Gewissheit als Norm: Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in "Über Gewissheit" 9783110879629, 3110140268, 9783110140262

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Gewissheit als Norm: Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in "Über Gewissheit"
 9783110879629, 3110140268, 9783110140262

Table of contents :
Inhalt
Zur Zitierweise
Danksagungen
1. Einleitung
1.1. Ziel und Umfang dieser Arbeit
1.2. Zum Vorwort von Über Gewißheit
2. Grundbegriffe und Grundpositionen
2.1. Wittgenstein über die Aufgabe der Philosophie
2.1.1. Sprachspiel, Familienähnlichkeit und Lebensform
2.1.2. Grammatik und Logikw
2.1.3. Regel und Übereinstimmung
2.2. Wittgensteins Kritik an empiristischen Bedeutungstheorien
2.2.1. Anti-Psychologismus bei inneren Bildern
2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehirn- zuständen
2.2.3. Kritik am Behaviourismus
2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel
3. Zur Struktur unseres Wissens
3.1. Wittgensteins Beispiele I: Sprachliche Kompetenz und Wissenschaft
3.2. Wissen, Gewißheit, Begründung, Zweifel, Irrtum - Praxis
3.3. Zum Begriff ‘Weltbild’
3.4. Erwerb des Wissens I: Instinkt, Abrichtung und Unterricht
3.5. Wittgensteins vermeintlicher Naturalismus
3.6. Wissen: eine soziale Praxis
3.6.1. Exkurs: Praxis ohne Pragmatismus
3.7. Tatsachen, Regeln, Normen - Zur Logikw von Gewißheiten
3.7.1. Regeln und Normen - zum sprachlichen Ausdruck von Gewißheiten
3.7.2. Logischew Erläuterungen: Axiome, das Urmeter, Gewißheiten
3.8. Erwerb des Wissens II: Primitive und elaborierte Sprachspiele
3.8.1. Die Fundamental-Ostension
3.8.2. Primitive und elaborierte Sprachspiele
3.8.3. Aspekt-Lernen
3.9. Wahrheit, Gewißheit und Referenz
3.9.1. Propositionale Wahrheit
3.9.2. Wahrheit als Norm
3.10. Wittgensteins kollektiv-externer Idealismus
3.10.1. Exkurs: Externer, aber nicht transzendentaler Idealismus
3.11. Wittgensteins Beispiele II: Mathematik und Persönliche Identität
3.11.1. Mathematik
3.11.2. Persönliche Identität
4. Konsequenzen
4.1. Rationalität, Relativismus und der Wandel von Weltbildern
4.1.1. Rationalität und Relativismus
4.1.2. Zum historischen Wandel von Praktiken und Weltbildern
4.2. Skeptizismus
4.2.1. Moores und Malcolms Verteidigung des Common Sense
4.2.2. Kritik an Moore und Malcolm - Zur Analyse des Skeptizismus
4.2.3. Wittgenstein zu Moore und zum skeptischen Zweifel
4.2.4. Normenskeptizismus (Bemerkungen zu Kripke)
5. Abschließende Betrachtungen zu Wittgensteins Philosophie
5.1. Anhang: Zur rätselhaften Bemerkung PU 133
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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Michael Kober Gewißheit als Norm

W G DE

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Günther Patzig, Wolfgang Wieland

Band 35

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993

Gewißheit als Norm Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in Über Gewißheit von

Michael Kober

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993

@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

СIP-Einheitsaufnahme

Kober, Michael: Gewißheit als N o r m : Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in „Über Gewißheit" / von Michael Kober. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 35) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-11-014026-8 NE: G T

D 7 Göttinger philosophische Dissertation

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Inhalt Inhalt Zur Zitierweise Danksagungen

1 3 6

1. Einleitung 1.1. Ziel und Umfang dieser Arbeit 1.2. Zum Vorwort von Über Gewißheit

8 8 15

2. Grundbegriffe und Grundpositionen 2.1. Wittgenstein über die Aufgabe der Philosophie 2.1.1. Sprachspiel, Familienähnlichkeit und Lebensform 2.1.2. Grammatik und Logik^ 2.1.3. Regel und Übereinstimmung 2.2. Wittgensteins Kritik an empiristischen Bedeutungstheorien 2.2.1. Anti-Psychologismus bei inneren Bildern 2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen 2.2.3. Kritik am Behaviourismus 2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel

26 26 36 50 67 84 87

3. Zur Struktur unseres Wissens 3.1. Wittgensteins Beispiele I: Sprachliche Kompetenz und Wissenschaft 3.2. Wissen, Gewißheit, Begründung, Zweifel, Irrtum - Praxis 3.3. Zum Begriff 'Weltbild' 3.4. Erwerb des Wissens I: Instinkt, Abrichtung und Unterricht 3.5. Wittgensteins vermeintlicher Naturalismus 3.6. Wissen: eine soziale Praxis 3.6.1. Exkurs: Praxis ohne Pragmatismus 3.7. Tatsachen, Regeln, Normen - Zur Logik^ von Gewißheiten 3.7.1. Regeln und Normen - zum sprachlichen Ausdruck von Gewißheiten 3.7.2. Logische^ Erläuterungen: Axiome, das Urmeter, Gewißheiten

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Inhalt

3.8. Erweib des Wissens II: Primitive und eiaborierte Sprachspiele 3.8.1. Die Fundamental-Ostension 3.8.2. Primitive und eiaborierte Sprachspiele 3.8.3. Aspekt-Lemen 3.9. Wahrheit, Gewißheit und Referenz 3.9.1. Propositionale Wahrheit 3.9.2. Wahrfieit als Norm 3.10. Wittgensteins kollektiv-externer Idealismus 3.10.1. Exkurs: Externer, aber nicht transzendentaler Idealismus 3.11. Wittgensteins Beispiele II: Mathematik und Persönliche Identität 3.11.1. Mathematik 3.11.2. Persönliche Identität

214 214 219 224 233 233 243 249 257 267 267 298

4. Konsequenzen 4.1. Rationalität, Relativismus und der Wandel von Weltbildern 4.1.1. Rationalität und Relativismus 4.1.2. Zum historischen Wandel von Praktiken und Weltbildern 4.2. Skeptizismus 4.2.1. Moores und Malcolms Verteidigung des Common Sense 4.2.2. Kritik an Moore und Malcolm - Zur Analyse des Skeptizismus 4.2.3. Wittgenstein zu Moore und zum skeptischen Zweifel 4.2.4. Normenskeptizismus (Bemerkungen zu Kripke)

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372 378

5. Abschließende Betrachtungen zu Wittgensteins Philosophie 5.1. Anhang: Zur rätselhaften Bemerkung PU 133

394 399

Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister

405 419 422

319 321 338 352 357 365

Zur Zitierweise Mit Hilfe der folgenden, alphabetisch angeordneten Abkürzungen werde ich sowohl auf die Schriften Wittgensteins wie auch auf die Vorlesungsmitschriften seiner Studenten verweisen - sofern es nicht ausdrücklich anders vermerkt wird, beziehen sich die Verweise auf die Wittgenstein-Werkausgabe (8 Bände, Frankfurt/M., Suhrkamp): BB

The Blue and Brown Books·, Preliminary Studies for the "PhilosoрЫса! Investigations"; Oxford, Blackwell 1958, second edition 1969; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

BF

Bemerkungen über die Farben; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

BFGB

Bemerkungen über Frazers 'Golden Bough'·, in: J. Schulte (Hg.); Wittgenstein; Vortrag über Ethik, und andere kleine Schriften; Frankfurt/M., Suhrkamp 1989; S. 2946; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

BGM

Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (3., erweiterte Ausgabe); verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

BPP

Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Band I und II; verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen.

EPB

Eine philosophische Betrachtung; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

LA PR

Wittgenstein; Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology & Religious Belief, ed. by C. Barrett; Oxford, Blackwell 1966; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

LFM

Wittgenstein 's Lectures on the Foundations of Mathematics; Cambridge 1939; ed. by C. Diamond; Hassocks, Harvester Press 1976; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

LFW

A Lecture on Freedom of the Will; Notes by Y. Smythies at the Lecture; in: Philosophical Investigations 12:2, April 1989; S. 85-100.

LS I

Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie; Band I; verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen.

LS Π

Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie; Band II; Das Innere und das Äußere 1949-1951; herausgegeben von G. H. von

4

Zur Zitierweise

Wright und H. Nyman; Oxford, UK, Cambridge, Mass., USA, Blackwell 1992; verwiesen wird auf die Seitenzalilen. MS XXX

unveröffentlichtes oder unvollständig publiziertes Manuskript Wittgensteins gemäß der Nummer im sogenannten von Wright-Katalog (s. von Wright 1969); verwiesen wird auf die Seitenzahlen oder auf die Nummer des Blatts.

NLPE

Wittgenstein 's Notes for Lectures on "Private Experience " and "Sense Data"·, ed. by R. Rhees; in: Philosophical Review, Vol. LXXVn 1968; S. 271-320; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

PB

Philosophische Bemerkungen, verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen.

PG

Philosophische Grammatik-, verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

PHI

Philosophie; §§ 86-93 (S. 405^35) aus dem sogenannten 'Big Typescript' (Katalognummer 213); hrsg. von H. Nyman; in: Revue Internationale de Philosophie, 2/1989 - n° 169; S. 175-203.

PU

Philosophische Untersuchungen, Teil I; verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen; mit "PU, S. xxx" wird auf nicht numerierte Randbemerkungen in Teil I durch Angabe der Seitenzahlen (der Werkausgabe) verwiesen.

PU II

Philosophische Untersuchungen, Teil II; verwiesen wird auf die Seitenzahlen (der Werkausgabe).

TB

Tagebücher I9I4-I916; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

TLP

Tractatus logico-philosophicus (Logisch-philosophische Abhandlung); verwiesen wird auf die Satznummern.

TS XXX

unveröffentlichtes oder nicht vollständig publiziertes Typoskript Wittgensteins gemäß der Nummer im sogenannten von Wright-Katalog (s. von Wright 1969); verwiesen wird auf die Seitenzahlen oder auf die Nummer des Blatts.

UW

Ursache und Wirkung; Intuitives Erfassen·, in: J. Schulte (Hg.); Wittgenstein, Vortrag über Ethik (s.o. unter BFGB); S. 101-139; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

ÜG

Ober Gewißheif, verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen.

VB

Vermischte Bemerkungen; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

WB

Briefe·, Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P.

Zur Zitierweise

5

Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker; hrsg. von B. F. McGuinness und G. H. von Wright; Frankfurt/M., Suhrkamp 1980; verwiesen wird auf die Seitenzahlen. WLA

Wittgenstein's Lectures, Cambridge, 1932-1935·, ed. by Α. Ambrose; Oxford, Blackwell 1979; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

WLL

Wittgenstein's Lectures, Cambridge, 1930-1932; ed. by D.Lee; Oxford, Blackwell 1980; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

WWK

Wittgenstein und der Wiener Kreis; Gespräche, aufgezeichnet von F. Waismann; aus dem Nachlaß hrsg. von B. F. McGuinness; verwiesen wird auf die Seitenzahlen.

Ζ

Zettel; verwiesen wird auf die Nummern der Bemerkungen.

Die Wittgenstein-Werkausgabe stellt zur Zeit - bei aller noch möglichen und auch notwendigen Kritik an ihr - die editorisch zuverlässigste bzw. am meisten überarbeitete Veröffentlichung aus Wittgensteins Nachlaß dar. Zu den noch unveröffentlichten Schriften erhielt ich unbegrenzten Zugang in Georg Henrik von Wrights Wittgenstein-Archiv, in dem ich mich ohne Hilfe Heikki Nymans nicht zurecht gefunden hätte; beiden gebührt mein herzlichster Dank. Den Herausgebern des WittgensteinNachlasses, insbesondere Peter Winch und Georg Henrik von Wright, danke ich für ihre Eriaubnis, auch bisher unveröffentlichte Textstellen aus Wittgensteins Nachlaß zitieren zu dürfen. Da Wittgenstein in den Bemerkungen eine Vielzahl von Ausdrücken hervorhebt - in den Editionen dargestellt durch Kursivdruck oder mittels Kapitälchen - oder viele von ihnen in einfachen oder doppelten Anführungszeichen setzt (was häufig für eine Interpretation wichtig ist, manchmal den Leser aber auch nur in Verwirrung bringt), habe ich diese bei meinen Zitaten aus seinen Schriften ausnahmslos beibehalten - und zwar unabhängig davon, ob sie für meine Interpretation gerade relevant sind oder nicht. Auch Wittgensteins teils absichtlich unkonventionell gesetzte (Fß, S. 546), teils schlicht falsche Zeichensetzungen habe ich nicht angetastet, sondern sie so übernommen, wie sie in den Editionen, Typo- und Manuskripten vorgegeben sind. Die Zitate selbst erscheinen in Anführungszeichen ("), während Wittgensteins eigene Markierungen durchweg wie in den meisten Fällen der Werkausgabe in Braquets (>,defence of common sense< [...] zu beschäftigen, d.h. mit seiner Behauptung, von einer Anzahl von Sätzen wisse er mit Sicherheit, daß sie wahr seien; z.B.: »Hier ist eine Hand und hier eine zweite«, »Die Erde bestand lange Zeit vor meiner Geburt« und »Ich habe mich niemals weit von der Erdoberfläche entfernt«."

Dies kann so verstanden werden, als sei Wittgenstein aus einer Art Lethargie erwacht, weil Malcolm ihn mit einem für ihn neuen Problem konfrontierte, nämlich mit der philosophisch interessanten Eigenart Moorescher Sätze. Doch die Gedanken, die sich vor allem in Moores Aufsätzen A Defense of Common Sense und Proof of an External World^ befinden, sind - wenig überraschend bei der persönlichen Freundschaft von Moore und Wittgenstein - dem letzteren nicht erst bei seinem Besuch in den USA bekannt geworden, und sie sind dort auch nicht zum ersten Mal Gegenstand seiner philosophischen Überiegungen gewesen. Denn in den Typoskripten, die den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie zugrundeliegen, finden sich Zeugnisse der Reflektion über Mooresche Sätze wie "Die Erde hat mehr als 100000 Jahre existiert" (ßPP I 117; vgl. PU II, S. 565) und "Ich weiß, daß ich zwei Hände habe" φΡΡ II 737; vgl. Ζ 405), und diese beiden Typoskripte {TS 229 und TS 232) wurden im Spätherbst 1947 beziehungsweise im Frühherbst 1948 diktiert,^ also ein bis zwei Jahre vor seinem Besuch bei Malcolm Mitte 1949. - Dies sind allerdings auch die einzigen (mir bekannten) Belege für eine frühere Beschäftigung Wittgensteins mit Mooreschen Sätzen; ein weitergehendes Interesse scheint mir damit nicht

Moore 1925 und Moore 1939. s. das Vorwort der Herausgeber. BPP 1, S. 5.

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1. Einleitung

dokumentiert zu sein/ - Bezogen auf jene Mooreschen Sätze fahren die Herausgeber im Vorwort dann fort: "[...] diese hatte[n] Wittgenstein schon seit langem interessiert, und er hatte zu Moore gesagt, dies sei sein bester Aufsatz [gemeint ist A Defense ...]. Moore stimmte dem zu."

Woher die Herausgeber wissen, (1) daß und inwiefern Wittgenstein sich seit langem für Moores Aufsätze interessiert habe, und (2) daß Wittgenstein mit Moore darüber gespmchen hat, sagen sie leider nicht.^ Norman Malcolm selbst beschreibt die damaligen Umstände allerdings etwas anders: "Wittgenstein had remarked to me in Cambridge in 1946-47 that the only work of Moore's that greatly impressed him was Moore's discovery of what Wittgenstein labelled >Moore's paradox< [...]. I asked, in protest, whether he didn't agree that Moore's >defense of common sense< was an important idea. Wittgenstein gave an affirmative nod of the head; but I had the definite impression that this part of Moore's thought had not much occupied him. [...] My belief is that what transpired in Ithaca was not that a long-standing interest of Wittgenstein was restimulated, but rather that he suddenly became absorbed in a subject-matter that had not previously captured his attention."'

Zusammenfassend kann man jetzt wohl behaupten: Zwar waren Wittgenstein Moores Gedanken aus A Defense ... und dem Proof... bekannt, aber er hat sich vor seinem Besuch in den USA kaum mit ihnen beschäftigt. Diejenigen Textpassagen in den Philosophischen Untersuchungen iedoch, die einige der zentralen Themen von Über Gewißheit andeuten,"* sind sicherlich nicht in Auseinandersetzung mit Moore entstanden. Femer kann der Wortlaut aus dem ersten Absatz des Vorworts den Eindruck erwecken (und ich weiß definitiv, daß er bei einigen Lesern diesen Eindruck erweckt hat), daß sich Wittgenstein dann spätestens seit seinem Besuch in den USA intensiv mit Moores Aufsätzen beschäftigt hat. Auch vermittelt die bisherige Rezeptionsgeschichte von Über Gewiß-

Mir ist in der Zwischenzeit ein von Norman Malcolm verfaßtes Protokoll einer Diskussion zwischen Moore und Wittgenstein im Jahre 1939 bekamit geworden, in der es um den Gebrauch von "it is certain ..." geht. Meiner Meinung nach wird darin deutlich, daß Wittgenstein nichts von Moores Oberiegungen hielt, ja, daß er sich übeihaupt nicht emsthaft auf Moores Gedanken einlassen wollte. Für eine mögliche Erklärung, s.u. S. 21, Fußnote 2. Malcolm 1976, S. 172. Fn. 9. z.B. PU 84, 87, 148-150, 212, 679.

1.2. Zum Vorwort von Ober Gewißheit

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heit leicht den Eindruck, die Auseinandersetzung mit Moore (und insofern mit dem Skeptizismus) stehe im sachlichen Zentrum dieser Aufzeichnungen. Da ich aber, wie schon in Kapitel 1.1. angegeben, eine andere Einschätzung von Über Gewißheit habe, gilt es nun, diesen Eindruck bzw. diese Vorstellung als unzutreffend zu erweisen. Eine vorbereitende These lautet daher: Wittgenstein hat sich nicht (vielleicht niemals?) intensiv mit den beiden Aufsätzen Moores beschäftigt, weil er in ihnen keine profunde philosophische Argumentation erwartete. Deshalb erscheint es mir erwähnenswert, daß Wittgenstein Moore wohl nicht unbedingt wegen dessen philosophischer Tiefe, sondern mehr wegen dessen philosophischer (und wohl auch persönlicher) Aufrichtigkeit oder Redlichkeit zu schätzen schien. So schrieb Norman Malcolm: "I should add that Wittgenstein once said to me that Moore's lecture >Proof of An External WorldGranmiatikWesentlich< ist nie die Eigenschaft des Gegenstandes, sondern das Merkmal des Begriffes" (BGM, S. 64; vgl. PU 50).

Der Modus der Notwendigkeit hat für Wittgenstein dcmnach in der Grammatik ihren Platz - von einer metaphysischen Notwendigkeit will und braucht er dank der Autonomie der Grammatik nicht zu reden. Dies ist mit der in Kapitel 2.1.1. skizzierten Lehre von der Vagheit der Begriffe vereinbar. Denn damit hatte Wittgenstein nur darauf hinweisen wollen, daß es nicht der Fall sein muß, daß alle (philosophisch interessanten) Wörter durch mindestens ein wesentliches Merkmal bestimmt werden körmen. Dazu steht nun nicht in Widerspruch, daß Wittgenstein anerkennt, daß einige Wörter unserer Sprache von uns so gebraucht werden, daß ihre Verwendungen bestimmte Kriterien erfüllen müssen. So wird etwa das Wort "Junggeselle" von uns so gebraucht, daß es unter normalen Umständen unmöglich, d.h. sinnlos ist, von einem verheirateten Junggesellen zu sprechen. Mit anderen Worten: In unserer Sprache hat unter normalen Umständen das Wort "Junggeselle" eine Bedeutung, die nur mit dem Merkmal 'unverheiratet' vereinbar ist. Wenig überraschend und in Übereinstimmung mit manchen traditionellen philosophischen Auffassungen ist dieses Phänomen für Wittgenstein eine Eigenschaft der Sprache bzw. der Grammatik, nicht aber eine (metaphysische) Eigenschaft derjenigen, die als Junggesellen bezeichnet werden (ich komme auf die Relevanz von 'Notwendigkeit' hinsichtlich einer Bedeutungstheorie noch in Kapitel 2.2. zurück). Sätze, die wie "Junggesellen sind unverheiratet" solche Notwendigkeiten formulieren, die also wahr oder richtig sind, nicht weil sie der Wirklichkeit entsprechen, sondern allein aufgrund der Regeln der Grammatik, nennt Wittgenstein "grammatische Sätze". Wenn er von Wörtern und Begriffen statt von Sätzen redet, nennt er es eine "grammmatische Bemerkung". Aber auch Bemerkungen über die Grammatik selbst nennt Wittgenstein "grammatische Bemerkung":

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen "Die grammatischen Regeln sind willkürlich, heißt: ihr Zweck ist nicht (z.B.) dem Wesen der Negation oder der Farbe zu entsprechen - sondern der Zweck der Negation und des Farbbegriffs. Wie der Zweck der Schachregeln nicht ist, dem Wesen des Schach zu entsprechen, aber dem Zweck des Schachspiels. Oder: - Die Schachregeln sollen nicht dem Wesen [...] des Schachkönigs entsprechen, denn sie geben ihm dieses Wesen, wohl aber sollen die Regeln des Kochens und Bratens der Natur des Fleisches entsprechen. - Dies ist natürlich eine grammatische Bemerkung" (WS 160, S. 6).'

Grammatische Sätze beschreiben demnach Strukturen der Sprache wie auch der Grammatik; sie beschreiben insofern "die sprachliche Situation" (ÜG 51).^ Deshalb kann man sagen, daß mittels grammatischer Sätze grammatische Regeln formuliert werden, die es einzuhalten gilt, will man die betreffende Sprache richtig sprechen. Und so zeigt sich, daß auch eine philosophische Grammatik sowohl normativ als auch deskriptiv begriffen werden muß. Wenn grammatische Sätze die Form von Behauptungssätzen haben (wenn sie z.B. im Modus des Indikativs stehen), scheinen sie so etwas wie Erfahrungssätze zu sein. Doch dem widerspricht Wittgenstein vehement (PU 251). Er macht den Unterschied von Erfahrungssatz und grammatischen Satz am Unterschied der Sätze "Der Körper A ist heller als der Körper B" und "Weiß ist heller als schwarz" deutlich: "Ein Sprachspiel: Darüber berichten, ob ein bestimmter Körper heller oder dunkler als ein andrer sei. - Aber nun gibt es ein verwandtes: Ober das Verhältnis der Helligkeiten bestimmter Farbtöne aussagen. [...] - Die Form der Sätze in beiden Sprachspielen ist die gleiche: »X ist heller als Y«. Aber im ersten ist es eine externe Relation und der Satz zeitlich, im zweiten ist es eine interne Relation und der Satz zeitlos" (BF, S. 13).

Es sieht so aus, als ob Wittgenstein bis in die Zeit der Philosophischen Untersuchungen gedacht hat, ein grammatischer Satz sei immer nur ein grammatischer Satz. Später dann hat er aber durchaus die Möglichkeit gesehen, daß ein und derselbe Satz (ein und dasselbe Satzzeichen) in einem Kontext ein empirischer, in einem anderen Kontext ein grammatischer Satz sein kann, beziehungsweise, daß sich diese Unterschiede nicht immer eindeutig bestimmen lassen (vgl. BF, S. 20; ÜG 319). - Ich

' ^

zitiert nach Baker/Hacker 1985, S. 331 (einige Orthographie- und Zeichensetzungsfehler wurden von mir stillschweigend korrigiert). Grammatische Sätze sind wahr, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinn: PU 252.

2.1.2. Grammatik und Logik„

63

komme auf diese Problematik noch einmal später in diesem Kapitel wie auch im Hauptteil der Arbeit zurück (Kapitel 3.7.). Wann verwenden wir einen grammatischen Satz? Da man ihn als Erläuterung einer Bedeutung verstehen kann, kann ein grammatischer Satz durchaus beim Lehren einer Sprache oder Terminologie - man denke nur an Definitionen' - verwendet werden.^ Allgemeiner kann man wohl sagen, grammatische Sätze werden dann verwendet, wenn man sich, um Mißverständnisse zu vermeiden, über den Sprachgebrauch verständigt. Auch in der Philosophie, wenn über das Wesen von X gesprochen oder Begriffe geklärt oder erläutert werden soll, werden oft nur grammatische Sätze gebraucht (Wittgenstein tut dies ständig). Freilich ist dabei wichtig, sich darüber im klaren zu sein, daß man lediglich grammatische Sätze verwendet, nicht aber irgendwelche metaphysischen Behauptungen (mit ontologischen Implikationen) aufstellt: "Philosophische Untersuchungen: begriffliche Untersuchungen. Das Wesentliche der Metaphysik; daß sie den Unterschied zwischen sachlichen und begrifflichen Untersuchungen verwischt" (Z 458; vgl. BPP I 949).

Bemerkt man diesen Unterschied nicht, dann kann man einer grammatischen Täuschung {ΡΌ 110), die "durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen" entsteht {PU 111), unterliegen. "Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen - »Wissen«, »Sein«, »Gegenstand«, »Ich«, »Satz«, »Name« - und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück" (PU 116). "Man hat das Wort »Sein« für eine sublimierte, ätherische Art des Existierens gebraucht. Betrachte nun den Satz: »Rot ist« (z.B.). Freilich, niemand gebraucht ihn je; wenn ich mir aber doch einen Gebrauch für ihn erfinden sollte, so wäre es: als einleitende Formel zu Aussagen, die dann vom Wort »rot« Gebrauch machen sollen" {BGM, S. 64). "Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik" (PU 373).

Definitionen sind als grammatische Sätze anzusehen, weil sie die Bedeutung eines Zeichens festlegen: PU 258. vgl. Schulte 1989, S. 117. - Schultes Charakterisierung von grammatischen Sätzen als Scheinsätze halte ich aufgrand dieser sinnvollen Möglichkeiten ihrer Verwendung als unangemessen.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen "Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische. Und diese Betrachtung bringt Licht in unser Problem, indem sie Mißverständnisse wegräumt. Mißverständnisse, die den Gebrauch von Worten betreffen; hervorgerufen, unter anderem, durch gewisse Analogien zwischen den Ausdrucksformen in verschiedenen Gebieten unserer Sprache" {PU 90).

Eine Therapie gegen grammatisciie Täuschungen ist es, eine Übersicht über den Gebrauch der Regeln zu gewinnen: "Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. - Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit" (PU 122).

Allmählich scheint Wittgenstein jedoch bemerkt zu haben, daß auch sein Begriff der Grammatik unübersichtlich ist. Er schien nämlich zu Beginn der 30er Jahre, als er den Begriff 'Grammatik' im Zusammenhang einer Konzeption von 'Sprache als universales Medium' entwickelte, davon auszugehen, daß 'Grammatik' für so etwas wie ein prinzipiell rekonstruierbares Gesamtsystem aller Regeln einer Sprache steht:' "Sprache heißt die Gesamtheit der Sätze" (PB, S. 113). "Zur Grammatik [...] gehören alle Bedingungen (die Methode) des Vergleichs des Satzes mit der Wirklichkeit. Das heißt, alle Bedmgungen des Verständnisses" (PG, S. 88). "There are no gaps in grammar; grammar is always complete" (WLL, S. 16)

Ein solcher Holismus jedoch verkennt die methodischen Aponen der philosophischen Hermeneutik (vgl. Kapitel 2.1.1.) und paßt deshalb gar nicht zu Wittgensteins Konzeption der Betrachtung übersichtlicher Sprachspiele. Dieser Antagonismus von übersichtlichen Sprachspielen einerseits und holistischer Auffassung von Grammatik andererseits wurde ihm wohl erst allmählich bewußt. Zwar schreibt er schon in den Philosophischen Untersuchungen anti-holistisch: "Hier müssen wir uns aber hüten, zu glauben, es gebe [...] eine Gesamtheit aller Bedingungen [...]" (PU 183),

doch erst gegen Ende der 40er Jahre beginnt er, dies bei seiner eigenen Terminologie zu berücksichtigen. Dann nämlich fangt er damit an, die Ausdrücke "grammatisch" und "Grammatik" durch "logisch" und "Logik" zu ersetzen (explizit findet sich dies in LS I 845). In Über Gewißheit erläutert er datm diese neue Begrifflichkeit wie folgt:

vgl. Schulte 1989, S. 114; auch Hacker deutet Grammatik" holistisch (Hacker 1986, S. 184f).

2.1.2. Grammatik und Logik,

65

"Und zur Logik gehört alles, was ein Sprachspiel beschreibt" (OG 56). "[...] wenn es zur Beschreibung des Sprachspiels gehört, so gehört es zur Logik" (ÜG 628; vgl. OG 82). "[...] Es ist ein logischer Satz, denn er beschreibt ja die begriffliche (sprachliche) Situation" (OG 51; vgl. auch BPP I 1005). "Die Belehrung »A ist ein physikalischer Gegenstand« geben wir nur dem, der entweder noch nicht versteht, was »A« bedeutet, oder was »physikalischer Gegenstand« bedeutet. Es ist also eine Belehrung über den Gebrauch von Worten und »physikalischer Gegenstand«, ein logischer Begriff. (Wie Farbe, Maß,...)" (OG 36; vgl. OG 43) "Wenn aber Einer sagte »Also ist die Logik eine ErfahrungsWissenschaft«, so hätte er unrecht" (OG 98).

Diese Belege, denke ich, genügen, um zu zeigen, daß der Begriff "Logik" dieselbe Bedeutung und Funktion wie der Begriff "Grammatik" hat - jedoch mit dem Unterschied, daß sich der Begriff "Grammatik" auf die gesamte Sprache zu beziehen scheint, während "Logik" stets nur auf ein überschaubares Sprachspiel angewandt wird.' — Ich werde daher im folgenden (außer in Zitaten) meist die Ausdrücke "Logik" und "logisch" verwenden. Um jedoch Verwechslungen mit der geläufigeren Verwendung von "Logik" im Sinne von Aussagen-, Prädikaten- oder Modallogik zu vermeiden, werde ich Wittgensteins und meine Verwendung dieser Wörter im Sinne von 'die Beschreibung eines Sprachspiels' oder 'die Regeln eines Sprachspiels' stets mit einem Index versehen und sie mit "logischj' und "LogikJ' notieren. Wenn ich soeben schrieb, der Begriff 'Logik„' habe den Begriff 'Grammatik' ersetzt, so gilt dies aber nicht für jenen Aspekt, der oben die Autonomie der Grammatik genannt wurde. Wenn man sich daran erinnert, daß die Grammatik der Wirklichkeit 'keine Rechenschaft schuldig ist', und daß grammatische Sätze keinesfalls mit Erfahrungssätzen verwechselt werden dürfen, dann wird die Veränderung in diesem Punkt bei folgender Bemerkung offensichtlich: "Aber müßte man daim nicht sagen, daß es keine scharfe Grenze gibt zwischen Sätzen der Logik und Erfahrungssätzen? Die Unschärfe ist eben die der Grenze zwischen Regel und Erfahrungssatz" (OG 319; vgl. BF, S. 20).

Auf die Gründe dieser Veränderung, die eine Aufhebung der Autonomie der Logik^ nach sich ziehen, werde ich ab Kapitel 3.7. noch ausführlich zu sprechen kommen.

vgl. Hertzberg 1984, S. 201f.

66

2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Zum Abschluß dieses Kapitel muß ich noch auf eine recht problematische Komponente in Wittgensteins Redeweise von der Logik^ eines Sprachspiels aufmerksam machen. Im folgenden werde ich öfter von der Logik^ eines Sprachspiels oder von der Logik^ einer Praxis reden. Da drängt sich sofort die Frage auf: "Was ist eine Logik„?", oder auch: "Wie sieht eine Logik^ aus?" Darauf läßt sich zunächst einmal im Sinne der oben angeführten Belege antworten, daß man unter einer Logik„ eine Beschreibung der Verwendungsmöglichkeiten eines Ausdrucks wie auch eine Beschreibung eines Sprachspiels oder die Angabe der Regeln eines Sprachspiels verstehen kann - also etwa in der Art, wie Wittgenstein das Sprachspiel der Bauleute in PV 2+8 beschrieben hatte. Nämlich: (1) durch Angabe des Lexikons und der Syntax; (2) durch Verweis auf Verwendungsbedingungen von Wörtern, das ist, worauf sich einige der Wörter beziehen können (in diesem Sinne gehören auch Sätze wie "das ist eine Platte" zur Logik^, ebenso Kennzeichnungen), welche Funktionen die Wörter des Sprachspiels haben können, welche performativen Akte (Züge) in dem Sprachspiel möglich sind, wie auch, mit welchen Wörtern und Handlungen sie begleitet werden müssen oder können; und (3) auf welchen Kontext dieses Sprachspiel bezogen ist. — Wenn in diesem Sinne zum Beispiel ein Sprachspiel aus dem Bereich der Mathematik beschrieben werden sollte, dann - so könnte man meinen - wäre eine solche Beschreibung zwar sehr komplex, aber vielleicht doch noch vorstellbar. Doch ein solches Regelwerk in bezug auf Sprachspiele wie "Atomphysik" oder "Aktienbörse" zu erstellen, scheint praktisch aussichtslos zu sein. Wittgenstein aber war sogar der Meinung, daß es definitiv unmöglich ist, eine vollständige Beschreibung auch nur irgendeines Sprachspiels zu erstellen: "Hier müssen wir uns aber hüten, zu glauben, es gebe [...] eine Gesamtheit aller Bedingungen" (PU 183). "Aber kann man aus einer Regel ersehen, unter welchen Umständen ein Irrtum in der Verwendung der Rechenregeln logisch ausgeschlossen ist? [...]" (ÜG 26) "Wollte man aber dafür etwas Regelartiges angeben, so würde darin der Ausdruck »unter normalen Umständen« vorkommen. Und die normalen Umstände erkennt man, aber man kann sie nicht genau beschreiben. Eher noch eine Reihe von abnormalen" (OG 27; vgl. BPP Π 200 = Ζ 114). "»An diesen Fall hat niemand gedacht« - kann man sagen. Ich kann zwar nicht die Bedingimgen aufzählen, unter denen das Wort »denken« zu gebrauchen ist, - aber, wenn ein Umstand den Gebrauch zweifelhaft macht, so kann ich's sagen, und auch, wie die Lage von der gewöhnlichen abweicht" (BPP Π 202 = Ζ 118).

2.1.3. Regel und Obereinstimmung

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"[...] es ist eine Logik, die nicht gebraucht wird, weil, was sie lehrt, nicht durch Sätze gelehrt wird" {OG 51). "Komme ich nicht immer mehr und mehr dahin zu sagen, daß die Logik sich am Schluß nicht beschreiben lasse? Du mußt die Praxis der Sprache ansehen, dann siehst du sie" ф С 501).

Mit anderen Worten: Eine vollständige, explizite Logik^ gibt es nicht. Nicht vollständig explizierbar ist nämlich diejenige Komponente einer Logik^, die mit Bezug auf die Wirklichkeit Verwendungsbedingungen von Ausdrücken angeben müßte (s. ÜG 27). Diese Komponente ließe sich nur dann vollständig explizieren, wenn die Gesamtheit aller möglichen Verwendungsbedingungen bekannt wäre. Dieses zu erwarten hält Wittgenstein aufgrund seiner Einsichten wider eine universale Hermeneutik für philosophisch unredlich, denn es ist keine Methode bekannt, die die Vollständigkeit und Richtigkeit einer Liste aller möglichen Regeln garantiert, noch lassen sich Wesensmerkmale eines Sprachspiels ein für allemal bestimmen (vgl. Kapitel 2 . 1 . 1 . ) . Konsequenterweise gibt Wittgenstein den Anspruch auf eine vollständige Explikation der Voraussetzungen eines Sprachspiels auf und führt statt dessen die Klausel "unter normalen Umständen" in die Logik^ ein. Deshalb kann man wohl sagen, daß der Doktrin von der Autonomie der Grammatik aus dem Großen Typoskript keine Doktrin von der Autonomie der Logik^ in Über Gewißheit folgt. Allerdings erhält eine Logik„ durch die Klausel "unter normalen Umständen" eine Art metaphysischen Input, nämlich durch ihren Bezug auf die normalen Umstände. Wittgenstein jedoch ist der Meinung, daß dies praktisch, das heißt, in der alltäglichen Praxis wie auch in der philosophischen Praxis, wo ein Sprachspiel zum Zwecke der Auflösung einer konkreten philosophischen Verwirrung betrachtet wird, irrelevant ist. Damit, denke ich, hat er recht. Daß dies dennoch philosophisch-í/íeoreíisc/í unbefriedigend ist, werde ich in den Kapiteln 3. und 4. zu zeigen versuchen.

2.1.3. Regel und Übereinstimmung Sowohl aus der Konzeption einer Grammatik, die den Gebrauch von Sprache durch die Angabe von Regeln beschreibt, als auch aus der Konzeption von Sprachspielen, die nach Regeln gespielt werden, ergibt sich für Wittgenstein, dem Begriff 'Regel" eine fundamentale Rolle

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

zuzuschreiben. Das heißt: Der Begriff 'Regel' ist in Wittgensteins Philosophie ein Grundbegriff, der nicht durch andere Begriffe definiert wird. Wittgenstein muß also voraussetzen, daß die Bedeutung von "Regel" ihm wie auch seinen Lesern durch den normalen, alltäglichen Sprachgebrauch bekannt ist (vgl. Ζ 318 = BPP II 413): "Es ist mir erlaubt das Wort »Regel« zu verwenden, ohne erst die Regeln des Gebrauchs dieses Wortes zu tabulieren. Und diese Regeln sind nicht Ober-Regeln" {PG, S. 115).

Das bedeutet aber auch, daß Wittgenstein es im allgemeinen offen läßt, mit welcher Art von Regeln er es zu tun hat, ob er es etwa mit regulativen, konstitutiven oder auch taktisch-strategischen Regeln' zu tun hat (mir ist lediglich eine Stelle im Blue Book bekannt, wo Wittgenstein auf eine derartige Unterscheidung zu sprechen kommt; BB, S. 13). Insofern läßt sich sicherlich sagen, daß sich die Vagheit, die sich bereits bei der Bedeutung des Wortes "Sprachspiel" zeigte, auch bei der Bedeutung von "Regel" findet.^ Die Funktion, die Wittgenstein mit seiner Begrifflichkeit verfolgt, wird von ihm folgendermaßen angegeben: "Wir aber betrachten die Spiele und die Sprache unter dem Gesichtspunkt eines Spiels, das nach Regeln vor sich geht. D.h. wir vergleichen die Sprache immer mit so einem Vorgang" (PG, S. 63). "Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache [...]. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache werfen sollen" (PU 130).

Wittgenstein will demnach menschliches Verhalten, insbesondere sprachliches Verhalten, mit Hilfe der Analogie, wie man ein Spiel spielt, erklären oder beschreiben. Eine menschliche Handlung gilt dann als erklärt, wenn man die Regel oder die Regeln angeben kann, nach denen die Handlung erfolgte. So läßt sich zum Beispiel das Verhalten eines Schülers, der "2, 4, 6, 8, 10, ..." zählt, damit erklären, daß man sagt, er folge der Regel 'Addiere 2'. Anders ausgedrückt: Man versteht die

Diese Unterscheidungen sind lediglich illustrativ zu verstehen, eine vollständige oder disjunkte Kategorisiemng ist damit nicht beabsichtigt. Eine Untersuchung über verschiedene Bedeutungen des Wortes "Regel" findet sich in M. Blacks Models and Metaphors (Black 1962, Kapitel VI). Black gelangt (sinngemäß) zu der Ansicht, daß die Verwendungen von "Regel" eine Familienähnlichkeit aufweisen, vgl. Schulte 1989, S. 155.

2.1.3. Regel und Übereinstimmung

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Handlung eines Menschen, wenn man die Regel oder die Regeln angeben kann, denen er folgt. "Verstehen" in diesem Sinne impliziert nichts Psychologisches, wie es demgegenüber Ausdrücke wie "sich einfühlen", "nachvollziehen" oder "sich hineinversetzen" täten. Denn ich kann zum Beispiel die Handlung eines Menschen aus einer fremden Kultur oder die Handlung einer Person im Roman dadurch verstehen oder erklären, daß ich sage, er vollziehe ein Menschenopfer, ohne daß ich mich dabei in die Stimmung desjenigen einfühlen können muß, der ein Menschenopfer begeht.' Dieses Beispiel zeigt auch, daß ich keinesfalls zu derselben Lebensform gehören muß, um Handlungen anderer verstehen zu können.^ Vorausgesetzt wird von Wittgenstein lediglich, daß Menschen unter normalen Umständen nicht chaotisch, sondern mit Regelmäßigkeit handeln {PI! 206f) - tun sie es nicht, würden wir sie, wenn sie Mitglieder unserer Kultur sind, als geistig gestört betrachten und wohl auch nicht unbedingt verstehen wollen (bzw. können). Ein wichtiger Aspekt für Wittgenstein ist, daß die Bedeutung des Ausdrucks "einer Regel folgen" das Leben und Handeln in einer Gemeinschaft impliziert. Mit anderen Worten: Von regelmäßigem Verhalten zu sprechen ist nur dann (logisch^) sinnvoll, wenn die entsprechenden Handlungen potentiell gemeinschaftliche Handlungen sind: "Ist, was wir »einer Regel folgen« nennen, etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben, tun könnte? - Und das ist natürlich eine Anmerkung zur Grammatik des Ausdrucks »der Regel folgen«. Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. - Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche Institutionen)" {PU 199; vgl. ßGM, S. 193, 322, 334, 346). "Darum ist >der Regel folgern eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel >privatim< folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen" ( P U 202).

'Einer Regel folgen' bedeutet demnach (dies ist ein logischer^ Aspekt), eine Handlung innerhalb einer gemeinschaftlichen Praxis auszuführen. Die Behauptung, man könne einer Regel nicht privatim folgen, versucht

' ^

Wittgensteins Anti-Psychologismus wird ausführlich in Kapitel 2.2. diskutiert. Insofern besteht ein grandsätzliches Mißverständnis, wenn sich Hermeneutiker wie Gadamer oder Apel auf Wittgenstein beziehen (vgl. Gadamer 1974; Apel 1978). Zum Problem des Verstehens fremder Kulturen, vgl. Kapitel 4.1.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Wittgenstein an ganz anderer Stelle dadurch zu begründen, daß er die These, man könne einer Regel privatim folgen, widerlegt. Dazu gilt es zunächst, sich die besondere Bedeutung von "privat" bzw. "privatim" in diesem Zusammenhang zu verdeutlichen. Es geht hier ja um eine begriffliche Untersuchung: Daß ein Robinson Crusoe auf einer Insel eine neue Praxis entwickelt, weil er dort zum Beispiel bisher unbekannte, domestizierbare Tiere vorfindet, die eine Behandlung verfangen, die mit keiner bekannten Tierhaltung völlig übereinstimmt, oder daß jemand in seinem Tagebuch in einem Geheimcode schreibt, den sonst niemand kennt, sind singulare oder individuelle Praktiken, deren Möglichkeit Wittgenstein bei seinem Versuch, die Unmöglichkeit einer privaten Regel-Befolgung zu beweisen, ausdrücklich nicht anzweifelt: "Freilich ich könnte heute ein Brettspiel erfinden, das nie wirklich gespielt würde. Ich würde es einfach beschreiben. Aber das ist nur möglich, weil es schon ähnliche Spiele gibt, d.h. weil solche Spiele gespielt werden" (BGM, S. 334). "Ein Mensch kann sich selbst ermutigen, sich selbst befehlen, gehorchen, tadeln, bestrafen, eine Frage vorlegen und auf sie antworten. Man könnte sich also auch Menschen denken, die nur monologisch sprächen. [...] Wäre aber auch eine Sprache denkbar, in der Einer seine inneren Erlebnisse - seine Gefühle, Stimmungen, etc. - für den eigenen Gebrauch aufschreiben, oder aussprechen könnte? - Können wir denn das nicht in unserer gewöhnlichen Sprache nicht tun? - Aber so meine ich's nicht. Die Wörter dieser Sprache sollen sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten, Empfindungen. Ein Anderer kann diese Sprache also nicht verstehen" (PU 243).

Das bedeutet: (1) Individuelle Praktiken (wie Geheimcodes), auch wenn sie nur einmal ausgeführt würden, sind allein deshalb nicht privat in dem hier relevanten Sinn, weil sie von jedem anderen Menschen (im Prinzip) auch übernommen werden könnten - derm sie sind anderen durch Angabe der entsprechenden Regeln erklär- und lehrbar. "Privat" in dem hier relevanten Sinne soll jedoch bedeuten, daß eine solche Übernahme unmöglich ist, weil eine private Regel anderen gerade nicht erklär- und lehrbar sein soll. Es soll demnach anderen unmöglich sein, derselben privaten Regel folgen zu können. Im folgenden werde ich das Wort "privat" auch nur in diesem Sinne verwenden. (2) Wittgenstein will die Möglichkeit einer privaten Praxis am Beispiel einer privaten Empfindungssprache diskutieren. Diese bietet sich als geradezu paradigmatischer Kandidat für eine private Regel-Befolgung an, wenn man folgende Überlegung zugrunde legt: "Nur ich weiß wirklich, was ich meine, werm ich den Satz 'Ich habe eine Empfindung E' äußere, womit

2.1.3. Regel und Übereinstimmung

71

ich eine ganz besondere Empfindung an einer bestimmten Stelle meines Körpers meine. Es ist eine Empfindung, die wohl nur ich habe. Sagt ein anderer jenen Satz, dann ist überhaupt nicht sicher gestellt, daß seine mit Έ ' bezeichnete Empfindung wirklich identisch ist mit meiner Empfindung E" (vgl. PV 246, 253).' Hierbei wird eine ontologische Privatheit ("nur ich habe E") zusammen mit einer epistemischen Privatheit ("nur ich weiß wirklich, ob ich E habe") zur Grundlage für die Behauptung einer semantischen Privatheit ("nur ich weiß, was ich mit Έ ' meine"). Die Sinnlosigkeit der Behauptung, man könne einer Regel privat folgen, begründet Wittgenstein am Beispiel einer privaten Empfindungssprache in PU 258. Ich werde diese Bemerkung abschnittsweise zitieren und ihren Argumentationsgang erläutern. "Stellen wir uns diesen Fall vor. Ich will über das Wiederkehren einer gewissen Empfindung ein Tagebuch führen. Dazu assoziiere ich sie mit dem Zeichen »E« und schreibe in emem Kalender zu jedem Tag, an dem ich die Empfindung habe, dieses Zeichen. - Ich will zuerst bemerken, daß sich eine Definition des Zeichens nicht aussprechen läßt. -" {PU 258)

Wittgenstein operiert hier mit einem Gedankenexperiment. Einem Opponenten, der die Möglichkeit einer privaten Praxis in Form einer privaten Empfindungssprache behauptet, wird die Annahme zugestanden, er habe eine "gewisse Empfindung", für die er als Namen den Ausdruck "E" einführt. Die Zuordnung von Name und Empfindung soll 'einfach' mit Hilfe einer Assoziation (vgl. PV 256) geschehen. Falls "E" tatsächlich ein Ausdruck einer privaten Sprache ist, kann es für "E" auch keine Definition geben. Denn eine Definition ersetzt den einen in seiner Bedeutung unbekannten sprachlichen Ausdruck (das explanandum) durch einen anderen sprachlichen Ausdruck (das explanans), der (letztlich) nur aus in ihrer Bedeutung bereits bekannten Ausdrücken besteht. Würde "E" auf diese Weise definiert werden ( " Έ ' ist eine Empfindung, die ..."), dann wäre "E" ein definierter Terminus, der für andere verständlich wäre, und insofern wäre "E" kein Ausdruck einer privaten Sprache. Es ließe sich "E" aber auch noch nicht innerhalb der privaten Sprache definieren.

'

Wittgenstein hält solche Überlegungen für einen Ausdruck philosophischer Verwirrung. Seine eigene Analyse von Empfindungssätzen wie "Ich habe Schmerzen" weicht deshalb von der oben skizzierten ab, doch ich diskutiere dies hier nicht ausführlich (s. dazu Kapitel 2.2.3.). Auch diskutiere ich hier nicht andere Implikationen des sogenannten Privatsprachen-Argumentes, wie etwa den Angriff auf den Solipsismus (vgl. Hacker 1986, Kapitel Vlllf; Pears 1988).

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

denn diese gibt es ja noch nicht, sondern soll mit Hilfe der Prozedur über "E" erst etabliert werden. Der Opponent benötigt daher ein Verfahren, die Bedeutung von "E" auf nicht-sprachliche Weise zu konstituieren. Wittgenstein läßt ihn daher in PU 258 fortfahren: "Aber ich kann sie [d.i. die Konstituierung der Bedeutung des Zeichens 'E'] doch mir selbst als eine Art hinweisende Definition geben! - Wie? kann ich auf die Empfindung zeigen? - Nicht im gewöhnlichen Sinne" (PU 258).

Wittgenstein hatte in PU 27-35 vorgeführt, daß eine normale, hinweisende Definition auch nur ein Akt ist, der den Kontext eines bereits bekannten Sprachspiels schon voraussetzt: Angenommen, jemand will das (Kunst-) Wort "BRALUG" definieren, indem er auf ein Glas Milch zeigt und sagt "Das ist BRALLIO", dann ist gar nicht klar, worauf sich "BRALUG" beziehen soll: etwa auf die Flüssigkeit (Milch), auf die Farbe der Flüssigkeit (weiß), auf das Material des Gefäßes (Glas), auf die Form des Gefäßes (z.B. zylinderförmig), auf die Anzahl der Gläser (eins), auf den chemischen Zustand der Substanz des Glasinhalts (eine Flüssigkeit, kein Gas), oder auf noch anderes? Die hinweisende oder auch ostensive Definition ist nur dann erfolgreich, wenn eine entsprechende Bestimmung explizit oder durch den Kontext gegeben ist {PU 257). Doch, wie schon bemerkt, dann wäre "E" ein auch anderen verständlicher, aber kein privater Ausdruck. Insofern müßte die Bestimmung der Bedeutung des privaten Zeichens "E" auf eine andere Weise erfolgen. Damit wäre diese Prozedur aber keine normale hinweisende Definition mehr, sondern "eine Art hinweisende Definition", die "nicht im gewöhnlichen Sinne" ausgeführt würde (PU 258). In diesem Sinne läßt Wittgenstein im Rahmen des Gedankenexperimentes seinen Opponenten daher bemerken: "Aber ich spreche, oder schreibe das Zeichen, und dabei konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf die Empfindung - zeige also gleichsam im Innern auf sie. - Aber wozu diese Zeremonie? denn nur eine solche scheint es zu sein!" (PU 258)

Um sein Anliegen zu formulieren, das wird hier deutlich, muß der Opponent offensichtlich von normalen Prozeduren abweichen: Er definiert "gleichsam im Innern." Aber dies ist es nicht, was ihm zum Vorwurf gemacht wird, d.h. es wird nicht behauptet, dies sei unmöglich, vielmehr fährt Wittgenstein im Sinne des Opponenten fort: "Eine Definition dient doch dazu, die Bedeutung eines Zeichens festzulegen. - Nun, das geschieht eben durch das Konzentrieren der Aufmerksamkeit; derm dadurch präge ich mir die Verbindung des Zeichens mit der Empfindung ein. {PU 258)

2.1.3. Regel und Übereinstinimung

73

Soweit der Opponent. Hinsichtlich einer privaten Sprache wurde nun konsistenterweise herausgestellt, daß die Bestimmung der Bedeutung allein durch den (psychischen) Akt, seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren, erreicht werden soll. Was dadurch erreicht sein müßte, um das Führen eines Tagebuchs über das Auftreten einer gewissen Empfindung zu ermöglichen, wird von Wittgenstein noch einmal betont: "»Ich präge sie mir ein« kann doch nur heißen: dieser Vorgang bewirkt, daß ich mich in Zukunft richtig an die Verbindung erinnere" (PU 258).

Der Verweis auf die Zukunft ist deshalb wichtig, weil ein einmaliges Konzentrieren nicht sinnvoll als das Definieren einer Regel bezeichnet werden kann. Denn eine Regel muß eine wiederholte Befolgung ermöglichen - sonst wäre sie keine Regel, d.h. keine Beschreibung eines Handlungstyps bzw. keine Anleitung zu einem Handlungs/yp (s. PU 199). Nun führt Wittgenstein die Position des Opponenten in eine Aporie: "Aber in unserm Fall [wo lediglich eine Erinnerung an das Konzentrieren der Aufmerksamkeit zur Verfügung steht] habe ich ja kein Kriterium für die Richtigkeit. Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von >richtig< nicht geredet werden kann" (PU 258).

Diese Textpassage ist sehr dicht formuliert. Deutlich aber wird, daß Wittgenstein nicht ein psychologisches Problem behandelt, nämlich die Zuverlässigkeit von Erinnerungen, sondern daß er hier eine philosophische, also eine begriffliche Untersuchung durchführt, und zwar darüber, was es bedeutet, sich zu erinnern.' Wittgensteins zugrundeliegende, bedauerlicherweise aber nicht explizierte Grundannahme besteht in dem begrifflichen Faktum, daß 'sich erinnern' - pleonastisch formuliert - 'sich richtig erinnern' bedeutet. Wenn mich jemand beispielsweise fragt, ob ich mich an seine Hochzeit erinnere, und ich sage "Ja", dann ist das Kriterium für die Korrektheit meiner Antwort, daß ich mich tatsächlich an Vorgänge bei seiner Hochzeit erinnere. Sage ich nätnlich daraufhin, "Das war doch die Hochzeit, bei der der Bräutigam zwei Schuhe von verschiedenen Paaren trug", und er entgegnet darauf, "Nein, das war nicht meine, sondern Peters Hochzeit", dann habe ich zwar geglaubt, mich an seine Hochzeit zu erinnern, aber ich tat es nicht. Zu glauben, daß man sich richtig erinnert, garantiert eben nicht, daß man sich richtig

WiUgensteins Anti-Psychologismus ist Thema in den Kapiteln 2.2. und 2.3.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

erinnert (vgl. ÜG 13f). Das bedeutet auch, daß sich im Akt des Erinnems das Kriterium für die Richtigkeit der Erinnerung nicht findet. Der Satz "Ich erinnere mich, daß Italien 1986 Fußball-Weltmeister wurde" wäre nur dann richtig oder wahr, wenn Italien tatsächlich 1986 FußballWeltmeister geworden wäre. Dagegen ist der Satz "Ich bin überzeugt, daß Italien 1986 Fußball-Weltmeister wurde" genau dann wahr, werm ich wahrhaftig glaube, daß Italien 1986 Fußball-Weltmeister wurde, und zwar unabhängig davon, ob der Satz "Italien wurde 1986 Fußball-Weltmeister" wahr ist oder nicht {ÜG 42) (zur Erinnerung: 1986 wurde Argentinien Fußball-Weltmeister). Im Gegensatz zu "Ich bin überzeugt, daß ..." ist der Satz "Ich erinnere mich, daß ..." kein Satz, der allein durch die Wahrhaftigkeit bei seiner Äußerung auch schon seine Wahrheit verbürgt.' Mit anderen Worten: 'Sich zu erinnern glauben' wie auch 'überzeugt sein' beziehen sich auf Bewußtseinszustände, bei denen die Selbstwahrnehmung des Sprechers epistemisch hinreicht, um die Wahrheit eines von ihm wahrhaftig geäußerten Satzes über seinen eigenen Zustand zu garantieren.^ Doch das gilt für 'sich erinnern' nicht, denn der Ausdruck "sich erinnern" veriangt als Kriterium seiner richtigen Verwendung die Überprüfbarkeit des Erinnerten durch andere, und diese semantische Bedingung gilt auch für Sätze über Erinnerungen an eigene Empfindungen.^ Kurz: Nur zu glauben, man würde sich erinnern, ist nicht etwas, was man "sich erinnern" nennen dürfte. Allgemeiner formuliert heißt dies: "[...] der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel >privatim< folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen" (PU 202).

Ich vernachlässige hier die Möglichkeit, daß jemand einen Satz falsch konstruiert, weil er die Bedeutung des von ihm verwendeten Prädikats nicht verstanden hat, oder weil er eine sogenannte 'Freudsche Fehlleisning' begeht, oder ähnliches. vgl. dazu die Analyse von Prädikaten, die sich auf Bewußtseinszustände beziehen, in Tugendhat, Selbsthewußtsein und Selbstbestimmung (1979), S. 50, 86-89. Daß Verstehen und Wissen (das sind Beispiele für Praktiken, in denen Regeln befolgt werden) im für Wittgenstein relevanten Sinne keine Bewußtseinszustände sind, wird in den Kapiteln 2.2. und 2.3. diskutiert, vgl. dazu Wittgensteins Analyse der Empfindungssprache in Kapitel 2.2.3. — Die Appellation an eine Öffentlichkeit, die die Kriterien des Sich-richtig-Erinnems abgibt, wird unterstützt durch die noch unpublizierten Manuskriptquellen zu der Bemerkung PU 258, die sich im MS 119, S. 245ff befinden (verf'aßt am 15. 11. 1937). Wiugenstein redet dort nicht nur von "Schmerzen" oder "inneren Zuständen", sondern auch vom Gebrauch des Wortes "rot"; s. PU 380, 386.

2.1.3. Regel und Übereinstimmung

75

Damit ist freilich die These des Opponenten, daß eine private Praxis möglich sei, am Beispiel der Empfindungssprache' nicht widerlegt worden. Denn gezeigt hat diese Argumentation^ nur, daß dann, wenn es so etwas wie eine private Sprache gebe, wir dies nicht feststellen könnten, da es kein Kriterium gibt, anhand dessen man dies überprüfen könnte. Genauer: Es ist kein Kriterium bekannt, anhand dessen man die für unsere Sprache charakteristische regelmäßig gleiche Verwendung eines Zeichens überprüfen könnte (PU 206, 225).^ Das bedeutet nicht, daß eine private Sprache unmöglich ist, sondern nur, daß die Beschreibung "Das ist eine private Sprache" von uns nicht sinnvoll angewendet werden kann (vgl. PU 270, 380). Und daraus folgt, daß die Fälle von 'Sprache', die wir sinnvoll mit "Sprache" bezeichnen können, weil bei ihnen über eine richtige und falsche Zeichenverwendung entschieden werden kann, notwendigerweise Fälle einer sozialen Sprache sind (vgl. Ζ 567 = BPP II 628). Nur in diesem Sinne soll im folgenden die These "'Einer Regel folgen' ist eine gemeinschaftliche Praxis" als erwiesen gelten. Wittgenstein formuliert diese These in PU 202 ohne Anführung des Adjektivs "gemeinschaftlich" lediglich in der Form, daß ">der Regel folgen< eine Praxis" ist. Seine Begründung dafür ist, daß er Pleonasmen vermeiden will (s. BGM, S. 323).'' Aber er drückt es auch so aus: "Ein Spiel, eine Sprache, eine Regel ist eine Institution" (BGM, S. 334) - wie in wohl beinahe jedem Wörterbuch über das Deutsche nachlesbar, kann die normale Bedeutung des Wortes "Institution" durch den Ausdruck "gemeinschaftliche Einrichtung" angegeben werden.^

Kein besseres, aber ein anderes Beispiel, welches sich als eine private Praxis eignen könnte, wären Traumerzählungen (vgl. BPP I 371). Im folgenden werde ich diese Argumentation, wie üblich, mit "Privatsprachen-Argumenl" bezeichnen. Dies ist ein Ergebnis, dem systematisch Quines These von der Obersetzungsunbestimmlheit entspricht (s. Quine 1960, Kapitel II). "Hier ist nichts schwerer, als Pleonasmen zu vermeiden" (BGM, S. 323). Diese Textstelle widerspricht McGinns Thesen, die Begriffe 'Gepflogenheit' und "Praxis' implizierten bei Wittgenstein nicht eine Gemeinschaft, und der Ausdruck "gemeinschaftliche Praxis" sei nicht pleonastisch (s. McGinn 1984, S. 78). McGinn scheint ohnehin bei seiner Interpretation nicht den deutschen Orginaltext herangezogen zu haben. Seine Auslegung von PU 199 (und seiner Entsprechung BGM, S. 346) jedenfalls orientiert sich an der englischen t)beisetzung und ist hinsichtlich des deutschen Textes nicht überzeugend (s. McGinn 1984, S. 80f).

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Daß Wittgenstein keine psychologische, sondern eine begriffliche Untersuchung durchführt, wird auch in Bezug auf PU ÌS5 deutlich. Dort soll einem Schüler die Regel 'Addiere 2' erklärt werden. Er scheint dies auch zu verstehen, denn all seine bisherigen Übungen, die der Einfachheit halber zwischen 0 und 1000 durchgeführt wurden, waren korrekt. Dann aber fährt er plötzlich über 1000 mit Ί 0 0 4 , 1008, 1012' fort. Das Beispiel wurde von Wittgenstein so konstruiert, daß der Schüler als geistig normal und nicht als psychisch defekt anzusehen ist, daß er aber trotzdem die Regel 'Addiere 2' so verstanden hat, daß er eine Reihe über 1000 mit Ί 0 0 4 , 1008, 1012' fortsetzen soll (dies ist also kein Problem der Erinnerung). Dies werden wir jedoch nicht eine Befolgung der Regel 'Addiere 2' nennen, da der Schüler nicht mit unserer normalen Regelbefolgung übereinstimmt. Wir werden ihn daher zu korrigieren versuchen. Mit anderen Worten: Kriterien des richtigen Befolgens einer Regel sind unter anderem durch die Handlungen der übrigen Gemeinschaft gegeben. Richtig zu handeln, d.i. einer Regel richtig zu folgen, bedeutet, innerhalb einer Gemeinschaft mit der übrigen Gemeinschaft bei seinen Handlungen (im allgemeinen)' übereinzustimmen.^ "Unsere Obereinstimmung ist dem Sprachspiel wesentlich" (BPP I 896). "Das Wort »Übereinstimmung« und das Wort »Regel« sind miteinander verwandt, sie sind Vettern. Das Phänomen des Obereinstinmiens und des Handelns nach einer Regel hängen zusammen" (BGM, S. 344; vgl. PU 224; ßCM, S. 405).'

Die Verwendung des Begriffs 'einer Regel folgen' setzt eine Gemeinschaft voraus, innerhalb derer die allgemeine Übereinstimmung im Handeln die Bedeutung einer Regel bestimmt {ÜG ólf).·* Das Befolgen einer Regel ist demnach eingebettet in den Kontext des Lehrens und Lernens,

Auf diese ModiTikation komme ich weiter unten zu sprechen. Genauer: Die Obereinstimmung mit der Gemeinschaft ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, um sinnvoll von "einer Regel folgen" zu sprechen. Damit wird jedoch nicht behauptet, daß diese t)bereinstimmung eine Regel schon tixiert oder determiniert (s. Hertzberg 1990; s. OC 139) - genau deshalb sind Kripkes Regelskeptizismus oder Goodmans neues Rätsel der Induktion möglich; s. dazu Kapitel 4.2.4. Waram die Wörter "Obereinstimmung" und "Regel" gerade Vettern, aber nicht z.B. Brüder oder Basen sind, verstehe ich nicht. vgl. Malcolm 1986, S. 175. - Baker und Hacker sehen die Rolle der Gemeinschaft nicht (Baker/Hacker 1985). Dies ist meiner Meinung nach ein eklatantes Mißverständnis, wie von Malcolm in Wittgenstein on Language and Rules belegt wird (Malcolm 1989; für Verweise, siehe dort).

2.1.3. Regel und Übereinstimmiing

77

des Überprüfens und Korrigierens wie auch des Neu-Abstimmens innerhalb einer Gemeinschaft oder einer Lebensform. Die Übereinstimmung im Handeln ist deshalb ein entscheidendes Kriterium dafür, ob einer Regel richtig gefolgt wurde oder nicht. So wird der Regel 'Addiere 2' in unserer Gemeinschaft nur dann richtig gefolgt, wenn man über 1000 mit Ί 0 0 2 , 1004, 1006' fortfährt, und unter normalen Umständen werden im Deutschen zum Beispiel Verben in Prädikatsfunktion konjugiert, die Falbe des Blutes "rot" genannt, etc. Wer es nicht tut, wird im allgemeinen korrigiert - oder aber er rechnet nicht richtig, bzw. er spricht nicht richtig Deutsch. Der Gebrauch und die Gepflogenheiten der Gemeinschaft bestimmen die Regel und was es heißt, einer Regel zu folgen. Unser Handeln ist also normativ durchsetzt, denn nur wer den Regeln gemäß handelt, verhält sich korrekt. Und diese Korrektheit ergibt sich aus der allgemeinen Übereinstimmung in den Handlungsweisen der entsprechenden Gemeinschaft. Dies bedeutet, daß Regeln allein oder 'durch sich selbst' gar nichts determinieren (vgl. ÜG 26f). Sie benötigen als konstitutive Bedingungen ihrer Bedeutung vielmehr einen Kontext von Übereinstimmungen in einer regelmäßig handelnden Gemeinschaft: "[...] das Phänomen der Sprache beruht auf der Regelmäßigkeit, auf der Obereinstimmung im Handeln. Hier ist es von der größten Wichtigkeit, daß wir alle, oder die ungeheure Mehrzahl in gewissen Dingen übereinstimmen. Ich kann, z.B., ganz sicher sein, daß die Farbe dieses Gegenstandes von den allermeisten Menschen die ihn sehen >grün< genannt wird" (BGW, S. 342). "Bestünde keine Obereinstimmung in dem, was wir >rot< nennen, etc. etc., so würde die Sprache aufhören" {BGM, S. 196).

Wittgenstein war sich darüber im klaren, daß diese Formulierungen zu Mißverständnissen führen können, die durch unterschiedliche Bedeutungen des Wortes "Übereinstimmung" entstehen können. Mit Hilfe von Indices werde ich daher in dieser Arbeit folgende Bedeutungen dieses Wortes unterscheiden: (1) Übereinstimmungdie Übereinstimmung im Handeln, d.i. eine Kongruenz in den Tätigkeiten, Gepflogenheiten, Gebräuchen oder Praktiken innerhalb einer Gemeinschaft.'

Damit wird nicht nur auf eine Konformität der Handlungen angespielt (wir befolgen z.B. die syntaktischen Regeln unser Sprache in gleicher Weise), sondern auch auf die Art, wie Handlungen zusammenpassen (wie z.B. das Werfen und Fangen eines Balles zusammenpassen).

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

(2) Übereinstimmung^: die Übereinstimmung in den Meinungen, d.i. ein Konsens in den Auffassungen bei einer Gruppe oder einer Gemeinschaft, die eine Lebensform bildet. (3) Übereinstimmung^: die Übereinstimmung einer Handlung mit der Regel, nach der die Handlung ausgeführt werden sollte, d.i., ob die Regel richtig befolgt wurde.' (4) Übereinstimmung^: die Übereinstimmung bzw. Korrespondenz zwischen einem Satz und einer Tatsache oder zwischen einem Wort (oder einem Ausdruck) und seinem Bezug in der Wirklichkeit. Der Unterschied zwischen der ÜbereinstimmungR, ob einer Regel wie 'Addiere 2' richtig gefolgt wurde, und der Übereinstimmung^, ob zum Beispiel im Deutschen das Wort "rot" zur Farbe des Blutes paßt, besteht darin, daß die Frage nach der Übereinstimmung^ sich bei jeder Regelbefolgung stellen kann, also etwa auch bei mathematischen, logischen und grammatischen Regeln, wo man wohl nicht immer sinnvoll von einer Übereinstimmung^ mit der Wirklichkeit reden kann.^ Über eine Übereinstimmung^ kann man nur sinnvoll bezüglich deskriptiver Sätze beziehungsweise deskriptiver Ausdrücke sprechen. Der Unterschied von einer Übereinstimmungn und einer ÜbereinstimmungM läßt sich mit Hilfe von folgenden Beispielen verdeutlichen: Angenommen, es gebe eine Behauptung über das Vorhandensein von Gold in einem bisher weitgehend unbekannten und kaum zugänglichen Gebiet. Über die Richtigkeit dieser Behauptung mag es unterschiedliche Meinungen geben. Die einen halten sie für wahr, weil sie entsprechende Berichte von vertrauenswürdigen Personen kennen, die anderen halten sie für falsch, weil es nach allen voriiegenden Informationen über die Gesteinsarten und -schichten in dem entsprechenden Gebiet hochgradig unwahrscheinlich ist, dort Gold zu finden. Insofern stimmen die Meinungen nicht überein. Aber bei den entsprechenden Leuten gibt es vermutlich eine völlige Übereinstimmungn darüber, wie die Behauptung zu überprüfen ist: Man geht hin und schaut nach, man kennt die Verfahren, wie man Gold von Katzengold unterscheidet, etc. (vgl. PU 386). "Es bricht kein Streit darüber aus (etwa zwischen Mathematikern), ob der Regel

' '

b t keine ObereinstiramungR gegeben, dann spielt man das Spiel falsch. Hinsichtlich der Logik und Mathematik würde ein Piatonist Einspnich erheben.

2.1.3. Regel und Übereinstimmung

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gemäß vorgegangen wurde oder nicht. Es kommt darüber z.B. nicht zu Tätlichkeiten. Das gehört zu dem Gerüst, von welchem aus unsere Sprache [wie auch andere Praktiken] wirkt" {PU 240; vgl. BGM, S. 323; PU Π, S. 571).

Auch in der Atomphysik mag es Unterschiede in den Meinungen geben (z.B. über die Existenz bestimmter subatomarer Teilchen), aber über die Praxis 'Atomphysik' - d.i. über die Arbeitsweise, wie solche Hypothesen zu überprüfen sind - gibt es eine (weitgehende) ÜbereinstimmungH. Gäbe es sie nicht, gäbe es auch keine Disziplin Atomphysik - so wie es keine anerkarmte Disziplin Parapsychologie oder Metaphysik gibt (da gibt es nur Fragestellungen). - Wittgenstein läßt keinen Zweifel darüber, daß diejenige Übereinstimmung, die konstitutiv für ein Sprachspiel oder eine Lebensform ist, zwar primär, aber nicht allein die Übereinstimmung„ ist. In den Lectures ort the Foundations of Mathematics zum Beispiel stellt er sich selbst die Frage, ob die Wahrheiten unserer Logik und Mathematik wahr sind kraft einer Konvention oder eines Konsensus (d.i. einer Übereinstimmung^) : "Is this what I am saying? No. There is no opinion at all; it is not a question of opinion. They are determined by a consensus of action: a consensus of doing the same thing, reacting in the same way. There is a consensus but it is not a consensus of opinion. We all act the same way, walk the same way, count the same way" (LFM, S. 1830. "Die Obereinstimmung der Menschen im Rechnen ist keine Obereinstimmung der Meinungen oder Oberzeugungen" (BGM, S. 332). "»So sagst du also, daß die Obereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?« - Richtig und falsch ist, was die Menschen sagen·, und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Obereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform" {PU 241).

Mit anderen Worten: Die faktische Übereinstimmung„ darin, daß 2+2 gleich 4 ist, daß wir im Deutschen grosso modo die gleichen syntaktischen Regeln befolgen, oder daß wir die Farbe des Blutes im Deutschen "rot" und das Greifglied beim Menschen "Hand" nennen, ist primär die Art der Übereinstimmung, die Sprachspiele konstituiert. Allerdings gesteht Wittgenstein auch zu, daß die Institutionalisierung einer Praxis als Gepflogenheit auch eine gewisse Übereinstimmung^ bei einigen Meinungen verlangt: "Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Obereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Obereinstimmung in den Orteilen" {PU 242).

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2. Grundbegriffe und Gnmdpositionen

Das bedeutet, daß die Anwendung derselben Regel - wie etwa die, die den deskriptiven Gebrauch von "rot" betrifft - auch eine ÜbereinstimmungM in den Urteilen hervorrufen muß. Nicht nur die Farbe des Blutes, auch die von reifen Erdbeeren oder die deutscher Hydranten muß im Deutschen (unter normalen Umständen) zu dem Urteil "Das ist rot" führen. Auch eine wissenschaftliche Disziplin ist nur dann institutionalisiert, wetm in einem fundamentalen Bereich eine Übereinstimmung^ in den durch bestimmte Methoden gewonnen Ergebnissen besteht. Diese werden dann in den Lehrbüchern der Disziplin dargestellt, und die Schüler und Studenten, die diese Disziplin erlernen wollen, müssen die entsprechenden Methoden und Meinungen weitgehend übernehmen, andernfalls werden sie von dieser Disziplin ausgeschlossen' (in der Parapsychologie oder in der Metaphysik gibt es diese Art von Lehrbüchern nicht). "Es ist für die Verständigung wesentlich, daß wir in einer großen Anzahl von Urteilen übereinstimmen" (BGM, S. 343). "[...] was wir »messen« nennen, ist auch durch eine gewisse Konstanz der Messungsergebnisse bestimmt" (PU 242).

Wittgensteins Auffassung über das Verhältnis von Übereinstimmung^ und Übereinstimmung^ ist demnach die, daß es beide Arten von Übereinstimmung sind, die in Wechselwirkung^ ein Sprachspiel konstituieren. Diesbezüglich werde ich daher im folgenden den Terminus "Übereinstimmungf,^^" verwenden, dessen Bedeutung mit "Übereinstimmung in einer Lebensform" umschrieben werden kann. Diese ist nicht naturgegeben, sondern muß von allen Mitgliedern der Lebensform erst eriemt werden (Z 430; f/G 281, 298). - Daß dies sachlich jedoch noch weitgehend unspezifisch und daher diskussionsbedürftig ist, nehme ich hier in Kauf, denn ich bin der Meinung, daß Wittgensteins Position hinsichtlich des Verhältnisses von Übereinstimmung^ und Übereinstimmung^ philosophisch unbefriedigend ist - das aber werde ich erst in Kapitel 4.2. adäquat darlegen können. Doch schon an dieser Stelle werde ich auf eine andere Schwierigkeit aufmerksam machen können, die Wittgenstein zwar bereits Mitte der

vgl. Polanyi 1946, S. 16, 42ff, 65. Meinungen können Methoden, Methoden Meinungen verändern. Welche Methode anzuwenden 1st, ist auch eine Meinung. Meinungen haben zeigt sich in Handlungen, Meinungen äußern ist eine regelgeleitete Handlungsweise.

2.1.3. Regel und Übereinstimmung

81

30er Jahre bemerkt zu haben scheint (ich verweise unten auf NLPE), deren philosophisch unangenehme Konsequenz er aber wohl erst in Über Gewißheit bemerkte. Seine Diskussion der Begriffe 'Sprachspiel', 'Regel', 'Praxis' und 'Übereinstimmung' gehört zweifellos zu den Fundamenten seiner Philosophie. Im Zusammenhang mit der Doktrin von der Autonomie der Grammatik scheinen diese Begriffe auch metaphysisch unbelastet zu sein. Selbst wenn er dann später (insbesondere in Über Gewißheit) zugeben muß, daß es doch einen metaphysischen Input bei seiner Philosophie gibt, nämlich in die Logik^ eines Sprachspiels die Klausel "unter normalen Umständen" aufnehmen zu müssen (vgl. Kapitel 2.1.2.), scheint es immer noch nur eine schwache metaphysische Voraussetzung oder Bedingung zu sein: Ein Faktum wird durch "So ist eben das Sprachspiel" (ÜG 56), "Es steht da - wie unser Leben" (ÜG 558) in seiner Faktizität anerkannt und zum Ausgangspunkt einer philosophischen Untersuchung, die Verwirrungen nur auflösen will (faktischer Input). Dazu wird das Verwirrungen hervorrufene Phänomen mit Hilfe der Analogie, ein Spiel nach Regeln zu spielen, beschrieben. Da nichts versteckt Zugrundeliegendes entdeckt werden soll (wie zum Beispiel die logische Form im Tractatus oder die transzendentalen Kategorien bei Kant), scheint auch alles offen und überprüfbar dazuliegen (vgl. PU 126). Genau dies setzt seinerseits schon zwei weitere Armahmen voraus, und zwar zunächst einmal die weitgehende Konstanz oder Regelmäßigkeit in den Handlungsweisen einer Gemeinschaft (PU 206f) einschließlich der Regelmäßigkeit menschlicher Reaktionen, wie zum Beispiel die charakteristischen Ausdrucksweisen des Schmerzes, der Furcht oder der Freude (PU 142). "[...] Und der Schüler hat die Regel [...] inne, wenn er so und so auf sie reagiert. Das aber ist wichtig, daß diese Reaktion, die uns das Verständnis verbürgt, bestimmte Umstände, bestimmte Löbens- und Sprachformen als Umgebung, voraussetzt" (BGW, S. 414); "Körmte also Bestimmtheit nur dort sein, wo regelmäßige Lebensläufe sind? Was tun sie aber, wenn ihnen ein unregelmäßiger Fall unterläuft? Vielleicht zucken sie nur die Achseln" (BPΡ Π 653; vgl. BPP II 652). "Befehle werden manchmal nicht befolgt. Wie aber würde es aussehen, werm Befehle nie befolgt würden? Der Begriff >Befehl< hätte seinen Zweck verloren" (PU 345); "Es ist hier ein ähnlicher Fall wie wenn man zeigt, daß es keinen Sinn hat zu sagen, ein Spiel sei immer falsch gespielt worden" (OG 496); "Die Regelmäßigkeit unserer Sprache durchdringt unser Leben" (BF, S. 102 = LS Π, S. 72; vgl. ßCAf, S. 1920-

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Diese Voraussetzung erscheint mir wenig problematisch, da es doch wohl ein sozio-historisches Faktum ist, daß Kulturen sich nur sehr langsam verändern. Die zweite Voraussetzung Wittgensteins ist jedoch eine metaphysische: Es handelt sich dabei um die weitgehende Konstanz, Regelmäßigkeit oder Invarianz der Wirklichkeit.^ Gäbe es sie nicht, dann würden unsere Sprachspiele ihren Witz verlieren, die Kommunikation würde kollabieren. "Und уегЫеНеп sich die Dinge ganz anders, als sie sich tatsächlich verhalten [, ...] würde, was Regel ist, Ausnahme und was Ausnahme, zur Regel [...] - so verlören unsere normalen Sprachspiele damit ihren Witz" {PU 142; vgl. NLPE, S. 306). "Wir sagen, wir wissen, daß das Wasser unter den und den Umständen kocht und nicht gefriert. [...] Was immer in Zukunft geschehen mag, wie immer sich Wasser in Zukunft verhalten mag, - wir wissen, daß es sich bis jetzt in unzähligen Fällen so verhalten hat. Diese Tatsache ist in das Fundament unseres Sprachspiels eingegossen" (ÜG 558; vgl. OG 135). "Wie man beim Schreiben eine bestimmte Grundform lernt und diese später dann variiert, so lernt man zuerst die Beständigkeit der Dinge als Norm, die dann Änderungen unterliegt" (ÜG 473). "[Ein Schüler fragt: »Und ist ein Tisch auch wirklich da, wenn niemand ihn sieht?«] der Lehrer wird empfinden, dies sei eigentlich keine berechtigte Frage. Und gleichermaßen, wenn der Schüler die Gesetzlichkeit der Natur [...] anzweifelte. [...] Es wäre, als sollte jemand nach einem Gegenstand im Zimmer suchen; er öffnet eine Lade und sieht ihn nicht darin; da schließt er sie wieder, wartet und öffnet sie wieder, um zu sehen, ob er jetzt nicht etwa darin sei, und so fährt er fort. Er hat noch nicht suchen gelernt" (ÜG 315; vgl. ÜG 134, 153). "Wie, wenn etwas wirklich Unerhörtes geschähe? wenn ich etwa sähe, wie die Häuser sich nach und nach ohne offenbare Ursache in Dampf verwandelten; wenn das Vieh auf der Wiese auf den Köpfen stünde, lachte und verständliche Worte redete; weim Bäume sich nach und nach in Menschen und Menschen in Bäume verwandelten. Hatte ich nun recht, als ich vor allen diesen Geschehnissen sagte »Ich weiß, daß das ein Haus ist« etc., oder einfach »Das ist ein Haus« etc.?" (OG 513; vgl. BGM, S. 51) "Aber wäre es denn undenkbar, daß ich im Sattel bliebe, auch wenn die Tatsachen noch so sehr bockten?" (OG 616; vgl. NLPE, S. 306) "Ich würde durch gewisse Ereignisse in eine Lage versetzt, in der ich das alte Spiel nicht mehr fortsetzen köimte. In der ich aus der Sicherheit des Spiels herausgerissen würde. Ja, ist es deim nicht selbstverständlich, daß die Möglichkeit eines Sprachspiels durch gewisse Tatsachen bedingt ist?" (OG 617)

vgl. Baker/Hacker 1985. S. 229; Schulte 1989, S. 154f.

2.1.3. Regel und Übereinstimmung

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Kurz: Ohne diese weitgehende Regelmäßigkeit im Handeln einer Gemeinschaft und ohne diese weitgehende Invarianz der Wirklichkeit würde es für uns eine Verständigung, eine Sprache, ein Sprachspiel oder eine Praxis nicht geben.' Diese beiden Bedingungen (auch die zweite) mag man als wenig problematisch erachten,^ und in der normalen (einschließlich der wissenschaftlichen) Praxis sind sie es auch. Aber in der Philosophie, zumindest in der traditionellen Philosophie, karm gerade das in Frage oder zur Disposition gestellt werden, was in jeder anderen als der philosophischen Betrachtungsweise als selbstverständlich angenommen wird.^ Insofern ist es dann auch philosophisch wenig befriedigend, sich so wie Wittgenstein gerade darüber nicht weiter zu äußern,·* sondern statt dessen zu versichern (wenigstens einige seiner Bemerkungen erwecken diesen Eindruck), es läge dann wohl ein Fall philosophischer Verwirrung vor (vgl. dazu Kapitel 4.2.). Dies ist vor allem dann unbefriedigend, wenn sich herausstellt, daß Wittgensteins eigene Philosophie auf eine besondere Form des Idealismus hinausläuft - doch das werde ich erst in Kapitel 3.10. dariegen können. Das Fazit dieses Kapitels (2.1.-2.1.3.) lautet: Für Wittgenstein sind die Begriffe 'Handlung' (bzw. 'Handlungsweise'), 'Regel', 'Regelmäßigkeit', 'Sprachspiel' (bzw. 'Praxis'), 'Lebensform' und 'Übereinstimmung„^^,' fundamental. Keiner dieser Begriffe ist jedoch in dem Sirme absolut fundamental, daß man aus ihm (oder einigen von ihnen) die übrigen in irgendeiner Form ableiten kann. Auch läßt sich keiner von ihnen ein für allemal exakt definieren. Vielmehr sollen sich diese Begriffe wechselseitig erhellen, und die entsprechenden Erläuterungen erfolgen anhand von Beispielen (diese Eriäuterungen sind jedoch nicht wissenschaftlicher.

Es muß "weitgehende Regelmäßigkeit" heißen, weil sich ja - auch nach Wittgenstein - sowohl die Handlungsweisen einer Gemeinschaft oder Lebensform wie auch die Verhältnisse in der Wirklichkeit verändem können. Dies sind jedoch allmähliche und nicht abrupte Veränderungen, und sie betreffen stets nur einen Teil jener durch "Lebensform" und "Wirklichkeit" bezeichneten Konglomerate, nicht ein gesamtes, konsistentes System (vgl. die Kapitel 2.1.1. und 3.3.). Warum die Formulieningen auf unsere Lebensform relativiert sind, ergibt sich aus Kapitel 4.1. vgl. Pears 1988, S. 369. vgl. Patzig, in dem Vorwort zu Frege 1962, S. 14. Eine nicht-metaphysische Diskussion von der Regularität des Naturverlaufs und menschlicher Handlungsweisen fmdet sich in Wittgensteins Lecture on Freedom of the Will. Es mag sein, daß er der Auffassung war, damit sei auch eine Philosophische Behandlung dieses Aspekts schon erledigt.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

sondern grammatischer bzw. logischer^ Natur). Daß z.B. 'Handeln' ein fundamentaler Begriff ist, ist allerdings nicht unbedingt evident oder auch nur naheliegend (man denke etwa an Descartes' Meditationes oder Wittgensteins Tractatus), doch für den späten Wittgenstein ergibt es sich aufgrund des faktischen Inputs seiner Philosophie.

2.2. Wittgensteins Kritik an empiristischen Bedeutungstheorien Prägend für die gesamte Philosophie Wittgensteins, auch schon im Tractatus, ist ein von Frege und Russell übernommener Anti-Psychologismus} Die wesentlichen Argumente gegen jegliche Spielart des Psychologismus und - damit einhergehend - gegen empiristische Bedeutungstheorien überhaupt finden sich in den Philosophischen Untersuchungen (PU 138-197), wo Wittgenstein das Problem am Beispiel des Verstehens diskutiert. Dabei wird aber auch auf einige Parallelen zu Wissen hingewiesen, denn Wittgenstein sieht offensichtlich einen Zusammenhang von Verstehen und Wissen, indem er die-BedeutungWissen als ein mögliches Substitut für Verstehen betrachtet (vgl. z.B. PU 148-150). Ich werde daher Wittgensteins Argumentation, die den Psychologismus nur als einen Sonderfall des Empirismus behandelt und vornehmlich diesen in seiner Erklärungskraft zu begrenzen versucht, in diesem Kapitel zunächst einmal am Beispiel Verstehen darstellen und kritisieren (vor allem auch deshalb, weil der entscheidende, anti-empiristische Aspekt in der gängigen Sekundärliteratur meines Erachtens vernachlässigt worden ist),^ um dann im nächsten Kapitel (2.3.) die epistemologisch relevanten Parallelen bei Wissen, Gewißheit etc., zu erörtern. Wie üblich, sollen unter der Bezeichnung "Psychologismus" hier diejenigen Theorien zusammengefaßt werden, die die Bedeutung sprach-

Wittgenslein hat seinen Anti-Psychologismus weit radikaler als Frege oder Russell artikuliert (das diskutiere ich hier aber nicht). mit Ausnahme von David Pears, The False Prison (1988), Kapitel 17; vgl. auch Pears 1989. -Eine der wenigen Artieiten, die die Passage 138ff relativ ausführlich diskutieren, ist Fogelin 1976, Kapitel Xlf. David Bloor betont ebenfalls die Relevanz des Anti-Psychologismus bei Wittgenstein (Bloor 1983, Kapitel 2).

2.2. Wittgensteins Kritik an empiristischen Bedeutungstheorien

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lieber (einscMießlich logiseh-mathematischer) Ausdrücke durch einen mehr oder weniger direkten Bezug auf etwas psychologisch beschreibbares Sprach-extemes, insbesondere auf irgendwelche Zustände oder Prozesse der Seele oder, in materialistischen Varianten, des Gehirns, erklären wollen. Behaviouristische Ansätze, die die Bedeutung von psychologischen Ausdrücken durch eine Beschreibung menschlichen Verhaltens erfassen wollen, werden gewöhnlich nicht als eine Spielart des Psychologismus verstanden, doch da es sich bei diesen Ansätzen auch um eine Variante empiristischer Bedeutungstheorien handelt, werde ich Wittgensteins Kritik an ihnen anschließend darstellen. Wittgenstein argumentiert gegen den Psychologismus im besonderen, weil dieser die eingängigste und philosophisch attraktivste Spielart empiristischer Bedeutungstheorien überhaupt ist. Unter "empiristische Bedeutungstheorien" fasse ich diejenigen Versuche zusammen, die allesamt die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und die Möglichkeit intersubjektiver, sprachlicher Kommunikation durch irgendeinen Bezug auf objektive Gegebenheiten erklären wollen. Dieser Rekurs auf objektive, empirisch meist auch erfaßbare Gegebenheiten' kann als explamtiver Realismus^ bezeichnet werden. Das heißt: Der explanati ve Realismus ist das Definitionskriterium für empiristische Bedeutungstheorien (im weiteren Sinne). Die naivste Form des explanativen Realismus ist, daß die Bedeutung eines Wortes der (empirisch gegebene) Gegenstand ist, auf den sich dieses Wort bezieht. So wäre zum Beispiel die Bedeutung des Wortes "Sokrates" der Mensch dieses Namens. Diese Theorie hat jedoch die Schwierigkeit, daß die Bedeutung des Wortes "Sokrates" nur dann gegeben ist, wenn auch die Person Sokrates anwesend ist. Weniger naive Formen einer solchen Theorie versuchen deshalb, diese Schwierigkeit durch einen Rekurs auf die Seele (einschließlich des Gedächtnisses) zu umgehen. Die Seele kann den Bezug von "Sokrates" auch dann herstellen, wenn die entsprechende Person nicht anwesend ist. Durch diesen Rekurs auf die Seele, die so zu einem interessanten, okkulten Medium wird (so ein Thema im Blue Book, vgl. PU 6, 38), werden empiristische Bedeutungstheorien im allgemeinen zu psychologistischen im besonderen: Im Medium der Seele gilt es demnach jenes Etwas zu finden, das

Eine Variante soldier Bedeutungstheorien, in der die objektiven Gegebenheiten aber nicht empirisch erfaßbar sind, stellt der Piatonismus in der Mathematik dar. Diesen Ausdnick übernahm ich aus Pears 1989.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Sprachlichen Ausdrücken gemäß den Annahmen des explanativen Realismus die Bedeutung gibt. Die Ontologie eines explanativen Realismus ist damit freilich noch gar nicht ausgemacht: Gesucht sind oder postuliert werden halt nur Entitäten, die sich für den sprach-extemen Bezug eignen. Bei psychologistischen Konzeptionen bieten sich dafür Vorstellungen wie auch mentale oder neuronale Zustände bzw. Prozesse an - wie schon erwähnt, die behaviouristische Variante rekurriert auf menschliches Vertialten. Wittgensteins Argumentationsstrategie gegen empiristische Bedeutungstheorien besteht letztlich darin, daß er eine prinzipielle Unzulänglichkeit einer jeglichen Variante eines explanativen Realismus nachweisen will. Wittgenstein macht deshalb auf einen Aspekt (den er den "logischen Zwang" nennt) aufmerksam, den seiner Meinung nach jede Bedeutungstheorie sinnvollerweise erklären können muß, der mittels eines explanativen Realismus (im Rahmen einer empirisch akzeptablen Metaphysik) jedoch nicht erklärt werden kann. - Der Feldzug gegen empiristische Bedeutungstheorien ist aber auch vor dem Hintergrund zu sehen, daß diese durch ihren Rekurs auf eine wie auch immer konzipierte Wirklichkeit eine Gegenposition zu Wittgensteins Doktrin von der Autonomie der Grammatik (vgl. Kapitel 2.1.2.) darstellen würden. Die Unzulänglichkeiten des explanativen Realismus wären insofern auch eine Art Bestätigung für Wittgensteins eigene, damalige Konzeption. Wittgensteins Diskussion des Psychologismus beginnt in PV 138 damit, daß ein möglicher Opponent darauf besteht (gewissermaßen auf das Faktum verweist), daß wir nun einmal Wörter verstehen bzw. ihre Bedeutung kennen (vgl. ΡΌ 139): Irgendwie scheinen die Wörter zu ihrer Bedeutung zu passen - und wie, das 'erfassen wir mit einem Schlag.' Dies akzeptierend geht es Wittgenstein darum, wie man dieses Verstehen - das ist das Verstehen, von dem wir sprechen - adäquat beschreiben kann. Erklärungsziel des Abschnitts PV 138-202 ist in etwa folgende Formulierung: "Man versteht einen Ausdruck, wenn man ihn gleichsam selbstverständlich anwenden kann". Das philosophische Problem lautet dann: Wie ist dieses Verstehen konzeptuell zu erfassen? Die Aufgabe der Abschnitte PV 138-197 ist es, zu zeigen, daß zu einer philosophischen Konzeption von Verstehen oder Bedeutung jeglicher Rekurs auf psychologisch beschreibbare, innere Repräsentationen irgendeiner Art untauglich

2.2.1. Anti-Psychologismus bei inneren Bildern

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ist.' Kapitel 2.2.1. behandelt jene Theorien, die Verstehen durch 'eine Vorstellung haben' erklären wollen, Kapitel 2.2.2. beschäftigt sich dann mit den Konzeptionen, die Verstehen als das Haben von mentalen oder neuronalen Zuständen (einschließlich der Redeweise von den Dispositionen) deuten, und in Kapitel 2.2.3. schließlich soll erläutert werden, wieso Wittgenstein behaviouristische Bedeutungstheorien nicht akzeptiert.

2.2.1. Anti-Psychologismus bei inneren Bildern Die erste Kandidatin für eine psychologistische Bedeutungstheorie, die Wittgenstein diskutiert (in PV 139-141), ist die Folgende: Die Bedeutung eines Wortes, z.B. "Würfel", ist die Vorstellung oder das innere Bild eines Würfels, das der Sprecher oder Hörer dabei hat. Sprache - so dieser Typ von Theorie - ist deshalb möglich, weil bestimmte mentale Prozesse gleichsam "eine assoziative Verbindung zwischen dem Wort und dem Ding" schlagen (PI/ 6). Erst durch diese mentalen Prozesse, die man das "Verstehen" oder das "Meinen" nennen kann, werden aus gleichsam toten Zeichen bedeutungsvolle Zeichen (fiß, S. 3).^ Man kann dann ergänzen: Das innere Bild 'sagt', was ich mit dem Wort meine. Und das Meinen selbst ist demnach auch ein mentaler Akt {PU 663, 678, 687). Gemäß PI! 139 lautet diese Theorie folgendermaßen: Wenn ich zum Beispiel das Wort "Würfel" höre oder sage, dann schwebt mir ein Bild eines Würfels vor; dieses innere Bild ist sozusagen die Bedeutung des Wortes, und Verstehen ist der mentale Prozeß des Bild-Habens (des eineinnere-Repräsentation-Habens). - Ich denke, daß eine solche Theorie zum Beispiel von den älteren Empiristen Hobbes oder Locke' hätte vertreten werden müssen; indessen haben modernere Empiristen wie Russell oder Wittgenstein im Tractatus tatsächlich solche Auffassungen

Die antipsychologistische Diskussion ist nicht auf PU 138-197 beschränkt; eine recht gelungene Zusammenfassung von ihr befindet sich zum Beispiel in den ersten drei Abschnitten von PU II, Kap. vi (S. 500). - 'Verstehen' wird auch diskutiert in PU 525-546 (vgl. insbesondere PU 531f); zum 'Meinen', s. auch: PU 186-190, 449, 454f, 503-511, 592, 661-693; zum Zusammenhang von mentalen Zuständen und Gehimzuständen, siehe auch: PU 412, 420, 424-430. vgl. PG 187f; vgl. PU 358, 449, 503, 665; PU II, S. 492. vgl. Hobbes, Leviathan (1651), Kapitel IV; Locke, Essay ... (1690), Buch III, Kapitel 2.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

explizit vorgetragen.' Vor allem aber stellt dieser Abschnitt wohl auch eine Auseinandersetzung Wittgensteins mit einer sprachphilosophischen Wendung des Intuitionismus von Brouwer und Heyting dar, nämlich der Behauptung, die Gegenstände der Mathematik seien mentale Konstruktionen, deren Eigenschaften wir mittels innerer Betrachtung oder Introspektion entdecken würden.^ Ein Problem für diese Theorie lautet nun: Wie sieht die Relation zwischen Wort und Bild aus? Wie paßt zum Beispiel das Wort "Würfel" zu einem inneren Bild? - Und eine naheliegende Antwort darauf ist: Es gibt dabei eine Art Projektionsmethode. - Nun kann mein Bild des Würfels das folgende sein:

Dies könnte das Bild eines geometrischen Würfels sein, aber auch das Bild eines Glaswürfels, das einer ungestülpten offenen Kiste, das eines Drahtgestells oder das von drei Brettern, die ein räumliches Eck bilden (vgl. PU II, S. 519).^ Das heißt: Das Bild könnte nicht nur zu dem Wort "Würfel" passen - was angesichts der Möglichkeiten von geometrischem Würfel, Glaswürfel und Drahtwürfel offensichtlich reichlich unspezifisch ist -, sondern auch zu den Wörtern "Kiste", "Drahtgestell" oder "Raumeck". Auch mag die Möglichkeit zutreffen, daß ich zwar "Würfel" sage, dabei jedoch das Bild eines dreieckigen Prismas 'im Kopf habe. Eine eineindeutige Projektionsmethode wäre dann aber immer noch möglich (in der folgenden Skizze sind nur die Deckflächen von dreieckigem Prisma und Würfel - gleichsam von oben - wiedergegeben, wobei zwei Kanten des Würfels auf eine Kante des dreieckigen Prismas projiziert sind):

vgl. Russells Theory of Knowledge: "Now when I speak of understanding a proposition, I am speaking of a state of mind ..." (Russell 1913, S. 108). - Zu Wittgenstein im Tractalus, siehe unten S. 90, Fußnote 1. vgl. Klenk 1976; S. 18ff; dies wird ausführUcher in Kapitel 3.11.1. erläutert. Wittgensteins Liste beansprucht sicherlich keine Vollständigkeit. Das Bild kann z.B. auch als Quadrat mit zwei Rhomben gesehen werden (vgl. Budd 1989, S. 77).

2.2.1. Anti-Psychologismus bei inneren Bildern

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Dies kann man natürlich auch umgekehrt interpretieren: Ich sage "dreieckiges Prisma", habe aber das Bild eines Würfels 'im Kopf. Das jedoch zeigt, daß der Zusammenhang von Wort und Bild zu unspezifisch hinsichtlich des Problems Bedeutung oder Verstehen ist. Das innere Bild oder die Vorstellung kann nicht 'einfach so' die Bedeutung des Wortes sein, denn ich kann offensichtlich "Würfel" sagen und dabei auch auf einen Würfel zeigen (so daß niemand, der Deutsch versteht, sich als Beobachter meiner Handlung wundem würde) - und dennoch das innere Bild einer Kiste, eines Drahtgestells oder eines dreieckigen Prismas haben. Es wäre nun absurd, zu behaupten, ich würde zwar "Würfel" sagen, aber eigentlich dreieckiges Prisma meinen (vgl. PV 6780· - Femer: Das Bild allein gibt noch nicht an, wie es anzuwenden ist (PI/ 663). Das Bild, welches für ein Wort oder Zeichen oder Symbol steht, ist doch selbst auch nur wieder ein Symbol oder Zeichen. Und wie verstehe ich dann das? Brauche ich dann nicht ein weiteres Bild, Zeichen oder Symbol, ein Bild^ gewissermaßen, damit ich das erste Bild, das Bild;, verstehe?' Und so weiter, ad infinitum ...? Dies eröffnet also nur eine unendliche Reihe von Meta-Bildern, erklärt aber nichts. — Fazit: So ein Bild haben allein nützt gar nichts.^ Man muß dieses Bild auch anwenden können. In PU 151f macht Wittgenstein dies noch auf andere Weise deutlich: Jemand soll die Reihe Ί , 5, 11, 19, 29' fortsetzen, kann dies aber nicht. Es wird ihm deshalb die Formel 'а„=п2+п-Г vorgelegt, doch es ist möglich, daß er immer noch nicht die Reihe fortsetzen kann, denn er weiß nicht, wie diese Formel anzuwenden ist (er hat nie Algebra

vgl. PU 504, 509; Ζ 231. - vgl. McGinn 1984, S. 6f. vgl. dazu die Randbemerkung (b), PU, S. 309. - Daß es auch hochproblematisch ist (und philosophisch in die Irre führen kann), zu sagen, man würde so ein Bild 'haben', wird von Wittgenstein in den Passagen über das Ich und den Solipsismus diskutiert (PU 398-411). Auch das Privatsprachen-Argument ist hier einschlägig.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

gelernt). Das Kennen der Formel, welches dem Haben eines inneren Bildes entsprechen soll, nützt 'als solches' nichts, solange man sie nicht anzuwenden weiß. ~ Wittgenstein macht die unspezifische Beziehung zwischen dem Haben-eines-Bildes und der Verwendung eines Wortes auch noch auf andere Weise deutlich: "Und das Wesentliche ist nun, daß wir sehen, daß u n s das Gleiche beim Hören des W o r t e s vorschweben, und seine A n w e n d u n g doch eine andere sein kann. Und hat es dann beide M a l e die gleiche

Bedeutung? Ich glaube, das werden wir verneinen"

{PU 140).

In PV 141 wird die Theorie von den inneren Bildern dadurch zu retten versucht, daß zum Bild auch noch eine Projektionsmethode gehört, die wohl garantieren soll, daß zu jedem Wort genau eine einzige, eineindeutige Projektion gehört, so daß eine Art starre Verknüpfung bestehen würde {PL! 389).' Allerdings ist damit die Anwendung des Bildes immer noch nicht eindeutig gegeben, denn es wären abnormale Umstände vorstellbar, in denen das Bild anders verwendet wird als es unter normalen Umständen geschehen würde.^ Das bedeutet, daß die Projektionsmethode auf die Klausel der 'normalen Umstände' angewiesen ist. Doch damit geht die Strenge der Projektionsmethode verloren, denn die normalen Umstände lassen sich ja nach Wittgenstein nicht recht erfassen {ÜG 27). In der Bemerkung PI! 140 wird eine Kritik an jenen Konzeptionen noch aus einer ganz anderen Perspektive formuliert. Dort heißt es: Kann mich nicht ein Bild zu einer bestimmten Verwendung eines bestimmten Wortes zwingen! Und das kann man auch so ausdrücken: Könnte es eine notwendige Beziehung zwischen Wort und Bild geben?^ Und die Antwort, die ein Theoretiker der inneren Bilder nach den bisherigen Ergebnissen geben muß, lautet: Nein, es gibt keine notwendige Beziehung zwischen Wort und Bild. Denn wir hatten ja gesehen, daß zum Bei-

Dieses ist die Version, die Wittgenstein im Tractatus vertreten hat (vgl. TLP 3.11-3.13, 4.0141, ...); dort wird die Eindeutigkeit der Projektion durch die eine logische Form, die Welt, Gedanke, Denken und Sprache gemeinsam haben, garantiert; doch dies ist freilich nur eine metaphysische Spekulation. Man vergleiche die Probleme, die bei abnormalen Umständen auftreten können, mit Goodmans neuem Rätsel der Induktion (Goodman 1955, S. 72ff), oder mit der von Kripke vorgebrachten Skepsis - dies wird in Kapitel 4.2.4. diskutiert werden. "notwendig" wegen "logisch"; vgl. McGinn 1984, S. 6; über den Zusammenhang von Notwendigkeit und Logik bzw. Grammatik, vgl. Kapitel 2.1.2. und 3.11.1.

2.2.1. Anti-Psychologismus bei inneren Bildern

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spiel ein Bild allein sowohl das Wort "Würfel" wie auch den Ausdruck "dreieckiges Prisma" ermöglichen würde. Wenn das Bild aber die Bedeutung ist (und so lautete ja jene Theorie), dann wäre die Bedeutung des Wortes "Würfel" das Bild eines dreieckigen Prismas - und das ist absurd. Oder aber man sagte, die Wörter "Würfel" und "dreieckiges Prisma" hätten dieselbe Bedeutung - und das ist schlicht falsch. Insbesondere ist aber noch auf folgenden Aspekt aufmerksam zu machen: Jede Bedeutungstheorie wird eine notwendige Beziehung von einem Wort einer Sprache zu seiner Bedeutung erklären müssen.' Wittgenstein netint diese notwendige Beziehung, die zwischen einem Wort und seiner Verwendung in entsprechenden Sprachspielen besteht, den "logischen Zwang" (PU 140). Bezüglich der Mathematik bezeichnet er dies auch als "logisches Muß"} Betrachten wir die offene Gleichung "2+2=x": Gemäß unserer Mathematik ist die Bedeutung der Zeichen "2", "4", "+" und "=" derart, daß wir sagen müssen: "2+2=4" (und nicht etwa "2+2=5"). Es ist ein Zwang für jeden, der die Bedeutung dieser Zeichen kennt, es ist ein Zwang gemäß den Bedeutungen dieser Zeichen - so jedenfalls werden die Zeichen in unserer Mathematik gebraucht, auch wenn unsere Mathematik selbst nach Wittgenstein nur ein kontingentes, anthropologisches Phänomen ist.' - Und es ist (unter normalen Umständen) für uns ebenfalls ein Zwang, aufgrund der Bedeutung des Wortes "Würfel" dem Satz "Ein Würfel hat sechs Seiten" zustimmen zu müssen. Diesen Zwang können die Theorien mit den inneren Bildern aber nicht erklären, denn es kann ja sein, daß ich "Würfel" sage, dabei jedoch das Bild eines dreieckigen Prismas 'im Kopf habe - und ein dreieckiges Prisma hat nicht sechs, sondern nur fünf Seiten. Würde nun zusätzlich gefordert, das Wort "Würfel" verlange eben auch das Bild eines Würfels 'im Kopf - und dies würde dann durch irgendwelche raffinierten Projektionsmethoden gesichert -, dann ist der eigentliche Aspekt des Problems jedoch immer noch nicht geklärt. Denn der logische

Quine würde dieser These wohl widersprechen; s. dazu meine Kritik an Wittgensteins Behandlung von Verstehen und logischem Zwang am Ende von Kapitel 2.2.2. Der Ausdrack "logisches Muß" findet sich in PU 437; BGM, S. 84, 352f. -- Das Folgende ist eine Interpretation von mir, die eine Explikation dieser von der Sekundärliteratur notorisch vernachlässigten, gleichwohl zentralen Textpassage sein soll. - Eine Erläuterung darüber, warum es auch in der Mathematik vor allem ein »logisches Muß« und nicht nur ein "mathematisches Muß" (BGM, S. 430) gibt, erspare ich mir hier. PU II, S. 573; BGM, S. 220, 399; s. Kapitel 3.11.1.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Zwang wie auch das logische Muß drücken Notwendigkeit aus (2+2 ist notwendigerweise gleich 4; die Bedeutung des Wortes "Würfel" ist so, daß notwendigerweise gilt "Ein Würfel hat sechs Seiten"), doch das Haben-eines-inneren-Bildes, welches von der Psychologie als einer empirischen und mithin kontingenten Wissenschaft beschrieben wird, unterliegt allenfalls einer kontingent gültigen Relation, einem "psychologischen Zwang" (PU 140). Das heißt: Die spezifische Modalität der Beziehung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung wird durch den Rekurs auf psychische Beziehungen verfehlt. Der Modus der Notwendigkeit ergibt sich nach Wittgenstein allein aus den Regeln der Grammatik (bzw. der Logik^), nicht aber aus der Empirie: "Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen" (PU 371). "Die Verbindung, die keine kausale, erfahrungsmäßige, sondern eine viel strengere und härtere sein soll, ja so fest, daß das Eine irgendwie schon das Andere ist, ist immer eine Verbindung in der Grammatik" (BGM, S. 88). "Ich will sagen, daß das Muß einem Gleise entspricht, das ich in der Sprache lege" (BGM, S. 166). "Das ist klar: daß wenn Einer sagt: »Wenn du der Regel folgst, so muß es so sein,« er keinen klaren Begriff von Erfahrungen hat, die dem Gegenteil entsprächen. [...] Denn das Wort »muß« drückt doch aus, daß wir von diesem Begriff nicht abgehen können" (BGM, S. 238).

Es gilt nun, herauszufinden, worin der Grund für eine derart unzulängliche Theorie lag; denn es sollen nach Wittgenstein ja bei einer Therapie nicht nur die Symptome einer philosophischen Verwirrung behandelt, vor allem deren Ursachen herausgefunden werden (BFGB, S. 29; PU 309). ~ Nun, es ist ein Faktum, und zwar ein psychologisches Faktum, daß wir bei Wörtern wie "Würfel" oder "Hand" innere Bilder oder Vorstellungen haben oder zumindest assoziieren körmen. Und auf dieses psychologische Faktum berufen sich jene psychologistischen Bedeutungstheorien. Ein solches Faktum wird von Wittgenstein auch gar nicht bestritten (es wäre ja wohl auch ziemlich abwegig, ein Faktum bestreiten zu wollen). Was Wittgenstein mit seiner Untersuchung allerdings bestreitet, ist, daß ein solches psychologisches Faktum für eine philosophische Erklärung von Bedeutung, Verstehen oder Meinen taugt. Man erinnere sich: Die Bedeutung eines Wortes sollte das innere Bild sein; das-Wort-Verstehen sollte das Haben oder Vorstellen eines Bildes sein. Aber dieses Haben-eines-Bildes wird von Wittgenstein deutlich von Verstehen oder Meinen unterschieden, denn es erklärt nicht jenen

2.2.1. Anti-Psychologismus bei inneren Bildern

93

logischen Zwang zwischen der Bedeutung eines Wortes und seiner Verwendung. Für ihn ist das Haben-eines-Bildes nur ein psychologisch beschreibbarer Begleitvorgang {PU 152; PU II, S. 500-502). Doch: "Die Bedeutung ist nicht das Erlebnis beim Hören oder Aussprechen des Wortes [...]" (PUU,

S. 5 0 0 ) .

"Das Meinen ist kein Vorgang, der dies Wort begleitet. Denn kein Vorgang

könnte

die [logischen] Konsequenzen des Meinens haben" (PU Π, S. 560).

Das heißt, daß psychologische Begriffe wie etwa "vorstellen" oder auch "betrübt sein"' nach Wittgenstein nicht parallel zu setzen sind mit "verstehen" oder "meinen".^ Mit anderen Worten: Die Logik^ (die Regeln der Verwendung) der psychologischen Ausdrücke ist eine andere als die Logik^ unserer Begriffe 'Verstehen' oder 'Meinen'. Wittgenstein warnt damit vor einer unter Umständen irreführenden Analogie (dazu im nächsten Kapitel noch mehr). Man kann Wittgensteins Argumentation gegen jene Theorien, die besagen, die Bedeutung eines Wortes sei ein dazu passendes inneres Bild, das Verstehen eines Wortes sei das Haben-eines-Bildes, in zwei Einwände zusammenfassen: (1) Das Haben-eines-Bildes garantiert nicht das Verstehen des entsprechenden Wortes, denn das Haben-eines-Bildes sagt noch nichts über die Anwendung des Bildes und somit auch nichts über die Verwendung des Wortes aus. (2) Das Haben-eines-Bildes erklärt nicht den logischen Zwang zwischen einem Wort und seiner Bedeutung (das ist die notwendige Beziehung zwischen einem Wort und seiner Verwendung in einem Sprachspiel), denn das Haben-eines-Bildes beim Verwenden eines Wortes ist allenfalls eine psychologisch erfaßbare, kontingente Beziehung. ~ Wollte der empiristische Opponent Wittgensteins an seiner Theorie festhalten, dann müßte er zeigen, daß der psychologische Zwang mit dem logischen Zwang identisch ist.^ Das heißt: Er müßte dariegen, daß zumindest einige empirisch ermittelte, kausale Beziehungen notwendige Relationen darstellen. Doch das wäre eine metaphysische Behauptung, für die ein Empirist niemals mit ausschließlich empirischen Methoden argumentieren könnte.

vgl. die Diskussion von PU 148 in Kapitel 2.2.2. vgl. McGinn 1984, S. 5. Der Piatonismus stellt eine philosophische Konzeption dar, die dieses Problem zu umgehen versucht; s. Kapitel 3.11.1.

94

2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Bei dieser Diskussion wird wieder einmal Wittgensteins Unterscheidung von Philosophie und empirischer Wissenschaft (vgl. PU 109) deutlich. Die Grundidee dabei ist, daß die Psychologie, wie jede andere (Natur-) Wissenschaft auch, allenfalls kontingente Sätze oder Gesetze behaupten kann, die eben nicht dazu hinreichen, die notwendige Beziehung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung, den logischen Zwang, zu erklären (und von der Strenge der Logik will Wittgenstein keinesfalls abrücken; vgl. PU 108; BGM, S. 3520·' Gemäß seiner Konzeption von Philosophie sind daher Untersuchungen von Begriffen erforderlich (z.B. Untersuchungen zu den Begriffen 'Bedeutung' und 'Verstehen'), die einer grammatischen oder logischen^ Untersuchung entsprechen, und die nicht mit denen empirischer Wissenschaften verwechselt werden dürfen. Mit anderen Worten: Unsere begrifflichen Fragen - das sind Fragen, die sich auf Begriffe, so wie wir sie jetzt verwenden, beziehen - sollten sich klären lassen, bevor die empirischen Wissenschaften ihre Ergebnisse vorstellen. Denn es sind Fragen, die unabhängig von den empirischen Wissenschaften gestellt und behandelt werden können (vgl. dazu auch Kapitel 2.2.2.): "[...] die Aufgabe der Philosophie ist [...], den Sprachgebrauch unserer Sprache - der bestehenden - zu klären. Ihr Zweck ist es, besondere Mißverständnisse zu beseitigen [z.B. die Theorie von den inneren Bildern]; nicht, etwa, ein eigentliches Verständnis erst zu schaffen" (PG, S. 115).

Wittgenstein argumentiert insofern gegen eine Naturalisierung der Philosophie: Ihm geht es dabei um »die Grenzen der Empirie«^ - und das ist, wie schon erwähnt, auch nur ein Ausdruck des Versuchs, die Doktrin von der Autonomie der Grammatik zu verteidigen.

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen Letztlich verfolgt Wittgenstein die gleiche Argumentationsstrategie, wenn er diejenigen empiristischen Theorien diskutiert, die unsere Begriffe des Verstehens und des die-Bedeutung-Kennens als Begriffe von Zuständen der Seele oder des Gehirns beziehungsweise als Begriffe von

' ^

Einen empiristisch akzeptablen Ausweg aus dieser Situation nenne ich am Ende des Kapitels 2.2.2. Darauf komme ich noch im Anschluß an meine Diskussion von PU 155 zurück (vgl. Ζ 231; PU 383; ВРР II 199).

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen

95

Vorgängen in der Seele oder im Gehirn erklären wollen; dabei argumentiert er auch gegen diejenigen Theorien, die das Verstehen einer Sprache als eine Disposition beschreiben. Der Beginn dieser Diskussion findet sich in PV 145. Dort geht es um folgenden Satz: "Der Schüler beherrscht das System der Reihe der natürlichen Zahlen". Dies ließe sich auch so ausdrücken: "Der Schüler versteht die Reihe Ί , 2, 3, 4, er kann sie richtig fortsetzen", oder auch: "Der Schüler kennt die Bedeutung der Reihe ' 1, 2, 3, 4, ...'" - Das philosophische Problem ist nun: Aufgrund welcher Kriterien gelangen wir zu einer solchen Aussage, bzw., welche Kriterien rechtfertigen eine solche Behauptung? Es geht - allgemeiner formuliert - um das Problem, anhand welcher Kriterien wir in bestinmiten Situationen (Sprachspielen) sagen würden, "Er versteht...". Es soll demnach unsere Verwendung des Ausdrucks "Er versteht ..." untersucht werden (vgl. PU 573). Das philosophische Problem "Was ist Verstehen?" ist insofern umformuliert worden in "Wann verwenden wir das Wort 'verstehen'?" Wittgenstein diskutiert das Problem in diesem und in den folgenden Abschnitten anhand des Beispiels: "Wann sagen wir, 'der Schüler versteht die Reihe 1, 2, 3, 4, ...'?" Zunächst sagt Wittgenstein ganz plausibel : Wenn der Schüler es bei 100 Versuchen nur einmal richtig macht, dann würden wir nicht sagen, "Er versteht..."; aber wenn es ihm oft gelingt, dann sagen wir es. Die naheliegenden Fragen sind nun: Wie oft muß es ihm gelingen? 5,10 oder 20 Mal? Und was heißt da "gelingen"? Naheliegenderweise bedeutet es, daß er mit unserer Fortsetzung der Reihe übereinstimmen„+M muß. Aber wie stellen wir das fest? Muß er die Reihe ' 1,2, 3,4,...' bis 8,20,50 oder was-immerman-will fortsetzen können (PU 146)? Wittgenstein nimmt im letzten Satz von PU 145 die Antwort vorweg: Es gibt keine exakten Kriterien, die schlichtweg oder ein für allemal gelten (daß man hinsichtlich bestimmter Zwecke dazu geeignete Kriterien gleichsam dezisionistisch setzen kann, wird damit nicht geleugnet). Diese Antwort soll einen an die tatsächliche Vagheit oder Mehrdeutigkeit unserer Wörter erinnern,' welches auch für das Wort "verstehen" gilt. Trotzdem wird das Wort dadurch nicht unbrauchbar, denn es gibt ja klare Fälle, in denen wir sagen "Er versteht...", und es gibt andere klare Fälle, in denen wir das nicht sagen.

Stichwort: "Familienähnlichlteit", siehe PU 65-76, 84f; vgl. Kapitel 2.1.1.

96

2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Einen traditionellen Philosophen befriedigt diese Darlegung aufgrund ihrer Unschärfe freilich nicht. Und so läßt Wittgenstein einen möglichen Opponenten in PU 146 eine neue Hypothese wagen: "Das Verstehen selbst ist ein Zustand, woraus die richtige Verwendung entspringt" (PV 146). Das heißt (man vergleiche den Satz davor): Der philosophisch geschulte Opponent will das Verstehen als einen Zustand ' unterscheiden von der Anwendung des Verstehens. Der Opponent würde demnach wohl sagen: Das Verhalten des Schülers, wenn er die Reihe fortsetzt, ist nur ein beobachtbares Symptom, das auf einen zugrundeliegenden Zustand, nämlich den Zustand des Verstehens, verweist;^ dieser Zustand, den es (psychologisch) zu identifizieren gilt, ist dann das gesuchte Kriterium. Der letzte Satz in PH 146 deutet aber schon auf PU 198-202 vorausschauend an, daß es Wittgensteins Absicht ist, den Opponenten ins Unrecht zu setzen: "Die Anwendung bleibt ein Kriterium des Verständnisses" {PU 146). Wittgenstein ist folglich nicht der Meinung, daß Verstehen ein Zustand ist, der immer von der Anwendung des Verstehens zu unterscheiden ist, denn das Verstehen eines Wortes zeigt sich unter Umständen allein in der Anwendung dieses Wortes. Zusätzliches braucht da gar nicht postuliert zu werden.^ Wittgenstein muß den Opponenten also davon überzeugen, daß dieser sich ein falsches Bild des Verstehens macht. Deshalb beginnt er in den folgenden Bemerkungen eine Untersuchung darüber, was es wohl heißen könnte, daß Verstehen ein Zustand sei - denn das war ja die Grundannahme des Opponenten. Eines, das sagt Wittgenstein noch in PU 146, kann es jedenfalls nicht heißen, nämlich - in bezug auf die Reihe der natürlichen Zahlen - irgendwelche inneren Bilder von Ί , 2, 3, 4, ...' zu haben. "Da waren wir ja schon einmal" verweist auf die Diskussion von PU 139/140. Um "1, 2, 3, 4, 5, 6, ..." sagen zu können, könnte man nämlich auch die Reihe '2, 1, 4, 3, 6, 5, ...' 'im Kopf haben. Eine Projektionsmethode ist dann

Einem Zustand oder auch einer Disposition (vgl. ab PU 149); das heißt, man sollte sich nicht daran stören, daß hier von Zuständen und nicht von Hhigkeiten gesprochen wird, vgl. Baker/Hacker 1980, S. 323. Das heißt: Wittgenstein bestreitet nicht, daß eine Rhigkeit, etwas tun zu können (z.B. Klavier spielen, schwimmen oder verstehen), unteischeidbar ist von dem Ausführen dieser Fähigkeit; diese Unterscheidung kann unter Umständen sogar sehr wichtig sein. Was Wittgenstein allerdings bestreitet, ist, daß z.B. "verstehen von X' (philosophisch) erklärt werden kann (was auch eine Erklärung des logischen Zwangs enthalten müßte), ohne dabei auf die Anwendimg von X zu rekurrieren.

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen

97

freilich möglich, aber inwiefern kennt man dann die? Damit wäre das Problem also nur verschoben, und es wäre femer immer noch ungeklärt, wie solche Bilder anzuwenden sind. In PU 148 untersucht Wittgenstein das Phänomen Verstehen unter dem Titel "die-Bedeutung-wissen". Die zu diskutierende Frage lautet deshalb: "Worin aber besteht dies Wissen?" (PU 148). Ist dieses Wissen etwa ein seelischer Zustand, d.h. eine Art Bewußtheitszustand?' So räsoniert Wittgenstein für seinen Opponenten: "Das Verstehen möchte man einen geistigen Vorgang oder einen Zustand der Seele nennen und charakterisiert e s damit als hypothetischen

Vorgang etc. oder richtiger als

Vorgang (oder Zustand) im hypothetischen Sinn. D.h. man verweist das Wort »verstehen« in ein bestimmtes Gebiet der Grammatik" (PG, S. 82).

Wittgenstein gelangt daher zu folgender Frage: Was ist ein seelischer Zustand? In der Randbemerkung (a) (PU, S. 315) führt er als Beispiele für seelische Zustände betrübt-sein und Schmerzen-haben an. Nun kann man sicherlich sinnvoll sagen: "Ich bin den ganzen Tag lang ununterbrochen betrübt gewesen - ich habe an nichts anderes denken können", oder auch: "Ich hatte den ganzen Tag lang Zahnschmerzen - ich habe mich auf nichts anderes konzentrieren können", denn: "Ein Seelenzustand hat eine Dauer" (Z 78; vgl. BPP II 722). Aber man wird sicheriich nicht sagen wollen: "Ich weiß den ganzen Tag lang die Bedeutung des Wortes 'Würfel' - ich habe an nichts anderes denken können", oder auch: "Ich bin mir den ganzen Tag lang der Fortsetzung der Reihe Ί , 2, 3, 4, ...' bewoißt gewesen - ich habe an nichts anderes gedacht." Vielmehr wird man doch wohl (unter normalen Umständen) sagen: "Ich weiß die Bedeutung des Wortes 'Würfel', auch wenn ich nicht daran denke", und entsprechend: "Ich kann die Reihe Ί , 2, 3, 4 , f o r t s e t z e n , ohne ständig daran denken zu müssen." Das aber zeigt, daß die Bedeutung des Wortes "Würfel" wissen, eine Reihe fortsetzen oder ein Wort verstehen können etwas anderes ist als Schmerzen zu haben oder betrübt zu sein. "Ich kaim auf den Verlauf meiner Schmerzen achten; aber nicht e b e n s o auf den m e i n e s Glaubens, meiner Obersetzung, oder meines Wissens" (Z 75).

Verstehen oder die-Bedeutung-wissen ist demnach nicht so etwas wie ein seelischer Zustand, ist also nicht so etwas wie ein Bewußtheitszustand.

vgl. PU 572f; PU II. S. 492.

98

2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Denn wir reden über Bewußtheitszustände anders als über Verstehen bzw. die-Bedeutung-wissen.' Im Wittgenstein-Jargon formuliert lautet dies: Das Wort "verstehen" verweist auf ein anderes Gebiet der Grammatik als psychologische Ausdrücke wie "Schmerzen haben" oder "betrübt sein". Das bedeutet, daß das Modell der Bewußtheitszustände sich nicht als Analogie oder als "Vergleichsobjekt" {PU 130) für die Untersuchung des Verstehens eignet.^ Wittgenstein übernimmt es in Ρ ί/ 149 selbst, dem Ausdruck "Wissen ist ein Zustand" eine neue Deutung zu geben (diese war schon in PU 148 kurz angeklungen). Die neue These lautet: Die-Bedeutung-wissen ist ein zugrundeliegender Zustand der Seele oder des Gehirns; es ist eine Disposition. Dispositionen werden hier verstanden als Seelen- oder Gehimzustände, die uns nicht unbedingt die ganze Zeit über bewußt sein müssen, die also auch nicht in dem Sinne unterbrochen werden können wie Bewußtseinszustände unterbrochen werden können.^ "Der gemeinsame Unterscyed aller Bewußtseinszustände von den Dispositionen scheint mir zu sein, daß man sich nicht durch Stichproben überzeugen kann, ob sie noch andauern" (Z 72 = BPP Π 57; s. Ζ 76).

Der Opponent behauptet insofern: Verstehen, ein Wort zu verwenden wissen, das ABC aufsagen können, sind potentiell sich aktualisierende Zustände der Seele, oder, wie Materialisten es ausdrücken würden, es sind potentiell sich aktualisierende Zustände des Gehirns (vgl. PG, S. 8, 82). Ein solcher Zusammenhang der Wörter "verstehen", "wissen" und "können" wird dem Opponenten von Wittgenstein in PU 150 auch ausdrücklich zugestanden. — Die folgende Diskussion verläuft (vielleicht ein wenig verwirrend) zweigleisig parallel. Wittgenstein argumentiert sowohl gegen diejenigen Philosophen, die Verstehen oder die-Bedeutung-wissen

Waram Wittgenstein in PU 148 das Wort "Bewußtheitszustand", in PU 149 aber den wohl gängigeren Ausdruck "Bewußtseinszustand" verwendet, weiß ich nicht. — Er verwendet die beiden Ausdrücke in PU 148f offensichtlich als Synonyme für den alltäglicheren Ausdruck "seelischer Zustand". Nun ist in der Philosophiegeschichte der Ausdnick "Bewußtsein" bzw. "Bewußtseinszustand" - insbesondere im Deutschen Idealismus - aber gar nicht in solch alltäglicher Art, sondern vielmehr in sehr terminologischer Weise verwendet worden. Wittgenstein diskutiert dies überfiaupt nicht, vielleicht weil ihm eine solche philosophische Verwendung schon ein Indiz für 'schlechte Philosophie' war. Es darf wohl bezweifelt werden, daß er auf diese Weise jegliche Art von Bewußtseins-Philosophie schon desavouiert hätte, vgl. PU II. S. 500; dazu auch BPP II 63, 148 (Z 75-86, 472, 488^92). vgl. PUH, S. 5i6·. BPP и 45.

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen

99

als einen Zustand der Seele interpretieren wollen, als auch gegen diejenigen Philosophen, die dies materialistisch als einen Zustand des Gehirns interpretieren wollen.' In PI) 149 will Wittgenstein zeigen, daß die Redeweise von Dispositionen hinsichtlich "eine-Sprache-verstehen" unzulässig ist. Wittgensteins Argumentation beruht auf folgender - und wie ich finde plausibler - Vorstellung: Um von einer Disposition in einem erklärenden, wissenschaftlichen Sinne reden zu können, müssen zwei Kriterien erfüllt sein: (1) Wir müssen die Konstruktion oder Struktur des Gegenstandes oder Stoffes kennen, über den eine dispositional Eigenschaft behauptet wird, und (2) es müssen die Auswirkungen dieser Struktur ersichtlich sein. ~ Ein Beispiel für eine Disposition ist z.B. Zerbrechlichkeit bei Glas: Wir sagen "Glas ist zerbrechlich" in einem erklärenden, wissenschaftlichen Sinne, weil wir die molekulare Struktur von Glas kennen und auch wissen, daß etwas mit einer solchen Struktur beispielsweise bei Schlägen mit einem harten Gegenstand zerbricht. Und so sage ich auch in einem erklärenden Sinne, jene Maschine habe die Disposition, Blechdosen herzustellen, wenn ich die Konstruktion der Maschine kenne und auch beobachten konnte, daß die Maschine tatsächlich funktionierte, also aus Rohmaterial wirklich Blechdosen herzustellen vermochte. In diesem Sinne kann man nun sagen, Glas habe die Disposition, zerbrechlich zu sein, ohne daß das Glas jetzt zerbrochen ist, beziehungsweise, jene Maschine habe die Dispositon, Blechdosen herstellen zu können, ohne daß sie momentan tatsächlich Blechdosen herstellt. In diesem Sinne von Disposition reden wir aber nicht von einem Schüler, über den wir behaupten: "Er versteht das Wort ...", oder "Er weiß die Reihe der natürlichen Zahlen fortzusetzen". Denn wir schauen dem Schüler ja nicht erst 'in den Kopf, analysieren die Konstruktion seiner Seele oder seines Gehirns, um dann erst sagen zu können: "Er versteht ...". De facto wissen wir ja nur äußerst wenig über die Seelenoder Gehimstruktur des Menschen, und trotzdem verwenden wir die Wörter "verstehen" und "wissen" - und genau das gilt es ja nach Wittgenstein zu erklären. Wir verwenden diese Wörter allein dadurch, daß wir zum Beispiel einen Schüler beobachten, wie er seine Worte ge-

Ich habe keine Vermutung darüber, welche konkreten Opponenten Wittgenstein vor Augen gehabt haben könnte; man kann allerdings einige Bemerkungen im Tractatus in dieser Weise materialistisch verstehen; vgl. 71/» 5.541-5.5421.

100

2. Gnmdbegriffe und Grundpositionen

braucht, oder wie er zählt. Wie gesagt (in PV 146), "die Anwendung bleibt ein Kriterium des Verständnisses". Der Verweis auf Dispositionen bringt uns also nicht weiter, wenn wir erklären wollen, anhand welcher Kriterien wir die Wörter "verstehen" oder "wissen" verwenden. Die empiristische Redeweise von den Gehirn- oder Seelenzuständen, verstanden als Dispositionen, hilft uns bei unserem philosophischen Problem - das da lautet: Wann sagen wir "Er versteht ..."? - also gar nicht weiter. Der empiristische Lösungsversuch, der das Verstehen analog zu Dispositionen betrachtet, wirft überhaupt erst neue Probleme auf, da er uns nunmehr dazu nötigen würde, daß wir erst dann "Er versteht ..." sagen dürften, nachdem wir seinen Gehirn- oder Seelenzustand analysiert hätten.' So aber verwenden wir unseren Begriff des Verstehens offensichtlich nicht. Daß es solche Zustände geben muß, ist aber lediglich eine Eigenschaft oder Forderung der Analogie, Menschen wie Maschinen zu betrachten und dann nach dispositionalen Zuständen zu suchen. Doch über die empirische Wirklichkeit solcher Zustände - das heißt, ob es sie wirklich gibt - ist ja bis heute noch gar nichts ausgemacht.^ Wer jetzt aber fragt: "Wie derm sonst?", der zeigt damit nur, wie sehr er sich in dieser Analogie verfangen hat. Nun liegt der Einwand nahe, man könne doch wohl sirmvoll "Glas ist zerbrechlich" sagen, ohne die molekulare Struktur von Glas zu kennen. Richtig, "Glas ist zerbrechlich" ist ein auf Beobachtungen beruhender Satz. Das Problem aber war doch wohl, diese Beobachtungen zu erklären. Und soll der Satz "Glas hat die Disposition, zerbrechlich zu sein" eine Erklärung darstellen (und nicht nur eine neue Redeweise für "Glas ist zerbrechlich" sein), dann muß man erklären können, was man hier unter "Disposition" versteht; man müßte also zum Beispiel auf die molekulare Struktur von Glas verweisen. Werm jetzt behauptet wird, "Er kann Englisch" werde wiedergegeben durch "Er hat die Disposition, Englisch zu verstehen und zu sprechen", dann hieße dies - werm es eine Erklärung und nicht nur eine verschrobene Redeweise sein soll -, daß die Analogie mit den Dispositionen ernst zu nehmen ist. Und das würde bedeuten, daß wir, um "Er karm Englisch" sagen zu können, jetzt auch schon auch etwas Detailliertes über seine Seelen- und Gehirnstruktur sagen können müßten. Doch so reden wir über die Fähigkeit, Englisch verstehen und

Dies ist schon ein Vorgriff auf PU 153; vgl. auch PU 425-430. vgl. Baker/Hacker 1980, S. 342f.

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen

101

Sprechen zu können, nicht - und genau deswegen ist die Analogie mit den Dispositionen für unseren Begriff des Verstehens unangebracht.' Mit dieser Diskussion suggeriert Wittgenstein aber auch, daß selbst dann, wenn wir bestimmte, nur bei Verstehen auftretende Seelen- oder Gehimzustände finden würden, unser philosophisches Problem - wie verwenden wir das Wort "verstehen" - noch gar nicht gelöst wäre. Denn ein solches Verstehen stimmte mit unserem Begriff 'Verstehen', den wir verwenden können, ohne jemandem 'in den Kopf zu schauen, nicht überein. Es wäre also ein anderer, ein neuer Begriff 'Verstehen'. Hier aber sollte unser Begriff 'Verstehen' untersucht werden. Die Lösung, oder besser, die Beseitigung dieses Problems, so Wittgenstein andeutungsweise in PV 150, wird eher dadurch zu finden sein, daß wir die Parallelen in der Verwendung von "verstehen", "wissen", "können" und "eine Technik beherrschen" betrachten. Um es noch einmal deutlich zusammenzufassen: Richtig kann es nach Wittgenstein hinsichtlich einiger Umstände sein. Verstehen als eine Art Fähigkeit anzusehen; nicht richtig aber ist es, diese Fähigkeit als eine Disposition zu beschreiben, denn wir reden über Dispositionen anders als wir über das Verstehen reden. Einen empiristischen Philosophen wird das vielleicht noch nicht überzeugt haben. Wittgenstein geht deshalb in PO 153 zum Gegenangriff über. Weiß der empiristische Philosoph überhaupt, was er sucht? Weiß er überhaupt, was er finden will? Und warum? Nun, der Opponent wird

Diese Oberiegung trifft auch auf andere sogenannte Dispositionen zu. Der mir gegenüber mehrfach vorgebrachte Einwand, wir würden doch z.B. von Jähzorn als einer Disposition bei einer Person spechen, wenn wir die Erfahrung gemacht haben, daß sie unter bestimmten Bedingungen leichter als andere ein massiv aggressives Verhalten an den Tag legt (wobei wir keine Kenntnisse neurophysiologischer oder neuropathologischer Art benötigten), trifft nicht den Punkt von Wittgensteins Überlegungen. Es ist richtig, daß wir eine solche Person jähzornig nennen; dies charakterisiert die Person. Das sagt aber nichts darüber aus, was Jähzorn ist. Wer sagt, Jähzorn sei eine Disposition, will nicht Personen charakterisieren, sondern erklären, was ein Jähzorn ist (und dies verlangt eventuell nach neurophysiologischen Erklärungen). Andernfalls wäre "Er hat die Disposition, jähzornig zu sein" nur ein umständlicher Ausdruck für "Er ist jähzornig". M.a.W.: Wittgenstein verbietet nicht unseren Sprachgebrauch bezüglich Verhaltensdispositionen. Ihm gehr es vielmehr darum, zu zeigen, daß hier die Analogiebildung in der Redeweise von Dispositionen bei Stoffen und Maschinen einerseits und handelnden Menschen andererseits keine Erklärungskraft besitzt. Wer jetzt sagt "Aber es ist doch klar, daß Menschen keine Bledidosen-Maschinen sind", der muß sich die Frage gefallen lassen, was er denn dann damit sagen wollte, daß z.B. Jähzorn eine Disposition sei.

102

2. Grundbegriffe und Grundpositionen

voraussichtlich antworten: "Ich suche nach einem exakten Kriterium, so daß ich mit Recht sagen kann, 'Der Schüler versteht ab jetzt, die Reihe richtig fortzusetzen.' Es ist ein Kriterium für den Zustand oder die Fähigkeit des Verstehens." ~ Wittgenstein interpretiert das als Ausdruck der traditionellen philosophischen Einstellung, daß wir irgendetwas, z.B. einen bestimmten Zustand, als ein exaktes Kriterium finden können müssen - andernfalls hätte man noch keine befriedigende Konzeption von Verstehen vorgelegt. Aber ist das nicht vielleicht nur eine Fiktion, eine philosophische Spekulation? Denn heißt dies nicht, daß die Existenz eines solchen Zustands postuliert wird, und zwar a priori!^ Daß man eventuell nach einer Fiktion sucht, ist nach Wittgenstein Ausdruck einer Verwirrung, verursacht durch die Versuchung einer sich aufdrängenden Analogie, den Menschen als eine Art biologische Maschine zu betrachten. Ob diese Analogie in bezug auf einen bestimmten Aspekt zutrifft oder nicht, das ist nicht a priori - also philosophisch - auszumachen, sondern bestenfalls ein noch ausstehendes Ergebnis empirischer Forschung. Die Verwirrung ist hier also, daß man die Naturwissenschaften mit der Philosophie vermengt.^ Das Defizit solcher Ansätze wird insbesondere daran deutlich, daß die kontingenten, empirischen Wissenschaften nicht den Aspekt des logischen Zwangs erfassen können. Denn eines dürfte schon jetzt klar sein: Selbst wenn man so einen bestimmten Seelen- oder Gehimzustand finden würde, könnte dieses kontingente neuropsychologische oder neurophysiologische Faktum nicht zu einer Erklärung des logischen Zwangs taugen. Würde man dennoch bestimmte seelische oder neurophysiologische Zustände als Verstehen definieren, so würde das unser Problem des Verstehens nicht lösen. Denn es wäre lediglich eine neue Definition eines neuen Begriffs 'Verstehen'. Wenn also nach Wittgenstein nicht irgendwelche Zustände dem Verstehen entsprechen - was ist detui darm das Kriterium des Verständnisses? Darauf hatte Wittgenstein schon in PU 146 geantwortet: "Die Anwendung bleibt ein Kriterium des Verständnisses." Das bedeutet, daß allein die Umstände, d.i. der Kontext eines Sprachspiels, die entsprechenden Kriterien angeben - z.B., wetm es jenem Schüler oft gelingt, eine Reihe richtig fortzusetzen. Insofern können wir unseren Begriff 'Verstehen' durchaus sinnvoll anwenden. Ein exakteres Kriterium ist nicht nötig;

vgl. PU 158. vgl. Ζ 608-610; vgl. McGinn 1984, S. I If.

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen

103

insbesondere benötigen wir keinen Rekurs auf innere Zustände oder Vorgänge. In diesem Sinne faßt Wittgenstein auch im zweiten Teil seiner Philosophischen Untersuchungen die bisherige Diskussion zusammen (die Kursivschrift in eckigen Klammem gibt meine Erläuterungen wieder): "Was würden wir denn einem entgegnen, der uns mitteilte, bei ihm sei das Verstehen ein innerer Vorgang? - Was würden wir ihm entgegenen, bei ihm sei das Schachspielenkönnen ein innerer Vorgang? [Wittgenstein ßhrt es also auf ein überschaubares Sprachspiel zurück; wir entgegnen:] Daß nichts, was in ihm vorgeht, uns interessiert, wenn wir wissen wollen, ob er Schach spielen kaim. - Und wenn er nun darauf antwortet, es interessiere uns eben doch: - nämlich, ob er Schach spielen könne, - da müßten wir ihn auf die Kriterien aufmerksam machen, die uns seine Fähigkeit [Schach spielen zu können] beweisen würden [und das heißt: ob er die richtigen Züge ausßhren kann], und andererseits auf die Kriterien der >inneren Zustände< [die bei 'Schmerzjen haben' etwa die wären: "Aua" rufen, das Gesicht verziehen, öfiers stöhnen, etc.; die Kriterien für innere Zustände, das war das Ergebnis der Diskussion von PU 148f, sind andere als die des Verstehens - deshalb vermag Wittgenstein auch noch zu ergänzen:] Auch wenn einer nur dann, und nur so lange, eine bestimmte Fähigkeit hätte, als er etwas Bestimmtes fühlt, wäre das Gefühl nicht die Fähigkeit [das Gefühl wäre eben nur ein Begleitvorgang - und es ist allenfalls kontingent, daß jenes Gefühl immer bei der Anwendung dieser Fähigkeit aufiauchte]" (PU II, S. 500).

Ein psychologischer Rekurs auf innere Zustände wäre aber auch völlig ungenügend. Wenn wir zu Recht von einem sagen "Er versteht das Wort 'Würfel'", dann verlangen wir auch - darauf würde Wittgenstein mit Sicherheit beharren -, daß er dem Satz "Ein Würfel hat sechs Seiten" zustimmt. Diese logische Implikation, die ein notwendiges Merkmal bei der Verwendung des Wortes "Würfel" formuliert, ist aber durch kontingente, psychologische Untersuchungen nicht garantiert: Etwas Verstehen ist kein Vorgang, der das Wort begleitet, denn kein Vorgang könnte die logischen Konsequenzen dessen haben, was wir mit "verstehen" meinen (in Abwandlung von PU II, S. 560). Denn logische Konsequenzen hat nur das, was man versteht (z.B. Sätze mit dem Wort "Würfel"), aber ein Vorgang hat keine logischen Konsequenzen. Warum das Suchen nach Seelen- oder Gehimzuständen nach Wittgenstein vielleicht empirisch interessant ist, philosophisch aber nicht (einschließlich der damit einhergehenden Vemrteilung des Empirismus), bedarf sicheriich noch weiterer Erläuterungen. - Die Problematik ist auch deswegen von Interesse, weil sie darauf anspielt, was Wittgenstein

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2. Grundbegriffe und Gnmdpositionen

wohl zur gegenwärtigen Philosophie des Geistes, insbesondere zu den materialistischen Tendenzen sagen würde.' Aus diesem Grunde begrenze ich das Folgende auf die Redeweise von den Gehimzuständen, vernachlässige also die von den Seelenzuständen. Meine Diskussion, in der ich mich zunächst einmal als Anwalt Wittgensteins verstehe, um seine Position zu stark wie möglich zu artikulieren, läuft auf eine Interpretation der folgenden Bemerkung Wittgensteins hinaus: "Welche seltsame Stellungnahme der Wissenschaftler -: »Das wissen wir noch nicht; aber es läßt sich wissen, und es ist nur eine Frage der Zeit, so wird man es wissen«! Als ob es sich von selbst verstünde. " (ИВ, S. 506; vgl. ßß, S. 18)

Die Untersuchung erfolgt am Beispiel des folgenden Satzes:^ (•)

"Das Verstehen des Wortes χ ist der Gehimzustand α."

Als eine empirische Aussage ist ein solcher Satz freilich sinnvoll äußerbar, wenn er im folgenden Sinne verwendet wird: 'Jedesmal, wenn wir das Wort χ (richtig) verwenden, haben wir auch den Gehimzustand α.' Dagegen hätte Wittgenstein sicherlich nichts einzuwenden (vgl. PU 376, 392). Allerdings wäre es eine neue Definition für "Verstehen von x", denn zum Identifikationskriterium für Verstehen würde nun auch ein Begleitzustand einbezogen werden. In dieser Weise vermag die wissenschaftliche Forschung sowohl den alltäglichen wie auch ihren eigenen, früheren Sprachgebrauch zu verändern: "Es ist nichts gewöhnlicher, als daß die Bedeutung eines Ausdrucks in der Weise schwankt, daß ein Phänomen bald als Symptom, bald als Kriterium eines Sachverhalts angesehen wird. Und meistens wird dann in einem solchen Fall der Wechsel der Bedeutung nicht gemerkt. In der Wissenschaft ist es üblich, Phänomene, die genaue Messungen zulassen, zu definierenden Kriterien eines Ausdrucks zu machen [...]" (Z 438; vgl. PU 79).

Insofern hätte man vielleicht einen für wissenschaftliche Zwecke exakteren Begriff von Verstehen erhalten - aber philosophisch ist dieser Vorgang nur von sehr geringem Interesse (siehe den übernächsten Absatz).

Für die folgende Diskussion ist es nicht notwendig, die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Philosophie des Geistes gesondert zu diskutieren. Dieser Satz stellt eine, für die folgende Diskussion allerdings unproblematische Vereinfachung dar. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daB man in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes nicht von einem Gehimzustand α reden würde, sondern von einer Menge α von Zustands-Tokens im System S.

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen

105

Doch in dem Stadium, in dem wir solche Gehimzustände identifizieren könnten, ist die empirische Forschung ja zur Zeit noch nicht. Insofern könnte der Satz (•) eine Art regulatives Prinzip darstellen, also eine Forschungshypothese für die Neurophysiologie.' Auch dagegen hat Wittgenstein sicherlich nichts einzuwenden. Und die begrifflichen Implikationen solcher Forschungshypothesen auszuarbeiten, könnte die durchaus sinnvolle Aufgabe für einen Philosophen innerhalb eines entsprechenden Forschungsprogramms sein. Überhaupt ist gegen eine philosophische Behandlung von begrifflichen Problemen im Rahmen der empirischen Forschung nichts einzuwenden. Kurz gesagt: Die Philosophie Wittgensteins verbietet der Wissenschaft da gar nichts. Was Wittgenstein jedoch diesbezüglich verweigert, ist seine Zustimmung dazu, daß sich die Philosophie lediglich als eine Hilfsdisziplin innerhalb eines empirischen Forschungsprogramms versteht (dazu später mehr). — Wenn der Satz (•) eine Forschungshypothese ist, dann ergeben sich zwei Möglichkeiten seiner Interpretation: (1) Würde er bestätigt werden, dann wäre er eine (philosophisch harmlose) empirische Behauptung im Sinne des vorherigen Absatzes; oder (2) mit ihm wird eine (letztlich metaphysische) Identitätsthese aufgestellt. Dieser letzte Aspekt soll jetzt diskutiert werden. Wäre der Satz "Das Verstehen des Wortes χ ist der Gehimzustand a" keine empirische Aussage oder Hypothese, sondern eine philosophische Behauptung,^ dann würde Wittgenstein dagegen energisch protestieren (BB, S. 18). Denn dies wäre ja eine metaphysische These, nämlich eine ontologische Identitätsbehauptung. Doch Behauptungen sollten gerechtfertigt werden können - wie aber wäre dies bei einer metaphysischen Behauptung sinnvoll möglich? Begriffsanalytisch jedenfalls wäre die Identität von 'Gehimzustand' und 'Verstehen' nicht zu zeigen, denn begriffsanalytisch ergab sich ja nur, daß wir das Wort "verstehen" über jemanden darm verwenden, wenn der das entsprechende Wort richtig gebraucht (oder eine Reihe richtig fortsetzen kann).^ Aber auch

Sie wäre Ausdruck eines methodologischen Physikalismus, also einer Idee des 17. Jahrhunderts (vgl. Bien 1981, S. 6, 22). Daß ein Satz sowohl empirisch als auch philosophisch gebtaucht wird, ist nach Wittgenstein ausdiückUch mögUch; vgl. PU 392; BF. S. 20; OG 319, 321, und öfter, s. Kapitel 3.7.2. Liest man in PU 293 statt "Käfer" "Gehimzustand α", dann lautet die These dieser Bemerkung, daß man den Rekurs auf Gehimzustände gar nicht benötigt, um die Verwendungen des Wortes "verstehen" zu erläutern.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

empirisch könnte jener Satz nicht gerechtfertigt werden, denn eine Identitätsbehauptung involviert die Modalität der Notwendigkeit - kurz: wenn X und y identisch sind, dann sind sie notwendigerweise identisch. Empirisch aber wäre diese Notwendigkeit nicht zu legitimieren, denn die Empirie liefert keine notwendig gültigen, sondern allenfalls kontingent gültige Ergebnisse. Ein weiterer Grund, weshalb Wittgenstein den Satz (•) aus philosophischen Gründen für inadäquat hält, besteht in dessen Vermengung von Wissenschaftlichem und Philosophischem, was Wittgenstein ja für unangebracht hält (vgl. Kapitel 2.1.). In dem oben bereits angeführten Zitat aus Zettel fährt er daher fort: "In der Wissenschaft ist es üblich, Phänomene, die genaue Messungen zulassen, zu definierenden Kriterien eines Ausdrucks zu machen; und man ist dann geneigt zu meinen, nun sei die eigentliche Bedeutung gefunden worden. Eine Unmenge von Verwirrungen ist auf diese Weise entstanden" (Z 438).

Eine Naturalisierung der Philosophie ist Wittgenstein jedoch fremd, denn sie widerspräche eindeutig seiner Doktrin von der Autonomie der Grammatik. Und so sagt er zwar nicht in bezug auf Verstehen, sondern in bezug auf Denken: "Wir [die Philosophen] analysieren nicht ein Phänomen (z.B. das Denken), sondern einen Begriff (z.B. den des Denkens), und also die Anwendung eines Worts" {PU 383).' "Die Grammatik, das sind die Geschäftsbücher der Sprache, aus denen alles zu ersehen sein muß, was nicht begleitende Empfindungen betrifft, sondern die tatsächlichen Transaktionen der Sprache" (PC, S. 87).

Demnach geht es in der Philosophie nicht darum, irgendwelche neurophysiologischen Phänomene oder Tatsachen zu entdecken, sondern es geht um eine Untersuchung über den Gebrauch der Wörter. Auch das hier diskutierte Problem war anfangs durch folgende Frage gekennzeichnet: "Wann verwenden wir das Wort "verstehen"?" - und das verlangt nach einer Übersicht über die Rollen des Wortes "verstehen" in unseren Sprachspielen, in unserer Kultur bzw. Lebensform. Daß es Ähnlichkeiten mit der Redeweise von Zuständen und Dispositionen gibt, hatte Wittgenstein ja auch gar nicht geleugnet; für die gegenwärtige empirische Wissenschaft scheint dies sogar eine fruchtbare, d.i. die

vgl. BPPll 199; Ζ 231, 590; PU 140.

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen

107

Forschung stimulierende Analogie zu sein. Auf die Unähnlichkeiten bei einer Analogie aufmerksam zu machen ist allerdings auch eine Aufgabe der Philosophie (vgl. PU 130). So untersucht Wittgenstein in PV 193197 noch einmal genauer, was es denn bedeuten würde, das Verhalten eines Menschen wie etwa das des Verstehens mit den Zuständen oder Dispositionen einer Maschine analog zu setzen. Wollte man nämlich von einer Maschine verlangen, sie müsse ganz bestimmte Bewegungen in der Zukunft ausführen - so wie wir von einem Schüler, der die Reihe der natürlichen Zahlen kennt, verlangen können, wie er in der Zukunft zu zählen hat - {PV 193f, 197), dann muß man die Möglichkeit einer Deformation der Maschinenteile ausschließen {PV 1931). So gelangt man dazu, von der 'ideal starren Maschine' zu sprechen {PV 194), oder man redet gar nicht mehr von einer wirklichen Maschine,' sondern nur noch von der Maschine als Symbol, die ihre Bewegungen in einer mysteriösen, schattenartigen Weise in sich hat (PÍ/ 1931). Wittgenstein will damit die Analogie ad absurdum führen (vgl. PU 195). Und so kann es natürlich auch sein, daß das neurophysiologische Forschungsprogramm, das auf der Analogie beruht, Menschen seien so etwas wie biologische Maschinen, sich einmal als ein Flop entpuppt: Vielleicht lassen sich einfach keine bestimmten Zustände finden, denen wir unser mentales Vokabular beziehungsweise Ausdrücke wie "verstehen", "wissen" und "können" sinnvoll zuzuordnen vermögen. Das würde bedeuten, daß sich die Maschinen-Analogie als irreführend erwiesen hätte. Und das wiederum hieße, daß es eine philosophische Tat wäre, für die Wissenschaft eine neue fruchtbare Analogie zu finden. Damit habe ich einen vermeintlich destruktiven Aspekt der Philosophie Wittgensteins dargestellt. Der konstruktive Aspekt besteht demgegenüber in der Erinnerung (PU 127) an Sätze wie "Ein Schüler versteht ein Wort, wenn er es richtig anzuwenden weiß" - und dies wäre eine These, mit der alle einverstanden wären (PU 128). Es wäre eben ein grammatischer oder logischer^ Satz, der die begriffliche Situation beschreibt: Er beschreibt, wie das Wort "verstehen" in unseren Sprach-

"»Dieser Kalkül ist rein mechanisch; eine Maschine könnte ihn ausführen.« Was für eine Maschine? Eine, die aus gewöhnlichen Materialien hergestellt ist - oder eine Über-Ma.schine?" (BGM, S. 220). Wittgenstein argumentiert nicht gegen fiktive Gegener; vgl. etwa Camaps Ausführungen zu "The Concept of Intension of a Robot" in Carnap 1955 (dieser Aufsatz hat Wittgenstein freilich nicht vorgelegen).

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Spielen verwendet wird, er illustriert den logischen Zwang hinsichtlich des Wortes "verstehen", indem er eine notwendige Beziehung zwischen dem Wort und seiner Verwendung formuliert. Dies ist mit empirischen Methoden nicht aufweisbar, denn empirisch ergibt sich bestenfalls eine kontingente Korrelation zwischen einem Wort und einem Gehimzustand. Und in diesem Sinne formuliert Wittgenstein: "Die Grenze der Empirie ist die Begriffsbildung" (BGM, S. 237). Das bedeutet einerseits, daß die Implikation von Begriffen, der logische Zwang nicht mit den Mitteln der Empirie zu erfassen ist, und andererseits, daß die Begriffe, die wir verwenden, nicht mit den Mitteln der Empirie zu rechtfertigen sind. Denn sie sind nach Wittgenstein überhaupt nicht durch die Wirklichkeit legitimierbar - so jedenfalls lautet die Doktrin von der Autonomie der Grammatik. Was aber könnte ein materialistisch orientierter Opponent Wittgenstein entgegnen? Er könnte folgende Unterscheidungen treffen: (1) Es ist eine Sache, wie Wittgenstein die Verwendungen eines Wortes wie z.B. "wissen" zu untersuchen bzw. zu beschreiben. Pointiert ausgedrückt könnte man dies als ein linguistisches Unternehmen betrachten. Innerhalb dieser Dimension ist auch der logische Zwang beschreibbar, der zugegebenermaßen empirisch nicht zu rechtfertigen ist. (2) Etwas anderes ist es, die Relation von mentalen bzw. psychischen und physikalischen bzw. neurophysiologischen Zuständen zu erforschen. Dies dürfte freilich vornehmlich eine wissenschaftlich-empirische Aufgabe sein, und allein in dieser Dimension könnte so etwas wie eine Identität behauptet werden. Dies wäre jedoch metaphysisch ungefährlich, derm es würde nur bedeuten, daß etwas, worauf zunächst mit einem ungeklärt mentalen Vokabular verwiesen wurde, auch mit Hilfe einer physikalischen Begrifflichkeit erfaßbar ist. (3) Noch etwas anderes ist es - und dies scheint ein vornehmlich philosophisches Problem zu sein -, sich zu fragen, wie eine Relation von Ausdrücken wie "Schmerzen haben" und "(etwas) verstehen" zu solchen psycho-physikalischen Zuständen aussehen könnte. Das heißt, der Opponent würde die Verschiebung der Frage von "Was ist Verstehen?" zu "Wie verwenden wir das Wort 'verstehen'?" zwar akzeptieren können, aber auch als ungenügend, weil nicht erschöpfend beurteilen. Denn da Verletzungen des Gehirns defacto Verstehensleistungen beeinträchtigen können, wird es wohl Zusammenhänge geben. Wenn jemand wie Wittgenstein es zuläßt, daß Namen dadurch erklärt werden können, daß man unter anderem auch auf seinen Träger zeigt (PU 45),

2.2.2. Anti-Psychologismus bei Seelen- oder Gehimzuständen

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daß Gattungsbegriffe wie 'Pferd' wohl auch erklärt werden können, indem man unter anderem auf Pferde verweist (in PU 27-38 sehe ich keinen Widerspruch zu dieser Behauptung), dann ist nicht einzusehen, warum Ausdrücke wie "Schmerzen haben" nicht auch durch ihre Referenz erklärt werden können - auch wenn man natürlich nicht auf Schmerzen zeigen kann, und der Ausdruck u.U. zunächst als Schmerzverhalten, nicht aber in deskriptiver Weise erworben wurde (PU 244f; s. dazu Kapitel 2.2.3.). Denn in der Äußerung "Er hat Schmerzen - sieh, wie er sein Gesicht verzieht und sich krümmt" gibt es so etwas wie einen Bezug auf etwas Sprach-Extemes. Dem widerspricht nicht, daß es aussichtslos zu sein scheint, Verwendungen psychologischer Ausdrücke wie z.B. "betrübt sein", "Sehnsucht", "etwas erleben" oder "verstehen" auf ein einheitliches Verhalten oder eine bestimmte Menge an psycho-physikalischen Zuständen zurückführen zu können, weil ihre Verwendungen nun einmal sehr vielschichtig und vage sind.' Gelänge es, zumindest einige der entsprechenden Verwendungsweisen derart zu deuten, dann würde dies zwar höchstwahrscheinlich die Verwendung dieser Wörter verändern (d.h., es würden veränderte Bedeutungen etabliert), aber was sollte daran verwerflich sein? ~ In diesem Sinne hat sich jedenfalls die Diskussion in der Philosophie des Geistes seit den 50er Jahren - trotz oder gegen Wittgenstein - weiterentwickelt. Ein Empirist könnte freilich auch die Stimmigkeit der Überlegungen Wittgensteins in Frage stellen: Wenn die empiristische Position dadurch karikiert wird, daß sie in ihrer Analogiebildung schließlich von 'ideal starren Über-Maschinen' sprechen muß, sollte auch die Umkehrung erlaubt sein, nämlich sich zu fragen, ob Wittgenstein selbst nicht von der Fiktion eines 'idealen Sprachverwenders' reden muß, d.i. ein Sprachverwender, der keine Verstöße gegen den logischen Zwang begehen kann. Als ob wir niemals inkonsistent sprechen und niemals inkompatible Ansichten vertreten würden, oder als ob wir - man denke an den mathematischen Zwang - uns niemals verrechnen würden ... Auch das meines Erachtens stärkste Argument Wittgensteins gegen empiristische Bedeutungstheorien, sein Verweis auf den logischen Zwang

vgl. Schulte 1987, S. 157. - Wittgensteins Einwände aus z.B. PU 571 und BPP I 903-906 » Ζ 608-610 sind nicht schlagend, sondern verwerfen allenfalls einen sehr kruden Materialismus. Die Vielschichtigkeit und Vagheit bei den Verwendungen des Wortes "lesen" führt Wittgenstein in PU 156-178 vor.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

bzw. auf den Modus der Notwendigkeit, erscheint nicht zwingend: Ein konsequenter Empirist könnte nämlich den Modus der Notwendigkeit als philosophische Fiktion verwerfen. Genau diesen Weg ist bekanntlich Quine gegangen.'

2.2.3. Kritik am Behaviourismus Um Wittgensteins Diskussion über empiristische Bedeutungstheorien abzuschließen, sollen nun noch seine Äußerungen zum Behaviourismus betrachtet werden. Diese Untersuchung drängt sich allein schon deshalb auf, weil Wittgenstein häufig - auch in Über Gewißheit - auf Handlungen rekurriert, die das Befolgen einer Regel zeigen und die ein Kriterium für das Verstehen eines Wortes, einer Reihe oder einer Regel abgeben sollen. Das wirft die Frage auf, ob Wittgenstein selbst nicht auch ein Behaviourist ist - und einige seiner Leser beantworten diese Frage affirmativ, andere negativ.^ Eine Antwort auf diese Frage hängt offensichtlich davon ab, was man unter "Behaviourismus" versteht. Im folgenden unterscheide ich daher den methodischen, den ontologischen und den bedeutungstheoretischen Behaviourismus. Der methodische Behaviourismus will die Introspektion auf Eigenpsychisches vermeiden, da dies eine nicht intersubjektiv kontrollierbare Methode ist. Gefordert wird deshalb, daß sich eine psychologische Forschung allein auf intersubjektiv beobachtbare Verhaltensweisen begrenzen sollte. Dieser Ansatz kommt Wittgenstein insofern entgegen, als er es vermeidet, die Seele als ein okkultes Medium zu mystifizieren: "Wir sind immer zu sehr geneigt von okkulten [...] Vorgängen zu reden, statt bloß von alltäglichen, allbekannten. Ein gewisser >behaviourism< ist darum unschätzbar, weil er (uns) lehrt, an das zu denken was wir kennen [...] statt an die Fiktionen unsrer Sprache" {MS 119, S. 79).'

Wenn Wittgenstein in PU 146 dementsprechend meint, die Anwendung (eines Wortes oder einer Reihe) sei ein Kriterium des Verstehens, so

s. Z.B. Quine 1951 und 1953b. Zum logischen Zwang in der Mathematik, s. Kapitel 3.11.1. Beispiele für beide Lager finden sich bei Hilmy, Wittgenstein and Behaviourism ( 1989), S. 335f; Hilmy selbst beantworte« die Frage negativ. Eine englische Übertragung dieser Bemerkung findet sich in Hilmy 1989, S. 338. Der ObersichtUchkdt halber habe ich auf die Angabe von Varianten etc. verzichtet.

2.2.3. Kritik am Behaviorismus

III

würde dies gemäß der Forderung des methodischen Behaviourismus in bezug auf Verstehen jedoch bedeuten, daß man nie sagen dürfe, einer verstehe die Reihe der natürlichen Zahlen fortzusetzen. Denn diese Reihe ist ja unendlich lang, und man kann doch niemanden unendlich lange beobachten (vgl. PU 147; BGM, S. 142). Dies ist eine Argumentation ad absurdum, da der methodische Behaviourismus sein Erklärungsziel nicht erreicht. Denn er könnte nicht erklären, was wir de facto tun, nämlich über jemanden sinnvoll behaupten, er beherrsche die Reihe der natürlichen Zahlen.' Was nun die Introspektion betrifft, so ist Wittgensteins Haltung dazu differenziert. Einerseits hält er sie für eine erlaubte Methode, solange mit "Introspektion" nichts ungewöhnlicheres gemeint ist als etwa das Wachrufen von Erinnerungen oder das Sich-Bewußtmachen von Gefühlen (vgl. auch PU 677): "Hat es Sinn zu fragen »Woher weißt du, daß du das glaubst?« - und ist die Antwort: »Ich erkenne es durch Introspektion«? In manchen Fällen wird man so etwas sagen können, in den meisten nicht. Es hat Sinn, zu fragen: »Liebe ich sie wirklich, mache ich mir das nicht nur vor?« und der Vorgang der Introspektion ist das Wachrufen von Erinnerungen; von Vorstellungen möglicher Situationen und der Gefühle, die man hätte, wenn ...." {PU 587; vgl. PU Π, S. 579).

Insofern kann man sagen, daß Wittgenstein seine Untersuchungen nicht auf behaviouristisch akzeptable Methoden beschränkt.^ - Andererseits hilft uns jedoch die Introspektion nicht weiter, wenn wir zum Beispiel das Problem des Verstehens untersuchen wollen (vgl. PU 551). Sagt jemand, der eine Reihe wie Ί , 5, 11, 19, 29' fortsetzen soll, plötzlich "Jetzt weiß ich's!", und wir fragen ihn, was da geschah, so könnte er uns qua Introspektion vieleriei Antworten geben {PU 151): (i) ihm sei das Bildungsgesetz der Reihe, 'а„=п2+п-Г, eingefallen; (ii) ihm sei die Reihe der Differenzen, '4, 6, 8, 10', aufgefallen; (iii) er habe bemerkt, daß er die Reihe so kenne, wie wir alle etwa das ABC kennen würden, und er habe sie datm einfach fortgesetzt; oder aber (iv) er berichtet, er habe da eine besondere Empfindung gehabt, ähnlich dem Aufblitzen eines

Mir scheint dies tatsächlich Wittgensteins Argument zu sein, doch betrifft es nur einen extremen Behaviourismus, mit Vollständigkeitsideal sozusagen. Aber der Einwand betrifft in dieser Form alle induktiv verfahrenden Wissenschaften ... vgl. Kripke 1982, S. 14.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

inneren Lichtes, begleitet von einem schnellen Einziehen des Atems. Doch diese Vorgänge, die man sich introspektiv bewußt machen kann, sind natürlich nicht das Verstehen. Denn um "Jetzt weiß ich weiter" sagen zu dürfen, muß man die Reihe richtig fortsetzen können - ein Verweis auf innere Lichter ist da völlig inadäquat, und auch das SichVorstellen des Bildungsgesetzes oder der Differenzen würde allein nichts nützen, solange man diese nicht anzuwenden weiß {PV 152). Introspektiv gewonnen werden bestenfalls also nur charakteristische Begleitvorgänge {PU 152). Insofern kann man in bezug auf das Problem des Verstehens sicherlich sagen, daß Wittgenstein sich auf eine behaviouristische Beschränkung der erlaubten Methoden gar nicht einzulassen braucht, da die Introspektion, die somit erlaubt würde, ja nicht erklären kann, was erklärt werden sollte. In gewisser Weise diskutiert Wittgenstein auch einen ontologischen Behaviourismus. Darunter soll die These verstanden werden, es gebe keine mentalen Phänomene wie Schmerzen-haben oder Empfindungen als besondere mentale (nicht-physikalische) Phänomene; eigentlich gebe es nur Arten des Schmerzbenehmens, die durch Schmerzäußerungen wie "Au" oder "Ich habe Schmerzen" beschrieben werden. Wittgensteins eigene Analyse von Schmerzäußerungen (insbesondere \n PH 244-246 zusammen mit PV 293) scheint eine solche Auffassung nahe legen zu wollen (ich werde sie gleich darstellen). Auf eine entsprechende Nachfrage reagiert Wittgenstein, seine eigene tatsächliche Auffassung charakterisierend, jedoch eindeutig ablehnend: "»Aber du wirst doch zugeben, daß ein Unterschied ist, zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen.« - Zugeben? Welcher Unterschied könnte größer sein! - »Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Empfindung selbst sei ein Nichts.« - Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen hier nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will" {PU 304). "»Bist du nicht doch ein verkappter Behaviourist? Sagst du nicht doch, im Grunde, daß alles Fiktion ist, außer dem menschlichen Benehmen?« - Werm ich von einer Fiktion rede, daim von einer grammatischen Fiktion" {PU 307).

Hiermit artikuliert sich zunächst einmal ein ontologischer Agnostizismus, der auf der Basis einer philosophisch-grammatischen Reflektion weder etwas darüber aussagen will, was Empfindungen eigentlich sind, noch, ob es sie gibt oder nicht {PV 293). Genau diese Position ist von Wittgen-

2.2.3. Kritik am Behaviorismus

113

Stein aufgrund seiner Doktrin von der Autonomie der Grammatik natürlich auch zu erwarten; insofern ist Wittgenstein aber mit Sicherheit kein ontologischer Behaviourist (vgl. BPP II 690). Andererseits analysiert Wittgenstein hiermit aber auch, daß der Behaviourismus auf einem Mißverständnis beruht, welches durch ein Mißdeuten der Grammatik entstanden ist. Und damit attackiert er die hinsichtlich der hier verfolgten Diskussion interessanteste Version des Behaviourismus, nämlich den bedeutungstheoretischen Behaviourismus, der eine Variante der empiristischen Bedeutungstheorien darstellt. Dessen These lautet: Die Empfmdungssprache beschreibt nicht etwa Schmerzen, sondern Schmerzveriialten (wie etwa das Verzerren des Gesichts, das Reiben an einer Wunde, Stöhnen, etc.). Wittgenstein hält das für ein ganz falsches Bild, hervorgerufen durch eine inadäquate Analogie: "Wie kommt es nur zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände des Behaviourism? - Der erste Schritt ist der ganz unauffällige. Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen - meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt" (PU 308).

Eine solche Form des Behaviourismus könnte sich also auch metaphysisch agnostisch geben, da über die spezifische Beschaffenheit von Empfindungen (unterschiedlicher 'Subjekte') nichts ausgesagt werden muß. Ähnlich wie beim methodischen Behaviourismus liegt es jedoch nahe, zu behaupten: Die Empfindungssprache mag indirekt auf Empfindungen verweisen (wobei diese als irgendwelche Zustände oder Vorgänge begriffen werden), aber worauf sie sich eigentlich bezieht, und weshalb sie intersubjektiv verstehbar ist, sind die entsprechenden, korrelierenden Verhaltensweisen bei Empfindungen. So sagen wie zum Beispiel "Er hat Zahnschmerzen", wenn er stöhnt und sich an seine geschwollene Backe faßt, und ich sage "Ich habe Zahnschmerzen", wenn ich mich entsprechend verhalte. Diese Theorie reduziert also die Bedeutung von Empfindungsausdrücken wie "Zahnschmerzen" auf menschliches Verhalten: Danach beschreibt die Empfindungssprache direkt menschliches Verhalten, das selber indirekt auf bestimmte Empfindungen verweist. ~ Und genau diese Theorie wird von Wittgenstein in ein "Paradox" (PU 304) geführt: "Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir »Käfer« nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. - Da könnte es ja sein, daß

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. - Aber wenn nun das Wort »Käfer« dieser Leute doch einen Gebrauch hätte [indem man das Wort nur in bezug auf bestimmte Verhaltensweisen verwendet]? - So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört Oberhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. - Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann >gekürzt werdenGegenstand und Bezeichnung< konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus" (PU 293).

Es geht demnach darum, Schmerzäußerungen wie "Ich habe Zahnschmerzen" auf eine andere Weise als die einer Beschreibung zu verstehen, d.h. weder als Beschreibung von Empfindungen, noch als Beschreibung von Empfindungs- bzw. Schmerzverhalten. Wittgenstein unternimmt dies in PU 244: "[...] wie lernt ein Mensch die Bedeutung der Namen von Empfindungen? Z.B. des Wortes »Schmerz«. Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen

I

Diese Diskussion ist auch mit der um die Möglichkeit einer privaten Sprache und dem Problem der Referenz verflochten; ich werde das hier jedoch nicht ausführen.

2.2.3. Kritik am Behaviorismus

115

zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen" {PU 244).

Mit anderen Worten: Die Äußerung "Ich habe Schmerzen" ist primär ein Substitut für bloßes Schreien oder Rufen von "Au!" Es ist ein kulturell geformter, daher regelgeleiteter Ausdruck des natürlichen Schmerzverhaltens und insofern Bestandteil dieses Schmerzverhaltens, nicht aber eine Beschreibung dieses Verhaltens.' Auf ein mögliches Mißverständnis reagierend setzt Wittgenstein geradezu anti-behaviouristisch noch hinzu: "»So sagst du also, daß das Wort >Schmerz< eigentlich das Schreien bedeute?« - Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht" {PU 244).

In diesem Sinne beziehen sich Empfindungswörter - wie auch einige andere psychologische Wörter - selbst hinsichtlich anderer Personen nicht irgendwie indirekt auf zugrundeliegende Empfindungen oder Zustände: "»Man sieht Gemütsbewegung.« - Im Gegensatz wozu? - Man sieht nicht die Gesichtsverziehungen und schließt nun (wie der Arzt, der eine Diagnose stellt) auf Freude, Trauer, Langeweile. Man beschreibt'^' sein Gesicht unmittelbar [!] als traurig, glückstrahlend, gelangweilt, auch wenn man nicht im Stande ist, eine andere Beschreibung der Gesichtszüge zu geben. - Die Trauer ist im Gesicht personifiziert, möchte man sagen. Dies gehört zum Begriff der Gemütsbewegung" (Z 225 = BPP Π 570).

Die Auffassung, daß die Empfindungssprache etwas beschreibe, geradezu karikierend setzt Wittgenstein in der nächsten Bemerkung in den Philosophischen Untersuchungen noch hinzu: "Wie kann ich denn mit der Sprache noch zwischen die Schmerzäußerung und den Schmerz treten wollen?" {PU 245).

Demnach ist es auch nicht der Fall, daß ich erst auf irgendeine Weise wissen muß, daß ich Schmerzen habe, um dann sagen zu können: "Ich habe Schmerzen."

In der Literatur ist dies auch als avowaZ-Theorie bekannt, und ich werde auch im folgenden diesen Terminus benutzen. Wittgenstein sdüen dafür das Wort "Äußerung" zu verwenden {PU 245, 571, 582, 585). Im Deutschen wird auch das Wort "Ausdrucksverhalten" gebraucht. Es werden weder Gesichlsverziehungen noch der Seelenzustand beschrieben. Vielmehr wird sein Gesicht als traurig, etc., gesehen, und dann kann man über ihn mitzuteilen: "Er ist traurig" - in diesem Sinne kann man ihn dann als traurig beschreiben (siehe dazu unten über die sekundäre Verwendung von Empfíndungsausdrücken). So jedenfalls verwendet Wittgenstein das Wort "beschreiben" hier, er verwendet es nicht im oben gegebenen Siime eines bedeutungstheoretischen Behaviourismus.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Meiner Meinung nach hat Wittgenstein damit keinesfalls behauptet, Sätze wie "Ich habe Schmerzen (im Knie)" wären ausschließlich Formen des Schmerzbenehmens. Grammatisch ist dies wohl zwar ihre primäre Bedeutung, aber zweifellos kann ein solcher Satz auch als Mitteilung (etwa an einen Arzt) verwendet werden. Ich kenne jedenfalls keine Zeile in den späteren Aufzeichnungen Wittgensteins, wo dies ausgeschlossen wäre (und das wäre sachlich ja wohl auch reichlich eigenartig).' Wichtig ist hier nur, daß dieser mitteilende Gebrauch, der auch als beschreibender Gebrauch bezeichnet werden kann, aus grammatisch-logischer^ Perspektive nicht der fundamentale, sondern ein abgeleiteter, sekundärer Gebrauch ist. Ein derart abgeleiteter Gebrauch ist ohnehin notwendig, um die Möglichkeit von mitteilenden Sätzen der dritten Person ("Er hat Schmerzen") zu erklären. Denn offenkundig ist das keine Form des Schmerzbenehmens, sondern eher eine Beschreibung. - Es ist auch nicht notwendig, daß der grammatisch primäre Gebrauch von "Schmerz" beim Spracherwerb des Kindes der chronologisch primäre Gebrauch ist (vgl. in PU 244 die Klausel "das ist eine Möglichkeit"; Hervorhebung von mir). Denn ein Kind mag das Wort "Schmerz" zunächst in bezug auf andere gelernt haben, etwa wenn seine Mutter sagte: "Sie hat wohl Schmerzen im Bauch; schau, wie sie stöhnt, sich krümmt und sich den Bauch hält!" Der Fehler behaviouristischer Bedeutungstheorien besteht darin, daß sie die Möglichkeit der grammatisch sekundären Verwendung von Sätzen wie "Ich habe Schmerzen" als die eigentlich zugrundeliegende Verwendung solcher Sätze betrachten - der Indikativ solcher Sätze legt dies nahe -, und daß sie deshalb auch die Empfindungssprache dem Modell Sprache-ist-immer-nur-beschreibend unterordnen. Dies ist eine definitiv zu verwerfende Auffassung, da sich mit ihr, wie Wittgenstein in PU 293 zeigte, ein Paradox erzeugen läßt. "Das Paradox verschwindet nur dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen - seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse, oder was immer" (PU 304).

Im Blue Book (1933/34) hieß es allerdings noch: "To say, »I have pain« is no more a statement about a particular person than moaning is" (BB, S. 67). Mir scheint dies eine der Ursachen dafür zu sein, daß Wittgensteinianer dazu tendieren, "Ich habe Schmerzen" ausschließlich als avowal analysieren zu wollen.

2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel

117

Statt dessen bietet sich Wittgensteins Ansatz an: Eine-Sprache-sprechen ist regelgeleitetes Handeln, welches sich aus einem Konglomerat bzw. einer Mannigfaltigkeit von Sprachspielen unterschiedlicher Art zusammensetzt (vgl. PU 23). Und die Regeln dieser Spiele brauchen und können nicht durch eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gerechtfertigt zu werden - so jedenfalls lautete die Doktrin von der Autonomie der Grammatik. Es läßt sich allerdings auch die Frage stellen, ob Wittgensteins Analyse der Äußerung "Ich habe Schmerzen" als Ausdrucksverhalten richtig ist. Stimmte sie, müßte ein erwachsener, sprachlich wohlerzogener Muttersprachler des Deutschen, der sich allein in einem Raum befindet und sich unabsichtlich mit einem Hammer gewaltig auf den Daumen schlägt, nicht "Aua!" oder ähnliches ausrufen, sondern "Ich habe Schmerzen" sagen. Dies scheint mir aber nicht vorzukommen. Und femer: Wann sagt man eigentlich "Ich habe Schmerzen", und nicht z.B. "Ich habe Zahnschmerzen (oder Kopfschmerzen)"? "Ich habe Schmerzen" scheint im Deutschen eher eine recht ungewöhnliche, obwohl mögliche Äußerung zu sein.' Das Fazit dieses Kapitels (2.2.), sofern es für den Rest dieser Arbeit relevant ist, lautet meines Erachtens folgendermaßen: Das Wort "verstehen" wird von uns in unseren Sprachspielen auch in der Weise verwendet, daß es auf Seelen- oder Gehimzustände verweist. Aber das ist nicht immer so der Fall. Und für Wittgenstein ist ohnehin nur interessant, was es bedeutet, zu sagen "Er versteht..." (o.ä.), d.h., welche Arten von Spielzug in einem Sprachspiel mit einer solchen Äußerung vollzogen werden kann. Das will er beschreiben (PI/ 109, 124). - Und entsprechend sieht seine Behandlung des Wortes "wissen" aus. "Wir fragen uns: Was machen wir mit einer Aussage »Ich weiß ...«? Deim uns handelt sich's nicht um Vorgänge oder Zustände des Geistes" (ÜG 230).

2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel Aus der Diskussion in Kapitel 2.2. sollte deutlich geworden sein, daß Wittgenstein in der Philosophie eine empiristisch motivierte psychologis-

Die kritischere Haltung der avcwoZ-Theorie gegenüber erweckte Klaus Jacobi in mir.

118

2. Grundbegriffe und Grundpositionen

tische Reduktion als Klärung des Begriffs 'Verstehen' - wie auch teilweise schon des Begriffs 'Wissen' - ablehnt. Die Philosophie soll vielmehr die möglichen, logisch^-grammatischen Rollen des Wortes "verstehen" beschreiben und dabei auf die Kriterien der jeweiligen Verwendung hinweisen. In Über Gewißheit, wo nicht Verstehen, sondern Wissen, Gewißheit und Zweifel untersucht wird, betont er ebenfalls, daß seine Untersuchungen nicht psychologischer, sondern logischer^ Natur sind (s. auch PV II, S. 569): "»An diesem Satz kann ich nicht zweifeln, ohne alles Urteilen aufzugeben.« Aber was für ein Satz ist das? [...] Er ist sicher kein Erfahrungssatz. Er gehört nicht in die Psychologie. Er hat eher den Charakter einer Regel" (ÜG 494). "Vergleiche damit [d.i. der Satz 'das ist eine Hand'] 12x12=144. [...] Ich will sagen: Das physische Spiel ist ebenso sicher wie das arithmetische. Aber das kann mißverstanden werden. Meine Bemerkung ist eine logische[„j, nicht eine psychologische" (OG 447). "Wenn der Kaufmann [s. PU 1] jeden seiner Äpfel ohne Grund untersuchen wollte, um ja recht sicherzugehen, warum muß er (dann) nicht die Untersuchung untersuchen? Und kann man nun hier von Glauben reden [...]? Alle psychologischen Wörter führen hier nur von der Hauptsache ab" (OG 459).

Im Zentrum dieses Kapitels soll daher eine logische^ Untersuchung von 'Wissen' und 'Gewißheit' stehen. Es gilt demnach, zu beschreiben, welche Rollen Ausdrücke wie "Ich weiß ..." und "Es ist gewiß ..." bei unseren Praktiken oder Sprachspielen übernehmen können, und welche Kriterien diese Verwendungen unter anderem erfüllen müssen, um als korrekte Verwendung betrachtet zu werden. Da hier keine systematischlinguistische Untersuchung durchgeführt werden soll, beschränke ich mich zunächst einmal auf einige Beispiele der Verwendung des Ausdrucks "Ich weiß ..." (die folgende Liste soll lediglich illustrierend und daher weder vollständig noch disjunkt sein):' - die Rolle von 'Laß mich in Ruhe', z.B. wenn eine Tochter auf die Ermahnung ihrer Mutter mit "Ich weiß, daß ich die Hausaufgaben noch nicht gemacht habe" reagiert; - die Rolle von 'Ich stimme dir zu', z.B. in dem Dialog "Laß uns jetzt aufhören, wir arbeiten schon seit 12 Stunden; morgen ist auch noch ein Tag." - "Ich weiß";

1

vgl. Malcolm 1976, S. 180-183, und Wolgast 1977, S. 67-73; deren Aufzählungen der Verwendungen von "I know" weichen von meiner Liste ab, auch wenn es Überschneidungen gibt.

2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel

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- die Rolle einer Aufmunterung, z.B. in "Ich weiß, daß du die Prüfung bestehen wirst. Wenn jemand wie du so hart lernt, dann schafft er es auch"; - die Rolle von 'Ich bin überzeugt, daß ...', z.B. in "Ich weiß, daß wir hier Gold finden werden; ich habe so ein Kribbeln im Arm" (vgl. ÜG 86), oder in "Ich weiß, daß der Gärtner in meinem Garten eine Ulme - und keine Esche - gepflanzt hat" (Í7G 8, 591); - die Rolle von 'Ich schwöre', z.B. in "Ich weiß, daß er nicht der Täter sein kann; er saß zur Tatzeit neben mir im Kino" {ÜG 181); - die Rolle von 'Ich versichere dir ...', z.B. in "Ich weiß, daß er Finnisch versteht; ich hörte ihn, wie er sich im Gespräch mit einem Finnen angeregt auf Finnisch unterhielt" (ÜG 113, 176, 390, 424), oder in "Ich weiß, daß die Hauptstadt Schwedens Stockholm ist; gestern erst habe ich dies in einem Almanach gelesen" (ÜG 176, 243, 620f; vgl. ÜG 272); - die Rolle von 'Ich übernehme die Verantwortung für die Richtigkeit des Gesagten', z.B. in "Die Hauptstadt Finnlands ist Helsinki, ich weiß es, denn ich habe eine Weile in Helsinki gewohnt" (ÜG 12, 176, 582; BPP II 287); - die Rolle von 'Schluß mit weiteren Begründungsforderungen', z.B. in "Ich weiß, daß die Endsumme 781 beträgt; ich habe es dreimal nachgerechnet" (ÜG 5740; - die Rolle von "ich kann es", z.B. in "Ich weiß, wie ein Kuchen zu backen ist"; - die Rolle von 'So habe ich es gelernt', z.B. in "Warum ich so sicher bin, daß 'rot' auf Finnisch 'punainen' heißt? Ich weiß es! Finnisch ist meine Muttersprache" {ÜG 176, 527-530, 583); - die Rolle von 'Ich kenne ihn', z.B. in "Ich weiß, wer der Mörder ist"; - die Rolle von 'Es ist wahr', z.B. in "Ich weiß, daß N. N. der Mörder ist; er hat es mir gesagt" {ÜG 243); - die Rolle von 'Es ist gerechtfertigt, zu behaupten, daß ...', z.B. in "Ich weiß, daß er uns verraten hat; er hat es mir gestanden" {ÜG 176, 243); - die Rolle von 'Ich habe die richtigen Gründe', z.B. "Dieses Medikament ist ungefährlich. Ich weiß es. Ich bin Arzt" {ÜG 18). Soweit einige Beispiele für Verwendungen von "Ich weiß ...". Es wird deutlich, daß bei weitem nicht alle diese Verwendungen zu der traditionellen philosophischen Definition von 'Wissen' als 'gerechtfertigter

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

wahrer Glaube' passen.' Vielmehr sieht es so aus, als wiesen die Verwendungen von "Ich weiß..." die Struktur einer Familienähnlichkeit auf, mit Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen (vgl. Pü 66f). Der essentialistische Versuch, die eine Definition von 'Wissen' finden zu wollen, erscheint wohl auch Wittgenstein wenig aussichtsreich,^ jedenfalls wird nirgendwo ein Versuch dieser Art in seinen Aufzeichnungen erkennbar.^ In diesem Sinne hat die Betrachtung der normalen Sprache eine heuristische, unter Umständen auch therapeutische Funktion (vgl. Kapitel 2.1.). Trotzdem wird sich meine weitere Untersuchung an jener traditionellen Definition orientieren. Denn in einer epistemologischen Untersuchung sind Verwendungen von "Ich weiß ..." im Sinne von "Laß mich in Ruhe" oder "Ich stimme zu" von sehr geringem Interesse. Da dieses Kapitel sich vornehmlich mit Wittgensteins Anti-Psychologismus befassen soll, und da ich mich mit Rechtfertigung und Wahrheit erst in den Kapiteln 3.2. und 3.9. beschäftigen möchte, werde ich mich hier vor allem auf das Verhältnis von Wissen zu Glauben konzentrieren. Wird Wissen als gerechtfertigter wahrer Glaube charakterisiert, dann liegt es nahe. Wissen wegen der Bestimmung Glauben als eine Art Überzeugung, also als einen besonderen mentalen oder seelischen Zustand eines einzelnen Subjekts zu verstehen, dessen Besonderheit darin besteht, daß es sich um einen begründeten und wahren Glauben handelt." Auch Wittgenstein kennt diese Deutung von Wissen: "Wenn Moore sagt, er wisse, daß die Erde existiert habe etc., so werden ihm die meisten von uns [...] auch glauben, daß er davon überzeugt ist. Aber hat er auch den richtigen Grund zu seiner Oberzeugung? Denn, wenn nicht, so weiß er es doch nicht" {OG 91).

s. Quinton 1967, S. 345. vgl. ÜG 18: "»Ich weiß es« heißt oft [!]: Ich habe die richtigen Gründe für meine Aussage." Auch Gilbert Ryles strikte Unterscheidung und №erachisienjng von 'knowing how' und 'knowing that' (in The Concept of Mind. 1949, Kapitel II) wird dadurch in ihrer Bedeutung als Unterscheidung von theoretischem und praktischem Wissen relativiert. Ob man zusätzlich noch 'knowing who', 'knowing which', 'knowing whether' etc. als weitere Klassifìzieningsmoglichkeiten einführt, hängt allein vom Zweck ab, den man mit einer solchen Unterscheidung verfolgt. - Es finden sich bei Wittgenstein Bemerkungen (z.B. ÜG 308f. 319; BF, S. 20), die geradezu gegen Ryles strikte Trennung von 'knowing how' und 'knowing that' formuliert zu sein scheinen. Daß man seelische Zustände in diesem Fall wiederum als Zustände des Gehirns, als Dispositionen oder auch behaviouristisch als einen Typus von Verhaltensweisen deuten kann, diskutiere ich hier nicht extra. Daß solche Deutungen nicht Wittgensteins Intentionen entsprechen, dürfte aus der Untersuchung im vorigen Kapitel (2.2.) klar sein.

2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel

121

Als psychologische These bietet sich daher "Wissen ist ein spezifischer Zustand der Seele" an. Nun soll keineswegs geleugnet werden, daß es Verwendungen des Wortes "wissen" gibt, die auch eine Beschreibung des seelischen Zustandes der Überzeugtheit darstellen können, denn dies kann zweifelsohne z.B. bei "Ich weiß, daß mein Bruder nicht der Mörder ist; er hat es mir versichert" der Fall sein.' Doch erhebt man einen Anspruch auf Wissen, dann sind seelische Zustände allenfalls als Begleiterscheinungen von Interesse - als Begleiterscheinungen, die sich unter anderem auch im Ton oder in begleitenden Gebärden ausdrücken können, zum Beispiel wenn man emphatisch sagt: "Mein Bruder ist nicht der Mörder, er hat es mir versichert." "Man kann sagen »Er glaubt es, aber es ist nicht so«, nicht aber »Er weiß es, aber es ist nicht so«. Kommt dies von der Verschiedenheit der SeelerKUstände des Glaubens und des Wissens? Nein. - »Seelenzustand« kann man etwa nennen, was sich im Ton der Rede, in der Gebärde etc. ausdrückt. Es wäre also möglich, von einem seelischen Zustand der Überzeugtheit zu reden; und der kann der gleiche sein, ob gewußt oder fälschlich geglaubt wird" (ÜG 42). "Es ist nämlich nicht so, daß man aus der Äußerung des Andern »Ich weiß, daß es so ist« den Satz »Es ist so« schließen könnte. Auch nicht aus der Äußerung und daraus, daß sie keine Lüge ist" (ÜG 13; vgl. OG 12).

Wenn wir über jemanden sagen, er wisse, wie die Hauptstadt Norwegens heißt, dann ist das Kriterium für die Korrektheit dieser Behauptung, daß er den richtigen Namen der Hauptstadt Norwegens nennen kann. Sein seelischer Zustand, ob er vielleicht gute oder schlechte Erinnerungen an Oslo hat, oder ob ihn die Frage nach Norwegens Hauptstadt quält, ob er während dieser Frage betrübt ist oder Schmerzen hat, ist dabei im allgemeinen gar nicht von Interesse (ÜG 84). Herauszufinden, ob er etwas weiß, wäre also gar keine psychologische Untersuchung (insbesondere schauen wir ihm nicht 'in den Kopf und analysieren seinen Gehirnzustand). Das gilt natüriich auch, wenn ich sage: "Ich weiß den Namen der Hauptstadt Norwegens". Dies habe ich nur dann korrekt geäußert, werm ich dann auch tatsächlich den richtigen Namen nennen kann. "Wir fragen uns: Was machen wir mit einer Aussage »Ich weiß ...«? Denn uns handelt sich's nicht um Vorgänge oder Zustände des Geistes" (OG 230).

In einigen Bemerkungen von Ober Gewißheit deutet auch Wittgenstein "Ich weiß ..." bzw. 'Wissen· psychologisch; z.B. OG 6, 356, 401, 53lf, 588-590.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

Mein seelischer Zustand, oder andere Begleitvorgänge wie z.B. das Aufblitzen eines inneren Lichtes oder das Haben eines inneren Bildes, sind diesbezüglich irrelevant (vgl. Kapitel 2.1.1.f)· In Anspielung auf Wittgensteins Bemerkung über Verstehen in PV 146 kann man daher wohl sagen: Die weitere Handlung liefert ein Kriterium für das Wissen. "Das begleitende Gefühl ist uns natürlich gleichgültig [...] Wichtig ist, ob ein Unterschied in der Praxis der Sprache damit zusammengeht" {OG 524). "bt es aber falsch zu sagen: »Das Kind, welches ein Sprachspiel beherrscht, muß Gewisses wissen«? Weim man statt dessen sagte »muß Gewisses können«, so wäre das ein Pleonasmus, und doch ist es gerade das, welches ich auf den ersten Satz erwidern möchte" (OG 534). "Die Grammatik des Wortes »wissen« ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte »können«, »imstande sein«" (PU 150; vgl. BPP II 736). "Das Kind weiß, wie etwas heißt, weim es auf die Frage »Wie heißt das?« richtig antworten kann" (OG 535).

Mein seelischer Zustand wäre jedoch von Interesse, sagte ich "Ich bin überzeugt, den Namen von Norwegens Hauptstadt zu kennen", "Ich glaube den Namen der Haupstadt Norwegens zu wissen" oder "Ich vermute, daß ich den Namen der Hauptstadt Norwegens kenne". Um wahr zu sein, müssen diese Sätze nur wahrhaftig geäußert werden, denn sie wären auch dann wahr, wenn ich daraufhin gar nicht den richtigen Namen anführen könnte (vgl. Kapitel 2.1.З.). Mit anderen Worten: Bewußtseinszustände wie Vermuten, Glauben oder Überzeugt-sein, bei denen die Selbstwahmehmung des Sprechers hinreicht, die Wahrheit eines wahrhaftig geäußerten Satzes über seinen eigenen Zustand zu garantieren, sind nicht analog zu all unseren Verwendungen von "wissen".' "Moores Ansicht läuft eigentlich darauf hinaus, der Begriff >wissen< sei den Begriffen >glaubenvermuten< [...], )überzeugt sein< darin analog, daß die Aussage »Ich weiß ...« kein Irrtum sein köime. Und ist es so, dann kann aus einer Äußerung auf die Wahrheit einer Behauptung geschlossen werden. Und hier wird die Form »Ich glaubte zu wissen« übersehen" (OG 21).

Dies gilt freilich nur, wenn man "glauben" im psychologischen Sinne untersucht. Eine andere Sache ist es, die Rollen von z.B. "Ich glaube ..." zu beschreiben. Dann ist der psychische Begleitzustand des Sprechers ebenfalls irrelevant, denn eine Funktion dieses Ausdrucks wäre es zum Beispiel, damit anzudeuten, daß man eben nicht die notwendigen Gründe nennen könnte, daß man epistemische Unsicherheit, nicht aber Oberzeugung artikuliert. "Ich glaube ..." ist eben ein anderer 'Spielzug· als "Ich weiß ..."

2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel

123

"»Ich weiß« soll eine Beziehung ausdrücken, nicht zwischen mir und einem Satzsinn (wie »Ich glaube«), sondern zwischen mir und einer Tatsache" (OG 90). "Ein innres Erlebnis kann es mir nicht zeigen, daß ich etwas weiß' (OG 569).

Wissen aus epistemischer Sicht als einen spezifischen seelischen Zustand zu konzipieren wäre also ein Kategorienfehler (s. Ζ 86), denn Wissen ist nicht ein seelischer Zustand, der andauert, gleichförmig oder ungleichförmig veriäuft oder Intensität besitzt (Z 78; BPP I 836): "Denk an das Sprachspiel: Bestimm mit der Stoppuhr, wie lang der Eindruck dauert. Man köimte so nicht die Dauer des Wissens, Könnens, Verstehens bestimmen" (Z 82; vgl. Ζ 75, 85).

Mit anderen Worten: Die Logik^ oder Grammatik von Wissen ist im für Wittgenstein philosophisch relevanten Fall eine andere als die der Bewußtseinszustände. "Wenn man den Begriff des Wissens in diese Untersuchung bringt, so nützt das nichts; deim Wissen ist nicht ein psychologischer Zustand, durch dessen Besonderheiten sich nun allerlei erklärt. Die besondere Logik des Begriffs >wissen< ist vielmehr nicht die des psychologischen Zustands" (BF, S. 112 = LS II, S. 79).

Die Kriterien des Wissens - und, wie im folgenden erläutert wird, auch die Kriterien der Gewißheit und des Zweifeins - sind objektive Kriterien, die sich im Handeln zeigen. Die entsprechenden Kriterien sind in der Logik^ des jeweiligen Sprachspiels gegeben (s. dazu Kapitel 3.2.); diese sind jedoch normaler, nicht metaphysischer Natur (f?G 482-484). Ähnliches gilt auch für den Begriff ^Gewißheit". In der normalen Verwendung im Deutschen kann das unter den Begriff 'Gewißheit' Fallende nicht nur mittels der Wörter "gewiß" und "Gewißheit", sondern auch mit Hilfe von "sicher" und "Sicherheit" ausgedrückt werden,' wie zum Beispiel in "Ich bin sicher, daß die Hauptstadt Norwegens Oslo ist", "Er ist sicher, daß Oslo die Hauptstadt Norwegens ist" und "Oslo ist mit Sicherheit die Haupstadt Norwegens". In Übereinstimmung„ mit dem übrigen Gebrauch dieser Ausdrücke verwendet auch Wittgenstein, wenn er sich über 'Gewißheit' äußert, wesentlich öfter die Ausdrücke "Sicherheit" und "sicher sein" als "Gewißheit" und "gewiß". Auch die Verwendungen von "Ich bin sicher ..." wie auch "Er ist sicher ..." legen die

Zu der Textstelle in OG 245 "[...] er sei gewiß [...)" findet sich im Manuskript die Variante "er sei sicher" (MS 175, S. 18).

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

psychologisch motivierte Deutung nahe, hier von einem seelischen Zustand zu sprechen, für die Bedeutung von "sicher sein" also einen besonderen seelischen Zustand anzunehmen.' Daß diese Ausdrücke so gebraucht werden können, wird durch die Beispiele "Ich bin sicher, daß ich heute die 100 Meter unter 11 Sekunden laufen werde" und "Er ist sicher, daß Lewis das Rennen gewinnen wird" deutlich. So etwas mag sich im Ton der Rede ausdrücken (ÜG 30; LS I 906; PU II, S. 571), doch diese psychologischen Aspekte interessieren die Philosophie aus epistemologischer Sicht nicht. Dort geht es vor allem darum, daß durch "Ich bin sicher, daß ich den Namen der Hauptstadt Norwegens kenne" ein epistemischer Anspruch formuliert wird, der nur dann korrekt erhoben wurde, wenn daraufhin auch der richtige Städtenamen vom Sprecher genannt werden kann. "Frag nicht: »Was geht da in uns vor, wenn wir sicher sind, ...?« sondern: Wie äußert sich >die Sicherheit, daß es so ist< in dem Handeln des Menschen?" ( P t / Π, S. 571).

Aus epistemologischer Perspektive sind die seelischen Zustände, inneren Bilder etc. sowohl von dem, der "Ich bin sicher ..." behauptet, wie auch von dem, über den "Er ist sicher ..." behauptet wird, allenfalls als Begleitvorgänge von Interesse. "Das begleitende Gefühl ist uns natürlich gleichgültig, und ebensowenig brauchen wir uns um die Worte »Ich bin sicher, daß« bekümmern. - Wichtig ist, ob ein Unterschied in der Praxis der Sprache damit zusammengeht" (í7C 524). "Denke nicht ans Sicher-sein als einen Geisteszustand, eine Art Gefühl, oder dergleichen. Das Wichtige an der Sicherheit ist die Handlungsweise, nicht der Ausdruck der Stimme, mit dem man spricht" (LS Π, S. 21).

Der nicht-psychologische Aspekt von Gewißheit wird vor allem in den unpersönlichen Formulierungen "Es ist gewiß ..." und "Es ist sicher ..." deutlich.^ Ein Kriterium für die Korrektheit solcher Äußerungen besteht in der Richtigkeit des Behaupteten, auch wenn die

Auch bei Wittgenstein Tinden sich Deutungen von 'Gewißheit' als psychologisch beschreibbarer Zustand (s. BPP I 836; BPP II 277). Man kann dann von verschiedenen Graden der SicheAeit oder tJberzeugtheit über die Wahrheit eines Satzes sprechen und "Gewißheit" als den höchsten Grad dieser tJberzeugtheit definieren (vgl. OG 66, 386f, 404, 415). In der Bemerkung OG 405 wird aber deutlich, daß das nicht der Aspekt ist, den Wittgenstein aus epistemologischer Sicht im Auge hat. Freilich gilt, daß der Gebrauch von "Es ist gewiß ..." nicht die Richtigkeit des Behaupteten garantiert (vgl. OG 137).

2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel

125

Ursache (nicht: der Grund) für eine solche Äußerung eine Überzeugung des Sprechers ist. Für Wittgenstein jedenfalls gilt (mit Mathematik als einem Beispiel): ")Mathematische Sicherheit< [bei einem Satz wie 2*2=4] ist kein psychologischer Begriff" {PU II, S. 569 = ¿ 5 I 891). "Das Wissen in der Mathematik. Man muß sich hier immer wieder an die Unwichtigkeit eines > inneren Vorgangs< oder >Zustands< erinnern und fragen »Warum soll er wichtig sein? Was geht er mich an?« Interessant ist es, wie wir die mathematischen Sätze gebrauchen" (ÜG 38).

Wittgenstein formuliert den für ihn wichtigen Unterschied von psychologischen und logischen^ Aspekten bei den Verwendungen von "wissen", "sicher sein" und "gewiß sein" auch noch in einer anderen Terminologie: Den psychologischen Aspekt bei Wissen und Gewißheit nennt er auch "subjektiv", den die Erkenntnistheorie interessierenden logischen« Aspekt "objektiv" (vgl. PU 265; PU II, S. 571).' "Mit dem Wort »gewiß« drücken wir die völlige Oberzeugung, die Abwesenheit jedes Zweifels aus, und wir suchen damit den Andern zu überzeugen. Das ist subjektive Gewißheit. Wann aber ist etwas objektiv gewiß? - Wenn ein Irrtum nicht möglich ist. Aber was für eine Möglichkeit ist das? Muß der Irrtum nicht logisch ausgeschlossen sein?" {OG 194) "Man sagt »Ich weiß, daß er Schmerzen hat«, obwohl man keinen überzeugenden Grund dafür angeben kann. - 1st das dasselbe wie »Ich bin sicher, daß er ...«? - Nein »Ich bin sicher« gibt dir die subjektive Sicherheit.'^' »Ich weiß« heißt, daß zwischen mir, der es weiß, und dem, der's nicht weiß, ein Unterschied des Verständnisses liegt" {OG 563).

Wie schwer sich auch Wittgenstein tat, sich diesen Unterschied bei den verschiedenen Verwendungen von "Ich weiß ..." etc. bewußt zu machen, zeigen folgende vier Bemerkungen:^ "Ja, ist nicht der Gebrauch des Wortes Wissen, als eines ausgezeichneten philosophischen Worts, überhaupt ganz falsch? Wenn »wissen« dieses Interesse hat, warum nicht »sicher sein«? Offenbar, weil es zu subjektiv wäre. Aber ist wissen

Der Uisprung für diesen Sprachgebrauch liegt vermutlich in Freges Grundgesetze der A rithmetìk (1893). S. XVIII. Eine Variante ira Manuskript lautet: "»Ich bin sicher« gibt dir etwas Subjektives" {MS 176, S. 62). Wittgenstein hat keine Systematik über die verschiedenen Aspekle im Gebrauch von "wissen" und "sicher sein" entwickelt, und manchmal bekommt man den Eindnjck, daß er selbst sich in den verschiedenen Verwendungen verfangen hat; siehe dazu auch OG 12f, 20, 37. 273.

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2. Grundbegriffe und Gnmdpositionen

nicht ebenso subjektiv? b t man nicht nur durch die grammatische Eigentümlichkeit getäuscht, daß aus »ich weiß p« »p« folgt? »Ich glaube es zu wissen«, müßte kernen mindern Grad der Gewißheit ausdrücken. Ja, aber man will nicht subjektive Sicherheit ausdrücken, auch nicht die Größte, sondern dies, daß gewisse Sätze am Grunde aller Fragen und alles Denkens zu liegen scheinen" {OG 415). "Es gibt keine subjektive Sicherheit, daß ich etwas weiß. Subjektiv ist die Gewißheit, aber nicht das Wissen. Weim ich mir also sage »Ich weiß, daß ich zwei Hände habe«, und das soll nicht nur meine subjektive Gewißheit zum Ausdruck bringen, so muß ich mich davon überzeugen, daß ich recht habe" {OG 245). "Ich handle mit voller Gewißheit. Aber diese Gewißheit ist meine eigene" {OG 174).

Die letzten beiden Bemerkungen sind, vor allem vor dem Hintergrund meiner in Kapitel 3. gegebenen Darstellung, nur dann verständlich und sinnvoll, wenn hier "Gewißheit" im Sinne von "subjektive Überzeugtheit" verstanden wird (so auch in ÜG 30). "Es wäre richtig zu sagen: »Ich glaube ...« hat subjektive Wahrheit; aber »Ich weiß ...« nicht" {OG 179).

Wittgenstein scheint hier die Möglichkeit des subjektiven Gebrauchs von "Ich weiß ..." zu übersehen, da er hier nur auf den epistemisch relevanten Aspekt abhebt (s. ÜG 435). Ich nehme dies zum Anlaß, noch ein Mal über den Zusammenhang von philosophischer Terminologie und normalem Gebrauch von Sprache zu sprechen. Eine Terminologie wird - auch in der Philosophie (wie z.B. in Kapitel 3.2.) - eingeführt, um den eigenen Sprachgebrauch zu regulieren und die Bedeutungen der verwendeten Ausdrücke bezogen auf einen bestimmten Zweck hinreichend zu präzisieren (von absoluter Präzision hält Wittgenstein nichts, da er die Suche nach solchen Idealen als Fiktion betrachtet; vgl. Kapitel 2.1.1.). Das aber hat zur Folge, daß eine solche Terminologie vom normalen Gebrauch der entsprechenden Wörter abweicht. So ist auch die normale Verwendung von "wissen" und "sicher sein" im allgemeinen so, daß viele verschiedene Aspekte miteinander verwoben sind. Sagt jemand zum Beispiel "Ich weiß, daß die Endsumme 781 ist; ich habe es dreimal nachgerechnet", dann (1) kann er damit seinen Zustand der Überzeugtheit ausdrücken, (2) einen objektiven Wissensanspruch formulieren: die Endsumme ist 781, (3) die Richtigkeit dieses Wissensanspruches versichern, (4) die Verantwortung für die Richtigkeit des Wissensanspruches übernehmen, (5) weitere Forderungen nach zusätzlichen Begründungen oder Überprüfungen blockieren wollen.

2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewiflheit und Zweifel

127

und anderes. Durch die Betrachtung und Beschreibung des normalen (deutschen) Sprachgebrauchs - das ist nach zahlreichen eigenen, gescheiterten Versuchen in Bezug auf "wissen" inzwischen meine Überzeugung - sind philosophisch unter Umständen wichtige Unterscheidungen nicht immer begründbar. Auch die für diese Arbeit (ab Kapitel 3.) wichtige und strikte Unterscheidung der Begriffe 'Wissen' und 'Gewißheit' findet sich im normalen Sprachgebrauch nicht. Denn die Sätze "Ich weiß, daß Oslo Norwegens Hauptstadt ist", "Ich bin sicher, daß Oslo Norwegens Hauptstadt ist", "Es ist gewiß, daß Oslo Norwegens Hauptstadt ist" wie auch "Oslo ist Norwegens Hauptstadt" dürften in sehr vielen Kontexten einander substituierbar sein, ohne daß sich damit die vom Sprecher intendierte Bedeutung der Äußerung - z.B. daß Oslo und nicht etwa Trondheim die Hauptstadt Norwegens ist - ändert. Dieses Beispiel zeigt auch, daß in denjenigen Äußerungen oder Handlungen, in denen ein Wissensanspruch artikuliert oder in denen sich Wissen wie auch Gewißheit manifestiert (und die daher für eine Untersuchung der Begriffe 'Wissen' und 'Gewißheit' relevant sind), gar nicht unbedingt durch den Gebrauch der Wörter "wissen", "gewiß" oder "sicher" gekennzeichnet sein müssen (ÜG 427).' Mit anderen Worten: Eine philosophische, d.i. im Sinne Wittgensteins eine logische^ Untersuchung über Begriffe erschöpft sich nicht in der Untersuchung über den Gebrauch von bestimmten Wörtern.^ Daß es Unterschiede geben kann zwischen dem philosophisch interessanten Begriff 'Wissen' und dem normalen Gebrauch des Wortes "wissen", betont auch Wittgenstein: "Das, worauf ich abziele, liegt auch in dem Unterschied zwischen der beiläufigen Feststellung »Ich weiß, daß das ...«, wie sie im gewöhnlichen leben gebraucht wird, und dieser Äußerung, wenn der Philosoph sie macht" (OG 406).

Wenn Wittgenstein in Über Gewißheit auf den normalen Gebrauch von "wissen" etc. hinweist, dann kann das zwar sowohl die oben angedeutete heuristische oder auch therapeutische Funktion haben als auch die Funktion, sich mit Norman Malcolms Argumentationsweise in dessen Aufsatz Defending Common Sense auseinanderzusetzen (siehe dazu Kapitel 1.2. und 4.2), aber ich sehe in Über Gewißheit wie auch in

' '

Jemand kann beispielsweise sein Wissen, wie man Klavier spielt oder ein Auto repariert, auch wortlos ausführen. Auch wenn diese sehr aufschlußreich ist. Vgl. PU 383, BPP I 549, BPP II 289.

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2. Grundbegriffe und Grundpositionen

anderen Aufzeichnungen von ihm keine Bemerkung dahingehend, daß der Rekurs auf die normale Verwendung bestimmter Ausdrücke für Wittgenstein eine philosophische Einsicht beweisende Funktion hat. Wie eingangs in Kapitel 2.1. gezeigt, wäre dies methodisch auch ungenügend. Der Deutlichkeit halber soll abschließend noch kurz dargelegt werden, daß auch der Begriff "Zweifel" in der weiteren Arbeit nur in seiner objektiv-logischen^ Bedeutung diskutiert wird. Unter Zweifel soll daher nicht jener subjektive Zustand verstanden werden, der mit "zögern zu glauben" oder "ungläubig sein" charakterisiert werden kann - wie er sich z.B. in der Äußerung "Ich zweifle, ob mein Freund wirklich der Täter ist, wie er selbst behauptet; vielleicht deckt er jemand anderen" zeigt. Das Wort "zweifeln" in dieser Bedeutung bezieht sich auch auf den Bewußtseinszustand des Sprechers, und so eine Bemerkung ist genau dann wahr, wenn sie wahrhaftig geäußert wird. Wittgenstein hat in diesem Sinne "zweifeln" in ÜG 21 in eine Reihe mit anderen Prädikaten für Bewußtseinszustände gestellt (ebenso in BPP I 836). "Der Glaube, die Sicherheit, eine Art Gefühl beim Äußern des Satzes. Nun, es gibt einen Ton der Oberzeugung, des Zweifels [!] etc.. Aber der wichtigste Ausdruck der Überzeugung ist nicht dieser Ton, sondern die Handlungsweise" (LS II, S. 21).

In diesem Sinn sollen unter den Begriff 'Zweifel' im folgenden all diejenigen Handlungen bzw. Züge im Sprachspiel fallen, bei denen ein Wissensanspruch durch Anführung eines zweiten Wissensanspruchs, der mit dem ersten nicht vereinbar zu sein scheint, begründetermaßen in Frage gestellt wird' (auch hier ist es nicht nötig, daß beim Akt des Zweifeins das Wort "Zweifel" verwendet werden muß). Ein Beispiel für so einen objektiven Zweifel wäre etwa folgende Äußerung: "Oslo soll die Hauptstadt Norwegens sein? Aber fanden die Königskrönungen nicht in Trondheim statt?" Eine strikte Unterscheidung von subjektivem und objektivem Zweifel ist jedoch nicht immer möglich. Jemand kann subjektiv zweifeln, indem er zögert, den epistemischen Gehalt eines bestimmten Satzes zu glauben, und dennoch objektiv diesen Zweifel dadurch zum Ausdruck bringen, daß er eine Begründung für diesen Satz fordert: "Woher weißt du das?", "Wieso ist das so?", und ähnliches. Ein Kriterium dafür, hier von einem objektiven Zweifel zu sprechen, ist, daß

Dies charakterisiert die logische, Rolle des Wortes "Zweifel" (vgl. ÜG 308).

2.3. Anti-Psychologismus bei Wissen, Gewißheit und Zweifel

129

der Zweifelnde - durch Rekurs auf sein übriges Wissen oder auf seine Überzeugungen - Gründe dafür angeben kann, weshalb er seinen Glauben an die Richtigkeit jenes Satzes zurückhält.' Kurz: Ein Kriterium des Zweifeins ist, Einwände gegen einen Wissensanspruch vorbringen zu können. Insofern ist auch Zweifeln ähnlich einem Können oder einer Fähigkeit, nicht aber ein seelischer Zustand.

OG 4, 121, 310, 333f; vgl. auch OG 154, 231, 255, 450; vgl. Frankfurt 1967, S. 412f.

3. Zur Struktur unseres Wissens Wie schon zu Beginn in Kapitel 1.1. bemerkt wurde, betrachte ich in den Aufzeichnungen von Über Gewißheit nicht Wittgensteins Auseinandersetzung mit Moore und dem Skeptizismus als das Wesentliche, sondern vielmehr seine Strukturierung unseres epistemischen Vokabulars und, damit einhergehend, seinen Entwurf einer möglichen Beschreibung der Struktur unseres Wissens. Darin verwoben skizziert Wittgenstein freilich auch die dabei deutlich werdenden (und vielleicht auch ihn überraschenden) Voraussetzungen und Implikationen dieses speziellen Unternehmens wie seines philosophischen Ansatzes überhaupt. — Das Wort "Struktur" wurde dentmach im Titel dieses Kapitels zweideutig verwendet: Es geht nämlich (1) um eine mögliche begriffliche Struktur oder Logik,, einiger unserer epistemischen Wörter, d.h., es geht um den begrifflichen, grammatischen oder logischen^ Zusammenhang vom Wissen, Gewißheit, Zweifel, Begründung, Irrtum etc., wie auch (2) um eine Struktur unserer Wissensinhalte, d.h. um eine Hierarchisierung von Wissensbereichen oder -gebieten, beziehungsweise um deren Relationen zueinander. Beide Komponenten, die begriffliche und die systematischinhaltliche, sind jedoch nicht voneinander unabhängig. Die logisch^begrifflichen Aspekte sind bei Wittgenstein über den Zusammenhang mit dem Wissenserwerb durchaus mit chronologisch-psychologischen Aspekten verwoben (dies ist ein Ausdruck von Wittgensteins 'unreiner' Philosophie; vgl. Kapitel 2.1.). Ich werde daher zu Beginn von bekannten Wissens-Phänomenen ausgehend anhand von Wittgensteins Standardbeispielen in Über Gewißheit, nämlich sprachliche Kompetenz und Wissenschaft, sowohl begriffliche als auch inhaltlich-strukturelle Aspekte dieser beiden Arten des Wissens skizzieren, und zwar in der Absicht, eine allgemein akzeptable Beschreibung der entsprechenden Praktiken zu geben (Kapitel З.1.). Dadurch ist eine Art faktischer Input' für die danach (in Kapitel 3.2.) vorzustellende Struktur unserer epistemischen Wörter gegeben. Ich bin davon überzeugt, daß auch Wittgenstein, im

Dies ist ein Beispiel dafür, wie ein pMlosophisches Problem - hier das des Phänomens Wissen seinen Ursprang in unseren normalen Lebensumständen haben kann.

3.1. Wittgensteins Beispiele I: Sprachliche Kompetenz und Wissenschaft

131

Hinblick auf die in dieser Arbeit verfolgten Zwecke, die auf diese Weise entwickelte begriffliche Systematisierung akzeptieren würde. Im Anschluß daran beginnt eine sowohl Wittgenstein-interpretative als auch erkenntnistheoretisch-systematische Diskussion darüber, welche Voraussetzungen und Implikationen jene Begriffsstruktur besitzt' (ab Kapitel 3.3.). Es handelt sich dabei um Fragen des Sprach- bzw. Wissenserwerbs (Kapitel 3.4.f und 3.8.), um den Status von Gewißheit ausdrückenden Sätzen (Kapitel 3.7.), um das Problem der Wahrheit (Kapitel 3.9.) und um eine Charakterisierung der zugrundeliegenden metaphysischen Position (Kapitel 3.10.). Zum Abschluß dieses Kapitels stelle ich noch "Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten" {PU 133) mit anderen, mehrfach von Wittgenstein in Ober Gewißheit angeführten Beispielen von Wissen, nämlich Mathematik und persönliche Identität, vor (Kapitel 3.11.).

3.1. Wittgensteins Beispiele I: Sprachliche Kompetenz und Wissenschaft Wie schon in Kapitel 2.2. erwähnt, ist eine Sprache sprechen zu können auch eine Form von Wissen (s. PU 132, 150, 199). Zu behaupten, man könne eine Sprache X sprechen (z.B. "Ich kann Finnisch"), bedeutet im allgemeinen, daß jene Sprache X für den Sprecher eine Fremdsprache ist. Sollte aber jemand auf diese Weise mitteilen, daß er eine Sprache sprechen könne, die doch eigentlich seine Muttersprache ist (z.B. wenn Ludwig Wittgenstein "Ich kann Deutsch" gesagt hätte), dann klingt dies unter normalen Umständen recht seltsam (seine Muttersprache zu beherrschen scheint keine rechte Form von Wissen zu sein; vgl. ÜG 565), doch unter bestimmten Umständen ist auch dies sinnvoll möglich.^ ~ Für mich, Michael Kober, mag es in einem geeigneten Kontext

Um es noch einmal zu betonen: Das systematische Ausarbeiten von begrifflichen Voraussetzungen und Implikationen muß nicht unbedingt in das Errichten eines philosophischen Systems münden. E n philosophisches System im traditionellen Sinne (z.B. das von Kant oder das von Wittgenstein im Tractatus) ist hier also nicht beabsichtigt. Zum Beispiel, (l) nachdem Sprachstörungen therapiert werden konnten, oder (2) wenn man ausdrücken möchte, daß man seine Sprache in besonders hohem Maße (etwa stilistisch) beherrscht, oder (3) wenn man einen Witz machen will (dann ist die entsprechende Äußerung allerdings keine Mitteilung), oder (4) nachdem man für einen Holländer statt für einen Deutschen gehalten wurde, oder ähnliches (s. OG 526).

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3. Zur Struktur unseres Wissens

sinnvoll sein, zu sagen, ich wisse, daß das deutsche Wort "Hand" dem Wort "käsi" im Finnischen entspricht. Da Finnisch eine für Mitteleuropäer etwas ungewöhnliche Sprache ist, kann man mich - sinnvoll meine Behauptung bezweifelnd - daraufhin fragen, wieso ich das denn wisse. Und ich würde dann wahrscheinlich antworten: "Ich habe eine Weile in Finnland gelebt und dabei ein wenig Finnisch gelernt. Daher weiß ich das." Dies dürfte im allgemeinen eine akzeptietbare Begründung für meine Behauptung (bzw. für meinen knowledge-claim) darstellen. Wenn es erforderlich sein sollte, könnte ich dies noch weiter bzw. auf andere Weise begründen, indem ich zum Beispiel auf den entsprechenden Eintrag in einem deutsch-firmischen Wörterbuch verweise (PV 265); ich würde insofern an eine unabhängige Stelle appellieren {PH 265). Natürlich könnte man auch einen Muttersprachler des Finnischen fragen. Bei anderen, insbesondere grammatischen Problemen, gilt letzteres freilich auch; man könnte aber auch in einer entsprechenden Grammatik nachschlagen, oder man zieht einen kompetenten Linguisten zu Rate. Das alles sind von uns de facto akzeptierte, mögliche Begründungsmethoden für meinen Wissensanspruch, Finnisch sprechen zu körmen. Es können sich freilich auch Irrtümer in meiner Beherrschung des Finnischen befinden. Z.B. habe ich anfangs recht häufig die Wörter "tuli", "tuuli" und "tulli" miteinander verwechselt, die in dieser Reihenfolge "Feuer", "Wind" und "Zoll" bedeuten. Indem ich hier auf die phonetische wie auch graphische Ähnlichkeit der Wörter verweise, versuche ich deutlich zu machen, warum ich mich diesbezüglich irren kann, d.h., warum mein Wissensanspruch defekt sein kann. Für diese Art von Irrtum ist, "sozusagen, ein Platz im Spiel vorgesehen" {ÜG 647). Ein Zweifel hinsichtlich meiner Verwendung eines dieser Wörter kann daher sinnvoll sein. Eine andere Darstellung ergibt sich jedoch, wenn mich zum Beispiel ein Finne fragte, was denn "käsi" auf Deutsch heißen würde. Sagte ich dann "Das heißt 'Hand'", so würde der durch die Frage "Wieso weißt du das?"' zum Ausdruck gebrachte Zweifel keinen rechten Sinn mehr machen (s. OG 582f) - jedenfalls unter normalen Umständen, in denen es (auch für jenen Finnen) klar ist, daß ich ein Muttersprachler des

Daß diese Frage höchstwahrecheinlich eher auf Finnisch als auf Deutsch gestellt würde, ich meine Antworten entsprechend auch eher auf Finnisch geben würde, sei hier und im folgenden ignoriert.

3.1. Wittgensteins Beispiele I: Sprachliche Kompetenz und Wissenschaft

133

Deutschen bin, daß ich nicht müde bin, halluziniere oder unter Sprachstörungen leide etc. Ich könnte allerdings keine rechte Begründung für meine Auskunft anführen (s. BB, S. 25), sondern würde vielmehr die Frage zurückzuweisen versuchen: "Warum fragst du? Deutsch ist doch meine Muttersprache!" Damit bringe ich zum Ausdruck, daß ich, falls jener Körperteil nicht mehr "Hand" genannt werden würde, mich für unfähig erachten müßte. Deutsch sprechen zu können (als wäre ich sprach- oder geistesgestört), und das ist eben unter normalen Umständen eine unangemessene, ja lächerliche Unterstellung. "Sich in der Muttersprache über die Bezeichnung gewisser Dinge nicht irren können ist einfach der gewöhnliche Fall" {ÜG 630).

Würde ich nicht mehr wissen, daß jener bestimmte Körperteil "Hand" genannt würde, darm wäre dies keine normale bzw. verständliche Lücke in meiner muttersprachlichen Kompetenz, wie es eine wäre, wüßte ich zum Beispiel nicht, was eine Ducht oder eine Motorradbraut sei, oder wenn ich das Wort "Bruttosozialprodukt" nicht erklären könnte. Es wäre vielmehr ein Fall geistiger Verwirrung, ein Fall von Aphasie oder einer anderen Art von Sprachstörung. Mit anderen Worten: Es wäre kein Irrtum, dessen Platz im Sprachspiel vorgesehen ist. Denn jener Bereich des Deutschen - d.i. die deutsche Standardsprache (bzw. das einfache, fundamentale oder primitive Deutsch), zu der die Verwendung des Wortes "Hand" zweifellos gehört, da wohl über niemanden, der den Ausdruck "Hand" nicht kennt,' sinnvollerweise gesagt werden könnte, er könne Deutsch - ist eine Art Gewißheit für alle, die kompetente Sprecher des Deutschen sind, also insbesondere für diejenigen, deren Muttersprache Deutsch ist. "Ein Deutscher, der diese Farbe »rot« nennt, ist nicht »sicher, sie heiße im Deutschen )rot«rotim Anfang war die Tatrichtig< nicht geredet werden kann" {PU 258; vgl. auch PV 253). "Was ein triftiger Gmnd für etwas sei, entscheide nicht ich" {ΌG 271).

vgl. Tugendhat 1979, S. 119.

190

3. Zur Struktur unseres Wissens

Ein Grund für die Sinnlosigkeit der Behauptung von privatem Wissen ist somit durch die begrifflich-logische^ Analyse des Begriffs 'Praxis' gegeben. Daß Wissen in diesem Sinne nicht privat sein kann, hat allerdings auch eine Ursache.' Denn die Erziehung von Kindern zu kompetent Handelnden in gemeinsamen Praktiken ist ein Unternehmen der Gemeinschaft - wie schon im vorigen Kapitel erwähnt, ist allein die Fähigkeit zu lernen angeboren, der Gehalt des zu Lernenden, nämlich das Wissen, wird erst durch die Erziehung gegeben. Mit anderen Worten: Das, was wir wissen bzw. wissen können, wissen wir nur auf der Basis von unseren Interaktionen in unserer Gemeinschaft. Auch daran wird deutlich, daß das Kriterium für eine erfolgreiche Erziehung zu kompetenten Handelnden das der ÜbereinstimmungH^-M mit der eigenen Lebensform ist. "Und es ist nicht etwa bloß meine Erfahrung, sondern die der Anderen, von der ich Erkenntnis erhalte" (OG 275). "Wir sind dessen ganz sicher, heißt nicht nur, daß jeder Einzelne dessen gewiß ist, sondern, daß wir zu einer Gemeinschaft gehören, die durch Wissenschaft und Erziehung verbunden ist" (ÜG 298; vgl. OG 325).

'Erziehung', 'Abrichtung' und 'Unterricht' sind demnach soziale oder gemeinschafdiche Begriffe, d.h., in ihnen ist Interaktion involviert (dies ist ein grammatischer bzw. logischer^ Satz).^ Daran zeigt sich, daß der grundlegende Begriff in Wittgensteins Philosophie auch hinsichtlich seiner Erkenntnistheorie der der Praxis ist. Kjell Johannessen hat durch eine Auflistung von Formulierungen Wittgensteins aus unterschiedlichen Arbeitsperioden deutlich gemacht, daß der Begriff 'Praxis' die Nachfolge der grundlegenden Begriffe 'Logik' im Tractatus und 'Sprache' im Großen Typoskript Anfang der 30er Jahre angetreten hat:^ "Die Logik muß für sich selber sorgen. [...] Wir können uns, in gewissem Sinne, nicht in der Logik irren" {TLP 5.473). "Die Sprache muß für sich selbst sprechen" (PG, S. 40). "[...] und die Praxis muß für sich selbst sprechen" {OG 139).

Auf einen solchen sowohl begrifflichen als auch kausalen Zusammenhang hinsichtlich des Begriffs 'Regel· verweist Wittgenstein in PU 198. vgl. McGinn 1984, S. 90; Johannessen 1988, S. 363. - Inwiefern der Einzelne z.B. bei wissenschaftlichen Revolutionen sich von der Gemeinschaft distanzieren bzw. die Praktiken der Gemeinschaft verändern kann, diskutiere ich in Kapitel 4.1.2. s. Johannessen 1988, S. 359; vgl. auch Kenny 1973, S. 218.

3.6.1. Exkurs: Praxis ohne Pragmatismus

191

Der Begriff 'Praxis' umfaßt sowohl das Sprechen einer Sprache (PI/ 198 -202) als auch dasjenige, was Wittgenstein im Tractatus mit "Logik" bezeichnete - grob: Es geht um die Konzeption, daß Sprache, Denken und Welt eine gemeinsame logische Form besitzen, weshalb das Erkennen der Welt und das Sprechen über die Welt möglich sind; eine solche philosophische Logik sollte sich in der Prädikatenlogik zeigen. In ähnlicher Weise könnte eine Prädikatenlogik (wie auch Formen einer Modallogik) ein explizierbarer Teil einer entsprechenden SprachspielLogik^ sein (Sprechen und Denken sind auch eine Praxis): "Komme ich nicht immer mehr und mehr dahin zu sagen, daß die Logik sich am Schluß nicht beschreiben lasse? Du mußt die Praxis der Sprache ansehen, dann siehst du sie" {OG 501). "Wenn man sagt »Gewisse Sätze müssen vom Zweifel ausgeschlossen werden«, darm scheint es, als sollte ich diese Sätze [...] in ein Buch der Lxsgik aufnehmen. Denn wenn es zur Beschreibung des Sprachspiels gehört, so gehört es zu Logik" {OG 628).

Im Unterschied zur traditionellen Erkenntnistheorie, die hoffte, bestimmte Sätze ermitteln zu können, die absolut oder bzw. ein für allemal gewiß seien, historisiert Wittgenstein den auf eine Praxis bezogenen Begriff der 'Gewißheit'. Denn Praktiken können sich im Verlauf einer Kulturgeschichte verändern {ÜG 96-99), und damit ändert sich auch die jeweilige Übereinstimmungn+M' die als ein Kriterium für Wissen und Gewißheit notwendig ist (s. dazu Kapitel 4.1.2.).

3.6.1. Exkurs: Praxis ohne Pragmatismus Die Betonung der grundlegenden Funktion des Begriffs 'Praxis' legt die Auffassung nahe, etwas sei rechtfertigbar, wenn es sich als zweckmäßig oder praktisch erweist. Einige Bemerkungen Wittgensteins scheinen diese Interpretation zu bestätigen: "Aber bedenk: auch wenn mir die Rechnung feststeht, ist es nur eine Entscheidung zu einem praktischen Zweck" {OG 49). "[...] Aber könnte ich nicht doch das Gegenteil glauben? Aber die Frage ist: wie würde sich dieser Glaube praktisch betätigen?" {OG 89; vgl. OG 147). "[...] die Gründe werden mir bald ausgehen. Und ich werde darm, ohne Gründe, handeta" (Pt/211). "Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: »So handle ich eben.«" {PU 217)

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3. Zur Struktur unseres Wissens

Der Verweis auf das Praktische und darauf, daß am Ende von Begründungen ein unbegründetes Handeln steht, erinnert an Auffassungen im Pragmatismus, mit dem Wittgenstein vor allem durch seine Lektüre einiger Arbeiten von William James bekannt war.' Wenn ich im folgenden von "Pragmatismus" rede, werde ich daher ausschließlich William James' Pragmatismus meinen (auch wenn dies nur eine vage Einschränkung ist). James charakterisierte die Vorgehensweise des Pragmatismus in seinen berühmten Voriesungen Pragmatism folgendermaßen: "The pragmatic method is primarily a method of settling metaphysical disputes that otherwise might be interminable. "A pragmatist turns his back resolutely and once for all upon a lot of inveterate habits dear to professional philosophers. He turns away [...] from bad a priori reasons, from fixed principles, closed systems, and pretended absolutes and origins."' "The pragmatic method [...] is to try to interpret each [philosophically puzzling] notion by tracing its respective practical consequences."""

Die Ähnlichkeiten mit Wittgensteins Charakterisierungen seiner eigenen Philosophie, die ja ebenfalls von traditionellen, 'philosophisch professionellen' metaphysischen Überlegungen absehen will und das alltägliche Handeln betont (s. Kapitel 2.1.) sollten offensichtlich sein. Wittgenstein hatte femer erklärt, die, d.i. seine Philosophie wolle keine Thesen oder Theorien aufstellen, d.h. sie wolle keine spezifisch philosophischen Ergebnisse formulieren (vgl. PU 109, 126-128) - vielmehr wolle sie nur beschreibend sein und lasse alles, wie es ist (PU 124). Bei James scheint sich geradezu eine Explikation dieser Bemerkungen zu finden: "At the same time it [that is: pragmatism] does not stand for any special results. It is a method only."'

Eine Rdhe von Schriften von William James kannte Wittgenstein ungewöhnlich gut, insbesondere die Principles of Psychology und die Varieties of Religious Experience (James 1890 und 1902). Es ist nicht bekannt, ob Wittgenstein noch andere Schriften anderer Pragmatisten gelesen hat - mit Ausnahme eines Artikels von F. C. Schiller, den Wittgenstein allerdings nicht schätzte (vgl. G. Hallett, 1977, S. 767, 773). James 1907, S. 42. James 1907, S. 45. James 1907, S. 42 James 1907, S. 45f.

3.6.1. Exkurs: Praxis ohne Pragmatismus

193

"It has no dogmas, and no doctrines save its method. [...] No particular results then, so far, but only an attitude of orientation, is what the pragmatic method means. The attitude of looking away from first things, principles, >categories,< supposed necessities; and of looking towards last things, fruits, consequences, facts."^

Könnte Wittgenstein also eine Art (James'scher) Pragmatist sein? In Über Gewißheit äußert er selbst diese Vermutung, die er jedoch sogleich von sich weist: "Ich will also etwas sagen, was wie Pragmatismus klingt. Mir kommt hier eine Art Weltanschauung in die Quere" (OG 422).

Mit dieser Formulierung lehnt Wittgenstein offenbar eine Einordnung seiner Philosophie unter das Etikett "Pragmatismus" ab, und zwar wohl deshalb, weil der Pragmatismus als eine Art Weltanschauung diskreditiert ist. Ich verstehe dies so, daß eine Weltanschauung für alle Probleme nur eine Lösungsstrategie oder Therapie kennen will (Probleme, die sich nicht damit lösen lassen, könnten dann schnell als Scheinprobleme disqualifiziert werden), so wie James etwa vorgeschlagen hatte, nur auf die praktischen Konsequenzen zu achten. Eine derart singuläre Taktik behandelt mögliche Probleme jedoch nicht adäquat, d.h. sie unterschlägt deren Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, oder sie ignoriert diese einfach. Offensichtlich abweichend von James formuliert Wittgenstein deshalb wohl: "Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien" (PU 133). Wittgenstein, der die Mannigfaltigkeit der Probleme immer wieder betont (vgl. PU 23), dürfte Weltanschauungen deshalb als verengende oder bornierte Lehren verachten. Eine weitere der ganz wenigen expliziten Erwähnungen des Pragmatismus findet sich bei Wittgenstein in einem anderen Typoskript: "Aber bist du kein Pragmatiker? Nein. Denn ich sage nicht, der Satz sei wahr, der nützlich ist" (BPP I 266).

Hiermit spielt Wittgenstein mit Sicherheit auf jene berühmte Formulierung von James in Pragmatism an, in der dieser eine Beziehung zwischen "true ideas" und ihrer Nützlichkeit zieht. Dort sagt James über eine 'practically relevant idea':

James 1907, S. 47.

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3. Zur Struktur unseres Wissens

"You can say of it either that >it is useful because it is true< or that >it is true because it is usefulwahr-sein< heißt: brauchbar (oder nützlich) sein?« - Nein; sondern, daß man von der natürlichen Zahlenreihe - ebenso wie von unserer Sprache - nicht sagen kann, sie sei wahr, sondern: sie sei brauchbar und, vor allem, sie werde verwendet" (BGM, S. 37f).

James 1907, S. 135. In diesem Sinne jedenfalls hatten Moore und Russell William James verstanden, und ihn heftig dafür gescholten (vgl. Moore 1908, Russell 1908 und 1909). - Dies ist zweifellos die gängige James-Interpretation und die gängige James-Kritik. Ich denke allerdings, daß James nicht ein Wahrheitskriterium angegeben hat (was James selbst damit sagen wollte, bleibt ziemlich unklar), sondern daß er einen Grund benannte, warum wir an wahren Ideen oder Sätzen interessiert sind.

3.6.1. Exkurs: Praxis ohne Pragmatismus

195

Das heißt: Wittgenstein hat das pragmatistische Prinzip der Nützlichkeit als Ausdruck einer metaphysischen Lehre oder auch Fundamentalphilosophie entlarvt, in der jenes Prinzip der Nützlichkeit gleichsam als ein erstes Prinzip allen Praktiken vorgeordnet ist. Pragmatismus in diesem Sinne bestünde in der Annahme, daß Nützlichkeit eine Art regulatives Prinzip für all unsere Handlungsweisen oder Praktiken darstellt, das gleichsam von außen als Meßlatte an jede Praxis angelegt werden könne: Sind die entsprechenden Praktiken nützlich, werden sie akzeptiert, sind sie es nicht, werden sie verworfen. Daß dieses Verfahren aber 'das Pferd von hinten aufzäumt,' wird daran ersichtlich, daß sich sofort die Frage aufdrängt, inwiefern eine Praxis als nützlich betrachtet werden soll - einfach so nützlich bedeutet noch gar nichts. Denn die Nützlichkeit einer Handlung oder Handlungsweise kann nur beurteilt werden innerhalb einer anderen Praxis (in einem anderen Diskurs), und zwar anhand von Kriterien, die allein in jener anderen Praxis ihren Sinn haben: So ist zum Beispiel "100-^10=10" zu rechnen nicht einfach so nützlich, schon gar nicht durch sich selbst. Aber in bezug auf eine Handlung, etwa das gleichmäßige Aufteilen einer Menge von 100 Äpfeln unter 10 Personen, kann der Satz "100-^10=10" nützlich sein, eriaubt er es mir doch, das Aufteilen schneller zu vollziehen (ich bräuchte nicht abwechselnd einen Apfel einer jeden Person zuteilen), oder daß ich mit ihm Prognosen erstellen kann (jeder wird 10 Äpfel bekommen), oder daß ich mit ihm die Aufteilung überprüfen karm (mehr als 10 Äpfel dürfte keiner bekommen haben, weniger aber auch nicht). Man kann insofern sagen, daß die Nützlichkeit des mathematischen Satzes "100^10=10" in bezug auf Handlungen allein in einer entsprechenden Praxis bestimmt werden kann. Und so fährt auch Wittgenstein in jener oben gegebenen Bemerkung, in der er ein Pragmatist zu sein explizit leugnet, folgendermaßen fort: "Der Nutzen, d.h. Gebrauch, gibt dem Satz seinen besonderen Sinn, das Sprachspiel gibt ihm ihn. Und insofern, als eine Regel oft so gegeben wird, daß sie sich nützlich erweist, und mathematische Sätze ihrem Wesen nach mit Regeln verwandt sind, spiegelt sich in mathematischen Wahrheiten Nützlichkeit" {BPP I 266).

Also ist auch die Nützlichkeit nur ein Maßstab, der von Menschen innerhalb einer Praxis an etwas angelegt werden kann. Unsere Sprachspiele oder Praktiken können nicht von einem absolut neutralen Punkt aus mit Hilfe des Prinzips Nützlichkeit beurteilt werden (vgl. Kapitel 4.1.) - die

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3. Zur Struktur unseres Wissens

eine Praxis als nützlich oder nicht nützlich beurteilen zu wollen ist nur innerfialb einer Lebensform bzw. innerhalb eines Weltbildes möglich. Das heißt: Wir können Sprachspiele oder Praktiken nicht mit dem pragmatischen Prinzip der Nützlichkeit rechtfertigen, sondern eben nur mit unseren konzeptuellen Mitteln "beschreiben". In anderen Zusamenhängen findet sich bei Wittgenstein eine ähnliche Argumentation, die ebenfalls zeigen soll, daß es nur im Rahmen einer Praxis sinnvoll ist, von Nützlichkeit oder auch Bewährung zu reden. Will man etwa Dampfkessel bauen, so ist es nützlich (d.h., es hat sich bewährt), deren Wandstärke vorher zu berechnen, denn es ist eine Erfahrungstatsache, daß Kessel, die entsprechend berechnet wurden, seltener explodieren {PV 466, 469f). Aber gleichsam jenseits jeglicher Praxis (von einem Praxis-externen Standpunkt aus) zu fragen, ob all das, was wir tun, allein deshalb tun, weil es sich bewährt hat, oder weil es nützlich ist, klingt sehr seltsam: "Denkt der Mensch also, weil Denken sich bewährt hat? - Weil er denkt, es sei vorteilhaft, zu denken? (Erzieht er seine Kinder, weil es sich bewährt hat?)" (PU 467)

Wittgensteins Antwort wäre (gemäß meiner Interpretation): Auf diese Lebensform-externe Frage ist keine Antwort zu geben, denn sinnvolle Erklärungen können nur innerhalb unserer Praktiken (z.B. innerhalb unserer empirischen Wissenschaften) formuliert werden (die empirischen Wissenschaften können nicht empirisch gerechtfertigt werden). Es besteht nun einmal das hinzunehmende Faktum, daß Menschen denken, und dieses Faktum, die sich daraus entwickelnden Praktiken, sind in der Philosophie zu beschreiben {PU 124, 654; BPP I 630). Ein solches Faktum ist für Wittgenstein der Ausgangspunkt für Philosophie (faktischer Input), seine Existenz ist nicht zu problematisieren. Eines allerdings sollte auch beachtet werden: Wir führen Berechnungen von Dampfkesselwandstärken durch, weil es nützlich ist, d.h. weil die Dampfkessel dann seltener explodieren. Doch absolute Sicherheit eriialten wir dadurch nicht - auch berechnete Dampfkessel sind schon explodiert (PÍ/ 466). Dies aber zeigt, daß das Prinzip der Nützlichkeit oder das der Bewährung gar nicht recht für eine philosophische Rechtfertigung unserer Wörter, Begriffe oder Praktiken taugt, d.h., daß es sich für eine Erklärung der Sicherheit oder Gewißheit unserer Praktiken gar nicht eignet.

3.7. Tatsachen, Regeln und Normen - Zur Logik„ von Gewißheiten

197

"Wenn ich dem Holzblock eine bestimmte Form geben will, so ist der Hieb der richtige, der diese Form erzeugt. Ich nenne aber nicht das Argument das richtige, das die gewünschten Folgen hat. (Pragmatism). Vielmehr neime ich die Rechnung falsch, obwohl die Handlungen, die dem Resultat entsprungen sind, zum gewünschten Ende geführt haben" (PG, S. 185).

Mit anderen Worten: Ein Argument ist nicht richtig, weil es nützHch ist. In diesem Sirme hat Wittgenstein am Beispiel des Wortes "Schmerz" betont: "»Man kann aber doch den Schmerz nicht mit Sicherheit nach dem Äußeren erkennen.« Man kann ihn nur nach dem Äußeren erkennen und die Unsicherheit ist eine konstitutionelle. Sie ist kein Mangel. Es liegt in unserm Begriff, daß diese Unsicherheit besteht; in unserem Instrument. Ob dieser Begriff praktisch, oder unpraktisch ist, darum handelt's sich eigentlich nicht" (BPP π 657).

Das heißt: Wir können nach Wittgenstein unsere Sprachspiele oder Praktiken eben nur beschreiben, nicht eigentlich erklären. Die Sicherheitoder Gewißheit in unseren Sprachspielen oder Praktiken bedürfe keiner weiteren Gründe - ihr Erfolg oder ihre Nützlichkeit besteht allein darin, daß sie gespielt werden (PL/ 324). Diese dem Pragmatismus nur oberflächlich ähnliche Auffassung ist freilich nur eine wenig überraschende Konsequenz aus Wittgensteins Doktrin von der Autonomie der Grammatik - wie auch ihrer Nachfolgerin, die nun näher bestimmt werden soll.

3.7. Tatsachen, Regeln und Normen Zur Logik^ von Gewißheiten Die Aufgabe dieses und der folgenden Kapitel (bis einschließlich Kapitel 3.9.) ist es, eine Charakterisierung der Rolle der Gewißheiten im Sprachspiel zu geben,' mit anderen Worten: den logischen^ Status der Gewißheiten zu bestimmen. Das bedeutet auch, den logischen^ Unterschied von Wissen einerseits und Gewißheit oder Sicherheit hinsichtlich eines Sprachspiels^ andererseits, der in der Bemerkung Wittgensteins,

Daß darin eine der wesentlichen Aufgaben für eine Interpretation von Ober Gewißheit besteht, meint auch M. McGinn 1989, S. 102, 119. 152. Im folgenden wird die Metaphorik des Spiels zugegebenermaßen recht exzessiv ausgeschöpft. Ich denke allerdings, daß dies in diesem Kontext eine heuristisch sehr fruchtbare Metapher ist.

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3. Zur Struktur unseres Wissens

">Wissen< und >Sicherheit< gehören zu verschiedenen {ÜG 308), angedeutet wird, zu erläutern.'

Kategorien"

3.7.1. Regeln und Normen - zum sprachlichen Ausdruck von Gewißheiten In diesem Kapitel sollen mögliche Verwendungsweisen von Sätzen im grammatischen Modus des Indikativs daraufhin untersucht werden, inwiefern sie als Gewißheiten im Gegensatz zu Wissen gebraucht werden können. Zum Leitmotiv bei dieser Untersuchung wird die Frage dienen, in welchem Verhältnis Gewißheit und Wahrheit stehen. Daß dieses Problem Wittgenstein beschäftigte und irritierte, zeigt sich in den folgenden Bemerkungen: "Die Begründung aber [...] kommt zu e i n e m Ende; - das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar einleuchten, also eine Art Sehen unsrerseits, sondern unser Handeln, welches a m Grunde des Sprachspiels liegt" {OG 204). "Wenn das Wahre das Begründete ist, dann ist der Grund nicht wahr, noch falsch" (Í7G 205). "Wenn Einer uns fragte »Aber ist das wahrl«, könnten wir ihm sagen »Ja«; und w e n n er Gründe verlangte, so könnten wir sagen »Ich kann dir keine G r ü n d e geben, aber weim du mehr lernst, wirst du auch dieser Meinung sein«" (OG 206). "Wenn nun alles für eine Hypothese, nichts gegen sie spricht - ist sie dann gewiß

Die Formulierung ">Wissen< und >Sicherheit< gehören zu verschiedenen Kategorien" wirft die Frage auf, an welche verschiedenen Kategorien Wittgenstein dabei gedacht haben mag (beide Begriffe gehören sicherlich in die eine Kategorie der epistemischen Begriffe). E n e naheliegende Interpretationsmöglichkeit ist natürlich die, daß er dabei Wissen als eine logische,, Sicherheit dagegen als eine psychologische Kategorie versteht. Dies wäre mit dem Text der Bemerkung OG 308 gut vereinbar, nur wäre es erstaunlich, wenn Wittgenstein damit nur eine neue antipsychologische Bemerkung formulieren wollte. Die Redeweise von der "logische(n) Rolle" scheint mir eher ein Indiz dafür zu sein, daß er an verschiedene logische, Kategorien innerhalb einer Sprachspiel-LogiA^ denkt, also jenseits einer Unterscheidung von logisch und psychologisch. — Die mir gegenüber einmal von André Maury mündlich geäußerte These, "zu verschiedenen Kategorien gehören" sei ein damals üblicher Jargon für "es sind verschiedene Kategorien" gewesen, ist vielleicht hilfreich, nur wird diese Inteφгelation dadurch in Frage gestellt, daß Wittgenstein eben jene Formulierung, ">Wissen< und >Sicheiheit< sind verschiedene Kategorien", im Manuskript - wie am Schriftbild zu sehen - zwar erst niederschreiben wollte, sie aber sofort durchstrich und zum oben zitierten Ausdruck modifizierte (MS 175, S. 37). - Mein Vorschlag, wie ein logisch^-kategorialer Unterschied expliziert werden köruite (er wird im folgenden erläutert): Wissen ist eine Kategorie im Spiel, Gewißheit ist eine Kategorie bei der Konstituierung dnes Spiels; oder auch: Wissen wird bestimmt im Spiel, Gewißheit bestimmt das Spiel.

3.7.1. Regeln und Normen - zum sprachlichen Ausdruck von Gewißheiten

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wahr? Man kann sie s o bezeichnen. - Aber stimmt sie gewiß mit der Wirklichkeit, den Tatsachen, überein? - Mit dieser Frage bewegst du dich schon im Kreise" {ÜG 191).

All diese Formulierungen sollen im weiteren Verlauf dieser Arbeit erklärt werden. Als Beispiele für Gewißheiten, mit deren Hilfe ich diese Problematik untersuchen werde, sollen mir auch weiterhin die Sätze "Das ist eine Hand" und "Die Erde ist rund" dienen. Ich beginne die Untersuchung damit, daß ich die Frage stelle, ob der Satz "Das ist eine Hand" ein wahrer Satz sein kann. Eine naheliegende Antwort ist natürlich: "Ja". Wenn der Sprecher des Satzes (aus welchen sich aus einem situativen Kontext ergebenen Gründen auch immer) auf etwas deutet, von dem alle kompetenten Sprecher des Deutschen bei Kenntnis der Umstände sagen würden, es sei eine Hand, dann ist "Das ist eine Hand" ein wahrer Satz. Zweifellos kann dieser Satz die Funktion einer Mitteilung übernehmen: "Das ist eine Hand" kann zum Beispiel eine Äußerung eines Lehrers im Kurs Deutsch als Fremdsprache sein, mit der das Wort "Hand" erklärt werden soll. Der Satz kann auch nach einem Unfall, bei dem eine Hand verstümmelt wurde, eine Mitteilung an einen Arzt sein (s. VG 460). Femer kann der Satz einen Ausruf des Erstaunens darstellen, wenn man etwa beim Graben im Garten auf eine menschliche Hand stößt. Dies sind nur ein paar Beispiele für leicht vorstellbare, normale Umstände, in denen der Satz "Das ist eine Hand" als ein wahrer Satz sinnvoll bzw. korrekt verwendet werden kann. Mit anderen Worten: Mit dem Satz "Das ist eine Hand" kann ein knowledgeclaim, mithin eine Art Wissen, ausgedrückt werden. Ein syntaktischmorphologisch wohlgeformter Satz einer natürlichen Sprache ist demnach nicht von vornherein philosophisch verdächtig oder privilegiert, nur weil er ungewöhnlich klingen mag. Ob ein Satz aus philosophischer Sicht verdächtig oder privilegiert ist, liegt allein an der Funktion, die er im Sprachspiel einnimmt oder einnehmen soll.' Es sind freilich auch

Dies gilt auch für den Satz "Ich weiß, daß ich ein Mensch bin". Der Satz selbst ist nicht ungewöhnlich, auch wenn es ein wenig schwer ist, sich ihn als eine sinnvolle Mittälung vorzustellen. Aber wanim sollte jemand am Telefon nicht sagen, "Ich weiß (doch wohl), daß ich ein Mensch bin - hier spricht ganz bestimmt kein Anrufbeantworter!" "Ich weiß, daß ich ein Mensch bin" kann man auch unter bestimmten Umständen als Witz äußem (vgl. OG 463), und der Witz besteht eben darin, etwas Selbstverständliches in Form einer informativen Mitteilung zu artikulieren. — Hiermit kritisiere ich Wittgensteins Meinung, die er in (7С 4 äußert, allerdings wohl auch in seinem Sinne, denn die Bemerkung OG 463 scheint mir eine Selbstkorrektur zu sein.

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3. Zur Struktur unseres Wissens

Umstände denkbar, in denen Irrtümer bei der Äußerung dieses Satzes auftreten, so daß auch ein Zweifel an der Wahrheit der Äußerung sinnvoll möglich sein kann:' Ein Schüler im Deutsch-Kurs mag die Vokabeln nicht richtig gelernt haben, er zeigt auf seinen Fuß und sagt "Das ist eine Hand". Oder jemand gräbt im Garten und schreit plötzlich "Das ist eine Hand", aber es stellt sich doch nur als ein eigenartig geformtes Schaumstoffteil heraus. Begründungsstrategien für den knowledge-claim "Das ist eine Hand" wären in dem ersten Beispiel Verweise auf den entsprechenden Wörterbuch-Eintrag, oder in dem zweiten Beispiel die schlichte Aufforderung "Schau näher hin!" (ÜG 3; vgl. ÜG 19). - Dies alles sind jedoch eher langweilige Erinnerungen (vgl. PU 1270 an die Möglichkeiten unseres Sprachgebrauchs. Interessanter ist es jedoch, zu untersuchen, inwiefern "Das ist eine Hand" als eine Gewißheit nicht sinnvoll bezweifelt werden kann, wo ein Irrtum logisch^ ausgeschlossen ist {ÜG 21), und wo der Satz eben nicht weiter begründet werden kann. "Ich gehe zum Arzt, zeige Uim meine Hand und sage »Das ist eine Hand, nicht ...; ich habe sie mir verletzt etc. etc.« Mache ich da nur eine überflüssige Mitteilung? [...] Ja, wenn es einem Zweifel unterliegt, >daß das eine Hand ist1 m< heißt", beschreibt nicht den Stab, sondern gibt die Funktion dieses Stabes an. Eine solche philosophische Verwirrung kann sich im Sprachgebrauch zeigen. So sagte mir einmal ein philosophierender Mathematiker "Das Urmeter ist 1 m lang, denn es paßt auf sich selbst" ("Sieh, wie hoch die Wellen der Sprache hier gehen!" ÇPO 194)). Die Verwirrung besteht darin, dem Urmeter eigenartige Eigenschaften wie die des auf-sich-selbst-Passens zuzuschreiben, wo doch nur zwei verschiedene, aber ganz gewöhnliche Rollen zu unterscheiden sind: Mit dem Urmeter zu messen ist halt eine andere Praxis als die, das Urmeter selbst (wie einen unbekannten Stab) zu beschreiben. "Es kann nicht etwas zugleich Maß und Gemessenes sein" (BGM, S. 53 - Randbemerkung).

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3. Zur Struktur unseres Wissens

Man könnte provokativ sogar hinzufügen: Eine definierende Norm hat gar keine Länge - und insofern kann man ohne einen Kategorienfehler zu begehen von ihr weder sagen, sie sei 1 m lang, noch, sie sei nicht 1 m lang. Hier aber ergibt sich noch ein weiterer wichtiger Punkt: Der Gegenstand mit dem Namen "Urmeter" ist auch eine Norm, die zusätzlich zur Definition einer Längeneinheit die Referenz für die metrische Längenmessung festlegt, das heißt, das Urmeter zeigt auch die Bedingungen an, die in unserer Wirklichkeit erfüllt sein müssen, damit man sagen katUi, dieser oder jener Gegenstand sei 1 m lang' (auf dieses Problem komme ich in den Kapiteln 3.8.f zurück). In diesem Sinne von verschiedenen Rollen eines Satzes zu sprechen, sollte jetzt nicht mehr allzu viel Erstaunen hervorrufen: "Unsere >Erfahrungssätze< bilden nicht eine homogene Masse" (ÜG 213). Der Satz "Das ist eine Hand" jedenfalls kann auch unterschiedliche Rollen übernehmen: Er kann mitteilend deskriptiv sein, indem er jenen Gegenstand dort als Hand identifiziert; er kann ein Sprachspiel konstituierend normativ sein, wenn der Lehrer im Deutsch-Kurs seinen Schülem vorschreibt, den Vorderteil eines Arms mit "Hand" zu bezeichnen; und er kann (und das ist philosophisch am interessantesten) epistemischnormativ sein, wenn er so etwas wie diesen Ausschnitt der Welt mit "Hand" bezeichnet und insofern die Referenz von Sprache (im Falle des Wortes "Hand") zur Welt herstellt und in diesem Sinne Wahrheit determiniert (s. Kapitel 3.9.2.).^ Verschiedene Rollen können aber auch bei einer Äußerung in einem Sprachspiel vorliegen, etwa wenn der Lehrer im Deutsch-Kurs im Rahmen eines Rollenspiels situationsadäquat mitteilt: "Das ist eine Hand." Gemäß des Rollenspiels mag dies eine Mitteilung (also eine deskriptive Verwendung von Sprache) sein, doch der Lehrer mag dabei auch intendieren, seinen Schülem damit die Bedeutung des Wortes "Hand" zu lehren.^ "Man könnte also Moore recht geben, wenn man ihn so deutet, daß ein Satz, der sagt, da sei ein physikalischer Gegenstand, eine ähnliche logische Stellung haben kann wie einer, der sagt, da sei ein roter Reck" (OG 53). "Ich will sagen: Wir verwenden Urteile als Prinzip(ien) des Urteilens" (OG 124).'*

s. Kripke 1972, S. 55. Diese Erörterung soll auch als Kritik an Wittgensteins Bemerkung ÜG 10 verstanden werden. Dies mag zur Gmndlage einer Interpretation von OG 350+352f genügen. Auf verschiedene Rollen von Sätzen im Sprachspiel spielt auch OG 87 an.

3.7.2. Logische, Erläuterungen: Axiome, das Urmeter, GewiUheiten

213

"[...] Aber dies ist richtig, daß der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfxmg behandelt werden kann" (OG 98).

Das bedeutet aber auch, daß man einem Satz - genauer: einem Satzzeichen (wie "p") oder Satzsymbol - nicht allein anhand seiner morphologisch-syntaktischen Form ansehen können muß, welche Rolle er im Sprachspiel einnimmt' Seine Rolle wird im allgemeinen erst aus seiner Verwendung im Sprachspiel oder aus seinem Status gemäß der Logik^ des jeweiligen Sprachspiels ersichtlich^ (sofern man als Beobachter das Sprachspiel versteht). "Damit, daß ein Satz von der Form einer Mitteilung eine Verwendung hat, ist noch nichts über die Art seiner Verwendung gesagt" (BF, S. 110 = LS II, S. 78). "Aber müßte man dann nicht sagen, daß es keine scharfe Grenze gibt zwischen Sätzen der Lxjgik und Erfahrungssätzen? Die Unscharfe ist eben die der Grenze zwischen Regel und Erfahnmgssatz" (OG 319; vgl. BGM, S. 356). "Ich will sagen: Sätze von der Form der Erfahrungssätze und nicht nur Sätze der Logik gehören zum Fundament alles Operierens mit Gedanken (mit der Sprache)" (Í7G401; vgl. PU 392). "Sätze werden oft an der Grenze von Logik und Empirie gebraucht, so daß ihr Sinn über die Grenze hin und her wechselt und sie bald als Ausdruck einer Norm, bald als Ausdruck einer Erfahrung gelten. (Deim es ist ja nicht eine psychische Begleiterscheinung - so stellt man sich den )Gedanken< vor -, sondern die Verwendung, die den logischen vom Erfahrungssatz unterscheidet" (BF, S. 20 = BF, S. 44).

Diese Betrachtung hat freilich auch Auswirkungen auf die Möglichkeit des Zweifeins, etc. "Es ist nämlich nicht wahr, daß der Irrtum vom Planeten zu meiner eigenen Hand nur immer unwahrscheinlicher werde. Sondern er ist an einer Stelle auch nicht mehr denkbar" (OG 54). " Es gibt Fälle, in denen der Zweifel unvernünftig ist, andre aber, in denen er logisch unmöglich scheint. Und zwischen ihnen scheint es keine klare Grenze zu geben" (OG 454).

Im wissenschaftlich-technischen Kontext seiner Zeit war es für Wittgenstein logisch,, unmöglich, sirmvoll anzunehmen, jemals auf dem Mond gewesen zu sein (z.B. ÜG 108, III). Eigentlich ist es für ihn auch

Ich behaupte nicht, daß dies von allen Sätzen gilt; vgl. ÜG 321. Erst vor dem Hintergrand (der Logik,) eines Sprachspiels kann ein Satz die Rolle einer Gewißheit einnehmen. In diesem Sinne veistehe ich Wittgensteins Bemerkung: "Ich bin auf dem Boden meiner Obeizeugungen angelangt. [Absatz] Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen" (OC 248).

214

3. Zur Struktur unseres Wissens

logisch^ ausgeschlossen, daß er sich als Europäer, wäre er tatsächlich einmal in China gewesen, nicht daran erinnern würde (z.B. ÜG I I I , 419). Aber es lassen sich natürlich Möglichkeiten ausdenken, daß er dort war, sich aber nicht mehr daran erinnern kann (Amnesie wäre eine Möglichkeit). Logisch^ gewiß war für Wittgenstein, daß er sich zum Zeitpunkt der späteren Notizen von Über Gewißheit in England aufhielt {ÜG 420f), doch der Zweifel daran, ob er jemals in diesem oder jenem Stadtteil von London gewesen ist, ist unter Umständen sinnvoll (vielleicht ist man einmal mit dem Taxi durchgefahren?). Das heißt, die Form der Frage "War ich einmal in X?" sagt noch nichts über den logischen^ Sinn oder den logischen^ Status dieser Frage aus - 30 Jahre nach Wittgensteins Notierungen hat eben die Frage "War ich einmal auf dem Mond?" einen anderen Status - aber z.B. "War ich einmal auf der Sonne?" ist für uns eine unsinnige, vielleicht sogar schwachsinnige Frage.' Aufgrund dieser Betrachtungen sollte es sich ein Philosoph zur Maxime machen, nicht isolierte Sätze, sondern nur Sätze im Kontext einer Praxis zu analysieren.^

3.8. Erwerb des Wissens II: Primitive und elaborierte Sprachspiele Die im vorigen Kapitel eingeführte Redeweise von den epistemischen Normen macht es notwenig, sich noch einmal mit dem Problem des Wissenserwerbs zu beschäftigen - freilich nach wie vor mit der Absicht, vor allem die Diskussion über die Gewißheiten als epislemische Normen fortzusetzen. Ich werde hier insbesondere auf die Problematik der Referenz von sprachlichen Ausdrücken eingehen.

3.8.1. Die Fundamental-Ostension Ich habe bereits in Kapitel 3.4. darauf hingewiesen, daß nach Wittgenstein hinsichtlich des Wissenserwerbs Erklärungen von sprachlichen

Jedenfalls, wenn diese Frage unter normalen Umständen im wörtlichen und nicht im metaphorischen oder fiktiven Sinne (z.B. in einer quasi-religiösen Erzählung oder in einem Science-Fiction-Roman) gebraucht wird. OG 347, 350, 355, 393. 406f. 413, 463-465, und öfter.

3.8.1. Die Fundamental-Ostension

215

Ausdrücken allein nicht ausreichend sind, sondern daß es auch einiger Anwendungsbeispiele im Verlauf der Abrichtung bedarf (vgl. ÜG 139; LS I 348; PU 198). Dieser Aspekt soll nunmehr bei deskriptiven Sprachspielen untersucht werden. Ich verstehe darunter Sprachspiele, in denen Bezug auf eine Außenwelt genommen wird, in denen (unter anderem) die Welt mittels sprachlicher Ausdrücke beschrieben werden kann. Meine These lautet: Ein Teil jener Beispiele, die bei der Abrichtung auf deskriptive Sprachspiele notwendig sind, sind epistemische Normen bzw. Gewißheiten (wie z.B. "Das ist eine Hand"). Denn diese Normen sind es, die bei deskriptiven Sprachspielen die Relation zwischen Sprache und Welt konstituieren, die also die Referenz bzw. die Übereinstimmung^ einer Sprachspiel-Logik^ regulieren. Wesentlicher Bestandteil der Abrichtung sind demnach epistemische Normen wie "Das ist eine Hand". Sie werden beim Wissenserwerb aufgrund einer, wie ich es nennen möchte, Fundamental-Ostension erlernt.' Unter "Fundamental-Ostension" ist nun nicht zu verstehen (und das ist nur eine Erinnerung an das in Kapitel 3.4. bereits Ausgeführte), daß etwa ein Erwachsener vor einem Kind steht und es, begleitet von entsprechenden Gesten des Zeigens, dadurch abzurichten versucht, daß er (mit scharfer, bestimmter Stimme) sagt: "Das ist eine Hand!", "Das ist ein Buch!", "Das ist ein Sessel!", etc. Diese realitätsfeme Vorstellung war ja bereits verworfen worden: "Das Kind lernt nicht, daß e s Bücher gibt, daß es Sessel gibt, etc. etc., sondern es lernt Bücher holen, sich auf Sessel (zu) setzen, etc." (OG 476).

Sprache wird nicht durch einen rationalen Akt erworben, der Sprachbzw. Wissenserwerb beruht nicht auf einem Wissen (ÜG 475, 477). Die Fähigkeit zum Wissenserwerb ist angeboren, das heißt, es ist die Fähigkeit angeboren, regelmäßige Verfialtensformen der sozialen Umwelt zu übernehmen. Was allerdings nicht angeboren ist, ist die Semantik einer Sprache - vor allem ist die Referenz von einigen der zu erlernenden sprachlichen Ausdrücke nicht genetisch bestimmt. Als Faktum anzuerkennen ist jedoch, daß ein Kind in spielerischer Auseinandersetzung mit seiner sozialen wie auch dinglichen Umwelt etwa das Sitzen in

Die Idee zu dieser Konzeption entwickelte ich nach einer Lektüre von Avium Stroits Ausführungen über "primordial ostension" in seinem Aufsatz Primordial Knowledge and Rationality (Stroll 1982).

216

3. Zur Struktur unseres Wissens

Sesseln einerseits und das Bezeichnen des Sessels mit "Sessel" andererseits zu erlernen vermag (sofern es in einer deutschsprachigen Umgebung aufwächst). In dieser Weise erwirbt es die semantische Kompetenz (d.i. die Beherrschung der Referenz) einiger fundamentaler sprachlicher Ausdrücke wie etwa "Sessel", "Hand", "Buch".' "Wie haben wir detm das Wort »Pflanze« verstehen gelernt? Wenn ich davon absehe, daß wir vielleicht eine Definition des Begriffs, m der Botanik etwa, gelernt haben, die dann auch nur in der Botanik eine Rolle spielt, so ist es klar, daß wir die Bedeutung des Wortes durch Beispiele gelernt haben" (PG, S. 117f).

Die Fundamental-Ostension ist demnach kein hinweisendes Definieren (von z.B. wissenschaftlichen Begriffen), sondern ein "hinweisendes Lehren" (PU 6), d.i. ein Lehren der Bedeutung fundamentaler sprachlicher Ausdrücke mit in Handlungskontexten eingebetteten Hinweisen auf die Welt zum Zwecke des Erwerbs von Handlungskompetenzen. "Die Kinder werden dazu erzogen, diese Tätigkeiten zu verrichten, diese Wörter dabei zu gebrauchen, und so auf die Worte des Anderen zu reagieren. Ein wichtiger Teil der Abrichtxmg wird darin bestehen, daß der Lehrende auf die Gegenstände weist, die Aufmerksamkeit des Kindes auf sie lenkt, und dabei ein Wort ausspricht; z.B. das Wort »Platte« beim Vorzeigen dieser Form" (PU 6).

Diese Erläuterung soll zur Entgegnung zu dem sich vielleicht aufdrängenden Einwand dienen, Wittgenstein habe in den Philosophischen Untersuchungen die Ostension doch als Bestandteil der "hinweisenden Erklärung" als einen vollständigen, Sprachspiel-konstituierenden Akt zurückgewiesen (vgl. PU 27-38). In der Tat, die Ostension, verstanden als eine Möglichkeit zur Definition von Wörtern oder Ausdrücken, setzt, um erfolgreich durchgeführt werden zu können, schon die Beherrschung von Sprachspielen, in denen die Ostension ein sinnvoller Zug im Spiel ist, voraus.^ Das Zeigen auf Gegenstände allein vermag daher nicht zu einer vollständigen Konstitution eines Sprachspiels dienen. Eine hin-

Was an diesen Ausdrücken (im Gegensatz zu "Elektron" oder "Bruttosozialprodukt") fundamental ist, wird im nächsten Kapitel erläutert werden. In PU 27 formuliert Wittgenstein es sogar so, daß die liinweisende Erklärung selbst "ein eigenes Sprachspiel" ist, zu dessen kompetentem Spielen eine Abrichtung oder Erziehung nötig ist. — Wittgenstein geht es in Pt/ 27-38 nicht darum, die Ostension als solche zu desavouieren. Ihm geht es vielmehr darum, gegen Russell und gegen den Tractatus, darauf aufmerksam zu machen, daß die Ostension allein kein philosophisch ausgezeichneter, weil eine Sprache konstituierender Akt ist.

3.8.1. Die Fundamental-Ostension

217

weisende Erklärung ist deshalb eine Handlungsweise in einem Sprachspiel wie andere Handlungsweisen auch. "Dieses Braun ist Sepia" ist demnach eine Art Spielzug, der voraussetzt, daß der Lernende von "Sepia" bereits weiß, daß Braun eine Farbe ist, daß Farben unterschiedliche Fatbtönungen haben können, und daß das Zeigen im Rahmen genau dieses Spiels bedeutet, auf eine bestimmte Tönung von Braun zu verweisen (PU 300- ~ So aber lernen Kleinkinder die Referenz von (Färb-) Wörtern im Rahmen einer Fundamental-Ostension nicht. Sie sind zumindest am Anfang für den Spielzug einer hinweisenden Erklärung noch völlig inkompetent. "[...] das Sprachspiel ist eben noch sehr einfach und die hinweisende Erklärung spielt in ihm eine andere Rolle, als in entwickelteren Sprachspielen. (Das Kind kann z.B. noch nicht fragen »wie heißt das?«)" (PG, S. 62; vgl. PU 6).

Die Fundamental-Ostension ist also keine bewußte, auf Vernunft oder Kompetenz beruhende Handlung, sie ist kein intentionaler Akt: "Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen" (ÜG 475). Wittgenstein setzt jene oben zitierte Bemerkung, wir hätten das Wort "Pflanze" anhand von Beispielen gelernt, in folgender Weise fort: "Und wenn wir nun von hypothetischen Dispositionen absehen, so stehen diese Beispiele für sich selbst. Hypothesen über das Lernen und Gebrauchen der Sprache und kausale Zusammenhänge interessieren uns ja nicht" (PG, S. 118).

Das heißt, daß das, was da unter Umständen biologisch-psychologisch Beschreibbares beim Sprach- bzw. Wissenserwerb erfolgt, uns in der Philosophie, die eine Untersuchung der Begriffe ist, nicht oder nur wenig interessiert: "Es ist der Ausdruck einer unrichtigen Auffassung, wenn man sagt: die Verbindung zwischen Name und Gegenstand sei eine psychologische" (PG, S. 97).

Wittgenstein unterstreicht damit wieder einmal seinen Anti-Psychologismus hinsichtlich philosophischer Probleme (s. Kapitel 2.2.). Sicherlich lassen sich Ausdrücke wie "Hand" oder "Sessel" auch nicht-ostentativ erklären: "Hand" zum Beispiel durch die Formulierung "der vorderste Teil des menschlichen Arms". Aber man erinnere sich hierbei an Wittgensteins Dictum: "Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende" {PU 1). Das heißt in diesem Fall: Die gegebene, mögliche Erklärung des Wortes "Hand" setzte das Verstehen des Wortes "Arm" voraus. Und wenn dieses Wort nicht verstanden wird, dann muß dafür eine

218

3. Zur Struktur unseres Wissens

weitere Erklärung gegeben werden, etc. - solche Erklärungen mögen zwar konsistent sein, doch sie hängen allesamt in der Luft {PV 87, 198). Soll eine Sprache jedoch deskriptiv sein und die Welt beschreiben können, so müssen zumindest einige ihrer Ausdrücke aus ihr heraus auf etwas Sprachextemes verweisen können, denn der Witz von deskriptiven Sprachspielen (im allgemeinen)' ist es ja gerade, daß in ihnen über etwas Sprachextemes berichtet werden kann, daß z.B. in ihnen Mitteilungen über die Welt gemacht werden. Das aber bedeutet, daß nicht alle Ausdrücke eines deskriptiven Sprachspiels allein durch sprachinteme Erklärungen in ihrer Bedeutung erfaßbar sind (sie also nicht ausschließlich sprachlich definiert oder in ihrem Gebrauch beschrieben werden können). Einige Ausdrücke zumindest müßten dadurch erklärt werden, daß man auf ihren Sprach-extemen Bezug zeigt, daß man auf ihre Referenz verweist. Und das hat auch Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen nicht geleugnet: "Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes »Bedeutung« - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt" (PU 43). "Die Obereinstimmung von Gedanken und Wirklichkeit liegt darin, daß [...], wenn ich Einem das Wort »rot« im Satze »das ist nicht rot« erklären will, ich dazu auf etwas Rotes zeige" (PG, S. 163; vgl. auch PU 610).

Im Rahmen der Entwicklung von Handlungskompetenzen des Kleinkindes werden also bei der Abrichtung auch die sprachextemen Bezüge einiger deskriptiver Ausdrücke (wie z.B. "Hand", "Sessel", etc.), die in deskriptiven Sprachspielen verwendet werden, erworben.^ Damit wird aber nicht behauptet, daß es ganz bestimmte Ausdrücke in einer Sprache geben muß, die für jeden ihrer Muttersprachler qua Fundamental-Ostension zu erwerben sind. Die durch Fundamental-Ostension erworbenen Ausdrücke können für jeden von ihnen verschieden sein. Denn welche Ausdrücke es sind, die die Referenz eines deskriptiven Sprachspiels herstellen und damit zu den semantisch grundlegenden Ausdrücken

Mit Ausnahme linguistischer imd mathematisch-logischer Sprachspiele. Ein von Geburt an Blinder kann zwar die inteme Farbenlogik erlernen und korrekt "Grün ist die Komplementärfarbe von Rot" behaupten. Er wird aber unter normalen Umständen nie selbständig kompetent in einer für ihn neuen Umgebimg "Das ist rot" sagen können.

3.8.2. Primitive und elaborierte Sprachspiele

219

werden, liegt großteils an der Zufälligkeit der jeweiligen Erziehung. Ob ein Kind also erst das Wort "rot" lernt und dann das Wort "Blut" allein mittels einer Erklärung (ohne Ostension) wie z.B. durch "Blut ist die rote Flüssigkeit, die bei einer Wunde aus dem Körper tritt", oder ob es erst "Blut" gelernt hat und dann "rot" mit "die Farbe des Blutes" erklärt bekommt (vgl. ÜG 542, 544), liegt allein an den jeweiligen Umständen. Noch einmal: Es gibt keine bestimmten Wörter einer deskriptiven Sprache, die schlichtweg das Ende der Erklärungen darstellen müssen.' Und daß sich alle Wörter durch andere Wörter erklären lassen, ist jedenfalls kein Argument, um das Problem der Referenz auszuklanunem (s. Kapitel 3.9.2.).^ Jene referierenden Wörter sind für deskriptive Sprachspiele fundamental, denn sie sind eine Art conditio sine qua non für deskriptive Sprachspiele. Es sollte damit trotz des Verweises auf den Spracherwerb deutlich geworden sein, daß es sich nicht nur um eine historische bzw. chronologische Fundamentalität handelt, sondern insbesondere auch um eine logisch^-systematische Fundamentalität. Derm die Bedeutung einiger Ausdrücke in deskriptiven Sprachspielen kann nur mittels einer Fundamental-Ostension erlernt werden. Philosophisch relevant ist also, daß es zur Logik^ der deskriptiven Sprachspiele gehört, daß zumindest einige Ausdrücke in ihnen Referenz haben - sie gehören zu den Gewißheiten bzw. Normen dieser Sprachspiele. Mit anderen Worten: Die "eigentümliche logische Rolle" (ÜG 136) von Sätzen wie "Das ist eine Hand" als Norm kann darin bestehen, die Referenz des Ausdrucks "Hand" festzulegen.

3.8.2. Primitive und elaborierte Sprachspiele Die Ausdrücke "Hand" und "Elektron" sind beides referentielle Ausdrücke in dem Sinn, daß sie beide in deskriptiven Sprachspielen in referierender Weise verwendet werden können. Doch während "Hand" gleichsam direkt mittels einer Ostension erklärt werden kann, ist dies bei

Es gibt insofern keine philosophische Auszeichnung bestimmter Wörter einer Sprache, wie sie etwa im Tractatus, wo die elementaren Namen eine solche Funktion übernahmen, bestand. Wittgenstein schreibt nicht, jedes Wort lasse sich durch andere Wörter erklären, sondern "jeder Satz läßt sich aus anderen herleiten" (ßC 1); er bezieht dies aber auch auf den Satz "Das ist eine Hand".

220

3. Zur Struktur unseres Wissens

"Elektron" nicht möglich. Ausdrücke wie "Elektron" gehören vielmehr Sprachspielen an, die gewissermaßen auf anderen aufbauen und (unter anderem) deren Referenz als bereits bekannt voraussetzen.' Um dieses Phänomen, das auch für die Struktur von Weltbildern und die Möglichkeit ihrer Veränderungen relevant ist, begrifflich zu fassen, werde ich hier die Unterscheidung von primitiven und elaborietten Sprachspielen einführen.^ Bei Wittgenstein findet sich diese Unterscheidung nicht explizit, doch gibt es mehrere Textstellen (von denen einige im weiteren Verlauf dieses Kapitels angeführt werden), die nahelegen, daß eine solche Unterscheidung auch seiner Meinung nach sinnvoll durchführbar ist. Der Sprach- bzw. Wissenserwerb eines Kindes wurde in Kapitel 3.4. beschrieben als eine Ausbildung, die auf instinktivem Verhalten beruht. Dabei sich entwickelnde fundamentale oder primitive Formen von Sprachspielen (vgl. PV 5, LS I 700), für die keine Rechtfertigung möglich ist, sollen als "primitive Sprachspiele" bezeichnet werden: "Es ist [...] das alltägliche Sprachspiel hinzunehmen [...]. Das primitive Sprachspiel, das dem Kind beigebracht wird, bedarf keiner Rechtfertigung; die Versuche der Rechtfertigung bedürfen der Zurückweisung" (PU Π, S. 529f). "Das primitive, uns ursprünglich beigebrachte Sprachspiel bedarf keiner Rechtfertigung [...]" (BPP Π 453).

In diesen Textstellen treten insbesondere zwei Aspekte zutage, die für die von mir intendierte Verwendung von "primitiv" wesentlich sind:^ (1) "Primitiv" bedeutet soviel wie "fundamental" oder "ursprünglich" (PU 244), "nicht begründet" oder "nicht begründbar". Dazu findet sich auch ein Beleg aus Ober Gewißheit (vgl. auch LS I 789, 828, 899): "Ich will den Menschen hier als Tier betrachten; als ein primitives Wesen, dem man zwar Instinkt, aber nicht Raisonnement zutraut. Als ein Wesen in einem primitiven Zustande. Denn welche Logik für ein primitives Verständigungsmittel genügt, deren

Es handelt sich hieibei um dn sowohl logisches, als auch temporales "bereits". Die Idee, Sprachspiele gleichsam hierarchisch zu unterscheiden, übernahm ich aus Hintikka/Hintikka 1986, Kapitel 11. Ihre Unterscheidung von "primary and secondary languagegames" ist jedoch von meiner Unterscheidung der primitiven und elaborietten Sprachspielen verschieden. - Auch Schulte deutet an, daß primitive Sprachspiele von weniger fundamentalen unterschieden werden sollten (Schulte 1987, S. 27, 31). "Primitiv" allein in dem Siime von "einfach", wie etwa die Sprache der Bauleute in PU 2 von Wittgenstein als primitiv charakterisiert wird, interessiert mich hier rucht.

3.8.2. Primitive und elaborierte Sprachspiele

221

brauchen wir uns nicht zu schämen. Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen" (OG 475).'

(2) "Primitiv" kann auch etwas Alltägliches sein, etwas, was jedes (gesunde) Mitglied einer Kultur- oder Sprachgemeinschaft, das eine Erziehung erfahren hat, beherrscht, und in dem jeder (auch ein Fremder) kompetent sein muß, wenn er in einer solchen Gemeinschaft einigermaßen reibungslos agieren will (vgl. LS I 299). "Das ist eine Hand" zum Beispiel ist ein Satz, der zu einem primitiven Sprachspiel gehören mag. Denn wer diesen Satz nicht versteht oder gebrauchen kann in seinen unterschiedlichen (alltäglichen)^ Verwendungen, der kann nicht als ein kompetenter Sprecher des Deutschen bezeichnet werden. Auch das Beherrschen der Reihe der natüriichen Zahlen ist für Wittgenstein Bestandteil eines primitiven Sprachspiels (PU 146). Beide Aspekte, unbegründet fundamental und alltäglich zu sein, sind charakteristisch für primitive Sprachspiele: "Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da - wie unser Leben" (OG 560).

Primitive Sprachspiele, die alle Mitglieder einer Gemeinschaft beherrschen, stellen das konstitutive Fundament der Tätigkeiten in dieser Gemeinschaft dar. Denn jemand, der sie als Erwachsener nicht beherrscht, gehört entweder einer anderen Gemeinschaft an oder gilt als geistig gestört, da er nicht in der Lage ist, die entsprechende Kompetenz zu entwickeln. Primitive Sprachspiele sind für alle Mitglieder der entsprechenden Gemeinschaft selbstverständlich, evident. "Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz [des Sprachspiels'l kommt zu einem Ende; - das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze als wahr einleuchten, [...] sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt" (OG 204).

Eine von Wittgenstein offen gelassene Variante lautet: "Ich will den Menschen als Tier betrachten. Als ein Wesen in einem primitiven Zustande" (MS 176, S. 35). Es gibt freilich auch nicht-alltägliche Verwendungen von "Das ist eine Hand": G. E. Moore etwa gebrauchte in seinen Philosophie-Vorlesungen diesen Satz mit einem nicht-alltäglichen Interesse (und dies würde auch deijenige tun, der mit angestrengt wichtigem Gesicht diesen Satz in dner Moore parodierenden Weise äußerte). Der Satz "Das ist eine Hand" allein ist nicht primitiv oder alltäglich - es kommt auf den Kontext seiner Verwendung an (s. Kapitel 3.7.2.). So eine Variante im Manuskript (MS 175, S. 5).

222

3. Zur Struktur unseres Wissens

Erweiterungen von primitiven Sprachspielen nenne ich "elaborierte Sprachspiele"} Paradigmatische Fälle elaborierter Sprachspiele sind akademische Disziplinen. Ich nenne sie "elaboriert", weil man im allgemeinen eine weitergehende Erziehung bzw. einen extensiveren Unterricht benötigt, um sie zu beherrschen. Es wird - insbesondere, was die akademischen Disziplinen betrifft - daher nicht mehr erwartet, daß alle Mitglieder einer Gemeinschaft in elaborierten Sprachspielen kompetent sind. Die Unterscheidung von primitiven und elaborierten Sprachspielen ist demnach unscharf (von Fall zu Fall eine strikte Grenze zu ziehen wäre dezisionistisch wohl möglich; sie würde sich nach den jeweiligen Absichten richten, weshalb eine solche Unterscheidung von Interesse ist). In diesem Sinne formuliert auch Wittgenstein: "[...] das Sprachspiel ist eben noch sehr einfach und die hinweisende Erklärung spielt in ihm eine andere Rolle, als in entwickelteren Sprachspielen. [...] Aber es ist keine scharfe Grenze zwischen primitiven Formen und den komplizierteren" (PG, S. 62). "[...] we recognize in these simple [or primitive] processes forms of language not separated by a break from more complicated ones. We see that we can build up the complicated forms from the primitive ones by gradually adding new forms" (BB, S. 17). "1st es nicht schwer zu unterscheiden zwischen den Fällen, in denen ich mich nicht, und solchen, worin ich mich schwerlich irren kann? Ist es immer klar, zu welcher Art ein Fall gehört? Ich glaube nicht" (OG 673).

Man kann daher sicherlich sagen, daß sich unterschiedliche Arten oder Grade der Elaboriertheit angeben lassen (vgl. ÜG 593). Schon der Akt des Verstellens setzt eine entwickeltere Handlungskompetenz (ein Wissen oder Können) voraus: "Ist an der Möglichkeit des primitiven und des komplizierteren Sprachspieles etwas verwunderlich? "Das Kind weiß noch zu wenig, um sich zu verstellen." Ist das richtig? [...] Erst in einem verhältnismäßig komplizierten Lebensmuster reden wir von Verstellung" (LS Π, S. 39f; vgl. PU II, S. 577; LS I 946).

Dieser Ausdruck findet sich meines Wissens nach nirgendwo in Wittgensteins Aufzeichnungen. In PU 282 spricht Wittgenstein bei einem Gebrauch eines Wortes im übertragenen Sinne von einer sekundären Verwendung; vgl. auch: "Man könnte hier von >primärer< und >sekundärer< Bedeutung eines Worts reden" (PU II, S. 557). Gemeinsam ist der sekundären Verwendung eines Wortes und dem elaborierten Sprachspiel, daß beides nicht als etwas Abgeleitetes oder tJbertragenes (PU II, S. 557) verstandedn werden soll. Es handelt sich vielmehr um eine andere Verwendung, um ein anderes Sprachspiel und um eine andere Logik,, (BB, S. 140; vgl. Diamond 1967, S. 191).

3.8.2. Primitive und elaborierte Sprachspiele

223

Gleiches gilt für Lügen, Heucheln {PU 249f) oder Reue-Zeigen (Z 518520 = BPP II 307-309). Auch die Handlungen des Behauptens (im Sinne von claiming knowledge) und des Zweifeins (und analog dazu wohl auch die des Begründens) sind ein Indikator für das Vorliegen eines elaborierten Sprachspiels (vgl. oben ÜG 673): "Das Kind, möchte ich sagen, lernt so und so reagieren; und wenn es das nun tut, so weiß es damit noch nichts. Das Wissen beginnt erst auf einer späteren Stufe" {OG 538). "Der Zweifel kann kein notwendiger Bestandteil des Spiels sein, ohne den das Spiel offenbar unvollständig und unrichtig ist. Denn es gibt in Deinem Spiel Kriterien für die Berechtigung des Zweifels nicht anders wie es Kriterien für sein Gegenteil gibt. Und das Spiel, welches den Zweifel einschließt, ist also nur ein komplizierteres, als eines, welches ihn nicht einschließt" {UW, S. 107).

Dementsprechend ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß man auch von unterschiedlichen Arten von Gewißheit oder Sicherheit sprechen kann: "Was ist das für eine Sicherheit, wenn sie darauf beruht, daß unsre Banken tatsächlich im allgemeinen nicht von allen ihren Kunden auf einmal Oberrannt werden; aber bankrott würden, wenn es doch geschähe?! Nun es ist eine andere Art von Sicherheit als die primitivere; aber es ist doch eine Sicherheit" (BGM, S. 401).

Auch wenn ich hier die Unterscheidung zwischen primitiven und elaborierten Sprachspielen wiederum hinsichtlich der Chronologie beim Wissenserwerb eingeführt habe, soll damit vor allem eine systematische Differenz betont werden. Primitive Sprachspiele werden systematisch bei der Praxis elaborierter Sprachspiele vorausgesetzt. Angenommen, man betrachtet die Beherrschung der Spielregeln des Schach, so wie sie im Regelwerk angegeben werden, als ein primitives Sprachspiel, dann kann man das Abwägen und Diskutieren taktischer Regeln als Ausübung eines elaborierten Sprachspiels verstehen. Das primitive Sprachspiel stellt eine Art Institution vor' dem elaborierten dar. Man kann deshalb die Logik^ eines elaborierten Sprachspiels nicht erwerben, ohne schon vorher in den Logiken^ der entsprechenden primitiven Sprachspiele kompetent zu sein. Beispiele für elaborierte Sprachspiele unserer Kulturgemeinschaft wären etwa Geographie oder Atomphysik - "Die Erde ist rund" mag als eine Gewißheit oder Norm des elaborierten Sprachspiels Geographie gelten, "Es gibt Elektronen" kann als Gewißheit der elaborierten Praxis

Es handelt sich dabei um ein sowohl logisches, als auch temporales "vor".

224

3. Zur Struktur unseres Wissens

Atomphysik betrachtet werden. Diese Normen oder Gewißheiten sind, im Gegensatz zu den Normen der primitiven Sprachspiele wie "Das ist eine Hand", nicht evident. Der Satz "Die Erde ist rund" jedenfalls ist nicht evident, und kaum jemand hat ihn jemals stichhaltig überprüft (es scheint mir sinnvoll zu sein, Gewißheiten von elaborierten Sprachspielen als überprüfbar' zu bezeichnen, im Gegensatz zu denen der primitiven Sprachspiele). Doch nur diejenigen, die den Satz "Die Erde ist rund" anerkennen (und das sind z.B. all diejenigen, die in der Schule erfolgreich Geographie gelernt haben), können an allen unseren mit Geographie zusammenhängenden Diskursen (etwa über die Flugrouten von Europa nach Australien) teilnehmen. Der Kreis derjenigen, die über Elektronen diskutieren können, ist freilich kleiner, denn dieses elaborierte Sprachspiel verfangt einen über den durchschnittlichen Ausbildungsstandard hinausgehenden, spezifizierteren Unterricht. Elaborierte diskursive Sprachspiele können verstanden werden als "Paradigmen" im Sinne Thomas Kuhns.^ Sie können sich im Veriauf der Geschichte einer Kultur verändern {ÜG 256). So kann man durchaus sagen, daß es vor 200 Jahren ein elaboriertes Sprachspiel gab (und das es heute nicht mehr gibt), in dem "Es gibt Phlogiston" als eine Norm bzw. als eine Gewißheit fungierte. -- Es bleibt zu untersuchen, wie das begrifflich möglich ist (es ist nicht nur eine Frage der Übereinstimmung^; s. Kapitel 3.9.2. und 4.1.).

3.8.3. Aspekt-Lemen Wissenschaftshistorisch korrekt ist folgende Feststellung hinsichtlich des Phänomens Verbrennung, das im Rahmen eines elaborierten diskursiven Sprachspiels, der Chemie, beschrieben werden kann: Das Phänomen der Verbrennung wurde im 18. Jahrhundert als eine Zu- oder Abnahme von Phlogiston gesehen, während heutige Chemiker es als eine Zu- oder Abnahme von Sauerstoff verstehen.' Mit anderen Worten: Ein- und

Elaborierte Normen wie "Die Erde ist rund" sind - im Unterschied zu primitiven Normen überprüfbar, sie haben einen Wahrheitsgrund (s. von Wright 1963, S. 105f), d.h. sie sind in anderen Sprachspielen verifízieibar. T. Kuhn. The Structure of Scientific Revolutions (1962). s. im Macmillan Dictionary of the History of Science (Bynum/Browne/Porter 1981, S. 72, 322f)·

3.8.3. Aspekt-Lemen

225

dasselbe Phänomen wurde bzw. wird aus unterschiedlichen Perspektiven bzw. als unterschiedliche Aspekte gesehen und - das führe ich hier jedoch nicht weiter aus - zu verschiedenen anderen Phänomenen, die in anderen Sprachspielen erfaßt wurden bzw. werden, in Beziehung gesetzt. Man kann das auch so ausdrücken: Das (chenusche) Weltbild mit Phlogiston ist verschieden von dem (chemischen) Weltbild mit Sauerstoff. Ich will hier nun keine Diskussion über die Vergleichbarkeit dieser beiden Sichtweisen des Phänomens der Verbrennung eröffnen (siehe dazu Kapitel 4.1.), sondern allein auf das Faktum verweisen, daß es solche unterschiedlichen Diskurse hinsichtlich eines Phänomens in der Geschichte auch nur einer Kultur gab bzw. gibt: So handelt(e) man eben. Natürlich hat niemand jemals Sauerstoff oder Phlogiston wirklich gesehen - die Termini "Sauerstoff" und "Phlogiston" sind vielmehr Bestandteil einer Reihe von elaboriert diskursiven Praktiken, die zu beherrschen meist eine relativ umfangreiche Erziehung erfordert. Man kann gemäß der in dieser Arbeit eingeführten Begrifflichkeit sicheriich sagen, daß die jeweiligen Studenten dazu abgerichtet wurden bzw. werden, das Phänomen Verbrennung so zu sehen, daß entweder Phlogiston oder Sauerstoff darin involviert ist, d.h. sie haben am Ende eines erfolgreichen Unterrichts Kompetenzen für Praktiken erworben, in denen "Es gibt Phlogiston" bzw. "Es gibt Sauerstoff" als eine Norm fungieren kann. Das wiederum bedeutet, daß man von der Existenz des Phlogistons bzw. des Sauerstoffs ausgeht, weil es Praktiken gab bzw. gibt, in denen kompetente Mitglieder der jeweiligen Weltbild-Gemeinschaft in einem zentralen Bereich in ihren Urteilen übereinstimmen„^^,. Die Frage nach der Wahrheit der Sätze "Es gibt Phlogiston" bzw. "Es gibt Sauerstoff" wird insofern mit Hilfe des Kriteriums der Übereinstimmung„+M durch eine diskursive Praxis entschieden, nicht aber über eine direkt wahrnehmbare Übereinstimmung^ zwischen Satz und Tatsache, wie es demgegenüber beim Satz "Es gibt schwarze Schwäne" der Fall sein könnte. In diesem Sinne kann man auch sagen, daß wir heute beispielsweise von der Existenz von Elektronen überzeugt sind, weil wir diesbezüglich in der Praxis der Atomphysik übereinstimmen„+M' nicht aber, weil wir alle, wenn wir körmten, Elektronen allein mit Hilfe unserer Sinnesorgane wahrnehmen würden. Daß die Kompetenz für derartige, elaborierte Sprachspiele durch eine Erziehung erworben wird, die unter anderem bewirkt, ein Phänomen als etwas sehen zu können, was man unmittelbar, d.i. ohne den entsprechen-

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3. Zur Struktm unseres Wissens

den Unterricht, so nicht gesehen hätte, war mit Sicheriieit auch Wittgensteins Auffassung (vgl. Ζ 201, 387 = BPP II 707): "Ein Dreieck kann ja wirklich in einem Gemälde stehen, in einem anderen hängen, in einem dritten etwas Umgefallenes darstellen. - So zwar, daß ich, der Beschauer nicht sage »Das kann auch etwas Umgefallenes darstellen«, sondern »das Glas ist umgefallen und liegt in Scherben«. So reagieren wir auf das Bild. Könnte ich sagen, wie ein Bild beschaffen sein muß, um dies zu bewirken? Nein. Es gibt z.B. Malweisen, die mir nichts in dieser unmittelbaren Weise mitteilen, aber doch anderen Menschen. Ich glaube, daß Gewohnheit und Erziehung hier mitzureden haben" (PU Π, S. 531 = LS I 603f). "Denke nicht, daß unsere Begriffe die einzig möglichen, oder vernünftigen sind; wenn du dir ganz andere Tatsachen, als die, die uns ständig umgeben, vorstellst, so werden dir andere Begriffe als die unsem natürlich erscheinen" (BPP I 643; vgl. PU Π, S. 578). "Vergleiche einen Begriff mit einer Malweise: [...] Können wir nach Belieben eine wählen? (z.B. die der Ägypter)" (PU Π, S. 578; vgl. BPP Π 434).

Daß ein und dasselbe Gegebene unterschiedlich gesehen werden kann (hier geht es um das "Beherrschen einer Technik"; PU II, S. 544), war Wittgenstein spätestens durch seine Lektüre einiger gestaltpsychologischer Werke (insbesondere Köhlers Gestaltpsychology)^ bekannt. Wittgenstein nennt diese unterschiedlichen Sichtweisen "Aspekte" (PU II, S. 518), und die Veränderung einer Sichtweise einen "Aspektwechsel" (PU II, S. 522).^ Auf die Bekanntschaft mit der Gestaltpsychologie deuten auch die zahlreichen Illustrationen in den entsprechenden Aufzeichnungen hin, etwa jener weithin bekatmte Hasen-Enten-Kopf, der sich mal als Hase, mal als Ente sehen läßt (s. PU II, S. 520). Doch inwiefern sind solche wahmehmungspsychologischen Phänomene für die Philosophie von Interesse? Hilfreich ist dabei jene schon bekannte Unterscheidung von Grund und Ursache: Während ein Psychologe (wie etwa Köhler) sich für eine Verursachung im Nervensystem interessiert, interessiert sich ein Philosoph wie Wittgenstein eher für die begrifflichen Implikationen von Ausdrücken, die sich auf Wahrnehmungen beziehen, und die insofern in die Begriffsbildung involviert sind:

Köhler 1929. Daß das, was Kuhn als Paradigmenwechsel bezeichnet, von Wittgenstein als Wechsel eines Aspekts verstanden wird, ersieht man aus folgender Bemerkung: "Das eigentliche Verdienst eines Kopernikus oder Darwin war nicht die Entdeckung einer wahren Theorie, sondern eines frachtbaren neuen Aspekts" (ИВ, S. 475; s. auch BPP I 950).

3.8.3. Aspekt-Lemen

227

"»Die Erscheinung nimmt einen zuerst wunder, aber es wird gewiß eine physiologische Erklärung dafür gefunden werden.« Unser Problem ist kein kausales, sondern ein begriffliches" {PU Π, S. 535 = LS I 642). "Seine Ursachen interessieren den Psychologen. Uns interessiert der Begriff und seine Stellung in den Erfahrungsbegriffen" (PU Π, S. 518 = ¿ 5 1 4 3 4 0 . "Es läuft ein Hase über den Weg. Einer kennt ihn nicht und sagt: »Etwas Seltsames ist vorbeigesaust« und beschreibt nun die Erscheinung. Ein Anderer ruft »Ein Hase!« und kann ihn nicht so genau beschreiben. Und warum will ich nun dennoch sagen, daß der, der ihn erkennt, ihn anders sieht, als der ihn nicht erkennt? [...] Es ist eine Frage der Begriffsbestimmung" (LS I 574/579). "[...] das ist natürlich nicht einfach eine Frage der Physiologie. Das Physiologische ist hier em Symbol für das Logische,.," {PU Π, S. 546).

Der Hinweis auf die Erziehung zur Kompetenz bei elaborierten Sprachspielen, etwas als etwas zu sehen, ist freilich auch nur ein Verweis auf eine (kausale) Ursache, aber nicht auf einen (rechtfertigenden) Grund. In bezug auf elaborierte Sprachspiele wie Chemie oder bei Maltechniken halte ich dies auch für sehr plausibel. Aber gilt dies auch bei primitiven Sprachspielen, in denen Wörter wie "Hase" oder "Hand" (deskriptiv) verwendet werden? "Es ist [...] das alltägliche Sprachspiel hinzunehmen, und falsche Darstellungen sind als dies zu keimzeichnen. Das primitive Sprachspiel, das dem Kind beigebracht wird, bedarf keiner Rechtfertigung; die Versuche der Rechtfertigung bedürfen der Zurückweisung" {PU Π, S. 529f; vgl. BPP Π 453).

Demnach gibt es nach Wittgenstein keine Begründung dafür, dieses da als Hand (oder als Hase etc.) zu sehen, auch wenn die Ursache dafür, daß wir im Deutschen dazu "Hand" sagen, in der Abrichtung während unseres Sprach- bzw. Wissenserwerbs besteht {PU 6; Ζ 387). Diese Abrichtung ist effektiv: Ohne Überlegung, gleichsam als unmittelbare Reaktion rufen wir in entsprechenden Situationen z.B. "Ein Hase!" oder (aus Furcht) "Ein Löwe!" (LS I 589). Eine Philosophie, die wie die Wittgensteins nur beschreibend sein will (PV 109, 124; ÜG 189), kann dies nicht weiter erklären, derm es würden dafür metaphysisiche Aussagen darüber, wie die Welt wirklich ist und wie sie durch eine bestimmte Art von Begriffsbildung in der Sprache geformt wird, nötig sein (s.u.). "Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als >Urphänomene< sehen sollten. D.h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt" (PU 654).

228

3. Zur Struktur unseres Wissens

"Nicht um die Erklärung eines Sprachspiels durch unsre Erlebnisse handelt sich's, sondern um die Feststellung eines Sprachspiels" {PU 655).

Und eine solche Feststellung wäre eben, daß wir in unserer Lebensform im Deutschen eben dazu "Hand" sagen: "Das Hinzunehmende, Gegebene - könnte man sagen - seien Lebensformen" {PU II 572) bzw. "Tatsachen des Lebens" (BPP I 630). Doch so gelangt Wittgensteins Philosophie in eine Schwierigkeit. Betrachten wir eine Zeichnung jenes Hasen-Enten-Kopfes und sind uns dabei des möglichen Aspektwechsels bewußt, dann ist es sinnvoll, entweder "Ich sehe es jetzt als Hasen" oder "Ich sehe es jetzt als Ente" zu sagen. Aber unter normalen Umständen schaut niemand auf seine Hand und sagt "Ich sehe es jetzt als Hand." Statt dessen würde man eher "Das ist eine Hand" sagen (ich setze voraus, daß dies unter den gegebenen Umständen eine sinnvolle Äußerung wäre). Damit soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Ausdruck "Ich sehe χ jetzt als a" nur unter ungewöhnlichen Umständen verwendet wird - zum Beispiel, wenn ein bekanntermaßen weißes Blatt Papier unter rotes Licht gehalten wird, dann kann man sinnvoll sagen "Ich sehe es jetzt als rotes Papier." Unter normalen Umständen bzw. unter als normal eingeschätzten Umständen wird man dagegen den Ausdruck "Ich sehe ein a" verwenden - zum Beispiel, wenn man nicht weiß, daß ein weißes Blatt Papier unter rotes Licht gehalten wird, und gefragt wird, was man sehe, dann wird man eine Antwort geben wie "Ich sehe ein rotes Blatt Papier." Doch die Möglichkeit, etwas Alltägliches auch anders zu konzeptualisieren (im Rahmen einer anderen Lebensform mit einem anderen Weltbild) ist durch eine solche linguistische Betrachtung nicht ausgeschlossen. Hinsichtlich elaborierter Sprachspiele ist uns diese Möglichkeit ja aus der Geschichte unserer eigenen Kultur bekannt, wie das zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Beispiel von der unterschiedlichen Konzeptualisierung des Phänomens Verbrennung zeigte. Ich sehe allerdings keinen Grund, der verhinderte, die Möglichkeit eines solchen Aspekt-Wechsels bzw. den Verdacht auf die Möglichkeit eines solchen Aspekt-Wechsels auch auf das Vokabular primitiver Sprachspiele auszudehnen. Wittgensteins beschreibende Philosophie, die diesbezüglich agnostisch bleiben will, mag dies zwar als kontraintuitiv bezeichnen, aber sie kann diesen Verdacht nicht ausräumen. Vielmehr gibt es sogar Bemerkungen Witt-

3.8.3. Aspekt-Lemen

229

gensteins, die nahelegen, daß auch er jegliche Konzeptualisierung der Wirklichkeit als das Sehen eines Aspekts begreift. "In einem andern Gedankenraum - möchte man sagen - schaut das Ding anders aus. [...] Kein Aspekt, der nicht (auch) Auffassung ist" {BPP I 516 / 518). "[...] Begriffe dienen zum Begreifen. Sie entsprechen einer bestimmten Behandlung der Sachlagen" {BGM, S. 431).

Insofern kann auch schon relativ Simples, sinnlich Gegebenes in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich gesehen werden: "Betrachte nun a b Beispiel die Aspekte des Dreiecks. Das Dreieck kann gesehen werden als dreieckiges Loch, als ein Кбфег, als geometrische Zeichnung; auf seiner Basis stehend, von seiner Spitze hängend; als Berg, als Keil, als Pfeil oder Zeiger, als ein umgefallener Körper, der (z.B.) auf der kürzeren Kathete stehen sollte, als ein halbes Parallelogramm, und verschiedenes anderes" (LS I 605 = />(/ П, S. 530). "An verschiedenen Stellen eines Buches, eines Lehrbuchs der Physik etwa, sehen wir die Illustration

. Im dazugehörigen Text wird einmal von einem Glaswürfel

geredet, einmal von einem Drahtgestell, einmal von einer umgestülpten offenen Kiste, einmal von drei Brettchen, die ein räumliches Eck bilden. Der Text deutet jedesmal die Illustration. Aber wir können auch sagen, daß wir die Illustration einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. - Wie merkwürdig nun, daß wir die Worte der Deutung auch zur Beschreibung des unmittelbar Wahrgenommenen verwenden können!" (SPP I 9; vgl. PU Π, S. 519).

An dieser Stelle wirkt sich die vage Unterscheidung von primitiven und elaborierten Sprachspielen ungünstig aus: Einerseits scheint es sich hier um etwas unmittelbar Wahrgenommenes zu handeln, andererseits bezieht sich Wittgenstein auf einen relativ elaborierten Kontext (einem Lehrbuch der Physik), so daß er von recht komplexen Deutungen, nicht aber von primitiven oder elementaren Handlungen spricht (analog zu dem Unterschied bei einer mutter- und einer fremdsprachlichen Verwendung von fundamentalen Wörtern). - Wittgenstein setzt die zuletzt zitierte Bemerkung folgendermaßen fort: "Da möchten wir zuerst so antworten: Jene Beschreibung der unmittelbaren Erfahrung mittels einer Deutung ist nur eine indirekte Beschreibung. Die Wahrheit sei die: Wir können der Figur einmal die Deutung A, einmal die Deutung B, einmal die Deutung С geben; und es gibt nun auch drei Erfahrungen - Weisen des Sehens der Figur - A", B', C , so daß A' der Deutung A, B' der Deutung B, С der Deutung

230

3. Zur Struktur unseres Wissens

С günstig ist. Daher gebrauchen wh· die Deutung А als Beschreibung der ihr günstigen Weise des Sehens" {BPP I 9; vgl. PU Π, S. 519). "Aber was heißt es, die Erfahnmg A' sei der Deutung A günstig? Welches ist die Erfahrung A'? Wie identifiziert man sie denn?" (BPP I 10)'

Mit anderen Worten: "Ich sehe das als eine Hand" ist zwar unter normalen Umständen eine verschrobene Redeweise (ich nehme hier "Das ist eine Hand" als eine Norm eines primitiven Sprachspiels an), doch die Vermutung, jegliche Konzeptualisierung der Wirklichkeit sei nur das Sehen eines Aspekts, läßt sich so nicht ausräumen. Damit drängt sich eine Untersuchung folgender These auf:^ Jegliche Konzeptualisierung der Wirklichkeit ist nur das Sehen eines Aspekts. Diese These besagt, daß jede Erfahrung von der Welt, die sich sprachlich formulieren läßt, Weltbild-geira/iA:r ist. Diese These könnte widerlegt werden durch einen Beweis der Gegenthese, eine Sprach-, Weltbild- oder Aspekt-neutrale Erfassung der Wirklichkeit sei möglich. Ob es aber tatsächlich eine solche neutrale Erfassung der Wirklichkeit gibt, wissen wir nicht. Denn wie sollte eine solche Erfassung aussehen? Soll sie sinnvoll sein, kann ich mir sie nur im Rahmen einer gemeinschaftlichen Praxis vorstellen, z.B. als etwas, was sich sprachlich formulieren oder beschreiben läßt (private Empfindungen sind nutzlos). Sie wäre dann ein Satz des Wissens (ein knowledge-claim im Sinne von Kapitel 3.2.) über die Wirklichkeit. Doch seine Formulierung ist z.B. uns nur innerhalb einer Praxis nach der Abrichtung auf unser Weltbild möglich, also nachdem wir die den Aspekt unseres Weltbildes übernommen haben. Da wir aber die Möglichkeit unterstellen können, daß unsere Sprache bereits Weltbild-getränkt ist, ist es uns so nicht möglich, zu entscheiden, ob ein Satz die Wirklichkeit beschreibt, wie sie wirklich ist, oder ob er nur einen Aspekt ausdrückt, wie im Rahmen eines Weltbildes die Wirklichkeit gesehen wird. Mit anderen Worten: Es ist weder zu beweisen noch zu widerlegen möglich, daß ein Satz die Wirklichkeit neutral beschreibt. Denn dies könnten wir nur dann beweisen oder widerlegen, wetm wir als einen neutralen Vergleichsmaßstab einen Satz kennten, von dem wir begründetermaßen wüßten, daß er die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist.

' '

Distanziert darüber zu reden, wie jemand es sieht, als A oder als B, geschieht natürlich in einem elaborierten Sprachspiel. Explizit findet sich eine solche These (oder ihre Negation) bei Wittgenstein nicht; vgl. aber die oben zitierten Bemerkungen BPP I 516/518 vmd BGM. S. 431.

3.8.3. Aspekt-Lemen

231

beschreibt.' Weil wir einen solchen Weltbild-neutralen Satz jedcx;h nicht kennen (und das war ja in Form einer Vermutung unser Ausgangsproblem), ist die Möglichkeit, daß jegliche Konzeptualisierung der Wirklichkeit nur ein Aspekt im Rahmen eines Weltbildes ist, nicht auszuschließen (s. dazu auch Kapitel 3.10. und 4.2.). Gegen meine Darstellung oder Behandlung des Aspekt-Sehens und gegen die von mir daraus motivierte, semantisch-epistemische Vermutung, jegliche deskriptive Begriffsverwendung sei vielleicht nur die Artikulation eines Aspekts, bietet sich folgender Einwand an: Das Aspekt-Sehen ist ein wahmehmungspsychologisches Phänomen, das sich anhand von bestimmten, meist extra konstruierten Bildern wie dem Hasen-Enten-Kopf vorführen läßt. Für Wittgenstein geht es bei seiner Behandlung des Aspekt-Sehens im zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen vor allem um eine Bestimmung des Aspekt-Sehens im Unterschied zu einfachem Sehen einerseits und elaborierterem Deuten andererseits (vgl. PU II, S. 550).^ Es ist daher unangemessen (überzogen), zu unterstellen, wir könnten alles immer nur als Aspekt sehen. Derm wenn jede visuelle Wahrnehmung ein Fall von AspektSehen sein sollte, was wäre dann noch Sehen - würde der Begriff 'Sehen' dann nicht seine Funktion verlieren? Man sollte von AspektSehen nur dann reden, wenn man auch einen Aspektwechsel kennt. — Und dieser Einwand scheint mir vernünftig zu sein. Es sei auch ausdrücklich zugestanden, daß jene Unterstellung etwas eigenartig Philosophisches bzw. Absurdes an sich hat. Aber ich sehe nicht, anhand welchen Kriteriums eine Absurdität nachgewiesen werden könnte (dieses Argumentationsproblem wird am Beispiel des philosophischen Skeptizismus in Kapitel 4.2.2. noch ausführiicher diskutiert werden). Ich möchte noch deutlich machen, daß ich mit meiner Präsentation dieser Problematik Wittgensteins Überlegungen keine Gewalt angetan habe. Denn auch er hat sich mit ihr in seinen Aufzeichnungen nachweisbar beschäftigt. - Die Möglichkeit, daß jeder Begriff nur einen Aspekt

Ich übernahm diese Argumentation aus Davidson, On the Very Idea of a Conceptual Scheme (Davidson 1974). - Die Verknüpfung der Problematik des Aspekt-Sehens mit der des (kognitiven) Relativismus behandele ich in Kapitel 4.1.1. So behauptet Malcolm Budd, Wittgenstdns Ergebnis dieser Untersuchung sei folgendes: "[...] the concept of seeing an aspect lies between the concept of seeing colour and shape and the concept of inteφгeting: it resembles both of these concepts, but in different respects" (Budd 1989, S. 97).

232

3. Zur Struktur unseres Wissens

beleuchtet und die Wirklichkeit nicht ohne unser Zutun in unserer Begrifflichkeit gefaßt wird, artikuliert er auch in Über Gewißheit: "Aber ist es nicht die Erfahrung, die uns lehrt, so zu urteilen, d.h., daß es richtig ist, so zu urteilen? Aber wie lehrt's uns die Erfahrung? Wir mögen es aus ihr entnehmen, aber die Erfahrung rät uns nicht, etwas aus ihr zu entnehmen" ((7C 130; vgl. OG 131).

Dies entspricht auch einem Zusatz, den Wittgenstein in der Manuskriptvorlage für jene oben bereits zitierte Bemerkung BGM, S. 431 notierte: "Und Begriffe dienen zum Begreifen, sie dienen zu einer ganz bestimmten Behandlung der Sachlagen / Situationen /. Deim es ist ja durchaus nicht klar, daß wir auf Situationen in der Art reagieren müssen, wie wir es tun" ( Ш 127, Blatt 36).

Unsicher versucht sich Wittgenstein an anderer Stelle an einer Beantwortung dieser Frage: "Soll ich sagen: Unsere Begriffe werden von unserm Interesse, also von unsrer Lebensweise / unserm Willen / bestinunt?" (LS II, S. 43).

Im Manuskript 132, das auf S. 161 die Vorlage zu der oben zitierten Textstelle BPP I 516/518 bildet ("In einem anderen Gedankenraum [...] schaut das Ding anders aus [...]"), notiert er diesbezüglich kurz voiher: "Ich bin in einem Wirrwarr" (MS 132, S. 158). Dieses Wirrwarr zeigt sich in einer anderen Aufzeichnung Wittgensteins deutlich: "Wie erkenne ich, daß dies rot ist? - Ich bin in Verlegenheit, was ich sagen soll. Wie erkenne ich, daß zwei Bäume gleich hoch sind. Hier bin ich nicht in Verlegenheit. Ich weiß verschiedene Antworten. - Wie erkenne ich, daß dies rot ist? Soll ich sagen: »Ich schaue es an + sehe, daß es rot ist«? Was heißt »sehen, daß es rot ist«? Heißt es: erkennen, daß das Wort "rot" hier paßt? [...] Ich sehe, daß es rot ist — aber was hilft mir das, wenn ich nicht weiß, was ich zu sagen habe, oder somit meine Erkenntnis zum Ausdruck bringen soll. Denn einmal muß ich den Obergang zum Ausdruck machen. Und bei diesem Obergang lassen mich nun alle Regeln im Stich. Denn sie hängen nun alle wirklich in der Luft. Alle guten Lehren helfen mir nichts, denn am bide muß ich einen Sprung machen: Ich muß sagen »das ist rot«, oder in einer Weise handeln, die aufs selbe hinauskommt. I...] Ich wollte etwa sagen: Ich schaue und sehe, es ist so. Und davon gehe ich nun zu dem Wort über. Ich sehe, daß es diese Farbe ist; + nun weiß ich, daß diese / die / Farbe so heißt. Diese? - Welche!

Wittgenstein notierte in seinen Manuskripten gewöhnlich "+" statt "und"

3.9. Wahrheit, GewiBheit und Referenz

233

Welche Art der Antwort hat auf diese Frage Sinn? (Du kannst die Farbe nennen, auf sie zeigen, sie beschreiben, etc.)""" (MS 129, S. 116-118).

3.9. Wahrheit, Gewißheit und Referenz In Kapitel 3.7. wurde die Frage nach dem Veifiältnis von Wahrfieit und Gewißheit als Leitmotiv für das folgende vorangestellt. Nun soll ausführlich die Problematik Wahrfieit in bezug auf deskriptive Sprachspiele^ behandelt werden - und zwar werden zunächst in Abschnitt 3.9.1. Wittgensteins Bemerkungen zu den eher traditionellen Konzeptionen systematisiert und erläutert, um dann in Abschnitt 3.9.2. die eigentlich neuen Aspekte seiner Philosophie zum Thema Wahrheit, die erst in Über Gewißheit zum Vorschein kommen, vorzustellen. ~ Aus einer Reihe von Bemerkungen wird deutlich,' daß auch Wittgenstein, wie in der neueren Philosophiegeschichte üblich, allein die Wahrheit von (Behauptungs-) Sätzen, also die propositionale Wahrheit diskutiert - in seinen auf Englisch gehaltenen Vorlesungen verwendet er das Wort "proposition"."' Verwendungsweisen des Wortes "wahr" wie in "wahre Liebe", "wahrer Freund", "eine wahre Pracht", "etwas wahr machen" oder "so wahr mir Gott helfe" bespricht meines Wissens Wittgenstein nirgends, und sie werden auch im folgenden nicht behandelt.^ Es besteht hier freilich eine Vagheit bezüglich der Wörter oder Begriffe "Satz" und "proposition", aber dieses Problem will ich hier nicht weiter diskutieren. Ich setze insofern das Wort "(Behauptungs-) Satz" als einen allgemein verständlichen Grundbegriff, der nicht weiter präzisiert zu werden braucht, voraus (s. PG, S. 112ff). 3.9.1. Propositionale Wahrheit Eine ausführlichere Diskussion der Wahrheits-Problematik findet sich bei Wittgenstein nicht, gleichwohl werden in unterschiedlichen Zu-

' ' ' ' '

Hier zeigt sich das, was ich in Kapitel 3.10. "Idealismus" nennen werde. Deskriptive Sptachspiele sind vornehmlich durch Berichte, Mitteilungen, Aussagen, etc., über die außersprachliche Welt charakterisiert (siehe dazu Kapitel 3.2.). s. z.B. PU 136, 225; BPP I 272. vgl. LFM, S. 68, 70, 188, 247. Damit wird keine Priorität der propositionalen Wahrheit behauptet; in der Epistemologie ist sie jedoch der interessanteste Fall.

234

3. Zur Struktur unseres Wissens

sammenhängen verschiedene Aspekte dazu erwähnt. Analog zu seiner schon in Kapitel 2.3. diskutierten Vorgehensweise unterscheidet er - wenig überraschend - zwischen einer subjektiven und einer objektiven Wahrheit,' das heißt: zwischen einer Einstellung (í7G 404) eines etwa eine Mitteilung machenden Subjekts, welche auch "Wahrhaftigkeit" genannt werden kann (und hier können die gefühlsmäßigen Begleiterscheinungen des Subjekts von Interesse sein), einerseits und dem objektiven Gehalt eben dieser Mitteilung z.B. über einen Vorgang in der Welt andererseits: "Für das >wahrheitsgemäße< Geständnis, ich hätte das und das gedacht, sind die Kriterien nicht die, wie für die Beschreibung eines vergangenen Vorgangs. Und die Wichtigkeit des wahrheitsgemäßen Geständnisses liegt nicht darin, daß es irgend einen Vorgang mit Sicherheit richtig wiedergibt. Sie liegt vielmehr in den besondem Anzeichen der subjektiven Wahrheit und in den besondem Konsequenzen des wahrheitsgemäßen Geständnisses" (LS I 897). [Eine Variante dazu lautet:] "Für die Wahrheit des Geständnisses, ich hätte das und das gedacht, sind die Kriterien nicht die der wahrheitsgemäßen Beschreibung eines Vorgangs. Und die Wichtigkeit des wahren Geständnisses liegt [...] in den besonderen Konsequenzen, die sich aus einem Geständnis ziehen lassen, dessen Wahrheit durch die besonderen Kriterien der Wahrhafligkeit verbürgt ist" {PU II, S. 566^).

Die Wahrhaftigkeit eines Geständnisses (einer Beichte, einer Traumerzählung^ u.a.) ist also nicht subjektiv in dem Sinn, daß sie gleichsam privat nur dem gestehenden (etc.) Subjekt allein zugänglich ist, sondern die Wahrhaftigkeit eines Geständnisses (etc.) kann sich im intersubjektiv beobachtbaren Verhalten eben dieses Subjekts zeigen: "Wer bei einem bestimmten Anlaß dieses Gesicht macht, sich so hält, etc., von dem können wir all das mit Bestimmtheit voraussagen, was wir (in der Welt, wie sie jetzt ist) von einem wahrhaft Traurigen erwarten" {LS I 956).·*

Ein "Kriterium, das hier eine Wahrheit von der Wahrhaftigkeit unterscheidet" (PV II, S. 567), oder besser, ein Kriterium, an dem der Unterschied zwischen subjektiver Wahrhaftigkeit und objektiver Wahrheit deutlich werden kann, ist demnach das Verhalten des Subjekts, das

Wittgenstein verwendet den Ausdruck "objektive Wahrheit" in ÜG 108; in einer anderen Bedeutung ak der hier gemeinten verwendet er den Ausdruck "subjektive Wahrheit" in OG 179. Dies ist eine geringe Modifikation zu der in einer Fußnote gegebenen Variante von LS I 897. vgl. PU II, S. 577; LS I 898. Mit "in der Welt, wie sie jetzt ist" ist insbesondere das kulturell geprägte Verhalten (etwa bei einer Beerdigung) gemeint.

3.9.1. Propositionale Wahrheit

235

die Wahrhaßgkeit ausdrückt, während zum Kriterium für die Wahrheit etwa einer Mitteilung bestimmte Tatsachen oder Vorgänge in der Weh dienen mögen, die auch vöUig unabhängig vom Veriiahen irgend eines Subjekts stattfinden können. Die Wahrfieit der Mitteilung "Heute morgen regnete es" bemißt sich daran, ob es heute morgen regnete oder nicht, die Wahrhaftigkeit dieser Mitteilung jedoch unter Umständen daran, ob der Mitteilende später zu seinem Spaziergang Gummistiefel anzieht oder nicht. Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind allerdings nicht immer strikt voneinander unterscheidbar: "Ich bereue es" zum Beispiel könnte eine Aussage sein, in der die intersubjektiven Kriterien zur Beurteilung der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit zusammenfallen. ' Darauf scheint auch folgende Bemerkung Wittgensteins anzuspielen: "Wenn die Sehnsucht aus mir spricht »Wenn er doch nur käme!«, gibt das Gefühl den Worten >Bedeutung innerhalb derer die Frage nach der Wahrheit von dem, was die Menschen sagen, gestellt wird.^ Die Gründe für Wittgensteins Auffassung müssen freilich noch gegeben werden. Seine eigene, positiv artikulierte Auffassung zum Problem Wahrheit (außerhalb von Über Gewißheit) komprimierte Wittgenstein in folgende Sätze: "Nun ist aber

>p< ist wahr = ρ >p< ist falsch = nicht-p. Und zu sagen, ein Satz sei alles, was wahr oder falsch sein könne, kommt darauf hinaus: Einen Satz nennen wir das, worauf wir in unserer Sprache den Kalkül der Wahrheitsfunktionen anwenden" (PU 136; vgl. PG, S. 123).

Zunächst einmal wird aus dieser wirklich äußerst komprimierten Textstelle deutlich, daß Wittgenstein bei seiner Erörterung des Problems Wahrheit auch eine Behandlung des Problems Falschheit einbeziehen möchte, daß für ihn Wahrheit und Falschheit also nicht voneinander zu

' ^ '

vgl. BGM, S. 353; LFM, S. 183f. s. PU π, s. 573; OG 179; Ζ 417 = ВРР II 318. Ich will mich nicht um Worte streiten. Natürlidi kann man Wittgensteins Konzeption qua tJbereinstimmung„,„ auch als eine moderatere Variante einer Konsensustheorie betrachten (s.u.).

3.9.1. Propositionale Wahrheit

237

trennen sind. Das soll jedoch - wie aus späteren Aufzeichnungen explizit hervorgeht - nicht bedeuten, daß Wittgenstein die Falschheit als eine schlichte Negation von Wahrheit betrachten und die Dichotomie wahr/ falsch als eine erschöpfende Unterscheidung verstehen würde. Vielmehr macht er deutlich, daß auch eine dritte Option, die er "unentschieden" nennt, durchaus sinnvoll möglich ist: "Der Satz »Wenn p, so q«, wie z.B. »Wenn er koimnt, wird er mir etwas mitbringen«, ist nicht der gleiche wie »p^q«. Denn der Satz »Wenn..., so...« läßt den Konjunktiv zu, der Satz »p^q« nicht. - Wer Einem auf den Satz »Wenn er kommt, ...« antwortet »Das ist nicht wahr«, der will nicht sagen: »Er kommt, und wird nichts mitbringen«, sondern »Er mag kommen und nichts mitbringen«" (BPP I 269). "Man kann sehr wohl sagen, der Satz »Wenn ..., so ...« sei entweder wahr, oder er sei falsch, oder unentschieden. - Aber bei welcher Gelegenheit wird man das sagen? Ich denke: als Einleitung zu einer weiteren Auseinandersetzung. Man bespricht die Sache unter diesen drei Gesichtspunkten. Ich teile das Feld der Möglichkeiten in drei Teile. Man wird nun vielleicht sagen: ein Satz teile es in zwei Teile. Aber warum? Es sei denn, es gehöre zur Definition eines Satzes. Warum soll ich nicht auch etwas einen Satz netmen, was eine Dreiteilung macht?" (BPP I 272) "Das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten sagt nicht, wie seine Form vorspiegelt: Es gibt nur die beiden Möglichkeiten Ja und Nein, und keine Dritte. Sondern: »Ja« und »Nein« teilen das Feld der Möglichkeiten in zwei Teile. - Und das muß natürlich nicht so sein" (BPP I 274).'

Ob man das "Feld der Möglichkeiten" in zwei oder drei Teile teilt, und wie dementsprechend Wahrheit und Falschheit aufeinander bezogen sind, das hängt von den Interessen ab, die mit einer solchen (logischen^) Aufteilung verknüpft sind (dazu gleich noch mehr). Prima facie scheint PU 136 lediglich auf die auf Ramsey zurückgehende^ und Wittgenstein sicherlich bekannte Redundanztheorie der Wahrheit hinauszulaufen, daß also so etwas wie "p ist wahr" (oder "Es ist wahr, daß p" u.ä.) zu sagen nicht bedeutet, eine besondere Eigenschaft oder Relation von ρ zu behaupten, sondern daß jenes "ist wahr" dabei lediglich eine stilistische, emphatische Funktion habe - wenn jemand etwa

Die Gesamtheit des Textes von BPP 1269-274 ist in der Argumentation ein wenig ausführlicher als im hier zitierten Auszug. — Daß es in der Arithmetik neben wahr und falsch, wie Godei zeigte, auch unenlscheidbar gibt, diskutiert Wittgenstein in BGM. S. II6-123. vgl. F. P. Ramsey, Facts and Propositions (1927), S. 44.

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3. Zur Struktur unseres Wissens

die Richtigkeit einer überraschenden Mitteilung unterstreichen oder versichern will: "Könnte Einer seine Zuverlässigkeit dartun, indem er sagte: »Es ist wahr; und sieh, ich glaube es!«" {BPP I 1127). "Ich sage »Ich weiß p«, entweder um zu versichern, daß auch mir die Wahrheit ρ bekaimt sei, oder einfach als eine Verstärkung von 1 p" {OG 424).

Eine solche nicht-assertorische, expressive Deutung von "ist wahr" (etc.) ist von Wittgenstein also auch intendiert - und zwar wohl in dem Sinne, daß unter bestimmten Umständen "ist wahr" in dieser lediglich emphatischen Weise verwendet wird. Keinesfalls wird Wittgenstein jedoch behaupten wollen, jeglicher Gebrauch von "ist wahr" sei ausschließlich expressiv. ' Vielmehr ist Wittgensteins Behauptung ">p< ist wahr = p" auch so zu verstehen: In der Situation, in der es angemessen ist, "p ist wahr" zu sagen, ist es auch angemessen, "p" zu behaupten ("p" steht dann für einen Satz, mit dem z.B. eine Beschreibung abgegeben wird; "p" ist insofern eine Mitteilung, Behauptung, Aussage, Teil eines Berichts u.ä.). "[...] to say that ρ is true is simply to assert ρ [...]. It is a question of whether we assert p. [...] I am actually trained to assert mathematical propositions - that 3x6=18 [...] »Trained to assert« - under what conditions? Well, for instance, when I have to pass an exam" {LFM, S. 188).

Der Satz "ρ" ist nicht als solcher wahr oder falsch oder unentschieden. Es hängt eben von den Umständen und der Logik^ des jeweiligen Sprachspiels ab, in denen "p" geäußert wird. Mit anderen Worten: Die Frage nach der Wahrheit eines Satzes ist abhängig von den Äußerungsbedingungen bzw. den Verwendungsregeln dieses Satzes (die in der Logik„ des entsprechenden Sprachspiels zu finden sein müßten; s. Kapitel 3.9.2.). Denn erst in bezug auf den Kontext der Äußerung, auf die Art der Praxis und die darin vorausgesetzte Logik^, ist es sinnvoll möglich, zu entscheiden, ob und wie über die Wahrheit von "p" zu sprechen ist: "Denke, ich beschreibe ein psychologisches Experiment: den Apparat, die Fragen des Experimentators, die Antwort und die Handlungen des Subjekts. Und dann sage ich:

Wie auch Strawson, der in Truth (1949) ausschließlich die expressive (S. 96) bzw. performatorische (S. 93) Deutung favorisierte ("The phrase >is true< never has a statement-making role"; S. 92), letztlich in A Problem about truth - A Reply to Mr. Warnock (1964) die Unzulänglichkeit dieser Analyse zugeben mußte: "Someone who says that a certain statement is true thereby makes a statement about a statement" (S. 68).

3.9.1. Propositionale Wahrheit

239

das alles sei eine Szene in dem und dem Theaterstück. Nun hat sich alles geändert. Man wird also sagen: Wenn in einem Buch über Psychologie dieses Experiment in gleicher Weise beschrieben wäre, so würde eben die Beschreibung des Benehmens des Subjekts als Ausdruck des Seelenzustandes verstanden, weil man voraussetzt, das Subjekt rede die Wahrheit, halte uns nicht zum Besten, habe die Antworten nicht auswendig gelernt" (BPP I 290; vgl. PU Π, S. 498). "Wir machen eine Voraussetzung? - Wir benützen die Aussage jedesmal anders" (BPP I 291).

Dieses Beispiel illustriert auch, inwiefern Wahrheit und Bedeutung eines Satzes miteinander verknüpft sind:' Die Bedeutung eines Satzes hängt auch davon ab, ob er überhaupt als eine wahre Mitteilung (über einen Vorgang in der Welt) gemeint ist und als solche verwendet wird - im Gegensatz etwa zu einer Äußerung in einem fiktionalen Theaterstück. Auf diese Verknüpfung rekurrieren jene Bedeutungstheorien, die sich allein an Wahrheitsbedingungen orientieren.^ Nach Wittgenstein wird dadurch aber das Verhältnis von Bedeutung und Wahrheit auf den Kopf gestellt: Es liegt nämlich an den von den kontextuellen Umständen abhängigen und in einer Logik^ formulietbaren Äußerungsbedingungen des Satzes "p", die es bei Erfüllung auch erlauben würden, "p ist wahr" zu sagen. Mit anderen Worten: Die Wahrheitsbedingungen von "p" sind lediglich Teil der Äußerungsbedingungen von "p", und die Bedeutung eines Satzes (was mit ihm gemeint ist) ergibt sich erst aus den Umständen seiner Äußerung. "Was heißt denn, ein Satz >ist wahrpwahr< und >falsch