Zum Verhältnis von Geschichte und Chronologie im 18. Jahrhundert«, in: Reinhard Koselleck (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 301-316. Röder, Gerda: Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman. Eine Studie zu Goethes »Wilhelm Meister«, München 1968. Schulze, Gerhard: »Das Projekt des schönen Lebens. Zur soziologischen Diagnose der modernen Gesellschaft«, in: Alfred Bellebaum/Klaus Barheier (Hg.): Lebensqualität. Ein Konzept für Praxis und Forschung, Opladen 1994, S. 13-36. Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, Frankfurt a.M. 1995. Stadler, Ernst: »Form ist Wollust«, in: ders.: Dichtungen, Schriften, Briefe, München 1983, S. 138.

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Lesbarkeit des Glücks Tanzer, Ulrike/Erhard Beutner/Hans Höller: »Vorwort«, in: Ulrike Tanzer u.a. (Hg.): Das glückliche Leben – und die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österreichischen Literatur, Wien 2002, S. 7-8. Tanzer, Ulrike: »Kein guter Stoff für Dichter?. Das Glück in der Literatur«, in: Gerda E. Moser u.a. (Hg.): »Klug und stark, schön und erotisch«. Idyllen und Ideologien des Glücks in der Literatur und in anderen Medien, Innsbruck 2006, S. 23-44. Thomä, Dieter u.a. (Hg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart u.a. 2010, im Erscheinen. Voßkamp, Wilhelm: »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution. Begriffs- und funktionsgeschichtliche Überlegungen zum deutschen Bildungsroman am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts«, in: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart 1989, S. 337-352. Weinrich, Harald: »Welcher Hans in welchem Glück? Von der Utopie der Glücksforschung«, in: Hiltrud Gnüg (Hg.): Literarische Utopie-Entwürfe, Frankfurt a.M. 1982, S. 53-69. Wellbery, David E.: »Prekäres und unverhofftes Glück. Zur Glücksdarstellung in der klassischen deutschen Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 13-50.

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I. Moderne-Konditionen

Glück im Spiel. Das Glücksspiel als Kontingenzmetapher in Lessings Minna von Barnhelm CHRISTIAN KIRCHMEIER

I. Hasardeure Das Glück schien den preußischen König im September 1757 verlassen zu haben. Als Friedrich II. im Jahr zuvor in Kursachsen einmarschiert war, hatte er noch die Hoffnung, mit einem Präventivkrieg eine schnelle Entscheidung zu erzwingen. Am 18. Juni 1757 erlitt er jedoch in der Schlacht von Kolin eine katastrophale Niederlage gegen Österreich, welche die Wende von einem kurzen Offensivkrieg zu einem sieben Jahre dauernden Defensivkrieg mit wechselndem Schlachtenglück einleitete.1 Im September erreichten den König zwei weitere Hiobsbotschaften: Er erfuhr vom Tod seines Generals Hans Karl von Winterfeldt, der ein wichtiger, äußerst loyaler Wegbegleiter gewesen war. Außerdem kapitulierte der Herzog von Cumberland auf dem westlichen Kriegsschauplatz und nun drohte Preußen sogar ein Vorstoß der französischen Armee. Für Friedrich sind diese Ereignisse der Anlass, über das erlebte Unglück zu reflektieren. Am 17. September schreibt er an seine Schwester Wilhelmine: »Seit meinem letzten Brief vermehrt sich mein Unglück nur. Das Schicksal scheint seine ganze Wucht und seinen ganzen Zorn auf den armen Staat entladen zu wollen, den ich regiere.«2 Es folgen Ausführungen über die Standhaftigkeit, die sich angesichts des Unglücks zeige, über die Schwierigkeit, Verteidiger im Unglück zu finden, und über die Möglichkeit, durch den 1 2

Vgl. Johannes Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763. 10., neu bearb. Aufl., Stuttgart 2006, S. 417-425. Friedrich der Große: »Brief an Wilhelmine. Erfurt, 17. September 1757«, in: Otto Bardong (Hg.): Friedrich der Große, Darmstadt 1982, S. 388. Zu Brief und historischem Kontext vgl. Johannes Kunisch: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004, S. 370-373.

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Christian Kirchmeier gemeinsamen Freitod das Unglück zu beenden. Aufschlussreich ist vor allem, was Friedrich in seinen Überlegungen nicht erwähnt. Erstens blendet er eine eigene Schuld an dem Unglück aus, obwohl sich Gründe wie die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten oder der misslungene Schlachtplan durchaus anführen ließen.3 Friedrich begreift sein eigenes Handeln nur als Beleg von Stärke gegenüber äußerem Unglück: »[U]nd trotzdem biete ich dem Mißgeschick noch immer Trotz und glaube, daß mein Verhalten bisher frei von aller Schwäche war.«4 Zweitens geht Friedrich nicht so weit, das Unglück einer göttlichen Instanz zuzuschreiben. Für das Unglück könne keine Vorsehung verantwortlich sein, so erklärt er Wilhelmine, denn »wenn die Vorsehung sich in diese menschlichen Angelegenheiten mischte, so müßtest Du die glücklichste Person der Welt sein«5. Die Ursache für Glück und Unglück stellt Friedrich also in einen Begründungszusammenhang, der sich aus einer doppelten Negation ergibt: Glück und Unglück sind weder die Folge eigenen Handelns noch die unmittelbare Konsequenz eines göttlichen Willens. Mit dieser Argumentation vermeidet es Friedrich, sein Unglück als Problem der Theodizee formulieren zu müssen. Friedrich lässt die Frage nach den Ursachen von Glück und Unglück nicht unbestimmt. Denn ebenfalls im September 1757 verfasst er eine Épître sur le hasard, die er seiner Schwester Amalie widmet. In diesem Gedicht fragt er, wie es sein könne, »que le malheur persécute les sages«, und seine Antwort lautet: »Le monde est donc, ma sœur, l’empire du hasard«.6 Friedrich zählt verschiedene weltgeschichtlich bedeutsame Ereignisse auf, wie den Untergang der Spanischen Armada durch den Sturm, und deutet diese Ereignisse als Belege für die Bedeutung des Zufalls in der Geschichte. Im Einklang mit der Schulphilosophie vermeidet es Friedrich in seiner Argumentation, den Zufall zu einem eigenständigen Prinzip zu erheben. Er beschränkt den Einfluss des Zufalls auf den Bereich der »causes secondes«,7 den Wirkungsbereich der Geschöpfe, und lässt so im Bereich der causes premières Raum für eine göttliche Vorsehung, für eine providence générale.8 Bemerkenswert ist weniger die 3 4 5 6 7 8

Vgl. J. Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung, S. 418. Friedrich der Große: Brief an Wilhelmine, S. 390. Ebd., S. 391. Ders.: »Épître sur le hasard. À ma sœur Amélie«, in: ders: Œuvres de Frédéric le Grand. Bd. 12, hg. v. Johann D. E. Preuss, Berlin 1849, S. 66. Ebd. Im Artikel »Providence« heißt es noch in der Encyclopédie entsprechend restriktiv: »Mais qu’est-ce que le hasard? Le hasard n’est rien; c’est une fiction, une chimere qui n’a ni possibilité, ni existence. On attribue au hasard des effets dont on ne connoît pas les causes«; Denis Diderot/Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des

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Glück im Spiel philosophische und theologische Systematik in der Frage, wie Zufall, Kausalität und göttliche Vorsehung zusammenhängen. Auffällig ist vielmehr, dass das Konzept des Zufalls als Erfahrung von Kontingenz Mitte des 18. Jahrhunderts besondere Plausibilität gewonnen hat und es kaum noch möglich war, jeden Zufall mit göttlicher Providenz zu erklären. Die Épître sur le hasard steht exemplarisch für eine Auffassung, welche die Erfahrung von Glück und Unglück einem Zufall zurechnet, der weder mit Mitteln des Glaubens noch mit Mitteln der Vernunft gebändigt werden kann. Wenn die höchst vieldeutigen Begriffe ›Glück‹ und ›Unglück‹ verwendet werden, dann ist eine begriffliche Unterscheidung notwendig, die sich im Deutschen mit dem Gegensatz von ›Glück haben‹ und ›glücklich sein‹ veranschaulichen lässt. In anderen Sprachen kann diese Differenz durch verschiedene Lexeme ausgedrückt werden, wie beispielsweise eutychía/eudaimonía, fortune/bonheur oder luck/happiness.9 Worum es im Folgenden geht, ist jeweils die erste Seite dieser Unterscheidungen, nicht aber der Zustand eines Glücksgefühls. Aus Friedrichs Überlegungen lässt sich eine weitere Präzisierung ableiten: Glück und Unglück sind historisch spezifische Deutungsmöglichkeiten einer Kontingenzerfahrung. Sie sind also erst beobachtbar, wenn eine Person ein zufälliges Ereignis als glücklich oder unglücklich deutet. Diese noch abstrakte Bestimmung lässt sich modellhaft am reinen Glücksspiel exemplifizieren, dessen Funktion genau darin liegt, Glück und Unglück nach dem Zufallsprinzip zu sortieren. Das Glücksspiel soll aber nicht nur als heuristisches Modell dienen, sondern auch mit seiner Historizität in Verbindung gesetzt werden. Denn gerade im 18. Jahrhundert erlebte das Glücksspiel eine Hochphase, was dem Jahrhundert die Bezeichnung »Spielsäculum« einbrachte.10 Es ist die Grundidee dieses

arts et des métiers. Bd. 13, Paris 1751ff., S. 516; siehe auch den Eintrag »Hazard«, Bd. 8, S. 74f. Vgl. Johannes Köhler: »Vorsehung«, in: Joachim Ritter u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11, Basel 2001, Sp. 1206-1218; Hermann Deuser: »Vorsehung I. Systematisch-theologisch«, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 35, Berlin u.a. 2003, S. 302-323. Zu Friedrichs Gedicht vgl. Theodor Schieder: Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt a.M. u.a., S. 379-381. 9 So auch Uwe Schimank/Thomas Kron: »Glücksspiele und der Ernst des Lebens. Fortuna in Aktion«, in: Alfred Bellebaum (Hg.): Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme, Konstanz 2002, S. 157. 10 Vgl. Manfred Zollinger: Geschichte des Glücksspiels. Vom 17. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien u.a. 1997, S. 16. Vgl. als Überblick Michaela Fenske: »Glücksspiel«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 4, Stuttgart u.a. 2006, Sp. 976-979. Auffallend ist, dass sich auch die gegenwärtige Geschichtsschreibung der Spielmetapher für diese Zeit bedient, so Burkhardt über Friedrichs Ziel im Siebenjährigen Krieg, »als

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Christian Kirchmeier Aufsatzes, dass ebenjene historische Hochphase des Glücksspiels nicht zufällig gerade in das 18. Jahrhundert fällt, sondern dass das Glücksspiel als Paradigma der Kontingenzerfahrung dieser Epoche verstanden werden kann. Das Glücksspiel als historisches Phänomen soll dabei den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden. Schon im historischen Kontext des Siebenjährigen Krieges fällt auf, wie intensiv der Diskurs über das Glücksspiel geführt wurde und wie weit verbreitet die Praxis des Glücksspiels war. So sahen Mitte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Fürsten in der Durchführung von Zahlenlotterien die Möglichkeit einer neuen Finanzquelle – nicht zuletzt, um militärische Operationen bezahlen zu können.11 In Paris wird im Jahr 1757 mit Giacomo Casanova einer der bekanntesten Glücksspieler der Zeit zum Direktor der französischen Staatslotterie ernannt.12 Auch Friedrich der Große veranstaltet 1763 eine staatliche Zahlenlotterie, um die preußischen Finanzen im Anschluss an den ressourcenzehrenden Krieg zu sanieren.13 Neben der Lotterie als staatlicher Einnahmequelle waren vor allem Würfel- und Kartenspiele, insbesondere unter Soldaten, sehr populär. Für die diskursive Nähe von Soldaten und Glücksspiel gab es zwei wichtige Gründe. Zum einen schien das Glücksspiel die Situation des Soldaten auf dem Schlachtfeld zu symbolisieren. So schreibt Friedrich Buchholz in der Gallerie Preussischer Charaktere von 1808: Das Kartenspiel »vergegenwärtigt ihm [dem Soldaten; C.K.] nämlich sein Metier unaufhörlich, und erhält ihn folglich in der Stimmung, worin man sich befinden muß, wenn man mit Erfolg Soldat seyn will.«14 Zum anderen zählte das Karten- und Würfelspiel zu den bevorzug-

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Mitspieler in Europa« akzeptiert zu werden. Johannes Burkhardt: »Vom Debakel zum Mirakel. Zur friedensgeschichtlichen Einordnung des Siebenjährigen Krieges«, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen, Berlin 2002, S. 314. Vgl. Wolfgang Weber: »Zwischen gesellschaftlichem Ideal und politischem Interesse. Das Zahlenlotto in der Einschätzung des deutschen Bürgertums im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert«, in: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987), S. 116-149. Giacomo Casanova: Geschichte meines Lebens. Erstmals nach der Urfassung ins Deutsche übersetzt von Heinz v. Sauter. Bd. 5, hg. v. Erich Loos, Berlin 1965, S. 42-61; vgl. J. Rives Childs: Giacomo Casanova de Seingalt. 5. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2000, S. 51f. Vgl. Nicola Kaminski: »›Vis-à-vis du rien‹ oder Wie in einer Partie Karten mit dem Fräulein von Barnhelm und dem Chevalier de la Marlinière der Major von Tellheim das Große Los zieht«, in: Jürgen Stenzel/Roman Lach (Hg.): Lessings Skandale, Tübingen 2005, S. 164-166. Paul Ferdinand Friedrich Buchholz: Gallerie Preussischer Charaktere. Aus der Französischen Handschrift übersetzt, Germanien 1808, S. 176.

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Glück im Spiel ten Freizeitaktivitäten der Soldaten,15 obwohl es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus Bestrebungen gab, das Glücksspiel des Kleinbürgertums und der Unterschichten durch Verbote einzuschränken. In den Quartieren wurde es von den hohen Offizieren aber geduldet, da die Soldaten so an einem Ort versammelt waren und besser kontrolliert werden konnten.16 Enger Kontakt zum Militär während des Siebenjährigen Krieges war auch für Gotthold Ephraim Lessing der biographische Zufall, der ihn in intensiven Kontakt mit dem Glücksspiel brachte. Er hatte am 7. November 1760 inmitten des Krieges spontan Berlin verlassen, um in Breslau die Stelle eines Gouvernementsekretärs bei General von Tauentzien anzunehmen.17 Im soldatischen Milieu der Stadt entwickelt er sich zu einem leidenschaftlichen Spieler. Der Breslauer Freund Samuel Benjamin Klose berichtet: »Fast täglich ging er nach sechs gegen sieben Uhr in das Theater, und von da mehrentheils, ohne das Stück ausgehört zu haben, in die Spielgesellschaft, von wo er spät nach Hause zurückkehrte, und den andern Tag nicht vor acht oder neun Uhr aufstand.«18 Sein Bruder Karl beschreibt die Leidenschaft sogar als »Spielsucht«19: »Einer seiner Freunde, der ihn bey dem Pharaotische beobachtete, sah einmal, wie ihm die Schweißtropfen vom Gesichte herunterliefen. Er sah auch, daß er nicht im Unglücke war, sondern diesen Abend sehr glücklich spielte.« 20 Wie sehr Lessing das Glücksspiel zu dieser Zeit beschäftigte, lässt ein Brief an Moses Mendelssohn erkennen: »Ich habe eine Menge Sophistereien über das Spiel auszukramen. Das fehlte noch, werden Sie sagen. Allerdings; denn das Pharao für sich ist so gedankenlos, daß man sich doch mit etwas dabei beschäftigen muß. Unter andern bin ich dahinter gekommen – Aber lassen Sie mich nicht vom Spiele, sondern von Spinoza noch ein Paar Worte mit Ihnen plaudern.«21

15 Zu der Nähe von Militär und Glücksspiel vgl. M. Zollinger: Geschichte des Glücksspiels, S. 94-108. 16 Vgl. ebd., S. 108-131. 17 Vgl. Hugh B. Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übers. v. Karl S. Guthke, München 2008, S. 368-398. Vgl. auch Dieter Hildebrandt: Lessing. Biographie einer Emanzipation, München u.a. 1979, S. 258-268. 18 Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen, München 1971, Nr. 277, S. 172. 19 Karl Gotthelf Lessing: Gotthold Ephraim Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse. Erster Theil, Berlin 1793, S. 221. 20 Ebd., S. 222. 21 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 11/1, hg. v. Wilfried Barner u.a., Frankfurt a.M. 1987, S. 385.

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Christian Kirchmeier Lessings Spiel, das Pharao,22 darf nicht mit den hohen mathematisch-statistischen und strategischen Kenntnissen in Verbindung gebracht werden, über die heute ein Pokerspieler verfügen muss. Im Gegenteil ist Pharao, das beliebteste Kartenglücksspiel im 18. Jahrhundert, in besonders hohem Maße vom Zufall bestimmt. Man muss sich die Grundregeln von Pharao vergegenwärtigen, um zu verstehen, wie »gedankenlos« das Spiel tatsächlich ist:23 Eine Spielgesellschaft besteht aus dem Banquier, der den Mindesteinsatz sowie die maximale Summe angibt, bis zu der gespielt werden kann. Die eigentlichen Spieler, die Pointeurs, spielen gegen den Banquier. Vor jeden Pointeur werden alle 13 Karten einer Farbe gelegt, auf die sie dann ihre Einsätze legen. Der Banquier nimmt ein vollständiges Französisches Blatt mit 52 Karten und hebt nun sukzessive zwei Karten von dem Stapel ab. Die erste Karte gewinnt für die Bank, die zweite Karte gewinnt für die Pointeurs, wobei lediglich der Wert der Karten und nicht die Farbe zu berücksichtigen ist. Wird beispielsweise als erste Karte ein König gezogen, so verlieren alle Pointeurs ihre auf den König gesetzten Einsätze. Ist die zweite Karte etwa eine Zehn, so erhalten alle Pointeurs ihre auf die Zehn gesetzten Einsätze plus denselben Betrag von der Bank zurück. Die besseren Chancen liegen allerdings bei der Bank. Ihr statistischer Vorteil besteht erstens darin, dass bei zwei gleichnamigen Karten (z.B. Herz- und Pik-König) die Pointeurs die Hälfte ihres Einsatzes an den Banquier verlieren, und zweitens darin, dass bei dem letzten Abzug nur die erste Karte, also die Karte der Bank, gewinnt, die unterste Karte des Stapels, also die letzte Karte der Pointeurs, hingegen nicht gewertet wird. Die Pointeurs ihrerseits können vor jedem neuen Abzug von zwei Karten ihre gemachten Einsätze nur erhöhen und nicht zurücknehmen, was die Gewinne, vor allem aber die Verluste in astronomische Höhen treiben konnte, wie der Artikel im Krünitz warnend erwähnt. Das beschriebene Glücksspiel ist also ganz im oben genannten Sinne eine Maschine purer Kontingenz. Es ist eine Black Box, die lediglich die Funktion hat, per Zufall Glück und Unglück auf die Spieler zu verteilen.

22 Lessings Leidenschaft für das Glücksspiel beschränkte sich allerdings nicht auf das Kartenspiel, sondern schloss beispielsweise auch das Lotto mit ein. Vgl. dazu Gerhard Lutz: »Lessing und die Quinterne. Primärquellen zum Lottofieber im 18. Jahrhundert«, in: Dieter Harmening/Erich Wimmer (Hg.): Volkskultur – Geschichte – Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag, Würzburg 1990, S. 128-141. 23 Die Darstellung folgt dem umfangreichen Artikel »Spiel (Hazard=), Glücksspiel, Wagespiel«, in: Johann G. Krünitz (Hg.): Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft. In alphabetischer Ordnung. Bd. 157, Berlin 1833, S. 751-764.

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Glück im Spiel Lessing verbrachte in Breslau viel Zeit mit dem Pharao, war als Gouvernementsekretär aber auch unmittelbarer Zeuge der Kriegshandlungen. Insbesondere die Belagerung Schweidnitz’, die ausgesprochen gewaltsam geführt wurde und über 6500 Opfer kostete, prägte ihn.24 Sofern es Lessing als Autor betrifft, scheint die Breslauer Erfahrung zunächst keine positiven Seiten zu haben. Aus publizistischer Sicht war die Zeit ein regelrechter »Karriereknick«,25 da er keinen einzigen Text drucken ließ. Dennoch fällt ein für Lessings Werk zentrales Datum in die Breslauer Zeit: 1763 – im Jahr des Hubertusburger Friedens – entsteht ein erster Entwurf der Minna von Barnhelm.26 Bereits der von Thomas Otway27 entlehnte Untertitel »Das Soldatenglück« verweist auf die zwei Dimensionen Soldatentum und Glück und gibt somit einen ersten Hinweis auf die Nähe des Textes zu Lessings Lebensumfeld in Breslau. Der Autor nimmt die beiden Elemente nicht nur als Anregungen, sondern bezieht Militär und Glücksspiel im Medium des Dramas systematisch aufeinander und findet so eine literarische Ausdrucksform für die Kontingenzerfahrung, die zu den Konstituenten der Frühen Neuzeit zählt. Dies soll in einer Interpretation des Lustspiels gezeigt werden.

II. Riccauts Risiko Die Lektüre beginnt inmitten des Textes, mit der Riccaut-Szene im vierten Akt. Obwohl die Figur des Riccaut nur dieses eine Mal auftritt und obwohl die Szene für den Fortgang der Dramenhandlung nicht von Bedeutung ist, hat sie in der Forschungsgeschichte eine weitreichende Umwertung erfahren.28 Die ältere Forschung widmete der Szene nur geringe Aufmerksamkeit und nutzte sie lediglich, um eigene antifranzösische Ressentiments auf die Lessingzeit zu übertragen. Riccaut wurde dann als Typus eines verächtlichen Franzosen begriffen und galt als Kontrastfigur zum tugendhaften Offizier Tellheim.29 Erst mit Paul Böckmann30 sowie vor allem durch den 24 Vgl. H. B. Nisbet: Lessing, S. 383-386. 25 Ebd., S. 389. 26 Lessings Angabe auf der Titelseite (»verfertiget im Jahre 1763«, G. E. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 9) ist jedoch vor allem als Hinweis auf den Siebenjährigen Krieg zu lesen, das Stück wurde erst 1767 fertig gestellt (zur Entstehung vgl. ebd., S. 803f.). 27 Lessing hatte bereits 1756 einige Notizen zu Otways The Soldier’s Fortune verfasst (G. E. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 737-741). 28 Für einen Forschungsüberblick vgl. Gunter E. Grimm: »Riccaut de la Marlinière, Glücksritter und Franzos. Die Rezeption einer Lustspielfigur zwischen Gallophilie und Gallophobie«, in: Euphorion 90 (1996), S. 383-393. 29 Vgl. ebd., S. 384-386.

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Christian Kirchmeier wichtigen Aufsatz Fritz Martinis31 wurde die Frage nach der literarischen Funktion der Figur Riccauts gestellt. Darauf Bezug nehmend hat die jüngere Forschung die Riccaut-Figur regelmäßig in ihren Interpretationen des Textes berücksichtigt.32 Dabei wurde häufig vernachlässigt, wie in dieser Szene exemplarisch das Thema der Kontingenzerfahrung für das gesamte Drama entworfen wird. Es ist vor allem das Verdienst Nicola Kaminskis, das Glücksspiel und die Funktion des Zufalls konsequent aufeinander bezogen zu haben. Als These findet sich der Gedanke explizit von Peter C. Giese formuliert, der im Spiel Riccauts eine Leitmetapher des Stücks sieht: »Das Glücksspiel, um das sich das Gespräch zwischen Minna und Ric30 Paul Böckmann: »Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1932/ 33), S. 117f. 31 Fritz Martini: »Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm«, in: Walter Müller-Seidel/Wolfgang Preisendanz (Hg.): Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann, Hamburg 1964, S. 193-235. 32 Einige einschlägige Beispiele sind Peter C. Giese: »Riccaut und das Spiel mit Fortuna in Lessings Minna von Barnhelm«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 104-116 sowie ders.: »Glück, Fortüne und Happy Ending in Lessings Minna von Barnhelm«, in: Lessing Yearbook 18 (1986), S. 21-64; zum Verhältnis der Figur des Riccaut zum Typus des Capitano in der Commedia dell’arte vgl. Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und Théâtre Italien, Stuttgart 1965, S. 293f.; für Peter Pütz: Die Leistung der Form. Lessings Dramen, Frankfurt a.M. 1986, gehört Riccaut zu dem »Glückstag« der Handlung »wie die Kugel zum Roulette« (S. 227); Bodo Plachta: »›Corriger la fortune‹. Das Glück des Fräulein von Barnhelm und des Major von Tellheim«, in: Wirkendes Wort 45 (1995), S. 396-405; Martin Kagel: »Des Soldaten Glück. Aufklärung, Kriegserfahrung und der Ort des Militärs in Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm«, in: Lessing Yearbook 35 (2003), S. 24f. und ähnlich ders.: »Militärisches Heldentum und symbolische Ordnung in Gotthold Ephraim Lessings Philotas und Minna von Barnhelm«, in: Wolfgang Adam/Holger Dainat (Hg.): »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, Göttingen 2007, S. 310f.; N. Kaminski: »Vis-à-vis du rien«; Überlegungen zu einer möglichen historischen Person als Vorlage für Lessing verfolgt Fernand Baldensperger: »L’original probable de Riccaut de la Marlinière dans la Minna von Barnhelm de Lessing«, in: Neophilologus 23 (1938), H. 4, S. 266-271; Heidi M. Schlipphacke: »›Vous appellés cela betrügen?‹ Slippery French Morals and German Bourgeois Virtues in Selected Writings by G.E. Lessing«, in: Aminia M. Brueggemann/Peter Schulman (Hg.): Rhine Crossings. France and Germany in Love and War, Albany/NY 2005, S. 35-65 vertritt in der neueren Forschung hingegen eine Minderheitenmeinung, wenn sie Riccaut auf das komische Element reduziert und als Negativbeispiel in Kontrast zu den deutschen Figuren deutet.

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Glück im Spiel caut dreht, ist in seiner Konkretion zugleich Metapher für eine bestimmte Art, die Wechselfälle des Lebens zu akzeptieren und sich spielerisch-selbstbewußt in ihnen zu behaupten«33. Es ist hilfreich, einige genauere Beobachtungen zu jener Szene festzuhalten. Riccaut kommt bei seinem Auftritt in genau jenes Zimmer, das Tellheim bis zum vorhergehenden Tag bezogen hatte. Tellheim befindet sich noch in Berlin, da er einen schriftlichen Eid abgelegt hat, die Stadt nicht eher zu verlassen, bis er von allen Anschuldigungen vollständig rehabilitiert wäre. Weil es nicht mehr in seiner Macht steht, ein glückliches oder unglückliches Ende herbeizuführen, wartet er auf eine Nachricht, also ein externes Ereignis, das ihn über Glück oder Unglück informiert. Zunächst ist Riccaut ein Bote, der Tellheim die Mitteilung von dem glücklichen Ausgang des Verfahrens ausrichten will. Als Bote ist seine Funktion, eine ungewisse Zukunft in eine sichere Gegenwart zu wandeln. Die Information kann diese Sicherheit aber nicht erzeugen, da die Mitteilung aufgrund eines Zufalls misslingt: Die Nachricht erreicht nicht ihren Empfänger Tellheim, sondern Minna. Als wenig später Minna die Botschaft von dem nun nahenden »glücklichsten Ausgange« (IV/6, S. 85)34 Tellheim persönlich zu überbringen versucht, zweifelt Tellheim die Nachricht an, stellt also die Information unter Kontingenzverdacht, da der Weg der Mitteilung (vom König über einen unbekannten Minister, der sich später als Feldjäger herausstellt, über Riccaut und Minna zu Tellheim) unsicher geworden ist. Tatsächlich wird erst die direkte Kommunikation zwischen König und Tellheim im Medium des Briefes gelingen (V/9, S. 98f.). Riccaut hat einen Grund dafür, dass er nach dem Aufeinandertreffen mit Minna nicht weiter versucht, seine Nachricht persönlich an Tellheim zu übermitteln. Denn sein Ziel ist nur in zweiter Linie eine gelungene Kommunikation. Was Riccaut wirklich versucht, ist eher als eine Art Tausch zu bezeichnen, der ihm als Überbringer der guten Nachricht Lohn einbringt. Riccaut gibt sich als Spieler zu erkennen, der sein Glück im Pharao versucht. Im Dialog mit Minna berichtet er von seinen Verlusten: »Seit funfsehn Tag iß vergangen keine, wo sie mik nit hab gesprenkt. Nok gestern habe sie mik gesprenkt dreimal« (IV/2, S. 73). Riccaut hat demnach als Banquier gegen die Pointeurs verloren und zwar in dem Ausmaß, dass er mehrfach ›gesprengt‹ wurde, also bis zu dem von ihm vor dem Spiel ausgegebenen Limit alles verloren hat.35

33 P. C. Giese: Glück, Fortüne, S. 28. 34 Die Zitate folgen mit Angabe von Akt, Szene und Seitenzahl der Ausgabe G. E. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 9-110. 35 Der Pointeur kann mit dem Ausruf »Va banque!« angeben, dass er bis zu dem Limit der Bank setzt.

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Christian Kirchmeier Nachdem Minna ihm Geld für eine neue Bank gegeben hat, fällt Riccauts viel zitierte Aussage, in der er sich als Falschspieler zu erkennen gibt: »RICCAUT Comment, Mademoiselle? Vous appellés cela betrügen? Corriger la fortune, l’enchainer sous ses doits, etre sûr de son fait, das nenn die Deutsch betrügen? betrügen! O, was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak! für ein plump Sprak!« (IV/2, S. 75)

Giese hat darauf hingewiesen, dass es um die Fähigkeiten Riccauts als Falschspieler nicht gut bestellt sein kann, wenn er sein letztes Geld beim Glücksspiel verloren hat.36 Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass Riccauts Niederlage – wenigstens nach eigenen Angaben – gegen andere Falschspieler erfolgt ist: »RICCAUT […] Je sais bien, qu’il y avoit quelque chose de plus que le jeu. Car parmi mes pontes se trouvoient certaines Dames – Ik will niks weiter sag. Man muß sein galant gegen die Damen.« (IV/2, S. 73)

Es ist nicht davon auszugehen, dass es sich dabei lediglich um eine ganz aus der Luft gegriffene Rechtfertigung Riccauts handelt. Das Falschspiel war im 18. Jahrhundert weit verbreitet, es gab zahlreiche Publikationen mit hohen Auflagen, die über die Techniken des Falschspiels informierten und vor Falschspielern warnten (so ausführlich im Glücksspiel-Artikel des Krünitz), und die Begleitung von schönen Frauen, die oft in Verbindung mit Prostitution gebracht wurden, zählte zum Topos des Falschspielers.37 Das Thema, das Lessing mit dem Falschspielen aufgreift, ist für die Frage nach der Kontingenzerfahrung besonders relevant. Sofern nämlich die Regeln des Glücksspiels befolgt werden, sind Glück und Unglück dem Spiel selbst zuzurechnen und nicht Folge von eigenen Handlungen. Auch Riccaut macht für seine Niederlage zunächst gerade nicht die eigene Leistung verantwortlich, sondern die Faktoren Glück und Unglück, die außerhalb seines Einflussbereichs liegen: »Nun hab ik immer gespielen mit Glück, so lang ik hatte nit von nöten der Glück. Nun ik ihr hätte von nöten, Mademoiselle, je joue avec un guignon, qui surpasse toute croyance« (IV/2, S. 73). Der Ausgang des Spiels ist kontingent, deswegen droht jedem Spieler die Gefahr, sein Geld zu verlieren. Das Falschspiel im Sinne des »Corriger la fortune« bedeutet, Glück und Unglück nicht dem zufälligen Spiel, sondern den eigenen Fähigkeiten als Falschspieler zuzurechnen. Das Spiel ist dann nicht mehr kontingent, sondern unterliegt der Kontrolle mittels der eigenen Fähigkeiten. 36 Vgl. P. C. Giese: Riccaut und das Spiel mit Fortuna, S. 112-114. 37 Vgl. dazu M. Zollinger: Geschichte des Glücksspiels, S. 154-172.

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Glück im Spiel So verstanden ist das Falschspiel eine Möglichkeit der Kontingenzbewältigung, also ein genuiner Umgang mit der Kontingenzerfahrung. Deswegen hat es nicht nur eine komische, sondern auch eine sachliche Dimension, wenn sich Riccaut dagegen wehrt, dass sein Versuch, die Kontingenzbewältigung auf den Begriff zu bringen (»Corriger la fortune, l’enchainer sous ses doits, etre sûr de son fait«, IV/2, S. 75), mit dem Wort ›betrügen‹ lediglich moralisch abgewertet wird. Denn ungeachtet der moralischen Bewertung ist der Falschspieler wenigstens nicht der externen Gefahr einer Niederlage ausgeliefert, sondern es unterliegt ihm als eigenes Risiko, ob er sich entscheidet, sein Schicksal als Falschspieler in die eigene Hand zu nehmen.38 Für ihn gibt es dann nur noch die (außerhalb seines Einflussbereichs liegende) Gefahr, dass er zufällig an Gegenspieler geraten ist, die versiert genug sind, seine Tricks zu durchschauen – oder aber, dass die Gegenspieler sogar noch bessere Falschspieler sind. Dieser letzte Fall, welchen der Text nahelegt, macht aus dem Glücksspiel eine Art Sport, bei dem nicht der glücklichere Spieler, sondern der bessere Falschspieler gewinnt.

III. Tellheim und das Soldatenglück Wenn die ältere Forschung Riccaut lediglich als Kontrastfigur zu Tellheim begriffen hat, so musste sie einige auffällige Parallelen zwischen den beiden Figuren ausblenden. Fritz Martini hat diese Parallelen herausgearbeitet: Beide sind Ausländer in Preußen (Tellheim ist Kurländer), beide sind abgedankte Soldaten, beide hat der Dienst am Staat finanziell ruiniert, und beide sind auf die Straße geworfen.39 Zudem finden sich im Text zahlreiche strukturelle Analogien zwischen Soldatentum und Glücksspiel. Wenn beispielsweise Riccaut ankündigt, er würde im Falle einer Niederlage »Rekruten« (IV/2, S. 74), also zusätzliches Geld, von Minna holen, so verweist 38 Zu dieser Unterscheidung von Gefahr und Risiko vgl. Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin 2003. Darin bestimmt Luhmann zwei Möglichkeiten, mit zukünftigen Schäden (wie beispielsweise einer Niederlage im Glücksspiel) umzugehen: »Entweder wird der etwaige Schaden als Folge der Entscheidung gesehen, also auf die Entscheidung zugerechnet. Dann sprechen wir von Risiko, und zwar vom Risiko der Entscheidung. Oder der etwaige Schaden wird als extern veranlaßt gesehen, also auf die Umwelt zugerechnet. Dann sprechen wir von Gefahr« (ebd., S. 30f.). Auch Alois Hahn weist darauf hin, dass die Unterscheidung von Risiko und Gefahr Entscheider und Betroffene voneinander trennt, vgl. Alois Hahn: »Risiko und Gefahr«, in: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München 1998, S. 49-54. 39 Vgl. F. Martini: Riccaut, S. 198.

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Christian Kirchmeier bereits die Wortwahl für die Zeitgenossen unmissverständlich auf die extensive Rekrutierungspraxis Friedrichs II.40 Auf dem Schlachtfeld hat Tellheim eine Schusswunde am Arm erlitten und nennt sich gegenüber Minna einen »Kriepel« (II/9, S. 45 und IV/6, S. 80). Vor dem Hintergrund des schlecht ausgebildeten preußischen Lazarettwesens während des Siebenjährigen Krieges ist die Einschätzung angemessener, dass Tellheim bei seiner Verletzung Glück gehabt hat. Denn falls die Kugel zufällig nur einige Zentimeter näher zur Körpermitte getroffen hätte, wäre Tellheim wohl nicht mit dem Leben davongekommen.41 Auch Minna schätzt Tellheims Verletzung als nicht schwerwiegend ein.42 Selbst das scheinbar dominante Thema der soldatischen Ehre erweist sich als Teil der Glücksthematik. So hat Peter Michelsen darauf aufmerksam gemacht, dass wenigstens in den ersten beiden Akten der Begriff ›Ehre‹ stets im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Glück und Unglück auftritt und daher »nur als Synonym oder allenfalls akzidentelles Moment des ›Glückes‹ begriffen werden kann.«43 Schließlich ist es insbesondere die Funktion der Nebenfigur Paul Werner, die Nähe von Soldatentum und Glücksspiel zu erzeugen. Denn wie Riccaut neues Glück in neuem Spiel sucht, sucht Werner sein neues Glück in einem neuen Krieg, vorzugsweise gemeinsam mit Tellheim: »In Persien, Herr Major, giebts einen trefflichen Krieg; was meinen Sie?« (V/1, S. 90). Werner ist es auch, dem die letzten Worte des Lustspiels gehören, in denen er eine Wette auf Glück oder Unglück im Krieg abschließt und somit die Dimensionen von Glücksspiel und Krieg direkt aufeinander bezieht: »Geb Sie mir Ihre Hand, Frauenzimmerchen! Topp! – Über zehn Jahre ist Sie Frau Generalin, oder Witwe!« (V/15, S. 110).

40 Dazu und zu weiteren Parallelen zwischen Riccaut und Friedrich II. vgl. Osman Durrani: »Love and Money in Lessing’s Minna von Barnhelm«, in: Modern Language Review 84 (1989), S. 647-649. 41 Vgl. dazu Joachim Dyck: Minna von Barnhelm oder: Die Kosten des Glücks. Komödie von Gotthold Ephraim Lessing. Über Wirte als Spitzel, preußische Disziplin, Lessing im Kriege, frisches Geld und das begeisterte Publikum, Berlin 1981, S. 87-98. 42 »DAS FRÄULEIN […] Ein Kriepel: sagten Sie? Nun, indem sie ihn von oben bis unten betrachtet: der Kriepel ist doch noch ziemlich ganz und gerade; scheinet doch noch ziemlich gesund und stark. – Lieber Tellheim, wenn Sie auf den Verlust Ihrer gesunden Gliedmaßen betteln zu gehen denken: so prophezeie ich Ihnen voraus, daß Sie vor den wenigsten Türen etwas bekommen werden« (IV/6, S. 81). 43 Peter Michelsen: »Die Verbergung der Kunst. Über die Exposition in Lessings Minna von Barnhelm«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 214.

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Glück im Spiel Für Tellheim betrifft die Frage nach dem persönlichen Glück oder Unglück im Krieg den Kern seiner Identität. Tellheims Argumentation im Dialog mit Minna im zweiten Akt läuft auf genau diese Unterscheidung hin. Gleich zu Beginn versucht er, Minna den Unterschied deutlich zu machen: »Sie suchten einen glücklichen, einen Ihrer Liebe würdigen Mann; und finden – einen Elenden« (II/9, S. 43). Minna will in ihrer Antwort erklären, dass der Unterschied zwischen glücklichem und unglücklichem Tellheim für sie keinen Unterschied macht und Tellheim als »mein lieber Unglücklicher« (II/9, S. 45) um nichts weniger die Person ist, die sie sucht, sofern er sie noch liebe. Tellheim präzisiert daraufhin seine Position: »V. TELLHEIM Wohl denn; so hören Sie, mein Fräulein – Sie nennen mich Tellheim; der Name trifft ein. – Aber Sie meinen, ich sei der Tellheim, den Sie in Ihrem Vaterlande gekannt haben; der blühende Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen Seele mächtig war; vor dem die Schranken der Ehre und des Glückes eröffnet standen; der Ihres Herzens und Ihrer Hand, wann er schon ihrer noch nicht würdig war, täglich würdiger zu werden hoffen durfte. – Dieser Tellheim bin ich eben so wenig, – als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. – Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Kriepel, der Bettler. – Jenem, mein Fräulein, versprachen Sie Sich: wollen Sie diesem Wort halten?« (II/9, S. 45f.)

Tellheims Argumentation ist semiotisch motiviert. Er stilisiert seinen Namen zum unsicheren Signifikanten, der nicht mehr in der Lage ist, sein Signifikat eindeutig zu bezeichnen. Durch die Unterscheidung von einem früheren, glücklichen und einem späteren, unglücklichen Tellheim wurde die Identität dieses Signifikats selbst gespalten. Tellheim ist geteilt in einen Tellheim1 und einen Tellheim2, Tellheim2 hat mit Tellheim1 nur mehr den Namen gemein. Er ist mit diesem ebenso wenig identisch wie mit seinem Vater, der mit demselben Namen bezeichnet wurde. Tatsächlich stehen Tellheim1 und Tellheim2 in allen zentralen Kategorien des Dramas in Opposition zueinander: Glück/Unglück, Krieg/Frieden, Sachsen/Preußen, reich/arm und gesund/versehrt.44 Tellheim ist zwar mit dem Leben davongekommen, er scheint aber (bis zu seiner Rehabilitation) alles andere durch den Krieg verloren zu haben. Der Text macht an zwei Stellen deutlich, dass Tellheim daran zweifelt, diese Erfahrung als providentielles Schicksal und nicht als kontingenten Zufall deuten zu können: Im ersten Akt spricht Tellheim selbst aus, dass er sich in einer »Stunde« befände, in der er »leicht zu verleiten wäre, wider die Vorsicht zu murren« (I/6, S. 19). Im vierten Akt, unmittelbar nach der verspäteten Expo44 Vgl. zu diesen Oppositionen M. Kagel: Des Soldaten Glück, S. 21 und ders.: Militärisches Heldentum, S. 307f.

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Christian Kirchmeier sition, in der Tellheim von den Anschuldigungen gegen ihn berichtet, verfällt er in ein blasphemisches Lachen, das Minna als Lachen gegen die göttliche Vorsehung deutet: »Wenn Sie an Tugend und Vorsicht glauben, Tellheim, so lachen Sie so nicht! Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören, als Sie lachen« (IV/6, S. 83f.).45 Das als Kontingenz-, nicht Providenzerfahrung gedeutete Unglück, das bei Riccaut noch lustspielhaft inszeniert ist, tritt bei Tellheim in radikaler Form auf. Kaminski hat auf den Punkt gebracht, um was es hier geht – um »die skandalöse Leere der schieren Kontingenz: die Vorstellbarkeit einer Welt, in welcher im Namen des preußischen Königs der Zufall offen die Regie übernähme«.46 Während Riccaut noch das verpönte Mittel des Falschspiels als Kontingenzbewältigung zur Verfügung steht, versucht Tellheim gar nicht, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Er erfährt den Zufall wie ein Spieler, der auf das Ergebnis des Wurfes oder auf die nächste gezogene Karte wartet, und formuliert diese Situation in einer Glücksspielmetaphorik: »Wenn nicht noch ein glücklicher Wurf für mich im Spiele ist, wenn sich das Blatt nicht völlig wendet, wenn –« (IV/6). Die Gefahr der Verurteilung durch den König wirkt sich auf Tellheim lähmend aus, er findet keine Möglichkeit, die Gefahr in ein Risiko zu transformieren. Es ist diese Problematik, in der sich der gattungsgeschichtliche Wechsel manifestiert. Denn im Kern der älteren sächsischen Typenkomödie stand stets ein Konflikt, der von dem Protagonisten durch eine eigene Handlung beseitigt werden konnte. Deswegen war die Typenkomödie eine Darstellungsform für den providentiellen Glauben an die beste aller möglichen Welten.47 Da hingegen Tellheim die Möglichkeit verschlossen ist, durch sein eigenes Handeln den Wandel zum Guten zu erreichen, bereitet Lessings Lustspiel den Nährboden für den grundsätzlichen Zweifel an einer göttlichen Vorsehung. In der Figur Tellheims stellt Lessing die Theodizeefrage mit aller Dringlichkeit.48

45 Einschlägig Stefan Busch: »Blasphemisches Lachen in Klopstocks Messias und Lessings Minna von Barnhelm. Zur Herausbildung eines literarischen Leitmotivs der Moderne«, in: Lessing Yearbook 33 (2001), S. 27-54. 46 N. Kaminski: »Vis-à-vis du rien«, S. 175. 47 Dies wird ausformuliert bei Horst Steinmetz: »Minna von Barnhelm oder die Schwierigkeit, ein Lustspiel zu verstehen«, in: Alexander v. Bormann (Hg.): Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag, Tübingen 1976, S. 135-153. 48 Die Theodizee wird von Wittkowski als das bestimmende Thema des Dramas hervorgehoben; Wolfgang Wittkowski: »Theodizee und Tugend: Minna von Barnhelm oder: Worum es in Lessings Dramen geht«, in: Sprachkunst 22 (1991), S. 177-201. Dieser Aufsatz macht deutlich, dass Lessings Drama zwei komplementäre Deutungsansätze gleichermaßen ermöglicht: Entweder deutet man die zahlreichen Zufälle des Stücks als funktionales Ele-

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Glück im Spiel

IV. Minna und das Glück im Lustspiel Wenn Riccaut die Figur einer Kontingenzerfahrung im Glücksspiel und Tellheim die Figur einer Kontingenzerfahrung im Krieg ist, so steht Minna für die Kontingenzerfahrung im Medium der Literatur. Nicht zuletzt der jüngeren gendertheoretisch orientierten Forschung ist es zu verdanken, dass Minnas zentrale Funktion für die Lustspielhandlung in den Vordergrund gestellt wurde.49 Was Lessing in der Dramenhandlung vor allem entwickelt, ist das von Minna initiierte Intrigenspiel um den Ring als ›Spiel im Spiel‹.50 Die Voraussetzung für Minnas Spiel ergibt sich bereits im ersten Akt, als Tellheim Just beauftragt, seinen Ring zu verpfänden: »Hier nimm diesen Ring; die einzige Kostbarkeit, die mir übrig ist; von der ich nie geglaubt hätte, einen solchen Gebrauch zu machen! – Versetze ihn!« (I/10, S. 24). Tellheim wechselt damit die diskursive Ordnung, in der der Ring steht. Hatte er ihn ursprünglich in einem symbolischen Tausch der Liebe erhalten, stellt er ihn nunmehr in ein ökonomisches Tauschverhältnis.51 Im Kontext der Glücksspielsemantik des Dramas kann das Versetzen des Ringes durchaus in Analogie zu einem Spieleinsatz begriffen werden. Denn im weiteren Verlauf des Lustspiels geht es genau darum, dass Tellheim seinen Ring zurückbekommt, den ökonomischen Tausch rückgängig macht und den symbolischen Tausch der Liebe wiederholt. Man muss sich die komplizierte Ringhandlung noch einmal vergegenwärtigen, um darin das ausgeprägte Moment des Spiels und der Kontingenz zu erkennen, das hinter dem »Zufall des Ringes«52

ment, um den guten Ausgang als prädestiniert erscheinen zu lassen, wie Wittkowski argumentiert. Oder aber die Zufälle werden selbst als das Thema einer Kontingenzerfahrung begriffen, wie hier argumentiert. 49 Prutti argumentiert so gegen eine Forschungstradition, die einseitig auf die männlichen Figuren eingegangen sei: »Das weibliche Begehren ist in Minna von Barnhelm der entscheidende Motor der Komödienhandlung und der versöhnlichen Komödienlösung«; Brigitte Prutti: Bild und Körper. Weibliche Präsenz und Geschlechterbeziehungen in Lessings Dramen: Emilia Galotti und Minna von Barnhelm, Würzburg 1996, S. 7. 50 Dabei stammt die Bezeichnung der Intrigenhandlung als ›Spiel‹ von Minna selbst (»unser Spiel«, V/5, S. 95). 51 Siehe dazu B. Prutti: Bild und Körper, S. 212f. 52 So Brigitte Pruttis doppeldeutige Formulierung (ebd., S. 307). Dazu schreibt Prutti erklärend: »Ich habe diese Bezeichnung deshalb gewählt, weil die Genese des glücklichen Paares bei Lessing durch dramaturgisch gesteuerte Zufälle vermittelt ist und das in der Komödienhandlung zirkulierende weibliche Geschenk als das der männlichen Figur Zufallende die Kontingenz des Liebesglücks verkörpert, das erst der bewußten Aneignung durch den da-

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Christian Kirchmeier steckt: Nur weil der Wirt in der zweiten Szene des zweiten Aktes Minna zufällig den Ring zeigt, erfährt sie, dass sie sich in demselben Wirtshaus wie Tellheim befindet, und kann Tellheims Ring vom Wirt ablösen. Die Ringintrige beginnt damit, dass sie ohne Tellheims Wissen die beiden Ringe vertauscht.53 Sie übergibt ihren eigenen Ring Franciska und steckt sich stattdessen Tellheims Ring an. Nach dem Streit mit Tellheim in der Dialogszene des vierten Aktes gibt sie Tellheim seinen Ring zurück, der allerdings davon ausgeht, ihren Ring als Zeichen der Entlobung erhalten zu haben. Als Tellheim im weiteren Verlauf des Dramas die Versöhnung mit Minna sucht, beauftragt er Just, den Ring, den er eigentlich bereits wieder besitzt, vom Wirt zurückzufordern. Als er hört, dass Minna seinen Ring erhalten hat, geht er davon aus, dass sie noch immer in Besitz seines Ringes wäre. Das würde aber bedeuten, dass die Entlobung symbolisch vollendet wurde, denn der Ringtausch der Verlobung wäre vollständig rückgängig gemacht. In dieser Situation, als die Handlung auf ein unglückliches Ende zuläuft, macht Tellheim explizit den Zufall für die vertauschten Ringe verantwortlich: »V. TELLHEIM Vergessen Sie meinen Namen! – Sie kamen hierher, mit mir zu brechen. Es ist klar! – Daß der Zufall so gern dem Treulosen zu Statten kömmt! Er führte Ihnen Ihren Ring in die Hände. Ihre Arglist wußte mir den meinigen zuzuschanzen.« (V/10, S. 104)

Den gute Ausgang des Lustspiels markiert die Wiederholung der Verlobungshandlung: Minna reißt Tellheim den Ring »aus der Hand, und steckt ihn ihm selbst an den Finger« (V/12, S. 106f.). In der dramatischen Handlung ist Minnas Spiel offenkundig als ein Spiel mit dem Zufall gekennzeichnet und wird so strukturell mit dem Glücksspiel in Beziehung gesetzt. Diese Parallele wird auf sprachlicher Ebene weiter expliziert.54 In ihrem Versuch, sich mit Tellheim zu versöhnen, greift Minna schließlich sogar ausdrücklich auf eine Glücksspielmetaphorik zurück:

mit Beschenkten bedarf, um schließlich das Glück zu werden, dessen Verheißung die Gabe des Ringes in sich enthält« (ebd., S. 309). 53 Wollte man die Ringintrige bereits hier auf Riccaut beziehen, könnte man in dem Vertauschen der Ringe eine Analogie zum Falschspieler sehen, der ohne das Wissen seiner Mitspieler zwei Karten miteinander vertauscht. 54 Auf diese Parallele hat bereits P. Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 250 verwiesen. Der Auffassung folgen u.a. B. Plachta: »Corriger la fortune«, S. 397 und auch David E. Wellbery: »Prekäres und unverhofftes Glück. Zur Glücksdarstellung in der klassischen deutschen Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 21.

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Glück im Spiel »DAS FRÄULEIN […] Bilden Sie sich ein, Tellheim, Sie hätten die zweitausend Pistolen an einem wilden Abende verloren. Der König war eine unglückliche Karte für Sie: die Dame auf sich weisend wird Ihnen desto günstiger sein.« (IV/6, S. 84)

Für den Zuschauer, der kurz zuvor den Auftritt Riccauts gesehen hat, ist der Bezug zu jener Szene klar. Minna schlägt Tellheim vor, sein Unglück als Kontingenzerfahrung zu begreifen, als Verlust bei einem Glücksspiel. Sie stellt sich dabei selbst in den Glücksspielkontext, indem sie sich als günstige Karte bezeichnet. Während Tellheim in der Logik jener Metapher die Rolle des Spielers zufällt, der passiv auf das glückliche oder unglückliche Ende wartet, greift Minna aktiv in das Geschehen ein. Die Ringintrige ist für sie die Form, in der sie versucht, Kontingenz zu bewältigen. Auf Franciskas Frage, warum sie die Ringe vertauscht, antwortet Minna: »Recht weiß ich es selbst nicht; aber mich dünkt, ich sehe so etwas voraus, wo ich ihn brauchen könnte« (IV/5, S. 79). Der Ausgang ist also für Minna selbst ungewiss, aber sie wählt wie der Falschspieler Riccaut die riskante Variante, um durch eigenes Handeln in den Lauf des Schicksals eingreifen zu können und sich nicht der Gefahr des Zufalls tatenlos auszuliefern. Minna verfolgt in ihrem Intrigenspiel zwei Strategien, die beide darauf ausgelegt sind, die Handlung zu steuern: Das Vertauschen der Ringe und das Vortäuschen ihres eigenen Unglücks. Zu Beginn des vierten Aktes deutet Minna Franciska erstmals an, dass sie die zweite Strategie ergreifen will, um das Spiel um das gemeinsame Glück zu einem guten Ende zu führen: »DAS FRÄULEIN Du wirst sehen, daß ich ihn von Grund aus kenne. Der Mann, der mich jetzt mit allen Reichtümern verweigert, wird mich der ganzen Welt streitig machen, sobald er hört, daß ich unglücklich […] bin.« (IV/1, S. 69)

Franciska ist es, die diese falsche Information an Tellheim weitergibt: »FRANCISKA […] Wir sind entflohen! – Der Graf von Bruchsall hat das Fräulein enterbt, weil sie keinen Mann von seiner Hand annehmen wollte.« (IV/7, S. 88) Dieser Teil der Intrige weist ebenfalls Ähnlichkeiten zu dem Falschspiel Riccauts auf. Wie bereits beim Vertauschen der Ringe geht es auch in der erlogenen Geschichte um eine Täuschung Tellheims, um eine Verfälschung der Tatsachen mit dem Ziel, das Geschehen zu beeinflussen. Wie riskant Minnas Spiel tatsächlich ist, zeigt der Text durch den drohenden unglücklichen Ausgang. Zufällig erreicht Tellheim im fünften Akt noch der Brief mit dem entlastenden Schreiben des Königs. In der Handlungslogik müsste dieses Schreiben die Funktion eines deus ex machina haben, denn für Tellheim gibt es nun keinen Grund mehr, sich Minna zu verwehren. Doch jetzt ist es ge51

Christian Kirchmeier rade Minnas Intrige, die einen unmittelbar guten Ausgang verhindert, da die vorgeblich unglückliche Minna nicht zur Versöhnung bereit ist (V/9). Als Tellheim erfährt, dass Minna den Ring bereits vom Wirt ausgelöst hatte, droht sie gar als Falschspielerin entlarvt zu werden:55 »V. TELLHEIM heftig: Nun, so sei es wahr! – Welch schreckliches Licht, das mir auf einmal aufgegangen! Nun erkenne ich Sie, die Falsche, die Ungetreue!« (V/10, S. 104) Minna ist der aktiv-gestaltende Part in der Lustspielhandlung, doch obwohl sie zum Mittel der Intrige als Methode der Kontingenzbewältigung greift, gelingt es ihr nicht, den Zufall der Handlungsfolge unter ihre Kontrolle zu bringen. Würde der Zufall nicht zu Hilfe kommen und für ein Happy End sorgen, wäre sie in einer ähnlichen Situation wie der glücklose Falschspieler Riccaut. Wenn Minnas Intrige nicht den Fortgang der Handlung bestimmt, was erklärt die Handlung dann? Es spricht einiges dafür, den Motor für den Fortgang der Handlung in der Differenz und dem Wechsel von Glück und Unglück zu sehen, die sich als kontingente Ereignisse der Kontrolle der Figuren entziehen. Das Ausgangsproblem des Lustspiels ist der Wandel vom glücklichen Tellheim1 in den unglücklichen Tellheim2, der sich von der glücklichen Minna lossagt. Minnas Intrige ist der Versuch, durch eine eigene Handlung den Wechsel von Glück ins Unglück vorzutäuschen. Minna gelingt es mit ihrer Intrige, Tellheim eine parallele Verdoppelung ihrer Identität vorzuspielen, dass nämlich auch sie zu einer unglücklichen Minna2 geworden sei. Mit der Andeutung ihres Unglücks verlässt sie Tellheim nach dem zweiten gemeinsamen Dialog (»Ihr Unglück ist wahrscheinlich: meines ist gewiß« IV/6, S. 87) und erweckt plötzlich Tellheims Aufmerksamkeit (»Ihr Unglück? Sprach sie nicht von Unglück?«, IV/7, S. 88). Solange Tellheim nun glaubt, dass Tellheim2 und Minna2 gleichermaßen unglücklich sind, setzt er alles auf eine Aussöhnung mit Minna: »V. TELLHEIM Wie ist mir? – Meine ganze Seele hat neue Triebfedern bekommen. Mein eignes Unglück schlug mich nieder; machte mich ärgerlich, kurzsichtig, schüchtern, lässig: ihr Unglück hebt mich empor, ich sehe wieder frei um mich, und fühle mich willig und stark, alles für sie zu unternehmen – Was verweile ich?« (V/2, S. 91)

Minna2 hat in den Augen von Tellheim2, wie er selbst sagt, »unendlich durch diesen Verlust gewonnen« (V/5, S. 93), und Tellheim bestätigt explizit, dass das gemeinsame Glück nicht vom Glück des Einzelnen, sondern von der Symmetrie von Glück oder Unglück bestimmt ist: 55 Kaminski nennt Minna auch eine »dilettantische Falschspielerin« (N. Kaminski: »Vis-à-vis du rien«, S. 172).

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Glück im Spiel »V. TELLHEIM Diesen Ring nahmen Sie das erstemal aus meiner Hand, als unser beider Umstände einander gleich, und glücklich waren. Sie sind nicht mehr glücklich, aber wiederum einander gleich. Gleichheit ist immer das festeste Band der Liebe.« (V/5, S. 94)

Da nun Tellheim und Minna gleichermaßen unglücklich sind und daher die Versöhnung möglich scheint, ereignet sich ein weiterer Zufall: Tellheim erhält von dem Feldjäger den königlichen Brief, der ihn von den Anschuldigungen befreit und den unglücklichen Tellheim2 wieder in den glücklichen Tellheim1 zurückverwandelt: »V. TELLHEIM […] Mein Glück, meine Ehre, alles ist wiederhergestellt!« (V/9, S. 98). Nun muss Minna Tellheim an die erneute Asymmetrie von Glück und Unglück erinnern: »DAS FRÄULEIN: Gleichheit ist allein das feste Band der Liebe. – Die glückliche Barnhelm wünschte nur für den glücklichen Tellheim zu leben. Auch die unglückliche Minna hätte sich endlich überreden lassen, das Unglück ihres Freundes durch sich, es sei zu vermehren, oder zu lindern – Er bemerkte es ja wohl, ehe dieser Brief ankam, der alle Gleichheit zwischen uns wieder aufhebt, wie sehr zum Schein ich mich nur noch weigerte.« (V/9, S. 102)

Das Happy End scheint in noch weitere Ferne gerückt, als Tellheim annimmt, Minna habe durch die Ablösung des Ringes die Verlobung zurückgezogen. Und so ist ein weiterer Handlungszufall notwendig, um zu einem glücklichen Ausgang zu führen. Dieser Zufall ist das Ankommen des Grafen von Bruchsall (den überhaupt erst ein weiterer Zufall, dass er nämlich mit seinem Wagen verunglückte, aufgehalten hatte)56. Nun erst gibt Minna ihr Spiel auf und wandelt sich von der unglücklichen Minna2 in die glückliche Minna1 zurück: »Umarmen Sie Ihre Minna, ihre glückliche Minna; aber durch nichts glücklicher, als durch Sie!« (V/12, S. 106). Das gemeinsame Glück schließt nun Tellheims Glück mit ein: »V. TELLHEIM […] O, so bin ich glücklich!« (V/12, S. 106). Das Happy End kommt also dadurch zustande, dass durch mehrfache, zufällige Wechsel von Glück und Unglück am Ende Tellheim2 und Minna2 in Tellheim1 und Minna1 rückverwandelt sind. Die ersten Worte des Grafen: »im hereintreten: Sie ist doch glücklich angelangt? –« (V/13, S. 107) sind mehrdeutig. Auf der Handlungsebene beziehen sie sich auf die gute Ankunft Minnas im Wirtshaus, poetologisch reflektieren sie den Wechsel zum Glück, den der Graf gerade nicht durch eigenes Eingreifen nach Art eines

56 »DAS FRÄULEIN: […] Er verunglückte, zwei Meilen von hier, mit seinem Wagen; und er wollte durchaus nicht, daß mich dieser Zufall eine Nacht mehr kosten sollte« (II/2, S. 34) und: »Ein Zufall ist schuld, daß ich, einen Tag früher, ohne ihn angekommen bin« (IV/6, S. 79).

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Christian Kirchmeier deus ex machina erreicht hat.57 Es hat den Anschein, als wäre in diesem Lustspiel nicht einmal ein solcher deus ex machina in der Lage, durch eigene Handlung den Zufall zu beseitigen. Der Text zeigt, wie Minna versucht, über ihr Intrigenspiel angesichts einer kontingenten Zukunft aktiv zu handeln, und wie dieser Versuch scheitert. Damit exponiert Minna von Barnhelm das Moment des Zufalls, dem die Figuren ausgeliefert sind, und kontrastiert diesen Zufall mit einer Logik, in der dramatische Handlungsfolge und Handlungsabsichten der Figuren zusammenfallen.58 Wäh-

57 Das Happy End des Dramas wurde in der Forschung intensiv diskutiert, da es der Handlungsabfolge entgegenzulaufen scheint. Heinz Schlaffer etwa thematisiert die gattungspoetischen Implikationen und bezeichnet die Komödie als »vermiedene Tragödie«; Heinz Schlaffer: »Tragödie und Komödie. Ehre und Geld. Lessings Minna von Barnhelm«, in: ders.: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche, Frankfurt a.M. 1973, S. 95. Häufig wurde problematisiert, inwiefern in dem Drama von einem deus ex machina gesprochen werden kann. Ingrid Strohschneider-Kohrs legt Wert auf die Feststellung, dass der dramatische Knoten nicht durch das königliche Schreiben gelöst wird, sondern durch einen »Zeitzufall in der Lustspielkomposition«, der auch über Minnas Spiel hinausgeht; Ingrid Strohschneider-Kohrs: »Die überwundene Komödiantin in Lessings Lustspiel«, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 2 (1975), S. 194. Ähnlich stellt Steinmetz das Scheitern von Minnas Intrige in den Vordergrund und schließt daraus auf ein Scheitern des Glaubens an die prinzipielle Lösbarkeit von Konflikten (vgl. H. Steinmetz: Minna von Barnhelm, S. 151). Die Bedeutung des Zufalls im Happy End betont auch Giese: »Wie kann diese Situation äußerster Erstarrung und Verkrampfung sich zum happy ending wenden? Durch Glück, durch Zufall, durch das Eintreffen von Minnas Oheim im rechten Augenblick!« (P.C. Giese: Glück, Fortüne, S. 37). Simonetta Sanna wendet präzisierend ein, dass der Graf nicht die Funktion eines deus ex machina habe, sondern die Auflösung lediglich beschleunige; vgl. Simonetta Sanna: Lessings Minna von Barnhelm im Gegenlicht. Glück und Unglück der Soldaten, Bern u.a. 1994, S. 79-85. Daniel Fulda hingegen sieht auf den historischen Kontext, die Bezüge auf Friedrich II. und zieht die Bezeichnung rex ex historia dem rex ex machina vor; vgl. Daniel Fulda: »Rex ex historia. Komödienzeit und verzeitlichte Zeit in Minna von Barnhelm«, in: Das achtzehnte Jahrhundert 30 (2006), S. 179-192. Auf die doppelte Bedeutung des Wortes ›Glück‹ im glücklichen Ausgang des Dramas als gemeinsames Glück einerseits und zufälliges Glück andererseits verweist Hans-Georg Werner: »Komödie der Rationalität. Zu Lessings Minna von Barnhelm«, in: Weimarer Beiträge 25 (1979), H. 11, S. 56. 58 Es besteht weitgehender Forschungskonsens in der Feststellung, dass die Handlung des Dramas maßgeblich von Zufällen bestimmt wird. Hass spricht von einer »Qualität des Zufalls, der mangelnden Notwendigkeit« für die

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Glück im Spiel rend Riccaut ein Modell für die Kontingenzerfahrung im Glücksspiel liefert und Tellheims Kontingenzerfahrung aus dem Kontext des Krieges stammt, hat Minna die Funktion, die Kontingenzerfahrung als poetologisches Prinzip zu entwerfen. Denn am Beispiel der gescheiterten Intrige erweitert Lessing den Wirkungsbereich des Zufalls auf den literarischen Text selbst. Dies geht über die allgemeine Aussage hinaus, dass jeder literarische Text insoweit kontingent ist, als er der Selektion eines Autors unterliegt, aus dessen Perspektive erst diese Kontingenz die Voraussetzung für einen geplanten Handlungsverlauf ist.59 Denn in dieser Hinsicht unterliegt auch ein Text, der Kontingenz thematisiert, der Providenz eines Autors. Was Lessings Lustspiel aber vor allem in einer präzisen Handlungsfolge darstellt, ist eine Welt, die von Zufällen kontrolliert wird, die sich nicht auf geplante Handlungen der Figuren reduzieren lassen.

»Handlungskonstellation«; Hans-Egon Hass: »Lessings Minna von Barnhelm«, in: Hans Steffen (Hg.): Das deutsche Lustspiel. Erster Teil, Göttingen 1968, S. 36. Besonders deutlich hat Peter Pütz die Bedeutung des Zufalls herausgestellt: »Die Zufälle der Zeit und die Spiele des launischen Glücks sind nicht nur thematische Komponenten des Stückes, nicht bloß inhaltliche Vorkommnisse, sondern sie prägen ebenso wie der Antagonismus des Krieges die Struktur des dramatischen Verlaufs. Analog zum Auf und Ab, zum raschen Wechsel von rouge et noir, von Glückstreffer und Verlust, stehen der plötzliche Wandel der Situationen und Standpunkte, das jähe Umschlagen ins Gegenteilige« (P. Pütz: Die Leistung der Form, S. 230). Auch Nicola Kaminski betont die Bedeutung der »unerhörten Zufälle« für das Stück (N. Kaminski: »Vis-à-vis du rien«, S. 174). Zuletzt wurde sogar der Versuch unternommen, den Text mit der Chaostheorie zu lesen; vgl. Steven D. Martinson: »Chaos and Comedy. Lessing’s Theory and Practice«, in: Lessing Yearbook 34 (2002), S. 21-33. Hingegen vertritt Walter Hinck eine Position, die in den Zufällen noch ein providentielles Moment sieht: »Damit bleibt Lessings Minna von Barnhelm noch im Bann der Vorstellung von Versöhntheit und Weltharmonie, die in den Schlüssen Shakespearescher Lustspiele zugleich ihre große Vertiefung und ihren poetischen Zauber erhielt«; Walter Hinck: »Vom Ausgang der Komödie. Exemplarische Lustspielschlüsse in der europäischen Literatur«, in: Reinhold Grimm/Walter Hinck (Hg.): Zwischen Satire und Utopie. Zur Komiktheorie und zur Geschichte der europäischen Komödie, Frankfurt a.M. 1982, S. 139. 59 Ähnlich Haug: »Im Bereich der erzählerischen Fiktion, wiewohl er an sich kontingent ist, gibt es selbst keine echte Kontingenz. Der Dichter kann zwar mit Zufällen arbeiten, aber diese Zufälle sind als fiktionale geplant«. Walter Haug: »Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit«, in: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München 1998, S. 164.

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V. Providenz und Kontingenz Die vorgestellte Interpretation der Minna von Barnhelm ist davon ausgegangen, dass in der Riccaut-Szene durch das Motiv des Glücksspiels ein Modell der Kontingenzerfahrung präsentiert wird, das sich als Interpretament auf verschiedene Ebenen des Lustspiels beziehen lässt. Dabei zeigt der Text am Scheitern der Falschspieler – sowohl am Beispiel des verarmten Riccaut als auch der gescheiterten Intrige Minnas – das Scheitern des Versuchs, Kontingenz durch die Transformation von Gefahren in Risiken zu bewältigen. Wenn Lessing mit der Minna von Barnhelm das Lustspiel an seine Grenzen führt, dann nicht, weil Minna und Tellheim am Ende nicht doch ihr gemeinsames Glück finden würden, sondern weil das Zustandekommen des Glücks das eigentliche, ungelöste Problem darstellt: das »Skandalon einer restlos zufällig verfaßten Wirklichkeit«.60 Einem Einwand muss noch begegnet werden. Lessing war, wie zuletzt Hugh Barr Nisbet in seiner Biographie detailliert aufgezeigt hat, Zeit seines Lebens ein Vertreter des metaphysischen Optimismus gewesen.61 Für die expliziten Äußerungen Lessings kann kaum geleugnet werden, dass er den Zufall nicht als radikale Kontingenz, sondern im Rahmen einer göttlichen Providenz gedacht hat. Die prominenteste Stelle dazu findet sich in einem literarischen Text, in Emilia Galotti. Was Lessing hier die Gräfin Orsina sagen lässt, könnte als seine eigene theologische Position verstanden werden: »Glauben Sie mir, Marinelli: das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall; – am wenigsten das, wovon die Absicht so klar in die Augen leuchtet. – Allmächtige, allgütige Vorsicht, vergieb mir, daß ich mit diesem albernen Sünder einen Zufall genennet habe, was so offenbar dein Werk, wohl gar dein unmittelbares Werk ist!«62

Drückt sich in Orsinas Rede nicht Lessings Auffassung aus? Diese Kritik ist nur durch eine theoretisch höchst problematische Annahme aufrechtzuerhalten: die Vorstellung eines Kontinuums von literarischem Sinn und bewusst-reflexiven Sinnvorstellungen des Autors. Sobald dem Text oder dem Autor aber die Möglichkeit von Brüchen, Inkohärenzen oder Hybridität zugestanden wird, ist der Glaube an einen kontinuierlichen Sinn obsolet. Der Interpret kann dann Differenzen einführen, die diesen Bruch markieren. Ausgehend von Lessings Spielleidenschaft hat Karl S. Guthke dieses Problem durch die Unterscheidung zwischen dem Theoretiker und dem 60 So lautet die treffende Bezeichnung von N. Kaminski: »Vis-à-vis du rien«, S. 176. 61 In Bezug auf Minna von Barnhelm vgl. H. B. Nisbet: Lessing, S. 465-468. 62 G. E. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 7, S. 347 (Emilia Galotti, IV/3).

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Glück im Spiel Praktiker Lessing gelöst: »Was der Theoretiker Lessing nicht wahrhaben will in der Wirklichkeit, übt auf den Praktiker Lessing eine Faszination aus, über die man sich kaum je klar geworden ist, eine Faszination, die diese Wirklichkeit in anderer Weise auf den Spieler Lessing ausübt.«63 Ähnlich unterscheidet Stefan Busch für die Kontingenzdarstellung in Minna von Barnhelm »zwischen dem Gehalt des Stückes und der Theologie des Autors«.64 Selbst wenn mit diesen Differenzierungen eine Position aufgegeben wird, die von einer einseitigen Steuerungswirkung von Theologie oder Poetologie auf den konkreten literarischen Text ausgeht, ist nicht der historische Diskurszusammenhang geleugnet, in dem der Text verortet ist. Im Gegenteil lässt sich gerade Minna von Barnhelm als ein Text begreifen, der in der Darstellung des Glücksspiels als Kontingenzerfahrung ein Modell vorgibt, das über den Text hinaus kulturhistorisch relevant ist. Zwar ist der Zufall als bloße Tatsache historisch unspezifisch, ohne Anfang und Ende; Menschen mussten sich immer damit auseinandersetzen, dass es Zufälle gab. Allerdings haben sich historisch höchst differenzierte Deutungsformen für diese Zufälle ausgebildet, vor allem mit der Unterscheidung, ob Zufälle als Kontingenz oder als Providenz erfahren wurden. Die Würfel sind schon immer zufällig gefallen, aber nicht immer wurde dieser Zufall als Erfahrung einer Kontingenz verbucht. Johan Huizinga hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass es in vielen frühen Kulturen einen engen Zusammenhang von Glücksspiel und Gerichtsentscheid gab. Die Zufälle wurden dann als eine »heilige Entscheidung«65 verstanden. Für das christliche Mittelalter maßgebend war Boethius’ Consolatio Philosophiae, in welcher das Schicksal in Gestalt der Fortuna in den Dienst der göttlichen Providentia gestellt wurde.66 Aus der Boethiusrezeption entwickelt sich so das Rad als Emblem der Fortuna. Das Rad der Fortuna, das an einem festen Punkt aufgehängt ist und eine vorgegebene Bewegungsrichtung hat, symbolisiert gerade keine Kontingenzerfahrung, sondern das Wirken der Providenz des Schöpfergottes.67 Diese Vor63 Karl S. Guthke: »Der Glücksspieler als Autor. Überlegungen zur ›Gestalt‹ Lessings im Sinne der inneren Biographie«, in: Euphorion 71 (1977), S. 380. 64 S. Busch: Blasphemisches Lachen, S. 48. 65 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engster Zusammenarbeit mit dem Verfasser aus dem Niederländischen übertragen v. H. Nachod. 20. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2006, S. 94. 66 Vgl. Walter Haug: »O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung«, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hg.): Fortuna, Tübingen 1995, S. 6-9. 67 Zum Rad der Fortuna vgl. Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten, München u.a. 1997, S. 37-108.

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Christian Kirchmeier stellung ist tief im Christentum verankert: »Eine Fortuna als autonome Macht des Zufälligen ist für den Christen inakzeptabel, da alles, was geschieht, in Gottes Hand liegt.«68 Werner Frick hat in seiner einschlägigen Studie darauf verwiesen, dass bis ins 17. Jahrhundert ein Paradigma fortbesteht, das durch den Verweis auf die Providenz das Moment des Zufälligen eliminiert.69 Schon ab dem späten Mittelalter ändert sich die Kontingenzerfahrung, da nun der Zufall zunehmend als Chance begriffen wird, sein Glück zu versuchen.70 Vor allem während des Barock, als intensiv mit Überraschungen, Abweichungen und Täuschungen experimentiert wird, breitet sich die Kontingenzerfahrung ›epidemisch‹ aus.71 Die Veränderungen, die mit dem Anstieg von Kontingenzerfahrung einhergehen, lassen sich auf verschiedenen Feldern nachvollziehen, wie beispielsweise anhand des Bedeutungswandels der Metapher des Meeres:72 Das Meer bezeichnet einen Raum der Unberechenbarkeit und ist eine Daseinsmetapher für den Menschen, der sich als Seefahrer auf Zufälle einlässt. Während die Grenzüberschreitung durch den Seefahrer aber in der traditionellen Semantik mit Hybris und Blasphemie verbunden ist, wird das Meer in der Neuzeit zum Ort der Glückssuche. Wer in der Neuzeit sein Glück finden will, muss sich, bildlich gedacht oder tatsächlich, auf die Gefahren und Unwägbarkeiten des Meeres einlassen. 68 W. Haug: O Fortuna, S. 4. Haug weist darauf hin, dass auch der höfische Roman die Funktion hat, Zufall als Providenz erscheinen zu lassen. So ist die Aventiure zwar das, was dem Helden ›zu-fällt‹, jedoch in der narrativen Struktur auf den konstanten Bezugspunkt des Artushofes bezogen bleibt, der die Konstanz der Ordnung garantiert (vgl. ebd., S. 12-16). Bei Lessing entfällt genau diese Position und so verliert Minna von Barnhelm die Möglichkeit, in eine providentielle Ordnung zurückzuführen. 69 Vgl. Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bd., Tübingen 1988, S. 12. 70 Haug formuliert diese Veränderung zu Beginn der Frühen Neuzeit mithilfe einer Spielmetaphorik: »An die Stelle eines sinnvermittelnden strukturierten Weges tritt das Va-banque-Spiel mit der nun wieder in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit freigesetzten Fortuna« (W. Haug: O Fortuna, S. 18). 71 »Epidemische Kontingenz« lautet der Titel des Kapitels über den Barock bei Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. Aus dem Italienischen v. Alessandra Corti, Frankfurt a.M. 2004, S. 52-69. Zur Bedeutung der Kontingenz für die beginnende funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft vgl. Niklas Luhmann: »Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft«, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93-128. 72 Vgl. überblicksweise Michael Makropoulos: »Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts«, in: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München 1998, S. 55-59.

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Glück im Spiel Sobald in der Frühen Neuzeit Zufälle nicht mehr nur durch Providenz eingeschränkt werden konnten, sondern zunehmend als Kontingenz erfahren wurden, entstand ein Bedarf an neuen Wegen zur Kontingenzbewältigung, vor allem durch die Transformation von Gefahren in Risiken. Daher entwickelte sich ein Versicherungswesen, das eine immer weiter ansteigende Zahl an Unwägbarkeiten abdeckte.73 Außerdem wurde die Wahrscheinlichkeitsrechnung intensiv erforscht, die nicht zuletzt für Versicherer notwendig war, damit diese nicht die Gefahr zu hoher Schadenszahlungen eingehen mussten. Im Kontext zu Lessings Minna von Barnhelm ist besonders signifikant, dass auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung vor allem in der Auseinandersetzung mit Glücksspielen entwickelt wurde und dass sie, wie das Falschspiel, eine Möglichkeit darstellt, die Gefahr des Glücksspiels in ein Risiko zu verwandeln. Die Grundlagen der Stochastik wurden von Girolamo Cardano im Liber de Ludo Aleae in der Mitte des 16. Jahrhunderts gelegt (der Druck erfolgte erst 1663). Cardano war selbst passionierter Glücksspieler und nutzte seine Berechnungen, um seine Gewinnchancen zu optimieren.74 Sogar zu Lessing gibt es eine Verbindung, da dieser im Jahr 1754 eine »Rettung« Cardanos veröffentlichte, in der er den Mathematiker gegen den Vorwurf des Atheismus verteidigte.75 Dass das Glücksspiel ein besonderer Indikator für gesellschaftlichen Wandel ist, hat bereits Roger Caillois vermutet.76 Caillois unterscheidet die agonalen Spiele, in denen es um den Sieg über einen Gegner geht und die auf eigener Entscheidung basieren, von den Glücksspielen, deren Ziel die Bezwingung des Schicksals ist und deren Ausgang außerhalb der Einflussmöglichkeiten des Spielers liegt.77 Tatsächlich ließe sich daran die Überlegung anschließen, ob die gesteigerte Kontingenzerfahrung seit der Frühen Neuzeit heuristisch als Merkmal einer aleatorischen Kultur begriffen werden kann, die sich von älteren, agonalen Kulturen unterscheidet. Einen Hinweis auf die wachsende Bedeutung geben die öffentlichen Debatten,

73 Zum Versicherungswesen als Kontingenzbewältigung vgl. Hermann Lübbe: »Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung«, in: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München 1998, S. 35-40. 74 Vgl. Florence N. David: Games, Gods and Gambling. The Origins and History of Probability and Statistical Ideas from the Earliest Times to the Newtonian Era, London 1962, S. 40-60. Vor diesem Hintergrund ist besser verständlich, warum der Artikel »Jouer« in der Encyclopédie eine Abhandlung über Wahrscheinlichkeitstheorie ist (vgl. D. Diderot/J. d’Alembert: Encyclopédie, Bd. 8, S. 884-888). 75 Vgl. G. E. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 198-223. 76 Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, München u.a. 1965, S. 165-184. 77 Ebd., S. 24-27.

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Christian Kirchmeier in denen das Glücksspiel immer mehr an Gewicht gewann, und zwar gerade deshalb, weil es verstärkt als ein Phänomen betrachtet wurde, das auf die zentralen gesellschaftliche Umbrüche verwies. So kritisierten etwa Moraltheoretiker das Glücksspiel dafür, dass es auf Veränderung der Vermögensverhältnisse ausgerichtet sei. Manfred Zollinger resümiert, dass die Glücksspiele »ein Verstörungspotential [bildeten], weil sie durch den raschen Wechsel von Gewinn oder Verlust nicht nur Unordnung symbolisierten, sondern auch die den vorindustriellen und frühkapitalistischen Wirtschaftssystemen inhärenten Disproportionalitäten und Diskontinuitäten der Existenz und der moralischen Ordnung sinnfällig machten. Hier wie dort, im Spiel wie im Alltag, waren die Menschen Veränderungen ausgesetzt, die sie ›bald reich und glücklich, bald arm und elend‹ machen konnten, wie es in moralisierenden Texten, aber auch in Gesetzen des 17. Jahrhunderts hieß.«78

Das Glücksspiel, vor allem die immer zahlreicher werdenden Lotterien, war um 1700 außerdem Gegenstand einer intensiven Diskussion, die eine grundsätzliche theologische Fragestellung implizierte.79 Denn wenn man das Glücksspiel mit dem Leben verglich, musste geklärt werden, wie göttliche Providenz aufrecht erhalten werden konnte, ohne bei jedem Wurf eines Würfels und bei jedem Ziehen einer Karte das Wirken einer providence particulière anzunehmen. Das argumentative Dilemma bestand in dem Problem, dass beide Alternativen nicht mehr akzeptabel schienen: Weder wollte man annehmen, dass Gott bei jedem Zufall eingriff und mithin ein Wunder vollbringe, noch dass Gott die Welt nach einmal festgelegten Gesetzen letztlich kontingent ablaufen ließ. Im 18. Jahrhundert gibt es zahlreiche literarische Texte, zumal weitere Dramen, welche das Glücksspiel aufgreifen.80 Was aber Lessings Lustspiel auszeichnet, ist die Selbstbezüglichkeit des Motivs. Das Glücksspiel ist hier nicht nur Symptom eines gesellschaftlichen Wandels, sondern wird als Symbol dieses Wandels verfügbar, das sich auf verschiedene Erfahrungsbereiche übertragen lässt.81 Das Glücksspiel als Kontingenzmetapher gewinnt bei Lessing eine Plausibilität, wie sie zuvor das Rad der Fortuna als Providenzmetapher hatte. Minna von Barnhelm führt die Metapher nicht nur durch, sie

78 M. Zollinger: Geschichte des Glücksspiels, S. 283. Vgl. ebd., S. 21-45. 79 Vgl. Erich Haase: »Die Diskussion des Glücksspiels um 1700 und ihr ideologischer Hintergrund«, in: GRM 7 (1957), S. 52-75. 80 Ausführlich dazu Gottlieb Fritz: Der Spieler im deutschen Drama des achtzehnten Jahrhunderts, Diss. Berlin 1896. 81 Ähnlich sieht Guthke, dass Lessing »den Topos des Glücks- und Zufallsspiels, dem der Mensch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, zum Symbol des Weltgeschehens wählt« (K. S. Guthke: Der Glücksspieler, S. 365).

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Glück im Spiel radikalisiert diese zu einer Kontingenz, die nicht mehr planend bewältigt werden kann, wie an den Falschspielern erkennbar wird. Riccaut verliert sein Geld, obwohl er falsch spielt, und Minnas intrigantes Spiel im Spiel ist bereits gescheitert, als die Handlung durch den Zufall ihres eintreffenden Oheims doch noch ein glückliches Ende nimmt. Die Kontingenz in Lessings Lustspiel ist also nicht nur deswegen radikal, weil die Handlung von Zufällen bestimmt wird, sondern weil jeder Versuch der planenden Umwandlung von Gefahr in Risiko misslingt. Kulturgeschichtlich weist Minna von Barnhelm auf eine Signatur der Moderne, die weit über den konkreten Entstehungskontext der Aufklärung hinaus wirksam ist. Lessing hat bis an sein Lebensende gespielt. Vor allem das Lotto hatte es Lessing in seinen letzten Jahren angetan, so war im Briefwechsel mit seiner späteren Frau Eva König die Lotterie ein häufig wiederkehrendes Thema. Genauer gesagt hat Lessings Glücksspiel ihn überdauert. Denn noch an seinem Todestag hat er einen Einsatz in der Lotterie gemacht. Die Kontingenzerfahrung des Ausgangs dieses Glücksspiels hat er selbst nicht mehr erlebt: »Nur noch eine Anecdote von Lessings unauslöschlicher Lottospielsucht kann ich nicht übergehen. Sie ist mir von einem Manne [Daveson] mitgetheilt worden, der mit Lessing lange Zeit im Lottospielhandel stand, und kurz vor des leztern Tode noch bei ihm war. Wenige Stunden vor seinem Tode wählte sich Lessing noch folgende Nummern zur nächsten Ziehung: 15. 23. 52. und zwar die lezte aus dem sonderbaren Grunde, weil er bereits das 52ste Jahr seines Alters erreicht habe, und grade darauf zu gewinnen hoffe. Er wandte nach seiner eigenen Berechnung noch eine halbe Pistole auf jene Nummern. Schreiben Sie es auf! sagte er zu jenem Manne, ich nehme den Auszug zu 8 gr., macht auf 3 Nummern 1 thlr. die Ambe zu 8 gr. auf 3 Nummern 1 thlr. die Terne zu 12 gr. Summa 2 thlr. 12 gr. Kurz darauf starb Lessing, und die 2 thlr. 12gr. mußte noch sein Collecteur nach seinem Tode für ihn bezahlen.«82

Literatur Albrecht, Wolfgang (Hg.): Lessing. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk. 2 Bd., Kamenz 2005.

82 Die Aufzeichnung von Carl Friedrich Pockels wird zitiert nach Wolfgang Albrecht (Hg.): Lessing. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk. 2 Bd., Kamenz 2005, S. 543.

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Verschaltete Ordnungen, verschachtelte Identitäten: E.T.A. Hoffmanns Spieler-Glück und das Strukturschicksal der Moderne MARIO GRIZELJ »Theodor hat Recht, mag denn die Zeit auch vieles umgestaltet haben, fest steht doch in unserm Innern der Glaube an uns selbst. Und hiermit erkläre ich die Präliminarien unsers neuen Bundes feierlichst für abgeschlossen, und setze fest, dass wir uns jede Woche an einem bestimmten Tage zusammenfinden wollen, denn sonst verlaufen wir uns in der großen Stadt hierhin, dorthin, und werden auseinander getrieben noch ärger als bisher.«1

I. Ambivalenz – Moral – Didaktik Gute Literatur ist ambivalent! Mithilfe guter ambivalenter Literatur wird beobachtbar, wie sich Epochen, Paradigmen oder Diskurse ablösen und verschieben, wie sie überlappen und sich wechselseitig erhellen. Wo Literatur einfach, geradlinig, direkt und offen ist, verschließt sich der Blick für signifikante Konstellationen unserer modernen Kulturgeschichte. Ob die Ambivalenzthese immer und überall zu gelten hat, mag dahingestellt sein. Vieles spricht für sie, stringent zu verfolgen wäre solch eine generalisierende These aber allein in vielfältigen historischen und kontextsensiblen Untersuchungen, die »strenge Philologie und Konzentration auf den einzelnen poetischen Fall einerseits mit dem Anspruch auf eine Literaturwissenschaft andererseits [...], die sich als Kulturwissenschaft mit dem Blick auf generelle Aussagen versteht«,2 zu verknüpfen hätten. 1 2

E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder (1819-1821), hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 15f. Gerhard Neumann: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): »Hoffmanneske Geschichte«. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005, S. 12. Dass die generalisierende Ambivalenzthese zumindest für die enge-

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Mario Grizelj E.T.A. Hoffmanns Werk wäre nun ein Baustein innerhalb dieses Großprojekts, denn zum einen gilt der Forschung, dass seine Literatur nur dann gut und anspruchsvoll ist, wenn sie Brüche zeigt und eben ambivalent ist und zum anderen, daraus abgeleitet, dass sie als diese ambivalente Literatur signifikante Umbruchskonstellationen zwischen Spätaufklärung, Romantik und Realismus beobachtbar macht. Sein Werk fungiert als ambivalente Literatur gleichsam als Relaisstation, die vielfältig, komplex und ambig verschiedene Wissensstrukturen – (Natur-)Wissenschaft, Recht, Religion, Volksglaube, Literatur – ineinander verschränkt und der Literatur die Fähigkeit zuspricht, genau diese Verschränkung kommunizierbar zu machen. Solchermaßen ist die kompliziert-komplexe »Zwitterstellung Hoffmanns zwischen Aufklärung und Romantik«3 genau die entscheidende Qualität seines Werks. Nebenbei bemerkt ist damit auch formuliert, dass der Romantiker Hoffmann als ein progressiver Aufklärer4 die Romantik zu einer Aufklärung der Aufklärung erweitert und sich gleichermaßen zum Ende hin einem Realismus öffnet und damit klare Epocheneinteilungen und Epochenbezeichnungen (Aufklärung, Romantik, Realismus) subvertiert.5

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4 5

re, klassische Moderne in vielen (jedoch nicht allen) Hinsichten Geltung beanspruchen kann, lässt sich aus dem klugen Buch von Christoph Bode ableiten: Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Tübingen 1988. Renate Lachmann: »E.T.A. Hoffmanns Phantastikbegriff«, in: Gerhard Neumann (Hg.): »Hoffmanneske Geschichte«. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005, S. 135. Lachmann bezieht sich auf den für die Hoffmann-Forschung zentralen Aufsatz von Gerhard Neumann: »Anamorphose. E.T.A. Hoffmanns Poetik der Defiguration«, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation, Freiburg i. Br. 1998, S. 377-417. Die dort begonnene Argumentation wird bei Neumann zum Leitmotiv, Hoffmann habe als Autor zu gelten, »von dem man mehr und mehr anzunehmen geneigt ist, daß er eine Schlüsselrolle im kulturellen Prozeß der Sattelzeit um 1800 bis zum einsetzenden Realismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts einnimmt« (G. Neumann: Einleitung, S. 13). Vgl. G. Neumann: Anamorphose, S. 360f. Ein alternativer Versuch, die Problematik der Epochenbegriffe um 1800 in den Griff zu bekommen, ist die Idee Robert Stockhammers, von einer Großperiode der ›Spätaufklärung‹ zu sprechen: »Literaturgeschichtlich wäre dieser Kontext – der in Deutschland von den ersten Schauerromanen und den ungefähr gleichzeitigen Debatten über Cagliostro und den Magnetismus, über die Hochkonjunktur von Gespenstergeschichten zur Zeit von Apel/Launs Gespensterbuch (1810/12), bis zu E.T.A. Hoffmanns Erzählungs-Essay-Sammlung Serapionsbrüder (1819-1821) reicht – wohl am besten als ›Spätaufklärung‹ im Sinne einer hochgradig selbstreflexiv gewordenen Aufklärung zu bezeichnen«. Und weiter: »Denn die geistesgeschichtliche Bezeichnung als ›Gegenaufklärung‹ entdialektisiert den Zusammen-

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Spieler-Glück In Claudia Liebrands bedeutsamer Hoffmann-Studie Aporie des Kunstmythos werden dem Werk verschiedene Ästhetiken zugeschrieben.6 Entscheidend ist, dass die gelungenen Texte Hoffmanns vor allem deshalb gelungen sind, weil sie die Grundspannung von Kunst und Leben entweder in einer aporetischen Ästhetik der Negativität austragen oder ein komplexes positives Modell der Vermittlung liefern und dabei immer auf Polyvalenz gegenüber Monovalenz setzen. Texte hingegen, die sich einer Ästhetik der Affirmation einordnen lassen, sind unterkomplex versöhnlerisch, aporie- und ambivalenzresistent. Diese Texte sind »konzeptionell und ästhetisch schwach« und »führen inhaltlich und formal in eine Sackgasse«; in ihrer »Banalisierung und Trivialisierung« sind sie schlichtweg nicht ambivalent (genug).7 Die Erzählung Spieler-Glück (1819) wird von Liebrand weder behandelt noch erwähnt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass sie keine explizite Künstlerproblematik zu verhandeln scheint (die maßgeblich für Liebrands Argumentation ist) und dass andererseits implizit der eingeschliffenen These entsprochen wird, dass es sich bei dieser Erzählung Hoffmanns um ein Stück von eher mittelmäßiger Qualität handelt. Im Kontext der Rezeptionsgeschichte müsste sich Spieler-Glück der Ästhetik der Affirmation zuordnen lassen. Die Erzählung aus der Novellensammlung Die Serapions-Brüder (1819-1821) ist sicherlich einer der am wenigsten beachteten Texte Hoffmanns. Zwar gibt es mittlerweile genau einen Aufsatz, der sich nur dieser Erzählung widmet, (meist kurze) Kapitel in wenigen Monographien und Aufsätzen, ansonsten punktuelle Erwähnungen in anderen Monographien und Aufsätzen8 – diese Ansätze versuchen ein anderes Bild des Textes zu zeichnen (ich komme später darauf zurück), sie können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Spieler-Glück en gros eher als minderwertiger Hoffmann-Text wahrgenommen wird.

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hang dieser Formation mit der Aufklärung, der literaturgeschichtliche Epochenbegriff ›Romantik‹ löst ihn gar ganz auf« (Robert Stockhammer: »Zur Theorie der Gespenster oder Die Un-Logik der Literatur«, in: Mario Grizelj (Hg.): Der Schauer(roman). Formen – Diskurszusammenhänge – Funktionen, Würzburg 2010, im Erscheinen. Ästhetik der Negativität, Ästhetik der Affirmation, Ästhetik der Positivität als Ästhetik der Vermittlungen, hierzu gibt es noch einige markante Zwischenpositionen. Vgl. Claudia Liebrand: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns, Freiburg i.Br. 1996. Ebd., S. 139. Einen Einblick in die Forschung zu Spieler-Glück gibt Rainer Pabst: Schicksal bei E.T.A. Hoffmann. Zur Erscheinungsform, Funktion und Entwicklung eines Interpretationsmusters, Köln u.a. 1989, S. 165ff. und 289f. »Von der Hoffmann-Forschung wird der Text kaum beachtet« (ebd., S. 165).

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Mario Grizelj Es ist hier nicht der Ort, die vielfältigen Gründe für dieses Urteil aufzuzählen und zu untersuchen, vielmehr soll ein Schlaglicht auf ein wiederkehrendes Hauptargument gesetzt werden: Spieler-Glück ist nicht ambivalent (genug)! Der Text steuere »nach dem einhelligen Urteil der zeitgenössischen Literaturkritik [...] geradlinig und direkt auf die Moral« zu.9 Diese Geradlinigkeit und Monokausalität ist man von Hoffmann gar nicht gewohnt, ebenso wenig die klare moralische Aussage. Wo bleiben die strukturbildenden und unter keine klare Ordnung subsumierbaren hoffmannesken Formationen und Figuren zweifelhafter Existenz? Der Rat Krespel ist sowohl ein warmherziger Vater als auch ein brutaler Tyrann, der für den Tod seiner Tochter mitverantwortlich ist. Er ist sowohl Künstler als auch Zerstörer von Kunst.10 Was spricht für die Deutung, dass es sich bei Spieler-Glück um eben keine zweifelhafte und ambivalente Formation handelt und dass gerade deshalb der Text an Qualität einbüßt? Da ist zunächst die offensichtliche didaktische Dimension zu nennen. Der Text scheint vor den Gefahren der Spiel-Sucht warnen zu wollen. Hier die Nachzeichnung des Handlungsverlaufs: »Der Serapionsbruder Theodor erzählt die ihm zugetragene ›wirkliche Begebenheit‹ [...], die ein ›deutscher Baron – wir wollen ihn Siegfried nennen‹ [...] – erlebt habe. Dieser Baron, jedem Spiel durchaus abgeneigt, wendet sich gleichwohl, um dem öffentlich geäußerten Vorurteil entgegenzutreten, seine Spielabstinenz sei Ausdruck seines Geizes, dem Farospiel zu, bei dem er ein geradezu unheimliches Glück entwickelt. Mit ›düstren gespenstischen Augen‹ [...] schaut ihn Abend für Abend ein Fremder während des Spiels an, den er schließlich zur Rede stellt. Von ihm erfährt der Baron die Geschichte des Chevalier Menars, der ebenfalls, wie der Baron selbst, zum Spiel zunächst wenig Neigung entwickelt habe, aber vom Glück geradezu verfolgt worden sei. Diesem Menars sei mit dem Francesco Vertua ein weiterer Spieler entgegengetreten, der, nachdem er seinen gesamten Besitz an Menars verloren habe, ihm seinerseits die Geschichte der Genese seiner Spielleidenschaft erzählt habe, die ihn, zumal in Verbindung mit der liebreizenden Tochter des Vertua, dazu bewogen habe, sich mit Vertua zu arrangieren und dessen Tochter Angela für sich zu gewinnen und schließlich gar zu heiraten. Nach dem Tode Vertuas sei seine [Menars] Spielleidenschaft erneut erwacht, und nachdem er, wegen seiner Skrupellosigkeit und Herzenskälte skandalös geworden, mit seiner Gattin von Paris nach Genua gezogen sei, sei er dort auf einen Obristen als Gegenspieler gestoßen,

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So fasst Wulf Segebrecht: »Wirkung zu Spieler-Glück«, in: E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder (1819-1821), hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 1536 die dominierende zeitgenössische Meinung über den Text zusammen. Diese Meinung sollte lange Zeit auch den literaturwissenschaftlichen Blick auf den Text prägen. 10 Dies nur als ein markantes Beispiel. Vgl. E.T.A. Hoffmann: »Rat Krespel«, in: ders.: Die Serapions-Brüder (1819-1821), hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 39-64.

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Spieler-Glück der nun ihn, wie er einst andere, im Glücksspiel an den Rand des Ruins gebracht habe. Als er mittellos, aber noch immer von Spielleidenschaft besessen, schließlich sogar seine Frau Angela aufs Spiel gesetzt und verloren habe, habe er diese [...] tot in ihrem Bett liegend vorgefunden, woraufhin der Obrist [der sich als die Jugendliebe Angelas entpuppt] für immer verschwunden sei. Hier endet die Geschichte Menars, die der Fremde dem Baron Siegfried erzählt [...]. ›[D]er Fremde‹, so erfahren wir, sei kurz darauf an Nervenschlag gestorben; ›seine Papiere zeigten, daß er [...] niemand anders gewesen als jener unglückliche Chevalier Menars‹ [...], dessen Geschichte er dem Baron [...] Siegfried erzählt hatte. Der seinerseits habe diese Geschichte als ›Warnung des Himmels‹ verstanden und gelobt, ›allen Verlockungen des täuschenden Spielerglücks zu widerstehen‹ [...] und – so fügt Theodor hinzu –: ›Bis jetzt hat er getreulich Wort gehalten‹.«11

Dem Baron Siegfried werden zwei Spieler-Geschichten präsentiert, die ihn davor bewahren, tiefer und verderblich sich dem Spiel zu widmen und in den vorgezeichneten Abgrund zu stürzen. Die zwei Geschichten fungieren als didaktische Lehrstunden, die mit Erfolg ein junges Leben vor dem Niedergang retten. Sie sind dermaßen funktionalisiert, dass sie vollkommen darin aufgehen, den Baron in Sicherheit zu bringen. Diese Lesart stellt Hoffmanns Text in die Tradition aufklärerischer Literatur zum Glücksspiel. Eindringlich wird in Spieler-Glück dargestellt, dass und wie die obsessionelle Spielleidenschaft, als markanter Ausdruck »unkontrollierter Leidenschaft«, als ihr »Extremfall« und »als Tugendprobe« familiäre und soziale Ordnung gefährdet bzw. zerstört.12 Als eng damit zusammenhängend erweist sich die durchgängige Proliferation der Unterscheidung gut/böse bzw. himmlisch/dämonisch. Der Kampf mit der Spiel-Obsession ist ein Kampf gegen einen teuflischen Dämon. Mit der Spielsucht, dem Spielglück werden Begriffs- und Bildfelder korreliert: »entsetzlichste hämische Verlockung der feindlichen Macht!«13; »O sieh doch nur die Dämonen ihre Krallenfäuste ausstrecken, dich hinabzureißen in den Orkus« (SG 863), 11 Wulf Segebrecht: »Aspekte der Deutung zu Spieler-Glück«, in: E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder (1819-1821), hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 1537f. Segebrecht merkt hier jedoch zu Recht an, dass im Hinblick auf die Rückfälle von Menars und Vertua, also im Hinblick auf die wirklich obsessionelle Spielsucht, solch ein Gelöbnis mit Vorsicht zu betrachten ist, vgl. ebd. S. 1538. 12 Claudia Albert: »Corriger la fortune? Lotterie und Gücksspiel im Urteil des 18. Jahrhunderts«, in: Lenz-Jahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 5 (1995), S. 125 u. 126. 13 E.T.A. Hoffmann: »Spieler-Glück (1819)«, in: ders.: Die Serapions-Brüder (1819-1821), hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 863. Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert, unter der Sigle SG.

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Mario Grizelj »böse[r] Dämon« (SG 865, 883), »Satan« (SG 867, 874), »Teufelsgestalt« (SG 880), »Teufelskünste[ ]« (SG 886). Diesen Feldern wird als entgegengesetztes Prinzip das Himmlische konfrontiert: »Wer, welcher verstockte Sünder hätte gleichgültig bleiben können bei dem Anblick der in voller Himmelsschönheit strahlenden Angela [...]. Eine ganze Hölle voll Qual und Gewissensangst wurde wach in seinem [Menars] Innern. Angela erschien ihm der strafende Engel Gottes, vor dessen Glanz die Nebelschleier frevelicher Betörtheit dahinschwanden, so daß er mit Entsetzen sein elendvolles Ich in widriger Nacktheit erblickte. Und mitten durch diese Hölle, deren Flammen in des Chevaliers Innerm wüteten, fuhr ein göttlich reiner Strahl, dessen Leuchten die süßeste Wonne war und die Seligkeit des Himmels, aber bei dem Leuchten dieses Strahls wurde nur entsetzlicher die namenlose Qual.« (SG 875f.; vgl. hierzu auch SG 884)

Und nicht umsonst ist zum Schluss die Rede von der »Warnung des Himmels« (SG 887) die Moral von der Geschicht’. Das Glück des Spielers ist mithin im Rahmen dieser Gut/BöseUnterscheidung das Unglück der Person bzw. des Menschen. Im Grunde besitzen die Spieler Menars, Vertua, der Obrist und der Baron in gewissen Phasen ihres Lebens Spielerglück, aber das richtige »Glück ist mit den Tugendhaften«14, die nur, wie der Baron, in der Absage an das Spieler-Glück auch glücklich sein können. Es gibt gleichsam ein proportionales Verhältnis von Glück im Spiel und Unglücklich-Sein in der Ehe und Familie. Tugendhaft und glücklich ist nur der, der sich dem Spieler-Glück nicht anvertraut. So sind denn auch die Spielerfiguren in den wenigen Momenten, in denen sie dem Spiel entsagen, als freundliche, liebende Personen mit einem einigermaßen differenzierten psychischen und kommunikativen Haushalt sichtbar, während sie in den überwiegenden Phasen als Spieler radikal reduziert sind auf ein Schema, dem man kaum Attribute einer Person zuschreiben kann, oder: »Aller menschlichen Regung wird entfremdet der Spieler« (SG 872). Als Spieler agieren sie in einem äußerst schmalen psychischen sowie kommunikativen Korridor, was sich auf ihr Äußeres niederschlägt: »da wankte wie ein Gespenst der alte Vertua aus dem Winkel hervor« (SG 870), »[z]ähneknirschend zog sich der Chevalier zurück und lehnte Verzweiflung und Tod im bleichen Antlitz sich ins Fenster« (SG 885). Als Spieler sind die Figuren schlichtweg flache Charaktere, die sowohl von ihrer Leidenschaft determiniert als auch in ihrer deswegen eingeschränkten Handlungsfähigkeit einem fatalistischen Weltbild ausgeliefert sind.15

14 C. Albert: Corriger la fortune, S. 120. 15 Im Kontext der aufklärerischen Typenkomödie argumentiert Albert, dass der »Spieler sich zwar gut zum Protagonisten der Typenkomödie eignet,

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Spieler-Glück In dieser Lesart ist Hoffmanns Erzählung in der Tat moralisierend, didaktisch und monokausal. Sie ist in der Sachdimension eindeutig und zeichnet sich nicht dadurch aus, hoffmannesk, also komplex und ambivalent zu sein. Im Hinblick auf diesen Text kann kaum von einer Relaisstation und einer progressiven Aufklärung (der Aufklärung) die Rede sein. Allerdings zeigen die neueren Arbeiten zu Spieler-Glück an, dass diese Lesart mitnichten dem Text gerecht wird.16 Bei genauem Hinsehen erweist sich solch eine Lesart, die schlagseitig die Sachdimension fokussiert, als monokausal und unterkomplex. Es wird folglich darum gehen, die von der Forschung nur zäh begonnene Rehabilitierung des Textes fortzuführen. Es wird sich zeigen: Auch Hoffmanns Spieler-Glück ist ambivalent und hoffmannesk und deshalb als Moment einer progressiv aufklärerischen Literatur (sensu Neumann) zu betrachten, die signifikante Konstellationen um 1800 zu beobachten erlaubt.17 Der Beobachtungsfokus muss verschoben werden, es muss die Form des Textes in den Blick kommen. Diese Fokusverschiebung rückt nun nicht allein die Form in eine zentrale Position der Interpretation, sondern sie erlaubt es auch, die Sachdimension zu reformulieren. Es wird dabei sichtbar werden, dass die Sachdimension von der Form der Form in einem grundlegenden Maße affiziert ist: Das, was inhaltlich postuliert wird, wird in Form der Form dekonstruiert. Die moralische und didaktische Dimension verliert ihre Verbindlichkeiten und Eindeutigkeiten. Die Ebene der Form (discours) mit ihrer – wie noch zu zeigen sein wird: komplex verschachtelten – Form schlägt auf die Sachebene (histoire) durch und zieht solche Komplikationen nach sich, dass daher von einer didaktischmoralisierenden Erzählung keine Rede mehr sein kann.

daß aber seine Leidenschaft nur als Movens zahlreicher weiterer Verbrechen fungiert. [...] Insbesondere wenn ihm der starke Antagonist fehlt, wird er zum einlinigen Inbegriff des Lasters ohne psychologische Tiefenschärfe« (C. Albert: Corriger la fortune?, S. 124). 16 Stadler spricht von einer »in der Hoffmann-Forschung zu Unrecht wenig beachteten Erzählung«; Ulrich Stadler: »Über Sonderlinge, Spieler und Dichter. Zum Verhältnis von Poesie und Wissenschaft in E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüdern«, in: Gerhard Neumann (Hg.): »Hoffmanneske Geschichte«. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005, S. 289. 17 Im Hinblick auf die spätaufklärerischen Schauerromane, etwa die Joseph Alois Gleichs, stelle ich die These auf, dass auch der ›Trivialliteratur‹ Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und dichte Beschreibungen zugeschrieben werden können und dass sie deshalb als Selbstbeschreibungsmedium der sich etablierenden modernen Gesellschaft ausgelegt werden kann.

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II. Verschaltungen – Verschachtelungen – Doppelgänger Die beschriebene Moral der Geschicht’ findet in einer verwickelten Erzählanordnung ihre Realisation: Der Serapionsbruder Theodor erzählt vom Spieler Baron Siegfried, der von einem Fremden die Geschichte des Spielers Chevalier Menars erzählt bekommt, der wiederum vom Spieler Francesco Vertua dessen Lebensgeschichte erzählt bekommt. Es stellt sich heraus, dass der Fremde selbst der Chevalier ist und dass Theodor selbst einmal im Strudel der Spielsucht gefangen war. Lothar Pikulik spricht hier von einer »Schachtelstruktur oder Rahmenerzählung in zweiter Potenz (vom Rahmen der ›Serapions-Brüder‹ aus gesehen in dritter Potenz), denn Menars’ Geschichte, die Binnenerzählung zur Rahmenhandlung um den Baron Siegfried, bildet ihrerseits den Rahmen für die Geschichte Vertuas.«18

Es ergibt sich dabei eine »dreigliedrige Serie von gleichen Geschichten«,19 wobei die eingelagerten Binnengeschichten »sich fortlaufend potenziere[n]. Die Struktur der Erzählung Spielerglück gleicht so dem Modell der russischen Puppe: Immer wieder können wir als Lesende Übereinstimmungen auf den je verschiedenen Erzählebenen feststellen. [...] Der Erzähler Theodor, der von Spielern erzählt, die von Spielern erzählen, die wiederum Erzähler sind von Spielern, die Erzähler sind, erweist sich [...] ebenfalls als potentieller Spieler.«20

18 Lothar Pikulik: E.T.A. Hoffmann als Erzähler. Ein Kommentar zu den »Serapions-Brüdern«, Göttingen 1987, S. 181. Im Blick auf Pikulik vgl. Henry Gerlach: »Dabei darf man allerdings nicht übersehen, daß Vertua zwar einen Rückblick auf einen Teil seines Lebens ›erzählt‹, daß aber der weitaus größere Teil der ›Vertua-Episoden‹ [...] nicht als Botenbericht dargeboten, sondern szenisch innerhalb der Menars-Handlung gezeigt wird. Anders ausgedrückt liegt der ausschlaggebende Teil seines Lebens nicht vor der MenarsHandlung, sondern verläuft streckenweise zeitgleich und zusammenhängend mit ihr«; U. Henry Gerlach: »E.T.A. Hoffmanns Spielerglück«, in: ders.: Einwände und Einsichten. Revidierte Deutungen deutschsprachiger Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 2002, S. 11. 19 Manfred Schneider: »Serapiontische Probabilistik. Einwände gegen die Vernunft des größten Haufens«, in: Gerhard Neumannn (Hg.): »Hoffmanneske Geschichte«. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005, S. 270. Ursula Kilian spricht in diesem Zusammenhang etwas missverständlich von »Rahmenhandlung«, »Haupthandlung« und »Kernhandlung«; Ursula Kilian: Baupläne deutscher Novellen und Romane von der Klassik bis zur Moderne, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 91. 20 U. Stadler: Über Sonderlinge, Spieler und Dichter, S. 290.

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Spieler-Glück In der verschachtelten Erzählordnung fungieren die Rahmen immer auch als Binnengeschichten und dies sogar in solcher Weise, dass der äußerste Rahmen – d.h. Theodor als erzählender Serapionsbruder – in die Binnengeschichten hineinkopiert wird, da Theodor eben auch ein Spieler war/ist, der über Spieler erzählt.21 Abb. 01: Verschachtelung Erzählstruktur [Theodor └ Baron Siegfried └ {der Fremde └ Chevalier Menars} └ Francesco Vertua └ Theodor] Es lässt sich daher von einer metaleptischen Struktur sprechen. Metalepse bezeichnet den Moment, der es nicht mehr erlaubt, zwischen innen und außen, Ursache und Wirkung, Rahmen und Gerahmten zu unterscheiden: »Metalepsis – most broadly, the interplay of situations, characters or events occupying the diegetic levels that are prima facie distinct [...]. Functionally speaking, metalepsis signifies a transgression of the ontological boundaries«.22 Entscheidend ist, dass die Unterscheidungen innen/außen, Rahmen/ Binnengeschichte in der metaleptischen Figur im Vollzug ihrer Dekonstruktion als ebendiese Unterscheidungen erhalten bleiben. Die Metalepse markiert die De/Formation von Unterscheidungen. Hier fließt nichts ineinander, sondern es wird so unterschieden, dass die beiden Seiten der Unterscheidung (es bleibt eine Unterscheidung!) positionslabil werden.23 Damit ist ein grundlegendes Moment ange21 Der Hinweis darauf, dass Theodor keine Karte mehr anrührt, ist klares Indiz dafür, dass er durch die Spielerleidenschaft gefährdet ist, so die plausible Deutung von U. Stadler: Über Sonderlinge, Spieler und Dichter, S. 290. Ähnlich auch W. Segebrecht: Aspekte der Deutung, S. 1538. 22 David Herman: »Toward a Formal Description of Narrative Metalepsis«, in: Journal of Literary Semantics 26 (1997), H. 2, S. 132 u. 133. Einschlägig wird die Metalepse in der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung, insbesondere bei Genette, verwendet. Sie bezeichnet hier einen narrativen Kurzschluss »bei dem infolge einer Rahmenüberschreitung die Grenze zwischen extra- und intradiegetischer Position aufgehoben wird (indem z.B. die Figuren eines Romans über ihren Autor sprechen, oder der Leser eines Romans zu dessen Protagonisten gehört)« (Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 190). Die »Grenze zwischen zwei Welten [wird] überschritten: der Welt, in der man erzählt, und der Welt, von der erzählt wird« (ebd., S. 79). 23 Insbesondere Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl., München 1998 betont die Wichtigkeit der Grenzen und der Unterscheidungen: »Alle diese

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Mario Grizelj sprochen: Im Zusammenbrechen von Grenzen oder Unterscheidungen liegt nicht allein ein destruktives, sondern auch und vor allem ein konstruktives Moment. Insbesondere Debra Malina hat gezeigt, wie in der Narrativik in Bezug auf die Subjektkonstitution diese Eigenschaft zum Tragen kommt: »our […] narrative framings, deframings, and reframings of our world, ourselves, and others make us what we […] are […] the workings of metalepsis suggest that narrative constitutes the subject in part by breaking down the very structures that apparently define subjects and lend them their air of stability […] the transgression [of boundaries can] [...] reinforce the boundaries that have constructed subjects […] one may construct others through the transgression of boundaries.«24

Wichtig ist jedenfalls, dass mit der Metalepse Grenzen und Unterscheidungen dekonstruiert werden, indem sie konstruiert werden und vice versa. Eine schwache Theorie der Metalepse formuliert: »Obwohl diegetische Metalepsen und der Einschluß von Beobachterabhängigkeit eine Grenze überschreiten, lassen sie sie dennoch intakt«25 und eine starke argumentiert: Grenzen, Differenzen, Identitäten, Stabilitäten, Relationen usw. werden zu diesen anhand der Metalepse, also anhand von Unterscheidungen, die in ihrem Zusammenbrechen Unterscheidungen werden. Diese metaleptische Struktur markiert dreierlei: Erstens dass die strukturelle Ebene des discours so auf die Sachebene (histoire) durchschlägt und diese so affiziert, dass von einer klaren und monokausalen didaktisch-moralischen Botschaft keine Rede mehr sein kann. In Form ihrer Form dekonstruiert die Erzählung (innerhalb des Zyklus der Serapions-Brüder) ihre nur vordergründige Aussage. Spieler-Glück vollzieht ein Selbstdementi und stellt dies aus. Zweitens ist indiziert, dass es zu einer engen, hin und her oszillierenden Korrelation von Form- und Sachebene kommt: Die Labilität und Instabilität der vom Glück abhängigen Spielerbiographien und ihrer sozialen Umwelten (histoire) korreliert mit der verschachtelten, metaleptischen Erzählanordnung, die gerade deshalb auch labil und instabil ist (discours). Das Sich-Einlassen auf ein Glücks-Spiel ist ein die sozialen Ordnungen gefährdendes Risiko (histoire), ebenso

Spiele bezeugen durch die Intensität ihrer Wirkungen die Bedeutung der Grenze [...] eine bewegliche, aber heilige Grenze« (ebd., S. 168). Vgl. auch Debra Malina: Breaking the Frame. Metalepsis and the Construction of the Subject, Columbus u.a. 2002, S. 140f. sowie Bettine Menke: »Dekonstruktion. Lesen, Schrift, Figur, Performanz«, in: Miltos Pechlivanos u.a. (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1995, S. 116-137. 24 D. Malina: Breaking the Frame, S. 3, 10 u. 14. 25 Remigius Bunia: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin 2007, S. 248.

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Spieler-Glück wie die Verschachtelungen und Metalepsen in ihrem Ordnungsaufbau gleichzeitig Ordnung gefährden (discours). Form und Inhalt korrelieren. Das Spieler-Glück ist per definitionem instabil und per definitionem nicht auf Dauer zu stellen. Es ist konstitutiv von der Möglichkeit gekennzeichnet, in Pech umzuschlagen. Will man eine kategoriale Trennung von (moralischem) Inhalt und (verschachtelter) Form unterminieren, eignet sich das SpielerGlück besonders gut, weil mit seiner Hilfe eine enge Korrespondenz von Instabilität auf der Inhaltsebene (= Glück/Pech am Spieltisch) und qua Verschachtelung instabiler Erzählordnung hergestellt werden kann. Die verschachtelte Erzählordnung (Form), die die Moralisierung von Spieler-Glück unterminiert, wird von der Instabilität des Spieler-Glücks (Thema) unterminiert.26 Und drittens besteht die enge Konvergenz von metaleptischer Erzählordnung (discours) und Figurenzeichnung (histoire). Es ist nicht nur so, dass verschiedene Erzählebenen ineinander geschachtelt werden, sondern vor allem, dass sich die Figuren auf den verschiedenen Ebenen sehr ähneln. Theodor, Baron Siegfried, Chevalier Menars, Vertua und Duvernet sind alle Spieler, die in einer gewissen Phase ihres Lebens gegen jede Wahrscheinlichkeit übermäßiges Spielerglück haben, sich und ihre sozialen Ordnungen gefährden und oft sogar analoge Motivationsstrukturen aufweisen.27 Die metaleptische De/Konstruktion der Erzählebenen spiegelt sich gleichsam in der De/Konstruktion der Figurenkonstellation. Ebenso wie sich die Rahmen- und Binnengeschichten nur metaleptisch unterscheiden lassen, lassen sich auch die Figuren nur metaleptisch unterscheiden. Es ließe sich – und das hat die Spieler-Glück-Forschung noch nicht getan – durchaus von einer doppelten Doppelgängerstruktur sprechen. Erstens sind die Spieler vielfach ineinander verschränkte Doppelgänger. In verschachtelter Anordnung werden analoge Spielerbiographien in eine Reihe geschaltet. Der Text kombiniert somit Verschachtelung mit Parallelisierung und reihenartiger Verschaltung.28 Die Rede von Doppelgängern ist ernst gemeint, da sie nicht 26 Vgl. hierzu Segebrecht: »Die kunstvoll geknüpfte Verschachtelung der Erzählebenen kann sich als ein nur locker verbundenes Gebilde erweisen, das jederzeit in sich zusammenbrechen kann. Sehr bezeichnend für diese formal gefährdete Konstruktion, die mit dem Thema der Gefährdung durch das Spiel korrespondiert, ist der Umstand, daß die Beispielkette der Erzählung über ihren fiktiven Rahmen hinausreicht und mit dem autobiographischen Bericht Theodors über seine ganz vergleichbaren Spiel-Erfahrungen direkt in das Gespräch der Serapionsbrüder eindringt« (W. Segebrecht: Aspekte der Deutung, S. 1538). 27 So wenn Baron Siegfried und der Chevalier anfänglich Glücks- und Kartenspielgegner sind und erst über Umwege an den Spieltisch kommen. 28 Vgl. hierzu U. H. Gerlach: E.T.A. Hoffmanns Spielerglück, S. 15.

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Mario Grizelj nur auf Ähnlichkeiten und Parallelen hinweist, sondern auch auf einen gespenstischen Zug der Figurenzeichnung. Die Warnung, »O sieh doch nur die Dämonen ihre Krallenfäuste ausstrecken, dich hinabzureißen in den Orkus« (SG 863), kann durchaus wörtlich gelesen werden. Analog zu der spiralenförmigen Verschachtelung der Spielerfiguren (Theodor, Baron, Chevalier, Vertua) ist auch eine Verstärkung gespensterhafter Züge zu erkennen. Während der äußerste Rahmenerzähler Theodor gar nicht in seinem Äußeren beschrieben wird, lesen wir auf der nächsten Ebene über den Baron: »Siegfried war jung, unabhängig, reich, von edler Gestalt, anmutigem Wesen, und so konnte nicht fehlen, daß man ihn hochschätzte, liebte, daß sein Glück bei den Weibern entschieden war.« (SG 857) Der Baron wird zwar als Spieler unfreundlich und zornig, verliert aber nichts von seiner Anmut. Er ist es auch, der am Ende (vermutlich) gerettet wird. Eine Ebene ›tiefer‹ findet sich Chevalier Menars: »Dieselben glänzenden Eigenschaften, die Sie, Herr Baron [Siegfried] auszeichnen, erwarben dem Chevalier Menars die Achtung und Bewunderung der Männer, machten ihn zum Liebling der Weiber.« (SG 863) Allerdings wird der Chevalier vom verderbenden Glücksspiel derart gezeichnet, dass er am Ende nichts mehr von seinen glänzenden Eigenschaften behält: »[z]ähneknirschend zog sich der Chevalier zurück und lehnte Verzweiflung und Tod im bleichen Antlitz sich ins Fenster« (SG 885). Noch näher am Orkus befindet sich Vertua; je ›tiefer‹ in der Erzählebenenverschachtelung, desto gespenstischer werden die Figuren: »Da trat ein kleiner, alter, dürrer Mann, dürftig gekleidet, von beinahe garstigem Ansehen an den Spieltisch« (SG 867), »[d]a kam er einst, als schon längst das Spiel begonnen, totenbleich mit verstörtem Blick in den Saal und stellte sich fern von dem Spieltisch hin, das Auge starr auf die Karten gerichtet« (SG 869), »da wankte wie ein Gespenst der alte Vertua aus dem Winkel hervor« (SG 870). Es gibt eine Konvergenz von metaleptischer Verschachtelung und jenen Parallelen der Figurenzeichnung, die in einer immer gespenstischer werdenden Reihe von Doppelgängern ihren Ausdruck findet. Was der Text sagen möchte, dass Glücksspiel die Figuren und ihre sozialen Ordnungen zerstört, wird mithilfe der spiralenförmig ineinander gelagerten Strukturen ausgedrückt, gleichzeitig jedoch nimmt diese Struktur selbst gespenstische Züge an und ist deshalb eben kein Garant dafür, dass die Form (discours) ihrem Inhalt und ihrer Aussage (histoire) entspricht. Es ergibt sich hieraus ein neuer Blick auf die These von den flachen Charakteren (s. o.). Im Hinblick auf die Doppelgängerstruktur sind die Spielerfiguren beides: flach und komplex. Einerseits bekommen die Figuren durch die metaleptische Konstruktion, durch die Unterscheidung von Figur als Spieler/Figur als Person und dadurch, dass sie sich eigen-

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Spieler-Glück willig verhalten, eine Dimension, die sie zu mehr macht als bloß zu Typen der Figur des Spielers.29 Die Figuren werden durchaus komplex gezeichnet. Andererseits verlieren sie ihre ›Tiefe‹ und Idiosynkrasie, indem sie zu Momenten der Schaltreihe mit gespenstischen Zügen funktionalisiert werden. Als immer gespenstischere Stationen einer Schaltreihe, als Doppelgänger, besitzen sie Eigenständigkeit und sind zugleich nur Stellgrößen. Als Sonderlinge (sensu Stadler) verlieren die Stellgrößen bzw. Gespenster das Besondere. Der Sonderling wird demnach zu einem gespenstischen Doppelgänger, zu einem gespenstischen Typ. Die Figuren in Spieler-Glück sind solchermaßen komplexe Figuren, weil sie sowohl flache Charaktere, Typen, als auch komplex gezeichnete Sonderlinge sind. Man mag hier – 1819 – auch eine spätromantische Kritik an der (auch eigenen) Romantik vermuten, die gegenüber der philisterhaften Monotonie des Bürgerlebens Sonderlinge favorisiert und dabei selbst eine im Laufe der Zeit monoton werdende Reihe von Sonderlingstypen etabliert.30 Die sonderbaren romantischen Figuren münden im beginnenden Übergang zum Realismus (sensu Neumann) in eine mechanische Regelmäßigkeit, die einen performativen Widerspruch vollzieht, indem sie an sich selbst die sonderbare mechanische Tilgung des Sonderbaren aufzeigt. Die romantischen Sonderlinge werden zu ihren eigenen gespenstischen und mechanischen Doppelgängern. Damit ist zweitens indiziert, dass auch die Sachebene (histoire) und die Formebene (discours) in einem Doppelgängerverhältnis zueinander stehen. Die metaleptische Struktur ist der Doppelgänger der Glücksspielebene und vice versa. Dies wird besonders deutlich am Aspekt des Erzählens. Die Spieler Theodor, Chevalier Menars und Vertua (sowie in einem geringeren Maße auch Duvernet) sind Spieler und Erzähler. Hierzu Ulrich Stadler: »Bei der Betrachtung der Novelle Spielerglück ist deutlich geworden, dass die verschiedenen Erzähler [...] einander gleichen. Als Erzähler berichten sie über Spieler, als Spieler werden sie zu Objekten des Erzählens. Erzählende Instanz und erzählte Welt gehen ineinander über. Mit der Tilgung der Differenz zwischen erzählender und erzählter Welt lässt sich auch die Erzählweise nicht mehr sauber vom Erzählgegenstand trennen.«31

29 Vgl. hierzu U. H. Gerlach: E.T.A. Hoffmanns Spielerglück, S. 15f. 30 Vgl. Rainer Pabst, durch die verschachtelte Reihung von gleichen Geschichten werde »das Mechanische und Zwanghafte der Spielleidenschaft« dargestellt (R. Pabst: Schicksal bei E.T.A. Hoffmann, S. 169). Auch in dieser Deutung konvergieren Inhalt und Form aufs engste. 31 U. Stadler: Über Sonderlinge, Spieler und Dichter, S. 291. Die Figuren sind also dreifach codiert, indem sie als Spieler, als Personen (Väter, Ehemänner, Schwiegersöhne) und als Erzähler agieren.

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Mario Grizelj Es ist signifikant, dass der Baron, der sich mit Dichtung, also mit dem Erzählen explizit auseinandersetzt, eben nicht erzählt: »Eilte alles an den Spieltisch, [...] so zog er es vor, entweder auf einsamen Spaziergängen sich dem Spiel seiner Phantasie zu überlassen, oder auf dem Zimmer dieses, jenes Buch zur Hand zu nehmen, ja wohl sich selbst im Dichten – Schriftstellen zu versuchen.« (SG 857)

Auf der Sachebene ist der einzige Dichter derjenige, dessen Dichtkunst man nicht zu Gesicht bekommt. Die beiden echten Spieler hingegen, Menars und Vertua, sind Erzähler und kommen in die Position eines Dichters. Menars und Vertua sind auf der Sachebene (histoire) keine Dichter, auf der Formebene (discours) dagegen schon. Dies bedeutet, dass mithilfe der verschachtelten Erzählanordnung das typisch hoffmansche Künstlermotiv in eine Erzählung hineinkommt, die explizit nicht von Künstlern erzählt.32 Dichten zeigt sich hierbei nicht als Motiv der Erzählung, sondern als die Art und Weise der narratologischen Komposition. Dichten ist nicht der Stoff der Erzählung, sondern als modus operandi von Weltzuwendung relevant. Dies wird in Form einer metaleptischen Formgebung sichtbar, die Erzählweise und Erzählgegenstand so ineinander verschränkt, dass neben dem Glücksspiel auch und vor allem die Form der Erzählung zum Thema wird. Indem im Kontext des Glückspiels über das Erzählen von Erzählen erzählt wird, etabliert sich eine typisch hoffmannsche, eben hoffmanneske Dimension von Komplexität, die als Ambivalenz bezeichnet werden kann. Zuletzt lässt sich folgende Reihe aufstellen: 1. Spieler sind Dichter sind Spieler, 2. Form ist Inhalt ist Form und 3. Dichtung ist Spiel ist Dichtung, und diese Reihe kann in folgende Auffächerung des Glücksbegriffs münden. Der Begriff ›Glück‹ markiert so erstens das Glück, das die Figuren im Spiel haben, zweitens, dass sie beim

32 Theodor als äußerster Rahmenerzähler ist indes beides, explizit Erzähler und Spieler und dies sowohl auf der Ebene des discours als auch auf der Ebene der histoire. Das heißt, dass eine Erzählung über Spieler, die auch Erzähler sind, eben als Erzählung Dichtung ist, auch wenn die Rede von einer »wirklichen Begebenheit« eingeführt wird. Theodor fängt an: »Übrigens liegt meiner Erzählung eine wirkliche Begebenheit zum grunde, die mir indessen durch kein Buch sondern durch Tradition zugekommen. Theodor las: [...]« (SG 856; Hervorhebung M.G.). Vgl. hierzu auch U. Stadler: Über Sonderlinge, Spieler und Dichter, S. 290f.: »Nicht nur die ›echten Spieler‹ sind insgeheim Dichter, auch die Dichter, die serapiontischen Erzähler, sind insgeheim Spieler, und zwar solche Spieler, die sich von Nackenschlägen der Moral nicht abhalten lassen und die extrem gefährdet und obendrein auch extrem gefährlich sind.«

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Spieler-Glück Spielen glücklich sind,33 drittens, dass das Gelingen von Dichtung mit Glück zu tun hat und viertens, dass Dichtung glücklich machen kann. Glück und Glücklichsein sind auch von der metaleptischen Struktur erfasst und bewegen sich somit zwischen den Ebenen des discours, der histoire und der ästhetischen Erfahrung hin und her. Glücklich ist, wer das Glück hat, Dichtung genießen zu können.

III. (Un-)Wahrscheinlichkeit – Schicksal – Moderne Die These, dass es die metaleptische Struktur sei, die das Glück mehrfach codierbar macht, kann auch umgedreht werden. Lässt man sich auf Glück ein (beim Spielen und Dichten), hängt man von Kontingenz ab, gleichwohl ist die Einbeziehung von Glück im Rahmen von Kontingenz eben nicht kontingent. Im Zuge der sich funktional ausdifferenzierenden Moderne kann Glück als Moment gelesen werden, welches genau diese Ausdifferenzierung prägnant beobachtbar macht. Die beschriebene formal-strukturelle Verunsicherung der moralischen Sachdimension kann als Kennzeichen eines mit seinen neuen Möglichkeiten experimentierenden, autonom werdenden Literatursystems gedeutet werden. Gerade in der Etablierungsphase eines solchen Systems wird nun die neue Möglichkeit, Inhalte formal-strukturell codieren und dekonstruieren zu können, entdeckt und als signifikantes Merkmal funktionaler Differenzierung lesbar. Für diese Lesart kann Glück weniger als Motiv denn vielmehr als Beobachtungsmedium eingesetzt werden. Co-evolutiv mit der funktionalen Ausdifferenzierung tritt das moderne In/Dividuum in den Blick und das neu entstehende Literatursystem als dessen primäres Problematisierungs- und Konstitutionsfeld.34 Hierbei erweist sich das Glück des Spielers als besonders geeignet, In/Dividualität zu fokussieren, da es drei Momente herausstellt: Das Glück eines Spielers ist das Pech eines bzw. der anderen, ein Spieler konstituiert sich als Spieler, indem er von Glück zu Pech zu Glück zu Pech usw. wechselt; diese Glück/PechKonstellation ist im Spiel eine »Maschine purer Kontingenz«, eine »Black Box, die lediglich die Funktion hat, per Zufall Glück und Unglück auf die Spieler zu verteilen«35, und zuletzt auch eine Maschi33 Vgl. hierzu auch U. Stadler: Über Sonderlinge, Spieler und Dichter, S. 287. 34 Für eine ausführliche und detaillierte Diskussion dieser Sachlage vgl. Mario Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«. Eine Systemtheorie experimenteller Prosa, Würzburg 2008, S. 203-224. 35 Christians Kirchmeier: Glück im Spiel. Das Glücksspiel als Kontingenzmetapher in Lessings Minna von Barnhelm, in: Anja Gerigk (Hg.): Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen, Bielefeld 2010, S. 40.

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Mario Grizelj nerie zur De/Konstruktion moderner In/Dividualität. In/Dividuum zu sein bedeutet, nicht mehr Teil eines metaphysischen Weltbildes im Rahmen einer Vorsehung zu sein und innerhalb einer Schicht Identifikationsinstanzen zu finden. Es bedeutet vielmehr, von verschiedenen Faktoren abzuhängen, die so komplex, polykontextural und polyvalent verteilt sind, dass an die Stelle der Vorsehung Kontingenz, Glück oder Pech treten.36 Mithilfe der Fokussierung auf das in/dividuelle und soziale Ordnungen gefährdende Glücksspiel kann erörtert werden, wie viel Kontingenz die moderne Gesellschaft im Hinblick auf die In/Stabilität ihrer Ordnungen überhaupt verkraftet. In diesem Sinne definiert Detlef Kremer die Romantik als »eine Art gedankliches Experimentierfeld« über die Frage »wie viel Kontingenz, wie viel Differenzierung und wie viel revolutionäre Möglichkeitsentwürfe die Gesellschaft ertragen kann, ohne ihre strukturierende und formgebende Funktion einzubüßen«.37 Wie sehr hat sich die moderne Gesellschaft in Form ihrer funktionalen Ausdifferenzierung auf ein Glücksspiel eingelassen? Im Blick auf das moderne In/Dividuum lässt sich pointieren, dass das Spieler-Glück und die formale narrative Ordnung sich gegenseitig konstituieren und unterminieren, wodurch das Format des Glückspiels mit dem Format des modernen In/Dividuums korreliert. Spezifisch romantisch ist daran das paradoxe Selbstdementi: Hoffmanns Spieler-Glück postuliert eine moralische Position, indem es im Ausnutzen des Spieler-Glück-Formats die moderne In/Dividualitätsproblematik als instabil verschachtelte Erzählung präsentiert und dadurch die moralische Position subvertiert. Das Gelingen von moderner In/Dividualität und das Gelingen einer romantischen Erzählung sind, so gesehen, eine Glückssache. Daher ist ein moralisches Happy End bei Hoffmann unter den Vorzeichen funktionaler Differenzierung eine stets bedrohte, stets prekäre Glückssache, die in Form eines Selbstdementi ihre prekäre Form erhält.

36 Immer wieder wird literaturgeschichtlich die Unterscheidung Vorsehung – Zufall zum entscheidenden Dispositiv der Modernitätsdebatte: »Leonce: O Zufall! – Lena: O Vorsehung!«; Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, hg. v. Burkhard Dedner, Frankfurt a.M. 1987, S. 84. Wichtig ist jedoch, genau zu unterscheiden: Kontingenz ist nach Luhmann das, was weder notwendig noch zufällig ist. Vgl. Niklas Luhmann: »Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft«, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 96. 37 Detlef Kremer: Romantik. Lehrbuch Germanistik. 3. Aufl. Stuttgart u.a. 2007, S. 23. Vgl. hierzu auch Mario Grizelj: »Die ›gebildete Wildniß‹ des romantischen Romans und die Epistemologie der Form als Poetologie des Experiments um 1800«, in: Michael Gamper u.a. (Hg.): »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!« Literatur und Experiment II 1790-1890, Göttingen 2010, S. 27-52.

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Spieler-Glück Dass es sich um ein romantisches Signum handelt, kann der Blick auf ein weiteres Werk zeigen. In Achim von Arnims Gräfin Dolores (1810) wird ein konservatives, christliches Liebes- und Eheverständnis als Gegenmodell zu den Libertinagen einer Lucinde (1799) oder eines Godwi (1801) thematisiert. Die leichtsinnige Dolores wird verführt, in einer moralischen Volte jedoch bekehrt und im Zuge ihrer Buße zur gottesfürchtigen Übermutter und Ehefrau stilisiert, schließlich noch in einem monumentalen Denkmal als Lichtspenderin allegorisiert. Dies alles geschieht allerdings in Gestalt eines völlig ausufernden, verwilderten, verzweigten, manieristisch überbordenden und polyphonen Romans. Die Interpretationsmöglichkeiten hierzu sind vielfältig. Sei es, dass der Roman mittels eines Selbstdementis genau das moralisch tilgen möchte, was er darstellt: die moralische Verwilderung; sei es, dass die kategoriale Trennung von Inhalt und Form formal subvertiert wird, indem die Form nicht schlicht Ornament ist, sondern den moralischen Inhalt affiziert. Kurz: In Form einer solchen Form wird jeder Moralismus unter Verdacht gestellt, ironisch gebrochen. Im Zuge der Autonomisierung der Literatur um 1800, die sich aus heteronomen Verflechtungen mit Politik, Moral und Religion gelöst hat, kann keine moralische Position mehr verdachtslos als ebendiese moralische Position dargestellt werden. Und weil wir von einem Funktionssystem Literatur sprechen können, ist jede moralisierende Literatur von einer ironischen Brechung konditioniert. Indem literarische Kommunikation beginnt, eigenlogisch zu operieren, von Belehrung, Moral und Erbauung auf Neuheit, Spannung und Unterhaltung umschaltet, korreliert sie mit dem Umbau der Gesellschaft von stratifikatorischer zur funktionalen Differenzierung. Es gilt: Moral war gestern, heute ist Literatur.38 Allerdings ist die Lage denn nun doch nicht so klar und eindeutig. In Hoffmanns Spieler-Glück wird zwar Glück in mehrfacher Codierung zum Indikator für die individuelle und gesellschaftliche Fähigkeit, Kontingenz ertragen zu können, aber die Vorsehung lässt sich nicht so leicht ad acta legen. Alle Spieler der Erzählung haben in Phasen ihrer Spielsucht solch ein Glück im Spiel, das von Wahrscheinlichkeit und Plausibilität nicht mehr die Rede sein kann. Es scheint, als ob das Spielerglück nichts mehr mit Glück zu tun hat: »Solche immer nur glücklichen Spieler sind mehr als unwahrscheinlich, und noch unwahrscheinlicher als die Gewinne sind diese Begegnungen: die Glücksserien und die Erzählserie.«39 Wie lässt sich

38 Moral verschwindet nicht gänzlich, hat aber keinen verbindlichen Ort in der Gesellschaft mehr und auch keine verbindlichen Bindungseffekte. 39 M. Schneider: Serapiontische Probabilistik, S. 270. Vgl. hierzu auch U. H. Gerlach: E. T. A. Hoffmanns Spielerglück, S. 13.

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Mario Grizelj dies deuten? Eine Möglichkeit wäre zu sagen, dass die Gesellschaft zwar auf Kontingenz, Glück und Pech umschaltet, aber dieses Umschalten noch an eine ›höhere Ordnung‹ binden muss. Sie erträgt – um 1820 – Kontingenz nur in kontrollierter Form. Zwar ist so der Kampf gegenüber dem Zufall als der gottnegierenden Instanz keine ernsthafte Option mehr, aber auch radikales Umschalten auf die strukturelle Macht der Kontingenz noch keine Option.40 Manfred Schneider argumentiert in diesem Zusammenhang anders. Er spricht davon, dass das »Spielerglück [...] eine wahrscheinliche Unwahrscheinlichkeit«41 markiert, wobei es ihm letztlich um eine chiastische Argumentationsfigur geht: »Die vier Erzähler des Serapionbundes kümmern sich nicht mehr um Fälle einer wahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit, sondern um die einer unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit, um extreme Erfahrungen, pathologische Fälle, Seltsamkeiten und Unerklärlichkeiten. [...] die das Unwahrscheinliche gerade zum Normalfall [erheben]. [...] Damit ist für die Novellenerzählungen der Serapions-Brüder die Serie der wunderbaren und unwahrscheinlichen Ereignisse zweifach theoretisch bestimmt. Das Unwahrscheinliche kehrt einmal als ein rhetorischer und erzählpoetischer Topos wieder, es ist zum zweiten eine in Erzählserien gefasste Doublette der Kontingenzerfahrung in der modernen Gesellschaft.«42

wahrscheinliche

Unwahrscheinlichkeit

unwahrscheinliche

Wahrscheinlichkeit

Dieser Chiasmus ist die moderne Signatur schlechthin, da dadurch aufgezeigt wird, dass und wie Unwahrscheinlichkeit zur identitätsbildenden Größe wird in einer Gesellschaft, die in Form der funktionalen Ausdifferenzierung klare soziale Bindungsregeln etabliert. Die Gesellschaft hat sich unumkehrbar auf die Struktur der funktionalen Differenzierung festgelegt, dabei Kontingenz zur strukturbildenden Größe gemacht, und dies lässt sich für eine sich selbst reflektierende Romantik nur ertragen, wenn die Normalität und Unausweichlichkeit des Prozesses für unwahrscheinlich erklärt werden.43 Luhmann postuliert dazu, dass eine der Moderne theoretisch gerecht werdende Theorie folgendermaßen vorgehen muss:

40 In der Aufklärung galt: »Die Lotterie kann als Stellvertreterin und Assistentin der göttlichen Vorsehung gelten; das Karten- und Glücksspiel dagegen steht im Kreuzfeuer aufklärerischer Kritik« (C. Albert: Corriger la fortune?, S. 123). 41 M. Schneider: Serapiontische Probabilistik, S. 270. 42 Ebd., S. 266. 43 Rainer Pabst liefert eine meines Erachtens problematische alternative Deutung, indem er Spieler-Glück als gelungene psychologisch plausible Erzäh-

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Spieler-Glück »Das methodologische Rezept hierfür lautet: Theorien zu suchen, denen es gelingt, Normales für unwahrscheinlich zu erklären. Dies kann in funktionalistischer Perspektive mit Hilfe von Problemstellungen geschehen, die es ermöglichen, normale Erfahrungsgehalte der Lebenswelt als immer schon gelungene, aber vielleicht auch anders mögliche Problemlösung darzustellen.«44

Indem unwahrscheinliches Spielglück fokussiert wird, lässt sich passgenau beobachten, dass und wie in der modernen Gesellschaft Normales (in dem Falle Kontingenz und Glück) unwahrscheinlich ist. Spielerglück in der modernen Gesellschaft zu fokussieren, hat eine pleonastische Dimension, die gerade aufzeigen kann, dass die moderne Gesellschaft in ihrer Kontingenz- und Unwahrscheinlichkeitskultur eben nicht beliebig ist. Paradoxerweise wird über Glück, Kontingenz und Unwahrscheinlichkeit sichtbar, dass jede Problemlösung auch anders ausfallen könnte, dass aber genau dies, die Unhintergehbarkeit der Kontingenz, selbst nicht mehr kontingent ist. Indem die moderne Gesellschaft auf funktionale Differenzierung umschaltet, installiert sie Kontingenz als ihr Schicksal und es ist gerade die Kunst/Literatur, die genau dies darstellen kann: »Das Kunstsystem vollzieht Gesellschaft an sich selbst als exemplarischen Fall. Es zeigt, auf was die Gesellschaft sich eingelassen hatte, als sie Funktionssysteme ausdifferenzierte und sie damit einer autonomen Selbstregulierung überließ. Es zeigt an sich selbst, dass die Zukunft durch die Vergangenheit nicht mehr garantiert ist, sondern unvorhersehbar geworden ist. Operative Schließung, Emanzipation von Kontingenz, Selbstorganisation, Polykontexturalität, Hyperkomplexität der Selbstbeschreibungen [...], all das sind nur verschiedene Anschnitte dieses Strukturschicksals der Moderne. Die Kunst zeigt im Leiden an sich selbst, daß es so ist, wie es ist. Wer dies wahrnehmen kann, sieht in der modernen Kunst das Paradigma der modernen Gesellschaft.«45

Romantische Kunst, die sensibel ist für die Verschachtelung von Form- und Sachdimension, die in Form eines Selbstdementis sich ihre Form gibt, die sensibel ist für die Kontingenzkultur der Moderne, die mithilfe des Glückspiels den Chiasmus von wahrscheinlicher lung liest, die das Schicksal ad acta legt, indem der Baron Siegfried durch die erzählten Spielergeschichten als lernfähiges und frei entscheidendes Individuum dargestellt wird: »Der exogene Determinationszusammenhang wird als Handlungsmotivation der fiktiven Figuren durch diese Psychologisierung entwertet und damit obsolet« (R. Pabst: Schicksal bei E.T.A. Hoffmann, S. 173). Dies argumentiert zu nah an den Figuren und übersieht so die entscheidende Verschränkung von Form- und Sachdimension. 44 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 162. 45 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 499 (meine Hervorhebungen; M.G.).

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Mario Grizelj Unwahrscheinlichkeit und unwahrscheinlicher Wahrscheinlichkeit präsentiert, die ihre Form gewinnt im Zuge einer Ordnungsleistung des Ambivalenten, solch eine romantische Kunst ist progressive Aufklärung und Paradigma der modernen Gesellschaft. Und das Glück (und auch das Glücklichsein) des Spielers ist hier wiederum ein Paradigma moderner Kunst. Gerade weil Spielerglück der Stoff und das Medium von Hoffmanns Spieler-Glück ist, lässt sich an dieser Erzählung die Signatur der Moderne ablesen. Gerade auch an dieser Erzählung kann man einmal mehr sehen, dass Hoffmanns Texte »historische Verstehensfiguren und diagnostische Erzählexperimente zugleich« sind, die als »Meta-Narrative[ ]«46 zeigen, wie und warum wir uns in einer modernen Welt bewegen. »Theodor hatte die Freunde mit einem sehr edlen Wein bewirtet, den ihm ein Freund vom Rhein her gesendet. Er schenkte den Rest ein in die Gläser und sprach dann: Ich weiß in der Tat nicht, wie mir die wehmütige Ahnung kommt, daß wir uns auf lange Zeit trennen, vielleicht niemals wiedersehen werden, doch wird wohl das Andenken an diese Serapionsabende in unserer Seele fortleben. Frei überließen wir uns dem Spiel unsrer Laune, den Eingebungen unserer Fantasie. Jeder sprach wie es ihm im Innersten recht aufgegangen war, ohne seine Gedanken für etwas ganz besonderes und außerordentliches zu halten oder dafür ausgeben zu wollen, wohl wissend, daß das erste Bedingnis alles Dichtens und Trachtens eben jene gemütliche Anspruchslosigkeit ist, die allein das Herz zu erwärmen, den Geist wohltuend anzuregen vermag. Sollte das Geschick uns nun wirklich trennen, so laßt uns auch geschieden die Regel des heiligen Serapion treu bewahren und dies einander gelobend, das letzte Glas leeren. – Es geschah wie Theodor geboten. –«47

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46 G. Neumann: Einleitung, S. 7 u. 9. 47 E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, S. 1199.

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Spieler-Glück Gerlach, U. Henry: »E.T.A. Hoffmanns Spielerglück«, in: ders.: Einwände und Einsichten. Revidierte Deutungen deutschsprachiger Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 2002, S. 925. Grizelj, Mario: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«. Eine Systemtheorie experimenteller Prosa, Würzburg 2008. Ders.: »Die ›gebildete Wildniß‹ des romantischen Romans und die Epistemologie der Form als Poetologie des Experiments um 1800«, in: Michael Gamper u.a. (Hg.): »Wir sind Experimente: Wollen wir es auch sein!« Experiment und Literatur 1790-1890, Göttingen 2010, S. 27-52. Herman, David: »Toward a Formal Description of Narrative Metalepsis«, in: Journal of Literary Semantics 26 (1997), H. 2, S. 132152. Hoffmann, E.T.A.: Die Serapions-Brüder (1819-1821), hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008. Ders.: »Rat Krespel«, in: ders.: Die Serapions-Brüder (1819-1821), hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 39-64. Ders.: »Spieler-Glück (1819)«, in: ders.: Die Serapions-Brüder (18191821), hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 856-887. Kilian, Ursula: Baupläne deutscher Novellen und Romane von der Klassik bis zur Moderne, Frankfurt a.M. u.a. 1990. Kirchmeier, Christian: Glück im Spiel. Das Glücksspiel als Kontingenzmetapher in Lessings Minna von Barnhelm, in: Anja Gerigk (Hg.): Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen, Bielefeld 2010, S. 35-66. Kremer, Detlef: Romantik. Lehrbuch Germanistik. 3. Aufl., Stuttgart u.a. 2007. Lachmann, Renate: »E.T.A. Hoffmanns Phantastikbegriff«, in: Gerhard Neumann (Hg.): »Hoffmanneske Geschichte«. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005, S. 135-152. Liebrand, Claudia: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns, Freiburg i.Br. 1996. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995. Ders.: »Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft«, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93-128. Malina, Debra: Breaking the Frame. Metalepsis and the Construction of the Subject, Columbus u.a. 2002.

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Zeichen machen Leute. Semiose und Glück in Gottfried Kellers Kleider machen Leute FRANK HABERMANN Glück ist subjektiv, individuell, inkommensurabel und prinzipiell nicht objektivierbar.1 Nach der Aufklärung, so David E. Wellbery, gebe es kein konsensfähiges Konzept mehr, »die Glückserfahrung versenkt sich ins Individuum«, und sei damit, wie die stehende Formel vom Individuum, ebenfalls »ineffabile – unfaßbar und unaussprechbar« geworden.2 Das Unsagbare, so schreibt Waldemar Fromm im Resümee seiner Studie, sei nun zwar nicht erfahrungsresistent, aber »der Sache nach theorieresistent«.3 Demnach steht es schlecht um theoretische Zugänge zum Phänomenarsenal ›Glück‹ und seiner spezifischen Erfahrung. Sie bleiben entweder zwangsläufig defizient und unterkomplex oder nehmen die (weiterhin theoretische) Position ein, dass Theorie, in Anlehnung an einen Aphorismus Karl Kraus’, sich am Besonderen individualistischer Glückserfahrung den Kopf blutig stößt – und trotzdem weiter will. Aussagen dieser Art sind nicht nur problematisch, wenn unter ›Glück‹ im Deutschen, wie in der Forschung immer wieder betont, nicht zwischen Ausprägungen von beatitudo/felicitas und fortuna unterschieden wird. Heinrich Meier verdeutlicht die semantische Bandbreite des Glücks mit seinen widersprüchlichen Aspekten: 1

2

3

Vgl. Eva Reichmann: »Vom Schicksal zum Zufall. Der Wandel des Glücksbegriffes im Wiener Vorstadttheater bei Johann Nepomuk Nestroy«, in: Pierre Béhar (Hg.): Glück und Unglück in der österreichischen Literatur und Kultur. Internationales Kolloquium an der Universität des Saarlandes 3.-5. Dezember 1998, Bern 2003, S. 57: »Glück und Unglück sind zwei im höchsten Maß vage Begriffe, deren Definition kaum objektivierbar ist. Der Inhalt von Glück oder Unglück ist subjektiv, individuell definiert. [...] Was Glück oder Unglück ist, hängt vom persönlichen Empfinden ab«. David E. Wellbery: »Prekäres und unverhofftes Glück. Zur Glücksdarstellung in der klassischen deutschen Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München 2008, S. 49f. Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. Über das Sagbare und das Unsagbare in Literatur und Ästhetik der Aufklärung, der Romantik und der Moderne, Freiburg i.Br. u.a. 2006, S. 512.

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Frank Habermann »Glück kann sich sowohl auf einen Augenblick als auf eine Existenz beziehen. Glück bringt ein intensives Gefühl und ein ruhiges Urteil zum Ausdruck. Glück bezeichnet eine Verdichtung im Hier und Jetzt ebenso wie eine Bewegung, die das Auf und Ab eines Lebens übergreift, sich durch dessen Wechselfälle durchhält, ihm Dauer und Einheit verleiht.«4

Problematisch sind die Theorie-Absagen aber auch, wenn sie die theoretische Insuffizienz gegenüber individueller Glückserfahrung einseitig an einen vorweggenommenen, ganz selbstverständlichen und konventionalisierten Glückszustand koppeln. Mit meiner semiotischen Lektüre von Gottfried Kellers Kleider machen Leute werde ich eine Gegenposition einnehmen: Nicht, was individuelles Glück ist (oder sein kann) steht im Fokus, sondern die Beobachtung der zeichentheoretischen Konstellationen, die einen Glückszustand ermöglichen können. Glück, so versuche ich zu zeigen, lässt sich dabei aus semiotischer Perspektive auch als Effekt eingefahrener, schematisch ablaufender und als solche sich performativ ausstellender (hauptsächlich) deduktiver Semiosen fassen. Damit wird hier mehr eine gesellschaftliche Dimension des Zustandekommens (individuellen) Glücks als Produkt kommunikativer Semiose betont als jene der konkreten und individuellen Glückserfahrung. In meinem Beitrag verfolge ich ein doppeltes Ziel: Einerseits soll mit der Lektüre von Kleider machen Leute der zufällige, schicksalsträchtige, chaotische und gesellschaftsfreie Charakter des Phänomens ›Glück‹ hinterfragt und damit in gewissen Aspekten von seiner völlig kontingenten Dimension differenziert werden. Andererseits möchte ich in Rückgriff auf die Semiotik von Charles Sanders Peirce mit einer semiotischen Analyse von Zeichenzusammenhängen von und in Kleider machen Leute einen literaturwissenschaftlichen Beitrag zur Keller-Forschung beisteuern. Dies impliziert, nicht allein auffällige Zeichen und ihre massive Vernetzung in Kellers Novelle zu diskutieren, sondern auch, dass die Selbstreflexivität dieser Zeichen, die Ausstellung der Zeichen als Zeichen, in das Blickfeld der Untersuchung rückt und damit der Status von Literatur als Literatur und in Literatur. Dazu skizziere ich zunächst kurz die thematische Bandbreite des Glücks in Kleider machen Leute, beobachte daraufhin im Anschluss an Nina Orts reflexionslogische Semiotik Glück als Effekt deduktiver Semiose und diskutiere zuletzt Wenzel Strapinski als ein mehrwertiges Zeichen.

4

Heinrich Meier: »Prolog. Über das Glück«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 8f.

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Zeichen machen Leute

Glück in Kleider machen Leute Kleider machen Leute, so Bernd Neumann in seinem Nachwort zum Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla, rangiere, gäbe es eine Beliebtheitsskala der Texte Kellers, »ganz oben«5. Diesem Befund ist zuzustimmen, zumindest aus der Sicht literaturwissenschaftlicher Interpretationsbemühungen; es ist geradezu schwierig, eine literaturwissenschaftliche Methode zu nennen, die nicht an Kleider machen Leute ausprobiert wurde, ein Thema oder (historisches) Motiv der Novelle hervorzuheben, das noch nicht zum Gegenstand einer literaturwissenschaftlichen Analyse geworden ist. ›Glück‹ kann hier nicht ausgenommen werden.6 Im Gegenteil, bezieht man sich auf die etymologische Bedeutung von Seldwyla,7 lassen sich sogar, nach Renate Böschenstein, »die Seldwyler Geschichten als Experiment mit dem Denkbild ›Glück‹ auffassen«.8 Böschenstein stellt fest, dass Glück in Kellers Werk »semantisch eine Bandbreite [hat], die schier alle im 19. Jahrhundert geläufigen Bedeutungen umfaßt«.9 Dazu zählen Glückskonstellationen im Sinne der beatitudo und fortuna, wie etwa die persönliche Gunst des Zufalls oder Schicksals, ökonomische Prosperität (prosperitas) wie auch innere Zufriedenheit, Erfüllung durch den Augenblick, Erfahrung von Liebe etc. Glück sowie die dialektische Konstellation von Glück und Unglück spielen besonders in Kleider machen Leute eine zentrale Rolle, angefangen von den teilweise fantastischen, glücklichen Zufällen im Handlungsverlauf und den Fügungen des Schicksals (z.B. heißt der

5 6

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8 9

Bernd Neumann: »Nachwort«, in: Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen, hg. v. dems., Stuttgart 2004, S. 684. Vgl. vor allem die Studien von Alan Corkhill: »Good Fortune Maketh the Man? Notions of ›Glück‹ in the Seldwyla Novellas«, in: Hans-Joachim Hahn/Uwe Seja (Hg.): Gottfried Keller Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien – Critical Essays, Bern 2007, S. 25-45; Renate Böschenstein: »Kellers Glück«, in: Hans Wysling (Hg.): Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk, Zürich 1990, S. 163-184; Paula Ritzler: »›Ein Tag kann eine Perle sein.‹ Über das Wesen des Glücks bei Gottfried Keller«, in: Jahresbericht der Gottfried-Keller-Gesellschaft 40 (1971), S. 3-19; und ferner Axel Dunker: »Ein ›historisch-ethnographischer Schneiderfestzug‹. Die Ikonographie der Fortuna als Reflexionsfigur in Gottfried Kellers Erzählung Kleider machen Leute«, in: Wirkendes Wort 52 (2002), H. 3, S. 361-371. Vgl. Gottfried Keller: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 4. Die Leute von Seldwyla, hg. v. Thomas Böning u.a., Frankfurt a.M. 1989, S. 677: »Keller hat den Ortsnamen ›Seldwyla‹ gebildet durch das Zusammenfügen des mhdt. sælde ›Glück, Heil, Güte himmlische Seligkeit‹ mit dem als Ortsnamensuffix im alemannischen Bereich häufigen -wyl ›Weiler‹«. R. Böschenstein: Kellers Glück, S. 176. Ebd., S. 163.

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Frank Habermann als Graf Strapinski vorgestellte Schneider tatsächlich Strapinski),10 über das Glück der Freiheit (z.B. KmL 16), das Spielerglück Wenzels (z.B. KmL 24 u. 34), dem aktiven Streben Wenzels nach Liebesglück (z.B. KmL 26f. u. 36), der romantischen ›stillen‹ Glücksvorstellung Wenzels (KmL 57), dem bürgerlichen Glück des Ehepaars im zweideutigen Happy End (KmL 62), bis hin zur innersemantischen Reflexion des Glücks, etwa ausgehend von der Differenz von Sein und Schein über das viel interpretierte Sinnbild der Fortuna (KmL 38f.), Wenzels Nachdenken über die Vergänglichkeit des Glücks (KmL 27) oder nicht zuletzt auch Nettchens »mehr geträumte als gedachte Fragen« über Glück und Leben (KmL 48). Schließlich wird die gegenseitige Bedingung von Glück und Unglück vom ›Text-Schneider‹ Keller in die Novelle verwoben (z.B. KmL 45f.), der nach Peter Villwock selbst Fortuna spielt, indem er erzählt, also das Erzählte gleichsam mit ›Schleiern‹ und ›transparenten Gazegewändern‹ belegt, durch die das jeweilige Gegenteil des erzählten Glücks oder Unglücks schimmert.11 Nimmt man allein diese hier nur anskizzierten und noch weiter zu differenzierenden Glücksformen,12 wie sie in Kleider machen Leute ›verdichtet‹ sind, zusammen, so ist die These von der allgemeinen Beschränktheit literarischer Darstellungsmöglichkeiten von Glück stark zu bezweifeln.13 Vielmehr können die Seldwyla-Novellen insgesamt in ihrer Funktion geradezu als ein ›Promotor und Katalysator der Glückstendenzen und -vorstellungen‹ angesehen werden.14

10 Vgl. Gottfried Keller: »Kleider machen Leute«, in: ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Bd. 5. Die Leute von Seldwyla. Zweiter Band, hg. v. Peter Villwock u.a., Basel u.a. 2000, S. 19. Im Folgenden wird diese Ausgabe unter der Sigle KmL zitiert. 11 Vgl. Peter Villwock: »Kleider machen Leute. Die Kunst und das Menschliche«, in: Walter Morgenthaler (Hg.): Gottfried Keller. Romane und Erzählungen, Stuttgart 2007, S. 85. 12 Zu detaillierteren Beobachtungen dieser Formen vgl. A. Corkhill: Good Fortune Maketh the Man?, R. Böschenstein: Kellers Glück und P. Ritzler: »Ein Tag kann eine Perle sein«. 13 Vgl. dazu einschlägig die Postulate in Peter J. Brenner: »Das Glück in der Literatur«, in: Alfred Bellebaum (Hg.): Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme, Konstanz 2002, S. 247 und die Diskussion dieser These bei Ulrike Tanzer: »Kein guter Stoff für Dichter? Das Glück in der Literatur«, in: Gerda E. Moser u.a. (Hg.): »Klug und stark, schön und erotisch«. Idyllen und Ideologien des Glücks in der Literatur und in anderen Medien, Innsbruck 2006, S. 23-44. 14 Zu einer solchen Funktion vgl. Gerda E. Moser: »Spaßkulturen und Ideologien des Glücks«, in: dies. (Hg.) u.a. »Klug und stark, schön und erotisch«. Idyllen und Ideologien des Glücks in der Literatur und in anderen Medien, Innsbruck 2006, S. 17.

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Zeichen machen Leute Im Folgenden geht es mir hauptsächlich um eine theoretische Differenzierung des Glücks, das Strapinski am Anfang der Novelle augenscheinlich vollkommen passiv erfährt, indem er für einen Grafen gehalten wird und so überhaupt erst die Bekanntschaft mit Nettchen machen kann. Das Glück des Protagonisten stellt sich hier als völlig kontingent und vom Zufall abhängig dar. In anderen Worten: »Wenzel Strapinski hat Glück, und dieses Glück stellt sich ein vor allem durch Zufälle und glückliche Fügungen des Geschicks.«15 Dass zu diesen Zufällen (z.B. dem Angebot des Kutschers, Strapinski mitzunehmen, der Namenskoinzidenz etc.) mehr gehört als ihr bloßes Sich-Ereignen, damit sie als glückliche Zufälle den Handlungsverlauf beeinflussen und Strapinski zu individuellen Glücksund Unglückserfahrungen führen können, soll nun die semiotische Lektüre von Zeichenprozessen in Kleider machen Leute zeigen.

Zeichen in Kleider machen Leute Nach Peirce, auf dessen dreiwertige Semiotik ich mich durchweg beziehe, besteht ein Zeichen aus drei Komponenten: dem Zeichenmittel (Repräsentamen), dem Zeichenobjekt und dem Zeicheninterpretanten, wobei diese drei Komponenten nur heuristisch differenziert werden können, da sie im Zeichen immer zusammen gegeben sind. Der Interpretant ist ein Drittes, das ein Erstes und ein Zweites zusammenbringt. Peirce definiert das Zeichen u.a. wie folgt: »Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende.«16

Hierbei wird die Relation von Repräsentamen und Objekt durch den Interpretanten repräsentiert, was ein entscheidender Unterschied zu klassisch zweiwertig konzipierten Zeichenmodellen ist, bei denen

15 A. Dunker: Ein »historisch-ethnographischer Schneiderfestzug«, S. 363. In Bezug auf das ökonomische Glück in Die Leute von Seldwyla generalisiert Jörg Kreienbrock: »Das Kreditparadies Seldwyla. Zur Beziehung von Ökonomie und Literatur in Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla«, in: HansJoachim Hahn/Uwe Seja (Hg.): Gottfried Keller Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien – Critical Essays, Bern 2007, S. 129: »Das Glück der Seldwyler – und nicht nur der Hochstapler – ist zufällig.« 16 Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, hg. v. Helmut Pape, Frankfurt a.M. 1983, S. 64.

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Frank Habermann die Relation von Signifikant und Signifikat arbiträr und somit dem Zeichen nicht inhärent konzipiert ist. Die Bedeutsamkeit der Relationierung geht so weit, dass die peircesche Semiotik keine Zeichen für sich, keine unrelationierten oder statischen Zeichen kennt: Ein Zeichen, das in keiner möglichen Relation zu einem anderen Zeichen steht, ist kein Zeichen.17 Mit diesem Zeichenbegriff, der auf einen infiniten semiotischen Prozess zielt, kann der Frage nachgegangen werden, wie Zeichen in Kleider machen Leute an Zeichen anschließen und somit Glückszustände wie auch Deutungsmöglichkeiten erst generieren. Die Beobachtung von Zeichenprozessen wird im Folgenden auch in Zusammenhang mit Peirce’ Differenzierung der Formen des Schließens gebracht. Wenn in der Analyse semiotische und logische Betrachtungen zusammen auftreten, dann darum, weil Peirce Logik und Semiotik größtenteils synonym gebraucht und die Semiotik nicht anders als zwingend logisch konzipiert. Die starke Ausstellung des Zeichens in Kleider machen Leute wird in der Forschung breit diskutiert. Bereits Benno von Wiese spricht in Bezug auf die Novelle von einer »Welt der Zeichen«18 und Rolf Selbmann betitelt eine Kurzinterpretation gar mit »Der Herr der Zeichen«.19 Dennoch richtet sich die Aufmerksamkeit der Interpreten meist auf einzelne exponierte Zeichen (z.B. den Mantel) oder Tropen wie Metaphern und Allegorien (z.B. Fortuna). So weist beispielsweise Klaus Jeziorkowski explizit auf die Stadt ›Goldach‹ als Zeichen hin. Diese inkorporiere und repräsentiere die, in der Forschung für die Novelle oftmals als zentral gewertete, Differenz von Sein und Schein durch das Kompositum von ›Gold‹ und ›Ach‹.20 Demnach stehe Goldach selbst nur für eine scheinhafte Vergoldung, dessen Schein auf Strapinski großen Eindruck macht, denn »er glaubte sich in einer anderen Welt zu befinden« (KmL 32), und folglich als Sein interpretiert werde. Die Zeichenhaftigkeit der Stadt Goldach wird mit ihren alten Häusern, ihrer »zum Schmucke beibehalten[en]« alten Ringmauer und den »sorgfältig erhalten[en]« Türmen (KmL 31), ikonographisch17 Vgl. Werner Scheibmayr: Niklas Luhmanns Systemtheorie und Charles S. Peirces Zeichentheorie. Zur Konstruktion eines Zeichensystems, München 2004, S. 168. 18 Benno von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Bd. 1, Düsseldorf 1956, S. 241. 19 Rolf Selbmann: Gottfried Keller. Romane und Erzählungen, Berlin 2001, S. 76. 20 Vgl. Klaus Jeziorkowski: Gottfried Keller »Kleider machen Leute«. Text, Materialien, Kommentar, München u.a. 1984, S. 94. Vgl. dagegen Bönings etymologische Herleitung von -ach aus mhdt. ahe ‚Fluss‘ in G. Keller: Die Leute von Seldwyla, S. 753.

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Zeichen machen Leute allegorischen Sinnbildern der Häuserfassaden, geschmückten Fastnachtsschlitten mit ihren galionsartigen Verkörperungen der Sinnbilder, auch mit dem Ambiente des Wirtshauses ›Zur Waage‹, das an ein »Stilleben des Barock«21 erinnert, durch eine märchenhafte Atmosphäre ausgestellt, so dass für Martina Wagner-Egelhaaf Goldach »ohnedem ein Ort der Idolatrie der Zeichen«22 ist. Aber nicht nur Goldach ist solch ein Hort der Zeichen; die ganze Novelle, so meine These, kann als Repräsentation und Ausstellung von Zeichen und Zeichenprozessen gelesen werden. Als ›dingliche‹ Zeichen (sensu von Wiese) stechen bereits zum Beginn von Kleider machen Leute Strapinskis Fingerhut, den er, »in Ermangelung irgend einer Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte« (KmL 11), und seine Kleidung, also sein schwarzes Sonntagskleid sowie sein weiter, dunkelgrauer, mit schwarzem Samt ausgeschlagener Radmantel, »der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh« (ebd.), hervor. Was den Fingerhut angeht, nach Peirce’ Subklassifizierung der Zeichen ein indexikalisches Zeichen,23 so bestimmt sein Interpretant hier die Relation von Repräsentamen und Objekt nicht hinsichtlich eines konventionellen, regelmäßigen und gewöhnlichen Gebrauchs, der eben seiner Funktion als Schneiderutensil nachkäme. Ist der Interpretant in der Zeichentriade genuine Komponente der Drittheit, so lässt er sich gemäß des kategorialen Implikationsverhältnisses wiederum in drei Thematisierungen subklassifizieren: als Erstheit der Drittheit in den ›unmittelbaren Interpretanten‹, als Zweitheit der Drittheit in den ›dynamischen Interpretanten‹ und zuletzt als Drittheit der Drittheit in den ›finalen Interpretanten‹.24 Der Fingerhut als Substitut einer Münze verdeutlicht hier also, dass sein Interpretant nicht konventionalisiert ist und somit nicht als eine drittheitliche finale Ausprägung steht. Vielmehr wird im dynamischen Interpretanten eine unkonventionelle (erstheitliche) Möglichkeit aktualisiert, die mit der im Text zuvor erwähnten Armut des Schneiders (KmL 11) korreliert. Mit der Abkehr von der Regel, der dysfunktionalen Verwendung des Fingerhuts, wird bereits zu Beginn der Novelle ein Zeichen gesetzt, nämlich dass Zeichen in ihren Anschlussmöglichkeiten, die Semiose voranzutreiben, keines21 Joseph Kiermeier-Debre: »Nachwort«, in: Gottfried Keller: Kleider machen Leute, hg. v. dems. 2. Aufl., München 2006, S. 94. 22 Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart u.a. 1997, S. 489. 23 Zu den Zeichen der drei Trichotomien vgl. C. S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, S. 123-126. 24 Zu den Degenerationsformen der Zeichenkomponenten vgl. Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften. Bd. 3. 1906-1913, hg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt a.M. 1993, S. 212-227.

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Frank Habermann wegs eindeutig identifizierbar sein müssen, sondern ganz unterschiedliche Interpretanten bilden können, die zwar ungewöhnlich oder überraschend sein mögen, aber – wie zu sehen sein wird – durchaus logischen Schlüssen folgen. So kann die Relation von Strapinskis Armut und dem Drehen des Fingerhuts durchaus in dem folgenden Syllogismus rekonstruiert werden: 1. Prämisse (Regel): 2. Prämisse (Fall):

Arme Schneider haben keine Münzen Strapinski dreht einen Fingerhut aus Ermangelung einer Münze Konklusion (Resultat): Strapinski ist ein armer Schneider

Dieser Syllogismus basiert auf einer deduktiven Struktur. Nina Ort folgend kann ein Syllogismus dieser Struktur als ein ›deduktives Zeichen‹ oder eine ›deduktive Semiose‹ reinterpretiert werden.25 Ort korreliert die drei Schlussweisen Abduktion, Induktion und Deduktion mit den drei peirceschen phänomenologischen Universalkategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit; Abduktion ist erstheitlich, Induktion zweitheitlich und Deduktion drittheitlich: »Auf diese Weise werden im Zeichen selbst die drei wesentlichen, nämlich kategorialen Zeichenkonstituenten dargestellt: der repräsentative Aspekt des Zeichens [drittheitlicher Bezug; F.H.] als deduktives Zeichen, die Motivation zur Semiose bzw. die Möglichkeit der Semiose [erstheitlicher Bezug; F.H.] im abduktiven Zeichen und die faktische Konstitution als Semiose [zweitheitlicher Bezug; F.H.] im induktiven Zeichen.«26

Repräsentiert der Fingerhut die Armut des Schneiders, so steht seine Kleidung zu dieser in einem widersprüchlichen Verhältnis, denn, wendet man den gleichen Syllogismus erneut an, dann gilt: Regel: Fall: Resultat:

Arme Menschen tragen keine prächtigen Kleider Strapinski trägt prächtige Kleider Strapinski ist nicht arm

Der Schluss, dass Strapinski prächtige Kleidung trägt und trotzdem arm ist und Hunger leidet, ist deduktiv zunächst nicht nachvollziehbar, weil sich keine bestehende gültige Regel findet, die diesen Schluss bestätigt. Strapinskis Kleidung ist ein Objekt, das für den Leser ein überraschendes Phänomen darstellt; es muss erst abduktiv eine neue Regel konstruiert werden, die eine Erklärungsmöglich-

25 Vgl. Nina Ort: Reflexionslogische Semiotik. Zu einer nicht-klassischen und reflexionslogisch erweiterten Semiotik im Ausgang von Gotthard Günther und Charles S. Peirce, Weilerswist 2007, S. 275f. 26 Ebd., S. 282.

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Zeichen machen Leute keit für das Verhältnis von Armut und Kleidung bereitstellt. Diese Regel steht im Zeichen der Erstheit, ist Ausdruck von Möglichkeit und hat somit nur einen hypothetischen Charakter. Im Unterschied zur Induktion, bei der die Prämissen eine Regel als Konklusion suggerieren, ist bei der Abduktion die hypothetische Regel als eine Prämisse selbst zu formulieren. Die Assoziation der Prämissen und der Konklusion ist hierbei ebenfalls Ausdruck von Möglichkeit: »Prämisse und Hypothese bilden einen Zusammenhang der reinen Möglichkeit, die den Fall als Fall dieser Möglichkeit konkretisiert«.27 Das Objekt stellt beim abduktiven Zeichen ein überraschendes Phänomen dar, das ein weiteres Zeichen zu seiner Erklärung heranzieht. So wäre die ungewöhnliche Kleidung des Schneiders etwa dadurch zu erklären, dass er seinem Vater auf dem Sterbebett habe versprechen müssen, diese niemals zu verkaufen und als sein Andenken zu wahren. Der Text liefert freilich eine andere Erklärung, die der Leser erst gegen Ende der Novelle aus Strapinskis Munde erfährt: Seine Mutter, die »etwas eitel« war, »kleidete sich und mich [Wenzel Strapinski; F.H.], ihr einziges Kind, immer etwas zierlicher und gesuchter, als es bei uns Sitte war« (KmL 53). Und folglich war ihm »[s]olcher Habitus [...] zum Bedürfnis geworden« (KmL 11). Diese Informationen können als Zeichenobjekte aber nicht in den Semioseprozess der Goldacher eingebunden werden, es sei denn, sie würden jene ebenfalls abduktiv erschließen. Der zentrale Konflikt der Novelle ist aus semiotischer Perspektive also keinesfalls etwa die ›menschliche Bewährung‹ Strapinskis, in der sich die humanistische Weltanschauung Kellers spiegle,28 sondern resultiert – wie der Anfang der Novelle verdeutlicht – aus der Entwicklung der diese Bewährung ermöglichenden und vorausgehenden Zeichenprozesse sowie den daraus folgenden Schlussweisen und Interpretationsleistungen.

Deduktive Semiose und Kleiderzeichen Verständlicherweise bilden die Kleiderzeichen in Kleider machen Leute den Zeichenpool, der in der Forschung bislang am häufigsten und ergiebigsten analysiert wurde. Methodisch schließen diese Analysen zumeist an die, in der Traditionslinie Saussures stehende, dualistisch operierende Zeichentheorie und, diese Theorie aufgrei-

27 N. Ort: Reflexionslogische Semiotik, S. 298. 28 Irene Fickel: »Die Gestaltung von Widerspruch und Konflikt in Gottfried Kellers Novelle ›Kleider machen Leute‹«, in: Arbeiten zur deutschen Philologie 18 (1989), S. 41.

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Frank Habermann fend, an Roland Barthes Studie zur Sprache der Mode an.29 Neben den konventionellen Gebrauchsfunktionen von Kleidung (wie zum Beispiel Schutz, Scham und Schmuck),30 bietet sie die Möglichkeit zur Identifikation durch Differenz in verschiedener Hinsicht: »Kleidungszeichen helfen uns dabei, Menschen zu identifizieren, sie anhand prägnanter Merkmale von einander zu unterscheiden oder bestimmten Kategorien, Gruppen oder Klassen zuzuordnen. Sie liefern Menschen überdies in verschiedener Hinsicht sichtbare Bezugspunkte für die Konstruktion der eigenen Identität: die kulturelle Identität, die persönliche Identität, die Geschlechtsidentität.«31

Kleidung erzeugt Differenzierung und ermöglicht so Identität bzw. Identifikation. Nach der peirceschen Zeichentheorie sind dies Eigenschaften der Zweitheit, der Kategorie der Existenz, der Opposition, der Differenz, d.h. des Raumes von Aktion und Reaktion etc. Folglich wird versucht, Kleiderzeichen in Kleider machen Leute triadisch zu rekonstruieren, um den Fokus von der statischen Identifikation auf den Prozess der Zeichenrelationierung zu lenken. Die indexikalische Zeichenfunktion von Strapinskis Mantel und Sonntagskleid, also etwa der Verweis auf Schutz vor Regen und Kälte, wird von der symbolischen Funktion dominiert. Verwirklicht das Ikon den Erstheitsbezug im Objekt, der Index den Zweitheitsbezug und das Symbol den Drittheitsbezug, so steht das Symbol weder in einem Ähnlichkeitsverhältnis (Ikon) zu seinem Objekt, noch in einer existentiellen, abhängigen Relation (Index), sondern realisiert seine zeichenkonstitutive Beschaffenheit allein dadurch, »daß es so interpretiert werden wird«.32 Symbole konstituieren sich gemäß ihres Drittheitsbezugs wiederum durch eine Konvention, eine Regel, ein Gesetz. Die Verbindung von Armut und prächtiger Kleidung schließen solche Regeln oder die (latenten) Konventionen kulturhistorisch normalerweise aus. Dominiert im Zeichenobjekt das Symbolische, ist klar, dass im Zeichenprozess an dieses zuerst angeschlossen wird, die Goldacher also vom Mantel und Sonntagskleid auf den Träger als eine Person höheren sozialen Standes schließen. Im se-

29 Vgl. Roland Barthes: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985, besonders die aufschlussreiche Interpretation von Bernd Widdig: »Mode und Moderne. Gottfried Kellers ›Kleider machen Leute‹«, in: Merkur 48 (1994), H. 2, S.109-123 und Pia Reinacher: Die Sprache der Kleider im literarischen Text. Untersuchungen zu Gottfried Keller und Robert Walser, Bern 1988. 30 Vgl. B. Widdig: Mode und Moderne, S. 113. 31 Antonella Giannone: Kleidung als Zeichen. Ihre Funktionen im Alltag und ihre Rolle im Film westlicher Gesellschaften. Eine kultursemiotische Abhandlung, Berlin 2005, S. 17. 32 C. S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, S. 65.

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Zeichen machen Leute miotischen Prozess treffen die Goldacher zeitlich betrachtet genau dann auf Strapinski, als das Symbolische an ihm und um ihn (die Kutsche) derart dominiert, dass es die folgenden Interpretanten der Semiose determiniert. Was hier repräsentiert wird, ist, um es auf den Punkt zu bringen, die Dominanz deduktiver Semiose, die im Fortgang der Novelle konsequent exerziert wird. Bevor die Goldacher Strapinski jedoch überhaupt erst zu Gesicht bekommen, sehen sie die Ankunft des »neuen und bequemen Reisewagen[s]« (KmL 12) oder auch des »vornehme[n] Fuhrwerk[s]« und »prächtigen Wagen[s]«, aus dem »der verdutzte Schneider endlich hervorsprang« (KmL 13). Die Ankunft einer herrschaftlichen Kutsche mag zwar ungewöhnlich, aber keinesfalls unerklärlich sein, da der Symbolgehalt der Kutsche gewohnheitsmäßige Regeln repräsentiert, die die Goldacher aktualisieren. Zur Verdeutlichung der Art und Weise des Schließens wird ein Syllogismus entsprechend den drei Zeichenkomponenten aufgestellt. Dabei steht die Konklusion für das Objekt und die Prämissen setzen sich aus Repräsentamen sowie Interpretant zusammen: Regel (Repräsentamen): Fall (Interpretant): Resultat (Objekt):

Kutsche Person in der Kutsche Höherer sozialer Status

Hierbei handelt es sich wiederum um eine deduktive Semiose, denn es wird von den Prämissen (Regel und Fall) auf die Konklusion (Resultat) geschlossen. In dieser Form repräsentiert die Kutsche als Zeichenmittel ihr Objekt, einen gesellschaftlich höher geordneten sozialen Status, wobei diese Annahme als Regel konventionalisiert ist.33 Nach der Zeichendefinition von Peirce bestimmt das Repräsentamen, dass der Interpretant nun in die gleiche Relation zum Objekt tritt, in der es selbst steht. Von einer Person in der Kutsche, ob man sie tatsächlich sieht oder nur imaginiert, wird folglich erwartet, gemäß des Repräsentamen ebenfalls einen höheren sozialen Status (das Objekt) zu repräsentieren. Damit die Semiose fortschreiten kann, wird folglich ein weiteres Zeichen benötigt, das als neuer Interpretant fungiert. In diesem Fall ist es nun konkret die Kleidung (oder zumindest der Mantel) Strapinskis, welche als Interpretant an die Semiose anschließt. In syllogistischer Form heißt dies: 33 Im peirceschen Pragmatismus sind Konventionen unerlässlich und können kommunikationstheoretisch am Beispiel des ›commens‹ erläutert werden, als eine Art Voraussetzung dafür, dass ein Dialog überhaupt stattfinden kann. Vgl. Charles S. Peirce/Victoria Welby: Semiotic and Significs. The correspondence between Charles S. Peirce and Victoria Lady Welby, hg. v. Charles S. Hardwick, Bloomington u.a. 1977, S. 196f.

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Frank Habermann Regel (Repräsentamen): Fall (Interpretant): Resultat (Objekt):

Person in der Kutsche Mantel Höherer sozialer Status

Im Prozess der deduktiven Semiose degeneriert der ursprüngliche Interpretant zum Repräsentamen, der seinerseits ein neues Zeichen dazu bringt, in dieselbe Relation zum Objekt einzurücken, in der es selbst steht. Der erste Interpretant ist somit zugleich das zweite Repräsentamen. Dabei bleibt das Objekt stets das gleiche, es wird nicht verändert, die neuen Interpretanten präzisieren es lediglich. Steht die Person in der Kutsche (Interpretant/I1 = Repräsentamen/R2) also in derselben Relation zum Objekt (höherer sozialer Status = O1) wie die Kutsche (Repräsentamen/R1), dann steht der neue Interpretant (I2 =R3) in derselben Relation wie die Person in der Kutsche (I1 =R2) und die Kutsche (R1) zum Objekt. Der Anschluss neuer Interpretanten an das ursprüngliche Zeichen in der Semiose kann mit Nina Ort grafisch wie folgt veranschaulicht werden: Abb. 01: Deduktives Zeichen und deduktive Semiose34

Strapinskis Kleidung, in der als Zeichen der symbolische Aspekt dominiert, repräsentiert somit ebenfalls das ursprüngliche Objekt, eine sozial höhere Stellung. Die Repräsentativität der Kleidung führt die Repräsentativität der Semiose auch als Semiose weiter. Eine Beobachtung des Mantels/der Kleidung als Einzelzeichen verfehlt gerade die Signifikanz der Relationierung von Zeichen in der Semiose. Annemarie Pinto folgert beispielsweise: »Dass Wenzel ›blass‹ und ›schön‹ und ›schwermütig‹ zur Erde blickt, ist nichts weiter als eine didaktische Konsequenz des Mantels. Wäre er im einfachen Schneiderkleid erschienen, könnten diese Adverbien leicht in ›hungrig‹, ›unschlüssig‹ und ›ratlos‹ umgewandelt werden. Der Mantel jedoch verlangt von den Goldachern eine eindeutige Uebersetzung des Verhaltens von Wenzel.«35

34 Nach N. Ort: Reflexionslogische Semiotik, S. 286. 35 Annemarie Pinto: Das Mantelmotiv in Kellers »Kleider machen Leute« und Gogols »Der Mantel«, Bern u.a. 1978, S. 22.

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Zeichen machen Leute Der Mantel ›verlangt‹ als neuer Interpretant deduktiver Semiose keine Neuinterpretation der Relation Repräsentamen – Objekt, keine Selbstreflexivierung der Semiose, in der die Regel als Regel transparent würde und damit zur Disposition gestellt werden könnte; der Mantel und andere Interpretanten reichern das Objekt an. Man könnte folgern, die Goldacher bräuchten dann eine ›Übersetzung‹, wäre Strapinski im ›einfachen Schneiderkleid‹ erschienen, denn dann gäbe es einen Konflikt in der symbolischen Repräsentation; der Interpretant bestätigte nicht mehr die Regel, diese müsste induktiv oder abduktiv neu erschlossen werden. Die deduktive Semiose ist nicht überraschend, denn die neuen Interpretanten führen die Semiose in gewohnter Weise fort: »Die neuen sukzessiv heranrückenden Interpretanten können also nur als solche konzeptualisiert sein, die die durch die ›erste‹ Triade erstellte Bestimmung deduktiv bestätigen.«36 Durch die Anreicherung immer neuer Repräsentamen wird das Objekt immer präziser beschrieben; das Repräsentamen, nicht das Objekt, wird zu einem immer komplexeren Zeichen aus degenerierten Interpretanten. Die neuen Interpretanten identifizieren das Objekt zwar, verändern es jedoch nicht. Die deduktive Semiose ist derart als konservativ zu charakterisieren, da sie den kreativen Einschub von ›Neuem‹ ausschließt. Dies wird im Fortgang der Novelle immer wieder exemplifiziert. So wird das Schweigen Strapinskis vom Wirt als »Vornehmheit« (KmL 13) interpretiert, ein weiterer Interpretant, der das Repräsentamen anreichert und das Objekt, die sozial höhere Stellung, die Noblesse, den Adel o.ä. präzisiert. Als Strapinski den Ausgang des Wirtshauses sucht, deutet der Kellner dies, als »suche [jener] eine gewisse Bequemlichkeit« (KmL 15), dass er dabei seinen Mantel trägt, wird als »Der Herr friert!« (KmL 16) ausgelegt, Strapinskis »Blödigkeit« beim Zerlegen des Fisches wird zum Ausdruck seiner Vornehmheit als »Herr von großem Hause« (KmL 17) und als Strapinski die Rebhuhnpastete in der Annahme, dies sei die letzte Speise, verschlingt, spricht die Köchin ihm einen wohl gebildeten Geschmack zu, denn »Wär’ er ein gemeiner Kerl, so hätte er sich an den Braten gehalten!« (KmL 19). Dass in dieser Art des deduktiven Schließens das Objekt stets das gleiche bleibt, kreative, experimentelle oder hypothetische Elemente gar nicht erst in die Semiose einfließen, bestätigt der Wirt: »es sieht sich zwar nicht ganz elegant an; aber so hab’ ich, als ich zu meiner Ausbildung reis’te, nur Generäle und Kapitelsherren essen sehen!« (KmL 19). Die Goldacher ›bauen‹ Interpretant um Interpretant auf das Objekt, »wie auf einen Felsen« (KmL 30). Weder wird eine Regel als Konklusion suggeriert, noch wird eine hypothetische Regel, die

36 N. Ort: Reflexionslogische Semiotik, S. 287.

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Frank Habermann auf den Fall schließen könnte, als Prämisse deklariert, denn die Regel steht hier nicht zur Disposition; die Semiose läuft schematisch und stellt damit reflexiv ihre Operationsweise aus. Deutungen wie: »Der Glanz des Adels führt zur Fehldeutung der semiotischen Zeichen. Wenzel kann sich benehmen wie er will, schüchtern oder maßlos, alles wird seiner Rolle als Adeligem zugute gehalten«37 oder: »Der Signifikant triumphiert über das Signifikat, und Strapinski wird wahrhaft zum ›Märtyrer seines Mantels‹, der sich gleichsam selbständig macht und nun sein weiteres Schicksal bestimmt«,38 fallen semiotisch unterkomplex aus, denn sie betrachten einzelne Zeichen wie den ›Glanz des Adels‹ oder Strapinskis ›Mantel‹ nicht in der logischen Relationierung einer Semiose. Nicht der Mantel macht sich »selbständig«, die Zeichen werden durch die monotone Aufblähung des Repäsentamens vielmehr als Zeichen transparent. Der Mantel (wie die übrigen Interpretanten) ist hier notwendig, aber nicht hinreichend für die Dynamik der deduktiven Semiose, er bestimmt nicht als Einzelzeichen Strapinskis ›Schicksal‹. Somit kann kaum von ›Fehldeutung‹, einer »in die Irre führenden Zeichenlektüre«39 oder dem »Mißverständnis der Goldacher Bürger«40 gesprochen werden, denn die Interpretanten bestätigen und aktualisieren ja nur, was bereits repräsentiert wurde. Die Unfähigkeit, aus jenem Schema auszubrechen und abduktive oder induktive Zeichen als Möglichkeiten zuzulassen, käme einem kreativen Manko eher gleich als einer (logischen) Fehldeutung. Folglich wäre es das kreative Manko ausgehend von der ungehemmten, unhinterfragten, wuchernden deduktiven Semiose, das Strapinskis ›Schicksal‹, will man davon sprechen, ermöglicht – und eben nicht der Mantel allein. Damit wird Strapinski auch nicht, »vom Schicksal, vom Glück, von Mutter Natur, von seinen Kleidern«41 ›gemacht‹, sondern Schicksal und Glück sind erst Schicksal und Glück als Effekte der laufenden deduktiven Semiose, die Strapinski aktiv aufrechtzuerhalten versucht. Im Verbund der Zeichen lässt

37 Steffen Höhne: »Die Abrechnung mit der Romantik. Die Struktur realistischen Erzählens am Beispiel von Gottfried Kellers Novelle ›Kleider machen Leute‹«, in: Gustav Freytag Blätter 48 (1990), S. 7; Hervorhebungen F.H. 38 A. Dunker: Ein »historisch-ethnographischer Schneiderfestzug«, S. 362; Hervorhebungen F.H. 39 M. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, S. 489. 40 Philip Ajouri: »Teleologie und Literatur im Realismus. Motivierungsprobleme in Gottfried Kellers Erzählung Kleider machen Leute«, in: Uta Klein u.a. (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn 2006, S. 434. 41 P. Villwock, Kleider machen Leute, S. 83. Villwock folgt damit der ›Interpretation‹ des Erzählers: »Das Schicksal machte ihn mit jeder Minute größer« (KmL 30).

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Zeichen machen Leute sich Strapinskis Glück erst als Glück beobachten, es ist nicht vollkommen kontingent, sondern ist auf einen gesellschaftlichen Prozess, eine Form kommunikativer Semiose zurückzuführen. Unmotivierte Schicksalsfügungen und Zufälle – z.B. dass Strapinski tatsächlich Strapinski heißt, wobei eine kausale Motivation des Kutschers (durch das Wanderbuch, KmL 19f.) offen gelassen wird oder Strapinskis Lotterieglück – können im Prozess erst im Nachhinein als solche und also glückliche ausgestellt werden. Einzig Melchior Böhni, »ein geborener Zweifler« (KmL 24), bricht aus dem Automatismus aus, indem er das Objekt nicht mit weiteren Interpretanten anreichert. Die »zerstochene[n] Finger« (KmL 24) sind als neuer Interpretant, der das Objekt (höherer sozialer Status) und die vorherigen Repräsentamen repräsentiert, keiner symbolischen Regel zuzuordnen, die ein Fortschreiten der deduktiven Semiose berechtigen könnte. Es dominiert der indexikalische Aspekt des Zeichens, der Bezug auf ein existentielles Verhältnis von Zeichen und Objekt, der hier eben nicht einen höheren sozialen Status indiziert. Das macht es nötig, eine neue Regel aufzustellen und von dieser auf einen Fall abduktiv zu schließen. Resultat (Objekt): Regel (Repräsentamen): Fall (Interpretant):

Strapinski, ein Herr Zerstochene Finger Strapinski, kein Herr

Neben dem Resultat (als Prämisse), Strapinski sei ein Herr, ist aber die neue Regel (als Prämisse), zerstochene Finger kommen keinem ›Herren‹ zu, nicht bestätigt und damit der Interpretant, Strapinski sei kein Herr (als Konklusion), ebenso wenig. Es ließen sich durchaus andere Erklärungen für die zerstochenen Finger finden, die Regel wird aber als Hypothese vorausgesetzt. Sie ändert für Böhni den semiotischen Prozess, in den ein abduktives Zeichen eingegangen ist. Böhni, der ›detective work‹42 betreibt und »ihn [Strapinski] fortwährend scharf betrachtete« (KmL 25), versucht nun, mit weiteren deduktiven Zeichen an das abduktive Zeichen anzuschließen, d.h. Beweise zu sammeln, um seine Hypothese zu bestätigen. Bezeichnenderweise fungiert ein indexikalisches Zeichen (die zerstochenen Finger), nicht ein symbolisches als Ausgangspunkt für die spätere ›Demaskierung‹ und so als ein narrativer Wendepunkt der Novelle.43 Gleichermaßen bezeichnend ist es, dass dieser Wendepunkt nicht deduktiv, sondern abduktiv hervorgerufen wird. 42 Vgl. A. Corkhill: Good Fortune Maketh the Man?, S. 38. 43 Wenn Widdig konstatiert: »Es sind die Kleider, die den Gang der Geschichte strukturieren, nicht ihr Träger [...]« (B. Widdig: Mode und Moderne, S. 114), so übersieht er, dass es die zerstochenen Finger und nicht die Kleider (allein) sind, die Böhni irritieren und so zur Bloßstellung Strapinskis führen.

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Frank Habermann

Sein oder Schein? Strapinski als mehrwertiges Zeichen »Ich bin nicht ganz so, wie ich scheine!« (KmL 51), gesteht Strapinski seiner Verlobten Nettchen, nachdem sie den »glücklich Unglückliche[n]« (KmL 49) vor dem möglichen Kältetod gerettet hat und anschließend zur Rede stellt: »Wer sind Sie? Was wollten Sie mit mir?« (KmL 51). Die Frage ist berechtigt: Wer oder was ist Wenzel Strapinski? Der Text gibt darauf eine (scheinbar) eindeutige Antwort: Strapinski ist ein »armes Schneiderlein« (KmL 11), ein »geborener Schlesier«, der, von dem Kutscher als »Graf Strapinski« vorgestellt, »wirklich Strapinski hieß, Wenzel Strapinski« (KmL 19). Ist er also bloß ein Schneider, der ›irrtümlicherweise‹ für einen Grafen gehalten wird und prinzipiell »ein ehrlicher und guter Mensch unter der Maske des Betrügers«?44 Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass Strapinski doch mehr (als das allein) zu sein scheint, beispielsweise ein »Künstler, nicht Schneider«,45 ein »Spieler, Künstler und Artist«,46 ein »Heldendarsteller« im Sinne eines prototypischen Stars,47 ein »Schneider-Graf und König-Narr [...], die melancholische Kippfigur der Zeichendifferenz«,48 ein »Hans im Glück«49 oder gar »nur Objekt, nie eigentlich Subjekt der Geschichte«.50 Die Identität Strapinskis als Schneider mag damit zwar nicht per se in Frage gestellt sein, wohl aber die Eindeutigkeit dieser Identität. Mit einem zweiwertigen Zeichenmodell hat Axel Dunker Sein und Schein in Kleider machen Leute als Differenz von Signifikat und Signifikant reinterpretiert.51 Peirce dreiwertig konzipierter Zeichenbegriff lässt sich nicht ganz so leicht auf diese Differenz applizieren. Bei ihm avanciert das Zeichen zum Letztelement alles phänomenologischen Erkennens. Peirce geht somit ›pansemiotisch‹ von einer »Allgegenwärtigkeit der Zeichen«52 aus, die auch das ›Sein‹ umfasst: 44 Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt a.M. 1981, S. 343f. 45 B. v. Wiese: Die deutsche Novelle, S. 243. 46 K. Jeziorkowski: Gottfried Keller, S. 92. 47 B. Widdig: Mode und Moderne, S. 116f. 48 M. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, S. 495. 49 Hans-Joachim Hahn: »Die ›Tücke des Objekts‹ – ein Strukturmerkmal in den Seldwyler Novellen?«, in: Hans-Joachim Hahn/Uwe Seja (Hg.): Gottfried Keller »Die Leute von Seldwyla«. Kritische Studien – Critical Essays, Bern 2007, S. 52. 50 J. Kiermeier-Debre: Nachwort, S. 92. 51 A. Dunker: Ein »historisch-ethnographischer Schneiderfestzug«, S. 362. 52 Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 2000, S. 133. Vgl. Charles Sanders Peirce: Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Bd. 5. Pragmatism and Pragmaticism, hg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss,

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Zeichen machen Leute »Für Peirce fallen Sein und Zeichen-Sein zusammen, d.h. was sich nicht in zeichenhafter bzw. semiotisch interpretierbarer Weise manifestiert, dem kann kein Seinsstatus in einer der drei Kategorien zugesprochen werden.«53

Nach Peirce gibt es daher außerhalb von ›Erstheit‹, ›Zweitheit‹ und ›Drittheit‹ kein Sein (die Kategorien sind allumfassend). Hier stellt sich also die Frage, wie in Kleider machen Leute Zeichen-Sein und Zeichen-Schein relationiert sind und welche Konsequenzen dies für die Identität Strapinskis hat. Ist der ›Graf Strapinski‹ Zeichen einer deduktiven Semiose, dessen Objekt (soziale Stellung, Noblesse o.ä.) durch immer weitere Interpretanten präziser identifiziert und bestätigt wird, so repräsentiert Strapinski für die Seldwyler weiterhin einen Schneidergesellen, genauso wie für die Goldacher eben einen Grafen; Strapinski ist somit nicht Zeichen eines Prozesses, sondern selbst Zeichenprozess, indem er distinkte Objekte – und das beim Fastnachtsspiel sogar gleichzeitig – repräsentiert: »Kurzum, der Mensch ist selbst ein Zeichenprozess [...]. Die einzelne Person ist, insofern sie sich mit Freunden, Nachbarn und anderen Gesprächspartnern austauscht, durch ihr Zeichenverhalten verwirklicht, mit diesen nicht nur äußerlich verknüpft, sondern teilweise mit ihnen identisch.«54

Wenn Strapinski nun also nicht mit sich selbst identisch ist (eine Idee, die Peirce im Zuge seines ›Synechismus‹ vertreten hat),55 liegt es nahe, ihn als Zeichenkonstruktion der Goldacher zu lesen: »Die Goldacher konstituieren erst Wenzel Strapinski, sie überziehen ihn mit einem Geflecht von Zeichen, dem kein personales Substrat entspricht.«56 Das »personale Substrat« Strapinskis ist im Text selbst mit einem gewissen Fragezeichen versehen. So erklärt Strapinski

53 54

55

56

Cambridge/Massachussetts 1974, S. 302 (= 5.448, Anm. 1): »that the entire universe [...] that all this universe is perfused with signs, if it is not composed exclusively of signs«. W. Scheibmayr: Systemtheorie und Zeichentheorie, S. 346. Helmut Pape: Charles S. Peirce zur Einführung, Hamburg 2004, S. 141. Die Einschränkung von Pape (»insofern sie sich mit [...] austauscht«) ist überflüssig, denn ist eine Person ein Zeichen (und nach Peirce’ Zeichenbegriff ist sie das per se), dann ist sie nur in Relation mit anderen Zeichen ein Zeichen und in der Folge ist der ›Austausch‹ immer schon impliziert. Vgl. Charles Sanders Peirce: The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings (1893-1913). Bd. 2, hg. v. The Peirce Edition Project, Bloomington/Indianapolis 1998, S. 2: »In the first place, your neighbors are, in a measure, yourself [...]. Really, the selfhood you like to attribute to yourself is, for the most part, the vulgarest delusion of vanity.« Markus Steinmayr: »Archive des Fehllesens. Zum Realismus Gottfried Kellers«, in: Rüdiger Campe/Michael Niehaus (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg 2004, S. 168.

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Frank Habermann Nettchen, dass er nicht vorgehabt hatte, Schneider zu werden: »Ich wollte nicht, aber die Mutter weinte so sehr, daß ich mich ergab« (KmL 54). Die Schneideridentität ist somit ebenfalls eine – hier von der Mutter – konstruierte, keine originäre, ›selbstidentische‹ Identität Strapinskis. Andererseits scheint seine durch die Semiose (der Goldacher) konstruierte Identität als Graf mit seinem Sein korreliert zu sein, denn »[e]r lernte in Stunden, in Augenblicken, was andere nicht in Jahren, da es in ihm gesteckt hatte, wie das Farbenwesen im Regentropfen« (KmL 33; Hervorhebung F.H.). Alles Beobachten beeinflusst das Beobachtete, ließe sich konstruktivistisch (bzw. kybernetisch) reformulieren. Nur dort, wo der semiotische Prozess, durch die Novelle initiiert, als prinzipiell abgeschlossen simuliert wird,57 kann Strapinski repräsentativ als etwa falscher Graf oder Schneidergeselle eindeutig identifiziert werden. Lässt man sich jedoch auf den Gedanken einer Evolution von Zeichen ein und versucht nicht, Strapinski als Einzelzeichen zu sondieren und zu identifizieren, sondern den Fokus auf die Relation zu setzen, in der er als Zeichen (und Zeichenprozess) mit anderen Zeichen (und Zeichenprozessen) steht, dann kann Strapinski als ein vieldeutiges, prozessuales Zeichen verstanden werden.58 Als ein solches ist Strapinski Graf und ist zugleich Schneider, der zweitheitliche Zwang der Totalalternative wird mithin aufgehoben, denn die Differenz wird im Prozess der Semiose selbst zum Schein: »Das Scheinbare am Schein ist, dass nicht definitiv entschieden werden kann, ob er trügt oder nicht.«59 Das Entscheiden ist jedoch gerade wieder Ausdruck zweitheitlicher Setzung. Strapinski als prozessuales, mehrwertiges Zeichen der Novelle ermöglicht gerade, das Entscheiden sekundär hintan zu stellen und primär die Drift der Semiosen zu untersuchen, welche dazu führen, dass er verschiedene Identitäten annehmen kann; für die Identität Strapinskis als Graf im Zuge einer deduktiven Semiose wurde dies

57 Simuliert, da sich nach Peirce die Semiose prinzipiell als unabschließbar erweist und sich jede feste Überzeugung dennoch wieder als Hypothese erweisen kann. 58 Vgl. N. Ort: Reflexionslogische Semiotik, S. 357. Im Hinblick auf Kafka meint Ort mit ›Vieldeutigkeit‹ zwar eben nicht, »dass man die Texte so, aber auch anders interpretieren kann, sondern dass man sie unter den Bedingungen der Zweiwertigkeit überhaupt nicht interpretieren kann, sofern von einer Interpretation mehr erwartet wird, als die Beschreibung von Paradoxien« (ebd., S. 364). Auf Kleider machen Leute trifft dies derart nicht zu. Dennoch lässt sich auch hier mit dem reflexionssemiotisch-logischen Instrumentarium, das Ort entwirft, überhaupt erst ein Möglichkeitsspielraum konzipieren, in dem beispielsweise nicht mit sich selbst identische Figuren als Zeichen prozessual beobachtbar sind. 59 N. Ort: Reflexionslogische Semiotik, S. 361.

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Zeichen machen Leute zuvor schon versucht. Für jene Identitäten, die Strapinski von der Forschung zugesprochen bekommen hat, steht die Untersuchung der Semioseprozesse zwar noch aus, sie repräsentieren aber allesamt ebenfalls die Semiose der Goldacher insofern, als dass sie a priori von abgeschlossenen Prozessen ausgehen und Strapinski als Ergebnis und objektiv fassbares Zeichen determinieren. Dabei sind diese Interpretationen selbst wiederum Zeichen einer dynamischen Semiose und bestätigen gleichzeitig die These vom prozessualen Zeichen(objekt) Strapinski, welches durch die Dynamik der neu hinzugezogenen Interpretanten sich selbst ein Stück ändert, indem es variable Identitäten zugesprochen bekommt. Die Interpretationen bestätigen somit explizit Strapinski als die Repräsentation semiotischer Interpretation und implizit die dieser Repräsentation zugrunde liegende semiotische Dynamik. Meine Analyse kann sich selbst natürlich von diesem Befund nicht ausnehmen. Dass Strapinski ein Zeichen in einem Prozess ist, in dem Repräsentation repräsentiert wird, ist nirgends deutlicher als beim Fastnachtsspiel der Seldwyler. Der Darstellungsgehalt dieser Szene lädt sich durch die eingebrachte Symbolik und Metaphorik bis zu Strapinskis Demaskierung geradezu sukzessiv auf: Von den Schlitten der Goldacher mit ihren allegorischen Galionsfiguren, der farblichen Symbolik der Kleidung des Brautpaars (KmL 38) über die zusammengebundenen Lastschlitten der Seldwyler mit ihren »absonderlichen Gebilden und Schaustellungen« (KmL 39), den Darstellungen der Motive »Leute machen Kleider« und »Kleider machen Leute« (KmL 40) bis zu dem »Schautanz« der Seldwyler mit ihrem »Gebärdenspiel« (KmL 41) als erneute Repräsentation dieser Motive. Die Zeichen verdichten sich wie Gewitterwolken und deuten proleptisch auf eine baldige ›Entladung‹, die sich, so Steinmayr, in der Konfrontation Strapinskis mit seinem Doppelgänger realisiere: »Was geschieht, ließe sich als Implosion repräsentativer Semiotik lesen. Man kann in dieser Szene eine dem Text immanente poetologische Reflexion auf die Möglichkeiten der Darstellung sehen, die nicht mehr die Sache politischer Repräsentation im weitesten Sinne des Wortes ist, sondern die Sache der Literatur, insbesondere die Sache der realistischen Literatur.«60

Anstatt von »Implosion« würde ich hier eher von einer »Konfrontation« der (deduktiven) Semiosen mit sich selbst, einer Art Spiegelung von Semiose, sprechen. Strapinski repräsentiert in der deduktiven Semiose der Goldacher als Repräsentamen einen hohen sozialen Status und alle hinzugenommenen Interpretanten reichern dieses Repräsentamen im Sinne einer Bestätigung und Präzisierung lediglich an. Böhni initiiert schließlich eine andere Semiose, in der Stra60 M. Steinmayr: Archive des Fehllesens, S. 168f.

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Frank Habermann pinski als Repräsentamen den sozialen Status eines Schneiders repräsentiert und die Seldwyler als Interpretant ähnlich wie in der vorherigen Semiose dieses Repräsentamen bestätigen und identifizieren. Diese zwei Semiosen, die beide das prozessuale Zeichen Strapinski zu identifizieren suchen, treffen nicht in Goldach aufeinander, sondern an einem Ort, der, geografisch nicht zufällig, genau zwischen Goldach und Seldwyla liegt und einen Schnittpunkt markiert. Gekoppelt an die Semiosen treffen dort auch Glück (Goldach) und Unglück (Seldwyla) Strapinskis,61 symbolisiert durch die doppelte Fortuna (vgl. KmL 38f.), aufeinander. In Goldach dominiert die deduktive Semiose, die im Allgemeinen keine neuen und unbestätigten Hypothesen zulässt und daher den Status wahrt. So bleibt zu zweifeln, ob Böhni, der mit einem abduktiven Zeichen aus dem Automatismus der Deduktion ausbrechen kann, es geschafft hätte, in Goldach seinen Putsch zu inszenieren oder ob sein Versuch, das abduktive Zeichen dort allgemein zu installieren, nicht zwangsläufig scheitern müsste und dann er anstatt Strapinski von einem »diabolischen Lachchor[ ]« (KmL 43) verwiesen worden wäre. In Kleider machen Leute lässt sich eine Korrelation der Art der (logischen) Semiose mit ihrer räumlichen Situierung beobachten. Es entspricht der Automatismus der deduktiven Semiose in Goldach der Geschlossenheit dieser Stadt, die – repräsentativ – von einer »alten Ringmauer eingefaßt« ist (KmL 31), welche »die kleine Stadt mit einem immergrünen Kranze umschloß« (KmL 32). Strapinskis Glück ist als Folge dieses Automatismus in Goldach ungebrochen, es ist für ihn bald nicht mehr überraschend, sondern es scheint »sich von selbst zu verstehen« (KmL 34). Goldach ist ›abgeschottet‹, Neues dringt nicht herein, das nicht mit bestehenden Regeln zu erklären wäre. Im Gasthaus befinden sich die Goldacher jedoch außerhalb ihres ›immergrünen Kranzes‹ und ordnen sich beim Schautanz der Seldwyler »in einem großen Halbring« (KmL 41; Hervorhebung F.H.). Die Semiose der Goldacher ist, trifft die Korrelation zu, nun nicht mehr ›abgeschottet‹, sondern offen für unbekannte Zeichen, welche die Semiose in eine andere Richtung lenken und ihr Objekt verändern könnten. Die Seldwyler Schneider aber »traten nach vollbrachter Darstellung zurück und machten allmählich so den Halbkreis der Goldacher zu einem weiten Ring von Zuschauern, dessen innerer Raum endlich leer ward« (KmL 41f.; Hervorhebung F.H.). Der offene Kreis der Goldacher wird durch die Seldwyler wieder zu einem Kreis geschlossen; Semiosen,

61 Strapinski ist anfänglich aufgrund eines ›Unglücks‹ auf dem Weg von Seldwyla nach Goldach, »denn er hatte wegen des Fallimentes irgend eines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen« (KmL 11).

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Zeichen machen Leute die Strapinski als Repräsentamen zu kontrastiven Objekten identifizieren, begegnen sich und in dem Moment, in dem der »Raum endlich leer ward«, ›implodieren‹ sie durch ihre Konfrontation nicht etwa, sondern versuchen, die jeweils andere als neuen Interpretanten zu bestimmen und repräsentieren Strapinski in diesem Augenblick als nicht mit sich selbst identisches Zeichen, das eben nicht anders als durch Leere ›repräsentiert‹ werden kann. Der darauf folgende »Doppelgänger« (KmL 43) Strapinskis, »eine letzte Erscheinung«, die den leeren Kreis betritt, »war niemand anders als der Graf Strapinski«, »das leibhafte Ebenbild des Grafen« (KmL 42). Entzieht sich das nicht mit sich selbst identische Zeichen ›Wenzel Strapinski‹ einer eindeutigen Identifikation, kann es eben auch nur dies repräsentieren. Nun ist Keller nicht Kafka, der Kleider machen Leute vielleicht genau dort beendet oder die Uneindeutigkeit der Identitäten zuletzt noch gesteigert hätte. Mit der Identifikation des zweiten Grafen als altem Schneidermeister Strapinskis schließen die Semiosen erneut an eine etablierte Regel an; als Effekt davon lässt sich der Zustand von Unglück (im Sinne sozialer Isolation und dem dadurch bedingten Verlust des Liebesglücks) ausmachen, da sich die von Böhni initiierte Semiose durchsetzt. Die Semiosen verlassen den Raum des Hypothetischen und rein Möglichen und schleifen sich deduktiv wieder ein, indem erstens die Eindeutigkeit der Zeichenkomponenten hergestellt wird, zweitens auf etablierte Regeln zurückgegriffen werden kann, um Zeichenobjekte darzustellen. Das prozessuale Zeichen muss sich derart ›festigen‹, damit Glück oder Unglück als Effekte der Semiose überhaupt erst wieder beobachtbar werden können. Dass der ›Zeichenprozess‹ Strapinski als mehrwertiges Zeichen mit verschiedene Semiosen relationiert werden kann, er im Zuge dessen die Disposition aufweist, verschiedene Objekte (Identitäten) gleichzeitig zu repräsentieren, ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass er in Goldach durch deduktive Semiose die Identität eines Grafen zugesprochen bekommt, als deren Effekt eine Form von ›Glück‹ nachvollziehbar wird. Strapinskis – auf die Demaskierung folgender – ›symbolischer Tod‹62 im Schnee muss nicht zwangsläufig als triumphaler Sieg des ›Seins‹ über den ›Schein‹ gelesen werden. Er lässt sich ebenso als Repräsentation der Notwendigkeit von Eindeutigkeit der Zeichen für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts deuten, in der ein mehrwertiges, nicht mit sich selbst identisches Zeichen schließlich immer eindeutig identifiziert werden muss, um in gesellschaftliche, d.h. kommunikative Semiosen eingebunden werden, um folglich als Zeichen gesellschaftlich reüssieren und schließlich auch Formen (und Negationen) von Glück repräsentieren zu können.

62 Vgl. S. Höhne: Die Abrechnung mit der Romantik, S. 11.

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Frank Habermann

Literatur als Zeichen Abschließend möchte ich auf die Funktion der Literatur in Kleider machen Leute eingehen.63 Die Bedeutsamkeit der Literatur als Zeichen in der Novelle wird zu Beginn durch die Einführung des literarischen Zeichens ›Romantik‹ unterstrichen, denn Strapinskis Kleider verleihen ihm ein »edles und romantisches Aussehen« (KmL 11). Das romantische Äußere ist neben der Kleidung mit Körper- und Charakterzeichen korreliert, Interpretanten, die das Repräsentamen anreichern und eine immer präzisere Beschreibung des Objekts (das Romantische) zur Folge haben: So sind seine »lange[n] schwarze[n] Haare und [sein] Schnurrbärtchen sorgfältig gepflegt«, er sticht durch »blasse[ ] aber regelmäßige[ ] Gesichtszüge« (KmL 11), durch dunkle Augen (KmL 25) hervor; es ist ihm ein »angeborenes Bedürfnis, etwas Zierliches und Außergewöhnliches vorzustellen« (KmL 34), er ist ein »sanfte[r] Schneidergeselle[ ]« (KmL 43), der sich »bis zu seinem glorreichen Einzug in die verwünschte Stadt nie ein Vergehen zu Schulden [hatte] kommen lassen« (KmL 45); Strapinski ist »liebenswürdig, schüchtern und melancholisch« (KmL 36).64 Die deduktive Semiose, die die Goldacher um Strapinski als Repräsentamen eines höheren sozialen Status bis zur Ausstellung der Repräsentativität dieser Semiose fortweben, vollzieht sich parallel aufseiten des Erzählers und zwar genau dann, wenn es um die Medialität der Novelle (als Literatur) geht. Strapinski wird als Zeichen der Romantik installiert und in eine deduktive Semiose eingebettet, die durch das Hinzufügen solcher Interpretanten, die das Romantische an ihm bestätigen, genauso ›konservativ‹ verfährt wie die Goldacher. Zugleich verweist das literarische Zeichen in der Literatur immer auch auf die eigene Medialität; Literatur wird selbstreflexiv, wenn sie über Literatur spricht. Strapinski aber ist nicht nur Zeichen des Romantischen. Im Fortschreiten der deduktiven Semiose der Goldacher gibt er seine passive Haltung auf und sorgt aktiv dafür, dass die neuen Interpretanten der Regel entsprechen: »So ward er rasch zum Helden eines artigen Romanes, an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebevoll arbeitete, dessen Hauptbestandteil aber immer noch das Geheimnis war« (KmL 33). Die Selbstreflexivität der Novelle wird hier zur Autoreflexivität gesteigert, indem sich nicht nur Literatur auf Literatur bezieht, sondern Literatur als Literatur einzuholen versucht wird; Strapinski als Zeichen des Romantischen begegnet sich als literarisches Zeichen somit in gewisser Weise selbst: Er vollzieht das, was er ist; Li-

63 Vgl. Siegfried Mews: »Zur Funktion der Literatur in Kellers Die Leute von Seldwyla«, in: The German Quarterly 43 (1970), H. 3, S. 394-405. 64 Vgl. M. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur.

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Zeichen machen Leute teratur schreibt autoperformativ Literatur. Als ›romantisches‹ Zeichen markiert Strapinski zudem eine weitere Facette des prozessualen Zeichens und gleichzeitig liefert er für die deduktive Semiose der Goldacher die Regeln, nach denen er die Identität eines Grafen (wie aus Romanen) annehmen kann, die also auch den Möglichkeitsraum für gewisse Glückseffekte aufgrund der aktualisierten Semiose mitbestimmen. Das romantische Zeichen ist als literarisches Zeichen hingegen selbst ein prozessuales Zeichen, welches Semiosen in Kleider machen Leute dynamisiert und zudem als Semiosen repräsentiert. Die Funktion der Literatur in Kleider machen Leute geht also darüber hinaus, Realität als Möglichkeit im Fiktiven zu konstituieren. Hier wird diese Möglichkeit selbst als Möglichkeit repräsentiert. Beobachtet man die literarische Repräsentation der eigenen Möglichkeiten in Kleider machen Leute, so beobachtet man folglich nicht nur im Ergebnis ein Angebot literarischer Thematisierung diverser Glücksformen und Glückszustände, sondern zugleich auch deren Möglichkeit zur Konstitution. In dieser Beziehung ist Kleider machen Leute vielen aktuellen programmatischen Glücksratgebern weit voraus – theoretisch zumindest.

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Glückhaftes Schweigen? Überlegungen zu Kleists Dichterbrief SANDRA MARKEWITZ »Wer das Gesellschaftliche anders als symbolisch nimmt, geht fehl.« (Hofmannsthal)

Ein Vorläufer jenes sprachkritischen Bewusstseins, das um 1900 in Werken von Hofmannsthal, Mauthner oder Kafka kulminierte, war Heinrich von Kleist. Sein Brief eines Dichters an einen anderen (1811) markiert die Schwelle, an der die Überzeugung selbstverständlich wurde, die besagt, Schweigen entstehe aus einem semantischen Überschuss und dieses Schweigen bedeute Glück. Der glückliche Zustand fällt hier gedanklich mit seiner Undarstellbarkeit zusammen; die Verborgenheit der signifizierenden Prozesse scheint die Glücksempfindung zu sichern, die gleichsam im Mantel des Schweigens, in der Verweigerung von auf Intersubjektivität ausgerichtetem Verständigungshandeln, erst sichtbar wird. Damit ist aber die Paradoxie der eigentliche Geburtshelfer einer wirkmächtigen Auffassung. Kleist schreibt: »Wenn ich beim Dichten in meinen Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen, und mit Händen, ohne weitere Zutat, in den deinigen legen könnte: so wäre, die Wahrheit zu gestehn, die ganze innere Forderung meiner Seele erfüllt.«1

Kleists Grundgedanke der sprachlosen Übermittlung dessen, was kaum Mitteilung sein will, sondern unvermittelte Evidenz, gibt den Worten, in denen er seine Erkenntnis ausspricht, ein neues Gesicht: die sprachkritische Äußerung spiegelt sich in ihrer Äußerungsform. Insbesondere der Begriff »Wahrheit« wird dabei en passant seiner wuchtigen Universalität entkleidet und ist nur, im Nebensatz auftretend, confessio ohne Schuld. Was die »Seele« fordert, ist die räumliche Verschiebung eines »Gedankens«. Das Gegenüber

1

Heinrich von Kleist: »Brief eines Dichters an einen anderen«, in: ders.: Werke in einem Band, hg. v. Helmut Sembdner, München 1986, S. 808.

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Sandra Markewitz scheint die Übertragung des Gedankens nicht zu fordern; auch verweigert die Art der Übertragung komplizierte Überlegungen zu Medialität und ihren Bedingungen. Vielmehr will der Autor (gegenwärtig gesprochen: die als Autor figurierende Stimme) die Übertragung »mit Händen, ohne weitere Zutat« vornehmen. Semantisch knüpft Kleist an die Tradition des homo artifex an,2 der, im auf antike Definitionen rekurrierenden techné-Bewusstsein seiner Kunst, den (bloßen) Händen die Übermittlung des stummen Sinnes zutraut. Dabei ist der Sinn stumm nur im Moment der sprachlosen Übermittlung. Dass er sprechend ist im Augenblick seiner (nach)rezeptiven Zerstreuung in Reflexionszusammenhänge hinein, bedeutet das eigentliche Paradox. Wie ist das Lesen des Schweigens also möglich? Sind es Paradoxien, die das Verständnis glückhafter Zustände befördern (in der Eigenschaft, nicht-identisch zu sein), Zustände unentschiedener Dissonanz, denen nicht zufällig ordnender Charakter innewohnt? Kleist identifiziert in den zitierten Worten aus dem Dichterbrief Schweigen und innere Wahrheit; es ist ein Rest jenes durch Thomas von Aquin begründeten adaequatioBewusstseins, das Wahrheit als Folge der Übereinstimmung zweier aufeinander bezogener Größen versteht und definitorisch derart auf das emphatische Erleben eines sprachlich Unteilbaren, sich der Mit-Teilung entziehenden Gefühls referiert. Die Frage nach der Validität der Paradoxie und deren Implikationen stellt sich: Wenn Glück im Schweigen und nur im Schweigen zu finden ist und gerade nicht, wie man meinen könnte, in gelungener Rede, hat dies Auswirkungen auf die alltägliche, durchaus gelingende Kommunikation sprachlicher Akteure. Fast scheint das Schweigeparadox lediglich eine verkappte Wiederauflage des alten Zwanges zu Wort und Rede zu sein, gleichsam die Fortführung des Ideologems mit anderen Mitteln, nun das Schweigen favorisierend, dieses aber durchaus in einen funktionalen Kontext einsetzend: Schweigen führt in neuer, romantisch verschärfter Terminologie zum glückhaften Zustand. Die Semantik des Glücks hat so, wie gezeigt werden soll, unter der Hand ihre Konstituenten gewechselt. Von der Privilegierung der (freien) Rede in aufklärerischen Zeiten entwickelte sich eine romantische Sicht auf die Sprache, die deren Umgehung als Glückskriterium ansah.3 Im Kontext des Dichterbriefs bedeutet Kleists Insistieren auf schweigende Mediatisierung von Gefühlswerten zugleich eine Entscheidung für die Konstitution literarischer Kunstwerke: Der Dich-

2 3

Vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1991, S. 103ff. Vgl. nur Christiaan L. Hart Nibbrig: Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede, Frankfurt a.M. 1981, S. 87ff.

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Glückhaftes Schweigen? ter gibt als letzte Adäquatheitsbedingung nicht das glückliche Wort, le mot juste, an, sondern den Verzicht auf jegliche sprachliche Ausdrucksform. Diese folgenreiche semantische Verzichtserklärung ist als poetische Einwilligung in eine Paradoxie zu lesen, welche die avancierte Auffassung eines paradoxen Glücks in der Sprache bis heute prägt: Glücklich sein, indem man etwas nicht tut, indem man nicht spricht. Horizont der kommenden Überlegungen seien daher die Autoren der klassischen Moderne, denn sie überboten noch die romantisch nahegelegte Absenz der Identifikation von sprachlicher Äußerung und Bedeutung; modern sein hieß vor allem, das Paradox sprachloser Glückserfahrung (als Glück gelingender Übermittlung) nicht nur zu beschreiben, sondern wie selbstverständlich der eigenen Textproduktion zugrunde zu legen.

I. In Hofmannsthals Der Schwierige, einem Grundtext der Beschreibung eines gesellschaftlichen Idioms habitueller Verhüllung und Verschiebung des Gewollten, heißt es: »Aber alles, was man ausspricht, ist indezent. Das simple Faktum, daß man etwas ausspricht, ist indezent. Und wenn man es genau nimmt, mein guter Ado, aber die Menschen nehmen eben nichts auf der Welt genau, liegt doch geradezu etwas Unverschämtes darin, daß man sich heranwagt, gewisse Dinge überhaupt zu erleben!«4

Im unziemlichen Erlebnis wurzelt die unziemliche Sprache. Jenseits inhaltlicher Bestimmung wird das Aus-Sprechen indezent durch seine bloße Faktizität, die mit den Dingen und Verhältnissen der Welt paktiert, ohne sie sprachlos gelten zu lassen. Sozialität zwingt das Symbolische in seine Form, das Symbolische, der Sprachakt, zwingt nicht etwa die Welt in seine Buchstabenäußerung, sondern leitet, in Hofmannsthals emphatischer Zeichnung, aus dem Erlebenkönnen ein Sprechenmüssen und -dürfen ab. Dieser Zusammenhang von Erlebnis und Ausdruck wird in der sprachkrititischen Einlassung durchtrennt. Damit ist auch Glück von seinem Ausdruck in sprachlichen Kanälen durchtrennt; wo Hofmannsthals Hans Karl Bühl sich am Ende des Dramas zu einem Gefühl bekannt hat, möchte er schweigen, um das sprachlose Glück nicht durch den Kontext gesellschaftlicher Diskursformen zu gefährden, die es minimierten. Das Aussprechen der einen Sache, 4

Hugo von Hofmannsthal: »Der Schwierige«, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Dramen IV., hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a.M. 1979, S. 437.

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Sandra Markewitz des schützenswerten fait accompli, wird in den Worten der anderen zu austauschbarem Gefühlshaushalt. Wer nicht haushalten lassen möchte mit dem Glück, das kein Glückserlebnis mehr sein will, der schweigt. Liegt diese Bewusstseinslage der Textproduktion zugrunde, wird die Trennung von Erlebnis und Ausdruck zum poetischen Verfahren: Das Verschwinden der übertragenden Kanäle wäre das höchste Ziel dichterischen Ausdrucks. Die intentio auctoris möchte unerkannt bleiben und als solche gar nicht auftreten; die formalen Mittel, die einen Text hervorbrachten, sind als sprachliche ebenso von dem Verdacht gegen das Ausdruckswerkzeug berührt wie mögliche sprachliche Übermittlungsformen des Gedankens. Kleist richtet den Brief nicht zufällig an einen beredten Freund: »Jüngsthin, als ich dich bei der Lektüre meiner Gedichte fand, verbreitetest du dich, mit außerordentlicher Beredsamkeit, über die Form, und unter beifälligen Rückblicken über die Schule, nach der ich mich, wie du vorauszusetzen beliebst, gebildet habe; rühmtest du mir auf eine Art, die mich zu beschämen geschickt war, bald die Zweckmäßigkeit des dabei zum Grunde liegenden Metrums, bald den Rhythmus, bald den Reiz des Wohlklangs und bald die Reinheit und Richtigkeit des Ausdrucks und der Sprache überhaupt. Erlaube mir, dir zu sagen, daß dein Gemüt hier auf Vorzügen verweilt, die ihren größesten Wert dadurch bewiesen haben würden, daß du sie gar nicht bemerkt hättest.«5

Der beredte Freund beschämt den Dichter durch sein Lob der Ausdrucksmittel. Wollte er doch gerade nicht Sinnvermittlung betreiben, »Reiz des Wohlklangs« hervorbringen, »Reinheit und Richtigkeit des Ausdrucks« erreichen. Reinheit oder ihr Phantasma lässt sich durch Ausdrucksmittel nicht erzielen. Kleist variiert hier, avant la lettre, das Kafka-Projekt der Purifizierung weltlicher Verhältnisse. Kafka wollte »die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben«,6 Kleist zeigt romantisch, dass dieser Wunsch unmöglich war schon, als moderne Motive in der Romantik vorgeprägt wurden. Kontinuitäten in der Sprache kontinuieren den Verlust von oben und unten, Höhe und Tiefe, Verlässlichkeit der Relationen im Handlungsraum von Dichtern und Alltagsmenschen, die so gewöhnlich nicht sind. Ihre Sprache ist die Sprache, in der Dichter nicht mehr dichten möchten; als Autoren hätten sie es vielleicht gekonnt. Wenn Schweigen in diesem Sinne Glück ist als das Schweigen der Ausdrucksmittel, ist es nicht zufällig, dass der Adressat des Kleisttextes auch ein Dichter ist. Dieser schreibt dann in einer anderen Kategorie, hat die Macht der Ausdrucksmittel akzeptiert und sieht ZweckMittel-Verhältnisse als Teil seiner Kunst. 5 6

H. v. Kleist: Brief eines Dichters, S. 808. Franz Kafka: Tagebücher 1914-1923 in der Fassung der Handschrift, hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1994, S. 167.

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Glückhaftes Schweigen? »Rühmen« ist mit Rilkes Formular des Dichters zwar nicht alternativlose Aufgabe, aber doch vornehmstes Tun auf orphischer Spur. »Rühmen das ists! Ein zum Rühmen Bestellter,/ ging er hervor wie das Erz aus des Steins/ Schweigen. Sein Herz, o vergängliche Kelter/ eines den Menschen unendlichen Weins.«7 Der rühmende Dichter gibt sein Einverständnis mit dem Tun der »Großen«, deren Status er mitkonstituiert. Kleist will etwas anderes. Ihm geht es nicht um den Nachweis von Alltagsindizien (auch historische Größe kann ein Alltagsindiz sein), sondern darum, sich dem Schweigen des Steins, wie Rilke es im siebten Sonett an Orpheus nennt, ähnlich zu machen. Ähnlichkeit ist eine Kategorie, die nicht erst seit Foucaults Wiederentdeckung des Konzepts in Les Mots et les Choses Denkweisen prägt, die sich mit der Ableitung des einen aus dem anderen befassen: similitudo ist mithin auch eine Metapher für philosophischauslegendes Tun in der Sprache überhaupt.8 Wenn Kleist sich mit Rilke dem Stein ähnlich machen will, insofern der Stein schweigt, wird das Material der Natur zum Maß des schriftlichen Prozesses. Die naturhaften Dinge schweigen, sie sind, wenn man ursprungssemantisch sprechen möchte, Quelle der poetischen Sprache und verpflichten diese – Ähnlichkeit – gleichsam auf ihren Ursprung. Damit steht Rilkes Wort über den Dichter als Rühmenden an einer Schnittstelle, an der Inhaltswerte und die Methode der poetischen Darstellung verknüpft werden. Der rühmende Dichter weist zurück in die Zeit der Preislieder und Oden auf Sieger, etwa in sportlichen Wettkämpfen (Pindar); dass er in moderner Zeit wenig zu rühmen findet, Sport Teil der Alltagskultur geworden ist, gibt seiner Äußerung in der Variante Rilkes den zwecklosen Zweck des Artistischen. Auf diesen zielt auch Kleist. Die eingangs genannte zentrale Stelle des Dichterbriefes: »Wenn ich beim Dichten …« schließt an die Bewertung der Ausdrucksmittel als solche an, die man am besten gar nicht bemerke. Der Wunsch, der Ausdrucksmittel ledig zu sein, perspektiviert die Zuspitzung des Wunsches von der Produktions- auf die Individualebene: Wenn ich beim Dichten. Dabei ist nicht gesagt, dass die Ausdrucksmittel gar nicht da sein sollten, sie sollen »nicht bemerkt« werden. Diese Nuance weist auf den Unterschied zwischen dem Dichter, dem die Worte ganz unsagbar werden, wenn sie wie in Hofmannsthals Ein

7

Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus. Nach den Erstdrucken von 1923 kritisch hg. v. Wolfram Groddeck, Stuttgart 1997, S. 59. Vgl. auch Karl Heinz Bohrer: »Die Kunst des Rühmens«, in: ders.: Gro-

8

ßer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne, München 2007, S. 79-95. Vgl. Michel Foucault: Les Mots et les Choses. Une Archéologie des Sciences Humaines, Paris 1966, S. 32ff.

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Sandra Markewitz Brief »wie modrige Pilze«9 zerfallen und dem Dichter, der den Charakter der Ausdrucksmittel, wie sie sind, beklagt, sie aber weiter verwendet. Die Kritik in Kleists Dichterbrief bleibt konjunktivisch. Der Autor paradoxiert seinen Wunsch, indem er ihn ausspricht, das ist das klassische Paradox der Sprachkritik. Doch neu ist die emphatische Absicht, dem paradox Gewussten ein Glück abzugewinnen; das Glück gelingenden Ausdrucks durch das Absehen von den anerkannten und erprobten Ausdrucksmitteln. Aus dem anerkannten Paradox der Sprachkritik die Möglichkeit eines glückhaften Endes abzuleiten, ist schon Modernismus, ist die Absicht auf ein subjektives (gutes) Ende nach der Verwirrung der Zeichen, ist, bei allen Diskontinuitäts-, Delokalisierungs- und Differenzthesen zugleich die Fortführung eines Glücksdiskurses, der Tugenden belohnen will. Sprachlosigkeit wird in der Moderne zur Tugend, in neuer dianoethischer Geste, zum Versprechen auf den günstigen Zeitpunkt, kairos, Belohnung von Zeitgemäßheit im emphatischen Sinne. Haben die Sprachkritiker ihren Vorläufer bemerkt? Sahen sie sein Glücksverlangen? Deutlich ist eine Bemerkung Wittgensteins aus dem Jahr 1931, die sich explizit auf den Dichterbrief bezieht: »Kleist schrieb einmal, es wäre dem Dichter am liebsten, er könnte die Gedanken selbst ohne Wort übertragen. (Welch seltsames Eingeständnis)«.10 Der Philosoph, der die Sprache betrachtet, findet das »Eingeständnis« (wieder als Konnotation: die confessio des Künstlers) »seltsam«, weil die Sprache sich ihrer Funktion nicht beugen möchte; gleichzeitig die Achtung für den fremden Entschluss des Dichters: Jemand, der um die Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks weiß, gibt zu, ihrer nicht zu bedürfen und macht sogar eine Maxime für alle Dichter daraus. »Dem Dichter« wäre die sprachlose Übermittlung der Gedanken am liebsten – Wittgensteins Lebensformkonzept lässt ihn diese Äußerung verstehen als eine, in der ein Mitglied der Gruppe kraft seiner Zugehörigkeit über alle spricht; das Wort »seltsam« bezieht sich auf die Äußerung dieses Wunsches, nicht darauf, dass ein Dichter über alle Dichter spricht. Die Allaussage im rhetorischen Gewand der Spezifizierung ist ihm akzeptabel als Äußerung dessen, der zu einer Lebensform gehört, in der man über seinen Platz in der Sprache und seinen poietischen Umgang mit ihr reden kann. Wittgensteins Bemerkung soll im Blick auf den Status der Kleistäußerung für die Frage nach sprachlosem Glück betrachtet werden. Sie kontextualisiert diese ambivalent: Das philosophische 9

Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt a.M. 1979, S. 465. 10 Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe. Bd. 8. Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M. 1989, S. 471.

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Glückhaftes Schweigen? Unverständnis trifft die Verweigerung des Dichters, an der Sprache als einer praktischen Kompetenzverteilungsmaschine teilzuhaben; die pragmatische Vermittlung von Handlungsimpulsen ist hier ganz ausgeklammert. Das Intersubjektivitätsprojekt, Sprache zu benutzen, um die Besetzung sprachlicher Kanäle möglichst profitabel zweckrelativ zu distribuieren, ist ausgesetzt. Vielmehr entsteht das Schöne, mit einem Wort Wolfgang Kaysers, »mit dem Rücken zum Publikum«11. Das Publikum setzt seine konstituierende Rolle aus, solange das Artefakt entsteht – was Rezipienten als Ästhetikum erkennen können, konnte eben deshalb entstehen, da es nicht auf ein Publikum bezogen war, sich, mit Novalis, nur »um sich selbst bekümmert«12. Der für romantische Kunstwerke konstitutive Selbstbezug – zunächst nicht des künstlerischen Subjekts auf sich selbst, sondern auf seine sprachlichen Mittel, die mit Novalis nicht mehr »seine« sind und mit Kleist nicht mehr »Mittel«, lässt in einer nun zu lesenden kleistschen Frühschrift den Weg zum Glück als Abkehr von gemeinschaftlich gelebter Sozialität erscheinen. Hat Kleist vor seiner Hinwendung zur Paradoxierung als Geburtshelfer potentiell moderneaffiner Glückszustände Glück anders thematisiert, planer, schlichter, an das Glück als erreichbaren Zustand glaubend? Der Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen! entstand spätestens 1799, die Urfassung möglicherweise früher.13 In dem Goethe, Schiller und Franz v. Kleist verpflichteten Text wird das Glück – das ist der für den Bezug zum späteren Dichterbrief wichtige Punkt – als etwas betrachtet, das »nicht an äußere Umstände«, vielmehr »als Ermunterung und Belohnung an die Tugend«14 geknüpft sei. Glück erscheint in idealischem, vorkantkrisischem Vokabular als Potenz des Innern; die Regel, nach der verfahren wird, lautet: »entbehren und genießen«15, und die Entbehrung des Außen wird im Innern wieder gutgemacht durch Tugendlob und Tugendbewusstsein. Das Glück als Ergebnis eines

11 Vgl. Hans-Jürgen Schings: »Der Höllenpunkt. Zum Erzählen Kleists«, in: Marie Haller-Nevermann/Dieter Rehwinkel (Hg.): Kleist – ein moderner Aufklärer?, Göttingen 2005, S. 41. 12 Novalis: Werke in einem Band, hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel, München u.a. 1981, S. 522. 13 Vgl. Klaus-Christoph Scheffels: Rückzug. Zur Negierung von Raum- und Körperordnungen im Werk Heinrich von Kleists, Frankfurt a.M. 1986, S. 324ff. 14 Vgl. Heinrich von Kleist: »Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen!«, in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5. Anekdoten, Kleine Schriften, München 1964, S. 38. 15 H. v. Kleist: Aufsatz, den sichern Weg des Glücks, S. 44.

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Sandra Markewitz Mangels äußerer Güter präfiguriert in einer Hinsicht das spätere Glück als Ergebnis des imaginierten Verzichts auf die sprachliche Übermittlungsleistung: Auch Sprache ist Kleist ein vermittelndes äußeres ›Gut‹. Mangel der Sprache bedeutet daher Glück, so ist der Dichterbrief im Horizont des frühen Glücksaufsatzes lesbar als sein Beleg, eine Ausdehnung ins Grundsätzliche. Die Einsamkeit ist im Glücksaufsatz »der Prüfstein des Glückes. Da werden Sie Tränen über bleiche Wangen rollen sehen, da werden Sie Seufzer sich aus der bewegten Brust emporheben hören.«16 Der Innerlichkeit als Ort des Glücks entspricht das Innere als Ort der Herzenswahrheit; im Kämmerlein werde jeder mit seinem Kummer sich seiner selbst bewusst, empfindsames Vokabular bezeichnet die Wendung auf das Ich, die für den Künstler mit der Stille seines Produktionsprozesses zusammenfällt. Einsamkeit koppelt Poiesis und emphatische Selbstreferenz, jenseits der »Überlegung«. Glück ist sprachloses Glück, das in der Einsamkeit gebildet wird, tätig, mit crocescher Intuition, jenseits der Codes. Einsamkeit als Code? Nur, wo die »Überlegung« sich die Phänomene zu eigen macht als zu erklärende. Gerade die vorhersehenden Kräfte der »Überlegung«, die Sprache benutzen, um zukünftige Handlungen abzusichern, verkennen den nachträglichen Charakter der Überlegung. Sie kommt zu spät, ohne der Tat dadurch zu schaden.17 Wenn Kleist in dem kleinen Text Von der Überlegung. Eine Paradoxe (1810) explizit ein Paradox (Überlegung soll zu spät kommen, die Tat soll für sich sprechen) als grundlegend für kommunikative Prozesse ansieht, scheint dies zunächst weit vom Schweigen, der Schweigenotwendigkeit und der Suche nach dem sprachlosen Glück entfernt zu sein. Der Text ist jedoch formal interessant als Referenz auf etwas Unentscheidbares, notwendig Ambivalentes. Das Paradox des sprachlosen Glücks hat Verwandte, die Überlegung müsste, mit Kleist, ihren Gegenständen stets nachfolgen. Vorüberlegungen verkennen stets den fordernden Charakter der Phänomene in situativen Konstellationen. Die einsame Kammer, in der im Glücksaufsatz der »Reiche und Geehrte«18 zu sich kommt, ist mit dem Absehen von der Überlegung verbunden. Das Jugendwerk formuliert als Modus von Glückserfahrung bereits den Blick auf sich selbst, dem in der Moderne keine Tugenderfahrung mehr entsprechen wird. Die Kontinuität von Glücksaufsatz hin zum Dichterbrief liegt in der Absage an äußere Standards als Maßgaben innerer Gefühle, die Tugend aus Mangel gewinnt dem Mangel ein Selbstgefühl ab, der

16 H. v. Kleist: Aufsatz, den sichern Weg des Glücks, S. 39. 17 Vgl. ders.: »Von der Überlegung. Eine Paradoxe«, in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5. Anekdoten, Kleine Schriften, München 1964, S. 70f. 18 H. v. Kleist: Aufsatz, den sichern Weg des Glücks, S. 39.

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Glückhaftes Schweigen? Dichterbrief lässt aus dem Mangel der Zeichen die Freiheit des Bezeichneten hervorgehen. Das Gute: die Abwesenheit der äußeren Vermittlungsinstanz, »die beglückende Mittelstraße, die wir wandern wollen«,19 ist so mittelmäßig nicht, antike Glücksideale der guten Mitte (mesotes) zwischen dem Zuviel und Zuwenig sind hier rückgebunden an den Kontext ästhetischer Produktion. Der Dichter des Dichterbriefes spricht nachkantkrisisch, sprachverletzt, da die Erkenntnismittel als relative Trugbilder erkannt wurden.20 Vor der Kant-Krise von 180121 entwarf Kleist den Glücksaufsatz, nach der Kant-Krise entfaltete er in seinem Werk, dass die Kant-Krise nichts anderes ist als die Erschütterung dadurch, dass am Grunde der Erkenntnismittel ein unlösbares Paradox steht. Jedoch: Der Glücksaufsatz mündet in eine Utopie der gemeinschaftlichen Vaterlandsliebe.22 Darin ist mithin der Bruch der innerwerklichen Kontinuitätslinie angelegt, im späteren Dichterbrief geht es gerade um die Freiheit von den Zeichen, die Gemeinschaftlichkeit indizieren könnten. Ein Paradox dagegen prägt auch den früheren Text. Nicht als Grundbestandteil der Erkenntnismittel, aber als Gedanke, der besagt, dass aus Einsamkeit, der Kammer, gerade Sozialität, Vaterlandsliebe entstehen könne. Dies ist nur auf den ersten Blick widersinnig. Der homo artifex vollzieht im Stillen seine Kunst, das Ergebnis gibt sich in Kontexten sozialer Erwartungen zu erkennen. Kleist schließt im Dichterbrief an diese Kontexte sozialer Erwartung an, wenn er dem Adressaten mitteilt: »Und auch Dir, Freund, dünkt mich, bliebe nichts zu wünschen übrig: dem Durstigen kommt es, als solchem, auf die Schale nicht an, sondern auf die Früchte, die man ihm darin bringt. Nur weil der Gedanke, um zu erscheinen, wie jene flüchtigen, undarstellbaren chemischen Stoffe, mit etwas Gröberem, Körperlichen, verbunden sein muß: nur darum bediene ich mich, wenn ich mich Dir mitteilen will, und nur darum bedarfst du, um mich zu verstehen, der Rede.«23

19 H. v. Kleist: Aufsatz, den sichern Weg des Glücks, S. 44. 20 Zur Sprache als Trugbild vgl. auch Bacons idola fori, Trugbilder des Marktes, auf dem gut sokratisch Gespräche geführt wurden. Das Wort »Markt« verweist auf künftige Verstrickungen, als diese Vokabel nicht mehr auf ein funktionierendes Polis-Ganzes verweist, sondern dessen Existenz, um dort Tauschprozesse durchführen zu können, mit idealtypischer Stabilität ausstattet, die die Vorstellung des Polis-Ganzen, der Kontinuität der Verteilungsorte im sozialen Raum, überstrapaziert und dadurch gefährdet. 21 Vgl. Heinrich von Kleist: »Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine v. Zenge«, in: ders.: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd 4. Briefe, hg. v. Siegfried Streller, Berlin u.a. 1978, S. 200. 22 Vgl. H. v. Kleist: Aufsatz, den sichern Weg des Glücks, S. 45. 23 H. v. Kleist: Brief eines Dichters, S. 808.

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Sandra Markewitz Die groben Ausdrucksmittel dienen der Erscheinung des Gedankens, er ist das zu schützende Zentrum des Dichterbriefes. Die Erscheinungsqualität des Gedankens ist seine Differenz, bei ihr beginnt das Nachdenken über die Ausdrucksmittel. Eine Erscheinung ist »Erinnerung an die Gegenwart«.24 Mit Rekurs auf Kant: »Der Begriff der Gegenwart ist hier zunächst [...] in einem sehr elementaren Sinn zu verstehen. Diese Gegenwart ist ein Kontinuum von [Zuständen von] Dingen und Ereignissen, wie sie in der Umgebung eines Menschen sinnlich vernehmbar anwesend sind. Das Wie dieses Gegebenseins ist hier wichtig. Das bloße Vorhandensein von Objekten einschließlich des bloßen Vorbeigehens von Ereignissen macht allein keine Gegenwart aus.«25

»Gegenwart« ist, wo der Gedanke erscheint. Kleist fasst ihn als Präsenz, welche die Mittel vergessen macht, die diese Präsenz hervorriefen. Der zeitliche Aspekt – schon im Glücksaufsatz war die »Rückerinnerung« an in ihrer Kontingenz unbefragte Historizität ein Weg, dieses Glück zu erreichen26 – spielt eine große Rolle in der Beschreibung sprachloser Glückserfahrung. Nicht nur ist Gegenwart »ein offener – und darin unübersehbarer, unfaßlicher und unbeherrschbarer – Horizont der spürenden, handelnden und erkennenden Begegnung mit Vorhandenem«.27 Die in der Zeit aufgehobene Begegnungsqualität bezieht sich zudem auf die Begegnung der Zeichen mit sich selbst im Moment ihrer Geltung, sofern die Dinge, die diese Geltung des Gedankens hervorbrachten, nicht nur unbemerkt bleiben sollen, sondern, wie im Dichterbrief nun verschärft wird, sich aus dem Bedeutungsspiel ganz zurückziehen: »Sprache, Rhythmus, Wohlklang usw., und so reizend diese Dinge auch, insofern sie den Geist einhüllen, sein mögen, so sind sie doch an und für sich, aus diesem höheren Gesichtspunkt betrachtet, nichts, als ein wahrer, obschon natürlicher und notwendiger Übelstand; und die Kunst kann, in bezug auf sie, auf nichts gehen, als sie möglichst verschwinden zu machen.«28

Die formalen Helfer, die aus Zeichen Gedanken machen und Gedanken als übertragbare Zeichen disponibel, sind als zu verschwindende bestimmt. Nur, wenn diese sich aus dem zeitlichen Kontinuum zurückziehen, in dem sie Gedanken (dem Gedanken des Dichters) zur Erscheinung verhelfen, kann der Gedanke seinen Platz in der Zeit behaupten, kann er erscheinen. Die Erscheinungs-

24 25 26 27 28

Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2003, S. 60ff. Ebd., S. 61. Vgl. K.-C. Scheffels: Rückzug, S. 326f. M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 61f. H. v. Kleist: Brief eines Dichters, S. 808f.

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Glückhaftes Schweigen? helfer ziehen sich aus der Erscheinung zurück, damit das Erscheinende wirken kann. Die semantische Prägnanz des Erscheinungsbegriffs (formal bestimmt, inhaltlich unbestimmt) zehrt von einer langen erkenntnistheoretischen Tradition. Sein ist, nach Berkeley, Wahrgenommenwerden, doch mit Kleist wird der zweite Teil des Satzes betont: Esse est percipi aut percipere. Auch wahrgenommene Subjekte nehmen wahr, sie lassen sich modern überblenden mit den Rezipienten der erscheinenden Gedanken. Die Rezeption von Kunstwerken erscheint so recht eigentlich als Bewahrung von Gegenwart: Die wahrgenommene Gegenwart der Gedanken – sie sind nicht Ergebnis kognitiver Anstrengung, sondern, was der Künstler übermittelt, damit es in Erscheinungsqualität münde: »Ich bemühe mich aus meinen besten Kräften, dem Ausdruck Klarheit, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmut und Leben zu geben: aber bloß, damit diese Dinge gar nicht, vielmehr einzig und allein der Gedanke, den sie einschließen, erscheine.«29

Der Gedanke entsteht im Absehen von etwas, ist produktiver Mangel und doch er selbst. »Einzig und allein« soll er erscheinen und wird von den Ausdrucksmitteln nicht befördert, sondern »eingeschlossen«. Der Weg der Zeichen zu einer sozial nicht kontaminierten Bedeutung (Kleists Verständnis von »Bedeutung« ist paradox, radikal ästhetisch, möchte von der Sozialität der Sprache absehen) sprengt eine Einschließung auf. Erscheinende Sprache als Gedanke ist Ergebnis eines Ausbruchs aus alten Bedeutungsbildern, Bildern davon, wie Ausdruck Eindrücke befördert und Erlebnisse wiedergibt. Es ist die Verkleidungsfunktion der Sprache, die in ihren Benennungen steckt, die mit dem Dichterbrief suspekt geworden ist. Wie ein Emblem solcher Verwandtschaft wirkt ein anderer Text des 19. Jahrhunderts, der auf die klassische Moderne vorausweist: »Aber sie wurde müde zu klagen, und die aufreizende Ohnmacht der Klage stachelte sie an zu Zweifel und zu Bitterkeit; und so wie gewisse Gläubige ihren Heiligen schlagen und ihn mit Füßen treten, wenn er seine Macht nicht zeigen will, so verspottete sie jetzt die vergötterte Poesie und fragte höhnisch sich selber, ob sie nicht glaube, daß der Vogel Rock sich demnächst unten im Gurkenbeet zeigen oder Aladins Höhle sich unter dem Fußboden im Milchkeller auftun würde; und in kindischem Zynismus belustigte sie sich damit, die Welt übertrieben prosaisch zu machen, nannte den Mond einen grünen Käse und die Rosen Potpourri, alles in dem Gefühl, daß sie sich räche, aber auch mit der halb ängstlichen, halb aufreizenden Empfindung, daß dies Blasphemie war.«30

29 H. v. Kleist: Brief eines Dichters, S. 809. 30 Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne. Aus dem Dänischen v. Anke Mann, Frankfurt a.M. 1973, S. 20f.

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Sandra Markewitz Die Vergleichsstelle aus Niels Lyhne (1880), dem Brennglas melancholischer Stimmung und Seelenlage des Fin de Siècle, zeigt, was passiert, wenn Verkleidungen frei werden von dem, was sie verkleiden, ästhetische Sprache gerade keine Gedanken mehr einschließen kann, da der Glaube an diese beschreibungsstiftenden Gedanken schwindet. Jacobsens Figur fasst poetisches Geschehen nicht mehr als Ausbruchsgeschehen; Mond und Rosen sind Chiffren ihrer vergeblichen Anwendung, wo das Leben nach Mond und Rosen nicht mehr eingerichtet ist. Dass auch im 19. Jahrhundert »(irgendeine) Notwendigkeit für gewisse Illusionen«31 besteht, die »soziale Illusion«32 somit als bedeutungskonstitutiv hingenommen wird, schmälert nicht die stetige Erkenntnis von der Unzuverlässigkeit der Ausdrucksmittel an der Grenze von Sinn und Unsinn. Zwischen dem Mond als Käse und dem Mond als erhabenem Objekt sehnsüchtiger Anrufung situiert sich mit Kleist das Ausdrucksproblem: er möchte seinen Heiligen nicht schlagen. Doch das Glück ist nicht mehr nur als Absenz von Gütern fassbar. Eine Rhetorik des Mangels konnotiert ›Fülle‹ mit ›Bedeutungsfülle‹, Überfluss der formalen Mittel, die Zeichen determinieren, mit ihrer Sinnlosigkeit. Inmitten sprachkrisischer Bewusstheit lebt etwas weiter von dem Hang nach dem Auftreten des Großen, das sich nicht erklären muss, der Unmittelbarkeit, deren präsentischer Modus sofort verstanden wird: »Denn das ist die Eigenschaft aller echten Form, daß der Geist augenblicklich und unmittelbar daraus hervortritt, während die mangelhafte ihn, wie ein schlechter Spiegel, gebunden hält, und uns an nichts erinnert, als an sich selbst.«33

Der »paradoxe[ ] Ton«34, in dem Derrida über das »Zeitalter des Zeichens« schreibt, bestimmt Kleists Nachdenken über die Sprache. »Die Zeitalter der Polarität […] zum Abschluß zu bringen«35 ist Kleists Ziel im Einspruch gegen den schlechten Spiegel der schlechten Form; dieser lässt sich nicht vergessen und spiegelt nur unter Einbeziehung seiner selbst, er zeigt seine Konstitutionsleistung (des Gedankens) und das zerstört die erwünschte Illusion der Kunst, die

31 Vgl. Lars Gustafsson: Sprache und Lüge. Drei sprachphilosophische Extremisten: Friedrich Nietzsche, Alexander Bryan Johnson, Fritz Mauthner. Aus dem Schwedischen v. Susanne Seul, Frankfurt a.M. 1982, S. 11. 32 Ebd., S. 9ff. 33 H. v. Kleist: Brief eines Dichters, S. 809. 34 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, S. 70. Gumbrecht zitiert damit eine Stelle aus Derridas Grammatologie. 35 Ebd.

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Glückhaftes Schweigen? mit dem erwünschten Gedanken zusammenfällt, der ganz wahr sein will. Spiegelungen, Verzerrungen, Verschiebungen geschehen, wenn die Form nur auf sich selbst zeigt; Wittgensteins Tractatus logicophilosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung (1921/22) gestattete dem Instrument der logischen Form weniger: sie war Spur, Aufweis, das, was der Satz nicht darstellen kann, sondern was sich in ihm – zeigt, nicht als Konzession eines Unvermögens des Satzes.36 Die schlechte Form als Spiegel weist auf sich selbst hin, sie befördert den Gedanken nicht, sondern lenkt von ihm ab, weist ihn als etwas aus, das Hilfe braucht, sekundäre Unterstützung seiner Wirkung. Das genuine Kunstwerk dagegen ist das zwanglos erscheinende Kunstwerk; das Ausdruckswerkzeug als schlechter selbstreferenter Spiegel büßt in seiner deiktischen Wendung auf sich selbst seine Qualität ein, Erscheinungen zu konstituieren. Bei Kleist wie in moderner Ästhetik ist »das Erscheinen ein konstitutives Element aller Formen der ästhetischen Herstellung und Wahrnehmung«.37 Der generalisierende Schritt, der bei Seel zu Belegen seiner These führt, lässt sich im vorliegenden Kontext in Rekurs auf die Ausdifferenzierung moderner Schreibformen tun. Die Texte der klassischen Moderne in der Folge von Kleists Dichterbrief sprechen von ihrem Erscheinungsrecht in den bekannten Formeln38 »profane Erleuchtung« (Benjamin), »taghelle Mystik« (Musil) oder »rationale Epiphanie« (Wunberg) bis zu Entgrenzungen diaristischer Erscheinungen höherer Wesen, die in eine Semantik profaner Entzauberung und konkreter Gegenständlichkeit aufgelöst werden.39 Wenn Kleist weiter fortfährt: »Wenn du mir daher, in dem Moment der ersten Empfängnis, die Form meiner kleinen, anspruchslosen Dichterwerke lobst: so erweckst du in mir, auf natürlichem Wege, die Besorgnis, daß darin ganz falsche rhythmische und prosodische Reize enthalten sind, und daß dein Gemüt, durch den Wortklang oder den Versbau, ganz und gar von dem, worauf es mir eigentlich ankam, abgezogen worden ist. Denn warum solltest du sonst dem Geist, den ich in die Schranken zu rufen bemüht war, nicht Rede stehen, und grade wie im Gespräch, ohne wie auf das Kleid meines Gedankens zu achten, ihm selbst, mit deinem Geiste, entgegentreten?«40

36 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe. Bd. 1. Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1989, TLP 4.121, S. 33. 37 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 48. 38 Vgl. Sandra Markewitz: Das Schweigen. Tautologizität in Kafkas Tagebüchern, München 2006, S. 201. 39 Ebd., S. 198ff. 40 H. v. Kleist: Brief eines Dichters, S. 809.

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Sandra Markewitz »Kleine, anspruchslose Dichterwerke« – nicht captatio benevolentiae, sondern Ernst: das Absehen von der Hervorbringung zugunsten des Prozesses dieser Hervorbringung, des Aufmerkens auf ihn. Es geht um das Gespräch der »Geister«; der »in die Schranken« gerufene Geist kann gerade sprechen, er wurde auf den Weg der Kommunikationsmittel geschickt, von diesen getragen, aber so lange auch beschwert. Erscheinungs-Glück besteht nicht im schieren So-Sein des Geistes (einer metaphysischen Fiktion), sondern dem Gespräch der Geister ohne Gedankenkleider. Mit Nietzsche sucht Kleist – glückssuchend – nicht nach dem großen Glück, das sich befördern lässt durch kontingente Mittel. Das kleinere Glück ist (der »kleinen« Literatur Kafkas verwandt)41 das Einheits-Glück nach der Beruhigung der Mittel, die den Geist verkleideten. Ein in gewisser Weise bescheidenes Glück, welches den erscheinenden Dingen viel zutraut (Zentrum der Kunst zu sein), sie aber dennoch nicht zu Erscheinungen substantiviert als Träger großer Gedanken, zum crucial point des Denkens wie der Erkenntnis.42 Nietzsche verneint in der Götzen-Dämmerung mit dem Hammer das Streben nach Glück als Schwäche, als Verschiebung eines gegenwärtig in den Instinkten schon bereiteten Glücksweges auf dessen Relativierung im Schreckbild vernünftelnder Eudämonia. Sokrates’ Diskussions-Glück scheint den Redenden angenehm;43 sie vergessen den Preis des Redeglücks, den die Sprachlosen zahlen ebenso wie den Zufall, der sie in ihren Zusammenhängen reden lässt. Kleists Anrufung des »Geistes« wie des »Erscheinens« situiert ihn im semantischen Überlieferungsstrom sich-wissender Rationali41 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Pour une littérature mineure, Paris 1975. 42 Einschlägig hier die Kritik Austins (Sense and Sensibilia) an den Substantivierungsbestrebungen traditioneller Erkenntnistheorie, die sich auf viele Denkgewohnheiten der modernen Zeit übertragen lässt. Unsere »guten deutschen Sätze« kollidieren »in der brennenden Hitze der Wüste, dem Verdursten nahe« mit einem Verlangen, das vor allen Poststrukturalisten da war und heute seinen Platz im Gedankengang, im argument from illusion findet. Was erscheint, steht nicht da als intrinsisch motivierte »Erscheinung«, als Entität in ihrem eigenen Recht. Das Recht liegt vielmehr darin, über das, was erscheint, hinwegzusehen, sein Erscheinen zu ignorieren zugunsten dessen, was sich zur Identifizierung anbietet. Austins Argumente beschreibt Eike von Savigny: »J.L. Austin: Hat die Wahrnehmung eine Basis?«, in: Josef Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen III, 2. Aufl., Göttingen 1984, S. 208-249. 43 Vgl. Lars Gustafsson: Herr Gustafsson persönlich, Frankfurt a. M. 1975, S. 73ff. Philosoph sein dürfen, dazu ders.: Sprache und Lüge. Drei sprachphilosophische Extremisten: Friedrich Nietzsche, Alexander Bryan Johnson, Fritz Mauthner. Aus d. Schwedischen v. Susanne Seul, Frankfurt a.M. 1982.

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Glückhaftes Schweigen? tät – der Apotheose bei Hegel folgten gleichwohl Bewegungen, die sie verkleinerten, dem Besonderen zuschlugen, nach dem Kunstende44 weitersprachen. Auch in diesem persistenten Hang zu einem Vokabular, das seine Vokabeln derart ausstellt, dass sie die nicht nur durchschnittlich Gesinnten zu ihrer (aktualistischen) Demontage einladen, liegt eine Festschreibung: nämlich des Problemhorizonts auf Fiktionen der ›Lösung‹, in denen die paradoxale Grundstruktur der epistemologischen Vollzüge aufgelöst wird. Der »Geist«, mag er unerkennbar45 sein gegen die Verfechter des Vorteils neuronaler Wirkungsweisen und computationaler Strukturen vor den großen abendländischen Bildern, trägt als Universal dessen, was Menschen von sich und anderen erwarten, ein schweres Erbe. Dieses findet sich in Kleists Dichterbrief, wenn man auch zögern möchte, seine Verwendung des Wortes »Geist« in den Strom seiner gemeinen Überlieferung einzureihen, die das Wort für die Tat nahm, die Möglichkeit für die Wirklichkeit, das Ideal mit seiner Umsetzbarkeit verwechselte. Nicht nur ist der »Geist« dichotomisierend in der Maschine eingesperrt (Koestler, Ryle). Es ist Teil von Kleists Unzeitgemäßheit und der Tatsache, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war, dass er den Worten glaubte und sie auf sein paradoxes Unterfangen, aus Schweigen Glück zu schlagen, anwandte. Kleist verwendet das Wort »Geist« nicht als Begriff (er ›arbeitet‹ auch nicht an diesem), sondern als Leitstern eines Glaubens an die poetische Hervorbringung, die – entgegen den Nachweisen von Fragment, Zufall und dekadenter Nervenreizung durch Modernitätskonstellationen – weiß, was sie sagen möchte und dieses auch sagt. So verdoppelt sich das Paradox schweigenden Glücks oder des Glücks im Schweigen im Blick auf Kleists eigene poetische Produktion: wenn sein Geist sich ausspricht, auch wenn er es schweigend tun möchte, geht es um »Wesen« und »Kern«, um die Konzentration des Gegenübers auf die Hervorbringung, um das Absehen von der Form, die mit dem Zufälligen identifiziert wird: »Aber diese Unempfindlichkeit gegen das Wesen und den Kern der Poesie, bei der, bis zur Krankheit ausgebildeten Reizbarkeit für das Zufällige und die Form, klebt deinem Gemüt überhaupt, meine ich, von der Schule an, aus welcher du stammst; ohne Zweifel gegen die Absicht dieser Schule, welche selbst geistreicher war, als irgend eine, die je unter uns auftrat, obschon nicht ganz, bei dem paradoxen Mutwillen ihrer Lehrart, ohne ihre Schuld.«46

44 Vgl. Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a.M. 2002; Alexander García Düttmann: Kunstende. Drei ästhetische Studien, Frankfurt a.M. 2000. 45 Steen Olaf Welding: Die Unerkennbarkeit des Geistes. Phänomenale Erfahrung und menschliche Erkenntnis, Stuttgart 2002. 46 H. v. Kleist: Brief eines Dichters, S. 809.

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Sandra Markewitz Das Paradox schweigenden Glücks wird potenziert durch das Paradox, dass Kleist auf den Zeigeduktus des Schönen und Guten zu verzichten scheint, der, von Wittgenstein mit Nachdruck versehen und in die Diskussion lange aufgenommen,47 als Gegenmodus zum Sagen schweigende Rettung von den allgegenwärtigen Ausdrucksproblemen versprach: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.«48 Was verspricht Wittgenstein in diesem locus classicus des philosophischen Gegenworts zu philosophischer Rede? Eine Erscheinungsform, die auf der Seite der Dinge steht. Ablösung des Sprechens durch einen Darstellungsmodus – nicht nur: Ablösung des Wortes durch das Bild (dies auch), sondern philosophische Nobilitierung des Aufgewiesenen, des zufällig SichBildenden, des nichtidentifizierten Restes im identifizierenden Diskurs. Gern wird von einer »Ethik des Zeigens« gesprochen.49 Im Blick auf Kleist lässt sich fragen, ob die Zeigegeste nicht eher als ein Ästhetikum zu verstehen ist (wenn man den Modus zurechnen möchte zu etwas). Was »sich zeigt«, das erscheint. Kleist wollte im Dichterbrief das Erscheinende befreien, einen Modus freilegen, von den Ausdrucksmitteln nicht trüben lassen. Im Erscheinen ist die intentio auctoris sanft gespiegelt und enthistorisiert. Dass das Erscheinende die Bindung an zeitliche, scheinbar zwingende Voraussetzungen der »Erscheinung« aufheben kann, darin liegt seine tentative Kraft für Gegendiskurse im diskursiven Kleid. Kleist braucht auch die Kleider des Gegendiskurses nicht. Sein Traum vom Schweigen beschreibt, wie Verständigung gelingt, wenn die allgemeine Norm der Verständigung ins Individuelle verlegt, die Abkehr von der romantischen Schule, welcher der Briefempfänger anhängt, zur singulären Ausdrucksform wird. Der Spiegel, in dem sich etwas zeigen könnte, ist im Dichterbrief böse 47 Vgl. Felix Gmür: Ästhetik bei Ludwig Wittgenstein. Über Sagen und Zeigen, Diss. München 1997; Dieter Mersch: »›Es gibt allerdings Unaussprechliches...‹ – Wittgensteins Ethik des Zeigens«, in: Ulrich Arnswald/Anja Weiberg (Hg.): Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ethik, Düsseldorf 2001, S. 133-155; Wilhelm Vossenkuhl: »Sagen und Zeigen. Wittgensteins Hauptproblem«, in: Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Berlin 2001, S. 35-63; Hans-Johann Glock: »Saying/Showing«, in: ders.: A Wittgenstein Dictionary, Oxford 1996, S. 330-336; Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007; Heike Gfrereis/Marcel Lepper (Hg.): deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen 2007. 48 TLP 6.522, L. Wittgenstein: Tractatus, S. 85; Brian McGuinness: »Die Mystik des Tractatus«, in: Joachim Schulte (Hg.): Texte zum Tractatus. Aufsätze von Hidé Ishiguro, Anthony Kenny, Norman Malcolm, Brian McGuinness, David Pears, Frank Ramsey, Peter Simons, Frankfurt a.M. 1989, S. 165-191. 49 Vgl. D. Mersch: Unaussprechliches.

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Glückhaftes Schweigen? Selbstreferenz ohne Mitteilungskompetenz. So ist Kleists doppelt paradoxes Sprechen erstens die Konstatierung der Tatsache, dass man ohne Sprache besser redete, zweitens das Eingeständnis, dass das schweigend Gesagte in seiner essentialistischen Prägung durch den Schweigemodus nicht zu Modernität bekehrt wird. Das schweigende Übermitteln des Gedankens will gerade das Zufällig-GereiztAugenblickshafte von diesem »Kern« fernhalten. Wenn Kleist also als Exponent plötzlicher Dichtung genommen wird, geschieht dies im Blick auf das Gesamtwerk, zu dem das Ende im Freitod zu rechnen ist.50 Genau gelesen verneint die kleine Poetologie des Dichterbriefs das große Werk; dass nämlich die Insistenz auf den schweigenden Übertragungsvorgang poetologisch veranschlagt wird, sieht davon ab, dass der schweigende Dichter keiner mehr wäre – oder ein besonders guter, Agent der Unmittelbarkeit.

II. Bis hierhin ist der Dichterbrief vor allem Erinnerung an die Unsagbarkeit dessen, was als »Kern« einer Sache betrachtet wird (vom Künstler selbst). Doch Kleist tut noch mehr. ›Unsagbarkeit‹ ist ein Topos, mit dem man sich nicht zufrieden geben muss. Nicht um das Unsagbare durch Sagen zu überbieten und entsprechende Beispiele anzuführen, sondern um zu fragen, welche Rolle die Unsagbarkeitsdiagnose gemeinhin spielt. Dass die klassische Moderne das Sprechen verlernt hat, bringt sie näher an jene wahre Seite der adaequatio, die Wahrheit verbürgen soll und ihre Übereinstimmung in Stummheit vollzieht. Doch sie will diese Wahrheit nicht und wäre auch nicht im Einklang mit dem, was man gesellschaftliche Entwicklung nennt, wenn sie auf ihrer sprachlosen Wahrheit insistierte. (Das will sie natürlich auch nicht, aber die Übereinstimmungsrelationen dynamisieren sich unerwartet.) Hofmannsthals modrige Pilze sind Teil einer Materialität, die selbst im Zerfall noch als Vergleichsbild dient. Vor wem vergleicht man sich? Zu wem spricht der sprachlose Dichter? Auch Kleist braucht (wie Hofmannsthals Ein Brief) den Adressaten, ein Dialogizitätsbewusstsein, von dem Paul Celan laut sprechen wird, in Rekurs auf Mandelstam, Martin Buber: Sprich auch Du ...51 Der Dialog ist das

50 Vgl. Karl Heinz Bohrer: »Augenblicksemphase und Selbstmord. Zum Plötzlichkeitsmotiv Heinrich v. Kleists«, in: ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, S. 161-179. 51 Vgl. Paul Celan: »Sprich auch du«, in: ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 3, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a. M. 1986, S. 185ff.; Ossip Mandelstam: »Vom

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Sandra Markewitz Einfallstor für die Normativität sprachlicher Gestaltung; dialogue is an epiphenomenon of normativity. Beide sind gleichzeitig da, eine Ätiologie des normativen Zwanges, der im Dialogischen aufgehoben schien, dort aber wieder normativ wirksam wird (Bedeutung soll hervorgebracht werden), lässt an den Zweck der Nachzeichnung denken: der Dialog ist in der Moderne causa, nicht mehr hohes Geistergespräch. Doch Kleist spielt nicht mit seinem Adressaten. Es ist ihm ernst mit seiner Kritik an der romantischen Schule und die beliebten Vexierspiele der Identitäten in Form fiktiver Herausgeberschaften etwa des späteren Kierkegaard (zu schweigen von Pessoa) wären ihm Teil des bösen selbstreferenten Spiegels. Die nichtverkleidete Identität mag zum Glück finden – aber das Festhalten an der Vorstellung, Kleists Dichterbrief beschriebe einen Prozess gelingender Glücksaneignung verpflichtet sich unter der Hand einer Eigentumsmetaphorik, die den Gewinn der Transaktion sieht, Kosten abzieht vom vermittelnden Tun und fragt, was bleibt. Was Kleist den Dichter gewinnen lässt, ist Zuwachs an Möglichkeitssinn, darum distanziert er die wirklichen Ausdrucksmittel: ihre Wirklichkeit und dass sie sie ausstellen, macht sie kritikwürdig, verwirrend vor den Gedanken-Zielen der Phantasie. Kleists kantkrisische Erschütterung (auch vor dem Jahr 1801 soll er Schriften des Philosophen gekannt haben52) ist die paradigmatische Erschütterung des gläubigen Erkenntnisapparates in die Moderne hinein. Wahrnehmungsgewohnheiten werden als Gewohnheiten erkennbar, man differenziert nach custom, nicht nach Notwendigkeit. Dies steht fern. Cassirers Kleist-Bild ist das eines Rätsels, das sich vielleicht lösen, wenigstens etwas erhellen lässt – und sein poetisches Werk initiierte.53 Benedetto Croce dagegen fand in Kleists Werk das Sekundäre, dem Ehrgeiz Geschuldete: »Die Wahrheit ist, daß Kleist sich als dichterisch gering veranlagt erweist, obwohl, oder vielmehr weil von grenzenlosem Ehrgeiz nach dem künstlerisch Großen und Gewaltigen erfüllt. [...] Seine Gaben waren sekundärer Art, die den Rednern eigentümlichen Gaben, Klarheit der dramatischen Exposition, Lebendigkeit der Beschreibung, Energie des Tons; vielleicht ist bei ihm nicht eine einzige wirklich poetische Stelle zu finden.«54

Gegenüber«, in: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hg.): Paul Celan, Frankfurt a.M. 1988, S. 201-208. 52 Vgl. Ernst Cassirer: Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Darmstadt 1971, S. 161ff. 53 Ebd., S. 178ff. 54 Benedetto Croce: »Kleist. La Critica, Neapel, 20. März 1920«, in: Helmut Sembdner (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, München u.a. 1996, S. 387f.

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Glückhaftes Schweigen? In Croces Kritik von 1920, einer modernen publizistischen Reaktion auf den von Cassirer ebenfalls in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts (1921) mit Rekurs auf Kant noch emphatisch beschriebenen Dichter, zeigt sich diese Modernität als Desillusionierung, die Kleists sprachlichen Mitteln nicht glaubt. Im Dichterbrief wollte Kleist ebendies: dass seinen dichterischen Mitteln nicht geglaubt würde. Gleichwohl ist er kein Agent der Kritik (ad hominem), sondern des poetischen Ergebnisses, das diese Mittel vergessen macht. Wenn Croce diese Mittel anzweifelt, um zugleich das Ergebnis anzuzweifeln und Kleists das Differenzmerkmal des Poetischen überhaupt abzusprechen, verfehlt diese Psychologisierung etwas und spricht zugleich etwas aus: Kleists Härte, die Abgegrenztheit seiner Sprache, das Ungefällige, das im Ausgesprochenen vom Aussprechen wegdrängt. (Croce sah Kleist in diesem Sinne als »Redner«. Er spricht, schreibt nicht für die Aufbewahrung, der Ruhm mag kommen.) Das Ungefällige will wirken, es will nicht gelesen werden. Ehrgeiz, Erdenleben, das ist kleinere Münze. Die Sehnsucht nach Größe und Erhabenheit, die nicht auf den Individualblick des Dichters auf sein eigenes Werk beschränkt bleibt, ist, wenn sie geäußert wird, immer unzeitgemäß: »Auch bei der Lektüre von ganz andern Dichterwerken, als der meinigen, bemerke ich, daß dein Auge (um es dir mit einem Sprichwort zu sagen) den Wald vor seinen Bäumen nicht sieht. Wie nichtig oft, wenn wir den Shakespeare zur Hand nehmen, sind die Interessen, auf welchen du mit deinem Gefühl verweilst, in Vergleich mit den großen, erhabenen, weltbürgerlichen, die vielleicht nach der Absicht dieses herrlichen Dichters in deinem Herzen anklingen sollten! Was kümmert mich, auf den Schlachtfeldern von Agincourt, der Witz der Wortspiele, die darauf gewechselt werden; und wenn Ophelia vom Hamlet sagt: ›welch ein edler Geist ward hier zerstört!‹ – oder Macduf vom Macbeth: ›er hat keine Kinder!‹ – Was liegt an Jamben, Reimen, Assonanzen und dergleichen Vorzügen, für welche dein Ohr stets, als gäbe es gar keine andere, gespitzt ist? – Lebe Wohl!«55

In weltbürgerlicher Absicht gesprochen sind die Interessen des Gefühls nichtig. Spricht hier auch Klassenlage, wie immer gewordener Charakter und eine Vergegenwärtigung der actio per distans, dem Absehen von der räumlichen Nähe zur Erkenntnissteigerung (Fernwirkung), ist doch auch die Weltbürgerlichkeit eine Intention und keine zweitrangige – Kleist verfolgt eben nicht Novalis’ MonologGlück des produzierenden Selbstbezugs der Sprache und die »Wortspiele« auf den Schlachtfeldern von Agincourt verblassen vor dem historischen Schein ihrer örtlichen Bestimmung. Das Ende des Dichterbriefs bricht mit der Neutralität des Mittelstatus in der Lite-

55 H. v. Kleist: Brief eines Dichters, S. 809.

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Sandra Markewitz ratur; Sprachkritik ist nicht nur die Furcht vor dem Aussprechen des Indezenten, sondern das Ende der Dezenz, die ihre Expressivität durch erlaubte Instrumente befördert. In Gesellschaft nie ganz wahr sein dürfen56 – diese Beobachtung des so genannten Außenseiters in dem Brief an Ulrike von Kleist vom 5. Februar 1801 verschob sich an die Innenseite und wurde zur Forderung der vielen. Wahr sein dürfen, ganz sein dürfen, ein Ich sein auch ohne kontextuelle Ich-Zuschreibung – das poetische Werk wird zum Ort der Wahrheitsforderung ohne Korrespondenz, der Wahrnehmung der Singularität des erhabenen Orts und seiner auratischen Aufladung. Sätze wie »er hat keine Kinder!«, der finiten Plotstruktur geschuldet, in Funktion, imaginativ vorbesetzt, lassen nichts Arkanes erahnen. Es hatte sich angebahnt … Sprachkritik ist auch Sucht und Suche nach dem Arkanum, des Platzes, den kein Auge findet, den kein Urteil trübt und doch nicht Quietismus. Es ist ein Gemeinplatz, dass Desillusionierung nur dort greift, wo Illusionen aufgebaut wurden. Die Literatur der klassischen Moderne versammelt sich um die leere Stelle des wünschbaren Glücks, hier kreuzen sich die Restitutionsversuche in Form von Entgrenzungen, Beschwörungen von Gegenwärtigkeit, die kaum mehr epiphan sein will, von naturhafter Phänomenalität begleitet: »Das Wetter überholt uns: Märzstürme. Wie sie die Regenhimmel herüberjagen, ihnen kaum Zeit lassen zu regnen; und plötzlich wird alles aufgedeckt und eine fast leere, unvorbereitete Klarheit glänzt sich aus den nassen Straßen entgegen. Weißt Du Schwester, daß ich mich dann fürchte in der Stadt bei solchen Nachtstürmen? Siehts nicht aus, als sähen sie sie nicht in ihrem ElementStolz?«57

Der Stolz des wirkenden Elements lässt es nicht mehr sehen, womit es sich verbindet. Auch die Stadt ist der klassischen Moderne Element zukünftiger Verbindungen, die für ihre mögliche idealische Seite blind sind. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) transportiert die Desillusion ins Zentrum poetischer Imagination, in die Welt der Spitäler, der Kranken, der hoffnungslosen Gestalten auf ihren ziellosen Wegen. Ist in Kleists Dichterbrief das Auge des angesprochenen Freundes eines, das den »Wald vor seinen Bäumen nicht sieht«, übt sich Rilkes Parisfahrer in der Beschreibung jener Unübersichtlichkeit, die aus den Verflechtungen des Sterbenden mit dem Sich-noch-Haltenden entsteht (wie in Kafkas

56 Vgl. C. L. H. Nibbrig: Rhetorik des Schweigens, S. 101. 57 Rainer Maria Rilke: »Brief an Benvenuta (Magda von Hattingberg)«, in: Hartmut Engelhardt (Hg.): Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Materialien, Frankfurt a.M. 1984, S. 101.

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Glückhaftes Schweigen? Beschreibung der modernen Liebe in den Tagebüchern58), dem, was sichtbar wird, weil die ordnende Sehkraft zu Ende geht. Das Auge ist demnach Ort des Verirrens in den Gängen der Stadt, zwischen Leben und Sterben ist das Paradox glückhaften Schweigens angesiedelt, ein imaginationsleitendes Existential: der »Schattenzusammenhang sich rührender Kräfte«59, von dem Rilke in einem Brief an Manon zu Solms-Laubach spricht, ist in der modernen Zeit nicht länger Schatten, in dem Bedeutung jenseits der Vermittlung entstehen könnte. Vielmehr ist das Schweigen bereits »eine Art Familieneigenschaft«60 der Brigge-Familie; es ist die Familie der modernen Dichter, deren Filiationen bis heute reichen. Der Anfangssatz des Malte: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier«61 blendet das Leben in der Metropole in das Sterben in ihr; das lakonische »So« spricht von etwas längst Bekanntem, selbst Erfahrenem. Und dass der Begriff ›Erfahrung‹ zugleich eine Ideologisierung nahelegt, allzu bündig etwas Gewusstes erklären zu können meint, hat nicht zuletzt Walter Benjamin bemerkt. Wenn der Dichter in Kleists Nachfolge seinen Helden aus der Familie der Schweigsamen konstituiert, will dieser nicht nur erfahren, sondern sehen – die Erfahrung stünde schon wieder in Verbindung mit den weitreichenden wissenden Erläuterungen einer Differenz, die einen Einzelnen ein Prinzip erklären lässt. Malte ist ein Typus der Moderne, aber einer, dessen Absichten im Gewand der nicht mehr geglaubten Überzeugung daherkommen: »Ich weiß, daß ich mir einbildete ...«62; »Ich versuche es, Dir zu schreiben ...«63; »Ich habe niemals gewagt ...«64. Der Ein58 Franz Kafka: Tagebücher 1912-1914 in der Fassung der Handschrift, hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1994, S. 199. 59 Rainer Maria Rilke: »Brief an Manon zu Solms-Laubach«, in: Hartmut Engelhardt (Hg.): Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Materialien, Frankfurt a.M. 1984, S. 82. 60 Ders.: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a.M. 1996, S. 29. 61 Ebd., S. 9. 62 Ebd., S. 128. 63 Ebd., S. 61. 64 Ebd., S. 163. Zu erinnern sind die Verse: »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort,/ Sie sprechen alles so deutlich aus:/ Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,/ Und hier ist Beginn und das Ende ist dort.// Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,/ sie wissen alles, was wird und war/ kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;/ ihr Garten und Gut grenzt gerade an Gott.// Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern./ Die Dinge singen hör ich so gern./ Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm./ Ihr bringt mir alle die Dinge um.« (21. November 1897) Vgl. James Rolleston: Rilke in Transition. An Exploration of his Earliest Poetry, Yale 1970, S. 131ff. Das frühe Gedicht ist einschlägig; die Sprache bringt die Dinge um,

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Sandra Markewitz spruch gegen die gewöhnlichen Tätigkeiten und die Gewissheit, mit der sie durchgeführt werden, besteht in der Evidenz der Metropole. Sie verneint das Ich, das sich in ihr niederlässt, aufhält, ob es heimisch werden möchte, ist schon nicht mehr zu sagen. Bis in die Literatur vom Ende des 20. Jahrhunderts übermittelte sich an der Linie des Paradoxes glückhaften Schweigens der Traum von Paris als Ort des Dichters. Die Relativierungen, die er ausspricht, befestigen nur seinen Ort. Eine späte Nachfahrin lässt in Frankreich die Sprache von der Sprache träumen. Undine Gruenters Erzählung Der Traum der Sprache (1989) situiert sich aus einer Bewegung heraus zwischen den Zuständen von hell und dunkel, Tag und Nacht: »Die Leute strömen auf der Kreuzung zusammen. Draußen ist es noch taghell, obwohl der Abend schon angebrochen ist. Von ihrem Tisch aus sieht sie den Himmel. Eine weite gleißende Fläche über den Dächern, die hinter einer Dunstschicht in den Augen brennt. Im Raum steht die Luft. Fliegen über den Tischen im hinteren Teil. Über den Tischen mit Salaten, auf der Kommode.«65

Eine Alltagswelt, in der Wahrnehmungen unsicher werden, Tageszeiten verschwimmen, der Himmel in den Augen brennt. Nicht die sehenden Augen träumen den Traum der Sprache, so scheint es, sondern die Sprache selbst sich in Erinnerung an frühere Sprachverwendungen: »Plötzlich sitzt er am Nebentisch. Nichts geschieht. Man bringt ihm sein Essen. Er liest. Die aufgeschlagene Zeitung neben sich. [...] Er hat sich umgedreht, ihr zugewandt, er hat diesen Satz gesagt, ohne die Stimme zu erheben. Aber er hat ihn gesagt, als müsse er mit verkohlter Zunge aus dem Bild fliehen. Aus dem Satz, den zu sprechen unmöglich ist.«66

Die Protagonisten fliehen aus der Sprache und sie tun es selbstverständlich. »Leere, Stille«67 ist die Achse, die bestimmt, dass nichts geschieht, das Schweigen ist das des Wartens, des Nichtgehörten und zugleich ein semantisches Anschließen an die Tradition der Schweigerede, aber beiläufig: domestiziert sie durch ihre, womöglich noch ausgesprochenen, Namenstäfelchen. Alles, was eine Sache reich macht, wird durch das Wort, durch Zuschreibung arm; nicht nur die Dinge können nicht mehr sprechen (die »Dinggedichte« überliefern das Unmögliche), die Sprache selbst wird stumm. Fernbleiben, Distanzblick, die actio von weither – der moderne Dichter kann von der Sprache nicht mehr verlangen, Begriff zu sein. 65 Undine Gruenter: »Der Traum der Sprache«, in: dies.: Nachtblind. Erzählungen, Frankfurt a.M. 1992, S. 113. 66 Ebd., S. 114. 67 Ebd., S. 113.

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Glückhaftes Schweigen? »Kein Laut in der Nacht. Ihre Schritte unhörbar. Kein Geräusch, nur diese Stimme: Ich weiß nichts über die Frau. Nichts, was zu wissen von Bedeutung wäre. [...] Am Ende der Straße, am Fuß einer anderen Treppe, die den Berg hinaufführt, verabschieden sie sich. Sie verbirgt sich in einem Hauseingang.«68

Das Sich-Verbergen ist vielleicht eine Bedingung, unter der das Paradox lebt und vorstellungsleitend werden kann. Wenn Gruenters Traum der Sprache von der Sprache selbst geträumt wird, schwinden ihr die Referenzen, verbergen sich – nichts zu wissen, die Nacht lautlos, kein Geräusch. Kleists Dichterbrief verschiebt die Tugendforderung des früheren Glücksaufsatzes auf die Ausdrucksmittel, diese hatten sich zurückzuhalten, kein böser Spiegel zu sein, das Paradox befreit sie. Wenn ein Paradox vorstellungsleitend wird, hält sich etwas zurück. Dieter Mersch schreibt in »Das Paradox als Katachrese«: »Paradoxien genießen das merkwürdige Vorrecht ihres fraglosen Ausschlusses. In der wörtlichen Bedeutung von para doxa – jenseits der Vorstellung oder des Meinbaren – scheinen sie die Grenzen des Denkens selber anzuzeigen und in die verbotenen Gebiete des Sinnlosen vorzudringen.«69

Im platonischen Verständnis waren die doxa bloße Meinungen, die höherer Erkenntnis entgegenstanden, endoxa bei Aristoteles das zu einem bestimmten Zeitpunkt Gewusste. Was das Paradox von der Ebene der Sinnzuschreibung und Sinnlosigkeitsverurteilung auszuschließen scheint, zeigt zugleich seinen Reichtum an: Mehr zu sein als die bloße Meinung, im »fraglosen Ausschluss« neue Sinnebenen zu schaffen und zu überliefern: das paradoxe Glück aus dem Schweigen ist Glück, das neu definiert werden muss: Jenseits der geläufigen Ausdrucksmittel, die den Gedanken nicht nur befördern, sondern ablenkend überbieten, später in der modernen Stadt jenseits der Schulen und Traditionen; dass dieser Bruch heute geläufig ist, zeigt die Gewöhnung an die paradoxale Verfasstheit der Lebenswelt, die nun in der Kunst auch so beschrieben wird. Die präsentische Überzeugungskraft lebensweltlicher Evidenzen besteht nicht zuletzt aus dem Paradox, etwas zu sehen, das nicht weicht, das sich ansehen lässt und dessen Gegenwart für einen Moment unverrückbar scheint. Glück im Schweigen zu finden ist ein Vorrecht, das sich nicht zuletzt einer harmonisierenden Zuschreibung verdankt (und die meisten Vorstellungen vom Schweigen als Glück haben ein utopisches Moment und sprechen aus dem Mangel heraus, der Versuch ihrer Realisierung rückt von diesem 68 U. Gruenter: Traum der Sprache, S. 115. 69 Dieter Mersch: »Das Paradox als Katachrese«, in: Ulrich Arnswald u.a. (Hg.): Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004, S. 102.

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Sandra Markewitz Glück schon ab). Hatte Kleist im frühen Glücksaufsatz die Idee des Glücks noch aufgenommen, ohne sie zu paradoxieren und deren Semantik in einer eher fraglosen Konventionalisierung fortgeführt, korrespondiert der Dichterbrief mit der im genannten Brief vom 5. Februar 1801 enthaltenen, schon klassisch zu nennenden Sprachkritik, die auch ein Universal ist und den Moment bezeichnet, an dem sich zeigt, dass die Entwicklung, von der ein Kind träumte und dann den Weg zu ihr ergriff, sich nicht verwirklichen kann: »Und gern möchte ich Dir alles mitteilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, und wenn es auch kein weiteres Hindernis gäbe, als dieses, daß es uns zu einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache, taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt sind nur zerrissene Bruchstücke.« 70

Dies ist etwas anderes als nur der Abschied von verlorenen Blütenträumen, es ist die Einsicht, dass schon die Möglichkeit, sie zu träumen, auf Stille basierte, einem geschützten Ort jenseits der Menschen, nicht ihren Symbolisierungen fern, aber den Entzifferungen. Das Paradox des Schweigeglücks ist nur eines, wenn das Reden selbstverständlich erscheint. (Hofmannsthals Satz geht in diese Richtung, das Gesellschaftliche anders als symbolisch zu nehmen, gehe fehl.71) Bleiben Symbole in ihrer Potentialität stehen und halten die Wege für Vorstellungen und mögliches Tun offen, verbindet sich ihre Perzeption nicht mit dem Auftrag, das symbolisch Gesagte und Gewusste in einen Anwendungszusammenhang hinein zu aktualisieren. Symbole lassen sich als »sinnliche ›Zeichen‹ und ›Bilder‹«72 (Cassirer) denken. Sie verneinen, wie ich sagen möchte, in ihrer Sinnlichkeit ihre Aktualisierung. Hofmannsthals Absage an das nicht-symbolische Auffassen der gesellschaftlichen Sphäre, also der sprachlichen, beruht darauf, eine Übersetzungsleistung für unverzichtbar zu halten, die gegen die konkretistische Unmittelbarkeit der Expressionen gerichtet ist; diese sind immer auch etwas anderes für andere. Es ist zu unterscheiden zwischen zwei Dingen: der notwendigen Übersetzung der gesellschaftlichen Ausdrucksformen in das, was sie sein sollen, ihre Äußerung ist instrumentell, nie Selbstzweck, moralisch gesprochen: schuldiger Mittelstatus, nicht unschuldiger Zweck. Zweitens zeigt gerade das wiederholte Gelingen der Übersetzung und Verschiebung des unmittelbaren Ausdrucks in einen Symbolbereich an, dass die 70 H. v. Kleist: Brief an Wilhelmine v. Zenge, S. 191. 71 Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Aufzeichnungen, hg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1973, S. 21. 72 Vgl. Frauke Berndt/Heinz J. Drügh (Hg.): Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik, und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2009, S. 9.

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Glückhaftes Schweigen? in Gesellschaft verwandten Mittel vorläufig sind: Sie meinen nicht, was sie sagen; wer sie ernst nimmt, der glaubt dem symbolischen Spiel an der Oberfläche des bedeutungsentscheidenden Spiels. Die Einsicht der Sprachphilosophie, man könne nicht meinen, ohne zu sagen, wird hier in aestheticis geradezu umgekehrt: Hofmannsthals Protagonist Bühl in seinem Netz verstellter Empfindungen und scheinbarer Sorge für den Zustand anderer (die ihm in intimen Rencontres dringend nahegelegt wurde) spricht symbolisch, denn die Entzifferung symbolischer Rede, d.h. das Offenlegen der wirklichen Gründe und Gegengründe, welche sich oftmals nur in Nuancen von Tonlagen, Pausen, Stockungen zu erkennen gaben, ging der Handlung auf der Bühne der Komödie voraus. Mit Aby Warburg ist der Symbolismus hier »primäre Umfangsbestimmung«,73 gibt vor, welche Konnotationen der Rede gewünscht sind und welche ihrer Brechungen, Risse im gelingenden Weitertragen von Episteme. Der Symbolismus ist die Umfangsbestimmung, nicht der Umfang selbst; dieser ergäbe sich aus den entfalteten Symbolen in das, was sie symbolisierten, in ein Korrelat entzifferbarer Praxis – das Entzifferte – in ungewohnter Nähe zur Substanzkategorie. Der Dichterbrief hat einstweilen eine Spur gelegt in die Moderne, bis ans Ende des 20. Jahrhunderts, in der ein Name fehlt. Was der Dichter-Brief initiierte, lässt sich mithin auch als »Hölderlin-Linie der Moderne«74 bezeichnen. Nicht, dass die Namen austauschbar wären und antonym substitution75 hier angezeigt. Hölderlin ist vielmehr die unhintergehbare Chiffre für eine Sprachverwendung jenseits der Sprache, die das Schweigen nicht als eine Möglichkeit betrachtet, sondern als die Ausdrucksbedingung und Bedingung der Rede überhaupt.76 Kleists Brief ist als Muster verstehbar und erinnert daran, dass diese scheinbar unhintergehbare Bedingung in Permanenz hintergangen wird; diese Vergehungen trieben die Sprache der Kunstwerke differenzierend bis zur Moderne an. Die Hölderlin-Linie der Moderne erfährt durch Kleist ihre Formulierung als Schwelle: hier wird das Schweigen als höchste Möglichkeit des Dichters eingesetzt in einen Zusammenhang, der der Möglichkeit folgt, nicht aber sich auf den Ort bezieht, wo sie, neben anderen Orten, formuliert wurde, in einer 73 Vgl. Aby Warburg: »Symbolismus als Umfangsbestimmung (1896-1901), The Warburg Institute Archive, III.45«, in: Frauke Berndt/Heinz J. Drügh (Hg.): Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2009, S. 75-91. 74 Gisela Dischner: »... bald sind wir aber Gesang«. Zur Hölderlin-Linie der Moderne, Bielefeld 1996. 75 André Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens, Frankfurt a.M. 2004, S. 295ff. 76 Vgl. S. Markewitz: Schweigen.

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Sandra Markewitz dialogischen Äußerung am Rande eines Werkes. Frühere romantische Sprachzweifel und -beschwörungen werden dort gebündelt zur fast beiläufigen Erinnerung an eine unverzichtbare Komponente poietischen Tuns in der literarischen Kleinform. Die Dichter der Hölderlin-Linie sind Dichter in »dürftiger Zeit«, Brod und Wein ist ihre Programmschrift und wenn Rilkes Malte in Paris sehen lernt, begleitet von Briefen des Verfassers über Märzstürme, erfährt die Hölderlin-Linie ihre Angleichung an die moderne Metropole, in der Gruenters doppelter poetologischer Traum, von der Sprache und in der Sprache, geträumt werden wird in einer Zeit, die Semantisierungen nur noch aufruft. Gruenters Sätze beschreiben die Plätze der Stadt, nachdem sie semantisierte; ihre Symbolkraft ist müde geworden und verwendet Negativzeichen des Lebens, Laute, die man nicht mehr hört, Stimmen, die nichts sagen, tragen das Ende und zugleich die Unabgeschlossenheit der Gegenstände, die da sind, solange man über sie spricht: »… diese Nacht wird wie eine Reise sein, in den toten Schacht eines stillgelegten Bergwerks.«77 Der stillgelegte Sinn hat sich der Glückserfahrung wie natürlich verschlossen. Natürlich ist, dass die Sinn-Konstruktionen fallen und damit die Möglichkeit, in ihnen Apotheosen höchster Erfüllung zu ›erleben‹ (auch die Semantik dieser erzhemeneutischen Kategorie und Weltbezugsform ist schwach geworden).

III. Man erinnere sich, dass Kleist im Brief vom 5. Februar 1801 sagte, die Sprache könne die Seele nicht malen. Diese Formulierung zeigt, wie nicht nur der Dichterbrief, sondern auch ein klassischer Ort der kleistschen Sprachkritik kommende Entwicklungen in geistesgeschichtlichen Diskussionen antizipiert. Der Ausdruck »malen« verweist hier auf das Tun eines anderen Künstlers in einer anderen Kunstform; der verwandte Umgang mit dem Material, aus dem etwas entsteht, ob mit oder ohne imitatio-Komponente, lässt die Verwandtschaft von Sprache und Bild, Diskursivität und Anschaulichkeit aufleuchten, die in der gegenwärtigen Frage nach der Macht der Bilder, pictorial turn, ikonischer Differenz78 und der Virulenz der Kategorie »Ähnlichkeit« für die Bestimmung, was ein Bild »sei«,79 wichtig wird, um nur einige Punkte zu nennen. 77 U. Gruenter: Traum der Sprache, S. 135. 78 Vgl. Axel Müller: Die ikonische Differenz. Das Kunstwerk als Augenblick, München 1997; vgl. grundsätzlich die Arbeiten von Gottfried Boehm, Horst Bredekamp, Hans Belting, M. Merleau-Ponty, Didi-Huberman u.v.a. 79 Vgl. hierzu Oliver R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, Frankfurt a.M. 2004.

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Glückhaftes Schweigen? Als Ausblick ist zu sehen, wie die diskursivitätskritischen Nachfolger an ihren sprachkritischen Vorläufer Kleist anknüpfen, sie füllen die leere Stelle, die die Sprachkritik geschlagen hat, durch die Evidenz der Bilder und die dynamische Anpassungsfähigkeit ihrer Repräsentationen – die Synchronität von Wort und Bild seit den Anfängen kultureller Entwicklung lässt dieses Nacheinander als Nebeneinander lesen, von dem immer wieder einzelne Worte (wie Kleists Verwendung des Wortes »malen« im Brief vom Februar 1801) zeugen. Das über den stillgelegten Sinn Gesagte, der in Gruenters Bild vom Bergwerk eine poetische Entsprechung hat, lässt sich schließlich ebenso auf Roland Barthes’ Unterscheidung von entgegenkommendem und stumpfem Sinn beziehen. Worauf die Begriffe auch außerhalb des Barthes-Kontexts weisen, ist: Nur weil Kleist der Sinn noch entgegenkam, konnte dessen Stumpfwerden ihn poetologisch erschüttern. Wann kommt Sinn uns entgegen? Die eudämonistische Antwort ist: wenn Glück möglich ist. An ein glücksförderndes Paradox wird dabei nicht gedacht, das Glück scheint seine Möglichkeit in seiner Widerspruchsfreiheit zu haben, die metaphysisch verankert ist, verlässlich wie unwandelbare Substanz. Kleists indirekter Blick auf den Maler im Brief von 1801 dagegen ist schon der auf ein Akzidens, aus dem 200 Jahre später ein Diskussionsschwerpunkt werden wird, auch Rilkes Malte bereitete ihn vor. Der Dichter spricht 1801 nicht vom »Bild«, er verwendet das Wort »malen«, die Tätigkeit ist wichtiger als das materiale Ergebnis des künstlerischen Tuns. Roland Barthes hat sich auch dazu geäußert, ob die Malerei eine Sprache ist. Seine Überlegungen enthalten einige Elemente, die man wohl unter dem Schlagwort »Dekonstruktion« subsumieren kann, aber genauso etwas anderes, das die Frage nach dem glückhaften Schweigen als Ergebnis einer erkenntnisleitenden Paradoxierung in der Moderne erhellt: »Das Bild, wer auch immer es verschriftlicht, existiert nur in der Erzählung, die ich von ihm wiedergebe; oder: in der Summe und der Organisation der Lektüren, zu denen es mich veranlaßt: ein Gemälde ist immer nur seine eigene vielfältige Beschreibung. Man sieht, wie nahe und gleichzeitig fern dieses Abschreiten des Bildes durch den Text, durch den ich es konstituiere, von einer als Sprache angesehenen Malerei ist; wie Jean-Louis Schefer sagt: ›Das Bild hat a priori keine Struktur, es hat Textstrukturen...deren System es ist‹; es ist also nicht mehr möglich, [...] die Beschreibung, durch die das Gemälde konstituiert ist, als einen neutralen, buchstäblichen, denotierten Zustand der Sprache aufzufassen, aber auch nicht als ein rein mythisches Elaborat für subjektive Besetzungen: das Gemälde ist weder ein reales, noch ein imaginäres Objekt.«80

80 Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays III, Frankfurt a.M. 1990, S. 158.

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Sandra Markewitz Die Erzählung schafft perzipierend das Bild, es wird wahrgenommen in der Erzählung, im emphatischen Sinne gesehen und dadurch emphatisch mit »Existenz« begabt. Nun gibt es das Bild auch neben dieser Beschreibung, die es erzählt und lebendig macht, man denke nur an Mitchells Verlebendigung der Bildkategorie.81 Wenn Kleists Sprachskepsis, die weniger Skepsis ist als die Gewissheit des Ungenügens der Zeichen, das Erzählen verneint, dem nachschildernden Blick absagt, sofern er sich künstlerischer, nämlich sprachlicher Mittel bedient, die »die Seele nicht malen« können, dann ist mit Blick auf Barthes’ Formulierungen zugleich das Bild als Träger nicht nur lebensweltlicher, sondern hochartifizieller oder auch artistischer Evidenzen in Gefahr. Die Gefahr ist nicht laut und deutlich (geradezu unsichtbar, dem Diskursivitätsglauben gar nicht ersichtlich), sondern das Verschwinden dessen, was Bedeutung hätte haben können, aber zu ihr nicht gelangt ist. Der verhinderte Sinn ist der Hintergrund Kleists sprachkritischer Attacke auf die Mittel künstlerischen Ausdrucks und damit auf den Mittelstatus der Dinge, die dem Dichter zur Verfügung stehen. Dieser scheint ewig. Das Gemälde ist mit Barthes »weder ein reales, noch ein imaginäres Objekt«. Und auch der Mittelstatus der Sprache, sofern ein Dichter sie verwendet, um gezielt Wirkungen hervorzurufen, scheint im Dichterbrief seltsam unklar, Gegenstand der Kritik und Reflexion, zugleich imaginationsleitend bezogen auf das literarische Artefakt. Das reale gestalterische Mittel als Kunstgriff soll dem Imaginären – als symbolischem (Trug-)bild möglicher Imaginationen – nicht mehr dienen; zugleich kann kein Text ohne das Instrumentarium nicht nur der Kunstgriffe, sondern der Modi, die den Text darstellbar machen, auskommen. Die paradoxe Grundstruktur in Kleists Werk wurde, in Übereinstimmung mit dem hier explizierten weitreichenden Paradox des glückhaften Schweigens im Dichterbrief, auch als »Kennzeichen«82 des Gesamtwerks gesehen, das seinen Ursprung in der Rhetorik habe. Kleist ist keiner jener Sophisten, bei denen das Paradox als persuasives Wirkmittel mit Bezug auf den Gewährsmann Gorgias aufkam; gleichwohl vermag mit einem nicht mehr nur auf Verblüffung, sondern auf semantische Umdeutung abzielendem inopinatum (dem Unerwartetem, Unvermuteten) eine »versteckte, eine ›innere‹, vorläufig noch nicht erprobte Wahrheit«83 sichtbar zu werden. Das Paradox als Konstitutionselement moderner Glückserfahrung (zumindest der Umstände, die einen glückhaften Zustand als möglich 81 W.J.T. Mitchell: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008. 82 Gabriele Knapp: »Des Gedanken Senkblei«. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799-1806, Stuttgart u.a. 2000, S. 60. 83 Ebd., S. 57.

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Glückhaftes Schweigen? erscheinen lassen) findet sowohl im Dichterbrief als – bei aller Kontingenz der Verschriftlichungsformen – Gründungsdokument einer Tradition moderner literarischer Sprachverwendung, die sich dem Schweigen öffnet, seinen Ort als auch in Kleists Gesamtwerk als spezifische Form bestimmender »Inversionslogik«.84 Darüber hinaus ist das paradoxale Sprechen als »Entzweiung von Subjektivität und Sozietät«85 (Kant) ein Erkenntnismittel, das die subjektive Seite perzeptiver Evidenzen von der Gemeinschaftlichkeit ihrer Lern- und üblichen Anwendungskontexte löst und dadurch die Erkenntnis der Notwendigkeit des Schweigens ermöglicht. Der Dichterbrief stellt nicht nur ein exemplarisches Tableau eines Problemfeldes dar, das nach 1800 lange Zeit bestimmend bleiben wird, er enthält, selbst wenn man ihn vornehmlich als Beitrag zur Produktionsästhetik versteht, den Hinweis für seine rezeptionsästhetische Aufnahme und mögliche Semantisierung: Das Absehen von den Ausdrucksmitteln zugunsten der unvermittelten Empfindung, die der Dichter ohne Rest seinem Freund übermitteln möchte, ist weniger normativ als utopisch im Wortsinne: Kleists »Dichter« ahnt, dass es den Ort dieser sprachlosen Übermittlung nicht gibt. Damit ist mit der Warnung, Textproduktion auf Effekte, ein kurzfristig zu erreichendes Telos sowie Antinomielosigkeit auszurichten zugleich die Klassifizierung des künstlerisch Gesagten als »Wissen« prekär geworden, das diese Merkmale besitzt. Wissen um-zu ist kohärentes Wissen (wenn man zugibt, dass eine Idealtypisierung die nächste hervorbringt), das, um den Eindruck seiner Kohärenz zu sichern, paradoxale Irritationen entweder ausblendet oder zu entkräften versucht. Beides ist mit einer deutenden Absicht in der Tradition des Dichterbriefs unvereinbar. Der Dichterbrief erinnert vielmehr daran, dass »das philologische Wissen [...] um seines Gegenstands willen nicht zum Wissen gerinnen«86 darf. »Um seines Gegenstandes willen«, d.h. der Legitimität einer Interpretation, die den Gegenstand als legitim ansieht, noch bevor dieser durch von außen kommende Deutungsakte legitimiert wird. Szondis Bezug auf Wittgensteins Bemerkung im Tractatus, die Philosophie sei keine Lehre, sondern eine Tätigkeit, schließt den Kreis.87 Im sprachkritischen Aufmerken auf den Widerstand des Textes (und dessen, der den Text schrieb) gegen die Mittel, die den Text hervorbrachten, konnte deutlich werden, wo Subjektivität und Sozietät auseinander traten; es führte zur Formulierung einer philo84 G. Knapp: »Des Gedanken Senkblei«, S. 60. 85 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Stuttgart 1983, S. 39f. (§ 2); vgl. einschlägig G. Knapp: »Des Gedanken Senkblei«, S. 54ff. 86 Peter Szondi: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1967, S. 12. 87 Ebd., vgl. Wittgenstein, TLP 4.112.

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Sandra Markewitz logischen Aufgabe: Texte nicht als etwas zu betrachten, das durch philologisches Wissen ein- für allemal aufgeschlossen wird, sondern das philologische Wissen selbst (als ein Wissen um Deutungen verschiebbarer Relationen) als unabgeschlossen und unabschließbar zu begreifen, wodurch nicht zuletzt seine Anwendbarkeit auf immer neue konkrete Artefakte gesichert wird. Kleists Dichterbrief folgt wieder der Figur der Antizipation (die eindrücklich Beda Allemann als Konstante seines Werks namhaft machte88). Prinz Friedrich von Homburg etwa antizipiert die Erfüllung seiner Wünsche in einer Traumvision (I,1), die später Wirklichkeit werden wird, bevor der Kriegsruf ertönt. Auch der Dichterbrief antizipiert in seiner fiktiven epistolarischen Gestalt spätere theoretische Erläuterungen, die Paradoxierungen als Movens der Ausbildung literarischer Kunst betrachten.89 Die Verschmelzung von Paradoxierung und Antizipation kann als Merkmal von Kleists Annäherung an den Sprachtopos gelten, darin liegt seine eigentliche Modernität. Auch der Vergleich von schreibender und malender Kunst ist hier noch einmal aufschlussreich. Kleist hat sich zum Verhältnis von Malen und Dichten geäußert; die Aufgabe, die er den Malern stellt, jenseits des Zwanges, den Flug ihrer Einbildungskraft im Dienst der imitatio zu bezähmen, ist der Warnung vor einer zum Wissen gerinnenden Philologie vergleichbar, in der Warnung vor der Überbetonung des eikastisch-abbildenden Moments in der Kunst: »Denn die Aufgabe, Himmel und Erde! Ist ja nicht, ein anderer, sondern ihr selbst zu sein, und euch selbst, euer Eigenstes und Innerstes, durch Umriß und Farben, zur Anschauung zu bringen!«90 Authentizität ist indessen nur eine Pointe dieser Emphatik. Der Maler hat am Material einen Gegenstand, der seine Einbildungskraft im besten Fall bindet und versachlicht, wenn er auch nicht daran festhalten soll. Der Dichter hingegen besitzt in seiner Einbildungskraft ein Mittel, das mit anderen Mitteln kollidiert, da es, wie Kleists Texte zeigen, genuin zweckhaft ist. Diese Zweckhaftigkeit scheut vor Vermittlung zurück in der immer etwas fehlgeht, in der die Übermittlung nicht zustande kommt – und vor der Einordnung in eine Klasse, die den Autor des Dichterbriefs von seiner Einsicht in die paradoxe Verfasstheit der künstlerischen Tätigkeit abtrennte. Kleist ist, um einen seiner Aphorismen 88 Beda Allemann: Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell. Aus dem Nachlaß hg. v. Eckhart Oehlenschläger, Bielefeld 2005. 89 Peter Fuchs: »Vom schweigenden Aufflug ins Abstrakte. Zur Ausdifferenzierung der modernen Lyrik«, in: Niklas Luhmann/Peter Fuchs (Hg.): Reden und Schweigen, Frankfurt a.M. 1997, S. 138-177. 90 Heinrich von Kleist: »Brief eines jungen Dichters an einen jungen Maler«, in: ders.: Werke in einem Band, hg. v. Helmut Sembdner, München 1986, S. 800.

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Glückhaftes Schweigen? auf ihn selbst anzuwenden, einer der »Wenigen«, die »keine Klasse aus(machen)«, die sich zugleich auf eine Metapher und eine Formel verstehen.91 Die Metapher ist jene vom Paradox als wünschbarem Übertragungsvorgang im dichtenden Prozess, die Formel mag hier darin bestehen, dass Schweigen Glück ergebe (wenn dieses auch, wie zu sehen war, in der Moderne brüchig wurde). Man muss nicht mit Ernst Jünger sagen, dass »Schweigen die stärkste Waffe ist, vorausgesetzt, daß sich dahinter etwas verbirgt, das das Verschweigen lohnt.«92 Aber ein Bestandteil literarischer Produktion, sofern diese auch das hervorbringt, was sie nicht sagt (Kommunikationsprozesse aus Leerstellen anstößt). Das Paradox glückhaften Schweigens wirkt so von Kleist bis in die Moderne und darüber hinaus als bedeutender Semantisierungsfaktor und ließ Paradoxierung selbst zum Werkzeug künstlerischer gattungsspezifischer Entwicklungen, etwa der Ausdifferenzierung der modernen Lyrik, werden. In der Wiederholungsbewegung sich selbst aufladender und verschiebender semantischer Gewissheiten entwickeln sich die Kunstwerke und verschiedene Haltungen dem Paradox gegenüber. Es wird ersichtlich als der eigentliche Nukleus und Bindepunkt der Entwicklung literarisch-ästhetischen Ausdrucks. Die Haltung zum (glückhaften) Schweigen gerät in der Moderne zum Kriterium: Wer weiß, wovon zu schweigen ist, weiß etwas über die Reichweite und Beschaffenheit seiner literarischen Rede. Im Spannungsfeld von Schweigegebot und Glücksanspruch erfolgen die prägenden Differenzierungen. Kleist forderte das Verschwinden der vermittelnden Instanzen, nicht aber den Wechsel der inhaltlichen Referenzpunkte. Dieser hat sich trotzdem vollzogen. Sein poetologisches Schweigegebot zielte ins Herz der (kommenden) Texte und besagte, nur schweigend sei Glück/Selbstidentität erreichbar. Brechungen dieses Schweigegebotes begleiten literarisches Schreiben bis heute. Das Paradox glückhaften Schweigens verliert seine Gebotsfunktion – gleichzeitig erneuert es sich mit jedem Text, der die Referenz des pursuit of happiness wiederholt, das Glück aber schreibend nicht erreicht. Kleists Muster wirkt so bis heute in die Sprache ein.

91 Vgl. Heinrich von Kleist: »Fragmente«, in: ders.: Werke in einem Band, hg. v. Helmut Sembdner, München 1986, S. 802: »Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.« 92 Vgl. Günter Figal (Hg.): Ernst Jünger – Martin Heidegger. Briefe 1949-1975. Unter Mitarbeit v. Simone Maier, Stuttgart u.a. 2008, S. 14.

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Sandra Markewitz

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Sandra Markewitz genießen!«, in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5. Anekdoten, Kleine Schriften, München 1964, S. 37-50. Kleist, Heinrich von: »Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine v. Zenge«, in: ders.: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd 4. Briefe, hg. v. Siegfried Streller, Berlin u.a. 1978. Knapp, Gabriele: »Des Gedanken Senkblei«. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799-1806, Stuttgart u.a. 2000. Mandelstam, Ossip: »Vom Gegenüber«, in: Werner Hamacher / Winfried Menninghaus (Hg.): Paul Celan, Frankfurt a.M. 1988, S. 201-208. Markewitz, Sandra: Das Schweigen. Tautologizität in Kafkas Tagebüchern, München 2006. McGuinness, Brian: »Die Mystik des Tractatus«, in: Joachim Schulte (Hg.): Texte zum Tractatus. Aufsätze von Hidé Ishiguro, Anthony Kenny, Norman Malcolm, Brian McGuinness, David Pears, Frank Ramsey, Peter Simons, Frankfurt a.M. 1989, S. 165-191. Mersch, Dieter: »›Es gibt allerdings Unaussprechliches...‹ – Wittgensteins Ethik des Zeigens«, in: Ulrich Arnswald/Anja Weiberg (Hg.): Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ethik, Düsseldorf 2001, S. 133-155. Ders.: »Das Paradox als Katachrese«, in: Ulrich Arnswald u.a. (Hg.): Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004, S. 81-113. Mitchell, W.J.T.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008. Müller, Axel: Die ikonische Differenz. Das Kunstwerk als Augenblick, München 1997. Nibbrig, Christiaan L. Hart: Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede, Frankfurt a.M. 1981. Novalis: Werke in einem Band, hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel, München u.a. 1981. Rilke, Rainer Maria: »Brief an Manon zu Solms-Laubach«, in: Hartmut Engelhardt (Hg.): Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Materialien, Frankfurt a.M. 1984, S. 82. Ders.: »Brief an Benvenuta (Magda von Hattingberg)«, in: Hartmut Engelhardt (Hg.): Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Materialien, Frankfurt a.M. 1984, S. 101. Ders.: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a.M. 1996. Ders.: Duineser Elegien, Die Sonette an Orpheus, nach den Erstdrucken von 1923 kritisch hg. v. Wolfram Groddeck, Stuttgart 1997. Rolleston, James: Rilke in Transition. An Exploration of his Earliest Poetry, Yale 1970.

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II. Glück im Un-Sinn

Joe Lederer und Irmgard Keun – Glück als Ästhetik der Oberfläche und Vergnügen bei der Lektüre MAREN LICKHARDT In Joe Lederers Das Mädchen George und Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns sowie Das kunstseidene Mädchen sind derart viele Handlungsumschwünge zu verzeichnen, dass Zusammenfassungen zu unübersichtlichen Reihungen von Zustandsänderungen geraten. Die Texte forcieren ihre eigene Auffassung, Strukturierung und Erinnerung anhand eines häufigen und drastischen Umbruchs von Geschehen und Gemütslagen, was melodramatische Aussageweisen kennzeichnet.1 Kerstin Barndt hat für Keuns Romane herausgearbeitet, dass diese in hohem Maße melodramatische Muster aufweisen: auf Zuspitzung bedachte Raffung, unmotivierte Umschwünge in ausweglose Situationen, wiederholter Aufbau existentieller Entscheidungssituationen.2 Dies gilt noch stärker für Lederers Roman. Melodramatische Strukturen sind fast notwendig verbunden mit dem Wechsel von Glück und Unglück, in deren extremer Auslastung und undifferenzierter Verabsolutierung. Das semantische Feld oder die Isotopielinie Glück/Unglück mit ihrer pauschalen Tendenz ist in der steten Variation gleichbedeutend mit dem Aufstieg- und Fallmuster, das melodramatische Anordnungen prägt. Zusätzlich dazu, dass Glücksutopien und Heilsversprechen – die große Liebe, Reichtum, Erfolg – in der Trivial- und Unterhaltungsliteratur diskursiv entworfen und ideologisch3 oder ideologiekritisch4

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2 3

Vgl. zum hier aufgegriffenen Begriff des Melodramatischen Peter Brooks: »Die melodramatische Imagination«, in: Christian Cargnelli/Michael Palm (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film, Wien 1994, S. 35-64. Vgl. Kerstin Barndt: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der neuen Frau in der Weimarer Republik, Köln 2003, S. 138-140 u. 197-199. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1992, S. 503f.

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Maren Lickhardt als Sinnhorizont wie Referenzrahmen von Figuren und Lesern postuliert werden, bilden sie das tragende Gerüst für die Konstitution der Texte und ihrer Rezeption. Als Thema und Verfahren ist der Wechsel zwischen Glück und Unglück bei Lederer und Keun zentrales Muster der Textgenerierung; mit seiner Emotionalisierung und Spannungserzeugung dient er der Leserinvolvierung. Der melodramatische Wechsel von Glück und Unglück, der jedes andere Prinzip der Progression – wie etwa eine stringente Entwicklung – überlagert, sowie ein Mangel an Zwischentönen rücken die Romane in den Bereich der Trivialliteratur, jedoch brechen sie beim Abstieg der Handlung ab, wodurch sie ihre triviale Anlage hintergehen. Das Mädchen George verweigert durch den einsamen Tod der Protagonistin jede Möglichkeit, das Muster des Wechsels unendlich weiterzudenken und immer wieder zu einem Aufstieg zu gelangen. Gilgi bietet immerhin ein offenes Ende, bei dem für die Protagonistin Chancen auf glückliche Momente bleiben, jedoch birgt das letzte Bild einer Apfelsine auf den Gleisen vor einem anfahrenden Zug keinen Anlass zur Hoffnung. Das kunstseidene Mädchen endet mit der Aufgabe von Träumen und dem sozialen Abstieg, schlägt dabei jedoch versöhnliche Töne an, indem die Protagonistin am Ende andeutungsweise neue Bewertungsmaßstäbe setzt, welche die Auffassung des Endes als Unglück relativieren. In jedem dieser Romane werden durch das negative, offene oder differenzierte Ende die Muster trivialer Erzählungen aufgebrochen und die textuell provozierte Erwartung des Lesers, identifikatorisch mit den Figuren Glück zu erleben, nicht erfüllt. Vielmehr dekonstruieren die Romane Glück auf je unterschiedliche Weise, indem sie es nicht nur im für die Trivialliteratur üblichen Sinn verweigern bzw. alternative Auffassungen anbieten, sondern das Text- und Rezeptionsverfahren der ›Glücksproduktion‹ mehr oder weniger reflexiv thematisieren.

Glücksmädchen – Lesestrategien und Handlungsgänge Die Lebensläufe der Romanautorinnen Joe Lederer und Irmgard Keun weisen ein geradezu verblüffendes Maß an Übereinstimmung auf,5 wodurch weniger die Parallelen individueller Lebensentwürfe

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5

Vgl. John Fiske: Understanding Popular Culture, London 1989, S. 118-120. Fiske bezieht sich allerdings nicht im Speziellen auf Glücksideologien, sondern allgemein auf Trivialmythen. Zu nennen sind der Besuch eines Gymnasiums, der Versuch, eine Theaterkarriere einzuschlagen; die zeitweilige Arbeit als Sekretärin und die Veröffentlichung von Bestsellern in den Zwanzigern, Emigration in den frühen

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Ästhetik der Oberfläche offenbar werden, als sich exemplarisch deren Bedingungsfeld in der Weimarer Republik, während des Dritten Reichs sowie der westdeutschen und österreichischen Nachkriegszeit enthüllt. Im Literaturbetrieb der zwanziger Jahre galt es, sich als Fräuleinwunder zu stilisieren, weswegen die 1904 geborene Lederer ihr Geburtsdatum auf das Jahr 1907 verschob,6 und die 1905 geborene Keun 1910 als ihr Geburtsjahr ausgab.7 Dass dies als vorauseilender Gehorsam oder aber notwendige Marktstrategie im Blick auf Mechanismen zu verstehen ist, aufgrund derer ihnen ein marginaler Stellenwert in der zeitgenössischen literarischen Szene zugewiesen wurde, zeigen die wohlwollend-herablassenden Kommentare ihrer Schriftstellerkollegen. Robert Neumann lobt Lederer vor allem wegen ihrer physischen Erscheinung und ihres Status als ewig-talentiertes Kind.8 »Klein, grazil, jung, attraktiv – sie war ein literarisches Wunderkind, bevor Hitler kam; was sie schrieb, war erotisch und aufs erfreulichste lesbar.«9 Kurt Tucholsky beschränkt Keuns literarisches Vermögen letztlich auf das bloße Potential, indem er die Autorin als talentierte, lebensunerfahrene Debütantin charakterisiert. »Sternchen; weil diese Dame gesondert betrachtet werden muß. Eine schreibende Frau mit Humor […]. In der ersten Hälfte des Büchleins wimmelt es von ciselierten Einzelheiten. […] Wenn Frauen über Liebe schreiben, geht das fast immer schief. Diese hier findet in der zweiten Hälfte weder den richtigen Ton noch die guten Gefühle. […] Flecken im Sönnchen, halten zu Gnaden. Hier ist ein Talent. Wenn die noch arbeitet, reist, eine große Liebe hinter sich und eine mittlere bei sich hat –: aus dieser Frau kann einmal etwas werden.«10

Dreißigern, besondere Schwierigkeiten im Exil, Remigration, permanente finanzielle Probleme und eine dauerhafte Entwurzelung, ausbleibender schriftstellerische Erfolg nach dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. zu diesen Stationen im Einzelnen Gabriele Heidegger: »›Zuflucht‹ in der Heimat? Die kurze Rückkehr der Schriftstellerin Joe Lederer nach Wien«, in: Ursula Seeber (Hg.): Asyl wider Willen. Exil in Österreich 1933-1938, Wien 2003, S. 50-55; Evelyne Polt-Heinzl: »Von der Unfreundlichkeit des Lebens. Joe Lederer (1904 – 1987)«, in: dies. (Hg.): Zeitlos. Neun Porträts. Von der ersten Krimiautorin Österreichs bis zur ersten Satirikerin Deutschlands, Wien 2005, S. 120-139; Hiltrud Häntzschel: Irmgard Keun, Reinbek bei Hamburg 2001. Auf die genannten Parallelen als solche wurde in der bisherigen Forschung noch nicht hingewiesen. 6 Vgl. E. Polt-Heinzl: Von der Unfreundlichkeit des Lebens, S. 122. 7 Vgl. H. Häntzschel: Irmgard Keun, S. 7. 8 Vgl. E. Polt-Heinzl: Von der Unfreundlichkeit des Lebens, S. 120f.; G. Heidegger: ›Zuflucht‹ in der Heimat?, S. 50. 9 Vgl. Robert Neumann: Vielleicht das Heitere. Tagebuch aus einem andern Jahr, München 1968, S. 326. 10 Vgl. Peter Panter [d.i. Kurt Tucholsky]: »Auf dem Nachttisch«, in: Die Weltbühne 28 (1932), H. 5, S. 180.

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Maren Lickhardt Neben der Reduktion beider Schriftstellerinnen auf deren persönliche Attribute akzentuieren Neumann und Tucholsky den Unterhaltungswert von Das Mädchen George11 sowie Gilgi – eine von uns12 und Das kunstseidene Mädchen13, durch den die Romane sehr schnell zu nationalen und internationalen Bestsellern ihrer Zeit avancierten.14 Melodramatische Strukturen, speziell der Wechsel von Glück und Unglück, spielten eine entscheidende Rolle. Das Mädchen George (1928) erzählt das Schicksal der jungen George Bruckner, die von ihrem geliebten Vater über die Maßen verwöhnt und mit Glücksversprechen umgarnt wird. Nach dessen frühem Tod erlebt die nun orientierungslose, aber an ihre Bestimmung glaubende George einen Theaterbesuch, auch aufgrund der Bewunderung für den Hauptdarsteller, als epiphanes Ereignis. Sie beschließt, dass eine Theaterkarriere ihren Anspruch auf Glück einlösen soll und erbettelt sich Unterricht von dem alternden Schauspieler. Nach einer im Keim erstickenden, unglücklichen Affäre mit ihm vergeht jedoch auch der Wunsch nach einer Theaterkarriere. Verschuldet und ohne Perspektiven entscheiden George und ihre Mutter, dass George die reichen Verwandten ihres Vaters um Hilfe bitten soll. Bei ihrer Tante Helene aufgenommen, fügt sich George in deren Welt, bis Helene ihren toten Vater als Taugenichts verunglimpft, woraufhin jene das Haus der Tante verlässt. Es folgt eine typische Romanepisode der zwanziger Jahre. George wird Sekretärin, dann im Zuge der schlechten Wirtschaftslage arbeitslos. Ihr Unglück wendet sich jedoch rasch, als sie als Privatsekretärin des älteren, ernstlich kranken Gilbert Horst arbeiten kann – einem Übersetzer wissenschaftlicher Werke, der sein Leben mit Arbeiten, Reisen und Frauen zubringt. George begleitet Gilbert auf seinen Reisen. Sie sorgt für ihn, verhilft ihm zu seiner Heilung, es beginnt

11 Joe Lederer: Das Mädchen George, hg. v. Hartmut Vollmer, Hamburg 2008. Im Folgenden zitiert unter der Sigle MG. 12 Irmgard Keun: Gilgi – eine von uns, München 2003. Im Folgenden zitiert unter der Sigle G. 13 Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, hg. v. Stefanie Arend u. Ariane Martin, Berlin 2005. Im Folgenden zitiert unter der Sigle KM. Zu dessen Beurteilung seitens Tucholsky vgl. ders.: »Das kunstseidene Mädchen. Roman von Irmgard Keun«, in: Gewerkschafts-Archiv. Monatsschrift für Theorie und Praxis der gesamten Gewerkschaftsbewegung 9 (1932), Bd. 17, H. 1, S. 37f. 14 Von Das Mädchen George wurden 80.000 Exemplare verkauft (vgl. Hartmut Vollmer: »Nachwort«, in: MG, S. 170). Gilgi erreichte im ersten Erscheinungsjahr eine Auflage von 30.000 Exemplaren (vgl. H. Häntzschel: Irmgard Keun, S. 31), während Das kunstseidene Mädchen eine Auflage von 50.000 vorzuweisen hatte (vgl. Anke Berns: The Reception of the Literary Work of Irmgard Keun, Ann Arbor 2004, S. 24).

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Ästhetik der Oberfläche eine unglückliche Affäre. Sie liebt ihn hartnäckig, während er sich wechselnden Liebschaften zuwendet und sie immer wieder von sich stößt. Als George entdeckt, dass sie nun selbst schwer krank ist, verlässt sie Gilbert unter dem Vorwand, ihre Mutter besuchen zu wollen, um allein auf einem Schiff zu sterben. Gilgi – eine von uns (1931) handelt von der jungen Angestellten und ›Neuen Frau‹ Gilgi, die anfangs im neusachlichen Habitus glaubt, ihr Leben im Griff zu haben, die explizit keinen Glücksversprechungen und Wunschträumen im Sinne der seit den zwanziger Jahren verbreiteten Hollywoodklischees nachhängt, sondern präzise Pläne für ihr berufliches Vorankommen verfolgt – eine in der Weimarer Republik nicht weniger verbreitete Ideologie von Erfolg und Glück. Einen ersten Einbruch erfährt Gilgis starres Lebenskonzept, als sie erfährt, dass sie adoptiert wurde. Auf der folgenden Suche nach ihrer leiblichen Mutter passiert sie verschiedene gesellschaftliche Milieus, welche ihr die Zufälligkeit oder Schicksalhaftigkeit von Glück und Erfolg vor Augen führen, wodurch sie ihr Leistungsdenken relativiert. Parallel dazu beginnt sie eine sich zunehmend aussichtslos gestaltende Beziehung mit dem älteren Schriftsteller und Bohemien Martin, der ihr geordnetes Leben vollends destabilisiert. Unglücklich und mittlerweile arbeitslos wird sie ungewollt schwanger und erwägt eine Abtreibung, weil sie nicht weiß, wie das Kind versorgt werden soll. Es kommt noch zu einigen weiteren dramatischen Zuspitzungen, bis Gilgi am Ende an einem Bahnhof steht. Sie hat Martin verlassen und ist auf dem Weg nach Berlin, wo sie das Kind bekommen und allein aufziehen möchte. Das kunstseidene Mädchen (1932) ist die Ich-Erzählung der jungen Doris, die im Gefühl ihrer Besonderheit ein Tagebuch führt, um sich darin vor allem in filmischen Modi programmatisch selbst zu inszenieren. Von ihrem Freund Hubert wurde sie vor dem Einsetzen der Erzählung verlassen; ihren Beruf als Sekretärin verliert sie zu Beginn des Romans aufgrund ihrer Weigerung, sexuell mit dem Chef zu verkehren. Doris versucht daraufhin ihr Glück beim Theater, wo sie sich listig einen gewissen Status verschafft und einen Auftritt erschleicht, aufgrund dessen sie sich – berauscht vom Zuspruch ihrer Verehrer – als ›Glanz‹ imaginiert. Am Theater nimmt sie dann aber einen fremden Pelzmantel an sich, um Hubert bei einem Wiedersehen zu beeindrucken. Aufgrund unglücklicher Umstände, aber auch, weil sie sich in dem Mantel erhoben und geborgen fühlt, kann und will sie ihn nicht mehr zurückgeben und flieht aus diesem Grund vor der Polizei nach Berlin. In der Metropole durchlebt sie in persönlichen Höhen und Tiefen die so genannten ›goldenen‹ zwanziger Jahre; sie verkehrt in Szenecafés, hat Affären mit reichen Liebhabern und bleibt dabei immer auf der Suche nach dem ›Glanz‹ – dem Besonderen, dem Großen, dem Glück. Schließ-

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Maren Lickhardt lich krank und mittellos trifft sie kurz vor ihrem ersten Versuch, als Prostituierte zu arbeiten, auf Ernst. Dieser – selbst unglücklich, weil er von seiner Frau verlassen wurde – nimmt sie in seine Wohnung auf, wo Doris nach und nach die Rolle der Hausfrau übernimmt. Zunächst zu ihrer Irritation, später zu ihrem Missfallen ist Ernst an Doris als Frau nicht interessiert. Als er sie endlich küsst, nennt er sie aus Versehen beim Namen seiner Frau, woraufhin Doris ihn enttäuscht verlässt und eine Versöhnung zwischen dem Ehepaar arrangiert. Aus Mangel an besseren Aussichten gedenkt sie am Ende eine Beziehung zu dem einfachen Händler Karl einzugehen, der abseits der Stadt in einer Laubenkolonie lebt. Gleichzeitig konstatiert sie, dass es auf den ›Glanz‹ vielleicht überhaupt nicht ankommt.

Melodramatisches Glück als reflexives Rezeptionsspiel – Das Mädchen George In Das Mädchen George dominieren die Motive und Stilelemente der Trivialliteratur. Anhand einer jungen Protagonistin, die Großes von ihrem Leben erwartet, werden Glück und Unglück15 gekoppelt an Liebe und Liebeskummer, Reichtum und Armut sowie Gesundheit und Krankheit auf leicht zugängliche Weise durchgespielt. Dabei eröffnet der Text oftmals Leerstellen,16 die erst beim Leser, wenn er diese aufzufüllen versucht, die Emotionalisierung bewirken, die jener selbst nicht genau ausgestaltet. Streitigkeiten (MG 32), Tren-

15 Ulrike Tanzer bemerkt in Anlehnung an Georg Kamphausen, dass es »auf die dialektische Struktur des Glücks […] zurückzuführen [ist], dass dies oft in Verbindung mit Unglück, Leid und Verzweiflung geschieht«; Ulrike Tanzer: »Kein guter Stoff für Dichter? Das Glück in der Literatur«, in: Gerda E. Moser u.a. (Hg.): »Klug und stark, schön und erotisch«. Idyllen und Ideologien des Glücks in der Literatur und in anderen Medien, Innsbruck 2006, S. 27. Vgl. dazu auch Georg Kamphausen: »Recht auf Glück? Pragmatisches Glücksstreben und heroische Glücksverachtung«, in: Alfred Bellebaum (Hg.): Glück und Zufriedenheit. Ein Symposion, Opladen 1992, S. 88. Der Fokus der hier behandelten Romane bleibt stets auf das Glück selbst gerichtet, da auf der Folie der Trivialliteratur Unglück immer die Lesererwartung nach Glück forciert, also vorausgesetzt wird, dass Glück das letzte Wort hat. Dass die Romane dies am Ende nicht einlösen, ändert nichts an der Evokation dieser Erwartung. 16 Vgl. Wolfgang Iser: »Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa«, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 234-245. Nun sind Leerstellen und die darauf basierende Aktivität des Lesers in der Literatur bzw. bei deren Rezeption nicht selten oder ungewöhnlich, in Lederers Roman wird die besagte Struktur jedoch, wie zu zeigen sein wird, reflektiert.

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Ästhetik der Oberfläche nungen (MG 41), hoffnungsvolle Aufbrüche (MG 67), Sexualität (MG 46, 92), angstvolle Momente (MG 89) und Traurigkeit (MG 78) werden von Leerzeilen unterbrochen oder gefolgt, die eine eindrückliche Zäsur darstellen. Sie dienen der Raffung des Textes, der nach den Leerzeilen an einem späteren Punkt der erzählten Zeit wieder einsetzt, und sparen dabei zumeist Wesentliches aus, deuten existentielle Momente und Emotionen der Figuren nur an, gestalten sie aber nicht bzw. führen sie nicht weiter. Die Andeutungen haben den Effekt, dass der Leser die Lücke zwischen den Textpassagen leicht schließen kann; deren emotionale Ausrichtung erzwingt die Auffüllung geradezu. Glück und Unglück werden so oftmals – wörtlich zu verstehend – zwischen den Zeilen ausgehandelt, wodurch die Zustände erst im Prozess des Lesens bzw. Imaginierens entstehen. Der Text selbst muss sie nicht konkret, detailliert und plastisch entwerfen, sondern der Leser kann sie vor dem Hintergrund seines eigenen Erwartungshorizonts rekonstruieren. Andererseits werden glückliche oder unglückliche Momente fast aufdringlich benannt, indem sich der Text über exaltierte, existentiell und emotional aufgeladene Vokabeln konstituiert. Diese sind jedoch, ebenso wie die Auslassungen, wenig abgestuft und wirken somit bei genauerem Hinsehen letztlich ungreifbar. Es herrscht ein Mangel an Motivation der glückseligen oder verzweifelten Zustände, die lediglich mittels isolierter oder lose gereihter Worthülsen bezeichnet werden. Nachdem George Schauspielunterricht bei Rudolf Koerber errungen hat, läuft der Innere Monolog ab: »Jetzt ist in einer einzigen Stunde alles anders geworden, die Tür aufgeflogen, die ins Leben führt!« (MG 30) Später reagiert George auf Koerbers Begrüßung »zusammengeduckt vor Glück und Entzücken« (MG 35). Seine Berührung verursacht den Inneren Monolog: »Alle Süßigkeit ist das, Angst, Fieber. Sinkt ins Blut, lockt, peitscht, hetzt!« (MG 39), und nach der Trennung ist »[d]as ganze Leben zusammengestürzt, verdorben, sinnlos geworden« (MG 42). Mit ebenso radikalen wie abstrakten Begriffen geht es aus Sicht der Protagonistin, entzündet an kleinen Anlässen, auf und ab. Es geschehen »Wunder« (MG 67), indem George eine Arbeitsstelle bei Gilbert Horst findet; George zittert vor »Glück und Aufregung« (MG 70), wenn ihre Vorfreude zum Ausdruck gebracht werden soll; sie hinterfragt ängstlich ihr »Glück« und das »Wunder« (MG 75), als es mit der Arbeit scheinbar allzu gut läuft; das Hinterfragen der Situation bereitet ihr letztlich »Kummer« (MG 78); und immer wieder werden generalisierend die »schöne Welt« (MG 95), die »ganze Welt« (MG 98) und das »ganze Leben« (MG 98) beschworen. In Das Mädchen George geht es schlechterdings immer auf das Ganze, das selten differenziert, sondern mit viel wollenden und wenig sagenden Vokabeln in den textuellen Raum gestellt wird, wobei ›Glück‹ und ›Un-

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Maren Lickhardt glück‹ permanent alterieren. Auch der Erzähler verwendet emphatische Begriffe, die das Szenario steigern (z.B. MG 59). Auf allen Ebenen gestaltet sich der Text aus den verabsolutierenden Vokabeln ›Glück‹ und ›Unglück‹ oder aus Paraphrasen dieser Begriffe, die zwar in ihrem jeweiligen Kontext ein wenig spezifiziert werden, aber aufgrund der unzureichenden motivationalen Verknüpfung letztlich ebenso pauschal bleiben wie die besagten Begriffe. Auf diese Weise bilden auch die explizitesten Aussagen Leerstellen, die erst der Leser vor dem Hintergrund seiner Lebens- und vor allem Lektüreerfahrung mit präziseren Vorstellungen und Empfindungen auffüllen muss. Diese Verwirklichung des im Text oft nur schlagwortartig eingeworfenen Glücks oder Unglücks in der Phantasie des Lesers, die mit dessen textuell motivierter Involvierung und Emotionalisierung einhergeht, transformiert Glück und Unglück in Phänomene der Rezeption, die auf den Text (rück)übertragen werden. Dies kennzeichnet eine ganze Reihe von Unterhaltungstexten; in Lederers Roman ist aber darüber hinaus in Ansätzen eine reflexive Verhandlung der textuellen Gestaltung des (Un)Glücks sowie der Rolle des Lesers in diesem Prozess zu erkennen. Am Ende der erzählten Geschichte, als George sich einsam und todkrank für eine Tanzveranstaltung herrichtet, wird dies mit dem Kommentar versehen: »Parfüm: Narcisse noir. Aufgespart für die Zeit, ›in der man Unglück hat‹« (MG 162). Die Anführungszeichen der Formulierung markieren deren Klischeehaftigkeit. Sie indizieren so, dass eine Verhaltens- und Schreibschablone aufgegriffen wird, die aus dem Leben, der Literatur und der kommerziellen Werbung vorgegeben ist. Der Erzähler erzählt die zum Klischee geronnene Handlung nicht mehr selbst. Indem er ein Zitat vortäuscht, distanziert er sich von der dieserart als fremd ausgewiesenen Aussage, wodurch die Vokabel demontiert wird, deren semantisches Feld fast den gesamten Roman einnimmt: das »Unglück«. Es deutet sich an, dass der Text weniger an der Produktion von Glück und Unglück beteiligt ist, da dieses schon anderweitig konstruiert und codiert wurde und aufgrund einer formelhaften textuellen Aktualisierung erst vom Leser wieder konkret entfaltet wird. In zwei besonders expressiven und emphatischen Textpassagen liegen solche reflexiven Konstruktionen vor. George erringt von dem Schauspieler Rudolf Koerber die Zusage, sie zu unterrichten. Sie erzählt ihrer Freundin Franzi von ihrem »großen Sieg« (MG 30), woraufhin diese ihre Liebschaften anführt: »[Franzi] hält atemlos eine große Rede, klebt in Eile auf all das Zarte und Zärtliche ihre verschmierten Etikette. George ist wehrlos und schweigt.« (MG 31) Anschließend bietet Franzi George jovial ihre Hilfe an. »›Frag nur immer mich! Unruhe, Gefahr, Verwirrung – ich kenn die ganze Szenenfolge. Aber mach dir keine Sorgen: Du hast mich! Und du liebst

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Ästhetik der Oberfläche ihn ja!‹« (MG 31) Nach dieser Aussage kommt es zum plötzlichen Bruch zwischen Franzi und George. Figurenpsychologisch gedeutet resultiert der Streit zwischen den Freundinnen daraus, dass George ihre Verbindung zu Koerber nicht profanisieren lassen möchte, indem sie mit Franzis zahlreichen Flirtgeschichten gleichgesetzt und dadurch als vergleichbar, bekannt und trivial ausgegeben wird. Die Protagonistin erlebt sich als etwas Einzigartiges und Besonderes und möchte diesen Status gewahrt wissen. Indem aber der Erzähler Franzis Einordnung von Georges Empfinden als »verschmierte[..] Etikette« beschreibt, und Franzi diese als »ganze Szenenfolge« bezeichnet, werden sie nicht nur als Stereotyp verallgemeinert, sondern es kommen Wertungen zum Ausdruck, die auf künstlerische Aussageweisen bezogen werden können. Die »verschmierten Etikette« erinnern an den Sensationalismus und Voyeurismus der ›Schundliteratur‹, zeigen also, welchem Dichter- und Leserhorizont Franzis Einordnungen entstammen. Der Ausdruck »Szenenfolge« verweist darauf, dass dieser in bestimmten Dramen vorcodiert ist, aus denen sich die Theatralik des gesamten Romans und dieser Szene speist. Die Erzählung deutet an, dass in ihr Muster durchgespielt werden, die aufgrund der künstlerischen Vorvermittlung trivialisiert sind, und markiert so die Reflexivität des Textes, der sich jener Ästhetik bedient und sie gleichzeitig demontiert. Der Leser erhält die Möglichkeit nachzuvollziehen, dass die Zusammensetzung der Fiktion von klischeebesetzten Vokabeln eines allgemeinen Schablonenvorrats beeinflusst ist, und dass auch seine eigenen, durch die Leerstellen erzwungenen Vorstellungen von Glück und Unglück auf dessen Kenntnis beruhen. Ähnliches vollzieht sich bei der Trennung zwischen George und Koerber. Bei einer Probe will Georges Textzeile »›… aber eines Tages, da kommt die Jugend her …‹« (MG 36), die Konstellation zwischen der jugendlichen George und dem alternden Schauspieler andeutend, nicht gelingen. Der verärgerte Koerber »klappt mit einem Knall das Buch zu, wirft es auf gut Glück in die Schreibtischgegend« (MG 36). Es entspinnt sich ein Dialog darum, dass Koerber George in ein Engagement entsenden möchte, was George als Mittel durchschaut, sich ihrer zu entledigen. Während des Gesprächs kommt es zur Steigerung von Koerbers Missmut durch den Anblick des Buches: »Aber im nächsten Moment springt Koerber auf. Er stolpert über das Buch, das noch am Boden liegt. Eine Weile sieht er es zornig an – ›aber eines Tages, da kommt die Jugend her …‹ – und stößt es mit dem Fuß zur Seite.« (MG 37) Daraufhin formuliert Koerber nun die Plattitüden, er sei zu alt für George und wolle nach der Trennung von seiner Frau endlich keine Verletzungen mehr erleiden. Georges schmerzvolle Reaktion wird als sprachloses körperliches Empfinden in einer Bewegung durch den Raum gestaltet:

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Maren Lickhardt »George hockt noch immer neben dem Fauteuil, den Mund von einem großen lautlosen Schrei verzerrt. Was hat sie ihm getan, daß er sie so elend macht! […] Sie steht auf, will zu ihm. Das Zimmer torkelt wie ein Schiff.« (MG 38)

Wie in einer Regieanweisung folgt der Erzählerkommentar: »Hinter seinem Rücken fällt etwas auf den Teppich nieder, ohne viel Lärm zu machen. – – – « (MG 38). George ist in Ohnmacht gefallen. Es handelt sich bei der Trennung um die von Franzi antizipierte »Szenenfolge«. Plötzlich und abrupt steigern sich Rede, Gedankenrede sowie erzählerisch vermittelte Empfindungen der Figuren um die trivialisierten Themen Liebe, Angst und Schmerz. Die Stereotypie des Geschehens wird aber nicht nur als lebensweltliches, sondern reflexiv als literarisches Phänomen behandelt. Es vollzieht sich in der Passage eine Szenenfolge aus dem Drama, das die Figuren in der Episode proben. Thematisch wird in dem geprobten Stück das Thema Jugend angerissen, das zwischen George und Koerber relevant ist. Das Setting der Theaterprobe unterstreicht die Dramatik der Episode, welche Emphase und Pathos birgt, die zudem dialoglastig gestaltet ist wie eine Theaterszene, in der Figurenbewegungen räumlich choreographiert sind wie auf einer Bühne und die von Erzählerkommentaren durchzogen ist wie von Regieanweisungen. Das geprobte Drama gibt Handlung und Struktur der Episode vor. Zudem durchschaut Koerber mittels der zitierten Dramenzeile die Klischeehaftigkeit seiner Situation – ein metafiktionaler Hinweis auf seinen Textstatus als Figur des alternden Liebhabers in einem schlechten Stück. Der Leser wird nicht nur in seinen Reaktionen gesteuert, indem präformierte und bekannte Versatzstücke als sichere Reize für emotionale Reaktionen eingesetzt werden, sondern er kann durch die Reflexivität des Textes dessen Stereotypie, vor allem aber die seines eigenen Denk- oder Empfindungshorizontes erkennen, aufgrund dessen sich die textuellen Reize erst zu Glück und Unglück vollenden, d.h. der Leser kann das Textglück nicht nur ›realisieren‹, sondern diesen Prozess wieder dekonstruieren. Jene Rezeptionsseite, die Wahrnehmung und Verarbeitung von Glück, schwingt im Text mit, indem die Figuren in ihrer Charakterisierung darauf reduziert werden, auf welche Weise sie nach dem Glück jagen oder Unglück bewältigen. Glück und Unglück erscheinen als schicksalhaftes Auf und Ab äußerer Umstände, die thematisch um Liebe, Gesundheit und Wohlstand kreisen. Dieser Textbewegung folgt die Protagonistin – und mit ihr der Leser – zunächst aus einer involvierten Perspektive mit Reaktionen von Freude und Leid.17 17 Zu Beginn des Romans ranken sich die Darstellungen zwar um das Glücksoder Unglücksempfinden der Protagonistin. Diese sind jedoch noch an die schicksalhaften Umstände – an Glück oder Unglück haben – gebunden.

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Ästhetik der Oberfläche Die Protagonistin ist durch die Glückswechsel affiziert, was darin zum Ausdruck kommt, dass sie in den ersten zwei Dritteln als Soldat präsentiert wird, der um Glück bzw. gegen Unglück kämpft. Als Georges Vater, François Bruckner, seiner Tochter mitteilt, dass er sterben muss, wirft er eine glühende Zigarette weg, und Vater und Tochter singen Zeilen aus dem Militärmarsch It’s a long way to Tipperary von Jack Judge (MG 12), der im Ersten Weltkrieg populär wurde. Das Lied handelt von einem Iren, den es nach London verschlagen hat und der die Stadt wieder verlassen möchte, um zurück nach Tipperary zu gelangen, wo seine Geliebte auf ihn wartet, wo sein ›Herz‹ ist. Tipperary erscheint trotz der salopp abgehandelten Liebesthematik als ferner, durchaus arkadischer Ort, dessen Ersehnen durch den langen Weg zum Ausdruck gebracht wird. Nachdem ihr Vater gestorben ist, greift George das Lied auf (MG 16). Es steht für ihre Trauer und die Sehnsucht nach dem Vater, der für sie Orte bzw. Momente des Glücks repräsentiert. Im weiteren Textverlauf kommen die soldatischen Konnotationen des Militärmarsches deutlicher zum Ausdruck. George kämpft mit Koerber um ihren Schauspielunterricht wie ein »tapferer Soldat« (MG 27); nachdem die Aussicht auf eine Theaterkarriere beendet ist, bezeichnet sie sich selbst als »[v]erlorener Krieger auf verlorenem Posten« (MG 43); als sie sich von Gilberts Welt ausgeschlossen fühlt, aber auf seine Frage nach ihrem Befinden bewusst nicht mit dem erwarteten emotionalen Ausbruch reagiert, nennt Gilbert sie in Gedanken »braver Soldat« (MG 78). Nachdem George sich restlos in Gilbert verliebt hat, spricht sie zu ihm, während er schläft. In dem imaginierten Zwiegespräch gesteht sie, dass er das große Glück ist, auf das sie ihr ganzes Leben gewartet hat. Dies erscheint durch den Verweis auf den Militärmarsch als Sieg über das Schicksal, wie er für das Ende von Trivialromanen typisch ist. »Es ist ein langer, langer Weg nach Tipperary… ich war gezwungen, einmal zu übernachten. Aber an diesem fremden Bett und an der grauen Villa, an allem bin ich vorbeigelaufen. Ohne mich umzusehen. Wer einen langen Weg zu gehen hat, muß sich beeilen, Gil.« (MG 104)

Sämtliche Aufwärts- und Abwärtsbewegungen in Georges Leben und im Text erscheinen als Stationen auf dem Weg zum Liebesglück, zu Heimatgefühlen und Geborgenheit, die George bei Gilbert gefunden zu haben glaubt. Er wird nun zu dem Ort verklärt, an dem ihr ›Herz‹ ist. Damit endet der Roman jedoch nicht, und nachdem Gilbert sie fortlaufend auf Distanz hält und betrügt, kommt es Das Rad der Fortuna nach einem traditionellen Verständnis ist am Werk. Vgl. Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten, München 1997, S. 179f.

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Maren Lickhardt zum Selbstmordversuch der Protagonistin. George wirft einen Zigarettenstummel ins Wasser, singt den Refrain des Marsches zum ersten Mal zu Ende und nimmt Gift. Sie hat erkannt, dass sie das Auf und Ab der äußeren Umstände im Kampf nicht ändern, ein glückliches Schicksal nicht erzwingen kann, weswegen sie beschlossen hat loszulassen. Ihr Suizidversuch gelingt jedoch nicht, wodurch im Roman ein weiteres Konzept von Glück zum Tragen kommen kann, das wiederum an Georges Vater gebunden ist. François Bruckner wird als »Phantast« (MG 5) beschrieben, der sich durch Erhabenheit18 über das Vorhandensein von oder den Mangel an Liebe, Erfolg und Gesundheit auszeichnet. »François Bruckner, Oberbuchhalter der Firma Winter & Glück, war der Vater des Mädchens George. Er stammte aus einem alten und reichen Hause und war, ein liebenswürdiger, leichtherziger Vagabund, knapp vor dem Abitur seiner Familie entlaufen, um sein eigenes Leben zu leben. Er hatte zwanzig Jahre lang versucht, sich einen Weg zu schaffen, hatte in Hunger und Elend noch immer von dem großen Glück geträumt, das eines Tages kommen würde, kommen mußte. War Adressenschreiber, Hauslehrer, Bürobeamter gewesen. Als Oberbuchhalter der Firma Winter & Glück, unter der Fuchtel der beiden Chefs, niedergedrückt vom Prokuristen, war er noch immer hoffnungsvoll, noch immer der heitere, glänzende Sohn eines vornehmen Hauses, im abgetragenen Mantel der große Herr.« (MG 5)

18 Die Prä- und Absenz von Liebe, Erfolg und Gesundheit stellen in der Ästhetik keine erhabenen Gegenstände dar. Dies gilt noch weniger für deren trivialisierte Varianten, wenn sie aus der Außenperspektive betrachtet werden. Aus der Innenperspektive der Trivialliteratur erscheinen sie jedoch gewaltig und total. »Diese Frauen [in Lederers Romanen; M.L.] erleben die Liebe stets als schicksalhafte Naturgewalt, der sie im Guten wie im Bösen ausgeliefert sind.« (Eva Chrambach: »Texte, leicht wie Flaumfedern«, in: Unser Bayern 53 (2004), H.10, S. 156) Dem ebenbürtig oder überlegen zu begegnen, was in den Texten sehr wohl anzutreffen ist, lässt sich allerdings mit dem klassisch-ästhetischen Begriff der Erhabenheit bezeichnen, wenn akzentuiert werden soll, dass sich die Figur mit dieser Gewalt messen kann (vgl. Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. X. Kritik der Urteilskraft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1957, S. 349). Dieser Begriff im ästhetischen Sinn ist im vorliegenden Kontext jedoch insofern nicht ganz schlüssig, als er traditionell, von Kant her, als Vernunftbegriff verstanden wird (vgl. ebd., S. 329-331), es in den behandelten Romanen jedoch um sinnliche Phänomene geht. Der Begriff der Erhabenheit im alltagssprachlichen Sinn nähert sich eher der Haltung der Figur. Mehr noch kann sie als Erhebung, Transzendierung oder Übersteigerung des Lebens im ästhetizistischen Sinn aufgefasst werden, die beispielsweise in Friedrich Nietzsches lebensphilosophischer Ästhetik zum Ausdruck kommt (vgl. Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd.1, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, S. 17).

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Ästhetik der Oberfläche Nicht allein in der zeitweiligen Rolle als Oberbuchhalter der Firma Winter & Glück erweist sich Georges Vater als überlegener, hoffnungsfroher bis gleichmütiger Verwalter von Soll und Haben, Unglück und Glück, welches im Leben bzw. im Text auf- und abgebucht wird. Von seiner monotonen Arbeit, seiner Kündigung und dem folgenden Geldmangel bleibt er im Grunde unbetroffen (MG 6), weil er sein Lebensglück auf das Besondere projiziert, das jenseits konkreter Verwirklichungsmöglichkeiten liegt und nur als Ahnung und fernes Ziel in Aussicht steht, somit auch von konkreten Ereignissen nicht getrübt werden kann. Mit dieser Haltung steigert die Figur die Unschärfe der Glücksvorstellungen, die der Text anzubieten hat. Noch weniger als in Bezug auf die zuvor behandelten Leerstellen kann sich der Leser vorstellen, worauf François’ Lebenstraum hinauslaufen soll, außer im Allgemeinen und Abstrakten dem »Glück nachzulaufen« (MG 6), wobei er, weil es im Text wörtlich genommen wird, bezeichnenderweise von der Straßenbahn stürzt, und später »lächelnd […] um das bißchen süße Leben« (MG 13) kämpft, währenddessen er stirbt. Glück ist für diese Figur keine Kategorie des Schicksals, sondern der Haltung, eine Frage von Stil, Form und Auffassung. Dies deutet die Operationen an, die Text und Leser bei der Produktion von Glück tätigen müssen, das so stärker im Prozess der ästhetischen Produktion und Rezeption zu liegen scheint, als es im Text als fixierbarer ›Inhalt‹ entworfen wird.

Glück als L’art pour l’art – Das Mädchen George und Gilgi Dass im Roman der ästhetische Schein, der sich erst in der Rezeption verwirklicht, Vorstellungen von Substanz und Inhalt vorgezogen wird, klingt durch François’ Gestaltung als Ästhet an. Während seine Frau Marie mit harter Arbeit für die Familie sorgt, pflegt er seine Erhabenheit über Alltägliches, seinen Stolz und seine Attitüden, gönnt George eine Erziehung, die seiner finanziellen Situation nicht angemessen ist, und lehrt sie – ganz dekadent –, Reichtum zu achten, auch wenn man Geld nur braucht, »um es zum Fenster hinauszuwerfen« (MG 10). Ihm liegt nicht nur George mit einer »glühenden Leidenschaft« (MG 10) zu Füßen, sondern auch seine Frau kommt trotz Geldmangel seiner Auffassung entgegen, dass er im Krankenhaus in einem Einzelzimmer liegen muss, weil er nicht mit »Mob und Snob« (MG 7) in einem Saal liegen könne. Schließlich empfängt er im Krankenhaus – durchaus narzisstisch – die unterschiedlichsten Besucher, die »nur eines [verband]: François zu verwöhnen, zu lieben und zu bedauern« (MG 7).

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Maren Lickhardt Georges Vater ist mit seinem Hang zur ästhetischen Selbstinszenierung und -stilisierung ansatzweise als Dandy entworfen, der das Mädchen George wesentlich prägt. Angeregt von ihrem Vater, liest George gleich zu Beginn des Romans The Picture of Dorian Gray (1891) von Oscar Wilde, und sie rezitiert in stilisierter Manier zusammen mit François »Monologe, Gedichte, Prosastellen« (MG 11), die sie zusätzlich zum Einfluss ihres Vaters in ihrem Hang, ihr Leben zu ästhetisieren und zu übersteigern, ebenso inspirieren, wie Dorian Gray neben dem Einfluss des in gewisser Weise väterlichen Lord Henry Wotton von der Literatur zu seiner Selbststilisierung angeregt wird.19 François’ und Georges Blicke richten sich über die Wirklichkeit hinweg auf das Schöne, Besondere und Große jenseits von Ethik, Moral und Zweckmäßigkeit, wenngleich Fragen der Ethik und Moral im Gegensatz zum Dorian Gray in Das Mädchen George weniger zum Ausdruck kommen.20 Gemäß dem ästhetizistischen und dekadenten Referenzrahmen ist das Mädchen George in den Duft eines Narzissenparfüms gehüllt (MG 63, 153, 162), was Dorian Grays Typus des »Narcissus« (DG 9) wachruft.21 Zudem gibt der Vater George vor seinem Tod die Anweisung mit auf den Weg: »Du sollst groß werden, gut, glänzend. Du bist George!« (MG 12) Diese Forderung, die zunächst Vorstellungen von bestimmten Inhalten wie Karriere, Reichtum und Erfolg wachruft, ist an ästhetizistische Konzepte von Gestaltung und Stilisierung geknüpft. ›Glanz‹ wird auch im Dorian Gray als Ergebnis einer Stilisierung im künstlerischen Akt der Schauspielerei und als deren Wahrnehmung beschrieben, indem Dorian Gray seine Geliebte Sibyl Vane nach ihrem Theaterauftritt mit den Worten »There was a radiance about her« (DG 100) beschreibt. Dem Appell folgend möchte George »[e]twas Großes!« (MG 20) werden, was jedoch durch ihre Versuche, eine höhere Schulbildung zu erlangen und eine Theaterkarriere einzuschlagen, nicht verwirklicht wird. Überhaupt scheint sich der Wunsch nach dem ›Großen‹, ›Guten‹ und ›Glänzenden‹ einer Konkretisierung zu entziehen,22 wie 19 Vgl. Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray, London 1994, Kapitel 11. Im Folgenden zitiert unter der Sigle DG. 20 Im Dorian Gray spielen Ethik und Moral eine große Rolle, und dies nicht nur ex negativo. Dass Fragen der Moral im Mädchen George nicht im Vordergrund stehen, zeigt eine gewisse Geringschätzung der metaphysischen Kategorien, die im Dorian Gray noch wirksam sind. 21 Dass das Parfüm »Narcisse noir« heißt, stellt allerdings eine Opposition zu Dorian Grays Beschreibung von seiner Geliebten Sibyl Vane als »white narcissus« (DG 90) dar; knüpft also nicht nur an den Dandy selbst, sondern auch an dessen künstlerische Projektionsfläche an. 22 Im Roman ist öfter die Rede von ›Glanz‹. Georges Vater wird als der »glänzende Sohn« (MG 5) aus vornehmem Hause beschrieben, Georges Groß-

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Ästhetik der Oberfläche auch die großen Vokabeln stets leer bleiben. Erst an der Seite von Gilbert Horst und angesichts des Todes deutet sich eine Möglichkeit an, das Ziel zu erreichen. Als George eifersüchtig auf Gilberts Liebschaften reagiert, entwickelt sie in Erinnerung an ihren Vater eine innere Größe, mittels derer sie sich über das Geschehen erhebt, indem sie es hinnimmt, statt dagegen zu kämpfen. »Eifersüchtig! Geizig! Ein enges Herz! Hat sie nicht François versprochen, groß und gut zu werden? Ein kleines Herz, ein enges Herz! George prüft jedes Wort und fühlt am Ende ein bitteres Erstaunen, sich so arm zu finden.« (MG 109f.)

George beschließt, »sehend ins Unglück« (MG 113) zu laufen,23 wodurch sie sich gegen das Auf und Ab von Glück immunisiert. Sie begreift Gilbert als notwendiges Schicksal, dem sie mit Erhabenheit entgegen treten möchte (MG 127f.). Als sie realisiert, dass sie todkrank ist, steigert sich dies. In ihrem letzten Gespräch mit Gilbert erzählt sie ihm stolz, dass ihr Vater bewusst sein ganzes Leben verspielt hat (MG 147). Als geistiges Kind ihres Vaters begegnet sie ihrem Tod mit ästhetizistischen, nihilistisch-dekadenten Anklängen. »Wenn ich nochmals von neuem anfangen könnte, würde ich alles noch einmal tun. Auch das Fortgehn. Fortgehen und sagen: Danke für alles! Du bist gut! Du bist lieb! Du hast mich immer glücklich gemacht …« (MG 142)24

Gilbert bedeutet für George nicht nach den herkömmlichen Mustern der Trivialliteratur Liebesglück, er bildet den Anlass für die Figur, unabhängig von den Bewegungen der Handlung Contenance zu gewinnen. Glück wird vom äußeren Schicksal in eine innere Haltung transformiert. Dies bezieht sich weniger auf emotionale Stärke als auf eine ästhetische Attitüde der Übersteigerung, die nicht nur die fiktive Wirklichkeit aus der immanenten Figurenperspektive betrifft, mutter bringt schon in Georges Kinderzimmer den »Glanz« (MG 8) einer fremden Welt, die Protagonistin möge gemäß ihrem Vater »glänzend« (MG 12) werden, und diese liegt ihm nicht nur mit einer »glühenden Leidenschaft« (MG 10) zu Füßen, sondern sie »glüht und leuchtet vor Energie« (MG 22). Dabei wird der Glanz nie konkretisiert, sondern erweist sich, wie das Glück, als Modus der Textoberfläche. 23 Indem sie Gilbert sogar dabei unterstützt, eine angenehme Ehefrau zu gewinnen, handelt sie ähnlich wie die dekadenten Herren im Dorian Gray, die behaupten: »A man can be happy with any woman as long as he does not love her.« (DG 206) Jedoch verstärkt sie diese Aussage, indem sie davon ausgeht, dass auch die Frau ihrerseits Gilbert zu seinem eigenen Wohl nicht allzu sehr lieben dürfe (MG 140-142). 24 Nietzsches »Pessimismus der Stärke« (F. Nietzsche: Studienausgabe, Bd. 1, S. 12) deutet sich an, der eine Bejahung des Lebens in allen Facetten verbunden mit dessen künstlerischer Transzendierung impliziert.

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Maren Lickhardt sondern auch die Transzendierung des Verlaufs der Textgeschichte in einem metafiktiven Sinn impliziert.25 Mit ihren Lebensauffassungen tragen die Protagonistin und ihr Vater als poetologische Instanzen die hyperbolisch stilisierte Anlage des Textes und liefern gleichzeitig ein metafiktionales Beispiel für die Rezeption des Romans. Ebenso wie die Figuren Momente ihres Lebens übersteigern, indem sie ihnen mit Haltung, Form und Stil begegnen,26 wird Glück zur ästhetischen Frage nach Form und Stil der Textoberfläche, die den Leser starken Effekten um ihrer selbst willen aussetzt, ohne Aussage, Sinn und Bedeutung als ›Inhalt‹ zu fixieren. Unabhängig vom Geschehen, das mal Glück, mal Unglück evoziert, geht es um die Wertschätzung der Form,27 das Glück des Lesens, Erlebens und Vorstellens, das aus einer übergeordneten, erhabenen Perspektive in jeder Variante als schätzenswert ausgegeben wird. Für die Figuren und die Leser des Mädchen George scheint zu gelten, was im Dorian Gray als ästhetisches Programm entworfen wird: »teach me rather to forget what has happened, or to see it from the proper artistic point of view« (DG 128).28 Das Mädchen George greift in seiner melodramatischen Ästhetik, dem exaltierten Sprachduktus und der hyperbolischen Handlungsstruktur in gewisser Weise den Stil des wildeschen Ästhetizismus auf (vgl. DG 122f., 127). Außerdem wird die im Dorian Gray beschworene sinnlich wahrnehmbare Oberflächenästhetik29 sowie die Betonung der Rolle des Betrachters30 ausgehandelt. Die Lesererwartung nach Glück als ›Textsubstanz‹ wird in den ästhetischen Produktions- und 25 Metafiktiv bezeichnet hier eine Transzendierung der Geschichte (histoire) des Romans im Sinne Gérard Genettes (vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, 2. Aufl., München 1998, S. 15-17). Da der Fokus der Betrachtung auf der Ebene der Erzählung (discours) verbleibt, ist dies nicht zu verwechseln mit metafiktionalen Strukturen, die vor allem seit Robert Scholes’ entsprechendem Aufsatz Aussagen jenseits der Fiktion beschreiben (vgl. Robert Scholes: »Metafiction«, in: The Iowa Review 1 (1970), S. 100-115), die sich also gemäß Genette auf den narrativen Akt beziehen würden. 26 Vgl. auch Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Bd. 3, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, S. 530f. 27 Peter J. Brenner: »Das Glück in der Literatur«, in: Alfred Bellebaum (Hg.): Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme, Konstanz 2002, S. 256f. 28 So wird auch die auf den Boden fallende brennende Zigarette des den Tod erwartenden Vaters überhöhend und effektvoll als »winzige Sternschnuppe« (MG 12) ausgewiesen, die aufleuchtet und verglüht, was dem Leben von François, George und dem Text gleichkommt. Vgl. auch die Textstellen zum Begriff ›Glanz‹ in FN 22. 29 »To me, Beauty is the wonder of wonders. It is only shallow people who do not judge by appearances. The true mystery of the world is the visible, not the invisible.« (DG 30) 30 »It is the spectator, and not life, that art really mirrors.« (DG 6)

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Ästhetik der Oberfläche mehr noch Rezeptionsprozess verlagert; bewusste Wertschätzung des Lektürevergnügens an der übertriebenen, schillernden Anlage von Lederers Text soll demgemäß das Verlangen des Lesers nach einem identifikatorisch miterlebten Liebesglück als Romaninhalt übertreffen. Für alle Instanzen der Produktion und -rezeption wird der »artistic point of view« (DG) geltend gemacht: das poetologische Programm der Lust an der künstlichen Anlage des Romans oder des Glücks in der ästhetischen Wahrnehmung. Dieses Programm klingt – neben weiteren Parallelen31 – in Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns an. So reflektiert die Protagonistin Gilgi beim Besuch eines klassischen Konzerts naiv-komisch und doch scharfsinnig die Vielschichtigkeit von Kunstauffassungen und die Relativität von Kunstbewertungen, wobei ihre sinnliche Wahrnehmung und emotionale Befindlichkeit akzentuiert werden. »Und man sieht Bilder an, hört Konzerte. Im langen schwarzen Spitzenkleid sitzt Gilgi im großen Gürzenichsaal. Versucht ein stilvoll interessiertes Gesicht zu machen und hängt doch immer wieder mit den Augen an Martins hartem, gerecktem Profil. Hört Klänge, die langweilig sind, und hat große Lust, Martin einen Kuß zu geben. Hört Klänge, die ihr gefallen, und bekommt noch größere Lust, Martin zu küssen. Und kann’s gar nicht leiden, daß er nun mit was anderem beschäftigt ist als mit ihr, muß wenigstens einmal in sein Haar fassen. Will, daß er über irgendwas mit ihr lachen soll, ihr schnell mal sagen, warum manche Leute so blöde Gesichter und geschlossene Augen haben, wenn sie Musik hören – und nebenan sitzt ein dicker Mann, der atmet so laut im Takt der Musik, daß es beinah wie Schnarchen klingt… Pssssst machts in der Reihe hinter ihnen. Wie gereizte Kobraschlangen! […] Literatur, Musik, Malerei – ist so eine

31 Gilgis Beziehung zu ihrem älteren Freund Martin weist Parallelen zu Lederers Roman auf. Dieser – ein Bohemien (vgl. Doris Rosenstein: »Nebenbei bemerkt. Boheme-Gesten in Romanen Irmgard Keuns«, in: Jens Malte Fischer u.a. (Hg.): Erkundungen. Beiträge zu einem erweiterten Literaturbegriff. Festschrift für Helmut Kreuzer, Göttingen 1987, S. 214-218), der prinzipiell nicht arbeitet, von den Zuwendungen seiner reichen Familie lebt, sich sporadisch einem Roman widmet, zumeist aber durch Köln flaniert – erinnert an Georges Vater François Bruckner und heißt mit Nachnamen Bruck. Martin Bruck bringt Glanz in Gilgis Leben, was auch von François in Bezug auf Georges Leben betont wird. Dass die väterlichen Figuren mit ihren Haltungen nicht nur im Handlungsverlauf auf die Protagonistinnen einwirken, sondern sich in den Text einschreiben und ihn ästhetisch prägen (vgl. Maren Lickhardt: Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik als moderne Diskursromane, Heidelberg 2009, S. 115-118) zeigen die metafiktionalen Aussagen, dass François es liebte, »in großartigen Bildern zu sprechen« (MG 6), die Das Mädchen George in großer Menge birgt, und Martin »bunt sprechen kann« (G 77), was in Gilgi erzählerisch anhand eines ab diesem Zeitpunkt blumigeren Stils sowie der Variation der Farbe Orange (G 77, 179f.) umgesetzt wird.

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Maren Lickhardt Sache mit der Kunst. Was dem einen sein Hubermann – bleibt dem andern sein Dajos Bela, was dem einen sein Rembrandt ist – ist dem anderen sein Abeking. Was will man da machen? It’s a long way to Tipperary – it’s a long way to … there …« (G 144f.)

Während die populärkulturell geprägte Protagonistin aus kleinbürgerlichem Milieu mit mittlerem formalen Bildungsstand einen bildungsbürgerlichen Habitus imitiert, indem sie auf dem Konzert ein »stilvoll interessiertes Gesicht« aufzusetzen versucht, rezipiert sie die Musik auf der sinnlichen Ebene und lässt ihre Gedanken zerstreut schweifen. Die »Klänge« rufen bei ihr unmittelbare Empfindungen wie Langeweile und Gefallen hervor, und führen in jeder Variante zu dem Wunsch, ihren Freund Martin zu küssen. Dieser – Schriftsteller, Flaneur und ein Liebhaber hochkultureller Kunst – scheint ihr sehr zu ihrem Missfallen aufgrund seiner konzentrierten Rezeptionshaltung fremd. Sie bekommt ihn – ebenso wie die Musik – lediglich sinnlich zu fassen. Es kommt aber nicht zum ersehnten Kuss, der wechselseitig wäre, sondern sie streicht ihm nur einseitig durchs Haar. Gilgis sinnlicher, zerstreuter und unbedarfter Zugang zur Musik und ihre offene Haltung unterscheiden und entfernen sie von Martin und den übrigen Konzertbesuchern. Da der Leser letztlich nicht erfährt, was sich hinter den »blöde[n] Gesichter[n]« und »geschlossene[n] Augen« der anderen Konzertbesucher verbirgt, könnten diese zwar auch – sinnlich angeregt durch die Musik – ihre Phantasie schweifen lassen wie Gilgi, eine kleine Spitze gegen bildungsbürgerliches Gehabe, aber die Szene akzentuiert doch die Verschiedenheit der Rezeptionsweisen. Die Art der Rezeption und nicht die Kunst selbst steht im Vordergrund, d.h. ein sinnlicher, unmittelbarer und ein intellektueller, kulturbeflissener Zugang zu derselben Musik werden einander gegenübergestellt. Dabei wird keine Umkehrung der traditionellen hochkulturellen Wertungsschemata vorgenommen, anhand derer ein kulturelles und ästhetisches Gefälle postuliert wird, in der vorgeblichen Orientierung an der Substanz und Qualität von Kunst. Stattdessen vollzieht sich eine dimensional verschobene gleich-gültige Betrachtung, indem diese im rezipierenden Subjekt verankert wird. Aufgrund jener geänderten Betrachtungsebene verschiebt sich die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur nicht, sondern sie verwischt.32 Sämtliche Kunstformen werden Spielball relativistischer sinnlich-ästhetischer oder emotional-ästhetischer Tendenzen. Vorgeführt wird dies anhand unterschiedlicher zeitgenössischer Künstler. Der Plakatkünstler und Buchillustrator Hermann Abeking wird ausdrücklich mit 32 Vgl. Lorna Jane Sopcak: The Appropriation and Critique of the Romance Novel, Film and Fashion in Irmgard Keun’s Weimar Prose. Humor, Intertextuality and Popular Discourse, Ann Arbor 1999, S. 94f.

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Ästhetik der Oberfläche Rembrandt auf eine Ebene gestellt. Ebenso stehen der als großer Künstler seiner Zeit geltende Bronislav Hubermann und der hoch populäre Stargeiger, d.h. Unterhaltungsmusiker Dajos Béla für Gilgi gleichberechtigt nebeneinander. Das Gefallen, das beide Künstler jeweils erwecken können, wird gleichgesetzt, indem Kategorien der Rezeption wie Unterhaltung, sinnliche Stimulation und persönliche Präferenz statt ›Substanz‹ angelegt werden. Der Soldatenmarsch It’s a long way to Tipperary fügt sich nicht stimmig zu den anderen intermedialen Verweisen, da er ohne hochkulturelles Pendant als unüberlegter Assoziationsfaden in den Gedanken der Figur erscheint. Aufgrund anderer Parallelen zwischen Keuns und Lederers Roman kann davon ausgegangen werden, dass weniger der Marsch als solcher als Das Mädchen George aufgerufen wird. Gilgi entzieht sich nicht nur selbst mit der zitierten Passage seiner vorhersehbaren Marginalisierung und Trivialisierung seitens der Verfechter traditioneller Bewertungsmaßstäbe, sondern bezieht die kulturelle und ästhetische Aufwertung auch auf Lederers Roman. Beide Texte werden legitimiert, indem als eigenständige ästhetische Kategorie das Gefallen angesehen wird, das sie – für Das Mädchen George zu jenem Zeitpunkt anhand der Rezeption belegbar – erwecken. Der Verweis auf Lederers Roman ist gerade durch die Betonung des Rezipienten und dessen Wahrnehmung oder Empfinden allerdings spezifischer, da das Glück des Lesers bei der Lektüre schon in Das Mädchen George reflexiv im Roman verankert ist. Gilgi thematisiert wiederum die Rolle des Rezipienten und – nun expliziter – seines sinnlichen Empfindens im Akt der Rezeption.

Glänzende Leselust – Das kunstseidene Mädchen Ästhetisch ausgestaltet und ausdrücklich mit dem Begriff des Glücks verbunden wird dieses Rezeptionsprogramm in Keuns zweitem Roman Das kunstseidene Mädchen, der im Wesentlichen das Tagebuch der jungen Ich-Erzählerin Doris darstellt. In dieses Tagebuch werden das Geschehen und Gemütslagen der Erzählerfigur scheinbar unmittelbar notiert. Es dominieren stakkatoartige asyndetische und parataktisch-polysyndetische Reihungen, Ellipsen und Aposiopesen,33 die Mündlichkeit34 sowie Authentizität vortäuschen und die Erzählung enorm beschleunigen. Mit der exaltierten Artiku-

33 Vgl. Stefanie Arend/Ariane Martin: »Nachwort«, in: KM 2005, S. 253-255. 34 Vgl. Gerd Schank: »Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. Skizze einer Frauensprache«, in: Ester Hans/Guillaume van Gemert (Hg.): Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur und Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert, Amsterdam 1985, S. 38.

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Maren Lickhardt lation starker Emotionen35 bewegt sich die Erzählung in melodramatischer Manier zwischen großer Hoffnung und tiefer Verzweiflung. Mal geht »etwas Großartiges« (KM 9) in Doris vor; dann fühlt sie sich als »etwas Besonderes« (KM 10), sie erlebt »Maßloses« (KM 65), und schließlich artikuliert sie selbstverliebt: »Ich überwältige mich.« (KM 120) In den im Tagebuch zitierten oder imaginierten Briefen an ihre Mutter vermittelt sie hyperbolisch den Genuss von Alltäglichem: »Ich habe es erreicht. Ich bin – o Gott – Mutter, ich habe eingekauft: ein kleines Pelzjackett und Hüte und feinste Zervelatwurst – ist es ein Traum? Gewaltig bin ich. Ich bin so voll Aufregung.« (KM 116) Wut verleiht die Ich-Erzählerin scheinbar ebenso ungefiltert Ausdruck mit der Hasstirade »ich hasse alle, ich hasse alle – schlag doch die Welt tot, Mutter, schlag doch die Welt tot« (KM 83), und ihr Unglück beschreibt sie – wiederum adressiert an die Mutter – nahezu als Auslöschung ihrer Person. »Mutter! Da bin ich entzwei. Liebe Mutter. Das geht ja vorüber. Ich kann auch gar nicht mehr weinen […] Ich bin so oft doch mal unglücklich gewesen, aber es geht immer vorüber. Geht es denn bestimmt immer vorüber? Du Qual. Vielleicht nehme ich mir das Leben. Aber ich glaube nicht.« (KM 195f.)

Im Kunstseidenen Mädchen mangelt es also nicht an den typischen schicksalhaften Einschnitten und Umbrüchen der Trivialliteratur, die der Erzählerfigur Glück oder Unglück bringen und die zitierten Reaktionen bedingen, jedoch wird immer wieder daran erinnert, dass es sich bei diesem Roman um einen niedergeschriebenen Text handelt (KM 9-12, 14, 19, 57), der – psychologisch-realistisch gedeutet – mehr oder weniger das von Doris verfasste Tagebuch ist, aber – metafiktional betrachtet – der im narrativen Akt konstruierte Roman. Insofern erscheinen auch Glück und Unglück durch die Wahrnehmung und Formulierungen der Erzählerfigur eher als sprachliche Übertreibung als sie als fiktives, vermeintlich zugrunde liegendes Ereignis bzw. scheinbarer Umstand vorliegen. Das Geschehen und seine glückselige oder niedergeschmetterte Auffassung sind durchaus thematisch bzw. psychologisch-realistisch deutbar; dennoch taucht das Glück, das beispielsweise im hyperbolisch beschworenen Genuss von Zervelatwurst zum Ausdruck kommt, vor allem als Texteffekt um seiner selbst willen auf, der oftmals adressatenbezogen formuliert ist und sich an den realen Leser richtet. Indem sich Doris in ihre Stimmungen hineinsteigert, wird das Geschehen wirkungsvoll stilisiert und ästhetisiert. Dass das Glück im Gestaltungsprozess zu liegen scheint, der sich zwischen Erzähler und Rezipient verwirklicht, suggeriert das Kunstseidene Mädchen nicht allein durch leserwirksame Übertrei35 Vgl. S. Arend/A. Martin: Nachwort, S. 246f.

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Ästhetik der Oberfläche bungen. Diese werden von einer rezeptionsästhetischen Programmatik untermauert, die zunächst auf Selbst-Rezeption zielt. Die Erzählerfigur möchte sich im Rahmen des Tagebuchs in filmischen Modi selbst bespiegeln, was sie in einer Art Prolog noch vor dem ersten Eintrag formuliert: »Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern.« (KM 11) Schon der Initiationsakt des Schreibens ist also nicht nur durch einen intermedialen Verweis dissoziiert, sondern stellt sich als ein selbstreferentieller Rezeptionsmoment her.36 Das äußere Resultat des Textes, das bildhaft erscheinen soll, sowie dessen reflexive Wahrnehmung werden als Beweggründe des Schreibens ausgewiesen, die ein inneres Movens überlagern oder ablösen. Die Erzählung existiert somit nur im oder als Bezug, wodurch modernes Substanzdenken aufgelöst wird. Es wird von vornherein kein inhaltliches Programm postuliert, sondern die Art der Darstellung dargelegt sowie die Lust am Lesen betont, zu dessen Zweck die Darstellung überhaupt erst einsetzt. Dies wird durch die Nebenfiguren verstärkt, die metafiktional den Rezeptionsprozess des Romans antizipieren.37 So stellt Doris’ beste Freundin Therese eine Zuschauerin und Zuhörerin von Doris’ theatralischen Inszenierungen alltäglichen Geschehens dar. »Und Therese ißt meine Pralinees und ist froh, daß ich wieder ein Erlebnis hatte. Sie ist so ein gutes altes Haus, und weil sie kein Schicksal mehr hat wegen ihrem Verheirateten, lebt sie sich fest an meinem Schicksal. Es macht mir furchtbar Spaß, ihr zu erzählen, weil sie eine unerhörte Art hat, sich zu verwundern und eigentlich ist doch immer alles dasselbe – aber wenn ich ihr nicht erzählen könnte, hätte ich nicht so große Lust, fabelhafte Erlebnisse zu haben.« (KM 19f.) »– und wenn mich was furchtbar aufgeregt hat, muß ich es leider erzählen. Und jetzt sitze ich hier mit 120 und überlege mir eine neue Existenz und warte auf Therese, der ich telefoniert habe, damit sie mich tröstet und beruhigt, denn schließlich habe ich eine Sensation durchgemacht.« (KM 27f.)

Erst die Gewissheit, eine Zuhörerin zu haben, macht das Erzählen erzählenswert und erst die Möglichkeit, davon zu erzählen, macht Erleben erlebenswert. Wieder ist es das ästhetische Ergebnis und dessen Rezeption, das die Darbietung motiviert, und diese lebt wiederum von Stilisierung und Hyperbolik. Gerade weil die farblose, vom Schicksal weniger beglückte Therese, die gewisse Ähnlichkeiten mit den zu erwartenden Leserinnen des Romans aufweist, sich fortwährend über die gleichförmigsten Darstellungen »verwundern« kann, entsteht der Wille, sie zu einer »Sensation« zu stilisieren. Es

36 Vgl. K. Barndt: Sentiment und Sachlichkeit, S. 169. 37 Vgl. M. Lickhardt: Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik, S. 169.

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Maren Lickhardt wird reflexiv darauf verwiesen, das die Rezeption die (Art der) Produktion des Romans antreibt. Die Passagen geben zu verstehen, dass die Trivial- oder Unterhaltungsliteratur immer »dasselbe« liefert – die gleichen Sprachschablonen und Handlungsmuster – und doch für manche Rezipienten nachhaltig emotional stimulierend wirkt. Wie für den Rezipienten die Fiktion über sprachliche Steigerungen aufgebaut wird und wie er vor allem dadurch, weniger aufgrund konkreter ›Inhalte‹ Lust oder Glück erlebt, wird anhand Thereses Reaktion auf Doris’ Diebstahl des Pelzes gezeigt. »Und ich ging zu Therese. Sie erkannte mit mir, daß ich fliehen muß, weil Flucht ein erotisches Wort für sie ist. Sie beschafft mir gespartes Geld. Lieber Gott, ich schwöre dir, ich gebe es ihr mit Diamanten und Glück für sie zurück.« (KM 62)

Therese fiebert nicht nur mit Doris’ Schicksal als Freundin mit, sie interpretiert Doris’ Erzählung quasi als melodramatischen Roman. Eine missliche Situation wird zur Katastrophe gesteigert, indem gemeinsam mit Therese ein Plot entsteht, der von dieser als sexuell konnotierte Flucht interpretiert wird. Doris’ Vermutung, mit einer derartigen Aufregung wahrgenommen zu werden, löst bei ihr eine noch stärkere Stilisierungs- und Übertreibungstendenz aus, was sich dadurch äußert, dass sie Thereses Aufwand mit »Diamanten« und »Glück« begleichen möchte. Es vollzieht sich zwischen beiden Figuren eine sprachliche Steigerung der fiktiven Ausgangssituation, wobei am Ende ein glitzernder Stein, wie zu zeigen sein wird, die schillernde Anlage des Romans symbolisiert und so auch das Glück bezeichnet wird, welches der Leser empfindet. Textproduktion und -rezeption verweisen romanimmanent aufeinander; eine Ästhetik der Oberfläche und das Glück des Lesers bedingen sich in dieser Konstellation wechselseitig. Dass Therese Doris mit Geld die Möglichkeit verschafft, sie als ›Rückzahlung‹ zu beglücken, deutet sogar auf den Weg des Buches hin, das erst gekauft und dann bestenfalls genossen wird. Gleichzeitig demontiert der Roman den Prozess, indem der Leser diesen aufgrund der Reflexivität der Passagen einsehen kann. Der reale Leser wird für die Stilisierung sensibilisiert, die alles bewirkt, was im Roman großartig erscheint, die aus einem kleinen Diebstahl ein aufregendes Romanszenario macht. Allerdings wird der unterhaltende Effekt, den die Ich-Erzählerin auf Therese ausübt, völlig legitimiert. Lust am oder Glück beim Lesen ist demnach absolut erwünscht; Schein, Oberfläche und sinnliche Effekte sollen stimulierend auf den Leser wirken. Schließlich ist die Beziehung zwischen Therese und Doris im Roman durchweg positiv und symbiotisch dargestellt.

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Ästhetik der Oberfläche Glück bildet im Kunstseidenen Mädchen weniger einen Erzählgegenstand,38 es wird vielmehr zum Phänomen zwischen sprachlicher Stilisierung und lustvoller Rezeption, indem die Erzählerfigur dies zunächst durch Unglück als Movens zur Erlangung von ›Glanz‹ und zuletzt durch den ›Glanz‹ selbst ersetzt. »[…] ich habe eine Lust, mein Gesicht in meine Hände zu tauchen, damit es nicht so traurig ist. Es muß sich soviel Mühe geben, weil ich ein Glanz werden will. […]. Aber es ist gut, daß ich unglücklich bin, denn wenn man glücklich ist, kommt man nicht weiter. Das habe ich gesehen an Lorchen Grünlich, die heiratete den Buchhalter von Gebrüder Grobwind und ist glücklich mit ihm und schäbigen Pfeffer- und Salzmantel und Zweizimmerwohnung und Blumentöpfe mit Ablegern und Sonntags Napfkuchen und ein gestempeltes Papier von deutschländischer Regierung, was ihr den Buchhaltrigen gestattet, für nachts mit ihm zu schlafen, und einen Ring.« (KM 78f.)

In der Triade von Glück, Unglück und ›Glanz‹ wird Glück als Modell des Durchschnitts verstanden, das nicht dem Selbstverständnis oder Leitbild der Erzählerfigur entspricht. Lorchen Grünlich wäre die typische durchschnittliche Romanfigur in einem neusachlichen Roman, an den der Beruf ihres Ehemanns, Buchhalter, erinnert. Bei Keun bleibt durch die Ablehnung dieser Art von Glück als Oppositionspaar Unglück und ›Glanz‹; ›Glanz‹ rückt an die Stelle von Glück bzw. Glück wird zu ›Glanz‹ umcodiert. In dem Wunsch der Erzählerfigur nach ›Glanz‹ drückt sich aus, dass sie sich bewusst dem schönen Schein und dem Außergewöhnlichen zuwendet und sich so über den Durchschnitt (der literarischen Landschaft ihrer Zeit) erheben möchte.39 Das Konzept des Glücks bleibt in der Vokabel ›Glanz‹ gleichwohl untergründig präsent. Zusammen mit dem extremen Hang zur Stilisierung und Übersteigerung, der signifikant schon auf den ersten Seiten des Romans zum Ausdruck kommt (KM 10f.), erinnert der ›Glanz‹ im Kunstseidenen Mädchen an das ›Glänzen‹ und das ›Glühen‹ in Das Mädchen 38 An einigen Stellen wird Glück auch als konkretes Modell verhandelt, wobei die Muster der Trivial- oder Unterhaltungsliteratur erst recht aufgebrochen werden. So vermerkt Doris, »Glück zu haben« bedeute, »einen Menschen zu begegnen in den drei Minuten am Tage, wo er gut ist« (KM 140). Ihre mangelnde Lebensperspektive beschreibt sie dem naiven Ernst zynisch, indem sie es als »besonders großes Glück« (KM 171) für Frauen aus ihrem Milieu bezeichnet, wenn sie so werden wie Therese, d.h. als Sekretärin arbeiten und sich von einem verheirateten Liebhaber ausbeuten lassen. 39 Insofern ist es höchst erstaunlich, dass Das kunstseidene Mädchen als neusachlicher Roman gilt. Der Roman weist stilistisch große Differenzen zu einer wie auch immer gearbeiteten neusachlichen Ästhetik auf, und die Protagonistin hat mit dem Prototyp der Neuen Frau – der weiblichen Angestellten – nichts gemeinsam.

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Maren Lickhardt George und mehr noch an ›radiance‹ im Dorian Gray, also an melodramatische und/oder ästhetizistische Schreibweisen. So hat der Begriff ›Glanz‹ im Kunstseidenen Mädchen auch weniger mit dem Glamour im Sinne von Hollywoodklischees über Schönheit, Karriere und Wohlstand zu tun, als er eine ästhetische Kategorie darstellt und auf die Kunst selbst verweist.40 Wie in Das Mädchen George das Große nicht als berufliche Perspektive greifbar wird, erfährt der ›Glanz‹ in Keuns zweitem Roman thematisch eine ständige Variation, wodurch er sich als ›Inhalt‹ verflüchtigt. Als Wunsch nach einer Theater- oder Filmkarriere und dem Leben der Schönen und Reichen (z.B. KM 44f., 52, 91) erweist er sich insofern als nicht restlos überzeugend, als er auch nach der Verwirklichung (KM 54) oder Ablehnung (KM 75) jener Konzepte aufrechterhalten bleibt. Dass der Begriff aber reflexiv auf die glanzvolle Anlage des Romans verweist, dessen Ästhetik der Oberfläche und indirekt das Vergnügen bei der Lektüre er indiziert, zeigt sich daran, dass er in dem Augenblick an Bedeutung verliert, in dem das Buch endet. Zunächst wandelt sich Doris’ Konzept des ›Glanzes‹, indem sie nur noch für Ernst ein ›Glanz‹ werden möchte, nachdem sie sich in ihn verliebt hat (KM 184). Als er ihr Blumen bringt, taucht zum ersten Mal wieder der Begriff ›Glück‹ ohne kritische und zynische Verweise auf die Weimarer Gesellschaft oder Geringschätzung gegenüber der Neuen Sachlichkeit auf. Endlich scheint sich der triviale Unterton des Romans durchzusetzen und das Liebesglück in greifbarer Nähe. »Das Leben ist so schön, daß es mir zum ersten Mal eine Religion ist. Ich meine nicht, daß ich fromm bin – aber es ist mir heilig vor Glück.« (KM 195) Auch bei Keun schließt der Roman allerdings nicht mit der Aussicht auf eine glückliche Beziehung, da sich Ernst im Grunde nur nach seiner Ehefrau sehnt. Die Erzählerfigur bleibt einsam und unglücklich. Trotz ihres neuerlichen Unglücks hat sie nun aber »keine große Lust mehr ein Glanz zu werden« (KM 204). Als letzten Satz des Romans konstatiert sie: »Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an.« (KM 40 Gemessen daran, dass der Begriff ›Glanz‹ im Kunstseidenen Mädchen zu Recht als »Zentralmetapher« gilt (vgl. Christa Jordan: Zwischen Zerstreuung und Berauschung. Die Angestellten in der Erzählprosa am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1988, S. 86; Gudrun Raff: Leben. Szenen eines Täuschungsspiels. Zu literarischen Techniken Irmgard Keuns, Diss. Hamburg 2000, S. 76), ist er bislang erstaunlich selten genauer untersucht worden. Eine interessante Deutung des Begriffs unter dem Gender-Aspekt, die ebenfalls auf Konnotationen von Oberfläche und Spiegelung abzielt, liegt von Annette Keck vor (vgl. Annette Keck: »›… und bin eine Bühne‹. Imaginäres zwischen Keun und Lacan«, in: Erich Kleinschmidt/Nicolas Pethes (Hg.): Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kunst, Köln 1999, S. 109-127).

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Ästhetik der Oberfläche 205) Ohne den Wunsch nach ›Glanz‹ geht dann auch das Erzählen nicht weiter bzw. erst, wenn das Erzählen ausklingt, kann auch dem ›Glanz‹ abgeschworen werden. Erst mit dem Ende des Buches wird der Begriff verabschiedet, der eine glänzende, sinnlich wahrnehmbare Oberfläche, den ästhetischen Schein und somit auch den Effekt auf den Rezipienten konnotiert. Solange der ästhetische Schein aber produziert wird, bleibt er auf die Verwirklichung in der sinnlichen Rezeption angewiesen, weswegen sich der Wunsch nach ›Glanz‹ und der Wunsch wahrgenommen zu werden (KM 11, 117) ineinander fügen. Glänzen und Wahrgenommenwerden zielen auf Produktions- und Rezeptionsseite gleichermaßen auf Schein statt Sein, sind also phänomenologischimmanent ausgerichtet. Dass der Schein und dessen beglückende Rezeption dem Sein nicht einfach arglos vorgezogen, sondern bewusst propagiert werden, zeigt die Thematisierung des Danziger Goldwassers, welches sich in einem Glas befindet, das analog zum Kunstwerk einen abgeschlossenen Mikrokosmos bildet. »Aber es war Danziger Goldwasser – da glitzert in einem kleinen Glas ein kleiner See mit winzigen goldenen Fetzen – die schwimmen darin, man kann sie gar nicht fangen, es ist so ungebildet, es zu versuchen – aber wenn man es versucht, dann sucht man seine Augen in seine Finger hinein und findet doch nichts – was soll man sich da also erst ungebildet benehmen. Aber es ist hübsch, zu wissen, daß man Gold trinkt, das süß schmeckt, wovon man betrunken wird […].« (KM 77f.)

Die Darstellung, dass der Glanz im Danziger Goldwasser jeglicher greifbarer Substanz entbehrt, wird oftmals als Verweis auf einen Mangel interpretiert. Dass der goldene Glanz aber fiktionsintern in seinem visuellen Schein und der optischen Wahrnehmung allzu real ist und das Bewusstsein, Gold zu trinken – allerdings neben dem Alkoholgehalt des Getränks –, geradezu betörende Wirkungen hat, hebt negative Lesarten deutlich auf. Doris ist keineswegs auf der Suche nach einer festen Substanz, dem ›Eigentlichen‹ oder dem ›Echten‹,41 und entsprechend intendiert auch der Text nichts, was man in traditioneller Hinsicht als ›Bedeutung‹ oder ›Inhalt‹ bezeichnen könnte. Es geht in der Textstelle um einen rauschhaften Moment des Glücks, das wieder ausschließlich in der Wahrnehmung und im Bezug, d.h. in einem Dazwischen liegt, aus dem es sich prozessual und dynamisch entfaltet und sich – einer Unschärferelation ähnlich – verflüchtigt, sobald man es fassen möchte.

41 So z.B. Liane Schüller: Vom Ernst der Zerstreuung. Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik. Marieluise Fleißer, Irmgard Keun und Gabriele Tergit, Bielefeld 2005, S. 162-165.

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Maren Lickhardt Der Roman ist als oberflächliche Maskierung, Verkleidung und Fassade zu verstehen, um den ästhetischen Schein herzustellen, dessen Genuss dem Rezipienten instantan Glück bereiten soll. Der Leser, der dies fixieren und auf eine Substanz bringen möchte, wird in der zitierten Textstelle als »ungebildet« entlarvt. Der Text erfordert die Fähigkeit zum Genuss des augenblicklichen Rausches – in temporaler wie auch in sinnlicher Bedeutung.42 Wer dies zu schätzen weiß, profitiert davon; dem, der weiter sucht, wird nichts geboten. Jene Ästhetik der Fassade, die im Kunstseidenen Mädchen immer wieder an eine lustvolle Rezeption gebunden ist und Vorstellungen von Substanz absichtlich aushöhlt, kommt auch einer Zurückweisung fester moralischer Systeme bzw. der herrschenden Doppelmoral gleich. Wenn Doris beispielsweise ihre Moral an sieben rostige Sicherheitsnadeln in ihrer Unterwäsche knüpft, muss diese Moral eine Frage der ästhetischen Oberfläche sein, und die Unterwäsche, die als vermeintlich intimer Bereich gilt, wird zur öffentlichen Inszenierungsfläche mit kalkulierter Wirkabsicht. Doris möchte sich vor ihrer eigenen Libido schützen, weil ihr nur sexuelle Enthaltsamkeit das nötige Ansehen seitens eines Verehrers sichert, das sie braucht, um von ihm eine – wiederum glänzende – goldene Uhr geschenkt zu bekommen. Aber weder materialistisch-vernünftige Erwägungen noch eine vermeintlich moralische »Natur« (KM 15) garantieren Doris, im richtigen Moment standhaft zu bleiben, um längerfristig auf das Geschenk der Uhr hinzuarbeiten. Allein die unschönen rostigen Sicherheitsnadeln, die sie als Selbstschutz für den schwachen Moment in ihrer Unterwäsche befestigt hat, garantieren ihr ihre nach der herrschenden Doppelmoral nötige sexuelle Zurückhaltung. »Aber letzten Endes habe ich viel zu viel Moral, um einen Mann erleben zu lassen, daß ich Wäsche mit sieben rostigen Sicherheitsnadeln trage.« (KM 15/16) Die Interpretation, dass Doris’ Begriff der Moral aus einem verqueren Fehlschluss resultiert, sagt mehr über den Erwartungshorizont des Interpreten

42 Maskierung, Verkleidung und Fassade implizieren aber auch die Aneignung »›fremder‹ Texte und Bilder« (K. Barndt: Sentiment und Sachlichkeit, S. 194). Es sind fremde Versatzstücke aus verschiedenen literarischen Gattungen und anderen Kunstformen, die in intertextuellen und intermedialen Verfahren zum Zweck einer glanzvollen Oberfläche collagiert werden, wobei vor allem der zu Beginn des Romans lancierte Verweis auf den Film und auch die Photographie die Schreibweise des Romans treffend umreißt und dem ›Glanz‹ als visuellem Phänomen in besonderem Maß entspricht. Letztlich geht es bei der Verhandlung des ›Glanzes‹ auch um die in der massenmedial visualisierten Weimarer Republik anstehende Frage nach dem Stellenwert der Literatur unter dem Zeichen filmischer und photographischer Konkurrenz sowie einer möglichen Visualität von Literatur, also um so genannte filmische Schreibweisen.

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Ästhetik der Oberfläche aus als über den Text, in dem wörtlich eine ästhetische Stilfrage als Moral ausgewiesen wird bzw. Moral aus ästhetischem Empfinden abgeleitet wird. Sämtliche Linien laufen im Kunstseidenen Mädchen auf eine kunstvoll überhöhte Ästhetik der Oberfläche zu und sind immer wieder direkt oder über den Begriff des ›Glanzes‹ mit dem Glück verbunden, das ästhetisches Empfinden bereitet.

Vom Glücksgehalt zum Textrausch – theoretischer Kontext Glück im Kontext trivialer Romane zu untersuchen, mag allzu nahe liegen, gilt es doch in der Literatur als Kitsch oder nicht darstellbar.43 Diese Debatte, die aus heutiger Sicht an Theodor W. Adorno denken lässt, war Keun – vermutlich auch Lederer – in den zwanziger Jahren allzu bekannt. Zumindest in Keuns Begriff des ›Glanzes‹ klingt Siegfried Kracauer an, der ihn als Scheinwelt und Kompensationsmöglichkeit für seine vielmals beschworenen geistig Obdachlosen betrachtet. Glanz steht bei Kracauer in Opposition zu Gehalt, der ausgehöhlt und durch eine defizitär bewertete rauschhafte Zerstreuung ersetzt wird: »Durch seine geheimen Kräfte wird der Glanz Gehalt, die Zerstreuung Rausch.«44 Negativ gilt daher: »Nichts kennzeichnet so sehr dieses Leben, das nur in eingeschränktem Sinne Leben heißen darf, als die Art und Weise, in der ihm das Höhere erscheint. Es ist ihm nicht Gehalt, sondern Glanz. Es ergibt sich ihm nicht durch Sammlung, sondern in der Zerstreuung.«45

Dagegen wendet Keun den Begriff ins Positive, indem er eine Opposition zum Unglück und zu dem biederen, spießbürgerlichen Glück bildet, das im Zuge der Neuen Sachlichkeit wieder einmal beschworen wird.46 Er setzt auf den schönen Schein, der im zweifachen Sinn des Wortes aufgewertet wird. Im Diskurs der zwanziger Jahre richten sich Lederer und vor allem Keun gegen die Kulturkritik und greifen ein ästhetizistisches Modell der Kunst auf, das um spielerisch-reflexive, lustvoll-kitschige sowie dicht mit fremdem und eigenem Material verwobene Strukturen ergänzt wird. Es erscheint eine Oberfläche, die Glück nicht als weitere Ideologie und Gegenideologie postuliert, sondern dies gleich einem prosodisches Merkmal frei schweben lässt, um den Leser prozessual empfinden und vielleicht 43 Vgl. P. J. Brenner: Das Glück in der Literatur, S. 250 u. 254. 44 Siegfried Kracauer: »Asyl für Obdachlose«, in: ders.: Die Angestellten, Frankfurt a.M. 1971, S. 98. 45 Ebd., S. 91. 46 Vgl. P. J. Brenner: Das Glück in der Literatur, S. 250.

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Maren Lickhardt konkretisieren zu lassen, was subversives Potential birgt. Indem die Texte selbst die rezeptionsästhetische Dimension einbringen, lässt sich Glück nicht mehr als Vorhandensein oder Mangel an ›Gehalt‹ fassen und verfällt doch nicht in Trivialität. Indem die Romane dies reflexiv zum Ausdruck bringen, etablieren sie Glück als eigenständige ästhetische Kategorie und laden dazu ein, es in der interpretatorischen Auseinandersetzung mit Texten zu behandeln, statt es – neben dem Ignorieren oder kulturkritischen Vermerken – ausschließlich noch in der empirischen Rezeptionsforschung als Lektürevergnügen oder als Flow-Erlebnis47 aufzuweisen. Zwar spricht nichts dagegen, in den Blick zu nehmen, dass die Leser angesichts der Texte identifikatorisch Freude und Leid empfinden oder in einen Leserausch geraten, doch scheint das Glück bei Lederer und vor allem bei Keun auch auf Roland Barthes’ Lust am Text48 vorauszudeuten, die sich bei der Spurensuche und Assoziationsbewegung der komplex verwobenen, reflexiven und sprachbewussten Strukturen ergeben kann. Durch die Beachtung der textuellen Rückbindung zeigt sich Glück in diesen Romanen als ästhetische Kategorie, die neben traditionelle Begriffe wie Schönheit und Erhabenheit sowie moderne Konzepte wie die Übersteigerung des Lebens durch Kunst gestellt werden kann.49 Dabei tilgen sie im Konzept des Glücks allerdings elitäre Auswüchse und Implikationen einer vermeintlichen ontologischen Präsenz, um in einem reflexiven Spiel die ästhetische Oberfläche als solche und deren subjektive, lustvolle Rezeption als Ausdruck eines spätmodernen Relativismus ohne metaphysische Hinterwelten zu radikalisieren.

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47 Vgl. Mihaly Csikszentmihalyi: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 1992, S. 175. 48 Vgl. Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1992, S. 19f. 49 Vgl. FN 18 und FN 23.

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Performative Glücksräume und literarische Praxis. Camus – Beckett – Kertész – Böll ALAN CORKHILL »Begreife das Glück als absurd, als unmöglich, und trachte danach, es zu erobern.« (Benedetto Croce)

Der vorliegende Beitrag untersucht an belletristischen Texten der Postmoderne unterschiedliche Paradoxa bei der Vor- und Darstellung von Glück. Seit der hellenistischen Antike gilt das Glück zwar als der Sinn unserer Existenz. Es wird aber zugleich an Orten und in Lebensverhältnissen erlebt, die normativen Sinn-Erwartungen kaum entsprechen. Weder die Sinnlosigkeit des Glücks an sich noch die Fragwürdigkeit der Jagd nach Glück sind hier gemeint. Vielmehr soll der Fokus auf der neostoizistischen Erkenntnis liegen, dass in einer Welt, in der Sinnbezüge zunehmend verhandelbar geworden sind, der postmoderne Mensch infolge des Verschwindens eines sozial angelegten (Kollektiv-)Glücks sein eigenes zu schmieden, zu inszenieren und zu verantworten hat. Die teleologischen Grundpositionen der Antike und des Mittelalters waren so gedacht, dass man eher von ›Glück im Unglück‹ als von ›Glück im Wider-Sinn‹ sprach. Zwar hat man über Jahrhunderte das Unglück zum Teil als sinnlos, ja als eine rein zufällige ungünstige Wendung aufgefasst, über die der Mensch nur wenig Kontrolle besitzt. Andererseits aber machte Unglück mehr Sinn, wenn es beispielsweise mit Vorsehungs- und Theodizeebegriffen eng verknüpft, ja als eine von Gott gesandte Bewährungsprobe für den Sterblichen im irdischen Jammertal wegerklärt wurde; oder wenn man es in Zusammenhang mit (pseudo-)wissenschaftlichen Gleichgewichtstheorien brachte, laut derer Glück und Unglück sich quantitativ die Waage halten.1 Solange eine in der christlichen Metaphysik verankerte Teleologie des Leidens unhinterfragt blieb, hatte das 1

Vgl. Odo Marquard: »Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie«, in: ders.: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 22-29.

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Alan Corkhill Paradoxon ›Glück im Unglück‹ noch Geltung. Nach Abschaffung der Transzendenz bzw. der Aufhebung eines teleologischen Gottesbeweises u.a. durch Nietzsche bemächtigte sich hingegen eine neue Paradoxie der Bühne: das Paradox des Glücks im Nichtsinn, das im Nietzsche-Zitat »fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude am Unsinn«2 seinen Niederschlag findet. Unter Rückbezug auf theoretisch-wissenschaftliche Positionen, darunter die französische existentialistische Glücksphilosophie wie auch die psychotherapeutische Flow-Theorie des Chicagoer Analytikers Mihaly Csikszentmihalyi, zeige ich insbesondere auf, wie sich die Literaturnobelpreisträger Albert Camus, Samuel Beckett, Imre Kertész und Heinrich Böll in ihrem Werk auf die performativen Dimensionen des Glücks konzentrieren. Kurzum: In den ausgewählten Texten wird die Gewinnung des Glücks in Anknüpfung an die aristotelische und platonische Idee vom Glück als Tätigkeit eher dem affirmativen Handeln eines Individuums als einem reflexivmeditativen Prozess zugeschrieben. Im Folgenden beziehe ich das Performative auf wertneutrales Tun – im Gegensatz etwa zum ›sittlichen Handeln‹, das Aristoteles als Voraussetzung des glücklichen Gelingens festschrieb und Immanuel Kant mit der Idee der ›Würdigkeit zum Glück‹ einhergehen ließ. Insofern soll das genannte Textkorpus belegen, wie sehr der aktive Einsatz zwecks Erlangung des Glücks als ein Gestus autonom inszenierter Selbstbehauptung, als Mittel zur Überwindung negativer oder gar nihilistischer Unglücksgefühle konzipiert wird.3 Beachtenswert ist, dass nahezu alle vier Autoren – wohl nur mit Ausnahme von Böll – ihre Hauptfiguren in einem physikalisch engen (Un-)Glücksraum auftreten lassen, der jedoch durch willentliche bzw. performative Bewusstseinserweiterung psychologisch überschritten wird.

Albert Camus Der Mythos von Sisyphos Ein erstes Textbeispiel, der letzte Abschnitt von Camus’ geschichtsphilosophischem, literaturhistorischem Sisyphos-Essay aus dem Jahr 1942, der mit »Der ewige Rebell« und dann paradoxerweise mit »Fluch und Seligkeit« überschrieben ist,4 veranschaulicht die Kehr2

3

4

Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 4/2. Menschliches, Allzumenschliches I. Abschn. 213, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1967, S. 176. Unberücksichtigt bleiben allerdings die vom Sprachwissenschaftler J. L. Austin als »felicitous« bzw. »infelicitous« bezeichneten Sprechakte, da sie einem ganz separaten Performativitäts-Diskurs angehören. Man denke an den paradoxen Titel von Camus’ Erstling La mort heureuse/Der glückliche Tod (1936-38 konzipiert; 1971 postum veröffentlicht).

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Performative Glücksräume seite eines zweckfixierten Glücksverständnisses. Der französische Existenzphilosoph hat die Erschaffung von individuellem Glück unter anderem mit dem Verlangen nach Gerechtigkeit verknüpft, wie folgende oft zitierte Stelle aus den Lettres à un ami allemand (Briefe an einen deutschen Freund) unterstreicht: »[Ich habe gefunden], dass der Mensch für die Gerechtigkeit eintreten müsse, um gegen die ewige Ungerechtigkeit zu kämpfen, Glück schaffen müsse, um gegen eine Welt voller Unglück Einspruch zu erheben.«5 Statt sich bloß den Kopf über Sinn und Fairness seiner Strafe zu zermartern, verlangt Camus’ Götter verachtender Sisyphos nach Erfüllung im Dienst an der sinnstiftenden ›Aufgabe‹ des radikal umgedeuteten Steinrollens. Camus setzt sozusagen die Machbarkeit des Menschenglücks mit der Performativität des Lückenfüllens (mhd. »gelücke« > nhd. »Glück«) gleich, wenn er erklärt: »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen« (S 101).6 Aus existentialistischer Sicht wird Sisyphos dadurch glücklich, dass er sich unter der paradoxen, doch tröstlichen Devise »Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde« (S 100) mit dem Absurden seiner Lage philosophisch abzufinden vermag. Bejahung der Welt – nicht trotz, sondern wegen ihrer Sinnlosigkeit. Dem Absurden bietet man die Stirn, Camus zufolge. Anders formuliert: Der Absurdität der Existenz entrinnt der Mensch weder durch den philosophischen Selbstmord (S 12, 46) noch durch den Glauben an einen Jenseitszustand der beatitudo (S 20), zu dem Sisyphos als ein (Selbst-)Vertriebener aus den antiken Gefilden der Seligen ohnehin keinen Zugang mehr hat. Aus all diesen Gründen macht Camus’ bekannte Schlussfolgerung »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen« (S 101) bei näherer Betrachtung ›Sinn‹, so implausibel die Behauptung auf den ersten Blick erscheint. Seine an anderer Stelle im Essay enthaltene Affirmation der menschlichen Vernunft als der Basis eines zerebralen »Glück[s] des Geistes, an dem gemessen der Mythos der Seligen nur ein lächerliches Surrogat wäre« (S 20), lässt sich ebenso sehr auf seine neu modellierte Sisyphos-Figur anwenden, obwohl der Essayist freilich nicht unmittelbar darauf hinweist.

5

6

Albert Camus: »Briefe an einen deutschen Freund«, in: US Information Services Divisions (Hg.): Neue Auslese aus dem Schrifttum der Gegenwart, London 1945/46, Juli 1944, H. 4, S. 4. Im Original heißt es: »Je n’ai jamais consenti [à désespérer] [...] il m’apparaissait au contraire que l’homme devait affirmer la justice pour lutter contre l’injustice éternelle, créer du bonheur pour protester contre l’univers de malheur.« Albert Camus, »Lettres à un ami allemand«, in: ders.: Essais, Paris 1965, S. 213-243 (hier S. 240). Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1998. Im Folgenden zitiert unter der Sigle S.

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Alan Corkhill Nach den Prämissen der soeben erwähnten Flow-Theorie versenkt sich Camus’ »Held des Absurden« (S 99) beim Wälzen des Steinblocks den steilen Bergabhang hinauf in eine bewusstseinserweiternde Tätigkeit, welche ihn des (illusorischen) Glücks des Gelingens teilhaftig werden lässt, wenn der Stein auch immer kurz vor dem Gipfel ins Tal zurückrollt und der Verdammte immer wieder von vorn anfangen muss. Csikszentmihalyis motivationspsychologische Gleichsetzung von Glück und der bejahenden Sensation des völligen Aufgehens in einer Aktivität, die jenseits der Angst und der Langeweile durchgeführt wird und die das teilnehmende Subjekt eine Zeitlang aus sich selbst hinaushebt,7 trifft hier zu. Sie baut nämlich auf der Prämisse des frühen Existenzphilosophen Alain auf, dass der Mensch sich allzu oft damit beschäftigt, sein Glück zu suchen, statt einzusehen, dass sein größtes Glück darin liegt, lediglich beschäftigt zu sein.8 Sisyphos kann zumindest froh sein, dass er nur die eine Aufgabe zu verrichten hat und sich ihr deshalb mit höchster Konzentration und vollstem Einsatz widmen kann. Außerdem diktiert keine Vorschrift, was für ein Tempo Sisyphos beim Schieben und Rollen des Steins einzuhalten hat. Camus hat bei seiner Remythisierung der antiken SisyphosGestalt den nietzscheanischen Begriff der ewigen Wiederkehr des Gleichen insofern positiv aufgefasst, als die schreckliche Eintönigkeit der von Zeus auferlegten Strafe eine mentale Herausforderung konstituiert, die sein Rebell nicht etwa in resignierter Verzweiflung scheut, sondern durch positive thinking in sinngebende Aktion umwandelt. Zu diesem action plan gehören Mut, Phantasie und Ausdauer, über die er reichlich verfügt. Das Absurde lähmt keineswegs seine Willenskraft. Eher befreit und aktiviert es ihn paradoxerweise zur Wahl, so dass er diese innere Wahl nicht als Qual sondern quasi als Segen erfährt. Sisyphos ist in der Tat »stärker als sein Fels« (S 99). Hätte er stattdessen, so Camus, den Stein die Oberhand gewinnen lassen, dann wäre die »Trauer« (S 100) ohne weiteres in sein Herz eingeschlichen. Die Trauer – wie auch die Erinnerung daran – schwächt ja schließlich den Willen zum Lebensglück.9 Allerdings 7

8 9

In den Fallstudien zu optimalen Flow-Erlebnissen, in denen Csikszentmihalyi Berichte über besonders intensive Glücksmomente wiedergibt, schildert ein Bergsteiger seine Gefühle beim Klettern in einer Felswand wie folgt: »Man ist dermaßen in der Tätigkeit ›drinnen‹, dass einem kein von der unmittelbaren Tätigkeit unabhängiges ›Ich‹ in den Sinn kommt. [...] Man sieht sich selbst nicht getrennt von dem, was man tut.« Mihaly Csikszentmihalyi: Flow – Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 1992, S. 80. Alain: Die Pflicht, glücklich zu sein [Propos sur le bonheur], Frankfurt a.M. 1975, S. 127f. Vgl. hierzu Marie-Laure Wieacker-Wolff: Albert Camus, München 2003, S. 96: »Für Sisyphos liegt das Glück auch darin, seinen Fels auf irgendeine

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Performative Glücksräume verleiht die frohe Botschaft des Endtriumphs über die Götter dem bislang als Niederlage konzipierten Rückzug in das Tal neue Bedeutsamkeit, denn: »Führt der Abstieg so manchen Tag in den Schmerz, so kann er doch auch in der Freude enden« (S 100). Deswegen braucht Camus die Widersprüche in Sisyphos’ Welt nicht aufzulösen. Der Widerstandskämpfer dürfte sich mit seinem Sisyphos eng identifiziert haben, wie folgende Briefaussage, datiert auf Juli 1943, vermuten lässt: »Kämpfen bedeutet viel, wenn man den Krieg verachtet; es bedeutet viel, willig alles zu verlieren und sich dabei den Sinn für das Glück zu bewahren.«10

Samuel Beckett Glückliche Tage Als zweites Textexempel für die Begegnung mit Glück, wo man es am wenigsten erwartet, diene Samuel Becketts in New York uraufgeführtes absurdes Zweipersonenstück Happy Days/Glückliche Tage (1961). Hier bemüht sich die alternde Hauptfigur, Winnie, um die Rekonstruktion der (illusorischen) Normalität eines verlorenen Alltagsglücks, während sie auf einer »versengten Grasebene« (GT 9)11 immer tiefer in einen Sandhaufen versinkt. In beckettscher Manier werden keine Aufschlüsse darüber geliefert, weshalb die Fünfzigjährige bis über die Taille und dann – ähnlich wie die Verdammten in Dantes Göttlicher Komödie – bis zum Hals in der Erde eingegraben ist. Auch wenn sie keinerlei logische Erklärung für ein Los hat, das ebenso bizarr wie die Mülltonnen-Existenz der beinlosen Nagg und Nell in Endgame (1957/58) anmutet, tut Winnie, als wäre dies etwas Natürliches und Verständliches. Winnie hat wenig Anlass, sich in einem solchen Nicht-Ort glücklich zu wähnen. Der Beweglichkeit ihres Unterleibs beraubt, ist sie rund um die Uhr dem »[h]öllischen Licht[ ]« (GT 15) einer brennend heißen Sonne ausgesetzt, die immer im Zenit steht. Winnies geregelter Tagesablauf, der sich in der Zeitspanne zwischen zwei schrillen Klingeltönen vollzieht, besteht zum Teil im mechanisch-rituellen Leeren und Wiederfüllen einer großen schwarzen Ledertasche. Diese enthält einige Pflegeartikel (Zahnpasta, Haarbürste, Kosmetik etc.), deren Gebrauch es Winnie ermöglicht, im Angesicht der Sinnlosigkeit ihrer Existenz den Respekt vor sich selbst zu bewahren. Trotz ihres derart dumpfen Dahinvegetierens, das am Schluss des (un-) Weise zu akzeptieren, ja zu lieben – den Stein, der das Sinnbild des Elementaren ist.« 10 A. Camus: Briefe an einen deutschen Freund, S. 4. 11 Samuel Beckett: Glückliche Tage/Happy Days/Oh les beaux jours, Frankfurt a.M. 1975. Alle folgenden Textzitate unter der Sigle GT beziehen sich auf diese dreisprachige Ausgabe.

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Alan Corkhill dramatischen Geschehens kein sinnvolles oder gar glückliches Ende in Aussicht stellt, glaubt sie doch kaum Grund zur Klage (GT 15) zu haben. Ganz im Gegenteil: In diesem sehr »englischen«12 Drama bekundet die Schicksalsbetroffene und Gequälte etwas von der britischen Eigenschaft keeping a stiff upper lip. Ihr Lebensgefährte Willie hockt seinerseits außer Sichtweite hinter dem Erdhügel, bis er am Schluss auf allen Vieren zu ihr herüber kriecht. Während die einsame bzw. zunehmend vereinsamte Frau vor sich hin plappert, in bruchstückhaften, doch teils »glücklichen« (GT 23) Kindheitsreminiszenzen schwelgend, gibt Willie schwache Lebenszeichen von sich. Entweder schläft er oder liest die Morgenzeitung. Von einem absorbierenden Flow-Erlebnis kann hier jedoch kaum die Rede sein. Willie dialogisiert selten, es sei denn, dass er seinem Gegenüber eine ›Neuigkeit‹ erzählen will – und sogar dann grunzt er nur einsilbig. Charakteristisch für diese missglückte interpersonale Kommunikation ist das bekanntlich dem Absurden Theater eigene Aneinander-Vorbeireden, wie es etwa bei Ionesco und Pinter vorkommt. Winnies stockender, von Pausen unterbrochener monologhafter Redeschwall versteht sich als performativer Gestus, welcher es ihr erlaubt, die Leere ihres Seins mit verbaler Existenzbestätigung gleichsam zu überdecken, entsprechend der Devise ›ich rede, also bin ich‹. Je länger die Schweigepausen, desto schwerer fällt es Winnie, die Lücken mit Glück zu füllen. Ab und zu wird die Alltagsplauderei durch das Zitieren von (halb-)erinnerten Zeilen oder improvisierten Teilentlehnungen aus diversen Texten von Shakespeare, Milton, Keats, Browning und Gray entbanalisiert, was einen hohen Grad an akademischer Bildung nahelegt. Winnies (Re-)zitierfreude hinterlässt den Eindruck, als habe der Dramatiker seiner Protagonistin eine schauspielerische Performanz-Rolle zugewiesen, die das Einstudieren und Auswendiglernen vorgeschriebener Zeilen und erlesener Verse erfordert. Winnie fühlt sich im Verlauf ihrer Tagesroutine am wohlsten, d.h. sie empfindet Flow-Erleben am intensivsten, wenn sie Musik hört (eine kleine Spieldose spielt Lehárs »Lustige-Witwe-Walzer«),13 oder wenn sie volkstümliche Liebesmelodien summt. Einer dieser Schlager hat die Paradoxie von der heiteren Traurigkeit zum Thema, wie sie für Winnies lieblos gewordene Beziehung zu ihrem schweigsamen Partner kennzeichnend ist: »Geh vergiß mich was soll’n hm12 Vgl. hierzu Hugh Kenner: A Reader’s Guide to Samuel Beckett, London 1973, S. 147: »It is a curiously English play. [...] The unquestioning assumption that the warp and woof of an unfulfilling day consists in maintaining one’s cheer is a premise of English gentility as perhaps no other«. 13 Der Regisseur der New Yorker Erstaufführung Alan Schneider entschied sich für Lehár, obwohl Beckett doch das Volkslied »When Irish Eyes are Smiling« bevorzugte.

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Performative Glücksräume hm Trübsinn in das hm-hm bringen … geh vergiß mich … was soll’n Sorgen … fröhlich lächeln … geh vergiß mich … nie mehr hör mich … lieblich lächeln … fröhlich singen« (GT 91). Winnies optimistische Lebenshaltung, ganz nach der Redensart looking on the bright side, verbalisiert sich viermal in dem Satz »[o]h dies ist ein glücklicher Tag, dies wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein! Pause. Trotz allem. Pause. Bislang« (GT 34, 52, 73, 101).14 Der Stücktitel wie Winnies Ausruf erinnern an den britischen Trinkspruch »Happy Days« und das bekannte Lied »Happy Days are Here Again«.15 Erstmaligen Lesern bzw. Zuschauern dürfte Winnies Parole wie Schwachsinn klingen, Regression in ein infantiles Stadium einfachster Freuden und Bedürfnisse. Ein weiterer von der Beckett-Forschung übersehener Intertext ist der Gospelsong »Oh happy days/ When Jesus wept«. Es fällt auf, dass Winnie den eigenen glücklichen Tagen eine quasi-religiöse Bedeutung beimisst, indem sie sich über die »viele[n] Gnaden [...] große[n] Gnaden« (GT 17), die ihr zuteil geworden, dankend äußert. Jedoch verraten die beiden Sprech- bzw. Denkpausen in Winnies oben angeführter formelhafter Aussage nur eine qualifizierte Akzeptanz beglückender Selbsterfüllung. Denn hinter den Worten steckt trotz des ironischen Untertons des Dramentitels nicht Ironie, sondern eher ein gewisser Grad von Skepsis. Solche Vorbehalte spiegeln sich in der lückenhaft zitierten Gedichtzeile aus Miltons Paradise Lost (1667) »Oh, flücht’ge Freuden – schminkt sich – oh, hm-hm, währendes Weh« (GT 19)16 wider und werden auf nicht-verbaler Ebene durch die zahlreichen Referenzen in den Regieanweisungen auf einen »glücklichen Gesichtsausdruck« (GT 21 u.a.) bekräftigt. Dass ihr heiteres Lächeln jedes Mal genau so schnell verblasst, wie es sich formt (GT 34 u.a.), zeugt indes von Winnies innerer Zerrissenheit zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Über die Diskrepanz zwischen Sein und Schein im beckettschen Zweiakter äußert sich Manfred Papst so: »Während Winnie mit ihrem ständigen wiederholten Lächeln das Glück signalisiert, vermit14 Fokussiert Winnie auf das Glück des heutigen Tages, so spielt der alte, einsame Krapp in Becketts Monodrama Krapp’s Last Tape/Das letzte Band (1958) all seine Tonbänder verzweifelt durch, um sich die Geschichte eines einst erlebten glücklichen Tages wieder ins Gedächtnis zu rufen. 15 Der Titel der französische Fassung »Oh, les beaux jours« (1962) ist von einer Textstelle aus einem Gedicht Verlaines abgeleitet, die lautet: »Oh les beaux jours de bonheur«. Dass Becketts zwei Bühnenfiguren schöne Tage erleben, müsste man wohl bestreiten. 16 Der vollständige Zweizeiler Adams lautet im englischen Originaltext: »O fleeting joys/ of Paradise, dear bought with lasting woes«. Zitiert nach John Milton: Paradise Lost. A Norton Critical Edition, hg. v. Scott Elledge, New York 1993, S. 742.

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Alan Corkhill telt die visuelle Zeichensprache des szenischen Gefüges im Gegenteil eine Welt der Desintegration und des Zerfalls.«17 Wiederum bestätigen Gestik und Mimik, nämlich Winnies Handbewegungen sowie die Sprache ihrer Augen, die übrigens nicht wie im irischen Song ›lächeln‹, eine zunehmend verunsicherte psychische Disposition. Indem sie aber mit der Rätselhaftigkeit ihrer ausweglosen Lage zurechtkommt und somit der Welt gleichsam ein glückliches Gesicht zeigt, denkt und handelt sie in affirmativer Weise nach dem Geist-über-Materie-Prinzip. Dabei versucht sie jeden eintönigen Tag nach bestem Vermögen zu überstehen, ja letztlich aus dem Teufelskreis des Immer-Gleichen auszubrechen. Überwindung heißt aber hier »nicht endgültigen Sinn zu finden, sondern nur, die empfundene Sinnlosigkeit anzunehmen«18. Statt vergeblich auf unerreichbares großes Glück zu warten, begnügt sich Winnie mit dem zerbrechlichen, immerhin überschaubaren kleinen Glück ihres körperlich und seelisch verengten Freiraums. Sie stellt wenige Forderungen. Schon der tröstliche Gedanke, dass Willie da ist, dass er sich ihr gelegentlich zuwendet, genügt ihr zum Glücklichsein. Dann strahlt ihr Gesicht inneres Wohlbehagen aus. Bezeichnenderweise gibt sie den Lebenswillen nicht auf, es sei denn, die Pistole, die sie aus ihrer Tasche hervorkramt, gilt sich selbst und/oder Willie. Dies bleibt aber unerhellt.19 Becketts eigene Vorliebe für das Paradoxe zeigt sich darin, dass er 1967 bei den Endgame-Proben im Berliner Schiller-Theater die Aussage der greisenhaften Nell »Nichts ist komischer als das Unglück«20 zum wichtigsten Satz im ganzen Einakter erklärte. Im Falle von Glückliche Tage bezeichnet »komisch« nicht das Unheilvolle, sondern eher das Gegenteil: »Komisch« – im doppelten Sinne von »lachhaft« und »sonderbar« – schildert vielmehr die Paradoxie von Winnies sporadischen Heiterkeitsausbrüchen und Glücksempfindungen im Angesicht situativer und existentieller Absurditäten, mit

17 Manfred Papst: Bild – Sprache – Subjekt. Traumtexte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan, Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari, Würzburg 2004, S. 125. 18 Stefan Groß: »Was bleibt aber, stiftet der Dichter«, in: Tabula Rasa. Jenenser Zeitschrift für Kritisches Denken 34 (2008), http://www.tabvlarasa.de/ 34/Gross3.php. 19 Brockmeier ist wohl Recht zu geben, wenn er hierzu schreibt: »Die Verweigerung des Selbstmordes steht in engem Zusammenhang mit der Idee, dass nicht die Habseligkeiten in ihrer Tasche – also auch der Revolver –, sondern die Worte, das Reden oder das Ich, dem Ich Zeitvertreib, sprich: Lebenssinn geben.« Peter Brockmeier: Samuel Beckett, Stuttgart u.a. 2001, S. 170. 20 Samuel Beckett: Endspiel/Fin de partie/Endgame, Frankfurt a.M. 1974, S. 31.

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Performative Glücksräume denen sie stündlich konfrontiert ist. Zugleich stellt die camussche Verquickung der Absurdität des Glücklichseins mit dem Glück des Absurden ein dialektisches Spannungsverhältnis dar, welches bei Beckett in einer anderen Variante erneut auftritt. Das Ausbleiben einer erklärbaren Teleologie des Glücks lässt Winnie wie schon Camus’ Sisyphos-Figur notgedrungen zur buchstäblichen In-SzeneSetzerin des eigenen sinnstiftenden Glückes werden.

Imre Kertész Roman eines Schicksallosen Mit Sorstalanság (1975)/Roman eines Schicksallosen (1996), dem ersten Teil einer Trilogie von Romanen,21 hat der ungarisch-jüdische Schriftsteller Imre Kertész dem scharfen Paradoxon des wahrhaftigen Glückserlebens im Un-Sinn bzw. der Heiterkeit im Entsetzen eine kontroverse Dimension verliehen. Kertész berücksichtigt – in krassem Unterschied zur Mehrheit der Shoah-Chronisten – die scheinbar bizarre Möglichkeit, dass in den NS-Vernichtungslagern, wo Glück für die Häftlinge zumeist fortuna oder random luck bedeutete, in gewisser Form doch felicitas vorhanden war. Die Hauptfigur György Koves ist ein Budapester Gymnasiast aus gutsituierten Familienverhältnissen, der ein Jahr vor Kriegsende deportiert wird und die drei Lager Auschwitz-Birkenau, Buchenwald und Zeitz überlebt. Gewiss ist György der Nutznießer glücklicher Zufälle, da er als einer der »glücklichen Auserwählten« (RS 208)22 nicht den »Unglücksvögel[n]« (RS 190) zuzurechnen ist, die an Seuchen sterben, sondern gegen Ende seiner Gefangenschaft wegen einer tiefen Kniewunde ins Krankenlager kommt und dort relativ gut gepflegt wird. Zugleich aber ist hier die Rede vom eigentlichen Glücklichsein als einer logischen, wenngleich nicht automatischen Begleiterscheinung des Glückhabens. An den Schlussbemerkungen des halbwüchsigen Erzählers, welcher im Rückblick so unbeteiligt und distanziert berichtet, als habe er sich gegen die Hölle des KZDaseins irgendwie immun gemacht, ist deutlich abzulesen, weshalb dieser Roman in gewissen Kreisen auf Widerstand stieß und in den ersten Jahren nur in kleiner Auflage erscheinen durfte: »[E]s gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause 21 Das Werk erschien erstmals 1990 unter dem Titel Mensch ohne Schicksal im Verlag Rütten & Loening. Die anderen Romane der Trilogie heißen Fiasko (1988/1999) und Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (1990/1992). 22 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, Berlin 2002. Im Folgenden wird diese spätere Ausgabe zitiert, unter der Sigle RS.

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Alan Corkhill zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den ›Greueln‹: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.« (RS 287)

Es verwundert nicht, dass sich György zu Beginn der Inhaftierung in einem absurden Theatersstück glaubt – völlig unsicher darüber, welche Rolle man ihm zugewiesen hat. Mit der Bewusstwerdung der Verantwortung jedes Einzelnen für die eigene Bestimmung (»wir selbst sind das Schicksal« RS 284) lernt er, wie man sich Glück inszenieren kann. Nach der Befreiung durch die Alliierten ringt er sich zur Erkenntnis seiner Schicksallosigkeit durch, zur Einsicht, das historisch Vorgefallene sei eine andere Form von Schicksal gewesen, das er zufällig »durchlebt« (RS 283) habe.23 Die scheinbare Unlogik von Glückserfahrung im KZ entzieht sich keineswegs der Logik, betrachtet man das Paradox aus lagerpsychologischer Sicht. Der Psychiater Viktor Frankl, der selbst den Gaskammern entrann, hat Augenzeugen-Berichte zahlreicher KZInsassen erforscht und ist zu dem Schluss gelangt: »Der Begriff Glück lässt sich schwer definieren in den Umständen eines Häftlings, für ihn ist all jenes Glück, was ihm erspart bleibt, dies stellt eine positive Gefühlsregung dar, die es nur selten gibt.«24 Glück bedeutet, mit Schopenhauer und Nietzsche zu sprechen, nicht mehr als die Abwesenheit bzw. Vermeidung von Schmerz. Sollte der Heimgekehrte tatsächlich aller Welt vom »Glück der Konzentrationslager« erzählen, wozu ein Reporter ihn ermutigt, – es sei denn, er hat es mittlerweile »selbst ver[gessen]« (ebd.), verdrängt oder nach reiflicher Überlegung als implausibel abgetan – so ginge 23 Kertész schließt seine Dankrede anlässlich der Verleihung des FriedrichGundolf-Preises für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland 1997 mit folgender Mutmaßung über die Mitverantwortung des deutschen Kulturerbes für die Ohnmacht von Individuen, ihr historisches Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Wir lesen: »[I]ch darf sagen, daß all das, was ich in Deutschland von der deutschen Barbarei erleiden mußte, zum Teil inspiriert von der deutschen Kultur seine künstlerische Gestalt annahm und auch wieder nach Deutschland zurückgelangte. Und diese Tatsache birgt doch einen stillen Trost in sich, der uns über unser Schicksal erhebt.« Imre Kertész: »Fruchtbarkeit in der Negativität. Dankrede«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1997, Göttingen, S. 99. 24 Viktor E. Frankl: »Ein Psychologe erlebt das KZ«, in: Christiane Lähnemann: Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung. Projektfahrt nach Auschwitz und Krakow, http://www.studenthelp.de/p/p/referate/02/5887.htm. Der Zeitzeuge Stanislaw Gladyszek berichtet über die Relativitäten des Lagerlebens: »Im Lager dachte ich immer, wenn Du nur für einen Tag frei und satt bist, dann bist du glücklich. Jetzt bin ich total glücklich. Ich erlebe jeden Tag mit großer Freude. Ich habe das erlebt und überlebt, da bin ich groß.«

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Performative Glücksräume es in aller Wahrscheinlichkeit »um ein Glück«, das in den Worten eines Rezensenten »vielleicht gerade in der sozialen Ausgrenzung möglich ist. [...] Dies ist gleichermaßen das Glück, im Versteck schreiben zu können, und das vielleicht spezifisch jüdische Glück, nicht in der Hecke der Natur zu verharren, sondern im Menschsein, einfach und ernsthaft, aufzugehen.«25 Zwar erbringt der Roman den Nachweis eines besonderen »jüdischen Glücks«, das im humanistischen Gedankengut des Judentums tief verankert ist. Zugleich aber hinterlässt Györgys vermeintliches KZ-Glück auf universeller Ebene den starken Eindruck einer ästhetischen Verharmlosung von Gewalt und Terror. Kaum ist er in Auschwitz angekommen, äußert György sich naiv-staunend über Ordnung und Sauberkeit seiner neuen Umgebung sowie über die »strahlenden Gesichter« derer, die ihre »warme Suppe« mit so großer »Dankbarkeit« (RS 116) erhalten. Zudem beschreibt er bei seiner Überweisung in das Konzentrationslager Buchenwald den Ort ansichtskartenähnlich, als habe er ihn mit einem Ferienlager verwechselt: »Buchenwald liegt in einer hügeligen Gegend, auf dem Rücken einer Anhöhe. Die Luft ist rein, das Auge wird von einer abwechslungsreichen Landschaft erfreut, dem Wald ringsum und den roten Ziegeldächern der Bauernhäuser im Tal« (RS 139). Tiefenpsychologisch kompensiert oder sublimiert eine derartige Ästhetisierung bzw. Poetisierung des Umfelds den Verlust der Normalität im Angesicht des Wider-Sinns der Alltagswirklichkeit.26 Györgys Trieb zum Weiterleben mag ebenso mit der auktorialen Vorstellung von der ethischen Dimension des Glücks zu tun haben. Dabei gilt es der Frage nachzugehen, ob Kertész’ Stellungnahme ›Glück sei Pflicht‹27 sich in der Praxis auf Szenarien extremster Menschenmisere anwenden ließe. Kertész greift nicht auf den jüdisch-christlichen Theodizee-Begriff zurück, um die Aporie des lei-

25 »Imre Kertész und das Glück«, in: Netzzeitung, 10. Dezember 2002, http:// www.netzeitung.de/voiceofgermany/218623.html. 26 Seinerseits hat Frankl betont, wie wichtig es ihm gewesen sei, die erhabensten Augenblicke des Glücks auszukosten, etwa das zauberhafte Spektakel eines schönen Sonnenuntergangs, der es ihm möglich machte, die Düsterkeit des Vernichtungslagers momentan zu vergessen. Vgl. dazu V. F. Frankl: Ein Psychologe erlebt das KZ. 27 Der Interviewer des ZEIT-Gesprächs schreibt dieses Postulat eher der möglichen »Rettung des Kleinbürgers vor der Tragödie der Existenz« zu, vgl. »Die Glückskatastrophe. Iris Radisch im Gespräch mit dem Nobelpreisträger Imre Kertész«, in: Die Zeit, Nr. 43, 2002, http://www.zeit.de/2002/43/ 200243_l-kertesz_xml. Bei Kant war Glückseligkeit die Folge einer strengen Pflichtethik. Kertész aber will wissen, ob das Glück eine Pflicht »[g]egenüber uns selbst, unsern Mitmenschen oder Gott« sei. Imre Kertész: »Meine einzige Identität«, in: Sinn und Form 50 (1998), H. 2, S. 174.

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Alan Corkhill denden Menschen wegzuerklären. Er schließt sich auch nicht der Vorstellung des Leidens als historischen Schicksals des Judentums an: noch weniger der orthodox-religiösen Wahrnehmung des Holocaust als Strafe Jahwes für die Unterlassungssünden des jüdischen Volkes. Letztere Auffassung vertritt Györgys strenggläubiger Onkel Lajos (RS 35), wohingegen der junge KZ-Häftling sich unverzagt ans blochsche ›Prinzip Hoffnung‹ klammert. Eine solche positivistische Glücksgesinnung hängt z.T. mit der beglückenden Fähigkeit der meisten Inhaftierten zusammen, eigenes Leid solidarisch in gegenseitiges Mitleid umzuwandeln. György geht einen Schritt weiter, indem er mit den ›Tätern‹ sympathisiert, beispielweise mit dem Chirurgen des Krankenlagers, dessen »Trauer im Gesicht« (RS 197) er nicht ohne mitmenschliche Anteilnahme beobachtet hat. Eine der Hilfskonstruktionen gegen nihilistische Verzweiflung in den KZs war ein Sinn für Humor, wobei Kertész nicht der Erste ist, darauf aufmerksam zu machen, wie das Erzählen jüdischer Witze den Leidensgenossen ermöglichte, trotz unaussprechlicher Gräuel solidarisch zueinander zu stehen und Mitleid zu zeigen (RS 158). Das Glück-im-Unglück-Paradox entspricht extern-performativ dem Oxymoron der »schmerzlich lächelnde[n] [...] Gesichter[ ]« (RS 159) der Raconteurs und Zuhörenden. Im Roman fungiert spontanes Gelächter als Selbsterhaltungs- und Überlebenstherapie. Das Erleben von Langeweile in Buchenwald stellt bei Kertész keine existentialistische Krise dar. Zu bewältigen ist die tyrannische Unberechenbarkeit eines Tagesablaufs, der für die NS-Opfer umso schlimmer hätte ausfallen können, wenn dies oder das passiert wäre. So war »der morgige Tag derselbe Tag, oder eben ein genau gleicher Tag – wenn wir Glück hatten« (RS 165). Kertész, dem man das letzte Wort über seinen Holocaust-Roman gönnen sollte, hat seine Fiktionalisierung der Glückspräsenz dort, wo man es paradoxerweise am wenigsten ahnt, folgendermaßen gerechtfertigt: »Was ist das Obszöne und Skandalöse an der Empfindung von Glück im Konzentrationslager? Ist es skandalös, dort nicht ständig und fortdauernd gelitten zu haben? Ist es obszön, das Nichtleiden überhaupt zu thematisieren? Für einen kindlichen Betrachter gibt es keine moralischen Werte, folglich muss diese Glücks-Fähigkeit als die Normalität der reduzierten, nackten Existenz angesehen werden. Es ist die menschliche Eigenschaft, in unausweichlichen Situationen und Abhängigkeiten, in denen dem Menschen einzig noch die Entscheidung bleibt, seine Daseinsform anzunehmen oder abzulehnen, das Leben zu wählen. Denn es ist unerträglich, keine Freiheit zu besitzen und damit einem Schicksal ausgeliefert zu sein.«28

28 Anja Szymanski: »Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Buchbesprechung«, in: Leipzig Almanach, http:// www.leipzigalmanach.de/literatur_ imre_kertesz_roman_eines_schicksallosen_anja_szymanski.html.

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Performative Glücksräume Der ungarische Romancier war allerdings zu sehr Realist, als dass er die Rettungsaktion für seine Hauptfigur in dem Eskapismus eines märchenhaften Happy Ends gipfeln ließe, wie es der italienische Regisseur Robert Benigni bis zu einem gewissen Grad in seinem Kinoschlager La Vita é Bella (1997) getan hat.29

Heinrich Böll Mein trauriges Gesicht (1950) – Der Lacher (1952) Im Frühwerk des rheinländischen Laureaten Heinrich Böll kommt dem Glück eine satirisch-gesellschaftskritische Dimension zu. Dies tritt insbesondere in der Erzählung Mein trauriges Gesicht und in der zwei Jahre später erschienenen Kürzestgeschichte Der Lacher zutage. Wo Kertész die ›Pflicht zum Glück‹ zu einem ethischen Postulat, ja zu einer existentiellen Stütze für das nackte Überleben erklärt, zeigt uns Böll, was aus dem Glücklichsein als ideologischem Zwang und beruflicher Notwendigkeit resultieren kann. Die politische Allegorie Mein trauriges Gesicht zeichnet den traumatischen Tageslauf eines nach fünfjähriger Haft freigelassenen ›Staatsfeindes‹, der eine Strafe absitzen musste, weil er am feierlichen Todestag des Führers gewagt hatte, auf offener Straße ein fröhliches Gesicht zu machen. In Gedanken versunken, mit einem leicht schwermütigen Gesichtsausdruck beobachtet er die Bahn der Möwen, ohne zu ahnen, dass laut einem anderthalb Tage alten, in der Presse, in Flugblättern und durch Lautsprecher verbreiteten Regierungserlass die Zurschaustellung eines traurigen Gesichts strengstens untersagt ist. Der ihn verhaftende Schutzmann, seinerseits »ernst wie ein Büffel« (TG 578),30 macht den total verblüfften Ich-Erzähler auf sein Delikt aufmerksam: »›Es gibt ein Gesetz, daß Sie glücklich zu sein haben.‹ ›Ich bin glücklich!‹ rief ich. ›Ihr trauriges Gesicht …‹, er schüttelte den Kopf. ›Aber dieses Gesetz ist neu‹, sagte ich. ›Es ist sechsunddreißig Stunden alt, und Sie wissen wohl, daß jedes Gesetz vierundzwanzig Stunden nach seiner Verkündung in Kraft tritt.‹« (TG 579)

29 Kertész hat zur Verteidigung des filmischen Ausgangs behauptet: »Der Geist, die Seele dieses Films sind authentisch, dieser Film berührt uns mit der Kraft des älteren Zaubers, des Märchens«. Imre Kertész: »Wem gehört Auschwitz?«, in: ders.: Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. Essays, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 152. 30 Heinrich Böll: »Mein trauriges Gesicht«, in: ders.: Werke. Romane und Erzählungen 1 (1947-1952), hg. v. Bernd Balzer, Köln 1987, S. 577-584. Im Folgenden zitiert unter der Sigle TG.

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Alan Corkhill Auf Grund seines asozialen, nonkonformistischen Verhaltens wird er zum zweiten Mal verhört, dann gedemütigt, brutal geschlagen und als Rückfälliger zu weiteren zehn Jahren Haft verurteilt. Er nimmt sich resigniert vor, nach seiner Entlassung aus der Strafanstalt überhaupt kein Gesicht mehr zu riskieren. Ein ausdrucksloses Gesicht bedeutet also, sich dem totalitären System anzupassen und damit jegliches Eigenleben und jegliche Individualität einzubüßen. Im Unterschied zu Sisyphos, der sich für sein Glück anstrengt, es gleichsam selbst in die Hand nimmt, fehlt Bölls radikal entpersönlichter Figur jeder Freiraum zur Artikulierung von Glücks- und Unglücksgefühlen. Darin besteht das wahrhaft Tragische: dass in der Lage politisch-sozialer Unfreiheit dem Menschen nicht einmal mehr der Trost des Glücks im Un-Sinn gewährleistet ist. Bölls Kurzgeschichte liest sich somit als eine zeitkritische Breitseite gegen verordnete Glücksmodelle und -programme, wie totalitäre Diktaturen sie nach eigenem Gutdünken oder im vermeintlichen Interesse des Gemeinwohls ihren eingeschüchterten Untertanen auferlegen. Man denke an Orwells und Huxleys ›Große Brüder‹. In Bölls Parabel ist das Paradoxon ›Glück im Un-Sinn‹ umso ausgeprägter, da die führerlos gewordene Gewaltherrschaft sich an einer willkürlichen und vernunftwidrigen, weil gegenutopischen Glücksideologie orientiert. Die faschistisch-fetischistische Beschaffenheit dieser Gesellschaftsordnung drückt sich dadurch aus, dass jeder gehorsame und vorbildliche Kamerad »sauber, rasiert, glücklich und satt zu sein hatte« (TG 579). Dass der ziemlich verwahrlost aussehende Ich-Erzähler zur Zeit seiner Festnahme keine dieser Anforderungen erfüllt, spricht verständlicherweise gegen ihn. Seine pflichtbewussten Mitbürger sind freilich bei der Befolgung der Regeln sorgsamer vorgegangen, was man zum Beispiel an der »muntere[n] Heiterkeit« (TG 580) der Hausfrauen bei der Ausübung ihrer weiblichen Tugenden ›Kinder, Kirche und Küche‹ erkennt. Die von einem gewissen Dr. Dr. Dr. Bleigoeth (nomen est omen) verwaltete Abteilung für »Arbeitsfreude« (TG 581) sorgt dafür, dass alle Mädchen der »Liebenskaserne« (ebd.) gesund bleiben, indem sie »vor den abendlichen Freuden die vorgeschriebene Lüftung« (ebd.) unternehmen. Der Text ist von solchen Euphemismen durchsetzt. Dieselbe Instanz hat den Fabrikarbeitern der Stadt befohlen, »mit einem milden Glück auf den Gesichtern« (TG 581) heimzukehren, doch nicht bevor sie gemäß der Parole des derzeitigen Staatschefs »Glück und Seife« (ebd.) sich gründlich gewaschen haben. Eine absolute Staatskontrolle, die sich nicht zuletzt auf sämtliche Kultureinrichtungen erstreckt, bewirkt, dass die Zwangslektüre von Parteipropaganda (TG 582) die Lust am Lesen – für Csikszentmihalyi ein wichtiges Flow-Erlebnis – nahezu ersetzt hat. Die Hohlheit und Oberflächlichkeit der staatlichen Glücksgesinnung zeigt sich zuletzt

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Performative Glücksräume auch in dem merklichen Widerspruch zwischen der obligatorischen Glücksfassade der Stadtbewohner und der ängstlichen und misstrauischen Art, in der diese beim Anblick des vom Schutzmann eskortierten ›Sündenbocks‹ blitzschnell in ihre Häuser verschwinden (TG 580). Nur der ehemalige Lehrer des Ich-Erzählers ist dreist genug, aus der Menge herauszutreten und ihm auf pseudorituelle Weise »dreimal ins Gesicht« (TG 581) zu speien. Nichts bezeugt deutlicher, wie sehr das Regime sich zum Sklaven leerer Glückseligkeitsrhetorik gemacht hat, als der geschraubte, verschachtelte Wortlaut seiner Gesetzesstatuten, von denen eine stipuliert: »Jeder Polizist hat sich jeden Ergriffenen (sie meinen Verhafteten) gegenüber als Gewalt an sich zu dokumentieren, ausgenommen der, der ihn ergreift, da dieser des Glücks teilhaftig werden wird, bei der Vernehmung der erforderlichen körperlichen Maßnahmen vorzunehmen« (TG 582; Hervorhebung A.C.). Der zweite Prosatext, Der Lacher, handelt von einem verheirateten Mann unbekannten Alters, dessen berufliche Aufgabe es ist, andere zu erheitern und zu belustigen. Das erzählende Ich ist weder professioneller Clown noch Komödiant. Hätte man ihn als Satiriker beauftragt, Leute zu bespötteln oder Sachverhalte zu persiflieren, so würde er sich vielleicht der an anderer Stelle schon zitierten Behauptung Nells (Endgame) anschließen: »Nichts ist komischer als das Unglück.« Aber einen solchen Auftrag hat der Mann eben nicht. Er scheint seinen Lebensunterhalt meist freiberuflich zu verdienen. Seine artifizielle, ans Absurd-Surrealistische grenzende tägliche Arbeitsroutine beschreibt er folgendermaßen: »Ich lache wie ein römischer Kaiser oder wie ein sensibler Abiturient, das Lachen des 17. Jahrhunderts ist mir so geläufig wie das des 19., und wenn es sein muß, lache ich alle Jahrhunderte, Gesellschaftsklassen, alle Alterklassen […]: ich hab’s einfach gelernt, so wie man lernt, Schuhe zu besohlen (L 848).« 31

Was der Lacher in seinem gefragten Nischenberuf verrichtet, tut er nicht gerade aus Nächstenliebe. Die Rede ist allein von einem kommerziellen, mechanisch geleisteten Service, ja von einer effizient gemeisterten Kunst. Kurzum: Das Glück ist nicht minder käuflich als die Angebote der staatlich angeheuerten Freudenmädchen in Mein trauriges Gesicht. Das Paradoxe der Lebenspraxis des Lachers sieht man in der Diskrepanz zwischen Glück als privat Erlebtem und Glück als Performativität. So verspürt der Erzähler nach Feierabend wenig Lust zu lachen, sobald seine angestrengten Gesichtsmuskeln, die ›glückhaft‹ gezogenen Grimassen wehtun (L 850). Er 31 Heinrich Böll: »Der Lacher«, in: ders.: Werke. Romane und Erzählungen 1 (1947-1952), hg. v. Bernd Balzer, Köln 1987, S. 848-850. Im Folgenden zitiert unter der Sigle L.

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Alan Corkhill fühlt sich sogar erst dann wieder glücklich, wenn er sein Lachen »durch tiefen Ernst« (L 850) ersetzen darf. Dennoch nimmt er sich ernst genug, um nicht über die Absurdität seiner Berufswahl zu lachen. Ausgelacht zu werden hätte ihm wiederum einen Grund zur Selbstkorrektur gegeben. Charakteristischerweise behauptet er von sich, niemals in spontanes Gelächter ausgebrochen zu sein, so sehr seine Frau, mit der er eine »stille, [...] friedliche Ehe« (L 850) führt, ihn auch dazu zu bewegen versucht. Kaum mehr als ein »sanftes Lächeln« (ebd.) ist er imstande hervorzubringen. Dennoch gehört es zu seinen Performanz-Fertigkeiten, anderen zu Glück zu verhelfen, auch wenn er meint, er habe seine Klienten nicht im geringsten »erheiter[t]«, sondern sei bloß da gewesen, um »Heiterkeit« in abstracto »dar[zustellen]« (L 848). In seinem Falle bedingen sich die beiden Teile der berühmten These Feuerbachs »Bist du glücklich, so machst du auch andere glücklich«32 keineswegs. Die erkünstelte Heiterkeit des Lachers widerspricht dem, was die Physiognomik seit der Antike gelehrt hat: dass das Glück einem wirklich glücklichen Menschen ins Gesicht geschrieben steht. Insofern spielt der Lacher seine Rolle überzeugend, wenn er abends in den Varietés sitzt und »an schwachen Stellen des Programms ansteckend zu lachen« (L 849) beginnt. Sein forciertes Lachen – er hasst in Wirklichkeit »den Lärm des Varietés« (L 850) – versteht sich als performance act, als medial angebotene Glücksdarstellung. Medienglück ist demnach ein »zeigbares«, meist theatral für Zuschauer sichtbar gemachtes Glück.33 Darüber hinaus wird das von Bölls Entertainer hergestellte Performanz-Glück hörbar, da zusätzlich »auf Schallplatten, [...] auf Band« (L 490) gelacht wird.

Fazit Laut Frankl, der sexualneurotische Paradoxien des Glücks erforscht hat, brauchen wir immer »einen Grund zum Glücklichsein«34. Sonst »entzieht [es] sich uns genau und gerade in dem Maße, in dem wir es intendieren«.35 Sisyphos’ rebellischer Aktivismus sorgt dafür, dass Sinnzusammenhänge – koste es, was es wolle – in die Absurdi32 Ludwig Feuerbach: »Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist«, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10. Kleine Schriften III (18461850), hg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1971, S. 144. 33 Vgl. Jo Reichertz: Die Macht der Worte und der Medien, Wiesbaden 2007, S. 113. 34 Siehe etwa die Ausführungen von Viktor E. Frankl: »Paradoxien des Glücks am Modell der Sexualneurose«, in: Ulrich Hommes (Hg.): Was ist Glück? Ein Symposion, München 1976, S. 108-126. 35 Ebd., S. 109.

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Performative Glücksräume tät hineinkonstruiert werden. Winnie »wünscht sich«, mit den Worten des Beckett-Regisseurs Peter Brook, »jeden Tag einen Grund zum Überleben zu finden. Dass dieser Tag, trotz ihrer Ängste, ein guter Tag wird«36. Bei Kertész gewinnt wiederum der »Grund zum Glücklichsein« im Lichte der Schrecknisse der NS-Endlösung die Konturen eines existentiellen Überlebensimperativs. Und Bölls Lacher umgeht die Frage nach dem Sinn des Glücks, jegliches Nachdenken über das paradoxe Gegensatzpaar Glück/Unglück, indem er affektives Glück externalisiert und es zu einem mechanischen bzw. sinnneutralen Performanz-Akt umfunktioniert. Die auf der stoisch-existentialistischen Philosophie fußende Vorstellung vom Willen zum Glück, wie sie sich bei Camus, Beckett und Kertész artikuliert und aktiviert findet, bestätigt Alains Diktum, dass »man unmöglich glücklich sein kann, wenn man es sein will: man muß sein Glück wollen und es machen«.37 Was geschähe aber, wenn eine äußere Instanz diktierte, dass jeder sinnentleerte Tag ein glücklicher Tag sein müsste, um etwa ein (fehlerhaftes) utopisches Programm der Seligkeit für alle Menschen auf Erden verwirklichen zu lassen, und sei es, sie glaubte der eigenen Glücksrhetorik nicht mehr? Mit Sicherheit liegt in dieser Hinsicht die verordnete, instrumentalisierte Heiterkeit, die Böll in Mein trauriges Gesicht ironisiert, nur einen Steinwurf entfernt von dem zwanghaften Fühlwohlglück, welches Pascal Bruckner im paradox überschriebenen Buch Verdammt zum Glück38 zur Signatur unserer postkapitalistischen Konsum- und Freizeitgesellschaft deklariert und welches der amerikanische Glücksforscher Mark Kingwell mit Hinweis auf die heutige Flut der Wellness- und Glücksratgeberliteratur eng an die inhumane Pathologisierung und Tabuisierung des Unglücks koppelt. Damit sind die Weichen für einen erneuten, modifizierten Umgang mit den literarischen Facetten des Phänomens ›absurdes Glück‹ gestellt, was aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.

36 Die Angst ist das Stärkste. Berliner Gastspiel: Theatermagier Peter Brook über Beckett, die Frauen und das Geheimnis der Leere, www.tagesspiegel. de/kultur/art772,2222480. 37 Alain: Die Pflicht, glücklich zu sein, S. 223. 38 Pascal Bruckner: Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Ein Essay. Aus dem Französischen v. Claudia Stein, Berlin 2001. Dem philosophischen Essayisten Bruckner geht es hierbei primär darum, sich mit den tyrannisierenden Implikationen der gegenwärtigen ›Glücksinflation‹ auseinanderzusetzen, wie sie insbesondere von verschiedenen Schichten der Kulturindustrie angekurbelt worden ist. Eine der Grundthesen des Buches ist, dass die Verpflichtung zum Glücklichsein in der Postmoderne häufig in seine Negation umschlägt, ja dass ebendieser freiwillige Gesellschaftszwang so leicht zu Depressionen und Verzweiflung führt, ganz zu schweigen vom Unvermögen eines Individuums, Sinn im Un-Sinn zu entdecken.

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Alan Corkhill

Literatur Alain: Die Pflicht, glücklich zu sein, Frankfurt a.M. 1975. Beckett, Samuel: Endspiel\Fin de partie\Endgame, Frankfurt a.M. 1974. Ders.: Glückliche Tage\Happy Days\Oh les beaux jours, Frankfurt a.M. 1975. Böll, Heinrich: »Mein trauriges Gesicht«, in: ders.: Werke. Romane und Erzählungen 1 (1947-1952), hg. v. Bernd Balzer, Köln 1987, S. 577-584. Ders.: »Der Lacher«, in: ders.: Werke. Romane und Erzählungen 1 (1947-1952), hg. v. Bernd Balzer, Köln 1987, S. 848-850. Brockmeier, Peter: Samuel Beckett, Stuttgart u.a. 2001. Bruckner, Pascal: Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Ein Essay. Aus dem Französischen v. Claudia Stein, Berlin 2001. Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1998 [1959]. Ders.: »Briefe an einen deutschen Freund«, in: US Information Services Divisions (Hg.): Neue Auslese aus dem Schrifttum der Gegenwart, London 1945/46, Juli 1944, H. 4, S. 3-9. Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow – Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 1992. Feuerbach, Ludwig: »Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist«, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10. Kleine Schriften III (1846-1850), hg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1971, S. 122-150. Frankl, Viktor E.: »Paradoxien des Glücks am Modell der Sexualneurose«, in: Ulrich Hommes (Hg.): Was ist Glück? Ein Symposion, München 1976, S. 108-126. Ders.: »Ein Psychologe erlebt das KZ«, in: Christiane Lähnemann, Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung. Projektfahrt nach Auschwitz und Krakow, http://www.studenthelp.de/p/p/ referate/02/5887.htm. Groß, Stefan: »Was bleibt aber, stiftet der Dichter«, in: Tabula Rasa. Jenenser Zeitschrift für Kritisches Denken 34 (2008), http:// www.tabvlarasa.de/34/Gross3.php. Kenner, Hugh: A Reader’s Guide to Samuel Beckett, London 1973. Kertész, Imre: »Fruchtbarkeit in der Negativität. Dankrede«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1997, Göttingen, S. 97-99. Ders.: »Meine einzige Identität«, in: Sinn und Form, 50 (1998), H. 2, S. 165-177.

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Der glückliche Moment im/des Gedichts. Paradoxien moderner Lyrik, von Mayröcker zu Hölderlin ANJA GERIGK In der modernen Lyrik begegnet das Glück nicht in Form des Happy Ends, welches über seine Paradoxien von Bedingung und Erfüllung (de-)konstruiert wird,1 und dennoch ist es möglich, den glücklichen Moment im Gedicht über dieselbe Interpretationsfigur zugänglich zu machen. Der erfüllte Augenblick, sei er lyrisch oder narrativ produziert, scheint selbst die Struktur zu sein, in der sich Glück noch literarisieren lässt, ohne dass die Texte dadurch dem Urteil ›trivial‹ verfallen oder das Prädikat ›modern‹ riskieren. Allerdings gibt es für punktuelle, glückhafte Zeitlichkeit bereits ein theoretisches Konzept, die von Karl Heinz Bohrer literarhistorisch neu bestimmte »Epiphanie«. Seit der Begriff am Beispiel von klassisch modernen Romanciers – Joyce, Proust, Musil – eingeführt wurde,2 hat ihn die Forschung ebenso mit der lyrischen Avantgarde3 in Verbindung gebracht wie mit Peter Handkes erzählten Augenblicken.4 Wenn im ersten Teil dieses lyrikgeschichtlichen Vergleichs Gedichte von Friederike Mayröcker gelesen werden, dann unweigerlich in methodischer Konkurrenz zu Bohrers epiphaner Ästhetik für die Moderne. Gert Mattenklott hat zudem eine ästhetische Gegenethik

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Zu dieser Grundlegung vgl. Anja Gerigk: »Lesbarkeit des Glücks – theoretische Grundfiguren«, in: dies. (Hg.): Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen, Bielefeld 2010, S. 12ff. Vgl. Karl Heinz Bohrer: »Utopie des ›Augenblicks‹ und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur«, in: ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, S. 180218. Vgl. Wolfgang Emmerich: »Benns bacchische Epiphanien und ihre Dementi«, in: Friederike Reents (Hg.): Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007, S. 89-106. Vgl. Christoph Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozess, Wien 1984, S. 194ff.

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Anja Gerigk umrissen, mit der Werke moderner Autoren, unter ihnen Mayröcker, die »Glücks- und Lustkultur«5 der sozialen Welt verweigern, um stattdessen »exklusiv, esoterisch, metaphysisch«6 eine Anthropologie der glückverheißenden, zugleich aber gefährdenden Extremoder gar Transzendenzerfahrung zu inszenieren. Glück paradox dagegen, wie man es theoretisch denken und nachfolgend im Blick auf die lyrische Moderne textanalytisch verwerten kann, benötigt das Metaphysische nun weder als Strukturvorlage (Bohrer) noch ideengeschichtlich als wiederkehrende Denkweise.

Mayröckers Spätlyrik Einen hohen Grad an Esoterik und die entsprechende Modernität bescheinigt man einhellig den Texten Friederike Mayröckers. Gerade ihre spätere Lyrik ist zwar werkintern oder intertextuell aufschließbar, initiiert jedoch darüber hinaus die Suche nach adäquaten Lesewegen, so fragt Wendelin Schmidt-Dengler: »Wie ist es möglich, zur primären Rede dieser Gedichte eine sekundäre zu konzipieren, die sich nicht im vorhinein ad absurdum führt?«7 Dabei dürfe sich das textnahe Deuten nicht im poetischen Detail verlieren, d.h. ohne Bezug zum Ganzen argumentieren – und sei dieses Ganze auch die Form des Fragments.8 Wenn ein Ungenügen an den philologischen Möglichkeiten besteht, mag die theoriebasierte statt werkhermeneutische Interpretation den Versuch wert sein. Die bisherige Behandlung des Glücksmotivs bei Mayröcker geht nicht nach Theorie, sondern eines Teils nach dem ideengeschichtlichen Vorbild der Mystik. Gemäßigte Stimmungen sind folglich untypisch, vielmehr variiere das Gesamtwerk einen »Zustand der ekstatischen Verströmung, der einander scheinbar Ausschließendes wie Liebe und Verdammnis, Lust und Schmerz, Freude und Angst, ein Lachen-Weinen zusammenbringt«9. Einen solchen Zusammenfall aller Gegensätze postuliert die philosophisch-literarische Überliefe5

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Gert Mattenklott: »Schönheitslinien nach dem Schweigen der Ideen. Botho Strauß, Peter Handke und Friederike Mayröcker«, in: Christoph Wulf u.a. (Hg.): Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, S. 151. Ebd., S. 141. Wendelin Schmidt-Dengler: »Mit Augen halten und mit Händen lesen. Zu Friederike Mayröckers Gedichtband Winterglück (1986)«, in: Henriette Herwig u.a. (Hg.): Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Rusterholz zum 65. Geburtstag, Tübingen 1999, S. 398. Ebd., S. 405. Heidemarie Stegmann-Meißner: »Motive und Variationen in Texten von Friederike Mayröcker«, in: Text + Kritik 84 (1984), S. 71.

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Glücklicher Moment rung zuerst für die erfahrene Einheit mit Gott, nachgedichtet in den Ekstasen nicht nur religiöser Erlebnisse bis zur modernen Mystik des ›anderen Zustands‹ bei Musil. Der berührt sich mit der bereits genannten Tradition, in der Mayröcker rezipiert worden ist: Epiphanie. Ursprünglich ebenfalls eine Art unmittelbarer Gotteserfahrung, versteht Bohrer darunter die momentane Intensität dargestellter Objektwahrnehmung und somit eine rein subjektive Bedeutungsbildung statt religiöser Offenbarung. Die gefühlte, vor allem ästhetisch vermittelte Zeitenthobenheit ist »Ursache« eines »utopischen Effekts«,10 der ohne verbindliche Ideologie und Geschichtsordnung auskommt. Michler bringt jene Umstellung auf die knappe Wendung vom »Augenblick als Utopicum der Moderne«11 und impliziert dessen Diskontinuität und Subjektivität. Die Mayröcker-Forschung sieht den Epiphanie-Charakter der Texte ausdrücklich eher darin, »daß jedes Objekt zum Erlebnis werden kann«12. Poetologisch wird diese Möglichkeit ins Konzept des »euphorischen Auges«13 gefasst: Es umgreift sowohl den produktionsästhetischen Aspekt als auch die textuelle Wahrnehmungsinstanz, nicht zuletzt eine metaphorische Sprache, die den epiphanen Effekt hervorbringt. Blicke, Berührungen (1989) drängt sich für eine Erprobung der theoretisch vorgeschlagenen Paradoxie-Figur deshalb auf, weil man zunächst meinen könnte, der Text sei – bewusst bildlich gesprochen – vom »euphorischen Auge« geschrieben und auch sonst ein Paradefall lyrischer Epiphanie. Vollständig lautet das Gedicht: »Blicke, Berührungen hineingeweht die Lindenblüte ins Treppenhaus, auf einer Stufe der trockene Aprikosenkern (verzeichnete Zeile?) ans Blaue wippt vom Dachgarten aus ein Palmenhaupt, fächelt feurige Seide in zarten Wirbeln, sein Scheitel im Morgenlicht«14 10 K. H. Bohrer: Utopie des »Augenblicks«, S. 200. 11 Werner Michler: »Zukunft und Augenblick. Utopien der Jahrhundertwende«, in: Ulrike Tanzer u.a. (Hg.): Das glückliche Leben – und die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österreichischen Literatur, Wien 2002, S. 19. 12 Lisa Kahn: »Lasset freundlich Bild um Bild herein. Das ›euphorische Auge‹ Friederike Mayröckers«, in: Text + Kritik 84 (1984), S. 83. 13 Diesen Ausdruck prägt Mayröcker in ihrem Dankeswort zur Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur, Juni 1982. 14 Friederike Mayröcker: »Blicke Berührungen«, in: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939-2003, hg. v. Marcel Beyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 521.

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Anja Gerigk In einer ersten Annäherung wird Blicke, Berührungen entlang der visuellen Euphorie sowie mit Bohrers modernetheoretischem Hintergrund gelesen, um zweitens ausführlich die Untersuchungsperspektiven der paradoxen Subjektivität, Zeitlichkeit und schließlich Bedeutung/Performanz einzunehmen. Die »Blicke« des Titels setzen sich dadurch fort, dass Abfolge und Einteilung, in der die Verszeilen ihre Gegenstände und Perzeptionen präsentieren, weitgehend mit einer Logik der Blickführung übereinstimmen. Durch die Versgrenzen und Enjambements werden die Bewegungen, Orte, Objekte und Wahrnehmungsqualitäten einzeln fokussiert. Dass in einer literarisch-lyrischen Epiphanie »jedes Objekt zum Erlebnis werden kann«, wie Kahn formuliert, bestätigt sich durch die zunächst fehlende subjektive oder symbolische Bedeutung der zuerst erblickten Gegenstände. Die Wahl jener gewöhnlichen Dinge allein kann kaum Anzeichen poetischer Begeisterung sein, deshalb richtet sich die Aufmerksamkeit des Lesens auf Indizien einer allmählichen Metaphorisierung: Das »Blaue« (Z 5) steht metonymisch zwar für den Himmel, könnte aber genauso gut noch als visueller Eindruck durchgehen. »Palmenhaupt« (Z 7) ist im Werkkontext metaphorisch besetzt,15 die kulturellen Semantik steht zwischen archaisierender, verblasster Metapher und der Symbolik des Palmenzweigs, die noch erläutert werden soll. An der Herstellung des utopischen Augenblicks ist das Wort dadurch beteiligt, dass es einen dreifachen Tropus einleitet: die Seide als Bild für Luft, »feurig« (Z 7) in Kombination mit »Seide« (ebd.) bildlich für erhitzte Luft und das ›Fächeln‹ (ebd.) als personifizierende Tätigkeit im Unterschied zur passiven Bewegung des ›Wippens‹ (Z 5). Mit der Metaphorisierung geht eine Intensivierung der Wahrnehmung einher, denn dem Sehen verbindet sich der taktile Sinn, die ›Berührungen‹ »feuriger Seide« und »zarter Wirbel« (Z 8). Außerdem beziehen sich wenigstens die drei letzten Verse sämtlich auf das verbildlichte Palmenhaupt. Die Plötzlichkeit, mit der die textuelle Beobachtungslage eintritt (»hineingeweht« Z 1), das vorherrschende Präsens sowie die Hinführung auf einen letzten, herausgehobenen Wahrnehmungsmoment (»Scheitel im Morgenlicht« Z 9) sprechen zusätzlich dafür, Blicke, Berührungen in den Kanon der Epiphanie-Gedichte aufzunehmen. Auf der Suche nach einer spezifisch lyrikgeschichtlichen Referenz stößt man auf die Imagisten, eine Gruppe der englischsprachigen Avantgarde: In konziser Form, in freien Versen und ohne konventionelle Metaphorik wurden einzelne Erscheinungen herausgestellt.

15 Vgl. Friederike Mayröcker: o.T. [»die lila tränen am schrägen fenster«], in: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939-2003, hg. v. Marcel Beyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 751.

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Glücklicher Moment Zum exemplarischen Vergleich eignet sich Ezra Pounds In a Station of the Metro: »The appariation of these faces in a crowd;/ petals on a wet black bow«16. Trotz der plausiblen Einordnung in die modernistische Lyrik hat die bisherige Lektüre eine Reihe von Auffälligkeiten in Mayröckers Text vernachlässigt. Wie verträgt sich die bisher nur angedeutete symbolische Bedeutung des »Palmenhaupts« damit, dass eine moderne Utopie des Augenblicks nicht auf bestehende kulturelle Idealvorstellungen und ihre Zeitmodelle zurückgreift? Vor allem aber bleibt zu fragen, welche Bedeutung und Funktion der »verzeichneten Zeile« (Z 4) zukommt. Immerhin steht diese mit ihrer Thematisierung der Schreibsituation im Kontrast zum Schlusspunkt des transzendenzähnlichen ästhetischen Scheins. Mit Bohrer würde man das Gedicht strukturell als weltliche Offenbarung oder poetische Verklärung begreifen, löst sich also trotz Negativität und Formalisierung noch nicht vollständig vom Denkmuster der Metaphysik. Unabhängig von dieser besonderen Modernitätsproblematik ist es dagegen möglich, den lyrischen Text Blicke, Berührungen als Entfaltung moderner Paradoxien zu lesen. Als Einstieg in die theoretische Interpretation wird analysiert, wie das Subjekt zu der Ebenenunterscheidung Voraussetzung – Glücksgehalt steht und welche Textpositionen es dabei einnimmt. Die Bedingung des Subjektiven scheint in den Versen abwesend zu sein, kein Sprecher nennt sich selbst. Dafür wird im Titel vorausgesetzt, dass es jemanden gibt, der Blicke aussendet, Berührungen erfährt. Obwohl nirgends »ich« gesagt wird, findet sich eine weitere subjektive Stelle: die elliptische, geklammerte Frage nach der verzeichneten Zeile. Sie wird nicht vom Wahrnehmenden, wohl aber vom Schreibenden geäußert. Das Ver-Zeichnen in seiner Doppelbedeutung von Aufzeichnung und Verschreiben/Verfälschen macht die Differenz Wahrnehmung – Darstellung zur Achse für die Lesbarkeit des Glücks. Sie leistet mehr als eine Problematisierung der Repräsentation; verdeutlicht wird die paradoxe Lage, unterscheiden zu müssen, ohne unterscheiden zu können. Indizierend ist die Zeile des Verzeichnens deshalb, weil das Subjekt auf beiden Ebenen – Wahrnehmung und Darstellung – erscheint, genauso wie es in jener zweiseitigen Stellung den Titel angibt und zugleich die Erfüllungsmomente des Gedichts markiert, was sich in der weiteren Bestimmung des glücklichen Augenblicks zeigen soll. Als zweite Dimension der Theoriefigur strukturiert Zeitlichkeit den lyrischen Text. Fast alle Verben in Blicke, Berührungen stehen im Präsens; die fehlenden Vor- und Nachzeitigkeiten passen also durchaus gut in das epiphane Deutungsbild einer quasi-mystischen

16 Ezra Pound: »In a Station of the Metro«, in: ders.: Selected Poems, London 1948, S. 113.

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Anja Gerigk zeitlosen Gegenwart. Wäre da nicht das zuvor als Plötzlichkeit interpretierte Partizip Perfekt ganz zu Anfang: Bevor die Lindenblüte hineingeweht wurde, war die Gegenwart des Gedichts noch nicht eingetreten. Der lyrisch erfüllte Augenblick setzt somit Zeit als seine Bedingung voraus. Allerdings folgt der Text nach dem Beginn nicht länger der Grammatik der Zeitlichkeit, wobei dies aber nichts daran ändern kann, dass seine Motive in zeitlicher Folge gelesen werden. Ferner ist auch die schon hervorgehobene verzeichnete Zeile für das Temporale bedeutsam, weil sie vom glücklich erlebten Moment die Zeit der Nachdichtung differenziert. Damit trifft sie jedoch keine zweifellose Unterscheidung, sondern eine, die durch die Paradoxie des glücklichen Subjekts ebenso unterlaufen wird wie durch die Ununterscheidbarkeit von Erleben und Aufzeichnen, die sich aus der Schlussmetapher ergeben wird. Der anhand der narrativen Moderne bereits aufgewiesene Zusammenhang zwischen Zeitlichkeit und Subjektivität bestätigt sich so für ein Beispiel moderner Lyrik, sie ist nicht auf das Happy End begrenzt. Mit der Differenz von Bedeutung und Performanz befasst sich der letzte Untersuchungsstrang. Gemäß der Epiphanie darf die ästhetische Intensität sich keiner »ideellen Symbolik oder archetypischen Metaphorik«17 verdanken. Im Blick auf das »Palmenhaupt« wurden schon Zweifel angemeldet, womöglich sind auch die vom Text zuerst in den Blick genommenen Objekte weniger gewöhnlich und frei von kultureller Bedeutung, als es den Anschein hat. Die Anordnung der Gegenstände – Lindenblüte auf der Treppenstufe, dazu der Aprikosenkern – wären in kunsthistorischer Intertextualität als Stillleben zu verstehen; Details wie die abgefallene Blüte, die Überreste einer Frucht zitieren annährungsweise Vanitas-Symbolik. Allerdings vermittelt diese gerade keine Glücksinhalte, damit setzt sich die subjektive Wahrnehmung, vor allem aber die ästhetische Darbietung schon an diesem Punkt vom ideologischen Gedanken und seinen künstlerischen Ausdrucksmitteln ab. Wechselt man von den Anforderungen der Epiphanie konzeptuell zur Entparadoxierung, dann muss die kulturelle Referenz einer Glückssemantik erst gar nicht vermieden oder überwunden werden. Für den Umgang mit dem paradoxen Glück, der Tatsache, dass die Ebenen Bedingung und Erfüllung qualitativ nicht zu identifizieren sind, kommt es darauf an, die jeweilige Unterscheidung, d.h. hier diejenige zwischen Bedeutung und Performanz zu aktivieren. Intensiviert wird jener Unterscheidungsprozess, der Seitenwechsel oder aber die Beobachtungsbeobachtung,18 frühestens nach der Achse

17 K. H. Bohrer: Utopie des »Augenblicks«, S. 200. 18 Zur differenztheoretischen Fassung von Paradoxie und Entparadoxierung vgl. A. Gerigk: Lesbarkeit des Glücks, S. 19.

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Glücklicher Moment der Verzeichnung, die – wie gesehen – auch eine Verzeitlichung herstellt. Die Metaphorisierung sowie eine Häufung der Gleichklänge setzen nach dem »Palmenhaupt« ein. Mit der verdichteten Bildlichkeit (»fächelt feurige Seide« Z 7) machen Alliterationen und Assonanzen (»sein/ Scheitel im Morgenlicht« Z 9) die lyrische Performanz wahrnehmbar. Damit der glückliche Moment der Lektüre eintreten kann, fehlt noch die eben dort sich konzentrierende, davon zu differenzierende Glückssemantik. Symbolisch spielt der Palmenzweig eine Rolle in der christlichen Passions- und damit Heilsgeschichte, die metaphorische Formung durch das ›Haupt‹ käme dieser Deutung entgegen. Bleibt stattdessen nur der ›Zweig‹, dann liegt darin ebenfalls der Verweis auf ein überliefertes Glücksmotiv: Metonymisch liest man den locus amoenus, die idyllische Gegend der Oase, das weltliche Paradies des »Dachgarten[s]« (Z 6). Eine letzte Zuspitzung erfahren die schon ablaufenden glücklichen Lesevorgänge durch die Schlussmetapher, die zugleich eine Schlusswahrnehmung ist. Vor allem lassen sich an diesem letzten Punkt alle drei Paradoxien ausmachen, auch die der Subjektivität und der Zeit. Einerseits ist mit dem Bild (doppelt: Anblick/Tropus) der ästhetische Schein reiner Präsenz gegeben, eine zeitlose Gegenwart ganz nach dem Begriff der »Epiphanie«; andererseits wird mit der Differenz Wahrnehmung – Metapher die besagte Achse, d.h. die Voraussetzung der Zeitlichkeit in den Augenblick der Erfüllung mit eingeschrieben. Genauso zweideutig wird dabei die Positionierung des Subjekts und zwar deshalb, weil das im Enjambement vorab gesetzte »sein« (Z 8) mehreres bedeuten kann: grammatisch den Bezug zum ›Haupt‹, metaphorisch respektive symbolisch die ChristusAnspielung und indirekt personal auch das sprechende, schreibende Subjekt, das ›sein‹ von ›mein‹ unterscheidet. Was durch den Zeilensprung als Bedingung markiert wird – Zeitlichkeit, ein Subjekt, kulturelle Semantik – kehrt im abschließenden Verklärungsbild (»Scheitel im Morgenlicht«) wieder, welches selbst nicht ungebrochen ist, sondern von sämtlichen Differenzen, die an der Paradoxie beteiligt sind, durchkreuzt wird. Durch die Gleichzeitigkeit von schreibendem und wahrnehmendem Ich, Zeitbedingtheit und -enthebung, Bildbedeutung und metaphorischklanglichem Vollzug ist die Interpretation gefordert, die paradoxe Konfiguration unterscheidend ebenso zu produzieren wie zu prozessieren. Das lyrische Gebilde verhandelt so die spezifische Weise der Lesbarkeit des Glücks in der Moderne. Fragt man weiter, wo genau der erfüllte Augenblick zu lokalisieren sei, dann rücken in zunehmender Verdichtung die Textzonen nach der »verzeichneten Zeile« in den Blick. Jene ist die Schaltstelle für die Differenzierungsarbeit, welche das thematische Motiv des glücklichen Moments im Gedicht in den glücklichen Moment des Gedichts umliest.

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Anja Gerigk Der Vergleich zum deskriptiven Begriff der Epiphanie ergibt am Beispieltext, dass man mit »Glück paradox« stärker auf lyrische Formgebungen achten kann, auf Zeilengrenzen oder das Verhältnis von Semantik und Performanz. Das wäre das Argument der Strukturbeobachtung, ein anderes ist der ideenhistorische Vorbehalt, Bohrers Konzeption auf Gegenwartslyrik weit nach 1945 zu übertragen. So positioniert sich die klassische Moderne mit dem ästhetischen Glück der Plötzlichkeit noch gegenüber den Utopien seit Beginn des 18. Jahrhunderts, indem sie zwar deren objektive Verbindlichkeit abweist, deren ethisch-ästhetischen Idealwert aber an die subjektive Erfahrung weiterreicht. Mayröckers Gedichte, sieht man einmal von einer frühen Werkphase ab, stehen nicht in dieser diskontinuierlichen Kontinuität, sie haben daher kaum mehr etwas gemein mit der Kunst-Metaphysik des frühen 20. Jahrhunderts. Trotzdem kann auffallen, dass die lyrische Faszination mit instantanem Glück über die jüngste Jahrtausendwende hinweg andauert. Deshalb scheint es sinnvoll, ein alternatives Interpretationsmodell bereit zu halten, das keineswegs historisch indifferent funktioniert, sondern wie Bohrers »Epiphanie« einen weiten, aber noch weniger durch Epochen bestimmten Moderne-Zusammenhang mitführt. Der soll im letzten Teil des Beitrags mit einem Stand davor verglichen werden, einigen Werkmerkmalen der Dichtung Hölderlins, vorerst bleibt aber Mayröckers späte Lyrik beispielgebend. Bevor mit habe dein Fax bekommen (2003) ein Text der letzten lyrischen Produktion Mayröckers betrachtet wird, ist erklärungsbedürftig, weshalb der Sammlung Winterglück (1985) kein repräsentativer Stand eingeräumt wird. Immerhin wurde dem Titelgedicht bereits eine Interpretation zuteil, die dessen Glückdarstellung durch eine »Poetik des Paradoxen«19 gekennzeichnet sieht. Es stellt sich jedoch heraus, dass nicht das Problem der Ebenenunterscheidung gemeint ist, lediglich die »bewußt hergestellte[ ] Widersprüchlichkeit«,20 mit der in dem besagten Gedicht der Position der Abwesenheit einer als beglückend imaginierten Vogelstimme (1. Versgruppe) die Perspektive der Präsenz an die Seite gestellt wird (2. Versgruppe), durch welche »eine Stimme empfangen werden kann, die nicht im Hier des lyrischen Ich, sondern nur am anderen Ort – des Lesens – ankommt«.21 Da die im Text ersehnte »Erlösung« oder »Offenbarung«22 jenseits der Sprechsituation verlagert wird, erkennt der In19 Mathias Meyer: »Das ›Winterglück‹ des Lesens. Ein Titelgedicht Friederike Mayröckers«, in: Renate Kühn (Hg.): Friederike Mayröcker oder »das Innere des Sehens«. Studien zu Lyrik, Hörspiel und Prosa, Bielefeld 2002, S. 112. 20 Ebd., S. 112. 21 Ebd. 22 Friederike Mayröcker: »Winterglück«, in: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939-2003, hg. v. Marcel Beyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 429.

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Glücklicher Moment terpret die Bewegung des Utopischen. Wiederum wird eine traditionelle Moderne-Figur herangezogen, um Mayröckers Gestaltung des Glücksmotivs zu charakterisieren und zugleich historisch zu situieren: ästhetische Bewältigung eines defizitären Zustands. Wenn hingegen das Ziel vorgegeben ist, Rezeptionswege neu zu erschließen, empfiehlt sich die methodische Gegenüberstellung am selben Gegenstand, wie im Falle von Blicke, Berührungen, oder der Blick auf einen begrifflich noch unbelegten, ungedeuteten Text. Für habe dein Fax bekommen23 muss man sich von der Leseerwartung frei machen, es gäbe einen dargestellten Glücksmoment oder auch eine Vielzahl von Epiphanien; die Verse vollziehen sich ganz in dem Spiel von erschwerten, herausgeforderten Differenzierungen, die das modern paradoxe Glück ausmachen. Daher geht es weniger um Reihenfolgen innerhalb des Textes als um Querverweise und wiederkehrende Komplexe. Der am stärksten wahrnehmbare, am aufwändigsten zu interpretierende ist die laufende Unterscheidung zwischen Glückssemantik und Gedichtvorgang. Hergestellt werden nähere oder entfernte Verbindungen durch semantische, morphologische und phonologische Assoziationen. So korrespondieren die blühenden »flammenden/ Tränen« (Z 1f.) mit dem später auftretenden »Phlox« (Z 12) – der Flammenblume – und »flamboyant« (ebd.), das als Substantiv den Flammenbaum bezeichnet. Die botanischen Namen werden als emotionale Zustände codiert, offenkundig in den »Tränen«, auch das Wort »flamboyant« kann Überschwang des Gefühls oder Ausdrucks bedeuten, es bildet außerdem einen kunstgeschichtlichen Stilbegriff.24 Auf die Frage nach dem Blühen der »flammenden/ Tränen« folgt »im Schopf der Bäume oder/ das Schöpfen aus Bäumen, aus den Häuptern von/ Bäumen, das Erschöpfen von Bäumen« (Z 3f.), einige Zeilen weiter dann »den Schöpfen der Bäume, wuchtigen Häuptern der/ Bäume« (Z 10f.). Die Glieder jener Wort- und Klangketten sind komplex aufeinander bezogen, durch die gehäuften Umlaute wie auch morphologisch (»Schöpfen« – »Erschöpfen«) und semantisch (»Schopf« – »Haupt«). Die poetischen Operationen der Assoziationsreihen erfolgen parallel zu den Bedeutungen einer exaltierten Stimmung bzw. extravaganten, überbordenden Ästhetik. In solcher Abhebung und Gleichzeitigkeit ist eine Rezeption angelegt, welche eine Paradoxie des Glücks, d.h. Bedeutung – Performanz in ihrem Verhältnis zu Bedingung – Erfüllung nachvollzieht.

23 Friederike Mayröcker: »Habe dein Fax bekommen«, in: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939-2003, hg. v. Marcel Beyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 766f. 24 Zu den Bedeutungsvarianten von »flamboyant« vgl. Duden, das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. 2. überarb. u. erw. Aufl., Mannheim u.a. 2000, S. 460.

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Anja Gerigk Dass damit die andere Fassung des Paradoxen, der aufzulösende Widerspruch, nicht ausgeschlossen sein muss, bezeugt das Eingangsbild der »flammenden/ Tränen«, den Widerspruch von Euphorie und Trauer durch den Zeilensprung betonend. Dem entspricht am Schluss die nicht anzuhaltende (»usw.« Z 21) Oszillation zwischen dem „Schmerz« (ebd.) darüber, »dasz das Leben zu Ende geht« (Z 18) und dem doch glückhaften Schwinden („verschwärmt« Z 20) desselben »in seinen Armen«: Ein »Indianer« (ebd.) kennt keinen Schmerz und doch dominiert jenes Wort, das Gefühl der Trauer den letzten, endlos zu verlängernden Vers. Die kursiv gesetzte Endpartie findet für die widersprüchliche Weisheit vom »Glück im Unglück« eine lyrische Form. Damit ist man wieder beim Schema von Gedanke und Darstellung, wogegen die Ausführung der Ebenenparadoxie Glücksvoraussetzung – Glücksinhalt den poetischen Vorgang, die Strukturen des Gedichts genauer herausarbeiten kann. Dies methodische Interesse gilt als Nächstes der Zeitlichkeit. Im Blick auf die Zeitverhältnisse ergeben sich nicht zufällig einige Gemeinsamkeiten mit der Analyse von Blicke, Berührungen. In habe dein fax bekommen überwiegen ebenfalls das Präsens, zumal der Verlaufsform (»aufgebend«, »zischend« Z 8), und die Gleichzeitigkeit (»während« Z 5). Desgleichen etabliert in beiden Gedichten die Einleitung im Perfekt das Vergehen von Zeit als Voraussetzung des Glücksempfindens: statt „hineingeweht“ die Titelzeile »habe dein Fax bekommen« (Z 1). Komplexer wird jedoch gegen Ende durch den Sprecher eine Zeitebene in der Vergangenheit eingeführt: »er damals, er/ sagte« (Z 17f.). Ob die vorhergehenden und nachfolgenden Präsens-Aussagen von daher alle als Erinnerungen zu lesen sind oder als Wahrnehmungen in der Sprecher-Gegenwart, wird offen gehalten. Dass der Gedanke an die Sterblichkeit präsentisch formuliert ist, »dasz das Leben zu Ende geht, unter-/ geht und gelöscht ist« (Z 19), begründet sich nicht nur durch das erinnerte Zitat, es bedeutet auch die Gegenwart des Todes als Verlustschmerz. Genauso präsent ist jedoch das vergangene Liebesglück, wobei »verschwärmt« (Z 20) seine Zeitbedeutung im Zeilenwechsel ändert, vom Abgeschlossenen zur anhaltenden Dauer (Z 21). Wo das Glück gleichzeitig mit dem Unglück sich ereignet – ob in der erinnerten Vorzeitigkeit, die scheinbar zeitlos gegenwärtig ist, oder im Moment des Erinnerns, kann aufgrund der Zeitlichkeit des Textes nicht zugunsten einer der beiden Seiten beantwortet werden. Derart verschränken sich der Widerspruch der Seligkeit in ihrem Gegenteil und die Zeit in ihrer Eigenschaft als Bedingung und Modus des glücklichen Zustands in der modernen Literatur. Vom Ende her kann man deshalb die Anfangsfrage »die flammenden/ Tränen blühen auch hier?« (Z 1f.) als Verweis auf diese Verschränkung und zeitliche Unentscheidbarkeit interpretieren.

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Glücklicher Moment Das Subjekt ist in jenem Spätwerk – anders als in Blicke, Berührungen – mehr als eine Wahrnehmungsinstanz oder Schreibposition. Es müssen individuelle Momente als solche erkannt werden, um Glücksinhalte verstehen zu können. Schon die Sprechsituation ist subjektiv bestimmt, durch eine private Mitteilung per Fax, die in der Frage nach den flammenden Tränen, zugleich erste Metapher des Gedichts, indirekt zitiert wird. Dass das einzige direkte Zitat »›.. och Manfred kom fram ..‹« (Z 11) aus dieser Nachricht entnommen ist, darf man auch deshalb vermuten, weil dem Gedicht eine Widmung für »Ulla-Mae Ekblad-Forsgren« beigegeben ist. Die Verknüpfung zwischen dem Schreibanlass innerhalb der lyrischen Fiktion und dem Geschriebenen bringt die Autorin Friederike Mayröcker in die Auslegung des Textes ein, denn sie referiert auf den Kontakt mit ihrer schwedischen Herausgeberin und Übersetzerin Ulla EkbladForsgren. Selbst wenn dies nur Mutmaßungen über den Absender des Faxes bzw. Adressaten der Antwort sind, nimmt die euphorischtrauernde Stimmung doch individuelle Züge an. Schließlich findet man für »mein Gott der Gott der Paviane« (Z 6) einen Eintrag im mythologischen Lexikon wie auch einen (mutmaßlichen) Platz in Mayröckers Privatmythologie: Im alten Ägypten ist das Tier eine Erscheinungsform des ägyptischen Gottes Thot, des Schreibers beim Totengericht;25 für die Autorin beschwört es womöglich den zur Entstehungszeit des Textes bereits verstorbenen Lebensgefährten Ernst Jandl, so dass hier ein weiteres Mal Glück und Unglück aufeinandertreffen. Vielleicht liegt darin sogar ein Kommentar zur Begriffsgeschichte der Epiphanie: Der sprechenden Person erscheint »Gott«, aber ein, »mein« ganz persönlicher. Die Erscheinung geschieht nicht durch die Benennung, sondern in der durch das Fax ausgelösten Erinnerung. Mayröcker hat in der Nachfolge Prousts eine Art Madeleine-Erlebnis der lyrischen Gattung gestaltet, wodurch sich das Gedicht in die Tradition literarischer Epiphanien einreiht. Dies ist jedoch nicht der einzige Beleg dafür, dass das Problem der Glücksdarstellung in moderner Literatur von habe dein Fax bekommen reflektiert wird. Dem Erscheinen des Pavian-Gottes ist in Gleichzeitigkeit das »blutige Studium der Dichtung« (Z 7) nachgestellt, ein für das paradoxe Glück typischer Verlauf wird erst lesbar um die »vielen Skripturen aus den Gefühlen« (Z 13). Wenn diese Formulierung so etwas wie eine literarische Affektüberlieferung meint, dann die des seligen Überschwangs, der zuvor schon aus »Phlox« und »flamboyant« (Z 12) hervorgeht. Somit wird der Gefühlskodex der Schriftkultur durch die assoziative (Klang-)Poetik des Gedichts kommentiert, die Per-

25 Vgl. »Artikel Thot«, in: Hans Wilhelm (Hg.): Wörterbuch der Mythologie. Bd. 1. Götter und Mythen im Vorderen Orient, Stuttgart 1965, S. 402.

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Anja Gerigk formanz der überschwänglichen poetischen Rede macht sich neben sowie mit dem kulturell Festgeschriebenen geltend, daher ergeht unmittelbar nach den »Skripturen« der Ausruf: »oh mein/ Bübchen! es gibt immer wieder so I wunderbare welt nicht wahr« (Z 13f.). Das abgesetzte »mein« legt den Akzent auf ein individuelles Erleben gegenüber den Kultur-Vorlagen, genauso die Koseformel »Bübchen« und das vertraut sprechende »nicht wahr«. Dass es aber vielmehr um ein individuelles Schreiben geht und damit wiederum um den performativen Aspekt des speziellen Textes, markiert die idiosynkratische Schreibung »I«, die wiederholt wird im anschließenden »I Wunsch zu den Zweigen« (Z 15), was zugleich die textspezifische Baum-Metaphorik des Glücks fortsetzt. Nur in der Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass es überlieferte Gefühlsbedeutungen gibt, kann das Gedicht seine euphorische Sprache entfalten. Literatur kennt »all diese Genres« (Z 17), darunter die Gattung der Idylle, in der etwa ein »lichtgrüner Schleier über den Wipfeln« (Z 16) anzutreffen wäre. Deshalb steht in derselben Zeile wie die »Genres«, zudem am Versende wie vorher »mein« das individualisierend sich erinnernde »er damals, er« (Z 17). Der Sprechsituation nach ist die »Skriptur« des Faxes die Bedingung für das selig trauernde Erinnerungsgedicht. Innerhalb dieser Ordnung sind aber die Positionen der Voraussetzung und des Inhalts nicht mehr so klar vergeben. Stattdessen kann man, wie hier geschehen, dem Prozess der Differenzierung nachgehen. Im Rückgang auf die erste Unterscheidung Semantik – lyrische Inszenierung schließt sich der Kreis der (ent-)paradoxierenden Lektüre. Dadurch wurde erkennbar, dass Mayröckers Beitrag zum Glück in der modernen Lyrik sich nicht auf eine subjektivistische Hermetik oder forcierte Intertextualität beschränkt: »ich bin/ so alt und all diese Genres« (Z 16f.). In dieser Versaufteilung betrifft das hohe Alter zum einen das Erinnerungssubjekt, aber nicht minder die literarische Tradition, zumal die besondere Situation der Spätmoderne, in der alle Ausdrucksformen schon lange und längst überliefert sind. Trotzdem wird die Lage nicht bloß hervorgekehrt, ihr wird auch bereits durch die unterscheidenden Vorgänge, deren Dichte und Verknüpfungen hier erfragt worden sind, abgeholfen. Diese Abhilfe vollzieht Grundfiguren, die über die Gattung Lyrik hinaus für die Modernität literarischen Glücks, in einem interpretationstheoretischen Zugang, paradigmatisch sind. Der »glückliche Moment im/des Gedichts« teilt, wie eingangs festgesetzt, die theoretische Grundlage mit der anderenorts entworfenen »(De-)Konstruktion des Happy Ends«. Während die historische Reichweite der narrativen Beschreibungsform die gesamte Moderne nach 1800 umfassen soll, mit dem Wilhelm Meister als Textmarke, wurde für die Lyrik bisher nur geprüft, ob man im 20. Jahrhundert

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Glücklicher Moment über den durch Bohrers Epiphanie-Konzept abgesteckten Horizont der klassischen Moderne hinausgehen kann. Ungeklärt bleibt dabei, wie weit das paradoxe Glück lyrikgeschichtlich zurückreicht, ob es ebenfalls mit Beginn des 19. Jahrhunderts auftritt. Dazu wären etwa die Erlebnisdichtung Goethes und das Glücksmotiv in romantischer Lyrik zu untersuchen. Als Hypothese sei formuliert, dass zwar eine oder mehrere Unterscheidungen der ausgeführten Paradoxie jene Gedichte prägen, sie aber die zuvor an Mayröckers Spätwerk demonstrierte Vollständigkeit der Figur nicht erreichen. Man würde die Subjektivität des Glücks und deren Doppelstellung zu Bedingung und Erfüllung bei Goethe vermuten, den Vollzug genauso wie die Reflexion der Differenz Glückssemantik – performative Selbst-Inszenierung des Gedichts in der Romantik suchen. Beide Unentscheidbarkeiten könnten sich sogar in ein und demselben Text verdichten. Ob dies den Einzelfall oder eine Regelmäßigkeit darstellt, ließe sich nur durch ausgedehnte Forschungen nachweisen, die als Anhang kaum zu leisten sind. Vorerst ungesichert soll dennoch angenommen werden, dass eine paradoxe Verhandlung der Zeitlichkeit des Glücks um 1800 nicht in dem Maße kennzeichnend ist wie für das 20. Jahrhundert. Damit befände man sich wieder in größerer Nähe zu Bohrers These, der die Ablösung utopischer Geschichtsphilosophie durch den ästhetischen Augenblick als Utopie-Ersatz für ebenjenen Zeitraum postuliert.

Zum Vergleich: Hölderlin Hölderlin statt Goethe oder die Romantiker als historische Vergleichsgröße der Gattung zu nutzen, verspricht eine klarere Abgrenzung. Der zusätzliche Reiz besteht darin, dass man es mit einem Werk zu tun hat, das wie kein anderes als singulär früher Vorläufer der Avantgarde ab 1900 angesehen wird: Ist Hölderlin auch, was das modern paradoxe Glück betrifft, seiner Zeit voraus? Zuerst werden nur die Vorbewertungen genannt, die dafür oder dagegen sprechen, in seinen Gedichten die Vorwegnahme modernistischer Glückslyrik zu entdecken. Im Rezeptionsbericht über »Hölderlin im 20. Jahrhundert« hebt Jochen Schmidt drei Spezifika hervor, die von den lyrischen Strömungen der frühen Moderne, namentlich vor allem Symbolismus und Expressionismus, als eigene Identifikationsmerkmale aufgegriffen wurden: die »Intensität eines von allem bloß Dekorativen befreiten Sagens, die Kühnheit der Metaphorik,

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Anja Gerigk die Sprengung gewohnter Normen in den Gedichten nach 1800«26. Den wertvollsten Hinweis gibt die »von allem bloß Dekorativen« frei gewordene lyrische Sprache. Vormodern wäre indes eine Rhetorik der glücklichen Stimmung, sowohl als sprachlich-ideologische Konvention und stilistische Verstärkung des Arguments als auch in der erlebnislyrischen Variante des literarischen Subjekt-Ausdrucks. Die Hölderlin zugeschriebene Modernität zielt dagegen auf die von ihrer Bedeutungsfunktion abgehobene und doch nicht zu isolierende Performanz, die sich in dieser neuen Verfasstheit am deutlichsten in romantischen Gedichten zeigt. Bei Hölderlin mag sich dies in der »Kühnheit der Metaphorik« niederschlagen. Den Differenzpunkt solcher Intensitäten bilden in Hölderlins Werk jene Chiffren, die trotz aller Esoterik27 als Glückssemantik gelesen werden können. Dadurch, dass Bestände der Mythologie und Geschichtsutopie in die Texte des Vorläufers und Sonderfalles eingehen, wird die Euphorie der Form nicht ohne darauf bezogene Bedeutungen wahrnehmbar, wie es das theoretische Modell erfordert. Allerdings entfernt sich mit dem geschichtsphilosophischen Denken die hölderlinsche Zeitlichkeit des Glücks von dem, was an Mayröckers Gedichten beobachtbar wurde, und auch das Subjekt nimmt daher noch nicht seine paradoxe Stellung ein. Es hängt vom modernetheoretischen Rahmen ab, ob man den Lyriker Hölderlin als Dichter des glücklichen Zustands in Erwägung zieht. Prägnant ist erneut die Einordnung, die Bohrer vorgenommen hat. Den Zweifel, »ob denn das ›Glück‹, das die Ansicht einer Landschaft, eines Sommertags zu bergen scheint, nicht Illusion [...] einer vergangenen Rede sei«28, sieht er als »Bedingung der Moderne«29 in Hölderlins Naturdichtung. Jene moderne Kondition läuft auf eine lyrische Variante der Formel »Glück im Unglück« hinaus, bedenkt man die »Unwiderrufbarkeit des Verlusts und die gleichzeitige Evokation des Verlorenen«30. Somit wäre Mayröckers Spättext habe dein fax bekommen in derselben widersprüchlichen Haltung31 geschrie-

26 Jochen Schmidt: »Hölderlin im 20. Jahrhundert. Rezeption und Edition«, in: Gerhard Kurz u.a. (Hg.): Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, S. 107. 27 Die »Welt esoterischer Chiffren« war Schmidt zufolge ein weiterer Grund, weshalb den Vertretern der modernistischen Lyrik gerade Hölderlin vorbildlich wurde. Vgl. ebd., S. 110. 28 Karl Heinz Bohrer: »Nach der Natur. Ansicht einer Moderne nach der Utopie«, in: Merkur 41 (1987), H. 6, S. 633f. 29 Ebd., S. 635. 30 Ebd., S. 634. 31 Bohrer erkennt darin bezeichnenderweise »das Paradoxon als moderne Reflexionsfigur«, K. H. Bohrer: Nach der Natur, S. 634. Vgl. auch A. Gerigk: Lesbarkeit des Glücks, S. 7ff.

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Glücklicher Moment ben wie die Gedichte des früh modernen Vorgängers um 1800. Man müsste mit Bohrer von einem literarischen »Phantasma«32 der Trauer sprechen, das die beiden lyrikgeschichtlich so weit auseinander liegenden Autoren in einer Großepoche zusammenfasst. Stattdessen sollen die Bemühungen nunmehr dahin gehen, den glückshistorischen Unterschied zwischen ihnen auszumachen. Keinesfalls kann Hölderlin abgehandelt werden, und sei es nur unter einem motivischen Teilaspekt; eher besteht die Absicht, die Theorie-Figur der dreifachen Paradoxie durch die historische Grenzziehung zu schärfen. Daher ist keine eigenständige, in die Rezeption vertiefte Interpretation von Mein Eigentum (1799) und Friedensfeier (1802/1803) zu erwarten. Ähnlichkeiten zur Modernität lyrischen Glücks, die anhand zweier Werke Mayröckers herausgestellt wurde, dienen als Folie für Abweichungen, die Hölderlin außerhalb jenes theoretisch vorgedachten Zusammenhangs stellen. Im Gedicht Mein Eigentum33 werden zwei Idyllen einander gegenüber gestellt: der »Herbsttag« (Z 1), der den Zeitpunkt der Rede angibt, und der Ort des »Gesang[s]« (Z 41), den der sprechende Dichter imaginiert. In der zuerst präsentierten »Fülle« (Z 1) herrscht die Zeit der Natur, deren Reife (vgl. Z 7) die »Zufriedenheit« (Z 6) der Menschen begründet. Deren »frohe[ ] Mühe« (Z 7f.) bringt in der Gegenwart »Reichtum« (Z 8) und eine »Freude« (Z 11), die sich auch das Ich wünscht, das jene ländlich ruhende (vgl. Z 1), »stille« (Z 6), »holde[ ]« (Z 3) und »milde« (Z 10) Szenerie wandernd betrachtet. Von der dritten zur vierten Strophe soll schließlich das die Freude spendende und »teilend[e]« (Z 11) Licht auf den Wanderer übergehen: »Und leuchtest du, o Goldnes, auch mir« (Z 13). Der Wunsch wird jedoch als Frage geäußert, und obwohl dasselbe Licht erbeten wird, entsteht ein Unterschied zur vorherigen Idylle dadurch, dass das Glück dem Sprecher allenfalls im Modus des metaphorischen Vergleichs zukommen kann: »als segnetest/ Du eine Freude mir« (Z 10f.), »wie um Glückliche, mir am Busen?« (Z 16). Durch das »wie einst« (Z 15) tut sich zudem ein Bruch des subjektiven Unglücks in der Zeit auf, der in der nächsten Strophe fortgesetzt reflektiert wird. Das Dichter-Ich entwickelt trotz der Trauer um das Vergangene – an Bohrers »Phantasma« sei hierbei gedacht – die Vorstellung eines idealen Zustands und Raumes: »Sei du, Gesang mein freundlich Asyl!« (Z 41) Der Anruf »du/ Beglückender« (Z 42) gilt also der personifizierten Dichtung. Mit diesem blühenden »Garten« (Z 43), der parallel zur Landschaft des Herbsttags gestaltet ist, bildet sich das modern subjektivierte Glück heraus, eine Utopie

32 K. H. Bohrer: Nach der Natur, S. 643. 33 Friedrich Hölderlin: »Mein Eigentum«, in: ders.: Sämtliche Gedichte. Text und Kommentar, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 2005, S. 222-224.

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Anja Gerigk des Einzelnen. So meint der Titel nicht Erfüllung durch den Gesang, sondern ebenjene Subjektivierung des Glücksgehalts, wie es zuletzt heißt, »jedem sein Eigentum« (Z 50). Die Modernisierungsthese, welche damit aufgestellt ist, muss gleichwohl in mehrfacher Hinsicht wieder zurückgenommen werden. Zum einen käme durch eine subjektiv definierte Erfüllung allein die Paradoxie nicht zustande, das Subjekt müsste überdies in den Stand der alleinigen Voraussetzung versetzt werden. In Hölderlins Gedicht wird aber vielmehr auf alle »Sterblichen« (Z 49), so auch auf das Dichter-Glück des Gesangs der Segen der »Himmelskräfte« (Z 50) herabgerufen. Zum anderen ist, anders als bei Mayröcker, das Stadium der Individualisierung noch nicht eingetreten. So wird die individuell unglückliche Vergangenheit nur sehr knapp bildlich angedeutet (vgl. Strophe 5). Über »sein« Eigentum spricht der Typus des Dichters, keine unverwechselbare Person. Im Kontext des Gesamtwerks erhält der Sänger gar die Autorität, nicht nur für sich, sondern prophetisch für alle zu sprechen, als privilegierter Verkünder einer kollektiven Utopie. Damit gelangt man zugleich zur vormodernen Funktion der Zeit in diesem Text. Während die Zufriedenheit der »Geschäftigen« (Z 9) durch den natürlich Lauf der Jahreszeiten bedingt ist und befördert wird, bedarf der Dichter des »Asyls« angesichts einer Zeit, die zwar im Bild der Natur ausgedrückt wird, ihrem wechselvollen Verlauf nach aber der Geschichte gleicht: »wenn draußen mir/ Mit ihren Wellen alle die mächtge Zeit/ Die Wandelbare fern rauscht« (Z 45-47). Diese Art der Zeitlichkeit wird demnach zu einer Bedingung, genauer zu einer negativen Voraussetzung von Glück, das für den Sänger nur außerhalb der Historie wie auch außerhalb des natürlichen Verfalls zu haben ist, weshalb er in seinem imaginären Garten unter »immerjungen« (Z 44) Blüten wandelt. Mein Eigentum wirft einen utopischen Blick auf den Qualitätenwechsel zur Zeitlosigkeit, der in moderner Lyrik des späten 20. Jahrhunderts aufgrund unentscheidbarer textueller Zeitverhältnisse und -ebenen so nicht mehr möglich ist, nicht einmal als dichterische Phantasie. Darin, wie konventionelle Motivik und die Rhetorik glücklicher Rede aufeinander bezogen sind, erweist sich Hölderlin als protoparadox. Die Erfüllung liegt in einer geschichtsphilosophisch umgedeuteten Semantik der Idylle, jene hat jedoch den »Gesang«, die Dichtung zum Inhalt. Daher käme eine autoreflexive, performative Wende in Frage: Beglückend ist nicht einfach der dargestellte paradiesische, außerzeitliche Ort, sondern mit gleichem Recht das Gedicht selbst, die Strophen einer Ode an das sich darin erfüllende »Eigentum«. Das emphatische, die selige Stimmung evozierende Sprechen in odentypischen Anrufen (»o Goldnes« Z 13, »du/ Beglückender!« Z 41f.) lässt das bloß Rhetorische hinter sich. Dichtung

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Glücklicher Moment als differentielle Einheit der Utopie des Gesangs und der lyrischen Form nähert sich einer Zweiseitigkeit, die nicht mehr nach der Relation von Programm und Vollzug funktioniert, sondern einen Wechselprozess einleitet. Dieser bestimmt die Formung des Eigentums prinzipiell, in habe dein fax bekommen wird er zum primären Textgeschehen, so dass doch ein gewisser Abstand bleibt. Während Mein Eigentum in neuerer Zeit wenig interpretiert wurde, zählt die späte Hymne Friedensfeier zu den ausgiebig und kontrovers gelesenen Texten. Die Deutungsgeschichte gibt dem folgenden selektiven Lektüreversuch in einzelnen Punkten Orientierung, sie kann aber nicht ausgebreitet oder diskutiert werden. Im Interesse an einem glückshistorischen Gegenpart zu Mayröcker wird zu beweisen sein, was keines Beweises bedarf: dass die glücklichen Momente bei Hölderlin nie ohne ihren geschichtsphilosophischen Reflexionshintergrund gelesen werden können. Dennoch lohnt sich zum Vergleich das Experiment, die ersten Verse der Hymne unzulässig isoliert ins Auge zu fassen, unter der bewusst fälschlichen Prämisse, es handele sich um einen erfüllten Augenblick der modernen Art. Kann man den Beginn der Friedensfeier als ästhetische Epiphanie produktiv missverstehen? Oder bewegt er sich – wie etwa Blicke, Berührungen – alternativ zwischen einer Glückssemantik und ausgestellten poetischen Prozeduren? »Der himmlischen, still wiederklingenden, Der ruhigwandelnden Töne voll, Und gelüftet ist der altgebaute, Seliggewohnte Saal; Um grüne Teppiche duftet Die Freudenwolk’ und weithinglänzend stehn, Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche, Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe, Zur Seite da und dort aufsteigend über dem Geebneten Boden die Tische.«34

In dieser, ohne die drei letzten Verse zitierten, ersten Hymnenstrophe finden sich neben den Gegenständen, die sich zu einer Szenerie zusammensetzen, viele Wahrnehmungseindrücke: »still wiederklingenden« (Z 1), »gelüftet« (Z 3), »duftet« (Z 4), »weithinglänzend« (Z 5). Dazwischen stehen Attribute wie »ruhigwandelnden« (Z 2), deren Metaphorizität noch offener kenntlich wird als die der duftenden »Freudenwolk’« (Z 5). Zusätzlich sorgt der dichte Gleichklang der Vokale und Konsonanten für eine Ästhetisierung. Die Gegenwärtigkeit des herausgehobenen Augenblicks stellen durch mehrfache Hebungen betonte Partizipialbildungen her. Läge ein epiphanes Ge34 Friedrich Hölderlin: »Friedensfeier«, in: ders.: Sämtliche Gedichte. Text und Kommentar, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 2005, S. 339-343.

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Anja Gerigk dicht vor, dann hätte der freudige Zustand des Saals, von dem die Rede ist, keinerlei Grund in einer Idee oder Gegenstandsbedeutung, seine Seligkeit wäre rein textlich evoziert. Solche Modernisierung muss jedoch den anderen Teil der Attribute ignorieren, jene, die auf zeitliche Ordnung hindeuten: »altgebaute« (Z 3), »seliggewohnte« (Z 4). Dazu setzt »gereiftester« (Z 6) eine derart ungewöhnliche Steigerungsform, dass sie mehr bedeuten könnte als den vollendeten Zustand im zeitlichen Entwicklungsgang der Natur. Selbst wenn man sich, entgegen jeder Hermeneutik, in Unkenntnis über den Verlauf der Strophen hält, tauchen bereits im gewählten Ausschnitt Elemente auf, die einer modernistischen Lesart inkommensurabel bleiben. Zwei der zentralen Interpretationsfragen sind damit nicht einmal angerissen: die nach der Identität des Friedensfürsten und der von Peter Szondi in seiner Kritik der hermeneutischen Methode behandelte Streit, ob die gesamte Schilderung des Festsaals »metaphorisch gemeint ist oder nicht«35. Das erste Deutungsproblem soll ausgespart werden, weil es tiefer in den geschichtsphilosophischen Komplex einsteigt als hier nötig. Dagegen lässt sich über die Unsicherheit des metaphorischen Status ein neuer Anlauf zur unzeitgemäßen Lektüre nehmen. Die »Türmung ausgesuchtester, ja auserlesener Epitheta«36 mag ungewöhnlich sein, die darum gruppierte Glückssemantik ist es nicht: weder die Farbsymbolik Grün, Gold, Glanz noch die ätherische »Freudenwolk’«, die auf den Ursprung der »himmlischen« Töne verweist. Dies wäre eine rhetorische Steigerung konventioneller Motive. Erst die während der Anfangsverse in der Schwebe gehaltene Möglichkeit, alle Einzelheiten in die Zusammenschau einer kühnen geschichtsphilosophischen Metapher zu bringen, leitet aufgrund ihrer vorläufigen Unbestimmbarkeit Differenzierungen zwischen poetischer Performanz und Semantik ein, die qua Theorie als paradoxal bzw. entparadoxierend gewertet werden können. Mit der Ausnahme, die Hölderlins Friedensfeier den spätmodernen Glücksmomenten im/des Gedichts ähnlich macht, bestätigen sich auch die anhand von Mein Eigentum absehbaren Ungleichheiten. Die einzig subjektive Perspektive, die in der Hymne zum Tragen kommt, ist die prophetische Rolle des Dichters. Jochen Schmidt schreibt die Darstellung des Festsaals in der ersten Strophe einer

35 Peter Szondi: »Über philologische Erkenntnis«, in: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1967, S. 15. 36 Jochen Schmidt: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen »Friedensfeier«, »Der Einzige«, »Patmos«, Darmstadt 1990, S. 10. Schmidt macht darüber hinaus auch auf die von ihm »Amplitude« (ebd.) genannte, herausgehobene Positionierung aufmerksam.

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Glücklicher Moment »visionäre[n] Vorwegnahme«37 des Friedens durch dichterische Vorstellungskraft und Gestaltung zu. Jost Schillemeit sieht im Eingangsbild »das Verhältnis des Geistes zum Moment des höchsten, vollendeten Lebens«38. Dass mit diesem Zeitpunkt kein subjektiver Augenblick, sondern die »Vollendung der Geschichte«39 Gegenstand des lyrischen Textes ist, geht bekanntlich aus den mehrdeutigen Götterchiffren hervor. Epiphanie im religiösen Sinne der Gotteserscheinung, nicht als modern ästhetische Objektwahrnehmung, wird durch das Dichter-Subjekt antizipiert. Unabhängig davon, wen man als »Fürst[en] des Festes« (Z 15), als Einladenden, Gastgeber oder Ehrengast einsetzt, immer werden kulturelle Schemata glücklicher Zeitlichkeit zitiert, die historische Zeit modellieren: die Eschatologie christlicher Heilsgeschichte in ihrer zeitgenössischen Ausprägung,40 historische Gestalten um 1800, mit denen sich Friedenshoffnung verband, und mythologische Figuren als Vertreter eines Geschehens außerhalb von Geschichte. Daraus erklärt sich der Aufbau der Hymne. Nach den Strophen, in denen die chiffrierte Geschichtsreflexion entwickelt wird, kehrt das Festmotiv zurück und wird »voller und reicher entfaltet, gleichsam angereichert durch die Erfahrungen der Zwischenzeit«41. Insofern korrespondiert der Ablauf des Gedichts mit den darin verhandelten, dreistufigen Geschichtsordnungen. Ginge es um einen Beitrag zur Hölderlin-Forschung, müsste man festhalten, dass der Autor in der Präfiguration der Trauer, wie Bohrer sie theoretisch herleitet, moderner ist als in seinen lyrischen Visionen eines historisch-poetischen Glücks. Dies wenig überraschende Ergebnis rechtfertigt allerdings kaum den großen lyrikgeschichtlichen Sprung von Mayröcker zurück zu Hölderlin. Deshalb sollen zum Abschluss die gattungsgeschichtlichen und systematischen Gesichtspunkte des Vergleichs resümiert werden.

Schluss Nicht nur zwei literarhistorisch ungleiche Werke, auch zwei Beschreibungsmittel wurden nebeneinander gestellt. Das Konzept der Epiphanie nach Bohrer und die hier eingesetzte Paradoxie-Figur unterscheiden sich nicht zuletzt danach, ob und wie sie den Ebenen37 J. Schmidt: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen., S. 84. 38 Jost Schillemeit, »›... dich zum Fürsten des Festes‹. Zum Problem der Auslegung von Hölderlins ›Friedensfeier‹«, in: ders.: Studien zur Goethezeit, Göttingen 2006, S. 106. 39 J. Schmidt: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, S. 78. 40 Vgl. ebd., S. 86ff. und 101ff. 41 J. Schillemeit: »... dich zum Fürsten des Festes«, S. 96.

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Anja Gerigk wechsel zwischen dem glücklichen Moment im Gedicht und dem glücklichen Moment des Gedichts in Betracht ziehen. Bei Bohrer ist das Glück bereits in der dargestellten Erfahrung präsent, die textuelle Vermittlung bildet das Korrelat. Im paradoxen Fall läuft das »Glück« genannte Interpretationsgeschehen erst dadurch ab, dass die Differenz zwischen dem Motiv des erfüllten Augenblicks und den Bedingungen des Textes ebenso aufgemacht wie zur Disposition gestellt wird. Gegenstand und Darstellung werden nicht repräsentationslogisch verknüpft, vielmehr funktioniert diese Ebenendifferenz als Modell für den paradoxen Bezug von Voraussetzung und Eintreten des Glücks, differenziert nach Subjektivität, Zeitlichkeit und, im Wiedereintritt der Struktur in die Struktur, nach der Unterscheidung Semantik – Performanz. Dass auch Textbesonderheiten in den Blick rücken, dürfte in der Analyse der Mayröcker-Gedichte anschaulich geworden sein. Im Werk Hölderlins, soweit dies anhand der herausgegriffenen Beispiele beurteilt werden kann, wird die Achse des erfüllten Augenblicks zwischen Bedeutung und lyrischer Formung zwar schon virulent, trifft dort aber noch nicht auf die modernen Zeit- und Subjektverhältnisse. Der gewählte Paradoxie-Begriff der Unentscheidbarkeit erlangt eine präzisere Historisierungsleistung als das in der Glücksreflexion vorherrschende Verständnis eines inhärenten Widerspruchs. Am ähnlichsten sehen sich Hölderlin und Mayröcker darin, dass sie die Erfüllung in einer Brechung durch das ›Nicht mehr‹ oder ›Noch nicht‹ vergegenwärtigen. Aus dem Grund brächte Bohrer beide als Vertreter einer ›trauernden‹ Moderne,42 unter dasselbe historische Zeitmaß. Nimmt man den Autor der Friedensfeier einmal nicht als vorzeitigen Repräsentanten modernistischer Lyrik, sondern in der Situierung um 1800 als Übergangsphänomen, dann wird plausibel, dass »Glück paradox« in der theoretisch neueren, ausgebauten Fassung in seinem Werk noch keine Rolle spielt. Die Modernitätsgrenzen verlaufen anders als bei Bohrer: Sie legen sich nicht auf eine Kontinuität zwischen Romantik und klassischer Moderne fest und vernachlässigen ebenso wenig, dass die Zeitdifferenz wohl als Letztes, etwa um 1900, die Dreiheit der Figur vervollständigt. Lyrische Texte sind als moderne Literatur des Glücks weder idyllisch noch utopisch. Sie erfordern auch keine Rekurrenz auf ästhetische Metaphysik. Blicke, Berührungen und habe dein fax bekommen zeichnen nicht die von Mattenklott skizzierten, auf Transzendenz zulaufenden »Schönheitslinien“43, sie sind ganz diesseitig-textuell als ›glücklich‹ zu interpretieren.

42 Vgl. dazu K. H. Bohrer: Nach der Natur, S. 634 u. 643. 43 Vgl. dazu nochmals G. Mattenklott: Schönheitslinien nach dem Schweigen der Ideen.

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Glücklicher Moment Mit dem Auffinden des glücklichen Moments im/des Gedichts ist keine lediglich gattungsgeschichtliche Aufgabe gestellt. Weil sie auf derselben Theorie fußt wie die kulturtheoretisch statt nur erzähltypologisch relevante De-Konstruktion des Happy Ends lassen sich anhand der lyrischen Moderne auch Problemstrukturen der Glückserfahrung und -reflexion außerhalb von Literatur aufweisen. Gegenüber Erzählungen können die kulturell nicht offen gelegten Paradoxien in den freien Formen modernistischer Lyrik jedoch noch klarer zum Vorschein kommen als in medialen Konkretionen des Happy Ends. Solche Beobachtungsmöglichkeiten können sogar jene Leser, die genauso an der besonderen Poetizität eines MayröckerGedichtes interessiert sind, glücklich machen.

Literatur Bartmann, Christoph: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozess, Wien 1984. Bohrer, Karl Heinz: »Utopie des ›Augenblicks‹ und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur«, in: ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981, S. 180-218. Ders.: »Nach der Natur. Ansicht einer Moderne nach der Utopie«, in: Merkur 41 (1987), H. 6, S. 631-643. Emmerich, Wolfgang: »Benns bacchische Epiphanien und ihre Dementi«, in: Friederike Reents (Hg.): Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007, S. 89-106. Gerigk, Anja: »Lesbarkeit des Glücks – theoretische Grundfiguren«, in: dies. (Hg.): Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen, Bielefeld 2010, S. 7-31. Hölderlin, Friedrich: »Mein Eigentum«, in: ders.: Sämtliche Gedichte. Text und Kommentar, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 2005, S. 222-224. Ders.: »Friedensfeier«, in: ders.: Sämtliche Gedichte. Text und Kommentar, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 2005, S. 339343. Kahn, Lisa: »Lasset freundlich Bild um Bild herein. Das ›euphorische Auge‹ Friederike Mayröckers«, in: Text + Kritik 84 (1984), S. 79-87. Mattenklott, Gert: »Schönheitslinien nach dem Schweigen der Ideen. Botho Strauß, Peter Handke und Friederike Mayröcker«, in: Christoph Wulf u.a. (Hg.): Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, S. 139-152.

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Anja Gerigk Mayröcker, Friederike: »Blicke Berührungen«, in: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939-2003, hg. von Marcel Beyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 521. Dies.: »habe dein Fax bekommen«, in: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939-2003, hg. von Marcel Beyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 766767. Dies.: »Winterglück«, in: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939-2003, hg. von Marcel Beyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 429. Dies.: o.T. [»die lila tränen am schrägen fenster«], in: dies.: Gesammelte Gedichte. 1939-2003, hg. von Marcel Beyer, Frankfurt a.M. 2004, S. 750-751. Meyer, Mathias: »Das ›Winterglück‹ des Lesens. Ein Titelgedicht Friederike Mayröckers«, in: Renate Kühn (Hg.): Friederike Mayröcker oder »das Innere des Sehens«. Studien zu Lyrik, Hörspiel und Prosa, Bielefeld 2002, S. 105-112. Michler, Werner: »Zukunft und Augenblick. Utopien der Jahrhundertwende«, in: Ulrike Tanzer u.a. (Hg.): Das glückliche Leben – und die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österreichischen Literatur, Wien 2002, S. 17-31. Pound, Ezra: »In a Station of the Metro«, in: ders.: Selected Poems, London 1948, S. 113. Schillemeit Jost, »›... dich zum Fürsten des Festes‹. Zum Problem der Auslegung von Hölderlins ›Friedensfeier‹«, in: ders.: Studien zur Goethezeit, Göttingen 2006, S. 90-112. Schmidt, Jochen: »Hölderlin im 20. Jahrhundert. Rezeption und Edition«, in: Gerhard Kurz (Hg.): Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, hg. v. Gerhard Kurz u.a., Tübingen 1995, S. 105-125. Ders.: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen »Friedensfeier«, »Der Einzige«, »Patmos«, Darmstadt 1990. Schmidt-Dengler, Wendelin: »Mit Augen halten und mit Händen lesen. Zu Friederike Mayröckers Gedichtband Winterglück (1986)«, in: Henriette Herwig u.a. (Hg.): Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Rusterholz zum 65. Geburtstag, Tübingen 1999, S. 397-406. Stegmann-Meißner, Heidemarie: »Motive und Variationen in Texten von Friederike Mayröcker«, in: Text + Kritik 84 (1984), S. 71-78. Szondi, Peter: »Über philologische Erkenntnis«, in: ders.: HölderlinStudien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1967, S. 9-30. »Artikel Thot«, in: Hans Wilhelm (Hg.): Wörterbuch der Mythologie. Bd. 1. Götter und Mythen im Vorderen Orient, Stuttgart 1965, S. 402-403. Duden, das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. 2. überarb. u. erw. Aufl., Mannheim u.a. 2000.

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III. De-Konstruktionen des Happy Ends

The Trouble with Endings. Schließungsfiguren in Screwball Comedies und Sex Comedies CLAUDIA LIEBRAND Dass die Romantic Comedy des Hollywoodkinos durch ein stereotypes konventionelles happy ending zum Abschluss gebracht werde, ist ein Gemeinplatz – ein Gemeinplatz, der einer Revision bedarf. Im Zentrum des Interesses stehen im Folgenden zwei Subgenres der Romantic Comedy: die Screwball Comedy1 des Classical Hollywood

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In der Forschung findet man die Screwball Comedy sowohl als Filmzyklus als auch als Genre behandelt. Zu konstatieren ist, dass das Label »Screwball« auf jeden Fall Genre-Funktion hat, was Marketing und Einordnung der Filme betrifft. Katrin Oltmann fasst Screwball-Inszenierungen als »filmic mode« auf: »Mein Begriff der Screwball Comedy geht dabei auf die Beobachtung zurück, dass es sich bei dem, was in der Forschung als ›Screwball‹ bezeichnet wird, weniger um ein präzise zu isolierendes Genre oder Subgenre als um einen ›filmic mode‹ handelt – eine bestimmte Erzählweise, einen spezifischen Performancestil –, der in den 30er Jahren viele Subgenres der Romantic Comedy prägt […]. Die oftmals hysterischen Effekte des ›Screwball-Modus‹ führe ich mit Sarris [Andrew Sarris: »The Sex Comedy Without Sex«, in: American Film 3/5 (März 1978), S. 8-15] und Sikov [Ed Sikov: Screwball. Hollywood’s Madcap Romantic Comedies, New York 1989] auf die Verschärfung des Production Codes und die Verdrängung von Sexualität zurück. Alle Filme, die in diesem Sinne ›Screwball-Elemente‹ aufweisen, bezeichne ich im Folgenden als Screwball Comedies.« Katrin Oltmann: Remake | Premake. Hollywoods romantische Komödien und ihre Gender-Diskurse, 1930-1960, Bielefeld 2008, S. 146 f. Meine Ausführungen zu den Screwball Comedies rekurrieren auf meinen Aufsatz: »›Here, we’ll start all over again‹ – Game Over und Restart in Screwball Comedies mit dem Fokus auf Preston Sturges’ UNFAITHFULLY YOURS«, in: Rainer Leschke/Jochen Venus (Hg.): Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne, Bielefeld 2007, S. 21-40. Als weitere Aufsätze und Monographien zur Screwball Comedy seien angeführt: Wes D. Gehring: Screwball Comedy. A Genre of Madcap Romance, New York u.a.1986; Susanne Marschall: »Screwball Comedy«, in: Thomas Koebner

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Claudia Liebrand Cinema der 30er und 40er Jahre sowie die Sex Comedy der 50er und 60er Jahre und ihre Schließungsfiguren. Die thematisierten Screwball Comedies lassen sich zum Teil als Comedies of Remarriage kategorisieren.2 Ehe und Scheidung werden in diesen Comedies of Remarriage als potentiell immer wiederholbarer Zirkel oder als Endlosschleife inszeniert. Diejenigen, die zu Beginn des Films verheiratet sind, lassen sich scheiden, um am Ende des Films wieder zusammenzukommen. Die Situation, mit der der Film beginnt, ist damit wiederhergestellt. Comedies of Remarriage erzählen die Geschichte nach dem Game Over, inszenieren für ihre beiden Protagonisten und das Publikum einen Re-Start der Love Story; die Hochzeit wird wieder zur Scheidung führen. Und die Scheidung, das können, ja müssen wir annehmen, läutet wieder nur eine neue Runde im Heirats- und Scheidungsspiel ein. Das Happy End ist also kein ending (lässt sich das Ende, sonst wäre es keines, ja eben nicht wiederholen), sondern allenfalls eine Zwischenstation im endlosen Geschlechter- und Liebesspiel. ›Glücklich‹ sind die Protagonisten gerade nicht als Verheiratete: führt die Ehe doch prompt wieder zur Scheidung. Die Filme stellen vielmehr aus, wie vergnüglich der Zustand vor dem konventionellen Filmschluss, vor der Verheiratung ist: Das happy ending wäre – so gesehen – immer schon ein ›unhappy ending‹.3 Im Folgenden wird kurso-

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(Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Ditzingen 2002, S. 632-635; Thomas Schatz: Hollywood Genres. Formulas, Filmmaking, and the Studio System, Austin 1981; David R. Shumway: »Screwball Comedies. Constructing Romance, Mystifying Marriage«, in: Barry Keith Grant (Hg.): Film Genre Reader II, Austin 1995, S. 381-401. Berühmte Beispiele sind etwa Leo McCareys The Awful Truth (1937), Howard Hawks’ His Girl Friday (1940), George Cukors The Philadelphia Story (1940), Preston Sturges’ The Lady Eve (1941) und George Cukors Adam’s Rib (1949). Geprägt hat die Bezeichnung ›Comedy of Remarriage‹ Stanley Cavell in seiner Monographie: Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage, 9. Aufl., Cambridge (MA) u.a. 2001. Vgl. zu filmischen Schließungsfiguren u.a.: David Bordwell: »Happily Ever After, Part Two«, in: The Velvet Light Trap 19 (1982), S. 2-7; Christine N. Brinckmann: »Ein blinder Fleck und weitere Probleme. Gedanken zu Richard Neuperts ›virtueller Kategorie‹ filmischer Enden«, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 12 (2003), H. 2: Anfänge und Enden, S. 149-154; Thomas Christen: Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywoodfilm zu Antonionis offenen Formen, Marburg 2002; Thomas Christen: »Mehr als ein Ende. Wie Filme zu verschiedenen Schlüssen kommen«, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 12 (2003), H. 2: Anfänge und Enden, S. 155-168; Pico Iyer: »The End of Happy Endings?«, in: The New York Times, http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=9404EEDD123BF9 3BA35751C0A9629C8B63, letzte Abfrage 25.02.09; vgl. Fabienne Liptay:

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Trouble with Endings risch eine Reihe von Screwball Comedies behandelt (HIS GIRL FRIDAY, THE AWFUL TRUTH, THE PALM BEACH STORY, BRINGING UP BABY) und ein ausführlicherer Blick auf UNFAITHFULLY YOURS geworfen. Lässt sich über die Screwball Comedies sagen, sie seien inzwischen von der Filmgeschichtsschreibung nobilitiert als besonders intelligente, temporeiche und witzige Unterhaltung – zum Beispiel in Tamar Jeffers McDonalds Modellierung des Film-Genres Romantic Comedy – steht eine solche Nobilitierung für die Sex Comedies,4 die dringend zu leisten wäre, noch aus. Fokussiert werden zwei Filme der ›Königin‹ der Sex Comedy, Doris Day: Michael Gordons PILLOW TALK aus dem Jahr 1959 und ebenso wichtig Delbert Manns THAT TOUCH OF MINK aus dem Jahr 1962.

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»Happy End«, in: Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Ditzingen 2002, S. 291-295; Richard Neupert: The End. Narration and Closure in the Cinema, Detroit 1995. Tamar Jeffers McDonald setzt Sex Comedies folgendermaßen von den Screwball Comedies ab: »While the screwball comedy delighted in exhibiting male and female characters clashing and striking sparks off each other, the sex comedy took this theme and implied such clashing was inevitable: all men and all women were perpetually in conflict because nature had set them up – or society had inspired them – with different goals. […] The sex comedy pits woman against man in an elemental battle of wits, in which the goal of both is sex. Only the timing and legitimacy of this differs from gender to gender, with women wanting sex after, and men before or without marriage.« Tamar Jeffers McDonald: Romantic Comedy. Boy Meets Girls Meets Genre. London u.a. 2007, S. 38. Als weitere Aufsätze und Monographien zur Sex Comedy seien aufgeführt: Dennis Bingham: »›Before She Was a Virgin…‹. Doris Day and the Decline of Female Film Comedy in the 1950s and 1960s«, in: Cinema Journal 45 (2006), H. 3, S. 3-31; Steve Cohan: »Cary Grant in the Fifties. Indiscretions of the Bachelor’s Masquerade«, in: Joanne Hollows u.a. (Hg.): Film Studies Reader, London 2000, S. 139-147; Frank Krutnik/Steve Neale: Popular Film and Television Comedy, London, New York 1990; Frank Krutnik: »The Faint Aroma of Performing Seals. The ›Nervous‹ Romance and the Comedy of the Sexes«, in: The Velvet Light Trap 26 (1990), H. 2, S. 57-72; Frank Krutnik: »The Enterprise of Seduction. Sex and Selling in Lover Come Back«, in: Journal of Popular Film and Television 22 (1995), H. 4, S. 180-191; E.L. McCallum: »Mother Talk. Maternal Masquerade and the Problem of the Single Girl«, in: Camera Obscura 42 (1999), S. 70-95; Tamar Jeffers McDonald: »›Very Little Wrist Movement‹. Rock Hudson Acts Out Sexual Heterodoxy«, in: Canadian Journal of Communcation 31 (2006), H. 4, S. 843-858; Eric Savoy: »›That Ain’t All She Ain’t‹. Doris Day and Queer Performativity«, in: Ellis Hanson (Hg.): Out takes. Essays on Queer Theory and Film, Durham u.a. 1999, S. 151-182.

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Claudia Liebrand

Screwball Comedies Für Komödien generell – auch für Filmkomödien – gilt, dass für sie eine Tendenz zu sich vervielfältigendem Spiel zu beobachten ist. Jede Komödie inszeniert, mehr oder weniger forciert, das Spielparadigma und operiert mit Game-Over-Restart-Konfigurationen – Konfigurationen, durch die insbesondere die Screwball Comedy gekennzeichnet ist, die sich seit Mitte der 30er Jahre als eine temporeiche Mischung aus Slapstick, Sophisticated (Romantic) Comedy und Farce mit extrovertierten, verrückt-komischen Protagonisten etabliert.5 Screwball Comedies lassen sich wie Comedies en général als besonders prägnante Beispiele benennen für das gelegentliche oder sogar häufige Durchbrechen jenes Kontinuitätsstils, der sich in den

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»Der Begriff screwball bezeichnet ursprünglich eine bestimmte Wurftechnik beim Baseball, bei der der pitcher den Ball so abfälscht, dass der batter die Fluglinie nicht voraussehen kann. In den 30er Jahren bedeutet screwball (oder screwy) dann soviel wie exzentrisch oder verrückt. 1936 findet der Begriff wiederholt Verwendung, um Carole Lombards Performance in MY MAN GODFREY zu beschreiben.« (K. Oltmann: Remake | Premake, S. 44, Anm. 106; Hervorhebungen im Original) Duane Byrge und Robert Miller beschreiben diese Filme viel genauer wie folgt: »[A] screwball comedy was at heart a love story. Its central romance was frequently instigated by an aggressive, even eccentric woman whose efforts to prod her more stodgy and conventional beau along the rocky road to the altar primed the comic mechanisms for a great deal of humor-by-embarrassment. Improbable events, mistaken identities, and ominously misleading circumstantial evidence quickly compounded upon each other, albeit by seemingly logical progression, until a frantic conclusion in which even the impending marriage gives only faint promise of providing some whit of order as antidote to the previous narrative chaos. [...] Difficulties in reconciling romantic leads’ eccentricities were commonly complicated by other seemingly insurmountable obstacles to their union. Rules, customs, family obligations, romantic rivals – all needed to be circumvented, disregarded, or superseded, often with a cheery vengeance. Even lovers who were portrayed as highly intelligent could have lapses of silliness and mischief when temporarily confounded by the dull nature of their social station’s conventions. Some screwball comedies were also comedies of remarriage, allowing the damaged union of the opening reel to be strengthened or replaced via the invigoration of a screwball interlude in the center of the story. Screwball couples whose relationship was not threatened throughout the narrative might instead be on a mission of some sort, perhaps to solve a mystery, and their odd-even paring actually strengthened them in conquering the improbable and complicating obstacles they eagerly encountered in racing to the riotous, or at least crazily baffling, last reel«. Duane Byrge/Robert Milton Miller: The Screwball Comedy Films. A Historiography and Filmography, 1934-1942, Jefferson (NC) u.a. 2001, S. 2f.

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Trouble with Endings Filmen Edwin Porters und D.W. Griffiths entwickelt und der nach der Analyse David Bordwells, Janet Staigers und Kristin Thompsons die formalen Mittel des klassischen Hollywoodkinos bestimmt.6 Mit continuity editing, konventionalisiertem Bühnenspiel, einheitlicher Mise-en-scène, aber auch narrativen Mitteln wie linearer Handlungsführung und durchsichtiger Motivation der Protagonisten erzielt dieser Stil die ›Unsichtbarkeit‹ der filmischen Produktionsbedingungen. Einige dieser Mittel werden aber in Comedies – und insbesondere in Screwball Comedies durch ihren Rückbezug auf Elemente des Slapstick – häufig durchbrochen: In allen Screwball Comedies wird mit Force gespielt, findet sich die Spiel-im-SpielKonfiguration auf vielfache Weise durchgeführt, etwa in theatralen Inszenierungen und Täuschungsmanövern, die in der Fiktion als Spiel vorgeführt werden. Erfolgreich sind die Protagonisten, wenn sie in den Spielen im Spiel mit genügend Verve schauspielern.7

HIS GIRL FRIDAY Als Beispiel sei Howard Hawks’ Screwball Comedy (die auch eine Comedy of Remarriage ist) HIS GIRL FRIDAY8 von 1940 mit Cary Grant and Rosalind Russell genannt. Die Starreporterin Hildy, von ihrem Chef Walter geschieden, will sich neu verheiraten – Walter will das verhindern. Hildys und Walters Partnerschaft beruht auf der gemeinsamen Einsicht, dass es weder im »newspaper game«, wie Hildy es nennt, noch in der Liebe so etwas wie ein Jenseits des

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David Bordwell/Janet Staiger/Kristin Thompson: The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960, New York 1985. Screwball-Filme belohnen die Fähigkeit zur Performance, zur Schauspielerei: In The Richest Girl in the World (1934), Libeled Lady (1936), My Man Godfrey (1936), The Princess Comes Across (1936), Nothing Sacred (1937), Fifth Avenue Girl (1939), Midnight (1939), The Lady Eve, The Major and the Minor (1942), und in geringerem Maße auch in The Awful Truth, My Favorite Wife (1940) und Love Crazy (1941) operieren die Protagonisten mit falschen Identitäten. Anders als im Melodrama oder im Film noir werden sie für diese Übertretungen aber nicht zur Rechenschaft gezogen. Am Ende stehen diejenigen als Gewinner dar, die am forciertesten gespielt und intrigiert haben. Vgl. dazu E. Sikov: Screwball, S. 175f. HIS GIRL FRIDAY (USA 1940); Regie und Produktion: Howard Hawks; Drehbuch: Charles Lederer, nach dem Bühnenstück The Front Page von Ben Hecht und Charles MacArthur; Darsteller: Cary Grant, Rosalind Russell, Ralph Bellamy, John Qualen, Helen Mack, Alma Kruger, Gene Lockhart, Ernest Truex, Billy Gilbert, Abner Biberman; Kamera: Joseph Walker; Schnitt: Gene Havlick; Art-Design: Lionel Banks; Kostüme: Robert Kalloch; Studio: Columbia Pictures.

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Claudia Liebrand Spielparadigmas gibt – das hat Katrin Oltmann gezeigt.9 Immerzu fallen sich die Protagonisten gegenseitig ins Wort, überlagern den Dialog des anderen, erschweren damit aber auch das Verständnis – und weichen so massiv vom konventionalisierten Filmspiel ab. Neben Falschgeld und falschen Checks wird in HIS GIRL FRIDAY mit falschen Versprechungen gehandelt; das Spiel, das Hildy und Walter mit großer Begeisterung inszenieren, ist, auszuprobieren, wie erfolgreich ihre Lügen, Manipulationen und Intrigen sind. Beide, Hildy wie Walter, sind großartige, auch zur Selbstparodie fähige Performer: »And their way of quarrelling [...] is to perform to each other, their best and most challenging audience.«10 Walters Faszinationskraft liegt für Hildy gerade darin, dass er sie in dieser Fähigkeit zur Performance und Maskerade noch übertrifft. Beiden geht es darum, wer das Schauspiel länger durchhalten kann, wenn der eine den anderen der Lüge überführt, hat dieser die Runde verloren. Dann wird eine neue Runde eröffnet, dann heißt es: »Here, we’ll start all over again.« Am Ende des Films, als Hildy und Walter sich endlich wiedergefunden zu haben scheinen, brechen die beiden, die sich wieder heiraten wollen, gemeinsam auf – aber nicht zum Traualtar, sondern nach Albany, um über einen Arbeiterstreik zu berichten. Ob die beiden newspaper people, die für ihr Reporterdasein ›brennen‹, jemals die Zeit finden werden, um wieder die Ehe zu schließen, bleibt genauso offen wie die Frage, ob das Nicht-VerheiratetSein nicht die angemessenere Daseinsform für beide ist. Das ›aufgeschobene‹ happy ending wäre – in dieser Perspektive – die für die Protagonisten glücklichere Variante, rückt es doch die (voraussichtlich wieder die Scheidung provozierende) Ehe in die Ferne.

THE AWFUL TRUTH Auch THE AWFUL TRUTH,11 ein Screwball-Klassiker, eine Comedy of Remarriage aus dem Jahr 1937 von Leo McCarey, ist nach dem Rundenprinzip organisiert. Zu Beginn von THE AWFUL TRUTH sind Lucy und Jerry Warriner (gegeben von Irene Dunne und Cary Grant) verheiratet. Sie beschließen sich scheiden zu lassen, beide unterstellen dem jeweils anderen Untreue. Am Ende des Films 9 Vgl. K. Oltmann: Remake | Premake, S. 143-164. 10 James Harvey: Romantic Comedy in Hollywood. From Lubitsch to Sturges, New York 1991, S. 436. 11 THE AWFUL TRUTH (USA 1937); Regie und Produktion: Leo McCarey; Drehbuch: Vina Delmar, nach dem Bühnenstück von Arthur Richman; Darsteller: Irene Dunne, Cary Grant, Ralph Bellamy, Armand Duvalle, Cecil Cunningham, Molly Lamont, Esther Dale, Joyce Compton; Kamera: Joseph Walker; Schnitt: Al Clark; Set-Design: Babs Johnstone; Art-Design: Stephen Goosson, Lionel Banks; Kostüme: Robert Kalloch; Studio: Columbia Pictures.

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Trouble with Endings kommen sie wieder zusammen. Wir befinden uns dann wieder in der Situation, mit der der Film beginnt. Wie alle Comedies of Remarriage erzählt auch THE AWFUL TRUTH die Geschichte nach dem Game Over, inszeniert für seine beiden Protagonisten und das Publikum einen Re-Start der Love Story. Die geschlossene Ehe wird nicht halten, es wird zur Scheidung kommen. Und bei der Scheidung wird es nicht bleiben. Protagonist und Protagonistin werden sich annähern und es erneut versuchen, werden wieder vor dem Traualtar landen. In den Schlusssequenzen von McCareys Film befinden sich die beiden Protagonisten in einem Landhaus. Es ist beinahe 24 Uhr und die Scheidung soll um Mitternacht rechtskräftig werden. Lucy und Jerry liegen in benachbarten Schlafzimmern, an der Wand eine Art Kuckucksuhr. Lucy hat in ihrem Zimmer eine Kuckucksuhr, die viertelstündlich schlägt. Zwei Türchen öffnen sich, ein hölzerner Mann und eine hölzerne Frau kommen heraus, drehen sich und verschwinden durch ihr jeweiliges Türchen. Wie die Türchen der Kuckucksuhr öffnet sich – aufgrund von Windstößen – auch die Tür zwischen Lucys und Jerrys Schlafzimmer immer wieder (und wird immer wieder zugeschlagen). Die Schlusseinstellung des Films zeigt dann die Uhr mit ihrem Figuren-Balzritual – einem Ritual, das so zirkulär ist wie die Struktur des Films und die Abfolge von Heirat und Scheidung.12 Diesmal beinhaltet die Wiederholungsfigur aber die Möglichkeit des Sprungs, der Transgression. Beide Figürchen wählen dieselbe Tür – und sie haben sich plötzlich ›verlebendigt‹: Die Uhrenfigürchen werden von einem Mann und einer Frau, die vielleicht Cary Grant und Irene Dunne sind, im Trachtenkostüm gegeben. Bei dieser augenzwinkernden Schlusskonfiguration, die eine dem Production Code13 geschuldete Ersatzhandlung in Szene setzt, haben wir es mit einem Ebenensprung zu tun; das Spiel der Geschlechter wird vom einen Level auf den anderen gehoben. Das happy ending ist freilich im Wolkenkuckucksheim angesiedelt, wirkt augenzwinkernd und ironisiert und ist, wie wir aus der Strukturvorgabe der Comedy of Remarriage wissen, ohnehin nur der Startschuss für die nächste Runde im Hochzeits- und Scheidungsspiel.14 Vergnüglich ist in THE 12 Vgl. K. Oltmann: Remake | Premake, S. 190f. 13 Der Motion Picture Production Code wurde von der Filmindustrie im Jahr 1930 selbst eingeführt, um eine Zensur durch andere Institutionen wie der Kirche oder der Politik zu verhindern. 14 »The green place to which the quarrelers voyage to transform anger into admiration may seem to promise a rendering eternal of the couple’s love, but it is always easy to be reminded that nothing is eternal. The very insistence on remarriage that Stanley Cavell finds so central to the screwball comedy can serve as a mark for the arbitrariness of any marriage: there can always be a fall from perfection that requires the whole process to

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Claudia Liebrand AWFUL TRUTH wie in anderen Screwball Comedies der Streit, der Antagonismus beider Protagonisten, die Schließungsfigur, das happy ending, das diesen Streit stillstellt, ist nur ein Atemholen vor den nächsten Runden im Liebes- und Geschlechterkampf: »In the world of screwball comedy, there is one primary axiom: Hatred is no reason to give up on a relationship. Just because two people seem to despise each other doesn’t mean they’re not in love. […] If a man and a woman seem to like each other in the first reel, they are inevitably doomed. If, on the other hand, they respond to each other with a quick and overpowering sense of disgust, chances are that they will eventually find themselves caught up in the ceaseless bliss of an ongoing war […].«15

Der ›Motor‹ der Screwball Comedies ist dieser Liebeskrieg; die Konvention sieht vor, den Liebeskrieg am Ende des Films zu sistieren: in einem happy ending. Das Singuläre des Genres Screwball Comedy wird aber nicht durch diese Schließungskonfiguration, sondern durch die Liebeskrieg-Schlachten, die den Film hindurch erzählt werden, gekennzeichnet. Das topische happy ending wäre – so gesehen – eher ein (am Ende jedes Filmes stattfindender) ›Betriebsunfall‹ des Genres Screwball Comedy (freilich ein notwendig einzuplanender) als sein Telos. In UNFAITHFULLY YOURS, einem Film, von dem noch die Rede sein wird, räsoniert der Protagonist Sir Alfred: »I’ve been to the movies. I saw a very long picture about a dog, the moral of which was that a dog is a man’s best friend, and a companion feature which questioned the necessity of marriage for eight reels and then concluded it was essential in the ninth.«

THE PALM BEACH STORY Das Prekäre jedes happy ending setzt auch Preston Sturges’ Screwball Comedy aus dem Jahr 1942, THE PALM BEACH STORY, in Szene16: Der Film beginnt mit Gerry und Tom Jeffers’ Hochzeit.17 Nach

start all over again […]. And the ending in love is always exceeded by other endings or other narratives that go beyond the seeming eternity of the film’s end titles. Most immediately, the end of the film usually coincides with the beginning of the remarriage, inviting one to imagine later moments, later transformations [...].« Dana Polan: »The Light Side of Genius. Hitchcock’s Mr. and Mrs. Smith in the Screwball Tradition«, in: Andrew Horton (Hg.): Comedy/Cinema/Theory, Berkeley u.a. 1991, S. 137; Hervorhebung im Original. 15 E. Sikov: Screwball, S. 15f. 16 PALM BEACH STORY (USA 1942); Regie und Drehbuch: Preston Sturges; Produktion: Buddy G. DeSylva und Paul Jones; Darsteller: Claudette Colbert, Joel McCrea, Mary Astor, Rudy Vallee, Sig Arno, Robert Warwick, Arthur

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Trouble with Endings der Zeremonie zieht sich die Kamera vom Geschehen zurück und es erscheint der Schriftzug: »And they lived happily ever after.« Gefolgt von: »Or did they?« Die Handlung setzt erst einige Jahre später wieder ein, als die Ehe bereits vor ihrem Ende steht: Gerry will sich von Tom, der immer noch auf den Durchbruch als Erfinder wartet, scheiden lassen. Heiraten will sie nun lieber einen Millionär. Nach einigen Verwicklungen endet der Film schließlich mit einer gleich dreifachen Hochzeit: »Neben Tom und Gerry (die im Übrigen noch gar nicht geschieden sind), heiratet Gerrys Millionär John D. Hackensacker III ihre Zwillingsschwester, seine Schwester Princess heiratet wiederum Toms Zwillingsbruder. Wie zu erwarten zieht sich die Kamera vom Geschehen zurück und es erscheinen die gleichen Schriftzüge wie zuvor: ›And they lived happily ever after.‹ ›Or did they?‹«18

Beschreiben lässt sich diese Schließungsfigur als Subversion, als Dekonstruktion der Genrevorgabe happy ending durch ihre Übererfüllung.19 Wieder haben wir es hier mit einer Game-Over-RestartKonfiguration zu tun, die – spieltheoretisch gesprochen – mit einem Levelsprung operiert. Im nächsten Spiel agiert nicht mehr ein Paar, sondern es agieren mehrere Paare: Und die möglichen Komplikationen haben sich mindestens verdreifacht.

BRINGING UP BABY Die in Deutschland sicher bekannteste aller Screwball Comedies ist Howard Hawks’ BRINGING UP BABY20 aus dem Jahr 1938 mit Katherine Hepburn und Cary Grant, der deutsche Titel lautet: LEOPARDEN KÜSST MAN NICHT21. Die Filmhandlung lässt sich, wie folgt, zusam-

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Stuart Hull; Kamera: Victor Milner; Schnitt: Stuart Gilmore; Art-Design: Hans Dreier und Ernst Fegté; Kostüme: Irene; Studio: Paramount Pictures. Die Namen Tom und Gerry/Jerry lassen sich sicher auch als Verweis auf das sich ewig streitende Cartoon-Paar lesen. K. Oltmann: Remake | Premake, S. 184, Anm. 58. Vgl. ebd. BRINGING UP BABY (USA 1938); Regie: Howard Hawks; Produktion: Howard Hawks und Cliff Reid; Drehbuch: Dudley Nichols und Hagar Wilde; Darsteller: Katharine Hepburn, Cary Grant, Charles Ruggles, Walter Catlett, Barry Fitzgerald, May Robson, Fritz Feld, Leona Roberts, George Irving; Kamera: Russell Metty; Schnitt: George Hively; Art-Design: Van Nest Polglase; Kostüme: Howard Greer; Studio: RKO Radio Pictures. Dass LEOPARDEN KÜSST MAN NICHT in Deutschland so bekannt ist, hat mit der Häufigkeit zu tun, mit der Hawks’ Film als einzige Screwball Comedy überhaupt in den 70er und 80er Jahren in ARD und ZDF ausgestrahlt wurde; in den USA ist BRINGING UP BABY, der zunächst ein kommerzieller Flop war, eher ein Geheimtipp unter Cineasten.

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Claudia Liebrand menfassen: Susan Vance (Katharine Hepburn), eine hinreißend exzentrisch-chaotische, junge, schöne und reiche Erbin, trifft auf den stoffeligen, aber sehr seriösen Paläontologen Dr. David Huxley (Cary Grant), in den sie sich sofort verliebt und den sie nicht mehr aus ihren Fängen lässt. Huxley arbeitet im Stuyvesant-Museum of Natural History seit Jahren an der Rekonstruktion eines Brontosaurus. Zur Komplettierung fehlt lediglich ein einziger Knochen, der Claviculus Intercostalis, der aber bereits gefunden ist und sich auf dem Postwege befindet. Im rasanten Verlauf des Films spielen ein Leopard, Baby, und dessen Leopardendoppelgänger sowie der Hund George, der den Dinosaurierknochen wegträgt und vergräbt, und vieles und viele andere ihre Rollen in aberwitzigen Konfigurationen. Der Film endet mit dem Paar Susan und David, das sich gefunden hat, und zugleich damit, dass die vor Liebe außer Rand und Band geratene Susan das Dinosauriergerippe zum Einsturz bringt. Abb.01: Susan bringt das Sauriergerippe zum Einsturz

Beschrieben werden kann die Handlung als Erziehungsprozess des Paläontologen durch Susan,22 die ihm beibringt, Spiele zu spielen und Spaß zu haben. Das Leben spielerisch zu nehmen und dafür zu sorgen, dass es immer Spiele zu spielen gibt, ist Susans Part: Sie er-

22 Stanley Cavell geht in seiner Studie zur Comedy of Remarriage genau vom Gegenteil aus: Er argumentiert, dass die Frauenfiguren in diesen Filmen eine ›Schulung‹ durch die männlichen Protagonisten durchlaufen. Vgl. S. Cavell: Pursuits of Happiness.

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Trouble with Endings findet unter anderem Versteckens-, Verkleidungs- und Verfolgungsspiele. Als die beiden etwa dem Hund George nacheilen, der den Claviculus Intercostalis vergraben hat, formuliert Susan: »Isn’t it fun, just like a game.« David fällt es schwer, die Sache leicht zu nehmen – auf der Suche nach dem, nach seinem Knochen klagt er: »My bone. It’s rare. It’s precious.« Das ist so witzig und so sexuell aufgeladen23 wie das to have fun überhaupt – das eine dem Production Code geschuldete Formel für to have sex ist. Beschrieben werden kann BRINGING UP BABY aber nicht nur als Komödie, die an ihrem männlichen Protagonisten eine Erziehung zum Spiel vornimmt. Die Screwball Comedy funktioniert auch als Spielanordnung, in der die Protagonisten gegeneinander antreten. Es ließe sich eine Reihe widerstreitender Spielaufgaben formulieren, fokussiert seien jene, die durch die Eingangs- und Schlusssequenzen des Films vorgegeben werden. Zu Beginn von BRINGING UP BABY wird Dr. David Huxley mit dem fast komplettierten Brontosaurus präsentiert, seine Aufgabe ist es, das Dinosauriergerippe vollständig zu rekonstruieren. Susans Spielauftrag ist ein anderer: Als Gegenspielerin von Huxley ist sie mit der Dekonstruktion des Gerippes befasst. Am Ende des Films bringt sie das in jahrelanger Arbeit konstruierte Brontosaurierskelett zum Einsturz. Game Over – Restart: Huxley wird es wieder aufbauen müssen – und wir können vermuten, dass Susan, die anarchische Urgewalt, die alles zum Einsturz bringt, ohnehin wieder dafür sorgen wird, dass es immer neue Runden für das Rekonstruktionsspiel geben wird. Auch BRINGING UP BABY spielt also mit der Game-Over- und Restart-Konfiguration. Das – in diesem Fall Zerstörung inszenierende und auf den Gewaltaspekt jeder Schließungsfigur hinweisende – ›Ende‹ läutet, wie wir es aus den Screwball Comedies kennen, die nächste Runde ein. Das Ende ist mithin ein vorläufiges (also kein Ende) – und ob es ein happy ending ist, ist ebenfalls fraglich. Der Liebende mag sich freuen, dass er seine Herzdame gefunden hat, ob dem Paläontologen, dem gerade sein Lebenswerk zusammengebrochen ist, das Herz vor Begeisterung hüpft, darf bezweifelt werden. Ob eine Schließungsfigur als »glücklich« wahrgenommen wird, ist immer auch eine Frage der Perspektivierung.

UNFAITHFULLY YOURS Abgeschlossen werden soll der tour d’horizon über endings von und in Screwball Comedies mit einem Blick auf die von Preston Sturges gedrehte, erst vor kurzem wiederentdeckte24 – sehr späte – Screw-

23 »Boner« ist ein Slangausdruck für das erigierte männliche Genitale. 24 Seit 2005 ist der Film als Criterion-DVD verfügbar.

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Claudia Liebrand ball Comedy UNFAITHFULLY YOURS25 (deutscher Titel: DIE UNGETREUE) aus dem Jahr 1948 mit Rex Harrison und Linda Darnell.26 Die Ausgangssituation von Preston Sturges’ Film – dem raffiniertesten und ambitioniertesten Film des Regisseurs, dem an den Kinokassen der kommerzielle Erfolg verwehrt blieb und der Sturges’ Karriere beendete – ist so trivial wie anrührend; jedenfalls wäre sie anrührend, wenn der Protagonist sympathischer gezeichnet wäre. Der ebenso berühmte wie egozentrisch-arrogante englische Dirigent Sir Alfred de Carter (gegeben von einem schauspielerisch exzellent aufgelegten Rex Harrison), der seine schöne Frau Daphne hingebungsvoll und eifersüchtig liebt, findet Anlass für den Verdacht, Daphne habe ihn mit seinem attraktiven jungen Sekretär Tony betrogen. In seinem Verlauf versorgt der Film sein Publikum mit vier alternativen Handlungsversionen, vier alternativen Schließungsfiguren. Die Handlungs- und Schlussoptionen folgen Modellierungen differenter Genres. In der ersten Variante erschießt de Carter seine Frau, nicht ohne zuvor mit erheblicher krimineller Energie und diffizilen, auch medientechnischen Operationen dafür gesorgt zu haben, dass dem mutmaßlichen Liebhaber seiner Frau, Tony, dieser Mord zugerechnet und Tony zum Tode verurteilt wird (wir befinden uns, was das Genre angeht, auf dem Feld des Kriminalfilms, des Crime-Thrillers). Die zweite, eine melodramatische Variante ist weniger finessenreich, dafür ›gefühliger‹: de Carter gibt den Großzügigen. Er schreibt dem Liebespaar einen Scheck über 100.000 Dollar aus (1948 ein kleines Vermögen) und lässt die Turteltauben großherzig und abgeklärt ziehen. In der dritten Version zwingt de Carter den vorgeblichen Ehebrecher Tony, mit ihm russisches Roulette zu spielen. Dem Initiator des Spiels fehlt es an Glück: Der sich gehörnt glaubende Ehemann endet mit einer Kugel im Kopf – wir haben es wieder mit einem melodramatischen Verlauf zu tun.

25 UNFAITHFULLY YOURS (USA 1948); Regie, Produktion und Drehbuch: Preston Sturges; Darsteller: Rex Harrison, Linda Darnell, Rudy Vallee, Barbara Lawrence, Kurt Kreuger, Lionel Stander; Kamera: Victor Milner; Schnitt: Robert Fritch; Art-Design: Lyle R. Wheeler und Joseph C. Wright; Kostüme: Bonnie Cashin; Studio: Twentieth Century Fox. 26 Preston Sturges’ Film belebt, fassen wir die Screwball Comedy einmal als solches, ein eigentlich schon totes Genre, als dessen ›Wiedergänger‹ – und leitet damit auch die Refiguration der Screwball Comedies in Musicals wie High Society und Sex Comedies wie PILLOW TALK mit Doris Day ein. Vom Screwball inspiriert und als Screwballs bezeichnet werden können auch einige Romantic Comedies der 70er bis 90er Jahre: z.B. What’s up, Doc (USA 1972, R: Peter Bogdanovich) mit Barbra Streisand, ein loses Remake von BRINGING UP BABY, When Harry Met Sally (USA 1989, R: Rob Reiner) und Desperately Seeking Susan (USA 1985, R: Susan Seidelman).

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Trouble with Endings Die vierte Variation bedient das Slapstick-, das Comedy-Genre: de Carter ist mit den Vorbereitungen für den Mord an seiner Frau befasst, für den er wieder Tony verantwortlich erscheinen lassen will. Statt souverän und geschickt seine teuflische Absicht umzusetzen, stolpert und purzelt der mit zwei linken Händen ausgestattete Dirigent durch die Szenerie. Für seinen Mordplan benötigt de Carter ein Aufnahmegerät, das mit dem schönen Namen »Simplicitas« versehen ist. Der Versuch, Hilfeschreie auf diesem Gerät aufzunehmen, gerät zum Desaster (er will seine Schreie – das ist Element der Intrige – technisch so verändern, dass sie wie die Schreie seiner Frau klingen, die von Tony getötet wird). De Carter verzweifelt an der Gebrauchsanleitung, »Directions for Simplicitas home recording unit«, die ihm versichert: »So simple it operates itself«. Die Szene, die mediale Aufnahme- und Abspielkonfigurationen selbstreflexiv verhandelt – und in Gestalt einer Kiste mit Gesellschaftsspielen, die de Carter zunächst mit dem Aufnahmegerät verwechselt, das Spielparadigma allegorisiert –, ist fulminant, weil sie mit großer Drastik und anarchischem Potential vorführt, was wohl zum Alltagswissen des Publikums gehört: Das easy to install der Gebrauchsanleitungen ist ein frecher Witz. Das Auftauchen seiner Frau Daphne erlöst de Carter von seinen medien- und mordtechnischen Schwierigkeiten. Nach einem Gespräch, in dem sie ihm ihre Treue versichert, finden sich Protagonist und Protagonistin in einem Filmkuss, der angehalten und mit THE END überblendet wird: Alles ist wieder gut. Oder auch nicht: »[A]s Daphne professes her love«, konstatiert Henry Jenkins, der genau hingesehen hat, »she rolls her eyes and looks just over his shoulder, a look which Sir Alfred clearly does not and was not intended to see. […] Does this glance call into question once again the validity of Daphne’s proclamations of love, so that there are no statements in the film about her affection for Sir Alfred which go uncontested?«27

Verweist der Film also augenzwinkernd darauf, dass Daphne Sir Alfred, wie er doch vermutete, betrügt? Sollte das so sein, dann instituierte der Film an seinem Ende wieder die Anfangskonfiguration: Game Over – Restart. Sir Alfred kann sich schon wieder auf neue Runden im Spiel »Wie gehe ich mit dem Verdacht um, dass meine Ehefrau mich betrügt?« einstellen.

27 Henry Jenkins: »›The Laughingstock of the City‹. Performance Anxiety, Male Dread and Unfaithfully Yours«, in: Henry Jenkins/Kristine Brunovska (Hg.): Classical Hollywood Comedy, New York u.a. 1995, S. 259f.

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Claudia Liebrand Abb.02: Daphnes Blick über die Schulter ihres Gatten

Die Handlungsskizze hat suggeriert, dass die verschiedenen Handlungs- und Schlussversionen gleichrangig nebeneinander stehen (wie etwa in Tom Tykwers Lola rennt 28 oder in Krzysztof Kieslowskis Przypadek 29). Dieser Eindruck ist allerdings zu korrigieren: Drei der skizzierten Episoden werden im Film als Phantasien des Dirigenten gekennzeichnet – nur die vierte, die Slapstick-Verhandlung des Problems »Wie reagiere ich auf die Untreue meiner Frau?« ist als nicht der Phantasie zugehörig, als (im Raum der filmischen Fiktion) ›wirklich‹ markiert. Anders als etwa bei Tykwer oder Kieslowski haben wir es also nicht mit dem Charme einer Konstruktion zu tun, die darauf verzichtet, imaginäre oder fiktive Versionen von der vorgeblich (in der Fiktion) ›realen‹ zu trennen.

28 Lola rennt (D 1998); Regie und Drehbuch: Tom Tykwer; Darsteller: Franka Potente, Moritz Bleibtreu, Herbert Knaup, Nina Petri, Armin Rohde, Joachim Król, Ludger Pistor, Suzanne von Borsody; Kamera: Frank Griebe; Schnitt: Mathilde Bonnefoy; Art-Design: Attila Saygel; Kostüme: Monika Jacobs; Studio: X-Filme Creative Pool/WDR/arte. 29 Przypadek (PO 1987); Regie und Drehbuch: Krzysztof Kieslowski; Produktion: Jacek Szelígowski; Darsteller: Boguslaw Linda, Tadeusz Lomnicki, Zbigniew Zapasiewicz, Boguslawa Pawelec, Marzena Trybala, Jacek Borkowski; Kamera: Krzysztof Pakulski; Schnitt: Elzbieta Kurkowska; Art-Design: Rafal Waltenberger; Kostüme: Agnieszka Domaniecka; Studio: P.P. Film Polski.

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Trouble with Endings Die Episoden sind nicht direkt hintereinander montiert; die als imaginiert markierten Versionen sind diegetisch eingerahmt; dreimal hebt der ein Konzert gebende Dirigent den Taktstock, dreimal sinniert und phantasiert de Carter, dirigierend, über Handlungsalternativen. Gekoppelt sind diese Optionen an den musikalischen Charakter der Stücke, die er dirigiert, Rossinis Ouvertüre von Semiramide, Wagners »Pilgerlied« aus dem Tannhäuser, Tschaikowskis Ouvertüre von Francesca da Rimini: Der Soundtrack untermalt also nicht die Filmbilder, sondern gibt das Handlungsdesign und das Genre der jeweils phantasierten Version vor. Das dreimalige Dirigieren und Sinnieren ist kameratechnisch so umgesetzt, dass auf die Einstellung, die den Dirigierenden in den Blick nimmt und an seine Pupille heranzoomt, jeweils eine andere, neu imaginierte Handlungssequenz folgt. Der eifersüchtige Musikus de Carter phantasiert zunächst dreimal und agiert dann einmal. Die phantasierten Episoden sind diegetisch somit als phantasierte kenntlich gemacht; UNFAITHFULLY YOURS ist als konventionelles Erzählkino zu kategorisieren, das die kleine Besonderheit aufweist, dass es nicht mit Rückblenden, wie wir sie alle kennen, operiert, sondern mit Phantasieblenden, die als bloße Imagination gekennzeichnet sind. Abb.03: Das erste imaginierte Schlussszenario

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Claudia Liebrand Abb.04: Das zweite imaginierte Schlussszenario

Doch auch die soeben gezeichnete Skizze wird der filmischen Textur von UNFAITHFULLY YOURS nicht vollständig gerecht. Zwar ist richtig, dass drei der Episoden als Phantasien markiert werden, zumindest die erste Phantasie-Version aber, die Thriller-Variante, in der der Dirigent mit kaltblütiger Akribie selbst mordet (seine Frau) und morden lässt (von den staatlichen Institutionen, die Tony, der von de Carter als Mörder hingestellt wird, zum Tode verurteilen), erhält ihren definitiven Status als Phantasie-Version erst ex post. Zwar legt der Zoom der Kamera in das Auge des Dirigierenden nahe, dass wir nun ›im Kopf‹ von de Carter und bei seinen Phantasien sind; diese Schlussfolgerung ist zunächst aber noch nicht zwingend: Die Verkopplung von Dirigat und ausgeführtem Mordplan ließe sich genauso als Montage, welche das mörderische Intrigenszenario an das Konzertdirigat anhängt, lesen. Erst das Wiederaufgreifen der Konzertsituation und die Wiederholung der Situation des Phantasierens weisen der ersten Variante definitiv – in einer Nachträglichkeitskonstruktion – den Status des Imaginären zu. Überdies fällt der ›Rahmen‹, den der Film in Szene setzt, schmal, ja filigran aus. Nur wenige Takte Dirigat – und schon finden wir uns wieder in einem der unterschiedlichen de-Carter-Szenarios: »Wie reagiere ich auf die von mir vermutete Untreue meiner Frau?«. Allein durch ihre zeitliche Ausdehnung emanzipieren sich die verschiedenen Versionen von dem Rahmen, der sie diegetisch einbinden soll.

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Trouble with Endings Die imaginierten Handlungsalternativen auf der einen Seite, die in der Fiktion ›real‹ vollzogene Handlung auf der anderen Seite unterscheiden sich eigentlich nicht in ihrem Phantasie- respektive Wirklichkeitsgehalt; alle Handlungsoptionen sind, wie schon ausgeführt wurde, genregebunden. Der an der Tücke der Objekte scheiternde, als Tölpel agierende und ein Trümmerfeld hinterlassende de Carter erfüllt die Genrevorgaben des Slapsticks so passgenau wie der phantasierende de Carter zuvor etwa die mit einer Prise Farce versetzten Crime-Thriller- oder Melodrama-Muster. Die letzte, filmisch als ›wirklich‹ markierte Slapstick-Version zeichnet sich nicht durch eine höhere vraisemblance aus. Wie könnte sie das auch als Slapstick-Version? Eingeebnet wird der Unterschied zwischen den als phantasiert markierten Episoden und der ›echten‹ Schlussepisode auch dadurch, dass de Carter in der dritten imaginierten Version seiner Frau und seinem Sekretär Tony mitteilt, welche Reaktionsmuster auf die Affäre er schon phantasiert habe (sowohl Mord als auch großzügige Verzeihung). Die Zuschauer werden also zumindest einer kleinen Irritation ausgesetzt, ob diese dritte Version, wenn sie sich doch von früheren Phantasien absetze, nicht vielleicht doch als in der Fiktion ›wirklich‹ markiert sei. Abb.05: Das dritte imaginierte Schlussszenario

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Claudia Liebrand Abb.06: Das ›wirkliche‹ Schlussszenario

Wichtiger als die Opposition zwischen nur phantasiert und tatsächlich agiert ist die Komposition der verschiedenen Versionen. Die Screwball Comedy UNFAITHFULLY YOURS präsentiert zunächst GenreVarianten – den Crime-Thriller, das Melodrama –, die es in der letzten Version dann furios dekonstruiert und effektvoll zum Slapstick transkribiert. Die ›Enden‹ sind in UNFAITHFULLY YOURS so zahlreich wie die alludierten Genres – und sie erfüllen die jeweiligen Genrevorgaben für Schließungsfiguren. Sicher sein, dass wir tatsächlich aus dem Kinosessel aufstehen dürfen, können wir erst, wenn eine der Schlusssequenzen durch die Einblendung »The End« markiert wird. Das audiovisuelle Medium – seit dem so genannten Stummfilm nicht mehr auf eingeblendete Schrift (etwa auf Tafeln) angewiesen – rekurriert auf ein Vorgängermedium, um den Schluss als Schluss zu kennzeichnen. Auch diese Einblendung vermag aber die Relativierung der Schließungsfigur als Schließungsfigur, die der Film unternimmt, nicht aufzuheben. Sturges’ UNFAITHFULLY YOURS kommt als Etüde über die Kontingenz und die Austauschbarkeit von Schlüssen, seien es nun happy endings oder unhappy endings, daher – als Etüde, die überdies darauf verweist, wie sehr jedes »Ende« auch ein gewaltsamer Akt ist (der den Fluss des Erzählten abbricht). Und ob das happy ending, das uns Sturges’ Film – schließlich – anbietet, tatsächlich glücklich ist, ist (in diesem wie in den anderen Fällen) eine schwierige Interpretationsfrage.

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Trouble with Endings

Sex Comedies Besteht in der Forschung Konsens über die Raffinesse, die Screwball Comedies (und damit auch deren Schließungsfiguren) auszeichnet, gelten die Sex Comedies, die Geschlechter- und Liebeskomödien der 50er und 60er Jahre, eher als stereotype und triviale Unterhaltungsware, die keinen zweiten Blick lohnt. Dieser Einschätzung sei widersprochen, thematisiert werden zwei – für das Genre Sex Comedy typische – Filme mit Doris Day. Mit dem Fokus auf den Schließungsfiguren dieser Sex Comedies wird das Interesse jenen filmischen Strategien gelten, die die Sex Comedy als Erbin der Screwball Comedy ausweisen – eine Erbin, die an sophistication nicht hinter dem Genre, das sie beerbt, zurückbleibt.

PILLOW TALK In PILLOW TALK, Michael Gordons Film aus dem Jahr 1959, der wegen seiner raffinierten Split-Screen-Technik als stilistisch besonders avanciert gilt,30 spielt Doris Day die erfolgreiche Innenarchitektin Jan Morrow,31 die sich mit dem Komponisten Brad Allen (Rock Hudson)32 eine Telefonleitung teilen muss. Da Allen ständig mit seinen vielen Freundinnen am Telefon flirtet, kann Morrow, die den Lebenswandel des Playboys lebhaft missbilligt, ihr Telefon kaum benutzen. Immer wenn sie den Hörer abhebt, präsentiert sich ihr ein Liebesgeflüster-Hörstück. Seinen zahlreichen Geliebten singt Brad Allen, der Komponist, am Telefon jeweils den Song »You are my inspiration« in verschiedenen Sprachen vor, an die Titelzeile hängt er jeweils die Namen derjenigen an, mit der er gerade spricht: »You are my inspiration, Marie. A perfect combination, Marie« bzw. »Tu es une inspiration, Yvette. Une parfaite combination, Yvette«.

30 Auf das Split-Screen-Verfahren – als Stilmerkmal der Sex Comedies mit Doris Day – rekurriert wird in Peyton Reeds Down with Love aus dem Jahr 2003, einer gelungenen, im Jahr 1962 spielenden Hommage an die DayHudson-Komödien mit René Zellweger und Ewan McGregor. 31 Doris Day spielt eine berufstätige Frau, eine Karrierefrau, die allerdings auf einem Gebiet tätig ist – der Verschönerung der häuslichen vier Wände –, das als traditionell »weiblich« semantisiert ist. 32 Day und Hudson waren ein so überzeugendes match auf der Leinwand, dass ihrer ersten Sex Comedy zwei weitere folgten: Delbert Manns Lover Come Back (1961) und Norman Jewisons Send Me No Flowers (1964).

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Claudia Liebrand Abb.07: Jan Morrow als unfreiwillige Zuhörerin von Brad Allens Liebesgeflüster

Abb.08: Jan und Brad nehmen ein Bad und teilen sich dabei die Leinwand

Beim abendlichen Ausgehen trifft Allen zufällig Morrow und stellt sich ihr – er weiß, wie sehr sie Brad Allen hasst – als texanischer Geschäftsmann Rex Stetson vor, als einfältiger, aber höflicher, zurückhaltend-ehrbarer Gentleman. Morrow geht mit dem gutaussehenden Stetson aus. Das missfällt allerdings ihrem langjährigen Verehrer, dem Millionenerben Jonathan Forbes (gegeben von Tony Randall), der einen Detektiv auf Stetson ansetzt – und schnell herausbekommt, dass der angebliche Texaner jener Brad Allen ist, der mit Morrow eine Telefonleitung teilt und überdies für ihn, Jonathan Forbes, arbeitet, Kompositionen schreibt. Nach einigen Verwicklun246

Trouble with Endings gen erfährt auch Morrow von der Identität Stetsons: Sie schickt Dr. Jekyll und Mr. Hyde in Personalunion in die Wüste. Allen, der sich inzwischen in die Spröde verliebt hat, beendet seine zahlreichen Affären und engagiert das Büro für Innenarchitektur, bei dem Morrow arbeitet, zur Umgestaltung seines Apartments, um den Kontakt zur Angebeteten wiederherzustellen. Wir nähern uns dem Ende: Morrow übernimmt den Auftrag und macht aus dem Junggesellenapartment (das mit Schaltern ausgestattet ist, um die Wohnungstür zu verriegeln, das Licht zu dämpfen, den Plattenspieler einzuschalten und ein Doppelbett auszuklappen) eine mit überbordendem orientalischem Kitsch ausgestattete grün-rote Lasterhöhle. Der ob dieser innenarchitektonischen Glanzleistung enragierte Allen sucht Morrows Apartment auf, reißt die Angebetete aus ihrem Bett und trägt die Protestierende auf seinen Armen in seine verschandelte Wohnung, um die Innenausstatterin mit der angerichteten Katastrophe zu konfrontieren. Als er danach wutentbrannt sein Apartment wieder verlassen will, weiß Morrow – die plötzlich erkennt, dass Allen der Mann ihres Lebens ist – die Apparaturen der Junggesellenhöhle zu benutzen: Sie verhindert den Abgang des Komponisten, indem sie qua Schalterbedienung die Tür verriegelt. Das Paar kann sich in die Arme fallen.33 Dieses dénouement der Liebesgeschichte ist bemerkenswert, weil es der Protagonistin die Rolle zuweist, die zuvor selbstverständlich vom Protagonisten ausgefüllt wurde: Er präsentierte sich als unverbesserlicher Kater, der in seiner Höhle Mäuse fing, als Playboy, der dafür sorgte, dass das jeweilige Häschen die Wohnung nicht vorzeitig verließ. In diesen Sequenzen von PILLOW TALK (die durchaus die Schlusssequenzen sein könnten, es aber noch nicht sind) ist Morrow diejenige, die »am Drücker« ist, die Allen mit seinen eigenen Waffen schlägt: Protagonistin und Protagonist haben ihre Rollen

33 Am Ende von PILLOW TALK findet sich nicht nur dieses Hauptpaar, sondern auch ein komisches Nebenpaar. Jan Morrow beschäftigt eine ältere Haushaltshilfe, die sich jeden Abend – aus Einsamkeit und Frustration – betrinkt und schwer verkatert morgens zum Dienst erscheint. Hans Schifferle beschreibt diese Nebenfigur als »komische, anarchistische und sehr schmerzliche Figur, gespielt von der großartigen Thelma Ritter. Sie stellt die alte, alleinstehende Haushälterin von Doris Day dar, die jede Nacht durchsäuft. Sie kommentiert den Geschlechterkampf wie ein griechischer Chor und ist selbst jenseits der Geschlechterrollen ein mahnendes Bespiel für die Schrecken des Alleinseins.« (Hans Schifferle: »Dem Himmel so nah. Wiedergesehen: die Sex-Komödien mit Doris Day und Rock Hudson«, in: epd film 2004, H. 1, S. 25.) Nicht lange bevor der Film endet, deutet sich (nach mutmaßlich hunderten von gemeinsamen Aufzugsfahrten, die die Haushälterin mit dem Liftführer in Morrows/Days Wohnhaus absolvierte) eine Paarbildung beider in derselben Wohnanlage Beschäftigten an.

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Claudia Liebrand und ihre Strategien miteinander getauscht. Wie häufig im Screwball-Genre ist es auch hier in der Sex Comedy die Protagonistin, die das Paar generiert (und nicht Allen, dessen Entführung Morrows aus ihrem Bett gewaltsam und aufmerksamkeitsheischend ist; er löst aber damit nur den Protest der Fortgetragenen aus, die Handgreiflichkeit überredet sie nicht zur Liebe). Parallelen zum Screwball-Genre gibt es, signifikant modifiziert, den Film hindurch: So bemüht sich Morrow, den unbedarften und weltfremden Rex Stetson mit dem Leben und der Liebe bekannt zu machen (Ähnliches projektierte die Protagonistin von BRINGING UP BABY in Bezug auf ihren Auserwählten). Während Dr. David Huxley (Cary Grant) aber in der Fiktion der Screwball Comedy tatsächlich ein weltabgewandter Wissenschaftler ist, ist der in der Sex Comedy PILLOW TALK von Rock Hudson gegebene Rex Stetson eine Figur, die vom gewieften und lebemännischen Brad Allen erfunden wurde, um die ein wenig prüde Junggesellin Jan Morrow aus der Reserve zu locken. In einem seiner gelegentlichen Telefonate – über die gemeinsame Leitung – mit Morrow äußert Allen gar die Vermutung, Stetson, bislang ohne Versuch einer erotischen Annäherung an Morrow, sei mutmaßlich schwul. Und Stetson teilt beim nächsten Treffen – Allen spielt sein Spiel mit Morrow – der Begleiterin umgehend mit, er liebe schöne Stoffe, interessiere sich für Kochrezepte und spreizt den kleinen Finger auffällig ab, als er einen Drink nimmt. Wie Richard Dyer konstatiert: »Here is this gay man (Roy Scherer Jnr, Rock’s real name) pretending to be this straight man (Rock Hudson) who’s pretending to be a straight man (the character in the film) pretending to be a gay man (for the sequence or gag in the film).«34 Diese – und weitere – »hysterical pleasures of confusion«35 werden im Film in Szene gesetzt. Als Allen seinen Freund und Auftraggeber Jonathan Forbes in dem Gebäudekomplex, in dem dieser sein Büro hat, aufsucht und er bemerkt, dass Jan Morrow sich in Forbes’ Büro aufhält, weicht er in eine Arztpraxis aus, die sich auf demselben Flur wie das Forbes-Büro befindet (um zu vermeiden, dass der Freund ihn, den Morrow für Rex Stetson hält, als Brad Allen begrüßt). Allen geht davon aus, dass es sich um die Praxis eines Allgemeinarztes handelt (er hat übersehen, dass die Tür eine Praxis für Geburtshilfe ausweist, und fragt bei der Sprechstundenhilfe nach einem Termin – nicht für seine Frau, sondern für sich): Der Arzt solle sich um seine Bauchschmerzen kümmern. Die irritierte Sprechstundenhilfe informiert im Behandlungszimmer den Doktor,

34 Richard Dyer: »Rock – The Last Guy You’d Have Figured?«, in: Pat Kirkham/Janet Thumim (Hg.): You Tarzan. Masculinity, Movies and Men, London 1993, S. 31. 35 Ebd.

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Trouble with Endings der herausstürzt, aber Allen, der inzwischen gegangen ist, nicht mehr antrifft. Während die Helferin feststellt: »He was obviously a psychopath«, entgegnet Dr. Maxwell: »What if he weren’t? ... Miss Resnick, medical science still has many unknown regions to explore.« Und es gelingt Dr. Maxwell tatsächlich der medizinischen Sensation, des schwangeren Mannes, habhaft zu werden. In der Schlusssequenz des Films, die auf die Paarfindungsszene in Allens neu eingerichteter Wohnung folgt – einen kleinen Epilog »3 months later« –, schauen wir Allen zu, wie er den Freund Jonathan aufsucht, um ihm zu erzählen, dass Jan mit ihm, Allen, ein Baby erwarte. Dr. Maxwell und seine Sprechstundenhilfe sehen ihn auf dem Gang. Während sie ihn in die Praxis ziehen, versucht Allen die Situation zu klären: »You don’t understand. I’m gonna have a baby!« »Of course you are«, entgegnet Dr. Maxwell, der Allen wegzieht, während der nach seinem Freund ruft: »Jonathan! Jonathan!«36 Dieses Ende (das an die Szenen, die den Film eigentlich schon beenden, das heterosexuelle Paar generieren, noch angehängt ist) subvertiert nun hinreißend komisch die boy-gets-girl-Geschichte, die PILLOW TALK erzählt. »Rather than offering the expected final image – the straight couple in an embrace – Pillow Talk holds out to the end, delivering instead the imagined spectacle of the gay couple that might have been.«37 An das Ende der boy-meets-girl-Story ist eine Sequenz angehängt, die die heterosexuelle Paarbildung ironisch kommentiert, mit Gender-Konfusion – und unknown regions – kokettiert. Interpretiert man PILLOW TALK tatsächlich von dieser letzten Szene her, präsentiert sich die Sex Comedy nicht als eine, der es um die Läuterung eines Playboys und das glückliche Unter-dieHaube-Kommen einer Karrierefrau geht, sondern als Verwirrspiel à la La Cage aux Folles.38 Der Filmzuschauer hat selbst zu entscheiden, welche der »konkurrierenden«39 Schlusssequenzen er privilegiert, seinem Fingerspitzengefühl ist es überlassen, auszutarieren, welches happy ending Gordons Sex Comedy eigentlich anbietet: ein konventionelles, auf fixen Geschlechterrollen basierendes Paarglück oder das Vergnügen der Exploration unbekannten Gender-Terrains und der Transgression fixierter Gender-Rollen.

36 Auf diese Schlusskonfiguration des Films wird ebenfalls verwiesen in Cynthia J. Fuchs: »Split Screens. Framing and Passing in Pillow Talk«, in: Joel Foreman (Hg.): The Other Fifties. Interrogating Midcentury American Icons, Urbana/Chicago 1997, S. 244f. 37 Ebd., S. 245. 38 La Cage aux Folles (F/I 1978, R: Edouard Molinaro). 39 Die Formulierung ist etwas unsauber: Als eigentlicher Schluss wäre nicht die Paarfindung, sondern Allens Erlebnis vor der Arztpraxis aufzufassen, ist dies doch die letzte Sequenz des Films.

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Claudia Liebrand Auf diese Schlusskonfiguration folgt der Abspann des Films – animiert (wie der Vorspann).40 Wir blicken auf zwei Kopfkissen (ein blaues, ein orangefarbenes), eingeblendet wird »the end«. Momente später sind die beiden pillows durch ein quadratisches, rosafarbenes Zierkissen ergänzt, mit der Einblendung »not quite« versehen. Es folgt ein weiteres Kissen, nochmals die Einblendung »not quite« – und noch zwei mit derselben Einblendung. Abb.09: Zwei Kopfkissen

Man mag diesen Abspann lesen – und damit folgt man wohl der im historischen kulturellen Kontext der 50iger Jahre privilegierten Anweisung – als Allegorisierung der prokreativen Erfolge des (Ehe-) Paars, dessen Familiengeschichte noch »nicht ganz« ans Ende gekommen ist. Möglich ist aber auch eine Lektüre, die die Stabilität des gerade geschlossenen Paarpakts in Zweifel zieht, die blauen oder rosafarbenen Zierkissen könnten für Liebeleien, Amouren, für Nebenbeziehungen des einen oder der anderen stehen41 (und damit

40 »Bettgeflüster beginnt [und schließt; C. L.] wie alle Day-Hudson-Filme mit einer schick animierten Titelsequenz, über der ein melodiöser Doris-DaySong liegt. Die Verwandtschaften zum Comic und zum Melo werden so angedeutet. Nach dieser Credit-Sequenz, die heute wie ein schöner Vorreiter der Zeichentrick- und Anime-Passagen von Tykwer und Tarantino wirkt, wird rasch in die Apartments und Schlafzimmer des Big Apple geblendet.« H. Schifferle: Dem Himmel so nah, S. 24. 41 Neben den Comedies des Typs »Single lernt Mann kennen« hat Doris Day Filme des Typs »Wir sind ein glückliches Paar, oder nicht?« gedreht. In Please Don’t Eat the Diasies (Meisterschaft im Seitensprung, USA 1960) oder The Thrill of It All (Was diese Frau so alles treibt, USA 1963) werden Gefährdungen der ehelichen Gemeinschaft verhandelt, in Szene gesetzt.

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Trouble with Endings wieder das happy ending in Frage stellen).42 Konkurrieren beide Lesarten, die konservativ-generative und die die Institution der Ehe subvertierende, ist die Interpretation der Animations-Sequenzen als Räsonnement über die Schwierigkeit ein Ende als Ende zu markieren mit beiden Lesarten zu vereinen. Stets kommt noch etwas »danach«. An das, von dem behauptet wird, es sei das Ende, kann immer noch etwas anschließen: The End – not quite. Abb.10.: Zwei Kopfkissen und ein Zierkissen

42 Dass es mit der Verbindlichkeit, dem »abschließenden« Potential von Hochzeiten, die doch in so vielen Komödien als Schließungsfiguren herhalten müssen, prekär bestellt ist, macht auch der zweite Film, den Doris Day mit Rock Hudson drehte, Lover Come Back, deutlich. Nach vielen Verwicklungen heiraten die Protagonisten und verbringen eine Hochzeitsnacht. Die Ehe wird danach annulliert. Das Paar heiratet ein zweites Mal, als die Braut auf dem Weg in den Kreissaal ist, um das Kind, das sie in ihrer ersten Hochzeitsnacht empfangen hat, zu entbinden. Eine dritte Hochzeit – eine kirchliche Hochzeit – verspricht der Bräutigam der Kreißenden beim nächsten Kind. Allein diese Multiplikation des »einmaligen« die Liebesgeschichte »besiegelnden« Aktes Heirat evoziert subversive Effekte.

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Claudia Liebrand Abb.11: Zwei Kopfkissen und zwei Zierkissen

Abb.12: Drei der vier Zierkissen

THAT TOUCH OF MINK In Delbert Manns THAT TOUCH OF MINK, drei Jahre nach PILLOW TALK gedreht, teilt Doris Day die Leinwand nicht mit Rock Hudson, sondern mit Cary Grant. Die zu Beginn des Films arbeitslose Protagonistin Cathy Timberlake ist ausgebildet, Computer – in den frühen Sechzigern: riesige, mit Lochkarten operierende Apparaturen – zu bedienen, und wird auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch vom Rolls-Royce des reichen Geschäftsmannes Philip Shayne mit Schmutzwasser bespritzt. Der Wagen fährt weiter, Timberlake steht

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Trouble with Endings Shayne allerdings ein paar Minuten später in persona gegenüber, um sich über seine »Unfallflucht« zu beschweren. Beim ersten Anblick verliebt sie sich in ihn; und auch der schwerreiche Shayne ist von Timberlake angetan und braucht keine lange Bedenkzeit, um die Schöne auf eine Luxusreise auf die Bermudas einzuladen. Timberlake missversteht das Angebot als Heiratsantrag, Shayne stellt aber klar, dass er an Ehe nicht denke. Trotz ihrer Sittenstrenge und ihrer Sehnsucht, geheiratet zu werden, lässt sich Timberlake auf das unmoralische Angebot, die Bermudas, ein – um dann doch, als last minute rescue Hautausschlag zu bekommen (und so die Liebesnacht zu vermeiden). Frustriert fliegt Shayne am nächsten Morgen nach New York zurück. Auch ein zweiter von Cathy Timberlake angestrengter Versuch, das ausgefallene Liebesabenteuer auf den Bermudas nachzuholen, scheitert: Sie trinkt sich Mut an – und endet im Delirium. Philip Shayne erkennt, dass es mit der Affäre – die Auserwählte kann ihre kleinstädtischen Wurzeln und ihre prüden Überzeugungen nicht über Bord werfen – nichts werden wird und bringt Timberlake in einer seiner Firmen als Computerfachkraft unter. Dort richtet sie ein unglaubliches Chaos an,43 und Shayne beschließt, einen Ehemann für sie zu finden, um den Arbeitsmarkt vor ihr zu schützen: »The Four Horsemen now have a riding companion. There’s War, Famine, Death, Pestilence, and Miss Timberlake!« Zum guten Schluss heiratet er sie selbst – und entwickelt bei der Hochzeitsreise, zum dritten Mal geht es auf die Bermudas, als Ehemann jenen nervösen Ausschlag, der Cathy als Unverheiratete am Sex gehindert hatte. Die Hochzeitsnacht ist aber nur aufgehoben: In den Schlussszenen des Films sehen wir Cathy und Philip mit Kinderwagen im Park – begleitet von Roger, Philips Finanzberater. Roger bleibt kurz allein mit dem Kind zurück und trifft zufällig auf seinen Psychiater Dr. Gruber, der ihm eine Behandlungspause auferlegt hatte (weil der Psychiater seinen Analytiker in Wien aufsuchen wollte). Dr. Gruber fragt: »What happened with that wealthy gentleman friend of yours?« Roger: »The wedding was last July.« Dr. Gruber: »How does it work out?« Roger (beugt sich zum Kinderwagen, nimmt das Baby und präsentiert es stolz seinem – konsterniert dreinblickenden – Psychiater): »Take a look.« Die Schlusssequenz knüpft an eine Filmszene an, in der wir einem Besuch Rogers bei Dr. Gruber beiwohnen – Philip Shaynes neurotischer Berater, ehemaliger Ökonomieprofessor in Princeton, der für den schnöden Mammon seine wissenschaftliche Karriere aufgegeben hat, unterzieht sich seit Jahren einer Psychoanalyse.

43 Frauen und Computer passen also in Manns PILLOW TALK tatsächlich noch schlechter zusammen als Männer und Frauen.

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Claudia Liebrand Gruber fragt seinen auf der Couch liegenden Patienten eingangs der Sitzung nach neuen Entwicklungen auf dem Aktienmarkt, Roger versorgt ihn en passant mit Insidertipps und Dr. Gruber schleicht sich – der frei assoziierende Finanzberater merkt davon nichts – aus dem Büro, um seinem Börsenmakler einen Kaufauftrag zu geben. Als Gruber seinen Platz hinter der Couch wieder einnimmt, ist Roger dabei, die Liebesgeschichte zwischen seinem Chef, Philip Shayne, und Cathy Timberlake, die ihn sehr bewegt, zu erzählen: Er entwickelt deren Story – eine kleine Übung in Empathie vornehmend – aus der Ich-Perspektive Cathys (identifiziert er sich doch mit der Blondine, die sich in seiner Wahrnehmung von Shayne nicht dominieren lässt – und die Roger dafür bewundert). Roger beginnt, als Gruber bereits das Zimmer verlassen hat: »It took a woman to prove it. There’s this girl, let’s call her… Cathy Timberlake. […] The way she stood up to him, it was inspiring. And it took courage. I kept thinking: What would I have done if I were in her shoes: unemployed, no money? [In diesem Moment betritt Dr. Gruber wieder den Behandlungsraum.] Roger: This very wealthy man sees me walking down the street, is terribly attracted to me, has me brought up to his office. I have to admit he’s quite charming. After the usual preliminaries – dinner and dancing – he invites me to Bermuda. Dr. Gruber: Just like that? Roger: This is a forceful, dynamic man, accustomed to getting his own way! Dr. Gruber: Uh-huh. Roger: Get given the complete wardrobe, including a mink coat, flown to Bermuda, taken to the best suite. This man offers everything: excitement, comfort, security. Believe me, Doc, it’s not easy to turn down an offer like that. Dr. Gruber: No, it’s not … Uh, look, Roger, something quite urgent has come up. Would you mind if we cut the session short? Roger: No, no, of course not. Dr. Gruber: I want to see you first thing in the morning, though. I think we should examine this new development. Roger: Exciting, isn’t it? Dr. Gruber: Yes, that’s quite a breakthrough you’ve made.«

Dr. Gruber ist alarmiert, nimmt er doch an, sein Patient habe eine schwere Gender-Identity-Störung und entpuppe sich als homosexuell. (Nachdem er Roger nach Hause geschickt hat, ruft er seinen Börsenmakler an: »Cancel that order for Consolidated Wire! My informant has developed some instabilities which makes his judgment questionable.«) Rogers Entwicklung, die Liebes- und Heiratsbeziehung zwischen zwei Männern, beunruhigt ihn so sehr, dass er seine Praxis, um sich selbst in psychoanalytische Behandlung nach Wien zu begeben, vorübergehend schließt. Aus Österreich zurückgekehrt, trifft er Roger, der ihm stolz ›sein‹ Baby präsentiert. 254

Trouble with Endings Abb.13: Die Schlusspointe

Wie in der Schlussszene von PILLOW TALK evoziert das Ende von THAT TOUCH OF MINK ein homosexuelles Paar – doch die männliche Schwangerschaft (in PILLOW TALK ›diagnostiziert‹) ist hier ›ausgetragen‹: Das Baby strahlt in die Welt und kann dem Psychiater gezeigt werden. Wieder steht nicht das heterosexuelle Paar, das sich in THAT TOUCH OF MINK zur Ehe findet, am Ende des Films, es wird Platz gemacht für eine Persiflage des boy-meets-girl-Schemas. Am Schluss von Doris Days und Cary Grants Komödie, in der doch die konservativen Werte der Sechziger zu obsiegen scheinen – in der die Ehe nach wie vor eine Voraussetzung für Sex ist und in der Frauen nicht in den Arbeitsmarkt, sondern in den Hafen der Ehe einlaufen sollen –, steht eine burleske Inszenierung von Gender-Konfusion, wird der Blick frei auf eine unknown region, in der Männer Männer lieben, heiraten und mit ihnen Kinder haben: Der Psychoanalytiker kann sich ein Bild davon machen – genau wie der Filmzuschauer, der auf dieses komische Schlussszenario blickt, das die heterosexuelle ›Haupthandlung‹ ironisch kommentiert und unterläuft. Ein Ende, das karnevalesk daherkommt, das ›eigentliche‹ – das heterosexuelle – ending parodiert und dekonstruiert. Von diesem Schluss ausgehend erweist sich für den Zuschauer nicht das konventionalisierte happy ending als vergnüglich, sondern dieses freche Spiel mit den gesellschaftlichen Normen und Erwartungshaltungen. Das happy ending heterosexueller Paarbildung in THAT TOUCH OF MINK wird aber nicht nur subvertiert durch diese Schlusspointe, sondern auch durch eine kleine Nebenhandlung – ganz am Rande des Geschehens. Nach einer furiosen ›Verfolgungsjagd‹ – Shayne fährt Timberlake nach, die sich mit einem anderen Mann in ein Motel aufgemacht hat, um sie aus den Armen ihres ›Liebhabers‹ zu reißen – stürmt zunächst der Protagonist Philip Shayne, dann Ro255

Claudia Liebrand ger, auf der Suche nach Cathy in das Zimmer eines frisch verheirateten Paares. Der Ehemann im Motel missversteht das Interesse, von dem er glaubt, dass es sich nur durch das anscheinend libertine Verhalten seiner Gattin vor der Heirat erklären lasse, greift zum Telefonhörer – und bittet seine Mutter, die in allem, insbesondere in ihrer Einschätzung seiner Braut, recht gehabt habe, ihn abzuholen und wieder zu sich nach Hause zu holen. Die ›glückliche‹ Paarbildung Timberlake/Shayne (die – nicht nur in dieser Sex Comedy – eine gewaltsame ist: als Shayne Timberlake in einer Telefonzelle am Motel entdeckt, schnappt er sich das Objekt seiner Begierde und trägt es über seiner Schulter davon) hat einen Preis: Sie kostet eine (andere) Ehe. Der frisch verheiratete Mann von Zimmer 9 wird sich scheiden lassen und wieder bei seiner Mutter einziehen – ein komödiantisches, aber auch unglückliches Supplement-Ende. Die happy endings der in den Blick genommenen Screwball und Sex Comedies sind, das bleibt festzuhalten, allesamt prekär – auch wenn sie nicht durch unhappy endings supplementiert werden. Das »Glück« des Schlusses wird häufig gewaltsam hergestellt44 – Glück, das nicht nur deshalb heikel zu sein scheint: Ob ein happy ending als happy ending durchgehen kann, ist immer eine Frage der Perspektivierung und der Interpretation (die dem Rezipienten die philosophische Frage »Was ist Glück?« aufbürdet). Gelegentlich werden – eine Möglichkeit, das eine Ende mit unterschiedlichen Faktoren zu multiplizieren (und damit auch zu dekonstruieren) – konkurrierende Schließungsfiguren angeboten: Dem konventionalisierten happy ending, das die heterosexuelle Paarbildung feiert, stehen etwa burleske Inszenierungen nicht-heterosexueller Konfigurationen entgegen. Letztlich ist es dem Zuschauer aufgegeben, zu entscheiden, ob er dem Glück der Konvention oder dem karnevalesken Vergnügen ironischer Subversion den interpretativen Vorzug gibt.45

44 Greifen die männlichen Protagonisten gelegentlich zu Gewalt, um sich ihre Liebste zu sichern (oder auch vice versa), ist darauf zu verweisen, dass die Setzung des Schlusses als Setzung strukturell immer ›gewaltsam‹ ist. 45 Oltmann führt aus: »Bezüglich des subversiven Potenzials von Comedy [und deren Genre-Konvention happy ending; C. L.] gibt es zwei gegenläufige Meinungen. Im Anschluss an Bachtin wird häufig davon ausgegangen, dass Comedies herrschende Autoritäten und Normen durch die Topoi der verkehrten Welt und des Rollenwechsels unterlaufen. Von anderer Seite ist hingegen argumentiert worden, dass diese Derivationen von der Norm, die Transgressionen[,] teil [sic] der Genrekonventionen seien und damit lizensierter und integraler Bestandteil von Komödien. Die Normen, die transgrediert würden, würden eben zuallererst einmal als Normen anerkannt. Es lässt sich wohl keines von beiden, weder die Affirmation/Reetablierung noch die Subversion geltender Normen und Institutionen, ausschließen.« K. Oltmann: Remake | Premake, S. 182, Anm. 51.

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Trouble with Endings Das Ende als Ende ist in den betrachteten Romantic Comedies alles andere als fraglos.46 Wenn mit Shoshana Felman festzuhalten ist: »The end is generally that which by definition cannot repeat itself«,47 verfehlen nicht nur die Comedies of Remarriage diese Vorgabe. Deren Enden sind immer vorläufige – eigentlich keine – Enden, läuten nur eine neue Game-Over-Restart-Runde ein: »The End« – »not quite«. Die Comedies prozessieren mithin die Frage, wie belastbar das ending ist – und wie belastbar dabei das Epitheton »happy« der Konfiguration happy ending. Sie enthalten uns die konventionalisierte Schließungsfigur keineswegs vor: Immer aber setzen sie deren Paradoxien in Szene.

LISTE DER ABBILDUNGEN • • • • • • • • • • • • •

Abb.01: Susan bringt das Sauriergerippe zum Einsturz Abb.02: Daphnes Blick über die Schulter ihres Gatten Abb.03: Das erste imaginierte Schlussszenario Abb.04: Das zweite imaginierte Schlussszenario Abb.05: Das dritte imaginierte Schlussszenario Abb.06: Das ‚wirkliche’ Schlussszenario Abb.07: Jan Morrow als unfreiwillige Zuhörerin von Brad Allens Liebesgeflüster Abb.08: Jan und Brad nehmen ein Bad und teilen sich dabei die Leinwand Abb.09: Zwei Kopfkissen Abb.10.: Zwei Kopfkissen und ein Zierkissen Abb.11: Zwei Kopfkissen und zwei Zierkissen Abb.12: Drei der vier Zierkissen Abb.13: Die Schlusspointe

46 Hier soll keinesfalls suggeriert werden, dass die Infragestellung des Endes als Ende nur für das Genre »Romantic Comedy« gilt. Auch für andere Genres lässt sich zeigen, wie prekär closure-Figurationen sind. Melodram und Gangsterfilm sind zwar in der Regel so gestaltet, dass »am Ende« die symbolische Ordnung wiederhergestellt ist. Das Vorangegangene (so etwa familiäre Konflikte, seelische Probleme, Krankheiten, Gender-Invertierungen etc.) ›entlarvt‹ jedoch das Schlussbild (das uns der familiären Eintracht versichert, ein glückliches Liebespaar präsentiert oder den Gangster liquidiert) als ein idealisiertes Trugbild. 47 Shoshana Felman: The Scandal of the Speaking Body. Don Juan with J.L. Austin, or Seduction in Two Languages, Stanford (CA) 2003, S. 35.

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Eine kleine Zeitkritik – oder warum es Glück nur noch als Risiko gibt. Zu Gaspar Noés Irreversibel TANJA PROKIĆ Die folgende Reflexion nimmt Gaspar Noés Film Irreversibel1 zum Anlass einer dekonstruktiven Lektüre der Verhältnisse von Zeit, Erzählung und Glück. Im Zentrum des Interesses steht eine spezifische Funktion von Erzählen, die konstitutiv ist für unser gesamtes Glücksmanagement im modernen Kontext. Diese Funktion soll nun vorerst kryptisch als »Re-stabilisierung sozialer Zeit(ordnung)« bezeichnet werden. Re-Stabilisierung meint hier einen evolutionären Mechanismus, der für den Aufbau von Ordnung als Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen verantwortlich ist.2 Erzählende Literatur und erzählender Film »erzeugen eine Verdopplung der Realität – eine zusätzliche fiktionale Realität, von der aus man die reale Realität beobachten kann«3. Diese Verdopplung zeigt, dass auch die Welt der realen Realität gemacht ist, sofern Ordnung gestiftet wird. Sie folgt nachvollziehbaren Regeln und lässt uns so wahrnehmen, wie aus Kontingenz Ordnung entsteht.4 Indem Erzählen Temporalstrukturen aufbaut, restabilisiert es soziale Zeitordnungen. Diese wiederum organisieren die Matrix von Glück, als sozialer Kategorie im Sinne eines glücklichen Lebens.

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Irreversibel (Irréversible, 2002), Regie: Gaspar Noé Premiere: 23. Mai 2002 (Cannes Film Festival Frankreich), Drehbuch: Gaspar Noé, Dt. Start: 11. September 2003, FSK: ab 18, Land: Frankreich, Länge: 99 min. Vgl. Niklas Luhmann: »Sinn/Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution«, in: ders.: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 2008, S.9. Niklas Luhmann: »Sinn der Kunst und Sinn des Marktes – zwei autonome Systeme«, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt a.M. 2008, S. 397. Vgl. Niklas Luhmann: »Wahrnehmung und Kommunikation an Hand von Kunstwerken«, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt a.M. 2008, S. 257 und ders.: »Literatur als fiktionale Realität«, in: ebd., S. 290.

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Tanja Prokic Warum gerade Irreversibel, ein Film, der kaum vom Glück erzählt und darüber hinaus offenkundig die Konvention des Happy Ends subvertiert, auf das Glück der Gesellschaft hin befragt werden soll, wird sich im Folgenden klären, vorweg sei nur gesagt: Irreversibel torpediert jene Temporalstrukturen der Normalerzählung und forciert somit einen radikalen Bruch mit der normalisierenden Restabilisierung der sozialen Zeit, was geradezu unverdaulich auf die Ebene der Glücksmatrix durchschlägt. Indem Irreversibel mit der Zeitordnung bricht, bricht er mit der Erzählordnung (und umgekehrt!) und legt so die Glücksmatrix einer modernen Gesellschaft offen, die grundlegend auf Erzählung angewiesen ist. Für eine dekonstruktive Analyse, die sich jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik5 ansiedelt und mit Foucault auf die Aussagenebene von Texten abhebt,6 gilt dann: »Einen Text zu verstehen heißt also letztlich, seine Zeitverhältnisse zu entschlüsseln.«7

Die Zeit des Textes Der Film ist, äquivalent zum schriftlichen Text, »in seinem Erleben an eine bestimmte Reihenfolge, an das Vorher/Nachher eines linearen Prozesses gebunden«8. Wie der Lektüre des schriftlichen Textes wohnt der filmischen Rezeption ein »unvermeidlich sukzessiver Voll5

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So haben Rabinow und Dreyfus Foucaults methodisches Unternehmen positioniert, vgl. Paul Rabinow/Hubert L. Dreyfus: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987. Foucault entwickelt sein Konzept der Aussage in der Methodenschrift Archäologie des Wissens; hier konzipiert er sie im Unterschied zur Äußerung. So wird deutlich, dass erst eine bestimmte Aussagenformation Sätze, Texte etc. als Äußerungen möglich macht. Wenn man also den Satz »Jeder ist seines Schicksals Schmied« als zeitlos gültig erachtet, so deutet man diesen lediglich auf der Ebene der Äußerung. Erkennt man jedoch an, dass ein solcher Satz als Oberflächenphänomen immer gleich erscheinen mag, in seiner Zugehörigkeit zu einer historisch-kulturell einzigartigen Formation (= Diskurs) aber vollkommen andere »Aussagen« aufruft, dann isoliert und untersucht man diesen auf der Aussagenebene. Die Zeitverhältnisse eines Textes zu verstehen, der von der Zeit handelt, meint eben, nicht den Äußerungen über Zeit gewissermaßen ›auf den Leim zu gehen‹, indem man sie ihrem Gehalt nach auffasst, sondern die Struktur der (sozialen) Zeit, die solche Äußerungen als Oberflächenphänomene erst ermöglicht, als Aussage(funktion) zu isolieren und zu analysieren, vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 113-172. Armin Nassehi: »Die Zeit des Textes. Zum Verhältnis von Kommunikation und Text«, in: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen u.a. 1997, S. 64. Vgl. ebd., S. 54.

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Kleine Zeitkritik zug«9 inne. Das Aufeinanderfolgen der Bilder und ebenso die Anordnung der Sequenzen geben das Nacheinander des Erlebens vor. Selbst dort, wo die Rezeption des Textes Anschlussfreiheit erlaubt, bleibt der Film an das Nacheinander erlebbarer Stimuli gebunden.10 Während in konventionellen Erzählweisen diese Anschlussordnung intransparent bleibt und mit der Wahrnehmung zu verschmelzen droht – außer in durch Werbezeiten unterbrochenen Sendeformaten oder TV-Serien, die mit diesem Moment spielerisch umgehen – setzt Irreversibel auf die Reflexivierung der basalen narrativen Konvention, sprich der ordnenden Anschlussleistung. Indem der Film die Inversion der Chronologie etabliert und seine Kapitel zu Ereignissen stilisiert, die rückwärts an die jeweils folgende Szene angeschlossen werden können, aber nicht müssen, zeigt er die Kontingenz der Anschlussordnung auf. Während der Text für gewöhnlich den Prozess durch Konvention verdeckt, stellt Irreversibel ihn aus: die vermeintliche Ordnung des Textes bzw. die fiktionale Realität ist Ergebnis unserer Ordnungsleistung, die wir der realen Realität gemäß vollziehen. Wir fädeln die rückwärts angeordneten Ereignisse auf den roten Faden der Chronologie und reorganisieren die fiktionale Realität im Sinne der realen Realität. Doch gerade in diesem Zwang zur Ordnung scheint auch die restabilisierende Funktion der Normalerzählung auf. In der Lektüre von Irreversibel kollidiert unser alltägliches Leseverhalten mit der Dekonstruktion desselben. Gehen wir davon aus, dass Irreversibel dort Komplexität aufbaut, wo sie zugunsten einer konventionellen Erzählweise reduziert hätte werden können, dann muss die These erprobt werden, ob dieser ans neurotische grenzende Ordnungszwang den Schlüssel zur Interpretation birgt, ob demnach die Entschlüsselung der Zeitverhältnisse die Entschlüsselung des Textes ermöglicht. Gilt für Irreversibel: Die Zeit des Textes ist der Text, oder besser: Die Zeit des Textes ist die Zeit?11 Wie Andreas Busche ganz richtig feststellt, ist die »Inversion der Chronologie [...] keineswegs als narrativer Gimmick gedacht, sondern ist mehr noch als die unmittelbare Handlung der eigentliche

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Hans Ulrich Gumbrecht: »Erzählen in der Literatur – Erzählen im Alltag«, in: Konrad Ehlich (Hg.): Erzählen im Alltag, Frankfurt a.M., S. 409. 10 Vgl. A. Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 54. 11 Generell liegt diesen Überlegungen die Ansicht zu Grunde, dass histoire (Geschichte/Handlungsebene) und discours (Darstellungsebene) nicht gegeneinander isoliert beobachtbar sind, dass solche isolierende Beobachtung eine adäquate Interpretation bzw. Analyse des Films verunmöglichen würde. Vgl. Mario Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«. Eine Systemtheorie experimenteller Prosa, Würzburg 2008, z.B. S. 230, der ebenfalls dafür plädiert, die histoire auf die Ebene des discours zu schieben.

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Tanja Prokic Inhalt seines [Gaspar Noés; T.P.] Films«12. Trotz oder gerade wegen dieses adäquaten Interpretationsansatzes scheint der Widerstand gegen die daraus resultierenden Schlüsse zu stark, als dass Busche nicht doch zu einer ähnlich unterkomplexen Interpretation gelangt wie die meisten Rezensenten: »Indem Noé die Tragödie an den Anfang steckt, pervertiert er auch ein grundlegendes erzählerisches Prinzip – und das ohne nachhaltigen Effekt. Zwar nimmt er dem Racheakt durch diese Voranstellung seine karthatische Wirkung. Dafür muss schließlich aber die Vergewaltigung in ihrer manipulativen Ausführlichkeit als billige Rechtfertigung für eine primitive Law-and-Order-Mentalität herhalten. Action-Altmeister Samuel Fuller hat einmal gesagt, man müsse mit einem Maschinengewehr von der Leinwand schießen, um das Publikum zu treffen. Noch nie ist diese Forderung von einem Filmemacher so katastrophal fehlinterpretiert worden.«13

M.E. resultiert diese Art von Fehlinterpretationen sensu Busche gerade aus einer Ignoranz gegenüber der Textstruktur und d.h. Temporalstruktur, die unverkennbar dazu auffordert, einer »primitiven Law-and-Order-Mentalität« eben nicht auf den Leim zu gehen. Noé hat in der Tat mit einem Maschinengewehr auf sein Publikum gefeuert und es ist keineswegs eine Schande, sich treffen zu lassen, sondern ein Vorzug, ja geradezu die Voraussetzung dafür, verstehen zu können, wie dieser Volltreffer möglich war/ist. Eine detaillierte Verlaufsskizze erscheint mir aus diesem Grund absolut unverzichtbar. Denn die automatisierte Ordnungsleistung der Rezeption tendiert dazu, ›richtige‹ Chronologie im Gedächtnis herzustellen, wodurch eine Auseinandersetzung mit der Äußerung bzw. dem Oberflächenphänomen vorprogrammiert ist. Um aber die Aussage des Films, d.h. seine Zeitverhältnisse zu explizieren und in einem historisch-kulturellen Zusammenhang zu kontextualisieren, ist es nötig, die Chronologie des Films, nicht die bereits hergestellte einer Handlung ins Gedächtnis zu rufen, um daran die theoretische Analyse zu entwickeln. Die folgende Verlaufsskizze versteht sich insofern nicht als eine Beigabe oder lediglich als Erinnerungsstütze, sondern ist selbst Bestandteil der Argumentation.14

12 Andreas Busche: Irreversibel, zuerst erschienen in der TAZ, http://www. filmzentrale.com/rezis/irreversibelab.htm, letzte Abfrage 7. April 2009. 13 Ebd. 14 Was vor allem jene Leser, die den Film mit einiger zeitlicher Distanz gesehen haben, zu dieser Lektüre prädisponiert, da die Rezeptionsmechanismen bereits eingerastet sind und diese Rezeptionslogik bereits ihr Werk her(aus)gestellt hat.

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Kleine Zeitkritik

(Ir)reversibel Irreversibel ist ein Prozess, der nicht umkehrbar, d.h. rückgängig zu machen ist. Physikalisch reformuliert: Es gibt keine Möglichkeit, den irreversiblen Prozess auf irgendeine Weise rückgängig zu machen und gleichzeitig alle dafür benutzten Hilfsmittel (falls vorhanden) wieder in ihren Ausgangszustand rückzuversetzen. Nach Luhmann gelten Zeiterfahrungen, und nichts anderes ist Irreversibilität, stets relativ zu Systementwicklungen. Sobald und soweit es Irreversibilität in einem System gibt, gibt es in rudimentärer Form Zeit.15 Das Problem der Reversibilität/Irreversibilität liegt so nicht primär in der Umkehrbarkeit/Unumkehrbarkeit objektiver Verläufe, sondern vielmehr darin, wie über Irreversibilität disponiert wird.16 Wie in den Vorüberlegungen ausgeführt, scheint gerade Literatur bzw. Film grundsätzlich darauf angelegt zu sein, Aufschluss darüber zu geben, wie soziale Zeit restabilisiert wird bzw. wie Zeitverhältnisse disponiert werden. Der Titel des Films lautet Irreversibel und damit fällt der Gegenstand dieser Untersuchung symptomatisch mit der Untersuchungsperspektive zusammen. Irreversibel ist ein Film in sechzehn – leider greife ich hier einer Semantik vorweg, die erst in einem späteren Abschnitt expliziert werden kann – »Ereignissen«. Mit dem rückwärts einlaufenden Abspann des Films erhalten wir bereits ein Zeichen, dass es sich um einen rückwärts erzählten Film handeln könnte.

ERSTES EREIGNIS Eine unruhig suchende Kamera an Hausmauern entlang tastend.

ZWEITES EREIGNIS Die Kamera tritt kreisend durch ein Fenster ein, tastet die Wände ab, bis zu einem beleibten, fast unbekleideten Mann (Philippe Nahon)17 auf einem Bett. Der sagt: »Soll ich dir was sagen. Die Zeit zerstört alles.« Die Kamera nimmt seinen Gesprächspartner, einen bekleideten, jüngeren Mann ins Bild. Wir erfahren, dass dieser eine

15 Niklas Luhmann: »Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie«, in: ders.: Soziologische Aufklärung 3, Wiesbaden 2005, S. 144. 16 Ebd., S. 149. 17 Es ist der Protagonist aus Noés erstem Kinofilm Menschenfeind, Originaltitel: Seul contre tous, Produktionsland: Frankreich, Erscheinungsjahr: 1998, Länge: 89 Minuten, Originalsprache: Französisch, Altersfreigabe: FSK 18, Regie: Gaspar Noé, Drehbuch: Gaspar Noé.

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Tanja Prokic Gefängnisstrafe für den Inzest mit seiner Tochter abgesessen hat. Er sagt: »Das ist doch nicht so tragisch, wir sind doch alle … wir haben alle den Teufel in uns, wir wollen unseren Spaß haben und dann plötzlich sagen sie dann, dass das furchtbar schlimm ist und du bist böse. Man darf aber den Spaß nicht vergessen, alles, was Freude macht. Es gibt aber keine Un-Taten – dummes Wort – es gibt nur Taten.« Der Unbekleidete entgegnet: »Ja, man muss wieder anfangen, irgendwie, man muss leben, weiterkämpfen, weiterleben.« Im Hintergrund sind Polizeisirenen zu hören, der Beleibte erklärt, das seien nur die »Schwuchteln« unten im Rectum.

DRITTES EREIGNIS Die Kamera schwenkt aus dem Zimmer auf die Straße, zum Eingang des Nachtclubs Rectum. Eine Krankenbahre mit einem Mann (Vincent Cassel) wird herausgeschoben; ein anderer (Albert Dupontel), der herauskommt, wird in Handschellen abgeführt. Die Kamera bewegt sich in wechselndem Tempo über das Geschehen hinweg, auf Geräusche und auf Licht reagierend. Unter Sirenengeheul und Blaulicht dreht sie spiralenförmig vom Schauplatz ab, um kurze Zeit später das Innere des fahrenden Polizeiwagens und den Mann in Handschellen zu fokussieren, danach das Innere des Krankenwagens und den verletzten Mann. Daraufhin entgleitet die Kamera und steigt kreisend über der Stadt auf.

VIERTES EREIGNIS Ein Geräuschwechsel begleitet den Kulissenwechsel. Die Kamera sucht sich den Weg in rötlich ausgeleuchtete Gänge, unter permanentem Drehen stößt sie auf schemenhafte Figuren und Glühbirnen, die von der Decke hängen. Gezeigt werden unter Stöhnen und Kettenrasseln nackt kopulierende Männerkörper. Den Bilder- und Geräuschfetzen zufolge handelt es sich um einen SM-Club.

FÜNFTES EREIGNIS Am Eingang des Clubs treffen wir auf die Männer, die zuvor im Kranken- bzw. Polizeiwagen abtransportiert wurden. Sie fragen nach der Person »Le Tenia«. Der eine der beiden, Marcus (Vincent Cassel), scheint in Rage, während der andere, Pierre (Albert Dupontel), ihn abhalten will. Marcus kämpft sich durch die engen und dunklen Räume des Clubs, auf der Suche nach Le Tenia. Schließlich gerät er durch eigene Provokation in den Kampf mit einem Fremden. Der wirft Marcus zu Boden und bricht ihm vor versammelter Menge brutal den rechten Arm. Dann setzt er zu einer analen 266

Kleine Zeitkritik Vergewaltigung an, was die umstehende Menge in Erregung versetzt. Da schleudert Pierre dem Vergewaltiger einen Feuerlöscher ins Gesicht. Unter Anfeuerungen der Umstehenden stößt er den Feuerlöscher in das Gesicht des Angreifers, mit insgesamt zweiundzwanzig Stößen. Die Kamera nimmt jenen Mann (Jo Prestia) in den Blick, der neben dem von Marcus Verdächtigten und von Pierre Getöteten stand, dieser schaut erstaunt auf Pierre, dann auf die Leiche und lacht. Das ohrenbetäubende Geräusch lässt langsam nach, die Kamera verlässt die engen, beklemmenden Räume.

SECHSTES EREIGNIS Schwarz. Eisenbahngeräusche. Wir sehen Pierre auf einer Straße, im Hintergrund Verkehrsgeräusche. Pierre und Marcus sitzen in einem Wagen. Marcus steigt aus und fragt nach dem Rectum. Keiner gibt ihm Antwort. Inzwischen hat sich Pierre ans Steuer gesetzt und schreit Marcus an, er habe genug von seinem Wahnsinn. Marcus schlägt mit einem Eisenrohr auf die Frontscheibe des Taxiswagens, bis Pierre aussteigt. Er lässt sich erschöpft mitten auf der Straße nieder. Die Kamera entgleitet in den schwarzen Himmel.

SIEBTES EREIGNIS Marcus und Pierre im Taxi. Während Marcus unentwegt den Fahrer anschreit, er wolle ins Rectum, versucht Pierre ihn zu beruhigen, er wirft ihm vor: »Hättest du dich mit derselben Energie um Alex gekümmert, dann wäre das gar nicht passiert. Versuch das mal in dein kleines Rattenhirn zu kriegen, das nur noch auf diese Scheiße fixiert ist!« Der Taxifahrer fordert beide auf auszusteigen. Marcus wirft den Fahrer aus dem Wagen, fährt nun selbst und schreit: »Ab ins Rectum.« Die Kamera entgleitet in den schwarzen Himmel.

ACHTES EREIGNIS Pierre und Marcus begleitet von zwei Männern auf einer Straße. Pierre bittet Marcus, aufzuhören mit dieser unsinnigen Rache. Allmählich wird klar, dass die beiden Männer Marcus gegen Geld angeboten haben, jemanden zu finden – eine transsexuelle Prostituierte mit spanischem Akzent. Marcus erzwingt von ihr mit dem Messer und den Ausrufen »Es geht um Vergewaltigung!« die Informationen: Le Tenia und Rectum. Pierre und Marcus flüchten vor den wütenden Prostituierten in ein Taxi. Die Kamera entgleitet.

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NEUNTES EREIGNIS Pierre wird von der Polizei vernommen und nach den Ereignissen des Abends befragt. Marcus und Pierre stehen ohnmächtig auf der Straße, bis ein Mann Mitleid bekundet, er bietet seine Hilfe an: »Blut schreit nach Rache. Der Mensch hat das Recht auf Rache. Wir finden jeden.« Sie erklären, dass sie eine Handtasche mit einem Ausweis darin gefunden haben. Es sei Männersache, diesen Mann zu finden, die Polizei werde den Fall zu den Akten legen.

ZEHNTES EREIGNIS Pierre und Marcus unterhalten sich auf der Straße. Polizisten versperren ihnen den Weg. Eine Frau sei übel zugerichtet worden. In dem Moment erkennt Marcus die Frau auf der Krankenbahre: Es ist Alex (Monica Belucci). Ihr Gesicht ist blutig geschwollen. Marcus wirft sich über sie und weint. Die Sanitäter sagen ihm, sie liege im Koma und könne nicht reagieren. Pierre wird gefragt, ob er den Mann und die Frau kenne. Er antwortet, es sei seine Frau. Die Kamera schwenkt wieder gen Nachthimmel. Schwarz.

ELFTES EREIGNIS Das Geräusch eines sich öffnenden Fahrstuhls. Eine Frau im tief ausgeschnittenen Kleid verlässt ein Gebäude. Sie ruft nach einem Taxi. Ein Mädchen rät ihr, durch die Unterführung zu gehen. Die Kamera folgt der Frau in den engen roten Tunnel. Am anderen Ende erscheint ein Paar. Der Mann, der auf seine Begleiterin einschlägt, lässt sich identifizieren als der Homosexuelle (Jo Prestia), der Pierre und den Toten belächelt. Die Frau ist die transsexuelle Prostituierte, die Marcus mit dem Messer bedroht. Der Mann verfolgt die Unbekannte im Kleid, die erst jetzt als Alex erkennbar wird, und vergewaltigt sie anal. Die Kamera ruht währenddessen in untersichtiger Totale davor, man hört Alex’ gedämpfte Laute. Am Ende der Unterführung taucht nur kurz ein Passant auf. Der Mann verfolgt sein verletztes Opfer nach der Vergewaltigung, fügt ihr Tritte und Schläge zu, insgesamt zweiundzwanzig. Er spuckt auf sie und sagt, er sei jetzt fertig mit ihr. Die Kamera entgleitet an die Decke. Schwarz. Es ist Technomusik zu hören, eine helle Lampe zu sehen.

ZWÖLFTES EREIGNIS Pierre und Marcus vor einer Wohnungstür. Marcus bleibt kurz mit zwei Frauen zurück, küsst beide, sucht dann Pierre. Sie befinden sich nun auf einer Party. Pierre trifft auf Alex, die mit zwei anderen 268

Kleine Zeitkritik Frauen erotisch tanzt. Pierre äußert seinen Unmut über Marcus polygame Einstellung gegenüber Alex, mit der er tanzt. Die unterhält sich anschließend mit einer schwangeren Freundin und erklärt, heute sei ein ganz besonderer Tag, sie sei mit ihrem neuen Freund Marcus und nicht mehr mit Pierre zusammen. Nach einem Streit mit Marcus geht Alex. Marcus schreit ihr zwar hinterher, er wolle sie begleiten, unternimmt aber nichts. Pierre versucht daraufhin, sie zum Bleiben zu überreden. Sie meint, ihr werde schon nichts passieren. Pierre ruft ihr nach: »Geh nicht allein, Alex, das ist unvorsichtig.« Die Kamera gleitet an die Decke.

DREIZEHNTES EREIGNIS Alex, in einem Aufzug zwischen Pierre und Marcus, erzählt, in einem Buch habe sie gelesen, die Zukunft stehe schon fest, der Beweis seien prophetische Träume. Pierre fragt sie erfolglos über ihr Intimleben mit Marcus aus. Sie steigen in eine U-Bahn und nach kurzer Fahrt aus. Die Kamera fährt an die Decke, schließlich aus dem U-Bahn-Schacht nach oben.

VIERZEHNTES EREIGNIS Ein Telefon klingelt. Alex liegt auf ihrem Bett bzw. nackt auf Marcus. Pierre spricht auf den Anrufbeantworter, er hole die beiden in einer halben Stunde mit der U-Bahn ab. Marcus schüttelt im Halbschlaf seinen rechten Arm und sagt, er könne ihn kaum mehr spüren. Alex erzählt ihm ihren Traum: »Es war seltsam [...] Ich war in einem Tunnel, er war rot, plötzlich, plötzlich bricht der Tunnel auseinander. Weißt du, ich glaube, es ist wegen meiner Periode ... ich bin überfällig. Das könnte es sein!« Marcus glaubt, er müsse heute zu Pierre nett sein, da er ihm die Frau weggenommen habe. Alex erwidert, dafür sei sie selbst verantwortlich. Zärtlichkeiten und Liebeserklärung der beiden. Auf Alex’ Frage antwortet Marcus, er fände es »nicht schlecht«, wenn sie schwanger wäre. Sie lachen. Während er Getränke holen geht, erhält sie ein positives Ergebnis auf ihren Schwangerschaftstest. Die Kamera gleitet an die Decke.

FÜNFZEHNTES EREIGNIS Ein Auszug aus Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 7. Die Kamera fährt von der Decke zum Poster von Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum über dem Bett von Marcus und Alex, erst dann sieht man die dort liegende Alex. Ihre Hand ruht auf ihrem Bauch. Die Kamera schwenkt wieder über das Poster an die Decke des Raums. Zum Fenster hinaus. 269

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SECHZEHNTES EREIGNIS Strahlend blauer Himmel. Alex liegt auf einer Wiese und liest das Buch An Experiment with Time von A.W. Dunne. Die Kamera zeigt Alex aus der Obersicht auf einer großen Liegewiese mit spielenden Kindern. Die Kamera dreht sich immer schneller. Schwindelerregend schnell dreht sie sich aus dem Bild heraus, zum Himmel. Weiß. Die Beethoven-Symphonie geht in ein betäubendes Rauschen über, das Weiß fängt an zu flimmern, erst leicht, dann stärker. Den weißen Bildern sind schwarze Bilder mit leichten weißen Punkten unterlegt. Es könnte sich um Aufnahmen des Weltraums handeln, welche die Anspielung auf Odyssee im Weltraum aufgreifen. Dann erscheint auf schwarzem Hintergrund: »Le Temps détruit tout«, das E und das R des Schriftzugs spiegelverkehrt.

Rape and Revenge Trotz der Inversion der Chronologie lässt sich die Anspielung auf ein bestimmtes Genre feststellen. Irreversibel folgt bei der Rekonstruktion der Chronologie dem Muster eines Rape-and-Revenge-Movies. Darin lassen sich stets dieselben Elemente isolieren: Eine Frau wird brutal vergewaltigt und misshandelt, schließlich sterbend zurückgelassen. Sie überlebt und hält sich am Gedanken der Rache fest. Zuletzt bringt sie ihre/n Vergewaltiger um. Stirbt hingegen die vergewaltigte Frau, übernimmt deren Mann bzw. Familie die Rache. Als verstärkendes Element für die vermeintliche Legitimation der Rache wird häufig eine Schwangerschaft des Opfers im Vorfeld der Vergewaltigung angedeutet. Sowohl Vergewaltigung als auch Rache zeichnen sich durch hochgradig realistische Gewaltinszenierung aus. Zu den Klassikern des Genres zählen u.a. The Last House on the Left18 (1972) von Wes Craven, Death Wish (1974) von Michael Winner oder I spit on your Grave (1978) von Meir Zarchi. Die Bausteine eines klassischen Rape-and-Revenge-Movies finden sich in Irreversibel: Rache durch den Geliebten, Aufspüren des Täters mit dem Gedanken der Rache, Vergewaltigung von Alex, sie wird komatös aufgefunden; wir erfahren, dass sie schwanger ist. Sowohl Racheszene als auch Vergewaltigungsszene sind durch äußerst realistische Gewaltausübung gekennzeichnet.

18 Aufgrund der expliziten Gewaltdarstellungen ist eine Vielzahl der Klassiker noch immer indiziert und nur teilweise in geschnittenen Versionen verfügbar. The Last House on the Left gilt als Vorläufer des Genres und löste so intensive Kontroversen aus, dass der Film kaum Besucher anlockte und schließlich mit dem Motto »Es ist nur ein Film!« warb.

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Kleine Zeitkritik Zwar zitiert Irreversibel all die Elemente des Rape-and-RevengeGenres, bricht jedoch durch die Inversion der Chronologie mit der linearen Erzählachse des Genres: Racheakt folgt auf Vergewaltigung. Durch die umgekehrte Inszenierung kommt dem Genre die Rechtfertigungsstrategie, die es mit der konventionellen Kausalitätsordnung stützt, radikal abhanden, stattdessen entwickelt jedes Erzählereignis eine rigorose Eigenlogik. So verliert die Vergewaltigungsszene von 9 min und 51 Sekunden den Durchgangscharakter, den sie im klassischen Rape-and-Revenge-Movie notwendigerweise erhielte. Auf diese Weise verfällt in der Rezeptionsposition die Möglichkeit, sich mit dem Rachegedanken über die rohe Gewalt hinwegzutrösten. Die narrative Inszenierung der Szene – (objektive) untersichtige Frontalkamera – zwingt den Blick des Zuschauers bedingungslos auf das Geschehen vor seinen Augen. Die klaustrophobische Architektur des Tunnels verstärkt die Fokussierung zusätzlich. Auch der Passant,19 der kurz am anderen Ende des Tunnels erscheint, dann wieder kehrt macht, spiegelt unsere Beobachterposition: Wir würden es ihm gern gleichtun und die Szenerie verlassen, doch die Kamera isoliert unseren Blick und macht uns so zu handlungsunfähigen Mittätern, zwingt uns, an der Gewalt teilzuhaben. Damit öffnet sich der Bildraum als Reflexionsraum. Ebenso entfaltet das Racheereignis, entkoppelt von einer vorhergehenden Vergewaltigung, eine eigene Dynamik, die sich als Gewaltspirale innerhalb des Rectums deuten läßt. In den klaustrophobisch inszenierten Räumlichkeiten herrscht ein Gewalt-LustNexus, der in der angedrohten analen Vergewaltigung an Marcus und dem Mord an dem Täter einen Höhepunkt findet. Diese Interpretation lässt sich durch die parallelisierte Darstellung der beiden Gewaltszenen stützen; nicht allein die räumliche Ästhetik unterstreicht die Fokussierung auf das Einzelereignis in der Beobachtung, auch die exakt gleiche Anzahl der Schläge: zweiundzwanzig Stöße mit dem Feuerlöscher und zweiundzwanzig Schläge des Vergewaltigers. Durch den aufdringlichen Zeigegestus der Kamera, die Isolation der Architektur und die parallelisierte Gewaltausübung wird eine kausallogische Verknüpfung der beiden Geschehnisse blockiert statt bestätigt. In Rezensionen und Kritiken wird häufig die These vertreten, diese Isolierung des Racheakts sowie die Enthüllung, dass es sich um den falschen Mann handle, lasse die Gewalt zusätzlich unberechtigt erscheinen und entlarve die falsche Legitimationsmoral der Rape-and-Revenge-Movies. Dem entgegen soll das Augenmerk verschoben werden, zumal bereits das Genre Kritik an der Legitimationsfigur mitführt bzw. diese für Kritik reflexiv öff-

19 Ein Cameo-Auftritt des Regisseurs Gaspar Noé, der außerdem noch als masturbierender Mann im Rectum zu sehen ist.

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Tanja Prokic net. Im Mittelpunkt des Genre-Zitats steht nicht in erster Linie die Legitimationslogik der Gewalt, sondern vielmehr die Rezeptionslogik, die durch Erzählung generell und explizit durch Genre paradigmatisch reproduziert und restabilisiert wird. Genre definiert sich dadurch, dass es einem Regelkatalog nicht nur folgt, sondern gerade das strikte Befolgen eines Regelkatalogs zu seiner Bedingung macht. Die durch die Regeln festgelegten Grenzen des Genres sind gleichzeitig seine Konstituenten. Dadurch ist die Rezeptionserwartung besonders stark eingeschliffen, so dass ein Abweichen einen radikalen Rezeptionsbruch auslöst, ja sogar eine enorme Enttäuschung der Leseerwartung mit sich bringt. Das führt zu einer doppelschichtigen diskursiven Gesetzmäßigkeit. Aus produktionsästhetischer Perspektive lassen sich Grenzen des Erzählens nirgendwo so leicht wie radikal und verstörend überschreiten als da, wo sie eindeutig festgelegt sind. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive zehrt nichts so nachhaltig an der Substanz wie die Torpedierung eingeschliffener Erwartungshaltungen. Im Folgenden soll die Rezeptionslogik, mit der Irreversibel ins Gericht geht, noch genauer beleuchtet werden. Sie folgt weiter dem vorweggenommenen Diktum: »Einen Text zu verstehen heißt also letztlich, seine Zeitverhältnisse zu entschlüsseln.«20

»It has something to do with the telling of time!« 21 In der Verlaufs-Skizze von Irreversibel wurde der Begriff des Ereignisses eingeführt, um die Elemente des Films zu beschreiben, nun soll die Optik feiner eingestellt werden: Warum wurde gerade der Ereignis-Begriff verwendet und nicht ›Episode‹, ›Kapitel‹ oder ›Szene‹. Die Antwort lautet wiederum und diesmal emphatisch: um den Zeitverhältnissen des Textes gerecht zu werden. J.W. Dunnes An Experiment with Time (1927), das Buch, das Alex im Film liest, behauptet, die Zukunft sei durch Träume präkognitiv erfahrbar. Diese These basiert auf der Annahme, nach der Zeit serial, d.h. seriell, in Serie organisiert ist. Dunne erklärt: »A ›Series‹ is a collection of individually distinguishable items arranged, or considered as arranged, in a sequence determined by some sort of ascertainable law. The members of the series – the individually distinguishable items – are called its ›Terms‹.«22

20 A. Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 64. 21 Zitat aus dem Film INLAND EMPIRE von Regisseur David Lynch (2006), die Protagonistin äußert den Satz in einer spektakulär inszenierten Metalepse. 22 Vgl. J.W. Dunne: An Experiment with Time, London 2001, S. x u. S. 79f.

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Kleine Zeitkritik Im Weiteren erläutert er, dass die zeitliche Aufeinanderfolge dieser »Terms« keine Relation zwischen den Ereignissen ist, sondern einen Beobachter involviert: »Einen Beobachter, dessen Erkenntnisapparat in eine Gesellschaft eingebunden ist, von der seine Erkenntnis notwendig abhängig ist.«23 Sensu Ricœur ist es die spezifische Leistung der Erzählung, aus einer Mannigfaltigkeit von Ereignissen eine Geschichte zu gewinnen. Bevor die Erzählung Ereignisse in den Rang einer Geschichte versetzt, kann man seines Erachtens nicht von Ereignissen sprechen, sondern nur von Vorfällen. Die Auffassung als einfacher Vorfall verkenne jedoch den Unterschied zwischen Natur und menschlicher Handlungssphäre.24 Der Begriff des Ereignisses hingegen betont diesen Unterschied, denn ein Ereignis wird erst innerhalb einer Geschichte zu einem solchen und zwar durch eine spezifische Operation, die Ricœur mit mythos, mis en intrige oder plot bezeichnet. Zwei verschiedene Intrigen können sich aus diesem Grund niemals auf dieselben Ereignisse beziehen: »die Materialität der Tatsachen mag dieselbe sein, die Differenz des Sinns, die aus der Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Intrigen herrührt, bewirkt jedoch, daß es sich jedes Mal um verschiedene Ereignisse handelt«25. Die narrative Operation überführt irrationale Kontingenz in geregelte, bedeutsame Kontingenz.26 Gerade aus dieser Würdigung und dieser Manipulation der Kontingenz resultiert sensu Ricœur, dass eine Geschichte stets mehr ist als eine bloße Aufzählung in einer einfachen seriellen oder sukzessiven Ordnung der Geschehnisse, die sie in einem intelligiblen Ganzen organisiert. Die Kunst des Erzählens besteht auf der zeitlichen Ebene vielmehr darin, aus einer Sukzession eine Konfiguration zu gewinnen, die wiederum eine Beziehung zwischen Anfang, Mitte und Ende konstituiert.27 Derart bestätigt sich wiederum die These, dass discours und histoire nicht gegeneinander isoliert rezipierbar oder gar darstellbar sind. Im gleichen Gestus argumentiert Todorov, wenn er behauptet, »daß jeder literarische Text nach Art eines Systems funktioniert, d.h. daß notwendige und nicht willkürliche Beziehungen zwischen den diesen Text konstituierenden Teilen bestehen«28. Demnach sei es nicht möglich, »eines der Merkmale des Werkes zu fixieren, ohne 23 D. Sinn: »Art. Ereignis«, in: Joachim Ritter u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. II, Basel 1972, S. 609f. 24 Vgl. Paul Ricœur: Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen 1986, S. 12. 25 Ebd., S. 13 26 Vgl. ebd., S. 16. 27 Vgl. ebd. S. 16 u. S. 18. 28 Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt a.M. 1992, S. 69..

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Tanja Prokic daß alle anderen dadurch beeinflußt werden. Es gilt also herauszufinden, wie die Auswahl dieses Merkmals die anderen affiziert und seine Rückwirkungen sichtbar zu machen.«29 Die Anordnung der Ereignisse in Irreversibel konstituiert eine Geschichte, über die wir keinen Aufschluss erhalten, wenn wir sie nicht in einer anderen Reihenfolge arrangieren, der vermeintlich richtigen, der chronologischen. Irreversibilität gilt schon für den Text (bzw. Film) selbst. Wir wissen bereits, was wir wissen, wodurch eine andere Wahrnehmung der Ereignisse generiert wird. Die Zukunft auf der Ebene der Diegese ist für uns bereits bekannt, während die Vergangenheit auf der Ebene der Diegese noch unbekannt ist. Wir sind zur (Re-)Konstruktion der Handlung auf das sukzessive Voranschreiten des Films ebenso angewiesen wie bei jedem anderen Text. Todorov zufolge enthält jedes Werk »einen Hinweis im Hinblick auf die Zeit seiner Perzeption« und »das erste Charakteristikum dieser Zeit ist es nun, daß sie aus Gründen der Konvention irreversibel ist. Jeder Text enthält einen impliziten Hinweis: er liegt darin, daß man ihn vom Anfang zum Ende […] lesen muß.«30 Dadurch aber, dass die Geschichte in Ereignisse zerlegt wird, tritt jene Operation, die aus diesen Ereignissen eine Geschichte machen wird,31 in den Fokus der Beobachtung. Der Rezipient wird direkt provoziert, diese Operation vorzunehmen. Zwar erzählt sich die Geschichte gewissermaßen ganz von selbst – anders als bei einem geschriebenen Text, den wir erst lesen müssen und ihm durch das Lesen seinen materiellen Status verschaffen –, indem der Film sich von allein abspielt. Und gerade dadurch wird die noch fehlende Operation in Irreversibel als solche exponiert. Der Film läuft, die Ereignisse folgen sukzessiv aufeinander und dennoch müssen wir die Geschehnisse retroaktiv in eine kausale Ordnung reihen. Es handelt sich um ein bewusstes und doppeltes Spiel mit der Konvention. Zwar läuft der Film von Anfang bis Ende, wir müssen ihn aber noch einmal von Anfang bis Ende laufen lassen. Todorov hält für das Fantastische fest, dass »die Modifikation der Ordnung ihre ganze Bedeutung aus der Beziehung zur Konvention erhält. Das Fantastische ist jene Gattung, die diese Konvention deutlicher hervortreten lässt als andere.«32 Im Falle von Irreversibel lässt die Konvention bzw. der Drang zur Konvention ebendiese hervortreten.

29 T. Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, S. 69 30 Ebd., S. 81. 31 Durch das Futur II soll an dieser Stelle der retroaktive Prozess des Ordnungsherstellens betont werden – ein weiteres Hilfsmittel, um die Unterschiede zwischen der Normalrezeption und der Erzählstruktur von Irreversibel herauszustellen. 32 T. Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, S. 82.

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Kleine Zeitkritik Obwohl jedes Ereignis unabhängig zu den folgenden oder vorhergehenden gelesen werden kann, stiften wir eine kausale Logik. Das Raster der Rationalität, den uns die konventionelle Erzählung – durch die Beschaffenheit der Schrift33 – eingeprägt hat, schlägt an. Man könnte das Spiel mit in Spiegelschrift abgebildeten Buchstaben im Abspann und Vorspann als ein Symptom dieses Schriftrasters lesen. Durch die Verkehrung werden die Worte unleserlich und das lesende Auge wird in eine stets neu rasternde Schleife gezwungen, die sich strukturanalog zu dem Normalisierungsdruck verhält, der die ungeordnete Geschichte in eine konventionelle zwingt. Obwohl jegliche Form von Kausalität durch die Serienschaltung subvertiert wird, folgen wir dem Zwang zur Ordnung. Obwohl die Hierarchie des Zeitpfeils fällt, sehen wir, was wir sehen. Die Lektüre muss solchermaßen zur Metalektüre werden, um das kontroverse Potential auf der Darstellungsebene zu erfassen, das weit über das auf der Handlungsebene hinausgeht. Andererseits kann erst eine Metalektüre die dekonstruierende Kritik des Films und damit das transgressive Sprengmaterial des Films, das über die Grenzen des Kinos oder der Erzählung hinaus in die Organisation des Sozialen hineinreicht, her(aus)stellen.34 Bleiben wir demgegenüber auf der Handlungsebene bzw. folgen wir den einzelnen leeren Zeichen, den Stereotypen, so scheitert unsere Lektüre an der Konvention und als Folge geraten die »Rationalitätsansprüche zunehmend in ein prekäres Verhältnis zur Zeit«35. Die Ereignisse des Films erlangen ihren Status als Ereignisse durch einen Akt der Intelligibilität, der in Irreversibel durch die Kameraführung, den besonderen Zeigegestus nachvollziehbar wird. Sie ist es, die uns die einzelnen Vorfälle im Status eines Ereignisses präsentiert und den Akt der Intelligibilität transparent macht. Sie zwingt uns in ein libidinöses Identifikationsspiel (in der Rache- sowie bei der Vergewaltigungsszene) und entscheidet, wann die Vorfälle nicht mehr ereigniswürdig sind; sie bestimmt über die Erzählung, indem sie diese produziert. Widersetzt die Lektüre sich der Obergewalt der Kamera und entscheidet sich somit für die Normaldeutung, 33 Derrick de Kerckhove führt diese Rationalität auf die Beschaffenheit des griechischen Alphabets stellvertretend für die phonetische Schrift zurück, u.a. leiten sich Horizontalisierung, Verzeitlichung, Atomisierung, Kausalität der Zusammengehörigkeit und Dekontextualisierung sowie die Vorstellung vom Raum, die von der irreversiblen Zeit und die vom identischen Subjekt aus der Schrift her. Vgl. Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, München 1995, S. 26 u. S. 47. 34 Vgl. M. Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«, S. 13. Das Muster des Wortspiels übernehme ich aus Grizelj, um zu betonen, dass die Beobachtung (Metalektüre) ihr Beobachtetes erst herstellt, d.h. konstruiert. 35 Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin 2003, S. 21.

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Tanja Prokic muss sie notwendig eine schlechte Nach-Erzählung bleiben, die so nur noch einzelne stereotype Motive isolieren und problematisieren kann.36 Eine solche Normallektüre rastet dann bei konventionellem Konfliktmaterial ein und kann nur mehr binär organisierte Schemata, beispielhaft animalisch/intellektuell, leidenschaftlich/verklemmt oder bürgerlich-heterosexuell-binäres Glück/multilibidinöse Homosexualität, Rache/Vernunft etc. konstatieren. Dass eine derart stereotype Lesart möglich wird, verdankt sich Mechanismen, die viel tiefer und gleichzeitig unverborgener liegen, als dass eine Normallektüre sie zutage treten lassen könnte. Denn sie ist selbst der Effekt dieser Mechanismen, die ein gesellschaftlich standardisiertes und formalisiertes Erzählraster bilden, das jene Normal- oder Extrembiographien und damit das zugehörige Glücksverständnis konstituiert. Deren Gebot wiederum lautet: Konsistenz in der Sachdimension, Kontinuität in der Zeitdimension.37 Es ist dem Leser nur scheinbar freigestellt, auf was er sich konzentriert, die Lesarten sind jedoch innerhalb jener Mechanismen bereits codiert. Dies zeigt sich, wenn die Normallektüre als gleichermaßen stereotypisierte wie stereotypisierende zur Metalektüre wird und das heißt: zu einer Lektüre der Zeitverhältnisse. Wann immer wir von Erzählstrukturen sprechen, sprechen wir zugleich von Denkstrukturen. Erzählen als eine permanente Operation, die Ereignisse in den Status einer Geschichte erhebt und irrationale Kontingenz in geregelte Kontingenz überführt, etabliert Denkstrukturen, die erlauben, diese geregelte Kontingenz zu erfassen, aber gleichzeitig diese Denkstrukturen auch schon voraussetzen, ohne die das Erzählen nicht aktiv mitvollzogen werden könnte. Zeitstrukturen der Erzählung sind notwendig auch die Zeit der Gesellschaft. Unsere Zeitlichkeit oder vielmehr unsere Organisation von Zeit ist selbst immer nur eine Erzählung, die eine Operation erfüllt: irrationale in geregelte Kontingenz zu überführen.38

36 Vgl. Axel Loyens: »Irreversible« oder »Wenn’s einen selbst trifft, dann verliert man den Boden«, in: Medienobservationen, verfasst am 16.01.2005, http://www.medienobservationen.uni-muenchen.de/artikel/kino/loyens_irr eversible.html, letzte Abfrage 4. Mai 2009. 37 Vgl. Hermann Leitner: Lebenslauf und Identität. Die kulturelle Konstruktion von Zeit in der Biographie, Frankfurt a.M. u.a. 1982, S. 28. 38 Ebd., S. 25: »Die Erzählung folgt also nicht von selbst der objektiven oder einer als objektiv vorgestellten Chronologie, sondern muß ihre eigene Chronologie erst schaffen. Die in der Erzählung aufgebaute ›Temporalstruktur‹ bestimmt überhaupt die Form des Textes als einer Erzählung; allgemein kann man also sagen – und dies ist grundlegend im Hinblick auf die Frage nach den Textformen der Identifikation – die Temporalstruktur sei das formbestimmende Prinzip. Für den Aufbau einer eigenen Zeit in diesem Sinne braucht nun die Erzählung wiederum einen zeitlichen Orien-

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»And they all lived happily ever after« oder »Die Zeit zerstört alles«? Das erzählte Ende von Irreversibel stimmt uns versöhnlich, beinahe schon glücklich, es entlässt uns in eine scheinbar heile Welt, jedoch mit dem Wissen, dass diese Idylle eben nicht ewig währt, sondern am ›Anfang‹ einer Reihe von Ereignissen steht, die unser gefühltes Glück trügerisch stimmen. Dieses Phänomen trifft sich mit dem Nachdenken über das Glück, das sensu Matt immer zwischen zwei Konzepten von Zeitlichkeit pendelt: der Bestimmung des Glücks als kurze Dauer – Glück zu haben ist ein ebenso befristetes Ereignis wie glücklich zu sein – und der Bestimmung des Glücks als Dauer, als Ziel, das für immer erreicht ist, als Happy End.39 Berücksichtigen wir den fiktionalen Status des Happy Ends, so lässt sich zunächst konstatieren, dass das Happy End als Ausgang einer Geschichte stets einen Umschlagpunkt als Kontrastfolie braucht, von dem das glückliche Ende sich abzeichnet. Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich die Ansicht teilen, gelungene Glücksdarstellung werde paradoxerweise »allererst durch die Leidenserfahrung ermöglicht«40. Diese Darstellung schleift sich zu einer Glücksvorstellung ein, die als gesellschaftlich invariant verhandelt wird. Unter dem Vorzeichen, die Zeit zerstöre alles, wird die gesellschaftliche Invarianz des Glücks obsolet und dessen narrative Autoperformanz scheint auf. Wie bereits erwähnt, klammert Gaspar Noé seinen Film mit dem Motto »Le temps détruit tout«: Es ist der erste gesprochene Satz und als weißer Schriftzug auf schwarzem Hintergrund bildet er das letzte Bild des Films. Irreversibel, so wurde bereits formuliert, ist ein Film über Zeit, indem er Zeit nicht nur durch das Motto und den Titel thematisiert, sondern Zeitordnung systematisch problematisiert. Irreversibel trifft eine Aussage41 über Zeit, die er m.E. gleichzeitig zu dekonstruieren sucht. Auf einer reflexiven Ebene, durch die rückwärtige Anordnung der Ereignisse, führt er Luhmanns Diktum mit: »Alle Aussagen über Zeit hängen von der Gesellschaft ab, in der sie formuliert werden. Zeitbegriffe

tierungsrahmen, in den sie das erzählte Geschehen platziert, in dem dieses Wirklichkeit ist und auf den hin die Perspektiven von Autor und Leser synchronisiert werden können.« 39 Vgl. Peter von Matt: »Glück als Ziel des Weltalls und der Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposium, München u.a. 2008, S. 171ff. 40 David E. Wellbery: »Prekäres und unverhofftes Glück. Zur Glücksdarstellung in der klassischen deutschen Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposium, München u.a. 2008, S. 17. 41 Auch an dieser Stelle im foucaultschen Sinne.

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Tanja Prokic sind historische Begriffe.«42 Die Konvention sagt, dass ein Ereignis auf das andere folgt, mehr noch, dass ein Ereignis kausal aus dem vorherigen Ereignis hervorgeht. Indem die Ereignisse in Irreversibel zwar notwendig sukzessiv aufeinander folgen, jedoch das UrsacheWirkungs-Verhältnis durch die rückwärtige Anordnung subvertiert wird, betreibt der Film eine Dekonstruktion der realen Realität auf der Ebene der fiktionalen Realität. Indem wir sukzessiv die kausale Ordnung herstellen, Zusammenhänge aufbauen, erfahren wir nach und nach, wie das eine zum anderen geführt hat. Zumindest glauben wir das. Wir können am Ende des Films rekonstruieren, dass Alex und Marcus eine glückliche Beziehung geführt haben, so lassen sich die intimen Szenen (14. Ereignis) deuten. Sie ist schwanger, was sie ihm noch nicht verraten hat. Auf einer Party streiten sie sich wegen seines Drogenkonsums und seiner Unverantwortlichkeit. Deshalb verlässt Alex verärgert und überstürzt die Party. Trotz der Bitte ihres Exmannes oder Exfreundes Pierre setzt sie sich der Gefahr aus, allein nach Hause zu fahren. So rekonstruiert erscheint die Vergewaltigung an Alex vorprogrammiert. Eine Kette falscher Entscheidungen führt zu diesem Ergebnis. Alex testet heimlich Marcus Vaterkompetenz (13. Ereignis), er scheitert, sie streiten sich. Alex lässt sich nicht von ihrem eifersüchtigen Exmann nach Hause bringen; statt sich ein Taxi zu rufen (11. Ereignis), stolziert sie im tief ausgeschnittenen Kleid, durch das sich ihre Brustwarzen abzeichnen, in die Unterführung. Es scheint, als könne man jede dieser Fehlentscheidungen als eine solche isolieren. Die Gefahr, der sich Alex aussetzt, erschließt sich retrokausal zu einer Reihe verhinderbarer Risiken. Pierre und Marcus sind mit verantwortlich, sie hätten Alex nach Hause bringen, zum Bleiben bewegen oder ein Taxi rufen müssen. Die Entscheidungen machen das Geschehene nicht zu einer Gefahr, die extern zugerechnet wird, sondern zu einer Gefahr, der man sich aussetzt, zu einem Risiko.43 Pierre wirft Marcus vor (7. Ereignis), er hätte sich um seine Freundin kümmern müssen, dann wäre es gar nicht so weit gekommen. Diese Szene ist signifikant für die Zeitdifferenz, mit welcher der Begriff des Risikos rechnet: mit dem Unterschied der Beurteilung vor und nach Eintreten des Schadensfalles. »Riskant sind nur die Entscheidungen, die man im Falle des 42 Niklas Luhmann: »Die Beschreibung der Zukunft«, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Wiesbaden 2006, S. 130; ähnlich Klaus Beck: Medien und die soziale Konstruktion von Zeit – Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewußtsein, Berlin 1994, S. 152. 43 »In dem Maße, als die Gesellschaft Entscheidungen und entsprechende Beweglichkeit zumutet, gibt es auch keine Gefahren mehr, die nur extern zugerechnet werden. […] Sich einer Gefahr auszusetzen, ist wiederum ein Risiko.« N. Luhmann: Beschreibung der Zukunft, S.143.

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Kleine Zeitkritik Schadenseintritts bereuen würde.«44 Risiko ist ein Aspekt von Entscheidungen und diese können nur in der Gegenwart getroffen werden.45 Ist etwas schon geschehen, kann es daher keine Entscheidung mehr sein. Diese Lesart wird vom Text gestützt. Alex erzählt, sie lese ein Buch, das behaupte, die Zukunft stehe schon fest und man könne durch Träume Zugang zu ihr erhalten (13. Ereignis). In einer Folgeszene träumt Alex von einem roten Tunnel, der bricht (14. Ereignis). Sie deutet den Traum als Zeichen ihrer Schwangerschaft. Doch wir kennen die Zukunft bereits (11. Ereignis), es ist der rote Tunnel, der ihr Glück zerstören wird. Im Zusammenhang mit dem Begriff des Risikos wird auch das Glück zu einer Angelegenheit, die unserer Entscheidung unterliegt. Alex riskiert ihr Glück. Es ist nicht mehr – wie noch in einer vormodernen Gesellschaft – etwas, das extern an uns herantritt, das uns unverhofft geschieht, sondern wir werden ganz sprichwörtlich zum Schmied unseres Schicksals. So rücken die Fragen nach der Gestaltung unseres Lebens in den Vordergrund, letztlich wird noch der kleinste Zufall, die kleinste Fügung durch die soziale Zeitordnung verunmöglicht und alles gerät in den Verantwortungs- und damit Entscheidungsbereich des Individuums. Die Frage von Glück oder Unglück wird zunehmend eine Sache des Individuums. In diesen Fokus lässt sich auch der Begriff der Rache rücken, der hier inszeniert wird. Es ist eine Rache, die selbstverantwortlich gesucht wird. Suche und Festnahme des Täters der Polizei (9. Ereignis) zu überlassen, stellt sich überdies als ein Risiko dar, den gewalttätigen Verbrecher zu leicht davon kommen zu lassen. Jenem Begriff des Risikos liegt ein vollkommen anderes Zeitverhältnis zugrunde als noch in der vormodernen Gesellschaft. Zwar haben wir es weiterhin mit der Dreifachmodalisierung der Zeit46 bzw. den drei Dimensionen Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft zu tun. Doch wo wir glauben, Zukunft sei prinzipiell offen, da steht sie bereits fest: als eine riskante Zukunft, die es zu steuern gilt. Luhmann kommentiert: »Wir gehören nicht mehr zu jenem Geschlecht der tragischen Helden, die, nachträglich jedenfalls, zu erfahren hatten, daß sie sich selbst ihr Schicksal bereitet hatten. Wir wissen es schon vorher.«47 In der Hinsicht scheint auch die »retrospektive Fatalitätsillusion« interessant, die Raymond Aron in seiner Einführung der Philosophie der Geschichte bekämpft. Er reflektiert erweitert die Verbindung von Kontingenz und Notwendigkeit, ge44 N. Luhmann: Beschreibung der Zukunft, S. 143. 45 Man kann natürlich von vergangenen Entscheidungen sprechen und von deren Risiken und ebenso von künftigen Entscheidungen, vgl. N. Luhmann: Beschreibung der Zukunft, S.142. 46 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1, München 1988. 47 N. Luhmann: Beschreibung der Zukunft, S. 147.

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Tanja Prokic nauer in der geschichtlichen Kausalität: »Unter Kontingenz verstehen wir hier sowohl die Möglichkeit, das Ereignis anders aufzufassen, als auch die Unmöglichkeit, das Ereignis aus dem Gesamtzusammenhang der vorherigen Situation abzuleiten.«48 An dieser Stelle ist auf die Maßnahmen zur Bändigung der Zukunft nicht einzugehen, man kann annehmen, dass es sich um ähnlich intransparente, komplexe Operationen handelt wie bei der Bändigung des Diskurses,49 welche auch eine Steuerung von Zukunft ist. Irreversibel erzählt weder die Genese von Unglück noch destilliert der Film das wahre Glück, er zeigt, wie in unserer Gesellschaft über Glück disponiert wird. So ist Wellbery, im Vorzeichen veränderter gesellschaftlicher Temporalstrukturen, zuzustimmen: »Mit dem Ende der Romantik ist eine allgemein akzeptierte, gleichsam repräsentative Glückssemantik nicht mehr vorhanden; die Glückserfahrung versenkt sich ins Individuum. […] Das Glück in der Moderne fügt sich nicht mehr der begrifflichen Schematisierung.«50 Das Glück fügt sich der Diktatur des Risikos. Wittgensteins Notiz – »Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich«51 – erscheint unter dieser Prämisse zwar als angemessener Ratschlag, doch ist der ewige Präsentismus unter den Bedingungen der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft keine Option mehr. Glück wird in der modernisierten Gesellschaft zu einer Frage der Kalkulation. Prinzipiell ist es in der demokratisierten Welt für jedes Individuum in einem individuellen Zuschnitt erreichbar, jedoch mit dem Risiko, dass es jederzeit in Unglück umschlagen kann. Für beide Fälle, Glück oder Unglück, steht je eine standardisierte und formalisierte Erzählung zur Verfügung, die uns erlaubt, Glück oder Unglück überhaupt zu identifizieren – ein Kanon des Erzählbaren und Erzählpflichtigen.

48 Raymond Aron: Introduction à la philosophie de l’histoire. Essai sur les limites de l’objectivité historique, Paris 1986, S. 230 u. 277, zit. nach Paul Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998, S. 64. 49 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1972. 50 D. E. Wellbery: Prekäres und unverhofftes Glück, S. 49f. 51 Ludwig Wittgenstein: »Tagebücher 1914–1916«, in: ders.: Schriften. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1960, S. 167.

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Kleine Zeitkritik

»My aim was to make you feel out of your minds« 52 Während innerhalb des Science-Fiction-, des Fantasy- oder ActionGenres computergenerierte Bilder zum Alltag gehören und deren teils hochgradig realistische Wirkung den fiktionalen Charakter jener Genres eher verstärkt, verhält es sich bei Irreversibel eher umgekehrt. Die Gewaltdarstellung der Mordszene erreicht ihren hohen Authentizitätsfaktor über ein qua CGI (Computer-Generated Imagery) artifiziell modifiziertes blutiges und von Hämatomen deformiertes Gesicht, auf das Pierre mit dem Feuerlöscher einschlägt. Wo die meisten Gewaltdarstellungen mit Gegenschnitten arbeiten oder den direkten Fokus auf die Körperdeformierungen verhindern, wird hier geradezu ein Tunnel-Blick des Zuschauers auf das realistisch anschwellende und sich entstellende Gesicht evoziert. Noé hat die ersten dreißig Minuten seines Films mit einer Frequenz von 28 Hz unterlegt. Diese Frequenz, ähnlich dem nahezu unhörbaren Geräusch, das ein Erdbeben verursacht, ruft starke somatische Reaktionen, Schwindel und Übelkeit, hervor. Lässt sich die visuelle Gewaltdarstellung als Authentizität beschönigen, ist das mit dem Wissen um die auditive Wirkung nicht mehr möglich. Es war Noés Ziel, dass das Publikum sich »out of their minds« fühlt, nun gar ›out of their bodies‹? Exakt jene Wirkung wird generiert, es greift so das Körpergefühl der Opfer und Täter auf den Zuschauer über. Die Gewalteffekte schreiben sich in dessen Körper ein.53 Gewaltbehauptung kann generell als ein Phänomen gedeutet werden, das Reflexion erspart.54 Wie verhält es sich aber, wenn die Rezeptionsposition zum ungewollten Zuschauer und Mitträger von Gewalt wird? Indem die Gewalt zum Ereignis isoliert wird, entwickelt sie einen derart hohen Grad an Materialität, dass diese den Beobachter in seiner eigenen Materialität und Zeitlichkeit anspricht, die bindende Kraft des Ereignisses lokalisiert und synchronisiert. Dies geschieht durch die unverzichtbare Kopplung der verkehrten Zeitordnung an eine gewaltsam authentische Gewaltinszenierung. Der Beobachter wird im Akt der subjektiven Unterwerfung zum Objekt der Unterwerfung; er ist Opfer und Täter gleichermaßen. In der Rezeptionsästhetik scheint die Unterwerfung unter solche Produkti52 »›My aim was to make you feel out of your minds‹ […] ›Everybody copies everybody else now‹ […] His starting point was ›a rape and revenge movie, told backwards. That was the concept that was sold to the people who financed the movie‹«; Irreversible Director »Delighted« By Audience Response, http://www.iofilm.co.uk /feats/interviews/g/gaspar_noe.shtml. 53 Dies erklärt, weshalb viele Premierenzuschauer das Kino während der ersten dreißig Minuten, noch vor der Vergewaltigungsszene, verließen. 54 Niklas Luhmann: »Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum«, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6, Wiesbaden 2005, S. 128.

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Tanja Prokic onsästhetik in dem gezwungenermaßen aktiv mit vollziehenden Akt der Unterwerfung des Opfers unter den Täter auf: Die Strukturen der Unterwerfung, die unser Dasein bedrohen wie organisieren und damit produzieren, die Strukturen der Erzählung von Gewalt, Zeit, Glück, Liebe, Hass, sozialer Ordnung etc. Indem Sinn so augenfällig zur Disposition gestellt wird, wird dessen Stiftung zu einer Frage, über die neu befunden werden muss; die Rezeption wird zu einer Position der Überschreitung, indem wir selbst zum Opfer sinnloser Gewalt werden. Es ist anzunehmen, dass diese sehr spezielle Kopplung von Gewalt und ZeitErzählung zu einer Gewalt der Erzählung gerät. Ebenjene Gewalt wird von anderen Filmen, die lediglich artifiziell mit der Zeitordnung spielen, wie z.B. Christopher Nolans Memento (2000) oder François Ozons 5x2 (2004), nicht erreicht. Sie können somit nicht die Ränder der Erzählung sprengen wie es Irreversibel tut. Die Überschreitung gelingt schon durch einen einfachen, aber signifikanten Handgriff: Abspann und Vorspann – die Buchdeckel des Films, welche die Illusion vermitteln, den Text in seine Grenzen verweisen zu können – in die rückwärtige Anordnung mit einzubeziehen. Somit wird die Zeit der Rezeption von Zeitordnung in der Erzählung gleichzeitig eine Neu-Erzählung von Zeit: »Jede an Kunst sich beteiligende Operation der Herstellung oder Betrachtung verfügt über eine Zäsur, eine Trennung von Vergangenheit und Zukunft. Was schon vorliegt, wird als Beschränkung akzeptiert oder verworfen, was noch zu tun ist, als Gelegenheit ergriffen. Zeit wird dabei als Medium, als unaufhaltsames Fließen, als meßbare Vergänglichkeit vorausgesetzt; aber es bedarf dann noch eines re-entry der Zeit in die Zeit nämlich der Ausstattung eines jeden Zeitpunktes mit einem Unterschied seiner Vergangenheit und seiner Zukunft. Diese laufende Renovierung der Zeit läßt sich als laufende Neubeschreibung des Vergangenen begreifen. […] Herstellung und Betrachtung von Kunstwerken sind mithin nicht lineare Prozesse der Addition, sondern vollziehen sich in Schleifen, die jeweils zwischen einer neu zu entdeckenden Vergangenheit und einer noch zu bestimmenden Zukunft vermitteln. Mit der Aufhebung von Beschränkungen schaffen sie neue Spielräume für Oszillationen.«55

Irreversibel evoziert eine Transgression, deren Effekte nicht mehr umkehrbar sind: entweder unabschließbare Reflexion oder unendliche Leugnung. Während im letzteren Fall Irreversibel zur lustvollen Ausbeutung der Faszination von Gewalt oder Sexualität verkommt, wird sie im anderen Fall zu einer existentiellen und intellektuellen Provokation, die es uns ermöglicht, eine scheinbar universell gültige Glücksmatrix zu dechiffrieren.

55 N. Luhmann: Literatur als fiktionale Realität, S. 284f.

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IV. Kulturtheorie

Macht Lesen glücklich? Bemerkungen zur theoretischen Relevanz des Glücksbegriffes in der vormodernen Literatur CHRISTIAN SINN

I. Macht Lesen glücklich?1 Literaturtheorie wird hierauf mit der Gegenfrage antworten müssen, ob diese naiv formulierte und empirisch scheinende Frage überhaupt sinnvoll sei. Dennoch lohnt sich für ein theoretisches Interesse, nicht zuletzt in boshafter Absicht, der flüchtige Blick in die Geschichte des Begriffs Glück: Das Glück oder eben Unglück des Menschen ist ganz unabhängig von möglichen Zusammenhängen mit dem Lesen jedenfalls keine universale anthropologische Konstante, sondern ein historisches Phänomen, das es von vornherein verbietet, von ›dem‹ Glück überhaupt zu sprechen.2 Fragen nach ›dem‹ Glück können daher nie dieses selbst betreffen, sondern meinen die vielfältigen Reden über Glück. Diese gilt es in ihrer Vielfalt zu differenzieren und zu historisieren, zumal wenn man auf gegenwärtige Glückschancen hofft. Doch vor solcher Hoffnung sei gewarnt. Denn wirft man einen zweiten, etwas längeren Blick auf die sich in der Geschichte der Philosophie findenden Reden über menschliches Glück, dann gewinnt man die Einsicht, dass es mit diesem nicht zum Besten steht, und wird wohl Sigmund Freud zustimmen müssen, der kategorisch erklärt:

1

2

Dieser Aufsatz ist die schriftliche, für den Druck bearbeitete Fassung des freien Vortrags vom 4. Juni 2007 an der PH St. Gallen, gehalten innerhalb der Ringvorlesung »Glück«. Unverzichtbar ist hierzu v.a. der Artikel von Matthias Gatzemeier: »Glück (Glückseligkeit)«, in: Jürgen Mittelstrass (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1, Stuttgart 1995, S. 781-782; ebenso der Abriss von Joachim Ritter/Otto Hermann Pesch/Robert Spaemann: »Glück«, in: Joachim Ritter u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. III. Stuttgart 1974, S. 679-707.

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Christian Sinn »Die Absicht, daß der Mensch ›glücklich‹ ist, [ist] im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig.«3

Wenn dem aber so ist, dann erledigt sich allerdings zugleich die am Anfang gestellte Frage nach dem Zusammenhang von Lesen und Glück von vornherein, selbst wenn man unter Glück nicht wie Sigmund Freud die Erfüllung von Kinderwünschen versteht, die plötzliche Befriedigung angestauter Bedürfnisse. Man mag Freud zwar entgegenhalten, sein Glücksbegriff sei einseitig, auch sei seine Behauptung über den Plan der Schöpfung selbst in ihrer ironischen Färbung immer noch eine Totalisierung, die etwa nichts über unser Glück in der Zukunft, und sei es auch nur als episodisches Phänomen, aussage. Man könnte sogar noch mit Marcuse das Argument wagen, die moderne Überflussgesellschaft, so problematisch sie in ihrem hemmungslosen Hedonismus sein mag,4 erhöhe jedenfalls gegenüber früheren Zeiten die Aussichten auf Glück gerade in seiner trivialsten Form als Befriedigung libidinöser Bedürfnisse.5 Doch sogar bei einer nur oberflächlichen Durchmusterung der Geschichte des Begriffs Glück wird man Freud darin zustimmen müssen, zwar nicht der Plan der Schöpfung, wohl aber die bisherige Geschichte des Menschen vereitle die Absicht, in ihr das Glück zu finden. Nicht nur die Realgeschichte, von der die Historiker sprechen, auch die Geschichte des philosophischen Begriffs ›Glück‹, die hier näher interessieren soll, kann jenes Fazit reichlich belegen. Warum aber ist dies so oder scheint dies zumindest so zu sein? Es ist Immanuel Kant, der uns darauf aufmerksam macht, dass gegen das Glück nicht nur historische Bedingungen sprechen. Kant argumentiert unter einem systematischen Gesichtspunkt, der es prinzipiell verbietet, je auf den absurden Gedanken zu kommen, das Handeln am Ziel des Glücks oder gar der Glückseligkeit ausrichten zu wollen. Kants Argumentation hat sehr viel mehr mit dem so genannten gesunden Menschenverstand zu tun, als man auf den ersten Blick meinen könnte, denn sie richtet sich gar nicht gegen das

3

4

5

Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV. Werke aus den Jahren 1925-1931, London u.a. 1948, S. 434. Vgl. Herbert Marcuse: »Zur Kritik des Hedonismus«, in: ders.: Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt a.M. 1956, S. 132: In »dieser Form der Gesellschaft« könne man die Dinge nur als Erscheinung genießen. Herbert Marcuse: Eros and Civilization, London 1956.

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Leseglück Glücksstreben. Hier spricht kein aus pietistischen Verhältnissen stammender, lustfeindlicher preußischer Philosoph, sondern nüchterne Einsicht: Das Streben nach Glück ist zwar durchaus sinnvoll, um dies Ziel unserer Wünsche jedoch zu erreichen, müssten wir nicht nur allwissend sein, wir brauchten auch Transparenz hinsichtlich aller Folgen unseres Handelns, und solche prognostische Kompetenz, da ist Kant sicher zuzustimmen, haben wir nicht. Auch das Ziel selbst, das Glück, ist allein in seiner minimalen Definition, was nur für uns als Individuum inhaltlich ›Glück‹ hieße – für alle Zeiten? – , nicht eindeutig und dauerhaft bestimmbar. Wir können also allenfalls sagen, dass wir unser Unglück dann am ehesten befördern, wenn wir uns im Glück der Götter wähnen, allwissend über unser eigenes Glück zu sein. Aus unserer Unwissenheit folgt jedoch noch nicht, dass man den Begriff des Glücks darum überhaupt aufgeben müsse. Kant spricht deshalb auch selbst davon, dass es zu unseren Pflichten gehöre, die fremde und eigene Glückseligkeit zu befördern. Was uns bleibe, das sei die Hoffnung »der Glückseligkeit dereinst in dem Masse theilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein«6. In der Einsicht, dass die Menschen eben nicht die Götter ihres Glücks sind, stimmen auch vor und nach Kant all jene Philosophien überein, in deren Zentrum das Glück steht.7 Mit diesem gleichsam unfreiwilligen Common Sense der sich sonst bekämpfenden Philo6

7

Immanuel Kant: KpV, AA V. Es erforderte eine eigene Arbeit, um jenseits der berühmten Stelle der kantischen Argumentation gerecht zu werden, vgl. die Einträge zu »Glück«, »Glückseligkeit«, in: Andreas Roser u.a. (Hg.): Kant-Konkordanz zu den Werken Immanuel Kants (Bände I-IX der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften). Bd. 3. Hildesheim 1993, S. 691-704. Vgl. auch die Habilitationsschrift von Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glücks, Berlin 2003. Sie verweist auf die zentrale Stellung des Glücksbegriffes bei Kant und macht so deutlich, dass die Konjunktur des Glücksbegriffes in der neueren Philosophie nicht notwendig zur Konzentration auf die antike Philosophie führen muss. So argumentiert z.B. bereits Demokrit, VS 68 B 170, B 171 u.ö., dass Glück und Unglück der Seele zugehören, mithin Kontingenz durch Einsicht gesteuert werden könne, vgl. auch Heraklit, VS 22 B 4. Dass aber diese dann v.a. durch Platon markierte Position der Antike nicht generell zugeschrieben werden kann, belegen z.B. die durchaus physischen Kriterien des Glückes bei Thales, z.B. VS 11 A 1(37), oder bei Aristippos und Hegesias, zumindest in deren Darstellung durch Diogenes Laertios II, v.a. 86-94. Die entscheidende Differenz der antiken Fragestellung zu Kant liegt nicht in der Einsicht in die Kontingenz, sondern darin, dass die antike Fragestellung durch hypothetische Imperative Sollen und Wollen, Individuum und Gemeinschaft verknüpfen kann, während dies Kants kategorischem Imperativ von vornherein als nacktes Sollen vereitelt; vgl. Ernst Tugendhat: Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, v.a. S. 49.

289

Christian Sinn sophien, der stillschweigenden Akzeptanz der Tatsache, dass wir unser eigenes Glück nicht eindeutig und auf lange Zeit bestimmen können,8 versuche ich auch die eingangs gestellte Frage, ob Lesen denn glücklich mache, negativ mit der folgenden ersten These so zu beantworten: Unglücklich macht das Lesen mindestens dann, wenn es uns dazu verführt, zu meinen, wir seien allwissend. Lesen macht aber auch dann unglücklich – und diese zweite These entnehme ich wiederum nicht der enttäuschenden Erfahrung im Umgang mit der Philosophie-, sondern der Literaturgeschichte – , wenn es die Heteronomie des lesenden Subjekts darin befördert, das Glück nicht in sich selbst, sondern in einem Text außer sich finden zu wollen. Diese zweite These ist wesentlich stärker, denn sie behauptet, dass Lesen schon darum nichts mit dem Glück zu tun haben kann, weil solches Lesen uns von uns und unserem möglichen Glück als Einsicht in unsere eigene Begrenzung wegführt. Und um schließlich dem paradoxen Thema des Sammelbandes zu entsprechen, d.h. mir selbst von vornherein zu widersprechen, werde ich noch eine dritte, stärkste These wagen, die nämlich, dass es dennoch ein Glück gibt, das sich nur im Lesen und Schreiben finden lässt. Der verwirrenden und von mir auch gar nicht vollständig aufzuklärenden Geschichte des Zusammenhangs von Lesen und Glück möchte ich mich in drei systematischen Schritten so annähern, dass sie den genannten drei Thesen auch historisch entsprechen: Im nächsten Abschnitt (2.) skizziere ich kurz, warum und wie sich trotz Kants klarer Einsicht und Akzeptanz menschlicher Kontingenz der Begriff des Glücks in Teilen der modernen Ethik dennoch wieder zu etablieren beginnt; im darauffolgenden Abschnitt (3.) zeige ich dann, dass das, was jene Teile der modernen Ethiken gegenwärtig erst wollen, durch eine literarische Fraktion, namentlich die prudentistische und die moralistische Literatur, in der Vergangenheit schon längst praktiziert wurde; salopp formuliert: Die modernen Denker hinken den vormodernen Dichtern hinterher. Zum Schluss (4.) mache ich eine ganz kurze Bemerkung über diesen merkwürdigen Befund der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen von Philosophie und Literatur im Kontext des Glücks im Hinblick auf meine dritte – paradoxe – These, dass Lesen, obwohl es uns notwendig von unserem Glück entfernt, dennoch glücklich macht. 8

Interessant ist, dass Aristoteles einerseits trotz Autonomieauffassung auf die Kontingenz hinweist, vgl. Eth. Nic. 1100 a 5-12. Andererseits hält er Glück im Kontext der modellbildenden Dichtung für mathematisch berechenbar: »die Grösse, die erforderlich ist, mit Hilfe der nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgenden Ereignisse einen Umschlag von Glück in Unglück oder von Unglück in Glück herbeizuführen, diese Grösse hat die richtige Begrenzung« (Poet. 7). Vgl. zu einer Glücksberechnung im Alltag auch Kants Anthropologie, AA VII, S. 253f.

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Leseglück

II. Spricht man davon, dass sich ein Begriff wie der des Glücks wieder zu etablieren beginnt, dann impliziert dies mehr als das bekannte organologische Modell von Zeugung, Geburt, Blüte, Verfall und Tod der Begriffe, das durch Herder für die Philosophiegeschichtsschreibung wesentlich wurde. Re-Etablierung von Begriffen trägt vielmehr den Skandal von Auferstehung in sich: Gegenwärtige Kritiken traditioneller Ethik operieren im Rückgriff auf das antike Motiv des Glücks. Wer an solche vorchristliche Auferstehung im Falle des Glücks nicht glaubt, zumal nach der Tötung und Beerdigung dieses Begriffs seit Kant, der sei auf den eindrucksvollen und sicherlich unverdächtigen Zeugen dieser Auferstehung verwiesen, Michel Foucault, der klarstellt, dass – und vor allem warum – der emphatische Begriff des Glücks eine Prägung der antiken Philosophie ist, die im Kontext einer Kultur der Selbstsorge steht.9 Individuelles Glück als Selbstoptimierung durch Selbstsorge kongruiert zwar mit dem Machtinteresse des Staates, so dass die Lustmaximierung des Einzelnen mit Regierungszielen korreliert, totalitärer Staat und nicht minder totalitäres Individuum unter diesem Aspekt identisch werden.10 Gleichwohl aber verhindert nicht nur die Vielfalt unterschiedlicher partikularer Individualinteressen das staatlich verordnete Glück, fundamentaler ist wohl die an Zynismus oder Redlichkeit grenzende Argumentation Foucaults gegen den Humanismus, dass das Leiden der Menschen darum kein praktisches Problem darstellt, weil es theoretisch nicht lösbar sei: »Heute wird klar, daß der Mensch möglichweise weder das theoretische Grundproblem noch das praktische Problem darstellt, das man in ihm gesehen hat, und daß er nicht das Objekt ist, mit dem wir uns unablässig befassen müssen, und dies alles vielleicht, weil der Mensch sich nicht zum Glück eignet. Und wenn er nicht glücklich sein kann, welchen Sinn hat es dann, sich mit dieser Frage zu befassen?«11

Hiermit wird der eingangs schon mit Freud bezweifelte Sinn der Glücksfrage wiederholt und zur Anthropologiekritik verschärft. Die Frage kann man auch Foucault selbst stellen: Glück als Selbstsorge sei nur eine Art philosophischer Müll, der im Übergang vom Spät9

Vgl. Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, v.a. S. 53-94. 10 Vgl. Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg u.a. 1997. 11 Michel Foucault: 54 Interview mit Michel Foucault, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et ecrits. Bd. I. 1954-1969. 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2007, S. 832.

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Christian Sinn hellenismus zum frühen Christentum erzeugt und von späteren Jahrhunderten mitgeschleppt wird, um dann zur größten Last zu werden, »die wir aus dem 19. Jahrhundert ererbt haben – und von der wir uns unbedingt befreien sollten«12. Warum wird dann aber Selbstsorge, nicht zuletzt Sorge um eine jenseitige Seligkeit, wie sie bereits bei Seneca, Marc Aurel entwickelt und durch die Pastoralmacht des Christentums allgemein wird, dennoch zur Definition des Glücks beim ›sehr späten‹ Foucault? Die Jenseitigkeit des spätantiken Glücks, die das Christentum hervorbringen hilft, erzeugt erst jene Vorstellung von menschlicher Autonomie, an der Foucault trotz seiner Humanismuskritik interessiert sein muss, weil sie sich dem totalitären Machtanspruch des Staates radikal entzieht.13 Ein ebenso emanzipatorisches Interesse an einem Fortschritt des Menschen zu sich selbst teilt auch die aristotelisch gefärbte Argumentation Martha Nussbaums: Die Jenseitigkeit von Glück als theoria setzt das diesseitige Reich politischer Freiheit als Endzweck menschlichen Handelns voraus. Das Menschenglück ist in einer Sozialität zu suchen, in der der Einzelne ein tätiges Leben so führt, dass er sich nicht von Geschick und Zufall leiten lässt, sondern tugendhaft lebt, d.h. dass er seine eigenen Angelegenheiten, seine Geschichte selbst in die Hand nimmt. Mit diesem Anspruch auf Autonomie ist der Unterschied, aber auch die Gemeinsamkeit von Aristoteles zu Philosophen wie Seneca genauso wie die Differenz von Nussbaum zu Foucault gegeben. In je beiden Fällen wird dem Menschen sein Glück als Autonomie zugemutet, vita activa und vita contemplativa sind nur die zwei Seiten derselben Glücksmedaille. Zentral wird nun aber für die modernen Philosophen, die das antike Motiv des Glücks wiederaufnehmen, um mit ihm traditionelle Ethiken zu kritisieren, die der Autonomie des Menschen im Wege zu stehen scheinen, die Literatur. Verweist Foucault auf die Bedeutung der Literatur für das Glück bereits innerhalb der Antike, so handelt es sich bei Nussbaum mehr noch um einen radikalen, modernen Literaturbegriff, der allerdings ganz im Sinne Foucaults den Autor als Glücksinstanz verabschiedet, damit der Leser in dessen omnipotente Stelle eintreten kann. Die Argumentation Nussbaums hierzu ist komplex und nicht auf eine einzige These verkürzbar.14 12 Michel Foucault: 37 Gespräch mit Madeleine Chapal, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et ecrits. Bd. I. 1954-1969. 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2007, S. 667. 13 Vgl. Achim Volkers: Wissen und Bildung bei Foucault. Aufklärung zwischen Wissenschaft und ethisch-ästhetischen Bildungsprozessen, Wiesbaden 2008. 14 Zu einer subjektivistischen Neudeutung des aristotelischen Ideals der Mitte für die moderne Literatur vgl. Martha Nussbaum: Cultivating Humanity. A Classical Defense of Reform in Liberal Education, Cambridge 1997; dies.:

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Leseglück Ich reformuliere Nussbaums literarische Philosophie so, wie es mir einleuchtend zu sein scheint, ohne den Anspruch zu erheben, ihr gerecht zu werden: Literatur allgemein, nicht nur die moderne, kann einmal zur Bestimmung des aristotelischen Ideals der Mitte gebraucht werden, das man für glückliches Leben benötigt. Literatur leistet mit anderen Worten gerade das, was Kant für das praktische Leben bestreitet, Beschreibung und Übersicht über mögliche Folgen des Tuns in einer Art Gedankenexperiment. Im Unterschied zu den Gedankenexperimenten, die ja auch die Philosophie kennt, berücksichtigt Literatur die Tatsache, dass Gefühle nicht schlicht gegeben, sondern narrativ konstruiert und kulturell kodifiziert sind. Die Bestimmung des Glücks durch Glücksgefühle ist daher unzulässig. Aus diesem Grund dient Nussbaum wohl vor allem Becketts Destruktion des impliziten Autors als Beleg für eine Literatur, die Lesen nicht nur als individuelle Aktivität versteht, sondern als spezifische kulturelle Praxis. Diese kann auf keinem anderen Weg als dem Lesen eingeübt werden, und sie besteht konkret im Paradox einer Selbstprüfung, die sich durch die Selbstzerstörung der normalen Funktionen des Lesens als Flucht und Stimulation vollzieht.15 Es handelt sich bei den ganz unterschiedlichen Ansätzen von Foucault und Nussbaum um die gemeinsamen Folgen einer zumindest partiellen Selbstzerstörung der Philosophie, die aus ihrer Einsicht in den Primat moralischer Kontingenz resultiert. Vor allem Theodor Nagel hat diese Einsicht gegen Kant mit dessen eigenen Mitteln geltend gemacht: Mit moralischer Kontingenz ist ebenjenes Faktum gemeint, dass wir nicht allwissend sind, dass uns aufgrund der Unwissenheit über unsere Handlungsfolgen nicht nur das Glück unerreichbar ist, sondern – und das ist mithin die zentrale Pointe gegen Kant – die konstitutionelle Unwissenheit des Menschen Kants Ethik des guten Willens als von jenen glücklichen Zufällen abhängig erweist, von denen der Wille sich nicht bestimmen lassen soll.16 Weil wir wissen, dass es mit unserem Wissen schlecht bestellt ist, wird nicht nur die Aussicht auf Glück problematisch, dem guten Willen Kants liegt der unbegründete metaphyLove’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, Oxford 1990; dies: Poetic Justice. The Literary Imagination and Public Life, Boston 1995; dies.: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 1986 sowie dies: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001. 15 Martha Nussbaum: »Narrative Gefühle. Becketts Genealogie der Liebe«, in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt a.M. 2002, S. 286-329. 16 Nagel verhandelt die paradoxe Relation von Glück und moralischer Kontingenz, vgl. dazu Theodor Nagel: Letzte Fragen. Erw. Neuausg., Bodenheim b. Mainz 1996, bes. S. 45–63.

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Christian Sinn sische Optimismus zugrunde, man könne auch die bestmögliche aller Handlungen qua moralischer Bewertung und Selbsteinschätzung bestimmen. Vielleicht greift Nagels Kritik an Kants zu kurz, vielleicht ist es der eigentümliche wie unerkannte Sinn des kategorischen Imperativs, uns auf die Unmöglichkeit seiner Erfüllung erst aufmerksam zu machen? Die unleugbaren Übel der Welt, die zuvor auf die Nichtexistenz Gottes schließen ließen, verschärfen sich als Argumente gegen die praktische Vernunft, bestehen doch die Übel auch ohne Gott fort. Man müsste eigentlich auf die Nichtexistenz des guten Willens schließen, eine Konsequenz, die der Grundthese der Ethik widerspricht, der Mensch sei ein rationales und moralfähiges Wesen. Die Ethik müsste sich aufgrund der von ihr anerkannten Konsequenz letztlich selbst abschaffen. Dagegen könnte im Kontext der von Nagel skizzierten Problematik moralischer Kontingenz und trotz der sozialpsychologischen Einwände gegen Moralität der Glücksbegriff Leibniz’ als sich selbst optimierendes System gegenwärtig einen neuen Stellenwert gewinnen: »Beatitudo non consistit in summa quodam gradu sed in perpetuo gaudiorum incremento«17. Die Glückseligkeit besteht nicht in dem höchsten Grad, sondern in der dauernden Zunahme der Freuden, so Leibniz. Freude aber ist die »Lust, so die Seele an ihr selbst empfindet«18 und die Lust selbst wird wiederum »als Empfindung einer Vollkommenheit oder Vortrefflichkeit«19 definiert. Zwar gilt gegen Leibniz ebenso nicht nur das Argument moralischer Kontingenz, sondern auch das stärkere Argument, er ginge mehr noch als Kant von einem erkenntnistheoretischen Optimismus aus, welcher durch nichts gerechtfertigt sei. In der Tat ist Leibniz und die ihm folgende deutsche Schulphilosophie der Aufklärung wegen ihres problematischen, nicht operationalisierbar scheinenden Begriffs von Vollkommenheit in Vergessenheit geraten. Auch widersprechen alle allzu bekannten Übel der Welt – das Böse, die Not, Angst, Schuld, Unterdrückung, Krankheit, Schmerz und Tod – radikal der Ansicht von der Welt als vollkommener, bestmöglicher, ein vor allem durch Voltaires Candide populär gewordenes Argument. Nicht zuletzt ist jedoch durch die philosophische Entdeckung des moralischen Zufalls durch Nagel, vor allem aber durch die skeptischen Reflexionen Bernard Williams auf die unvermeidlichen Antagonismen und Antinomien der Vernunft diese selbst und damit ihr leibnizianischer Be-

17 Gottfried Wilhelm Leibniz: Textes inédits – d'après les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hanovre, publiés et annotés par Gaston Grua. Vol. I, Paris 1984, S. 95. 18 Gottfried Wilhelm Leibniz: »Von der Glückseligkeit«, in: Kleine Schriften zur Metaphysik. Bd. 1, hg. v. Hans Heinz Holz, Darmstadt 1965, S. 391. 19 Ebd., S. 391.

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Leseglück griff fragwürdig geworden.20 Bei den Nachfolgern Leibniz’ steht aufgrund der soeben genannten Einwände alsbald Vollkommenheit im Sinne der Metaphysik nicht mehr zur Debatte. Dennoch erweist sich der spezifische Selbstwiderspruch innerhalb der europäischen Aufklärung als produktiv: Einerseits wird gegenüber der christlichen Tradition ein diesseitig und individuell verstandenes Glück zum Zentralbegriff europäischer Philosophie, andererseits führten die Übel der Welt nicht mehr zum Theodizee-, sondern Anthropodizeeproblem, das sich nur durch Verzicht auf persönliches Glück lösen ließ. Wenn nicht mehr Gott der Täter der Untaten war, dann musste es wohl der Mensch selbst sein. Und daraus ergibt sich noch für die moderne Ethik jene unerbittliche Konsequenz, zu deren Anerkennung uns Williams zwingt: Moralität ist nicht nur, wie Nagel argumentiert, nicht immun gegenüber dem Zufall. Wenn Moralität zudem als soziale Verpflichtung notwendig wird, sinken auch die Chancen für individuelle Glücksmöglichkeiten dramatisch. Glück als persönliches Interesse gerät in Konfrontation mit der sozial notwendigen Verpflichtung.21 Was hat dies jedoch mit Literatur zu tun? Weil die Philosophie das Glücksproblem nicht zu lösen weiß, wird es der Literatur zugeschoben und kann überhaupt nur dort seine mögliche Lösung erfahren. Bereits vor Foucaults und Nussbaums Plädoyer für die Literatur beschritt die deutsche Aufklärung diesen Argumentationsweg. Die englische,22 vor allem aber auch die französische23 Philosophie entwickelte hedonistische Kalküle, die, ob nun materialistisch oder idealistisch formuliert, für den optimalen Balancezustand zwischen Individuum und Gesellschaft sorgen sollten. Dadurch ging jedoch der alte Zusammenhang zwischen Glück und Wahrheit verloren, das Glück wurde letztlich zu jener Illusion degradiert, deren Kredit die amerikanische Verfassung noch heute garantiert, während Teile der deutschen Aufklärung den Nachweis zu führen versuchten, dass Glück, gerade weil es weder in der Ontologie der Welt noch in den sozialen oder den psychologischen Befindlichkeiten von Subjekten gründe, nur in der Struktur von Kunstwerken aufgefunden werden könne. Denn Kunstwerke sind Wirklichkeiten, die Men20 Zur Konfrontation von persönlichem Interesse (Glück) und sozialer Verpflichtung (Moral) vgl. Bernard Williams: Moral Luck, Cambridge 1981, S. 20-39. 21 Eine der vielen Paradoxien des Glücks besteht in diesem historischen Wechsel von der antiken Position, in der (vgl. Aristoteles Eth. Nic. 1094 b 7-8, Pol. 1324 a 5-8 u.ö.) staatlich-soziales mit bürgerlich-individuellem Glück identisch ist, zu deren radikaler Exklusion in der Moderne. 22 Vgl. z.B. John Locke: Essay concerning human understanding, Book II, Ch. 21, § 42. 23 Vgl. z.B. Abbé de Gourcy: Essai sur le bonheur, Wien u.a. 1777.

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Christian Sinn schen selbst machen, diese jedoch nach Regeln, deren Optimierung im Jargon der Zeit bis zur wirkungsmächtigen Ästhetik Gottscheds ›Vollkommenheit‹ genannt wurde.24 Die These, die ich im geschichtlichen Exkurs etwas waghalsig vertrete, lautet, dass sich mit dem System- und Prozessdenken der deutschen Aufklärung noch eine Antwort auf Williams geben lässt, ohne dessen Argumentation damit auszuschöpfen: In jenem aufklärerischen Zeitraum wird ein Begriff von Glück entwickelt, der zwar in der Folge und nicht zuletzt durch die Weimarer Klassik obsolet wurde, weil er, wie Heinrich Heine zu Recht kritisiert, »die Kunst als eine unabhängige zweite Welt« so hoch stellt, »daß alles Treiben der Menschen, ihre Religion und ihre Moral, wechselnd und wandelbar, unter ihr hin sich bewegt« und damit die »Ansprüche jener ersten wirklichen Welt, welcher doch der Vorrang gebührt«, sich abwendet.25 Das Glück in dieser deutschen Tradition wird also in ihrer späteren Rezeption nur noch durch die Kunstautonomie einer zweiten Welt möglich, die auf die Realität der ersten Welt zu verzichten vorgibt: Das, was von Gott, aber auch von der Vernunft angesichts der Übel der ersten Welt nicht mehr gesagt werden kann, lässt sich in der zweiten sanktionsfrei behaupten. Auch dieses Glück ist folglich illusionär. Geht man zudem mit Martin Seel davon aus, dass die Spannung von individuellem Glück und sozialer Moral konstitutiv für das moralische Handeln selbst ist und dort nur produktiv wird, wenn diese Spannung als unauflösliche begriffen wird, dann bedeutet ihre ästhetische Auflösung in der Literatur als Darstellung des Glücks den Tod moralischer Orientierung.26 Dieser Erkenntnis widerspricht jedoch nicht nur die Tatsache, dass wesentliche Texte alteuropäischer Kultur weit über die von mir skizzierte Tradition hinaus die von Seel analysierte Spannung aufrecht erhalten, damit aber auch das Versprechen von Glück fortschreiben. Meine Kollegen aus der Ethik müssten unter diesem Aspekt deshalb ein notwendiges, zumindest aber heuristisches Interesse an der Literatur haben, um ihre scheinbar rein philosophische Frage nach dem Glück glücklicher als bisher beantworten zu können.27 Man kann weiter darauf verweisen, dass der alte Sinn von 24 So v.a. Christian Wolff im Anschluss an Leibniz in seiner Philosophia practica, Frankfurt u.a. 1738f, 1 §374: das summum bonum für den Menschen sei »non impeditus progressus ad majores continuo perfectiones«. 25 Heinrich Heine: »Die romantische Schule«, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 8,1. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland/Die romantische Schule, hg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1979, S. 152f. 26 Vgl. dazu Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, Frankfurt a.M. 1999, S. 13–48. 27 Vgl. z.B. Dieter Thomä: Vom Glück in der Moderne, Frankfurt a.M. 2003.

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Leseglück Glück als Gelingen, d.h. im Kontext der deutschen Schulphilosophie als Problemlösung einer Regeloptimierung ganz anderes meint als das gegenwärtiger Orientierung selbstverständlich scheinende persönliche Glück, das sich jederzeit einklagen lassen soll und vornehmlich als individuelle Angelegenheit missverstanden wird. Sozialhistorisch gesehen ist eine solche Glücksauffassung aber alles andere als selbstverständlich.28 Dem könnte man zwar unter einer fortschrittsoptimistischen Sicht von Geschichte noch entgegnen, dass ein erreichter Stand individueller Autonomie nicht der Reflexion auf seine historischen Vorstufen bedarf. Eine solche Geschichtssicht des Emanzipationszuwachses in der Moderne ist aber mehr als fraglich, in keinem Falle aber transzendental deduzierbar. Es ist nicht nur ratsam, sondern auch systematisch notwendig, sich nicht durch das zu beruhigen, was man gegenwärtig zu sein scheint: Die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Glücks ist die in der Aufklärung brisant gewordene Frage, wie der Mensch seine schlimme Geschichte zu einem dennoch guten Ende führen könnte. Diese Frage aber lässt sich nicht unabhängig von einer Betrachtung des Literatur- und Lesebegriffs und deren historischen Wurzeln lösen: Was erst am Ende des von Leibniz beschrittenen Weges in die Klassik und Romantik führt, die Einlösung der metaphysischen Welt als ästhetische zweite Welt, ist nicht mit dessen Anfang – Leibniz und die deutsche Schulphilosophie – gleichzusetzen. Die einst von Leibniz gegebene Definition von Glück als unendlichem Progress löst sich deshalb weder in Heines erster noch zweiter Welt ein, sondern weit eher in Kants Ästhetik als unendlichem Spiel der ästhetischen Ideen: »Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt. Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anders als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.«29

Dass es sich bei dieser Definition um eine Transformation der leibnizschen Glücksdefinition in die Ästhetik handelt, leuchtet dem Philosophiehistoriker ein, der über die Um- und Irrwege der deutschen

28 Dies betont auch die soziologische Analyse von Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft. 10. Aufl., Frankfurt a.M. 2005 und ders.: Ich-Jagd, Frankfurt a.M. 1999. 29 KdU § 49.

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Christian Sinn Schulphilosophie Bescheid weiß. Entscheidend ist anderes: Die Unterstellung eines Zusammenhangs zwischen Lesen und Glück wird im Unterschied zu Kants Ethik durch Kants Ästhetik nicht enttäuscht; wenn nämlich Lesen als eine aktive Kompetenz verstanden wird, die sich dem aussetzt, was Kant das Spiel nennt, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt. Als ein solches Spiel kann man Literatur ansehen und gerade Heine nimmt in seiner Kritik des Ästhetischen ästhetisch daran teil. Zusammenfassend postuliere ich als Fazit dieses Abschnittes analog zu den drei in Wright genannten Typen von Glücksidealen30 drei aufsteigende Leseideale: Ein epikureisches Lesen, das passiv auf individuelle Lust hin liest; ein asketisches Lesen, das im Hinblick auf ein Gleichgewicht von Begierde und Befriedigung liest und jene Texte als höher bewertet, die Begierden vermindern; dieses Lesen versteht Glück nur als Abwesenheit von Unglück und Lesen allenfalls als Mittel dazu. Das dritte Ideal aber, das ich auch meiner heterogenen Reihung von Foucault, Nussbaum, Nagel, Williams und Seel mitsamt der Erinnerung an die deutsche Schulphilosophie unterstelle, wäre die aktive Freude der Leserin, die das von Kant analysierte Spiel ästhetischer Ideen von der Rezeption in die Produktion überführt, die also das tun kann, was sie gern tut, was sie gut kann und die dies so vollkommen wie möglich tut. Eine solche Leserin wird nicht nur lesen, sondern auch schreiben. Dieser Skizze von Glück als aktivem Lese- und Schreibprozess ließe sich noch Philippa Foots gegenwärtiger Versuch einer objektiven Ethik zur Seite stellen, obwohl diese primär gar nicht an der Literatur und am Lesen interessiert ist.31 Eine mögliche Gemeinsamkeit besteht aber im Hinweis auf die aristotelische Tradition, die auch Wright voraussetzt: Glück als aktive Freude dessen, was man gut kann, impliziert eine objektive Grundlage, die die aristotelische Ethik durch ihr Ideal der Mitte (mesotes) anzugeben versucht. Zur Bestimmung der Mitte zwischen den Extremen bedarf es aber der möglichst objektiven Beschreibung von Situationen. Eben deren Darstellung wird in der Literatur als Darstellung von Darstellungen verhandelt, die sich wiederum durch die literarische Rhetorik beschreiben lassen. Die aristotelische Ethik ruht in dem Sinne auf der aristotelischen Rhetorik auf. Unabweisbar wird dieser Zusammenhang dann, wenn es um die aktive Freude geht, gut lesen zu kön30 Vgl. Georg Hendrik von Wright: The variety of Goodness, London 1963, S. 90-99. 31 Vgl. zu Foots ›objektivistischer‹ Neudeutung des aristotelischen Ideals der Mitte in Kontrast zu Nussbaum (Anm. 14) v.a. Philippa Foot: »Tugend und Glück«, in: dies.: Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1997, S. 214-225; dies.: »Glück und Wohl des Menschen«, in: dies.: Die Natur des Guten, Frankfurt a.M. 2004, S. 110-130.

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Leseglück nen, aber auch, wenn die Kompetenz erworben werden soll, sich nicht länger in passivem Genuss durch Medien missbrauchen zu lassen, sondern diese im Schreiben aktiv zu beherrschen.

III. Angesichts der von Theodor Nagel beschriebenen Fragmentierung des Guten wird nicht nur die Ethik dazu getrieben, in Teile zu zerfallen, die nicht mehr in einer Metaethik integriert werden können. Auch der einzelne Mensch, wenn er denn an der ethischen Frage »Was soll ich tun?« noch interessiert ist, wird unter Druck gesetzt. Denn die moderne Ethik versucht ihn durch dilemmatische und partikularistische Argumentationen mündig zu machen: Sie verweigert ihm bewusst eine Antwort auf seine ethische Frage. Ethik, unter dem Aspekt betrachtet, ist polemisch formuliert die Kunst, nicht selbst handeln zu wollen, indem man die Frage, was denn getan werden soll, jeweils dem Fragenden selbst zurückspiegelt. Das also wäre nach dem schon gegebenen Hinweis auf moralische Kontingenz ein zweites Argument für die Abschaffung der Ethik, das sich geschichtlich stützen lässt: Ethik als die unlegitimierbare Kunst, nicht selbst handeln zu wollen, präludierte historisch gesehen die prudentistische und moralistische Literatur. Das, wozu sich die Ethik erst Ende des 20. Jahrhunderts mühsam durchrang, bestimmte schon lange eine gewichtige Fraktion der Literaturgeschichte: Erasmus lässt in seinem Lob der Torheit (1509/11) die sich selbst lobende Torheit in eine ganze Vielzahl von Sprechrollen zerfallen, um sophistisch zu beweisen, dass diejenigen hochgradig närrisch sind, die glauben, das Glück des Menschen beruhe auf dem Wesen der Dinge selbst und nicht etwa auf den vielfältigen und närrischen, sich selbst affirmierenden Reden über das Glück. Innerhalb einer komplexen rhetorischen Schichtung, in der Leser den Überblick verlieren,32 beweist sich die Torheit im Text des Erasmus als äußerst klug und von der empirischen Narrheit grundsätzlich verschieden. Torheit heißt die Kunst, ständig ein anderes, neues Ich sein zu können. Die Torheit lässt sich darum als transzendental verstehen, denn sie ist die Bedingung der Möglichkeit, dass sich die Menschheit nicht als Gattung konstituiert, sondern in eine Pluralität atomisierter empirischer Individuen zerfällt, die allesamt auf der Jagd nach ihrem kleinen privaten Glück sind und in ihrer Konkurrenz unglücklich werden müssen.

32 Vgl. meinen Rekonstruktionsversuch in Christian Sinn: Dichten und Denken. Entwurf einer Grundlegung der Entdeckungslogik in den exakten und schönen Wissenschaften, Aachen 2001, S. 29-42, v.a. S. 39f.

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Christian Sinn Erasmus’ Konstruktion des sich selbst setzenden Subjekts der Torheit erlaubt diesem die fast beliebige Positionierung als Identität im Falle des Glücks und als Negation im Falle des Unglücks. Letzteres, so die Auffassung der Torheit, ist der Narrheit der empirischen Menschen geschuldet, während Glück sich als Leistung der gleichsam transzendental geltenden Torheit verstehen lässt. Torheit erscheint bei Erasmus als eine Transzendentalie, die ihr Recht, nichtempirisch zu sein, missbraucht: Sie verhindert den Konsens der Menschen, indem sie jeden Einzelnen in seiner empirischen Daseinsauffassung bestätigt. So erkennt jedes Ich in seiner Verblendung nicht mehr die List der Torheit, die sich von ihm distanziert, die Tatsache, dass es durch Torheit erst zu einem Ich gemacht wurde. Die Distanzierung der Torheit von der Narrheit der Menschen ist deshalb nicht töricht zu nennen; sie ist auf Erasmus bezogen ein prudentistischer Akt der Selbstermächtigung, der auf der Selbstsuggestion beruht, der Empirie nicht anzugehören. Im Unterschied zur prudentistischen versteht die moralistische Literatur den faktischen Menschen so sehr als Täter der Geschichte, dass sie das Glück nur noch in einer möglichst desillusionierten Sicht auf diese Geschichte sehen kann. Sie entlastet den Menschen also nicht von seiner ständig neu zu bewältigenden Aufgabe, sich im Hier und Jetzt als Identität zu konstituieren. Als Beispiel ist Nicolas Chamfort interessant, weil dieser bereits am Anfang einer großen Tradition der Aphoristik gegen diese selbst anschreibt. Und deshalb schreibt er auch philosophische Texte, die ihre eigene Schriftlichkeit negieren, denn in der gleichsam kulinarischen Rezeption von Aphorismen als erbaulicher Zitatenquelle und Lebenshilfe geht genau die Philosophie der Revolution verloren, in der Chamfort allenfalls das Glück des Menschen noch sieht.33 Es entspricht der List seiner Vernunft, das Glück des mündig werdenden, d.h. möglichst illusionsfreien Menschen durch Texte zu befördern, die das gerade Gegenteil transzendentaler Reflexion sind, nämlich rein historische Anekdoten, die zunächst leicht verdaulich scheinen, die aber die Rezeption auf ihre eigene Historizität rückverweisen.34 33 Nichts freute daher Chamfort mehr als die Tatsache, dass auch die neuesten Ausgaben und Übersetzungen seiner Texte mittlerweile vergriffen waren, vgl. auch Samuel Becketts Long after Chamfort. Nicolas Chamfort: Ein Wald voller Diebe. Maximen, Charaktere, Anekdoten, Nördlingen 1987, S. 10-48 (Allgemeine Maximen und Fortsetzung). 34 Das harmlose »Wie viele vornehme Kriegsleute, wie viele Offiziere sind gefallen, ohne ihren Namen der Nachwelt zu überliefern« (N. Chamfort: Ein Wald voller Diebe, S. 20) erhält seine Brisanz erst im Kontext der über tausend Aphorismen Chamforts, die jenen einen durch so viele Belege untermauern, dass dem frömmsten Leser klar wird, dass auch er beim Lesen längst zum Teil des namenlosen Unglücks geworden ist. Glück zeigt sich

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Leseglück Im Medium des Historischen verrätselt und poetisiert Chamfort die Gattung Aphorismus, um gegenüber der Schreckensherrschaft Robespierres die Illusionen seiner Gegenwart zu reflektieren. Und es wäre eine Illusion, der Illusion entkommen zu können, darin ist sich Chamfort mit Erasmus einig, doch tritt nun folgende bemerkenswerte Asymmetrie ein: Die prudentistische Position plädiert im eigenen Interesse an Multioptionalität für die Perennierung der illusionsbestimmten Welt, während die moralistische aus dem Interesse an Glück, das seinen Namen nur dann verdient, wenn es wahr, d.h. wirklich ist, Desillusionierung anstrebt. Doch der hier typologisch zugespitzte und historisch nicht haltbare Unterschied zwischen prudentistischer und moralistischer Literatur wird minimal, wenn man bedenkt, dass Erasmus seine Leser natürlich nicht ernsthaft dazu auffordert, in der Illusion zu leben, und Chamfort entgegengesetzt durchaus dazu bereit ist, unter bestimmten Bedingungen das schlimme Spiel der Welt mitzuspielen. Nicht zuletzt sind beide Literaturen dadurch aufeinander bezogen, dass sie ihren Lesern eigentlich Unverdauliches als Genuss anbieten. Diese Kontaminationsmöglichkeit von prudentistischer und moralistischer Literatur kulminiert im Bereich der neueren deutschen Literatur in Goethe, der Glück als literarische Fiktion genussreicher Selbstregierungskunst entwirft.35 Eine fast sadistisch zu nennende Lust erzeugt Goethe sich und seinen Lesern anhand des Prozesses, in dem Wilhelm Meister endlich zum Täter der eigenen Lebensgeschichte wird. Systematisch wesentlicher scheint jedoch zu sein, dass Goethes Text die Bedeutungsvielfalt von Glück in mindestens vierfacher Hinsicht differenziert. Da ist erstens der schon bekannte aristotelische Glücksbegriff, Glück entspringe dem angeborenen Talent, das tun zu dürfen, was man gut tun kann. Bereits der junge Wilhelm kennt »kein grösser Glück«, als Schauspiele zu lesen, zu schreiben und zu spielen, und gegenüber Werner wird das dichterische Talent als die köstlichste Begabung gerühmt.36 Dieses Glück des Dichters besteht darin, zwar tätig sein zu dürfen, es aber noch nicht sein zu müssen. Da ist zudem zweitens das Glück durch die hier nur als Desillusion und Prozessdenken: das eigene Unglück bereits im Auge gehabt zu haben. 35 Vgl. hierzu die erhellenden Habilitationsschrift von Ulrich Kinzel: Ethische Projekte. Literatur und Selbstgestaltung im Kontext des Regierungsdenkens. Humboldt, Goethe, Stifter, Raabe, Frankfurt a.M. 2000, S. 145-344 sowie v.a. S. 193-272. 36 Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 18, Stuttgart u.a. 1830, S. 42. Vgl. dazu außerdem Katrin Seele: Goethes poetische Poetik. Über die Bedeutung der Dichtkunst in den Leiden des jungen Werther, im Torquato Tasso und in Wilhelm Meisters Lehrjahren, Würzburg 2004, S. 82.

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Christian Sinn Kunst selbst, das noch der Großvater Wilhelms genießt, der »seine höchste Glückseligkeit«37 in eine Kunstsammlung setzt, bevor sie durch den Vater veräußert wird.38 Dieses Glück ist mehr ›platonisch‹ und besteht im Schauen des Schönen. Die Turmgesellschaft hält zwar eine solche Glückseligkeit für höchst unnützlich, da sie nur dem Solipsismus des Einzelnen dient, aber wie steht es mit ihrem eigenen Utilitarismus, dem dritten Aspekt, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen? Der Saal der Vergangenheit dieser merkwürdigen Gesellschaft potenziert nicht nur das von ihr zuvor kritisierte ästhetische Glück dadurch, dass sich Wilhelm in ihm durch die vollkommene Wirkung der Kunst selbst glücklich findet. Der Erzähler sieht sich genötigt, dies Glück, das man im Sehen gerade nicht sehen kann, durch die Selbstbeschreibung des Unbeschreibbaren vor des Lesers Augen dennoch zu beschwören: »Und gewiß, könnten wir beschreiben, wie glücklich alles eingetheilt war, wie an Ort und Stelle durch Verbindung oder Gegensatz, durch Einfärbigkeit oder Buntheit, alles bestimmt, so und nicht anders erschien als es erscheinen sollte, und eine so vollkommene als deutliche Wirkung hervorbrachte, so würden wir den Leser an einen Ort versetzen, von dem er sich so bald nicht zu entfernen wünschte.«39

Das am Ende beschworene ästhetische Glück aber ist gerade nicht jenes moralisch-utilitaristische, welches die Turmgesellschaft ursprünglich als wirklich gefordert hatte: ausführen zu können, was wir nicht nur gut tun können, sondern als recht und gut anerkannt haben, das Glück der wohl zugebrachten Zeit, »daß wir wirklich Herren über die Mittel zu unseren Zwecken sind«.40 Das höchste Glück aber, so scheint es Goethes Text mit seinem letzten Satz jedenfalls zu insinuieren, ist das der Liebe, das zumindest Wilhelm »mit nichts in der Welt vertauschen«41 will. Das aber

37 J. W. Goethe: Goethes Werke, Bd. 19, S. 145 (V, 2). Der Ausdruck »höchste Glückseligkeit« verdankt sich der mittelalterlichen Theologie, welche die beatitudo als visio dei bestimmte. Vgl. etwa Klopstocks literarische Neuund Fortschreibung dieser Tradition in Der Selige (1798). 38 Vgl. Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Übers. v. Holger Fliessbach. Bd. 2, München 1999, S. 292-315 sowie Hellmut Ammerlahn: Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Struktur, Symbolik, Poetologie, Würzburg 2003. Ammerlahn arbeitet detailliert über die zuvor weitgehend unbeachtet gebliebene Funktion der Kunstsammlung. 39 J. W. Goethe: Goethes Werke, Bd. 20, S. 200 (VIII, 5). 40 Ebd., S. 55 (VII, 6). 41 Ebd., S. 308 (VIII, 10).

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Leseglück ist selbst eine merkwürdige Vertauschung, die kaum auflösbare Paradoxien des Glücks erzeugt: Einerseits ist das Glück der Liebe, das sich am Ende findet, bereits zu Anfang gegeben,42 und zudem entpuppt sich das wirkliche Glück der Turmgesellschaft als das von ihr kritisierte ästhetische. Andererseits steht der Dichter Wilhelm am Ende seines Lernprozesses vor dem Problem, dass die Dichtung nicht mehr die Basis des Glücks ist. So muss er sich drei andere Fundierungen erzeugen, um mit diesen ein Glück diesseits der Dichtung zu erlangen, das von Goethe gleichwohl aber innerhalb einer Dichtung mit dichterischen Mitteln dargestellt wird. Der Verlust des Glücks als unmittelbare dichterische Naivität wird vorläufig ersetzt durch die Basis klassischer Vergangenheit der vom Großvater gesammelten Kunstwerke, dann durch ein ethisch bewusst geführtes Lebens nach dem Muster der Turmgesellschaft, schließlich durch die Basis einer unverwechselbaren Liebe. Diese Substitutionslogik des Textes ist nicht kohärent, sondern von den skizzierten Paradoxien durchkreuzt; sie verfährt strukturell analog zur transzendentalen Torheit des Erasmus, indem sie keine Identität ausbildet, sondern sich ihrer selbst durch jenen Wechsel des Glücks versichert, dessen Kontingenzen die Turmgesellschaft hilflos zu steuern versucht.43 Das Glück aber geht seine eigenen Wege und definiert sich durch den Wechsel seiner Vielfalt wie zuvor die sich selbst lobende Torheit. Die Lesart ist darum nicht abwegig, Goethe verberge hinter diesem Wechsel gerade jene Karten, deren Einsatz Dichtung und Wahrheit zum biographischen Ausweis eines glücklich geführten Lebens werden ließ. Und weiter lässt sich daher das Lesen als Glück verstehen – überhaupt über Karten zu verfügen, die im Spiel der blinden fortuna risikolos ausgespielt werden können. Zu diesem prudentistischen Spiel Goethes mit sich und dem Leser gehört auch das Paradoxon einer scheinbar zunehmenden Temperierung ästhetischer Wirkung bei deren gleichzeitiger Suspension zugunsten der Verkündigung vermeintlich erhabenster Weisheit, wie sie die Rezeption der Wanderjahre bestimmte und ins Biographische zu übersetzen versuchte. Denn, so jene biographische Rezeption, um handlungsfähig zu bleiben, müsse die eigene Identität zugunsten der faktischen Kondition zurückgenommen werden, und dies sei Goethes Antwort auf die subjektivistische Romantik, die in ihrer Ablehnung der objekti42 So wird vor dem Hintergrund von Wilhelms Selbsteinschätzung anfänglich dessen Glück der Liebe mehrfach betont, vgl. J. W. Goethe: Goethes Werke, Bd. 19, S. 6 (I, 1) und S. 12 (I, 3). 43 Vgl. zum allgemeinen Kontext Erich Kleinschmidt: »Fällige Zufälle. Spiele der (Un)Ordnung in der Literatur um 1800«, in: Thorsten Hahn u.a. (Hg.): Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment (17501830), Würzburg 2004, S. 147-166.

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Christian Sinn ven Wirklichkeit ihr Glück zu verlieren drohe. Demnach bestünde der Glücksbegriff Goethes gerade in der Unlust über das einst genossene Glück: »Angelegenheiten […] die des Menschen Geist, Gemüt, Herz, und wie man das alles nennt, betreffen und sich darauf beziehen [...] was hast du dabei für dich und andere gewonnen?«44 In der Antwort auf diese in den Wanderjahren durch Wilhelm bitter gestellte Frage scheint sich die transzendentale Struktur des Glücks aufs Empirische reduzieren zu lassen: »Im Durchschnitt sind daher die Menschen am glücklichsten, die ein angebornes, ein Familientalent im häuslichen Kreise auszubilden Gelegenheit finden«.45 Das anfängliche Talent des Dichters ist, so scheint es zumindest, am Ende zum Talent des Familienvaters geworden.46 In jenem Wechsel wird jedoch die geradezu intrigante Fertigkeit Goethes deutlich, das alte transzendentale Spiel der Torheit, je etwas anderes und damit glücklich zu sein, neu fortzuspielen, indem er die Literatur als Hindernis des Glücks häuslicher Behaglichkeit ausgibt: Findet etwa der Major in Der Mann von fünfzig Jahren sein Leben in seinem Jagdgedicht nicht recht wieder, weil er nicht dieses beschrieb, sondern Horaz imitierte, so wird Literatur als vergangenheitsfixierte, letztlich unnötige Angelegenheit kenntlich. Nähme man solche Kritik der Literatur ernst, schiene darin Goethe seine Täterrolle eines Dichters, der einmal glücklich war, dadurch von sich zu weisen, indem er sie in der Opferperspektive unglücklicher Dichter darstellte. Tatsächlich aber greift die primär der Rezeption geschuldete Auffassung zu kurz, Goethe habe an seiner statt Stellvertreter wie Wilhelm, den Major und andere arme Hunde als Dichter gesetzt, die sich schließlich von der Dichtung emanzipierten. Goethes Abkehr vom alten Bildungsideal und seine Inthronisation des Handwerkers als dem eigentlich glücklichen Menschen, der Verzicht auf die Vielseitigkeit von Bildung, Glück als Entsagung, all dies steht im Kontext einer traditionellen, paternalistischen Selbstregierungskunst, wie sie das 17. Jahrhundert kannte und prakti-

44 J. W. Goethe: Goethes Werke, Bd. 22, S. 210 (II, 12). 45 J. W. Goethe: Goethes Werke, Bd. 20, S. 192 (II, 12). 46 Vgl. Gerda Röder: Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman. Eine Studie zu Goethes Wilhelm Meister, München 1968, S.161f. Vgl. dagegen die Argumentation von Volker Zumbrink: Metamorphosen des kranken Königssohns. Die Shakespeare-Rezeption in Goethes Romanen »Wilhelm Meisters theatralische Sendung« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, Diss. Münster 1995, Berlin 1997, S. 35, der zu Recht darauf hinweist, dass Wilhelms Sprechen über das Glück nicht mit dessen Realisierung zu verwechseln sei. Welche katastrophalen Auswirkungen Wilhelms Glück in der Binnenhandlung für andere hat, belegt Jochen Hörisch: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt a.M. 1983, v.a. S. 32.

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Leseglück zierte: Goethe sorgt für das Glück der Nicht-Dichter, indem ihnen der Verzicht auf Dichtung als Verzicht gar nicht bewusst wird. Doch die ihm zugeschriebene These, das Glück der Gesellschaft existiere nur, wenn es den Dichter nicht mehr gibt, wird wiederum von ihm, dem äußerst vielseitig regen Dichter inszeniert. Goethes Rede vom Glück, das nicht in dichterischer Illusion, sondern in der Wahrheit bestehen soll, ist sein Alibi, dichten zu dürfen. Jedoch thematisiert im Unterschied zu Erasmus und Chamfort Goethe die Schriftlichkeit des Glücksbegriffs explizit und kommt damit einen für die Moderne entscheidenden Schritt voran: Scheint sich bei diesen Autoren das Glück außerhalb der Schrift finden zu lassen, ist es bei Goethe paradoxerweise Objekt und Subjekt der Darstellung zugleich, eine Zumutung, die das zeitgenössische Publikum derart überforderte, dass Goethe nicht zuletzt deshalb auf Darstellungen häuslichen Glücks zurückgreifen müsste, wie sie die damalige Trivialliteratur bereit hielt. So trivial es selbst klingt: Nach Goethe sind kaum noch Steigerungen im Zusammenhang von Lesen und Glück denkbar. Glück nicht als Inhalt, sondern als Prozess der Produktion und Rezeption von Literatur sei indes noch an Jean Paul, Nietzsche, Raabe und Robert Walser kurz belegt, um die Bedeutungsvielfalt und Paradoxien im goetheschen Kontinuum von Glück und Lesen besser analysieren zu können. In Jean Pauls Satire Leben Fibels erschreibt sich der Protagonist Fibel wortwörtlich sein Glück, indem er die Fibel, das ABC-Buch der Kinder zum zweiten Mal neu erfindet. So satirisch auch Jean Pauls Darstellung Fibels ist, so sehr teilt er mit Goethe und seinem eigenen Fibel die Einsicht, dass das Glück des Menschen nicht außerhalb seiner selbst liege und in der jeweiligen Kompetenz des Schreibens und Lesens gründe. Nicht, ob das Schreiben und Lesen glücklich macht, ist hier die Frage, sondern schreiben und lesen, um nicht unglücklich zu werden, ist die Devise angesichts der Erfahrung, dass Gott oder die Natur sich von menschlichen Klagen unbeeindruckt zeigen. Diese Erfahrung verweist den Menschen einerseits auf sich selbst und seine Aktivität zurück. Andererseits meint Jean Paul im Gegensatz zu Goethe nicht, das Glück der Menschen bestehe angesichts der schmerzensreichen Moderne in der Rückwendung auf einen Urtext, den Dichter und Philologen gleichsam als neue Wundärzte in der Nachfolge Wilhelm Meisters wiederherstellen könnten. Um im Bild zu bleiben: Bei Jean Paul, der vordergründig gern in den Verbandskasten der Trivialliteratur greift, gibt es nur noch offene Wunden. So schlagen die Versuche seines Helden Fibel fehl, die Natur als Hieroglyphenschrift zu lesen und als Ursprache Gottes zu entziffern. Nicht umsonst steht diese literarische Darstellung Jean Pauls auch im theologischen Kontext des Verrats. Denn Fibel gewinnt sein Glück des Schreibens

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Christian Sinn in einem Traum, in dem der Hahnenschrei, welcher den Verrat des Petrus bezeugte, zugleich die Geburtsstunde des Dichters Fibel ist, der Gott verabschiedet hat. Was diese Verabschiedung nun auch bedeuten mag, die Schrift und mit ihr das Glück gründet jedenfalls nicht mehr in Gott, ein Irrweg, wie der alte Fibel meint, der aber bezeichnenderweise nicht sterben kann, denn er ist, obwohl er selbst nicht mehr schreibt und liest, zur Personifikation der Schrift als sich ins Unendliche fortschreibender Prozess geworden. Der Mensch als Buch gerät nicht mehr mit einem Glück, das ihm vorenthalten wird, sondern mit sich selbst in Konflikt. Für den Verlust des Glücks steht nun auch nicht mehr die goetheanische Therapie der Entsagung des Ästhetischen zur Verfügung, der Mensch als Buch im Buch Jean Pauls ist vielmehr dazu verdammt, in den Netzen der Schrift sein Glück finden zu müssen. Es handelt sich um ein merkwürdiges Glück, da es ihm nie verloren gehen kann; die Schrift ist hier zwar nicht als Produkt, doch als medienimmanente Produktion synonym mit dem Glück selbst, da als Konsequenz der Aufklärung ein transzendentes Glück die Autonomie des Menschen gefährdet. Wie das Leben Fibels aber hinlänglich deutlich macht, sind die möglichen Folgekosten des Zwangs zur medialen Verinnerlichung äußerst hoch, im besten Falle gelingt hier aber immerhin die Einsicht des Erasmus in die Ubiquität menschlicher Narrheit als ein Lachen-Können über sich selbst angesichts der selbstverschuldeten Zeichenkontingenz und des Wissens, dass Glück nur in dessen Rhetorizität gründet. Im schlechtesten Fall führt jene Einsicht zum Wahnsinn: Die Gefährdung des Subjekts verstärkt sich zunehmend durch Nietzsches Erkenntnis und Anerkenntnis, dass, was bei Jean Paul noch Eigentum des Schreibenden zu sein scheint, der Eigendynamik des Mediums unterliegt. Der Primat der Schrift führt zu einem neuen Konflikt: »wie das Buch, sobald es sich von ihm [dem Autor; C.S.] gelöst hat, ein eigenes Leben für sich selbst weiterlebt, [...] sich seine Leser sucht, entzündet, beglückt«,47 schreibt Nietzsche dazu im vierten Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches. Insofern macht der Mensch nicht sein Glück durch das Schreiben, das Buch sucht sich seine Leser und kann sie beglücken. Dies Glück wird statt unter selbstgewählten unter medialen Bedingungen gemacht, die in Konflikt mit der These Chamforts, Jean Pauls und anderer Aufklärer gerät, das sich durch Schreiben selbst setzende Subjekt sei bei aller Narrheit der eigentliche Agent der Revolution. Die Gefährdung dieser revolutionären Sicht ist freilich, dass sie mit dem

47 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Bd. 2. Menschliches, Allzumenschliches I/II, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montanari, Tübingen 1988, S. 171.

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Leseglück unter den Kriterien der Wahrheit und Desillusion begriffenen Glück andere zu beglücken versucht und sei es mit Gewalt, Chamfort hatte dies am eigenen Leibe erfahren müssen. Sicherlich trifft weder ihn noch Jean Paul der Vorwurf, Vorkämpfer einer glücklicheren Zukunft auf Kosten anderer qua besserer Einsicht sein zu wollen. Aber in theoretischer Perspektive stellt sich ein Problem, dessen Lösung Nietzsche bereithält, auch wenn er dadurch nur ein neues Problem erzeugt. Denn systematisch gesehen verweist Nietzsche auf die Problematik von Erasmus zurück: Was, wenn die Wahrheitsfrage obsolet wäre? Wie steht es dann mit dem Glück des Menschen, zudem angesichts einer Unverfügbarkeit der Schrift? Bereits Jean Paul verwies auf dieses Problem anhand der Darstellung Fibels. Während aber hier der Schreibende immer auch der Verantwortliche seines Scheiterns und Gelingens ist, bleibt bei Nietzsche unklar, ob er wie Goethe ein Alibi erfindet, aus solcher Verantwortung entlassen zu werden, oder ob jegliches Übel von vornherein keines, sondern immer ein Glück ist, weil die Schrift eben gerade nicht Signum des Menschen, sondern sein Anderes ist, das ihn zur erleichternden Einsicht führt, dass man zwar selbst schreiben wollte, dass es aber das Medium der Schrift war. Mithin sind nicht nur die moralischen Fragen, sondern auch das Glück als Effekte der Schrift zu begreifen; der Mensch ist exkulpiert, nicht mehr Herr seines Glücks und doch darauf angewiesen, sich und sein Glück ständig neu zu erschaffen, mit Mitteln, die sich anders als zuvor der Autonomie des Menschen entziehen. Dieser Zwang, auf sich selbst verwiesen zu sein, aber nicht über das Glück als eigene Leistung verfügen zu können, verstärkt sich in der Diagnose Wilhelm Raabes.48 Wo nicht mehr Gott oder die Natur das Glück verhindern oder begünstigen und dennoch nicht darüber verfügt werden kann, da müssen es die anderen, nicht-lieben Mitmenschen sein, die als Differenz in der anthropologischen Immanenz zu Feinden oder Freunden werden. Eduard, Erzähler in Stopfkuchen hat extremen Gegnerbedarf; sein alter Freund Stopfkuchen zwingt ihn zum Schreiben mit der Begründung: »Es liegt mir daran, gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen oder darzutun, daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf«,49 so der Eingangssatz. Aber gerade der Beweis misslingt und mit ihm scheitert der Versuch Eduards, sein Glück in der Differenz zum ungebildeten Stopfkuchen in der Schrift zu gründen. 48 Zur Raabe-Forschung vgl. meinen Beitrag: »Schiffbau mit Zuschauer. Dekonstruktion einer Daseinsmetapher in Wilhelm Raabes ›Die schwarze Galeere‹ (1861)«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2006, S. 17- 49. 49 Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. 20 Bände, 5 Ergänzungsbände. Braunschweiger Ausgabe. Bd. 18. Stopfkuchen. Gutmanns Reisen, hg. v. Karl Hoppe u.a. 2. durchg. Aufl., Göttingen 1969, S. 7.

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Christian Sinn In dem Rechenschaftsbegriff Eduards wird die bisher skizzierte Bedeutungsvielfalt von Glück in ihrer ganzen Breite deutlich; nicht unwesentlich sind hier die auf Goethe anspielenden Zitationen des häuslichen Glücks, das Stopfkuchen und seine Frau genießen, das aber fraglich scheint. Indes zeigt sich an Raabes Text nicht nur die Darstellung von Glück, sondern das bis jetzt noch nicht genannte Glück in der Dekonstruktion des Textes. Der unvermeidlich wirkende Zwang, aus der Einsicht in die Unwiederbringlichkeit des verlorenen Urtextes den theologischen Schriftbegriff verabschieden zu müssen, führt zur Immanenz eines säkularen Schreibens, das zwar Autonomieansprüche erzeugt, aber nicht notwendig befriedigt, sondern vielmehr die Heteronomie des Menschen belegt: Die schlimme Welt ist nicht zur glücklichen zu machen. Diese Unvermeidlichkeit führt Raabe im scharfen Kontrast zu den bisherigen Autoren, noch schärfer als Nietzsche selbst zu dem Gebet: »Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute«.50 Was vorderhand blasphemisch klingen könnte oder von der Ignoranz Raabes gegenüber der Wahrheit als Fundament des Glücks zu zeugen scheint, entspringt jedoch dem nüchternen Eingeständnis, kein Gott zu sein, der über jene Wahrheit verfügt, die uns wirklich glücklich machte. Am Beispiel des Glücks erprobt Raabe die Grenzen des literarischen Realismus. Eduard schreibt wohlbehütet im Bauch eines Schiffes. Jedoch gerät sein Unternehmen der Glückssicherung gegenüber dem als Bedrohung erfahrenen Stopfkuchen dann in Gefahr, als er den Schiffsbauch verlassen und an Deck gehen muss. Er trifft auf den Kapitän, der skeptisch gegenüber dem Schreibenden ist, weil er wie Stopfkuchen zu wissen meint, dass das Glück, was es auch sein möge, in jedem Falle außerhalb der Schrift liegt. Die Differenz von Schrift und Nicht-Schrift wird nun zwar wie bei Goethe wiederum innerhalb der Schrift und mit ihren Mitteln erzeugt, zugleich aber erweitert sie den Begriff vom Glück des Schreibens und Lesens entscheidend und in selbstreflexiver Richtung. Der Kapitän lässt nämlich bereits zum zweiten Mal seinen Kindern zuliebe einen Haifisch fangen, »aus dessen Bauche sich aber gottlob diesmal nichts dem Menschen allzu Greuliches entwickelt. Das Vieh hat, naturgeschichtlich ausnahmsweise, keinen Menschen gefressen, hat kein halb verdautes Matrosenbein oder keine, noch auf ein Brett gebundene Kinderleiche in sich.«51 Eduards Unterbrechung des eigenen Schreibens dient metatextuell Raabe zur poetologischen Selbstreflexion angesichts der Grenzen des Realismus.

50 Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. 20 Bände, 5 Ergänzungsbände. Braunschweiger Ausgabe. Bd. 12. Frau Salome. Die Innerste. Vom alten Proteus. Horacker, Göttingen 1969, S. 239. 51 W. Raabe: Stopfkuchen, S. 146.

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Leseglück Im Bauch des Haifischs, der alles verschlingt, findet sich, was für den deutschen Realismus unverdaulich ist, auch die aggressive Feststellung, wie sehr die Menschen weder autonom noch glücklich geworden sind. Der Bauch des Haifischs steht für einen Literaturbegriff, dem poetische Verklärung fremd ist. Damit aber wird Raabes Text selbst im Übergang von der See- zur Mordgeschichte, so der Untertitel, heteronom. Er ersetzt den revolutionären Aspekt des Schreibens als sich selbst setzendes, aber auf setzungsfreier Wahrheit beruhendes Glück durch die Ausbalancierung zweier Schreibweisen, die sich gegenseitig der Illusion bezichtigen, ohne sich darum selbst verifizieren zu können. Wie für Eduard der Haifisch, ist Eduard für den Kapitän das »einzige Merkwürdige«52 auf dieser Seefahrt; auf die Nachfrage, was er denn die ganze Zeit geschrieben habe, antwortet Eduard: »Es würde sie wirklich wenig interessieren, Kapitän. Die reine Privatsache! sagte ich und klappte das Manuskript zu.«53 Mit diesem Satz aber wird nicht nur der misslungene Beweis Eduards, sich zu den Gebildeten zählen zu dürfen, sondern auch das Glück zu einer reinen Privatsache. Wenn jene Beschreibung zutrifft, macht Lesen im Falle Raabes durch das Paradox glücklich, dass die Autonomie des Lesers gerade durch das Verbot befördert wird, das Glück in einem Text, auch dem, den der Leser gerade liest, finden zu wollen. Darauf verweist ebenso die biblische Überschrift über der Tür Stopfkuchens: »in großen, weißen Lettern [stand] auf schwarzem Grunde angemalt, zu lesen: Da redete Gott mit Noah und sprach: ›Gehe aus dem Kasten!‹«54. Raabe spielt nicht nur auf das Kästchenmotiv in Goethes Wanderjahren an, die umgekehrte Differenz von weiß und schwarz als Bedingung der Möglichkeit des Lesens bestimmt auch die Heteronomie des raabeschen Textes als See- und Mordgeschichte, die sich in ihrer Binnendifferenz lesen lässt. Lesen macht glücklich, wenn aus dem Kasten herausgegangen wird, weniger metaphorisch: Raabes Texte machen durch ihre Selbstdekonstruktion Leserinnen darauf aufmerksam, dass deren eigenes mögliches Glück nicht im Text, sondern in ihnen, den Leserinnen selbst liegt.55 52 W. Raabe: Stopfkuchen, S. 208. 53 Ebd., S. 207. 54 Ebd., S. 75; vgl. auch ebd., S. 114 als explizite, negative Markierung, weiß auf schwarz: »Sie haben wohl gelesen, was er über unsere Haustür geschrieben hat: Gehe heraus aus dem Kasten. Das ist eigentlich dummes Zeug; denn das hat auf uns hier gar keine Beziehung. Ich habe darüber die Bücher Mose nachgelesen«. 55 Vgl. z.B. W. Raabe: Gutmanns Reisen, S. 214: »Um die Ecke aber führte, was in Hermann und Dorothea noch nicht möglich war, der Weg nach dem Bahnhof. Hiermit endet also jegliche Ähnlichkeit, und wir bleiben im neunzehnten Jahrhundert und in unserer Geschichte bis zum Ende, wo ein ge-

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Christian Sinn Doch ob solches Glück in uns sich findet, daran bestehen spätestens seit Robert Walsers Analyse berechtigte Zweifel. Raabes Dekonstruktionen sind nicht die letzte Antwort auf die Frage des Glücks, ist doch jenes Ausmaß des Unglücks im Leser selbst bisher noch gar nicht recht erkannt, auf das uns Walser verweist. Walsers Erzählerkommentare unterlaufen nicht nur die Identifikation mit Trivialliteratur,56 seine Texte zitieren oft ein triviales Glück, das sich erst im Verlauf der Zitation gegen sich selbst wendet: »Zu Frau Kappeler sprach in hellstem Morgenlicht Frau Rese, indem sie ihr ein blühend schönes Mädchen vorstellte: ›Dies ist eine Waise. Sieht sie nicht ganz danach aus? Sie heißt Marie, und sie wird ein Kind bekommen, bevor sie sich wird verheiratet haben können …!‹«57 Das Klischee von der Waise, zudem als blühend schönes Mädchen wird durch ein negiertes Futur II irrealis durchbrochen, in dem das Klischee ebenso fragwürdig wird wie in dem Kommentar: »Sicheres wissen wir nicht; wir hoffen es bloß, und in der Hoffnung, daß sich die Dinge so zugetragen hätten, indem alles hübsch klappte.«58 Walser präsentiert uns Menschen, die sich ihr Leben lang romantisch vorkommen, weil sie weniger die falschen Bücher als falsch gelesen haben. Es wäre jedoch zu schnell geurteilt, Walser kritisiere die Trivialliteratur. Wie Raabe geht er ganz unzeitgemäß von der Untrennbarkeit von Trivial- und Höhenkammliteratur aus. Nicht trivial und beinahe tödlich traurig ist jedenfalls Walsers Erkenntnis, wir könnten uns vielleicht schon immer und unentrinnbar in jener Trivialität befinden, von der wir uns so leicht zu distanzieren können meinen. Denn, so Walser, nicht die Trivialliteratur ist das Problem, sondern unsere eigene Sprache: »Nun könnte

wisses Plagiat wiederum nicht zu verkennen sein wird. Nämlich der junge Mensch in unserem idyllisch-politischen Epos, in unserer Geschichtserzählung kriegt sein Mädchen ebenfalls und wird so glücklich damit als möglich. – ›Was geht mich das an, daß um die Apotheke der Weg nach dem Bahnhof führt?‹ darf der Leser fragen. Kühl und mit einem kleinen Ausdruck des Selbstbewusstseins antwortet der Geschichtenberichter und Geschichteberichtiger: ›Sehr viel!‹« etc. etc. Raabe verweist ständig auf eine ungebrochene Tradition der Trivialliteratur vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, in der noch Goethes Texte neu lesbar werden. 56 Wichtig für diesen Kontext der intertextuellen Referenzen Walsers zur Trivialliteratur ist die textorientierte Arbeit Hübners, die zu Recht auf den parodistischen Charakter der Texte Walsers hinweist, vgl. Andrea Hübner: »Ei, welcher Unsinn liegt im Sinn?«. Robert Walsers Umgang mit Märchen und Trivialliteratur, Tübingen 1995. 57 Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1924/25. 2 Bde. Bd. 1, hg. v. Bernhard Echte u. Werner Morlang, Frankfurt a.M. 1985, S. 121. 58 Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. 20 Bde. Bd. XIX, hg. v. Jochen Greven, Frankfurt a.M. 1986, S. 390.

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Leseglück ich eine neue Runde von Person zu Person tun, jede irgendetwas Neues sagen lassen, das doch alt ist. Sie wiederholen sich nämlich in einem fort … Soll man reden oder schweigen?«59 Im Kampf mit der Sprache gegen die Sprache studiert Walser die triviale Literatur genauestens, um »unmittelbar darauf und zweitens aus dem Gelesenen eine eigene Erzählung, d.h. irgendwelches Possierliches, Witziges, Selbstisches, Vergnügtes, Tändelndes herauszuholen, über welchen Umstand, der ein literarisches Kuriosum gebildet haben mag und gewesen sein dürfte, ich zweifellos nähere Auskunft schuldig zu sein scheine; denn die Sache mit dem Herauszupfen, Hervorrupfen von Schreibanlässlichkeit aus einem fremden Erzeugnis, wie ich sie zu meinem lebhaftesten Leidwesen zeitweise betrieben habe, hat, wie ich vermuten darf, Aufsehen hervorgerufen.«60

An Walsers »lebhafteste[m] Leidwesen« kann man seine Zweifel haben, denn er hat sein »Herauszupfen« und »Hervorrupfen« weit mehr als ein Jahr betrieben und es scheint daher mehr als fair gegenüber dem Autor zu sein, wenn ich Folgendes noch zum Schluss aus ihm selbst herauszupfe und hervorrupfe: »und nun wird der Leser erraten haben, daß ich meine Geschichte aus Schillers Kabale und Liebe zog«61. Die Selbstunterbrechung des Erzählers bei Walser kritisiert weniger die Trivialliteratur, sie macht Höhenkammliteratur wie Schillers Kabale und Liebe neu lesbar als Trivialliteratur und das gilt vor allem von dem Text, den Walser immer wieder verfremdend nacherzählt, Schillers Räuber. In der konkreten Textanalyse kann noch immer jeder Literaturwissenschaftler von Walser lernen, der parodistisch auf konkrete Erzählweisen eingeht, um diese dann zu distanzieren: »Worauf diese mit ihrer Beute abzog, um zu --sterben? Leider ja, wenn auch nicht eher, bevor folgendes erzählt worden ist«62 oder »O wie sie vernichtend dastand, wie sie mit ausgestrecktem Finger auf Maries Bett wies, und wie er mit dem aus ihm hervorbrechenden Ausruf ›Ich bete dich an!‹ am Rand niederkniete, obgleich allerdings eher umfiel«63. Die betreffenden Kontexte müssen hier gar nicht bekannt sein: Allein die geradezu geniale sprachliche Verrenkung »obgleich allerdings« verunmöglicht die Flucht in falsches Glück, wenn mit dem Liebhaber der Leser des zunächst perfekt klischierten Satz dann genauso ins Paradox fällt wie jener Erzähler, der triviale Frauenromane nacherzählt:

59 60 61 62 63

R. Walser: Sämtliche Werke, Bd. XVII, S. 322. R. Walser: Sämtliche Werke, Bd. XVIII, S. 75f. R. Walser: Sämtliche Werke, Bd. XX, S. 321. R. Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, S. 123. Ebd., S. 124.

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Christian Sinn »Die Frau, die einen Bücherstand unter den Lauben hält, und bei der ich das Philippine Welserbuch kaufte, fragte mich gestern, ob ich nicht irgend etwas begehre. ›Nein‹ erwiderte ich, ›ich darf nicht lesen‹. ›Wer verbietet Ihnen das?‹ ›Ich selbst‹ ›Und warum‹ ›Weil ich mich anlese‹ ›Ist das ein Unrecht‹ ›Für einen Schriftsteller zweifellos, dessen Obliegenheit darin besteht, daß er originell bleibt und sich beim Schreiben nur auf eigenes Wissen stützt.‹«64

Man könnte meinen, wenigstens diese Obliegenheit des Schriftstellers sei doch noch ernst zu nehmen. Aber trotz seines Vorsatzes, der Bahnhofskioskkost der Groschenromane gänzlich zu entsagen, wird dieser Schriftsteller rückfällig und erzählt uns nun den Inhalt eines Büchleins aus der spannenden Serie Frauen der Liebe nach. Dieses Büchlein handelt vom Leben der russischen Zarin Katharina: »Und so saß ich da und träumte und wurde ganz russisch. ›Was ist Ihnen‹, fragte mich die diensttuende Adjutantin oder Kellnerin. Aber ich schaute sie, in Katharinenhöhen gehüllt, gar nicht an. Ich war eben ankatharint und angelesen, weit, weit weg, unsäglich abseits, lermontoffisch [...] lebend indes die Gestalten des täglichen Lebens draußen auf dem Trottoir, in den Scheiben abstandhaft gemildert, nett beimißt vorbeiglitten.«65

Bevor mir nun dasselbe mit Walser passiert, so dass ich aufgrund bloßer Angelesenheit in meine Walserhöhen eingehüllt, angewalsert sozusagen, meine Leserinnen vollkommen aus dem Blick verliere, versuche ich mit letzter Kraft ein ganz kurzes Fazit:

IV. Das Interesse in Teilen der modernen Ethik an paradoxen, dilemmatischen und partikularistischen Argumentationen, die berücksichtigen, dass Menschen in hohem Maße dem Faktum moralischer Kontingenz ausgesetzt sind und daher in der Lage sein müssen, alternativ handeln zu können, wurde von der alten prudentistischen und moralistischen Literatur nicht nur bereits antizipiert. Es deutet sich in ihr auch ein Glücksbegriff an, der nicht außerhalb der Schrift, des Schreibens und Lesens zu liegen scheint. Damit widerstreitet er aber der Annahme noch der modernen Ethik, Glück sei, wenn überhaupt, dann in reiner Reflexionskompetenz zu verorten. Denn mag auch Glück nach dem aristotelischen Ideal der Mitte optimierbar sein, so ist es eben darum und vor allem für die Philosophie nie darstellungs- und medienunabhängig gegeben.

64 R. Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, S. 101. 65 Ebd., S. 103.

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Leseglück Im Unterschied zur verbalen Beschreibung von Situationen, mutet die Schrift Möglichkeiten zu, anstelle des Begriffs des ›Gegebenen‹ etwas anderes zu setzen – die Realität virtuellen Glücks, das vertrauenswürdiger erscheint als die Versprechen von Philosophien und Weltanschauungen, das Glück sei in der Realität zu finden. In dieser Hinsicht entfällt auch der suspekte Charakter der Schrift, der sie dem platonistischen Verdacht aussetzt, sie behindere die Menschen qua heteronomer Bestimmung durch fremde Zeichen beim eigenen Denken, ja sie sei das Surrogat des Denkens, weil ihr Lesen statt des Denkens geschehe. Ganz im Gegenteil, so sollten es die beiden vorangegangenen ›Rundumschläge‹ durch die moderne Ethik (2.) und die alte Literatur (3.) andeuten, lanciert die Schrift Denkbedarf immer dann, wenn eine eigene Antwort auf die Frage nach dem Glück gegeben werden muss, wenn Texte den passiven Konsum gängiger Glücksvorstellungen gerade negieren. Man könnte in ›normaler‹ Rezeption vielleicht nichts Langweiligeres als den Text Stopfkuchen und seinen Protagonisten, den »fürchterlichen Langweiler«66 kennen. Doch während die traditionellen Philosophien des Glücks einst die Welt verbessern wollten, deutet sich nicht nur in Raabes Text die Notwendigkeit an, die Welt in immer wieder neuen Interpretationen zugleich so zu belassen, wie sie ist. Und wie ist sie denn? Nun, eben nur in ihren Darstellungen ›gegeben‹. Indem Teile der Literatur Lesern die Flucht in den Text versperren, der Text sich dekonstruiert und als reine Privatsache ausgibt, wird die Welt zugleich vor denen verschont, die sie durch den Hinweis auf ihren Ist-Zustand oder ihr Sollte-Sein beglücken wollen. Auch der Text, der dem philosophischen Willen zur Beglückung am nächsten stehen dürfte, Goethes Wanderjahre, bildet hiervon keine Ausnahme; denn wie komplex und unzugänglich Goethes Bildungsbegriff auch sein mag, er sichert, wie schon das Lob der Torheit, das menschliche Glück, indem er sich nicht gegenüber der moralischen Kontingenz immunisiert, sondern dieser durch wiederum kontingente Zeichensetzungen begegnet, sie anerkennt und erst dadurch ›bewältigt‹. Kontingenzakzeptanz ist die Antwort, die Literatur angesichts des philosophischen Dilemmas gibt: Die Bewältigung von Kontingenz besteht vorderhand darin, auf die eigene Setzung hinzuweisen, jedoch nicht wie die traditionelle Philosophie auf ihr zu beharren, auch nicht, wie die Religion, auf Erlösung zu hoffen. Das scheint der eigentümliche Sinn der Zeichensupplementierung vor allem bei Erasmus und Jean Paul zu sein: Zu unserem eigenen Glück sind wir nicht allwissend. Positionen, die das Glück gepachtet zu haben meinen, sind schlicht unausstehlich.

66 W. Raabe: Stopfkuchen, S. 73.

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Christian Sinn So kurz formuliert, mag dieser Schluss nach einer philosophische Platitüde klingen. Doch die Philosophie schützt uns gerade nicht vor ihren Platitüden noch sich vor ihrem Dogmatismus. Es ist vielmehr die humane Form der Literatur, die als Schutz vor Philosophie und Religion an die Wahrheit erinnert, dass Glück als Einsicht in die je eigene aktive Problemlösekompetenz nicht dem vermeintlich reinen Denken entstammt, sondern den durchaus enttäuschenden Erfahrungen des Lesens mit sich selbst.

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Das prekäre Verhältnis von Glück und Freiheit OLIVER JAHRAUS

I. Freiheit Glück und Freiheit würden nicht so einträchtig nebeneinander stehen, gäbe es nicht nur so etwas wie eine Geschichtsschreibung der Freiheit, sondern auch eine des Glücks. Die französische HistorikerSchule Annales, auf die Michel Foucault traf, war recht stolz darauf, dass sie neben der politischen Geschichte nunmehr auch eine Geschichte anderer Bereiche, zum Beispiel die des Alltags, schreiben konnte, und wollte Foucault nicht folgen, als dieser nun vorschlug, auch eine Geschichte des Strafrechts, des Körpers oder der Sexualität zu schreiben.1 Vielleicht hätte Foucault ähnlich verblüfft auf das Vorhaben einer Historiographie des Glücks reagiert. Schon allein mit Blick auf ihre historiographischen Perspektivierungen treten Glück und Freiheit in ein prekäres Verhältnis. Denn wo Freiheit ein politischer Begriff ist, fügt sich diese Geschichte der Freiheit fast nahtlos an die politische Geschichte an, dort jedenfalls, wo die politische Geschichte zumindest der westlichen Welt als Geschichte der Emanzipation des Bürgertums und mithin als Weg zu politischen Freiheiten erscheint – als jene Geschichte also, die offenbart, wie man politische Freiheiten erringt und sie in verfassungsgemäßen Rechten codifiziert und garantiert, und wie man schließlich in und mit Freiheit weitere Freiheiten erringen kann. Im Zusammenschluss von Freiheit und Recht – in der deutschen Nationalhymne werden sie signifikanterweise im umgedrehter Reihenfolge genannt – erscheinen diese beiden Begriffe als politische und gesellschaftliche Einlösung eines aufklärerischen Versprechens, das damit seinen teleologischen Charakter offenbart. Freiheit ist nicht nur ein Moment, es ist die Leitlinie politischer Geschichte unter aufgeklärten Bedingungen. Freiheit ist nicht nur ein Gedanke, sondern ein Prinzip des Denkens. Diese aufklärerische Figur, die Freiheit aus dem Bereich des Inhaltlichen in den des Formalen gehoben hat, war ein Kunstgriff mit ungeahnten Implikatio1

Vgl. Paul Veyne: Foucault. Der Philosoph als Samurai, Stuttgart 2009, S. 11 ff.

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Oliver Jahraus nen. Denn als Prinzip ist Freiheit untilgbar. Die politischen Verhältnisse können noch so totalitär oder rückständig sein, die Freiheit können sie so wenig unterdrücken wie das Denken selbst, was Diktatoren seit jeher gefuchst haben muss. Denken und Freiheit waren mit der Aufklärung notwendige Korrelate geworden. Dass gerade im weiteren Aufklärungskontext Freiheit nicht nur als philosophischer Begriff und auch nicht nur als politischer, sondern gleichermaßen als ästhetischer Begriff fungieren konnte, wie dies nirgendwo deutlicher zutage tritt als bei Schiller, in seinen ästhetischen Schriften ebenso wie etwa in seinem Drama Dom Carlos, ist zugleich Beleg dafür, wie dieser Begriff in eine gesamtgesellschaftliche Reformbewegung eingebunden ist, die Niklas Luhmann als funktionale Ausdifferenzierung sozialer Systeme2 und M. Rainer Lepsius chiastisch als Vergesellschaftung des Bürgertums und Verbürgerlichung der Gesellschaft beschrieben haben.3 Dass politische und ästhetische Freiheit so ineinander übergehen können, liegt am Prinzip ihrer Hervorbringung. Spätestens mit Kant, mit Kant aber in jedem Fall gehen Freiheit und Vernunft eine systematische Allianz ein, in der die beiden Ideen wechselseitig als ihre Prinzipien eintreten können: Freiheit als Prinzip der Vernunft, Vernunft als Prinzip der Freiheit. Freiheit und Vernunft teilen ein Moment des Transzendentalen. Daher spricht Kant im Abschnitt »Der Kanon der reinen Vernunft der Transzendentalen Methodenlehre« am Ende der Kritik der reinen Vernunft (KrV) neben praktischer auch von transzendentaler Freiheit. Transzendentale Freiheit ist »eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt«4. Damit wird das negative Prinzip der Freiheit, Freiheit von jeglicher Determination, deutlich. Will man diese Idee nun politisch und gesellschaftsgeschichtlich deuten und mit der Konzeption von Luhmanns Idee der Umstellung der Gesellschaftstypik und der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme in Verbindung bringen, so müsste man die Freiheit geradezu als Supercode verstehen, der es den sozialen Subsystemen überhaupt erst erlaubt, je spezifische Codes zu entwickeln. Freiheit erscheint so endgültig als Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung und mithin als Teleologie der Geschichte. Ja mehr noch, Freiheit wird zum Grundbegriff von Gesellschaft, von gesell2

3

4

Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, und ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1997. Vgl. M. Rainer Lepsius: »Zur Soziologie des Bürgertums und ihrer Bürgerlichkeit«, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 79-100. KrV A803/B831.

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Glück und Freiheit schaftlicher Ausdifferenzierung, von Gesellschaft als Prozess und Operation. Und wenn man zudem Gesellschaft und Kommunikation, wie Luhmann dies vorschlägt, als Synonyme betrachtet, dann wird auch Kommunikation nicht nur zu einem Medium von Freiheit, sondern auch zu ihrem Effekt und Erfolg.

II. Glück So einfach ist es wohl nicht, eine Geschichte des Glücks an die politische Geschichte zu binden, wie dies vergleichbare Unterfangen sich im Falle der Freiheit darstellt. Und dennoch ist auch der Begriff des Glücks, um den es hier geht, in ganz besonders enger Weise an diese politische Geschichte gebunden. Berühmt geworden ist der Ausspruch von Saint-Just, jenem einzigen wirklichen Revolutionär, den die Französische Revolution hervorgebracht hat und der in der Konsequenz seines Handelns und Denkens selbst einen Robespierre weit in den Schatten stellt.5 Vor dem Konvent hat Saint-Just am 3. März 1794 gesagt: »Das Glück ist eine neue Idee in Europa.« [»Le bonheur est une idée neuve en Europe.«] Man muss unterscheiden, wie Saint-Just das Glück im zeitgenössischen Kontext verstanden hat und wie sich dieser Ausspruch heute nach der entsprechenden historischen Erfahrung verstehen lässt. Saint-Just gibt das Glück als politische Errungenschaft der französischen Revolution aus, die daher auch nicht mehr an den Nationalstaat gebunden ist, sondern die gesamte zugängliche politische Welt betrifft, also Europa. Es ist dasselbe Europa, das Marx und Engels in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei meinen, wenn sie bereits als ersten Satz schreiben: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.«6 Und dass es weitere Verbindungslinien zwischen dem Glücksversprechen der Französischen Aufklärung und der Idee des Kommunismus gibt, werde ich noch andeuten. Neben die Idee, dass Glück eine politische Errungenschaft und ein revolutionäres Versprechen ist, das politisch das ancien régime ablöst und die Aufklärung politisch verwirklicht, ließe sich nunmehr eine zweite Interpretation stellen, die insbesondere auf den Begriff der Idee abhebt. In dem Sinne setzt dieses Glücksversprechen nicht so sehr eine politische Revolution, sondern den Prozess der Aufklärung selbst voraus. Dies kann man deutlich machen, wenn man jenen Glücksbegriff, der selbst ein Produkt der histori-

5 6

Bernard Vinot: Saint-Just, Stuttgart 1989. Karl Marx u. Friedrich Engels: »Manifest der kommunistischen Partei [1848]«, in: dies.: Die Frühschriften, hg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart 1971, S. 525.

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Oliver Jahraus schen Entwicklung ist, neben einen voraufklärerischen Glücksbegriff hält, wie er zum Beispiel in den berühmten Einleitungsversen der von Carl Orff vertonten Carmina Burana zum Ausdruck kommt: »O Fortuna/ velut luna/ statu variabilis/ semper crescis/ aut decrescis«7; Glück wird hier als kosmologische Kontingenzerfahrung gedacht.8 Mal hat man Glück, mal nicht. Und selbst heute hält sich diese Vorstellung vom Glück, zum Beispiel in der Rede vom Glückspilz, dem – zufällig und damit unverdient – Glück widerfahren ist. Das Glück jedoch, das Saint-Just meint, ist das Gegenteil davon. Denn Kontingenz ist sinnlos, dieses Glück jedoch ist der Sinn der Geschichte, der Politik, weil es der Sinn der Revolution ist. Dass man das Glück nicht zwingen kann, ist eine Kontingenzerfahrung. Die Revolution aber erzwingt das Glück mit Gewalt. Und daran kann man erkennen, dass an solchen Prozeduren, die die Kontingenz ausschalten wollen, so etwas wie eine Selbstlegitimation des historischen Prozesses und mithin der Revolution geknüpft wird. Die Revolution, selbst ein kontingentes Ereignis, wird, weil sie das Glück bringt und es somit vom Zufall befreit, selbst zu einem vom Zufall befreiten und deswegen notwendigen Ereignis. Ist die Revolution erst einmal eingetreten, ist sie ein weltgeschichtlich notwendiges Ereignis geworden. Dass der Kommunismus, der gleichermaßen durch eine Revolution in die Welt kommen will, auf solche Prozeduren der Entkontingentierung, der historischen Selbstlegitimation verfällt, muss daher nicht verwundern. Die historische Selbstlegitimation des Kommunismus erfolgt über sein Glücksversprechen. Seine Theorie heißt: historischer Materialismus.9 Doch bis dahin hatte die Idee des Glücks schon einen weiten Weg zurückgelegt; im aufklärerischen und revolutionären Kontext der Äußerung von Saint-Just wird gerade das aufgerufen, was später der Kommunismus verneinen muss – Individualität und Identität des Subjekts als Voraussetzung der Glückserfahrung. Einem anderen großen revolutionären Chefideologen, dem Adeligen Donatien Alphonse François de Sade, wird der Aphorismus zugeschrieben: »Das tiefste Glück des Menschen liegt in seiner Einbildungskraft.«10 Tatsächlich aber stehen Individualität, Identität und Glück in einem schwierigen Verhältnis, schwieriger jedenfalls als das Verhältnis von Individualität, Identität und Freiheit. Ja mehr noch: Die 7

Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift. Zweisprachige Ausgabe. 6. rev. Aufl., München 1995, S. 534. 8 Vgl. hierzu auch: Peter von Matt: »Glück und Ziel des Weltalls und der Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 150. 9 Vgl. hierzu auch Karl Marx: »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852]«, in: Marx-Engels-Werke. Bd. 8, Berlin 1960, S. 111-207. 10 Vgl. Karl Kraus: Die Fackel, VIII. Jahr, Nr. 203, 12. Mai 1906.

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Glück und Freiheit Begriffe Freiheit und Glück erhalten ihre Bedeutung im Kontext der gesellschaftlichen, politischen und historischen Entwicklungen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts und auf der Basis aufklärerischen Denkens, aber genau in diesem Kontext rücken sie auch in ein prekäres, bisweilen in ein oppositionelles Verhältnis.

III. Literatur Nirgendwo wird dies deutlicher als auf dem Feld der Literatur, wo Glück und Freiheit immer wieder ins Verhältnis gesetzt werden. Und wie sehr sich diese Verhältnissetzungen selbst wiederum ins Verhältnis setzen lassen, das kann man an der Entwicklung ablesen, die diese Problematik von Lessing zu Kleist nimmt.11 Wer also über Glück und Freiheit redet, sollte auch und in besondere Weise auf ihre literarischen Ausformungen und Ausdrucksformen achten, und nirgendwo wird wohl die Idee einer Kulturwissenschaft, welche die unterschiedlichsten kulturellen Manifestationen ins Verhältnis setzt, plastischer als bei diesem Thema. Glück und Freiheit können so deutlich machen, dass Kulturwissenschaft in ihrem Kern nichts anderes bedeutet als: ›ins Verhältnis setzen‹. Die Vergleichsmomente dieses Verhältnisses treten auf dem Feld der Literatur auch deswegen so pointiert zutage, weil Glück und Freiheit zumeist auf einen einzigen Punkt bezogen sind, der Möglichkeit nämlich, in Freiheit das persönliche Glück einer stabilen, erotischen Beziehung zu verwirklichen. Über die Vereinbarkeit von Glück und Freiheit reihen sich daher die Konzeptionen, wie man sie in Lessings Komödie Minna von Barnhelm findet, bis hin zum desaströsen Ende einer Liebesbeziehung in Kleists Erzählung Das Erdbeben von Chili aus dem Jahr 1807, zunächst unter dem Titel »Jeronimo und Josephe«. Auch mit dieser Geschichte führt Kleist vor, wie sehr sich seine Hoffnung auf Verwirklichung der Aufklärung zerschlagen hatte, wie er sie als junger Mann programmatisch in dem an einen Freund adressierten Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen! skizziert hatte.12 Gerade Kleist führt – wie in der erwähnten Novelle beispielhaft – den Glücksbegriff geradezu exzessiv vor und macht damit den exzessiven Charakter des Glücks deutlich. Als es Jeronimo gelingt, die sozial unmöglich mehr zu realisierende Liebesbeziehung zu seiner

11 Vgl. hierzu David E. Wellbery: »Prekäres und unverhofftes Glück. Zur Glücksdarstellungen in der klassischen deutschen Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 13-50. 12 Vgl. hierzu Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie, München 2007.

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Oliver Jahraus Geliebten Josephe, die man deswegen schon ins Kloster gesteckt hatte, wieder aufzunehmen, ist gleich zweimal von Glück die Rede: »Durch einen glücklichen Zufall hatte Jeronimo hier die Verbindung von neuem anzuknüpfen gewußt, und in einer verschwiegenen Nacht den Klostergarten zum Schauplatze seines vollen Glückes gemacht.«13 Das volle Glück des Sexualaktes, dem dann ein Kind entspringt, korrespondiert mit den glücklichen Umständen, die wiederum von einer rigiden, totalitären, bigotten, schlichtweg unfreien Gesellschaft eingerahmt sind. Und die gesamte Geschichte ist eine Oszillation zwischen Glück und Unglück und zwischen Glück und Freiheit. Als Josephe wegen dieses Glücks hingerichtet werden soll und Jeronimo sich selbst umbringen will, kommt glücklicherweise ein Erdbeben über die Stadt und rettet die Liebenden. Und als die Überlebenden für ihr Glück danken, werden die Liebenden unglücklicherweise entdeckt und getötet und glücklicherweise überlebt ihr Kind aufgrund einer Verwechslung das Massaker. In diesem Text gibt das Theodizeeproblem den äußeren Rahmen ab, in dem das Verhältnis von Freiheit und Glück in einer radikalen Weise abgehandelt wird. Die exzessiven Momente, die dem Glück innewohnen, bedingen zugleich die radikale Entgegensetzung von Glück und Freiheit, die sich letztlich in der Geschichte wechselseitig auslöschen. Das Glück entkommt nicht in die Freiheit.

IV. Politik Damit ist die Literatur weiter als die Politik. Diese versucht noch, beide miteinander zu verbinden. Im Blick auf die amerikanische Verfassung, nur 7 Jahre vor der Rede Saint-Justs vor dem Pariser Konvent am 17. September 1787 verkündet, erkennt man, wie Freiheit selbst als Glück ausgegeben wird. In der Präambel heißt es: »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika. [We the People of the United States, in Order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this Constitution for the United States of America.]«

13 Heinrich von Kleist: »Das Erdbeben in Chili«, in: ders.: Sämtliche Erzählungen Anekdoten Gedichte Schriften, hg. v. Klaus Müller-Salget, Frankfurt a.M. 2005, S. 189.

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Glück und Freiheit Glück, das durch ›blessing‹ eine nahezu transzendente Überhöhung erfährt, weil es mit Segen eng verbunden wird, dieses Glück der Freiheit wird beschworen, andersherum wäre es wohl nicht möglich gewesen: die Freiheit zum Glück. Genau damit ist das Prekäre benannt. Das Transzendente bleibt im Glück erhalten, aber das Glück ist selbst zu einer Funktion der Freiheit geworden, nicht umgekehrt. Die Freiheit gibt dem Glück seine Form vor. Die soziale Ausdifferenzierung, die solche Prozesse der Demokratisierung überhaupt erst möglich macht, muss die ideologischen Vorgaben einer stratifikatorischen, am Ende auch noch göttlich beglaubigten und garantierten Ordnung auflösen. Das gelingt ihr aber nicht durch Alternativsetzungen, weil es zu göttlichen Ordnungen schlechterdings keine Alternative gibt, sondern nur dadurch, dass inhaltliche Bestimmungen ideologischer Natur durch rein formale Bestimmungen abgelöst werden. Die Gesellschaft hat keine Gestalt, keinen Körper mehr, sondern nur noch eine Form. Von daher ist Freiheit der Formbegriff par excellence. Natürlich lassen sich immer auch inhaltliche Bestimmungsmomente der Freiheit denken, wenn man von einer Freiheit zu spricht. Aber eine solche ›Freiheit zu‹ ist lediglich ein abkünftiger Modus der Freiheit, die immer als formaler Begriff negativ bestimmt sein muss. Freiheit ist schlechterdings ›Freiheit von‹. Und in radikaler Konsequenz ist Freiheit auch die Freiheit nicht zum Glück, wie es die Präambel der amerikanischen Verfassung noch suggeriert, sondern selbst hier auch Freiheit vom Glück. Dass Saint-Just das Versprechen der Revolution im Glück sieht, hängt in der Tat mit seinem Bestreben zusammen, die Revolution angesichts ihrer Bedrohung selbst zu ideologisieren, um die Massen bei der Stange zu halten. Und wenn man dies noch weiter radikalisiert, so kann man hier schon die Entstehung unterschiedlicher politischer Systeme erblicken. In diesem engen gedanklichen Rahmen, der auf dem Aufklärungsdenken beruhen muss, ließe sich die Idee so durchspielen: Man könnte davon ausgehen, dass es nur zwei Typen von Ideologien gibt, nur zwei politische Systeme: das eine System, das auf Freiheit setzt, und das wäre das System der westlichen Demokratien, und das andere System, das auf das Glück setzt, und das wären alle totalitären Regime einschließlich des Kommunismus. Denn wenn es das auch politisch erkennbare und gesellschaftlich realisierbare Glück gibt, dann besteht das Glück in einer politischen Verpflichtung. Glück muss realisiert werden. Die entsprechende Theorie des Kommunismus heißt: dialektischer Materialismus.14

14 Horst Friedrich u.a. (Hg.): Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, Berlin 1986.

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Oliver Jahraus Doch wer Glück in der Geschichte verspricht, aber sein Versprechen in der Geschichte nicht wahrmachen kann, ist dem Untergang geweiht. Am Ende hat vor diesem Hintergrund nichts so sehr den Untergang des Kommunismus befördert wie seine eigene Theorie, und wenn man es genauer fassen will: die Glücksverseuchtheit seiner falschen Utopien, das Glück, das sich nicht einstellen wollte, nachdem man doch die Freiheit geopfert hatte und durch nichts materiell entschädigt wurde.

V. Kultur Interessanter mag der Blick auf jene kulturellen Kontexte sein, die eher westlich politisch organisiert sind, also der Blick auf die westliche Welt. Dass das Glücksversprechen nicht zu einem inhaltlichen Moment der politischen Struktur geworden ist, hat ja das prekäre Verhältnis von Glück und Freiheit nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur auf andere Felder verlagert und dort vielleicht noch intensiviert. Die Menschen in kommunistischen Regimen waren und sind nicht gerade vordringlich von dem Problem betroffen, wie sie glücklich werden können. Die Aufgabe, glücklich zu werden, übernimmt das System für sie, die Glücklichen, wie man sie selbst heute noch, wenn sie nicht verhungert sind, in Pjöngjang beobachten kann. Freiheit und Glück stehen in einem prekären Verhältnis. Kommunistische Regime entscheiden sich dafür, das Glück zu realisieren, aber damit Glück nicht wieder in dieses prekäre Verhältnis zurückfällt, müssen sie das Glück entindividualisieren. Glück wird zu einer gesellschaftlichen Aufgabe und somit zu einer Angelegenheit des Volkes. Damit dies funktionieren kann, muss das Volk theoretisch als naturwüchsig ausgegeben werden, muss das Konstrukt eines Proletariats als Subjekt der Geschichte verkleidet, ja überhaupt erst erfunden werden. Anders in der westlichen Welt, dort war, ist und bleibt Freiheit das gesellschaftliche Prinzip. Und das erlaubt den Rückblick auf einige Gesetzmäßigkeiten. Da Glück inhaltlich bestimmt sein muss, können – und das hat nicht erst Kleist gezeigt – individuelles und gesellschaftliches Glück stark divergieren, so dass man Freiheit reklamieren müsste, um gegen das gesellschaftliche Glück das individuelle Glück durchsetzen zu können. Bei der Freiheit verhält es sich nicht so, denn da Freiheit ein negativer und ein formaler Begriff ist, müssen individuelle Freiheit und gesellschaftliche Freiheit nie in Konflikt miteinander kommen, und es bedarf nur einer minimalen staatlichen Regelung, die die Extensionen individueller Freiheitsbereiche gegeneinander abgrenzt. Die Freiheit des Einzelnen endet dort und nur dort, wo die Freiheit des Anderen betroffen ist.

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Glück und Freiheit Genau das aber ist das Einbruchstor des Glücks in die Freiheit. Dieses Einbruchstor tut sich auf, nachdem sich Aufklärungsdenken in modernen sozialen Strukturen verfestigt hat. Denn dort, wo die Aufklärung Freiheit realisiert hat, entsteht in der negativen Struktur dieser Freiheit eine Lücke, ein Manko, das glücklich inhaltlich besetzt werden soll. Ist die Freiheit derart realisiert, beginnt die Suche nach dem Glück. Die Moderne beginnt – so könnte man mit Blick auf diese Mechanik des Glücks sagen – im Ausgang der Aufklärung genau in jenem Moment, in dem die aufklärerische Allianz von Vernunft und Freiheit jene Lücke offenbart hat, die die Suche nach dem Glück zu füllen sucht und damit eigenartige Such- und Suchtbewegungen und -maschinen ins Leben ruft. Vielleicht ließe sich daraus eine Definition von Kultur gewinnen: Kultur wäre jene selbsttragende Organisation und Operation, die das prekäre Verhältnis von Glück und Freiheit unter gegebenen psychischen und sozialen Bedingungen zu regeln, erträglich zu gestalten versucht, die Divergenz zwischen individuellem und gesellschaftlichem Glück überbrücken hilft. Kultur fängt das Glück in der Freiheit ab und versucht die Lücke zwischen Vernunft und Freiheit zu füllen, wobei sie gleichermaßen die Lücke bestätigt und weitet. Pascal Bruckner hat in seinem großen Essay Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne dargelegt, wie sich die Suche nach dem Glück als Selbstverpflichtung zu erkennen gibt und die Menschen gerade unter den modernen Bedingungen der Freiheit zur Unfreiheit verdammt, glücklich sein zu müssen.15 Die Freiheit öffnet das Feld zum Glück als Verpflichtung. Wer frei ist, glücklich zu sein, ist dazu verdammt, glücklich werden zu müssen. Und wenn selbst eine politische Verfassung es ihren Bürgern vorgibt, die Freiheit, verdammt noch mal, zum Glücklichsein zu nutzen, kann man sehr schnell unglücklich werden, wenn man dieser Verpflichtung aus alltäglichsten Gründen unserer psychischen und sozialen Dispositionen nicht nachkommen kann. Und es muss schon ein Heer von Psychotherapeuten oder Esoterikern, also von professionellen Glücksversprechern, Glücksversicherern zur Verfügung stehen, um wenigstens die Folgelasten abzufedern. Auch Robert Pfaller hat einen großen Essay geschrieben, der – so der Untertitel – Symptome der Gegenwartskultur untersucht. Symptomatisch für die Gegenwartskultur sieht er gerade den Gegensatz zwischen reiner Vernunft (ein Begriff, der nicht kantisch gemeint, wohl aber an Kant angelegt ist, auch wenn er als Gegensatz zum Schmutzigen, nicht zum Empirischen gebraucht wird) und dem schmutzigen Heiligen an. Er stellt markant fest:

15 Vgl. Pascal Bruckner: Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Ein Essay, Berlin 2002.

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Oliver Jahraus »So reproduziert sie [die reine Vernunft; O.J.] unentwegt eine Reihe schwerwiegender Vorentscheidungen und alter, lieb gewonnener philosophischer Präferenzen: ein Subjekt ist etwas Besseres als ein Objekt; das Angeeignete ist besser als das Entfremdete; das Authentische besser als das Kunstvolle; das Selbstgestaltete besser als das Vorgefundene; das Konstruierte besser als das Gegebene; das Immaterielle besser als das Materielle; [und jetzt kommt’s; O.J.] die Freiheit besser als das Glück.«16

Um dies zu verstehen, muss man die Mechanik des Glücks verstehen, die ihrerseits auf der Allianz von Vernunft (sowohl mit Kant als auch Pfaller könnte man sie »rein« nennen) und Freiheit beruht. So kann man immerhin sagen, dass Freiheit und Glück nur an der Oberfläche der Sprache als positive Werte bezeichnet werden, die in ihrer positiven Bewertung vielleicht sogar als kompatibel betrachtet werden könnten. Sie sind es nicht. Und sie sind es deswegen nicht, weil sie in ihren Bedeutungen nicht anthropologisch fundiert sind, sondern einer historischen Konstellation entspringen, die eine politische, gesellschaftliche, ästhetische und kulturelle Ordnung hervorgebracht haben, die ihrerseits wiederum darauf beruht, dass Glück und Freiheit in einem prekären Verhältnis stehen. Aber gegenüber dem pessimistischen Unterton von Bruckner und Pascal ließe sich doch immerhin entgegen, dass das prekäre Verhältnis von Glück und Freiheit, wie unglücklich und unfrei es manche Menschen auch immer gemacht haben mag und immer noch machen mag, es doch auch ein extrem produktives Entwicklungsprinzip für Kultur abgegeben hat und weiter abgeben wird, solange jedenfalls noch, bis sich nicht wirklich irgendwelche Utopien verwirklicht haben werden, wovon wir in unserer Freiheit glücklicherweise noch weit entfernt zu sein scheinen.

Literatur Bruckner, Pascal: Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Ein Essay, Berlin 2002. Friedrich, Horst u.a. (Hg.): Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, Berlin 1986. Lepsius, M. Rainer: Zur Soziologie des Bürgertums und ihrer Bürgerlichkeit, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S.79-100.

16 Robert Pfaller: Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur, Frankfurt a.M. 2008, S. 27 f.

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Glück und Freiheit Kleist, Heinrich von: »Das Erdbeben in Chili«, in: ders.: Sämtliche Erzählungen Anekdoten Gedichte Schriften, hg. v. Klaus MüllerSalget, Frankfurt a.M. 2005, S. 189-221. Kraus, Karl: Die Fackel, VIII. Jahr, Nr. 203, 12. Mai 1906. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde, Frankfurt a.M. 1997. Marx, Karl Marx/Friedrich Engels: »Manifest der kommunistischen Partei [1848]«, in: dies.: Die Frühschriften, hg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart 1971, S. 525-560. Marx, Karl: »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852]«, in: Marx-Engels-Werke. Bd. 8, Berlin 1960, S. 111-207. Matt, Peter von: »Glück und Ziel des Weltalls und der Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion, München u.a. 2008, S. 149-194. Pfaller, Robert: Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur, Frankfurt a.M. 2008. Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie, München 2007. Veyne, Paul: Foucault. Der Philosoph als Samurai, Stuttgart 2009. Vinot, Bernard: Saint-Just, Stuttgart 1989. Wellbery, David E.: »Prekäres und unverhofftes Glück. Zur Glücksdarstellungen in der klassischen deutschen Literatur«, in: Heinrich Meier (Hg.): Über das Glück. Ein Symposion. München u.a. 2008, S. 13-50. Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift. Zweisprachige Ausgabe. 6. rev. Aufl., München 1995.

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AUTORINNEN UND AUTOREN Corkhill, Alan; Associate Professor, PhD., Reader in German Studies, School of Languages and Comparative Cultural Studies, The University of Queensland, Brisbane, Australien. Veröffentlichungen: Glückskonzeptionen im deutschen Roman von Wielands »Agathon« bis Goethes »Wahlverwandtschaften« (St. Ingbert 2003); Australia and the German Literary Imagination 1754-1918 (Bern u.a. 1990); zwei weitere Monographien, dazu insgesamt 65 Zeitschriftenaufsätze bzw. Buchkapitel. Forschungsschwerpunkte: Figuren des Glücks in der deutschsprachigen Literatur; Goethes Faust, Wolfgang Hilbig; deutsch-australische Literaturbeziehungen. Gerigk, Anja; Dr., wissenschaftliche Assistentin am Institut für Deutsche Philologie der LMU München. Veröffentlichungen: Das Verhältnis ethischer und ästhetischer Rede über Literatur. Eine historische Diskursanalyse (Heidelberg 2006); Literarische Hochkomik in der Moderne. Theorie und Interpretationen (Tübingen 2008). Forschungsschwerpunkte: kulturhistorische Methodik, Literatur- als Kulturtheorie (Komik, Tabu, Transgression), narrative Modernität (Aufsätze u.a. zu Doderer, Koeppen, Jelinek, Kronauer). Grizelj, Mario; Dr., wissenschaftlicher Assistent am Institut für Deutsche Philologie der LMU München. Veröffentlichungen: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«. Eine Systemtheorie experimenteller Prosa (Würzburg 2008); als Hg. Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge – Funktionen – Formen (Würzburg 2009, im Erscheinen); Aufsatz Dissidente Medialität, oder die gespenstische Form des frühen Films, in: Schriftfilme (Bielefeld 2009). Forschungsschwerpunkte: (Literatur-)Theorie (Systemtheorie, Dekonstruktion, Differenztheorien), Experimentelle Literatur im 20. Jahrhundert, Schauerliteratur; Mystik, Magie, Dämonologie in der Moderne; Romantik. Habermann, Frank; M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur und Medien der LudwigMaximilians-Universität München. Sein Dissertationsprojekt »Literatur/Theorie der Unsagbarkeit« wird 2010 abgeschlossen. Zuletzt veröffentlicht: Das Bewusstsein der Maschinen. Battlestar Galactica

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Glück paradox – reloaded (Medienobservationen 2009, http://www.medienobser vationen.lmu.de). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören vor allem Literaturtheorie und Theoriebildung im Allgemeinen, speziell Kybernetik, Systemtheorie und Semiotik. Jahraus, Oliver; Prof. Dr. phil., seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls für NDL/Literatur und Medien an der LMU München. 1992 Promotion mit einer Arbeit zu Thomas Bernhard. Habilitation 2001 mit einer Arbeit zu Literatur als Medium. Wichtige Publikationen: Die Aktion des Wiener Aktionismus (2000); Theorieschleife (2001); Martin Heidegger (2004), Amour fou (2004), Literaturtheorie (2004); Franz Kafka (2006); als (Mit-)Hg. u.a.: Lyrik lesen (2000), Beobachtungen des Unbeobachtbaren (2000); Kafkas Urteil und die Literaturtheorie (2002); Der erotische Film (2003); Der fantastische Film (2005), Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart (2003); KafkaHandbuch (2008). Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und Methodologie, Philosophie, Medien- und Kulturtheorie, Film und Literatur, Semiotik, Systemtheorie, Avantgarde, Kafka. Kirchmeier, Christian; seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie der LMU München. Sein Dissertationsprojekt untersucht die gesellschaftliche Funktion moralischer Kommunikation im 18. Jahrhundert. Forschungsinteressen: Literatur um 1800, die Verbindung von Philologie und Kulturwissenschaften mit wissenssoziologischen Methoden sowie die Anwendung der Systemtheorie auf historische Fragestellungen. Lickhardt, Maren; Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen/Germanistik/Allgemeine Literaturwissenschaft, davor Studium der Deutschen Philologie, Philosophie und Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Promotion über Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik als moderne Diskursromane (Heidelberg 2009). Aufsätze zur Literatur der Weimarer Republik. Liebrand, Claudia; Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft/Medientheorie an der Universität Köln. Monographien: Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder (1990); Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns (1996); GenderTopographien. Kulturwissenschaftliche Lektüren von Hollywoodfilmen der Jahrhundertwende (2003); Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte (2008). Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne, Genderforschung sowie Medien (insbesondere Film) und kulturelle Kommunikation.

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Autorinnen und Autoren Markewitz, Sandra; Dr., studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Bochum und Bielefeld. Promotionsstipendium der Stiftung Bildung und Wissenschaft im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Promotion in Bielefeld 2004 mit einer Arbeit über Kafka und Wittgenstein. Veröffentlichungen: Das Schweigen. Tautologizität in Kafkas Tagebüchern (Fink 2006), zu Wittgenstein, Karoline von Günderrode (Romantischer Dezisionismus, Athenäum 18 (2008)), Mitarbeit als Autorin an zwei Studienratgebern u.a. Forschungsschwerpunkte: Kafka, Wittgenstein, Romantik, Subjektivität und Grammatik, Bild und Wissen. Prokić, Tanja; Studium der Philosophie, Neueren deutschen Literatur und Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Promotionsstipendium Bayerisches Eliteförderungsgesetz und Gründungspartnerin der Agentur für Philosophie. Veröffentlichung: Einführung in Foucaults Methodologie: Archäologie – Genealogie – Kritik (Hamburg 2009). Forschungsgebiete: Diskursanalyse, Systemtheorie, Subjekttheorien, Literaturtheorie, Gender Studies, Psychoanalyse, Systemische Didaktik, Kinderphilosophie. Sinn, Christian; Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der PH St. Gallen. Veröffentlichungen (Auswahl): Schleier, Rose, Ring. Zur immanenten Poetologie von Clemens Brentanos Aloys und Imelde, in: Gabe, Tausch, Verwandlung: Clemens Brentanos Poesien der Zirkulation, hg. v. Ulrike Landfester u. Ralf Simon (Würzburg 2008). Weitere Publikationen vgl. www.christian-sinn.com. Forschungsschwerpunkte: Frühe Neuzeit, Goethezeit und Romantik, Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Literarische Ethik und Anthropologie. Editionen von Jakob Bidermann, Johann Ulrich Erhard und Clemens Brentano.

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Sebastian Gießmann, Ulrike Brunotte, Franz Mauelshagen, Hartmut Böhme, Christoph Wulf (Hg.)

Politische Ökologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2009 Oktober 2009, 158 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1190-8 ISSN 9783-9331

ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008), Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) und Politische Ökologie (2/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Juni 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juli 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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3) ANZ1368.p 231683669082

Kultur- und Medientheorie Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Juni 2010, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Karlheinz Wöhler, Andreas Pott, Vera Denzer (Hg.) Tourismusräume Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens April 2010, ca. 330 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1194-6

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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz

Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion

Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3

März 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika April 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7

Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader März 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Markus Rautzenberg (Hg.) Ausweitung der Kunstzone Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften Juli 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1186-1

Daniel Gethmann (Hg.) Klangmaschinen zwischen Experiment und Medientechnik Juni 2010, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1419-0

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt April 2010, ca. 174 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst März 2010, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Juli 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9

Cornelia Temesvári, Roberto Sanchiño Martínez (Hg.) »Wovon man nicht sprechen kann...« Ästhetik und Mystik im 20. Jahrhundert. Philosophie – Literatur – Visuelle Medien Mai 2010, ca. 196 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1226-4

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