Lernbilder: Collagen als Ausdrucksform in Untersuchungen zu Lernvorstellungen Erwachsener 9783839436059

Collages - how this form of aesthetic expression can provide insights into learning expectations in adults.

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Lernbilder: Collagen als Ausdrucksform in Untersuchungen zu Lernvorstellungen Erwachsener
 9783839436059

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Collagen als Lernbilder
Erfahrungen mit Collagen in der Erwachsenenbildungsforschung
Das Problem des eigenen Standpunkts
Ein zusammenfassender Ausblick
1. Welche Vorannahmen bilden die Grundlage für die Frage nach den Lernvorstellungen Lernender?
1.1 Lernen in der Zeit
1.2 Lernen und Leiblichkeit
1.3 Lernen als Verunsicherung
1.4 Lernen in der Welt
1.5 Lernen und das Neue
1.6 Lernen – intendiert und ‚nebenbei‘?
1.7 Lernen – anwendungsorientiert und transformativ
1.8 Lernen und Gesellschaft
2. Warum Collagen?
2.1 Das Prinzip „Collage“
2.2 Collage als Forschungsprinzip
2.3 Collagen als Herausforderungen der Alltagswahrnehmung und Alltagsästhetik
3. Ästhetik – die Wahrnehmung und Deutung der Welt über die Sinne
3.1 Ästhetische Rationalität – ästhetisches Denken
3.2 Verwobenheit sinnlich-ästhetischer und begrifflich-sprachlicher Weltzugänge
3.3 Sprache und sinnliche Erkenntnis
3.4 Leiblichkeit
3.5 Ästhetische Erfahrung
3.6 Ästhetischer Ausdruck
4. Die Collage als Bild
4.1 Faktoren der Bildlichkeit
4.2 Collagen aus Lernwerkstätten als Bilder?
5. Collagen als Medien
5.1 Medien als artikulierte Selbstverständnisse
5.2 Das Medium als Bote und Spur
5.3 Medien als Grundlage von Kultur
5.4 Medien als physiklose „Geltung“
5.5 Collagen als Medien?
6. Empirische Zugänge I: Die Entstehung der Collagen und die Grundlagen ihrer Interpretation
6.1 Von der „Gruppendiskussion“ zur „Lernwerkstatt“
6.2 „Macht eine Collage!“ – Analyse einer außergewöhnlichen Situation
6.3 Collagen interpretieren – Explikation der Grundannahmen
6.4 Die Systematik der Interpretation
7. Empirische Zugänge II: Wahrnehmen – Auslegen – Verstehen
7.1 Fragen an das Material
7.2 Das Sample – die Auswahl der Collagen
7.3 Analyse und Interpretation der Collage „Köpfe“
7.4 Analyse und Interpretation der Collage „Unperfekt Heart“
7.5 Analyse und Interpretation der Collage „Zutritt verboten“
8. Vom Blick auf die Einzelcollage zu einer Gesamtsicht – Ergebnisse des Projekts „Lernbilder“
8.1 Landmarken und Orientierungen subjektiver Lernvorstellungen
8.2 Vorstellungen vom Lernen als Vorstellungen vom Leben?
8.3 Perspektivität
9. Zusammenfassende Betrachtung des Projekts „Lernbilder“
9.1 Bilder als Zugang zum Lernen Erwachsener?
9.2 Lernwerkstätten: die Arbeit am gemeinsamen Werk als Ort der Bedeutungsproduktion
9.3 Collagen – die Herausforderung des Materials
9.4 Lernvorstellungen Erwachsener als Landschaft: Landmarken, Orientierungen und Perspektivität
9.5 Forschungsperspektiven
Literatur

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Susanne Umbach Lernbilder

Theorie Bilden | Band 39

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Andrea Sabisch und Michael Wimmer, im Auftrag der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Susanne Umbach (Dr. phil.), geb. 1972, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Erwachsenenbildung/Weiterbildung der Universität Hamburg. Sie forscht zu Kompetenzverschiebungen und -erweiterungen im Kontext von Industrie 4.0. Ihr Interesse gilt einer subjektorientierten Forschung in der Erwachsenenbildung.

Susanne Umbach

Lernbilder Collagen als Ausdrucksform in Untersuchungen zu Lernvorstellungen Erwachsener

Dissertation Universität Hamburg, 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Susanne Umbach Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3605-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3605-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

Collagen als Lernbilder | 8 Erfahrungen mit Collagen in der Erwachsenenbildungsforschung | 9 Das Problem des eigenen Standpunkts | 11 Ein zusammenfassender Ausblick | 13 1. Welche Vorannahmen bilden die Grundlage für die Frage nach den Lernvorstellungen Lernender? | 17

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8

Lernen in der Zeit | 19 Lernen und Leiblichkeit | 20 Lernen als Verunsicherung | 22 Lernen in der Welt | 23 Lernen und das Neue | 25 Lernen – intendiert und ‚nebenbei‘? | 27 Lernen – anwendungsorientiert und transformativ | 29 Lernen und Gesellschaft | 31

2. Warum Collagen? | 33

2.1 Das Prinzip „Collage“ | 34 2.2 Collage als Forschungsprinzip | 36 2.3 Collagen als Herausforderungen der Alltagswahrnehmung und Alltagsästhetik | 38 3. Ästhetik – die Wahrnehmung und Deutung der Welt über die Sinne | 41

3.1 Ästhetische Rationalität – ästhetisches Denken | 43 3.2 Verwobenheit sinnlich-ästhetischer und begrifflich-sprachlicher Weltzugänge | 44 3.3 Sprache und sinnliche Erkenntnis | 51 3.4 Leiblichkeit | 52 3.5 Ästhetische Erfahrung | 54 3.6 Ästhetischer Ausdruck | 56 4. Die Collage als Bild | 59

4.1 Faktoren der Bildlichkeit | 60 4.2 Collagen aus Lernwerkstätten als Bilder? | 67

5. Collagen als Medien | 71

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Medien als artikulierte Selbstverständnisse | 72 Das Medium als Bote und Spur | 73 Medien als Grundlage von Kultur | 74 Medien als physiklose „Geltung“ | 75 Collagen als Medien? | 76

6. Empirische Zugänge I: Die Entstehung der Collagen und die Grundlagen ihrer Interpretation | 79

6.1 Von der „Gruppendiskussion“ zur „Lernwerkstatt“ | 79 6.2 „Macht eine Collage!“ – Analyse einer außergewöhnlichen Situation | 84 6.3 Collagen interpretieren – Explikation der Grundannahmen | 92 6.4 Die Systematik der Interpretation | 99 7. Empirische Zugänge II: Wahrnehmen – Auslegen – Verstehen | 101

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Fragen an das Material | 101 Das Sample – die Auswahl der Collagen | 103 Analyse und Interpretation der Collage „Köpfe“ | 105 Analyse und Interpretation der Collage „Unperfekt Heart“ | 127 Analyse und Interpretation der Collage „Zutritt verboten“ | 153

8. Vom Blick auf die Einzelcollage zu einer Gesamtsicht – Ergebnisse des Projekts „Lernbilder“ | 175

8.1 Landmarken und Orientierungen subjektiver Lernvorstellungen | 183 8.2 Vorstellungen vom Lernen als Vorstellungen vom Leben? | 190 8.3 Perspektivität | 191 9. Zusammenfassende Betrachtung des Projekts „Lernbilder“ | 197

9.1 Bilder als Zugang zum Lernen Erwachsener? | 197 9.2 Lernwerkstätten: die Arbeit am gemeinsamen Werk als Ort der Bedeutungsproduktion | 199 9.3 Collagen – die Herausforderung des Materials | 200 9.4 Lernvorstellungen Erwachsener als Landschaft: Landmarken, Orientierungen und Perspektivität | 201 9.5 Forschungsperspektiven | 203 Literatur | 207

Einleitung

Wenn Erwachsene danach gefragt werden, was ihnen zum Thema Lernen einfällt, ist das erste Stichwort „Schule“. Das ist meist verbunden mit Erinnerungen an Lernen-Müssen, Noten und gute oder auch schlechte Lehrer_innen1. Doch Lernen meint weit mehr als Schule! Es ist ein unübersichtlicher Begriff voller Verweise auf Widersprüche zwischen Gesellschaft und Individuum, Geschichten von Anpassung und Widerstand, Vorstellungen über den Menschen und seine Möglichkeiten, Erfahrungen von Angst und Hoffnung, Zwang und Freiheit. Die unauflösliche Verwobenheit von Individuum und Gesellschaft ist Teil der Vielschichtigkeit dessen, was wir als Lernen bezeichnen: Wir lernen niemals außerhalb menschlich-gesellschaftlicher Kontexte und zugleich ist Lernen aufs Engste verknüpft mit Ansprüchen, die Gesellschaften an Individuen stellen (vgl. z.B. Liebau 2007, S. 102). Begriffe wie Lernen sind also erstens Ausdruck für einen ganzen Komplex von Bedeutungen. Zweitens kann man davon ausgehen, dass ein Wort wie Lernen nicht nur gehört und dann auf rein kognitiver Ebene verstanden, d.h. mit Bedeutung versehen, wird. Verstehen ist immer gebunden an eine Person, die versteht, ein Subjekt, das der Welt in seiner Leiblichkeit begegnet (vgl. z.B. Waldenfels 2010). Bedeutungen sind also aufs Engste verbunden mit der kulturellen, körperlichen und psychischen Situiertheit einer Person. Wörter können auf diese Weise Bedeutungen ‚bekommen‘, die nicht, oder zumindest nicht nur, auf der rational-kognitiven Ebene nachzuvollziehen sind. Und drittens, als Folge der beiden vorhergegangenen Punkte, gibt es Aspekte des Verstehens und der Bedeutungszuschreibung, die nicht (nur) an sprachliche Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen gebunden ist, sondern (auch und vor allem) auf sinnlichem Wege stattfinden. Körperlichkeit ist eine sinnliche Erfahrung, die sich nur sehr

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Im Text wird an Stellen, an denen geschlechtsneutrale Formen der Bezeichnung notwendig wären, sprachlich aber nicht möglich sind, ein Gender Gap verwendet.

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unvollständig in (Laut-)Sprache übersetzen lässt. Ebenso verweigert sich die Psyche zu einem guten Teil dem direkten Zugriff durch Worte und Sätze. Wie oft entsteht bei dem Versuch, körperliche oder psychische Zustände oder Erfahrungen zu beschreiben, der Eindruck, dass etwas Wesentliches nicht zum Ausdruck gekommen ist oder nicht in Sprache zu fassen war (vgl. Eisner 2007, S. 117).

C OLLAGEN

ALS

L ERNBILDER

Jenseits der Lautsprache gibt es Formen der Auseinandersetzung mit der Welt, die versuchen, diese in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen, sie zu deuten, sie zu verstehen und dies zu kommunizieren. Bilder sind eine dieser Zugangs- und Ausdrucksformen, Theater, Musik, Bildende Kunst sind weitere2. Jede dieser Formen bringt ganz eigene Möglichkeiten und Beschränkungen mit sich. Ich werde mich im Folgenden vor allem mit Bildern, genauer gesagt: Collagen, und ihren Möglichkeiten beschäftigen. Collagen bieten den Raum, die widersprüchlichsten Sachverhalte darzustellen und in der Gleichzeitigkeit ihrer Darstellung Spannungen aufzuzeigen, die in der Sprache immer dem Problem des Nacheinander unterworfen sind. Die räumliche Anordnung bietet Möglichkeiten der Fokussierung und der Abstufung. Kontraste können zugespitzt oder abgeschwächt werden. Die Dauerhaftigkeit der Darstellung eines Bildes3 und seine Wahrnehmung als Einheit, als Ganzes erlaubt zudem eine Form der fortgesetzten Betrachtung, wie sie Sprache nur in ihrer geschriebenen Form zulässt. Es lassen sich beim Betrachten nach und nach Bezüge entdecken und herstellen, die „auf den ersten Blick“ nicht zu sehen waren. Und auch die Herstellung der Collage selbst verläuft auf eine Weise, die etwas von einer Entdeckung hat. Die Collage in ihrem Entstehen hat dabei selbst Anteil an ihrer Weiterentwicklung,

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Das Verhältnis dieser Deutungs- und Zugangsformen zueinander ist Gegenstand grundlegender Debatten in den unterschiedlichsten Disziplinen. Für Bilder und Sprache vgl. Diekmannshenke et al. 2011.

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Es gibt inzwischen auch Formen der Darstellung, in denen die Vergänglichkeit selbst zum Thema gemacht wird, indem die Werke eben nicht von Dauer, oder jedenfalls nicht „für die Ewigkeit“ gemacht sind, wie z.B. die Werke Andy Goldsworthys, die jederzeit aus ihrem prekären Gleichgewicht gebracht werden und vergehen können (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=f7sZv4_0Fxg). Das Video ist auch ein schönes Beispiel für die Grenzen der sprachlichen Darstellung und die Möglichkeiten körperlichen und ästhetischen Ausdrucks.

E INLEITUNG

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weckt Assoziationen, erfordert ‚Umwege‘ und setzt Grenzen4. Auf diese Weise können in Bildern Ebenen des Erlebens und Verstehens zum Ausdruck gebracht werden, die in der Wortsprache aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften keinen oder nur eingeschränkt Platz finden. Das ist der Ausgangspunkt für die Arbeit am Projekt „Lernbilder“: Es soll untersucht werden, auf welcher Grundlage Collagen in der Forschung zum Lernen Erwachsener Anwendung finden können, wie ein angemessener Auswertungsprozess aussehen kann und welche Einblicke in die Lernvorstellungen Erwachsener anhand konkreter Collagen möglich sind.

E RFAHRUNGEN MIT C OLLAGEN IN DER E RWACHSENENBILDUNGSFORSCHUNG Die Arbeit mit Bildern ist in der Erwachsenenbildungsforschung ein verhältnismäßig junges Feld. Sigrid Nolda verweist in ihrem Überblick der Forschungsansätze in der Erwachsenenbildung darauf, dass trotz eines sich verändernden (alltäglichen) Umgangs mit und einer zunehmend allgegenwärtigen Sichtbarkeit und Nutzung von Bildern die Erwachsenenbildung nach wie vor als „schrift- und wortorientiert […] charakterisiert werden [kann]. Damit beschränkt sie sich auf den Bereich des (primär kognitiven, auf mehr oder weniger klare Aussagen reduzierbaren) Verbalen und schließt das (weniger kognitiv organisierte und prinzipiell vieldeutigere) Visuelle weitgehend aus – eine Haltung, die im Zeitalter einer Veränderung des Wissens durch Visualisierung […] zunehmend fragwürdig wird.“ (Nolda 2011, S. 13) Erst in jüngerer Zeit, im Zuge des pictorial bzw. visual turn, der Bilder und visuelle Medien als wichtige (Gestaltungs-)Elemente von Wirklichkeit untersucht und ernst nimmt, lässt sich auch in der Erwachsenenbildung eine Hinwendung zum Visuellen als Gegenstand der Forschung feststellen. So untersuchen Dörner und andere anhand von Bildern den visuellen Diskurs zum lebenslangen Lernen (z.B. Dörner et al. 2011); es gibt Studien, die sich die Methode der Videographie zunutze machen und anhand der Aufzeichnungen Weiterbildungsveranstaltungen untersuchen (z.B. Kade/Nolda 2007). Andere Forschungsansätze widmen sich der Verbindung von Bild und Text und untersuchen diese diskursanalytisch (z.B. Wrana 2006). Eine besondere Perspektive nehmen diejenigen Untersuchungen ein, die visuelles Material nutzen, um explizit die Vorstellungen von Teilnehmenden in der Erwachsenenbildung anhand von visuellem Material zu befragen, das von Unter-

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Zur Idee der Collage vgl. auch Zacharias 2006, S. 18.

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suchungsteilnehmer_innen erstellt wurde. Aus diesem Blickwinkel geht es um die Frage, welche Alltagsvorstellungen, Wünsche und Befürchtungen Erwachsene zum jeweiligen Thema zum Ausdruck bringen und auf welche Weise dies geschieht. Hier kommen vermehrt Collagen als Ausdrucksmöglichkeit zum Einsatz. Dieser Zugang ist in der Sozialforschung genutzt worden, um in milieuspezifischen Untersuchungen sinnlich-ästhetische Bedürfnisse zu erfassen (vgl. Flaig et al. 1997) oder um in einem habitushermeneutischen Zugang ästhetische Ausdrucksformen zur visuellen Ergänzung und Erweiterung von Gruppendiskussionen und Interviews zu nutzen und so das Datenmaterial um ästhetische Ausdrucksformen zu erweitern (Bremer 2004; Bremer/Teiwes-Kügler 2013). Eine andere Ausrichtung haben Untersuchungen, die unter pädagogischen Gesichtspunkten partizipative Ansätze verfolgen und in der Forschung zugleich die Teilhabe-Möglichkeiten der Teilnehmenden erweitern wollen. In einem solchen Zugang haben ästhetisch-sinnliche Ausdrucksformen, z.B. in Form von Collagen, Teil an der Entwicklung alternativer Zukunftsentwürfe in Gruppen (Grell 2006; Faulstich/Grell 2005). In den Untersuchungen, in denen Collagen erstellt wurden, wird übereinstimmend deutlich, dass diese dazu geeignet sind, Themen zum Ausdruck zu bringen, die in Diskussionen oder Interviews nicht angesprochen werden.5 Insbesondere solche Aspekte, die mit emotionalen und sinnlichästhetischen Erfahrungen in Verbindung stehen oder widersprüchlich sind, scheinen in visuell-kreativen Ausdrucksformen auf besondere Weise Platz zu finden. Zudem wird während der Erstellung der Collagen eine kreative Freude sichtbar, die ungewöhnlich genug ist, um Erwähnung zu finden (vgl. Flaig et al. 1997; Bremer 2004; Mosch 2013). Die Collage als Methode der Datenerhebung entstammt einerseits dem Kontext der Marktforschung, bei welcher in sogenannten focus groups kreative Methoden genutzt werden, um unbewusste, sozial eventuell unerwünschte Vorstellungen, Wünsche, Absichten sichtbar werden zu lassen. In diesem Kontext wird dabei auf das psychoanalytische Prinzip der Projektion Bezug genommen, bei dem unbewusst Emotionen und Gefühle auf Dinge oder Personen projiziert werden (vgl. Bremer 2004; Flaig et al. 1997). Ein anderer Impuls für die Nutzung von Collagen im Forschungskontext mit Erwachsenen stammt aus der Bildungsarbeit selbst, in der kreative und visuelle Methoden eine lange Tradition haben. Hier wird vor allem auf die Gruppenaktivität und die gemeinsame Auseinandersetzung mit einem Thema oder einer Frage Bezug genommen (vgl. Grell 2006).

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Diese Besonderheit nicht-sprachlicher Ausdrucksformen verweist auf „implizites Wissen“, ein Begriff, den Michael Polanyi geprägt hat (vgl. Polanyi 1966).

E INLEITUNG

D AS P ROBLEM

DES EIGENEN

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S TANDPUNKTS

Eine Prämisse qualitativer Forschungszugänge ist die, dass Forschende auf Kompetenzen zurückgreifen, die auch der Alltagsmensch nutzt, um die ihn umgebende Welt zu verstehen, mit dem Unterschied, dass Forschende bei ihren Versuchen, die soziale Welt zu verstehen, die eigenen theoretischen und erfahrungsgebunden Vorannahmen explizit machen (vgl. u. a. Soeffner/Hitzler 1994). Das ist aus theoretischer Sicht sinnvoll und aus forschungspraktischer Sicht hilfreich. Sinnvoll ist es aus dem Grund, dass die eigenen Annahmen über ein Feld die Wahrnehmung desselben beeinflussen. Was nicht in meine Vorstellung von einem Sachverhalt passt, wird leicht übersehen oder als unwesentlich eingestuft, während das, was dem Erwarteten oder Erhofften zu entsprechen scheint, ins Zentrum der Wahrnehmung rückt. Dieser Bias ist umso wirkmächtiger, je weniger ich mir desselben bewusst bin. Wenn also in der qualitativen Forschung Materialien zur Auswertung kommen, werden sie auf Seiten der Forschenden konfrontiert mit einer Mischung aus eigenen Erfahrungen, mehr oder weniger begründeten Annahmen und theoretischem Wissen, das sich aus spezifischen Quellen speist. Dieser Hintergrund nimmt schon auf die Wahrnehmung der Materialien Einfluss und in der Folge auch auf die Art und Weise ihrer Auswertung, das heißt auf ihre Auslegung und Interpretation. Die Reflexion auf die subjektiven Hintergründe meiner Forschung, seien es eigene Erfahrungen oder erworbenes Wissen, macht den Rahmen deutlich, innerhalb dessen ich mich mit meiner Forschung bewege, macht verständlich, welche Fragen ich aus welcher Perspektive stelle und macht die Grenzen sichtbar, die diesem Forschungszugang gesetzt sind. Auf diese Weise soll die Selbstverständlichkeit hinterfragt werden, mit der Verstehen, also die Fähigkeit soziale Interaktion, kommunikativer oder anderer Art, angemessen zu interpretieren, schlicht verstanden wird als „Voraussetzung jeder gesellschaftlichen Interaktion“ (Giddens, zit.n. Engler 2001, S. 102), ohne die Bedingungen, unter denen dieses Verstehen geschieht, zu berücksichtigen. Engler (dies. 2001) zeigt unter Rückgriff auf Bourdieu auf, dass die_der vermeintlich neutrale und unsichtbare wissenschaftliche Beobachtende, ohne das vermeiden zu können, schon bei der Entstehung des Datenkorpus Einfluss nimmt, der zu Verzerrungen führt, und diese Verzerrungen sich in die Interpretation hinein systematisch fortsetzen. Um diese Verzerrungen zu kontrollieren oder zumindest abzuschwächen, die sich auch aus dem Machtverhältnis zwischen Forschenden und Beforschten speisen, bedarf es, so Engler, eines „Wissen[s] über den eigenen Standpunkt, um Distanz zu diesem einzunehmen.“ (Engler 2001, S. 125) Findet dieser Bruch mit der eigenen Sichtweise, der in der Dis-

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tanzierung liegt, nicht statt, läuft die_der Forschende Gefahr, das Objekt ihrer_seiner Forschung selbst zu konstruieren, anstelle „die von den Akteur_innen vorgenommenen Konstruktionen der sozialen Realität [zu] re-konstruieren“ (ebd., S. 130f.). Die Interpretation der_des Forschenden sagt in so einem Fall „mehr über die Geisteshaltung“ (ebd., S. 124) der forschenden Person als über den Gegenstand ihrer_seiner Forschung. Was Engler für Forschung im Bereich der Soziologie ausführt, gilt auch für die hier durchgeführte Forschung zu Lernvorstellungen. Auch hier gilt es, den eigenen Standpunkt und die damit verbundenen Grundannahmen über Lernen, d.h. die eigenen Lernvorstellungen, die eben nicht universell sind, zu klären. Anders als Untersuchungen, die wie Engler, textförmiges Datenmaterial nutzen, geht es in der vorliegenden Untersuchung darum, das Verhältnis lernender Subjekte zu ihrem eigenen Lernen mit Hilfe ästhetischen Materials zu beleuchten. Ziel ist es, auf diese Weise Aufschluss zu erhalten über Annahmen über Prozesse, Widerstände und Ziele des Lernens, die vom Subjekt als verallgemeinerbar unterstellt werden. Auch für eine Herangehensweise, die wie im vorliegenden Fall Bilder als Datenmaterial nutzt, ist die Klärung des eigenen Standpunkts als Standpunkt zentral. Andreas Gruschka verdeutlicht die Notwendigkeit einer solchen Klärung an seinen Erfahrungen in einem Forschungsprojekt mit Studierenden, die Fotos von charakteristischen pädagogischen Situationen gestalten und interpretieren sollten. Das im eigenen Erleben angelegte Vorwissen erschwert den Weg zu einer „Tiefenschicht der Deutung“ (Gruschka 2005, S. 18), das heißt zu einem Verständnis, das nach den Bedeutungen von Handlungen im gesellschaftlichen Kontext fragt, da die Studierenden „die Geltungsbedürftigkeit der Deutung des Erlebten (und damit seine Motiviertheit) nicht mehr erkennen, sich das Geschehene nicht mehr als Ausdruck einer kontingenten und regelgeleiteten, damit spezifisch sinnkonstituierten Praxis vorstellen [können].“ (Ebd.) Um diesem „ontologischen Fehlschluss“ (ebd.) zu entgehen, fordert Gruschka eine Art Regression ins Kleinkindalter, in dem die Frage „Warum ist das so?“ so lange gestellt wird, bis eine zufriedenstellende Antwort erfolgt ist (vgl. ebd.). Engler spricht ebenfalls von diesem Fehlschluss, der für sie die Form eines scheinbar spontanen Verstehens des Gegenübers annimmt, „ohne zu verstehen, wie das selbstverständlich Erscheinende zu Stande kommt.“ (Engler 2001, S. 132) Hilfreich ist die Frage nach den Vorannahmen und dem Wissen, das den Forschungsprozess leitet, deshalb, weil sie den Blick auf die eigenen Erkenntnisse und ihr Zustandekommen schärft. Sie macht Lücken sichtbar und hilft, diese zu schließen, Fragen an das Material zu formulieren und sich der Herkunft dieser Fragen bewusst zu werden. An dieser Stelle wird Theorie sehr praktisch, indem sie ihre eigene Weiterentwicklung befördert.

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E IN ZUSAMMENFASSENDER AUSBLICK Das Projekt „Lernbilder“ hat es sich zum Ziel gesetzt, eine Methode zu entwickeln, die mit Hilfe ästhetischer Materialien einen subjektorientierten Zugang zu Lernvorstellungen erwachsener Lernender erlaubt, und diese Methode in konkreten Forschungssituationen zur Anwendung zu bringen. Die Suche nach Lernvorstellungen Erwachsener und danach, welche Möglichkeiten die Arbeit mit Collagen für die Rekonstruktion von Lernvorstellungen und damit für eine Erweiterung der Grundlagen der Forschungen zum Lernen Erwachsener bietet, findet auf einer Basis statt, die den (erwachsenen) Menschen und sein Lernen grundsätzlich als im sozialen Zusammenhang eingebunden und zugleich in der Leiblichkeit, dem Lebenslauf und der Biographie des Einzelnen verortet versteht. Die Arbeit mit ästhetischen Materialien, in diesem Fall mit Collagen, wird als ein Weg gesehen, Ausdrucksweisen zu ermöglichen und damit die Grundlage für die Entstehung von Datenmaterial zu schaffen, in denen dieses Verständnis der Lernenden als gesellschaftliche Individuen berücksichtigt wird, die ihrer Welt sowohl als rationale als auch als sinnliche Wesen begegnen, sie wahrnehmen und ihr Sinn und Bedeutung verleihen. Diese Perspektive auf Lernen – als Standpunkt, von dem aus die Untersuchung von Lernvorstellungen im Projekt „Lernbilder“ geschieht, – wird in Kapitel 1 dargestellt. In Kapitel 2 wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich Collagen als Zugang zu subjektiven und zugleich verallgemeinerten Lernvorstellungen eignen. Das „Prinzip Collage“, das den fragmentarischen Charakter der Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung stark macht und zugleich die Fähigkeit des Menschen betont, Fragmente zu Einheiten zu verbinden, denen im Kontext des sozialen Umfelds Bedeutung verliehen wird, spielt dabei eine zentrale Rolle. Qualitäten der Collage, wie die Synchronizität der Darstellung, die Gleichzeitigkeit von Vollständigkeit und Unvollständigkeit, das allmähliche Entstehen von Bedeutung – im Aushandlungsprozess während der Herstellung und in der fertigen Collage – und die Verknüpfung von „Möglichkeitssinn“ und „Wirklichkeitssinn“(Boehm 2006, S. 16) im Entstehungsprozess werden herausgearbeitet. Mit der Betrachtung des Umgangs mit Gegenständen des Alltags in nicht-alltäglichen Kontexten wird eine weiteres Potential der Collage aufgezeigt: Verfremdung als Basis für eine erneute Aneignung und Sinngebung. In der Auseinandersetzung mit Theorien der Ästhetik in Kapitel 3 liegt der Fokus auf der Frage nach der Möglichkeit, den scheinbaren Gegensatz von Sinn und Sinnlichkeit in eine Verbindung von Rationalität und Ästhetik einmünden zu lassen, die die Begegnung des Menschen mit der Welt als eine Begegnung im Modus des „ästhetischen Denkens“ (Welsch 1990) versteht. Es wird deutlich,

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dass das Verständnis von Sprache, als Ausdrucksform der Rationalität, und Ästhetik, als Ausdrucksform der Sinnlichkeit, als Gegensatzpaar einer binären Logik gehorcht, die dann aufgebrochen wird, wenn beide Weltzugänge als Kommunikationsmöglichkeiten verstanden werden, als Möglichkeiten der Rezeption und der Expression des Verständnisses von der Welt. Theorien der Bildlichkeit und des Bildes in Kapitel 4 bilden die Grundlage der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von Bildern als spezifischen ästhetischen Ausdrucksmitteln. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der ikonischen Differenz als Moment der Bedeutungsentstehung im Bild und auf der Qualität des Bildes als Ort des „Stils“ (Wiesing 2000), der Sichtbarkeit einer Sichtweise. Beide Faktoren von Bildlichkeit tragen dazu bei, dass Bilder die Wahrnehmung der Wirklichkeit und damit die Wirklichkeit selbst mitgestalten. In Kapitel 5 wird ein Verständnis von Collagen als Medien eingeführt, das die Qualitäten der Collagen als Mittel des Ausdrucks und der Kommunikation ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. In dieser Perspektive sind Bilder, in diesem Fall Collagen, mehr als sichtbare Artefakte menschlichen Tuns. Sie sind Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses, das Spuren legt zu einem Verständnis der Bedeutungen und des Sinns, das diesem Selbstverständnis zugrunde liegt. Medien als bedeutungsvolle Gegenstände werden so zu Vermittlern von Sinn über Situationen und Zeit hinweg und Grundstein jedweder Kultur (z.B. Krämer 2008a). Die Beschreibung und Betrachtung des empirischen Zugangs und seiner Ergebnisse geschieht in drei Teilen: In Kapitel 6 werden die Besonderheiten der Collagen als Forschungsmaterial und die Entwicklung der Lernwerkstatt aus der Gruppenwerkstatt dargestellt. Dabei werden die Einflüsse des Kontextes des Entstehungsprozesses der Collagen auf deren Gestalt und Gehalt und die mit den Charakteristika der Collagenentstehung verbundenen Herausforderungen in Bezug auf die Interpretation der Collagen selbst deutlich (vgl. z.B. Sowa/Uhlig 2006). Der Aufbau der Collage aus Einzelsegmenten, und ihre Einbindung in ein Ganzes wird in der vorgestellten „Segmentanalyse“ (Breckner 2010) besonders berücksichtigt. Kapitel 7 ist den Collagen als Fälle in ihrer Besonderheit gewidmet und dokumentiert den Prozess der Interpretation, der sich an der Trias Wahrnehmen – Auslegen – Verstehen orientiert: Die drei Collagen werden unter dem Aspekt der Wahrnehmung detailliert beschrieben. Es folgen eine Betrachtung und erste Auslegung der Collage als Ganzes und eine tabellarische Zusammenstellung, in der die Auslegung des Ausdrucks der Teilnehmenden mit Verstehensaspekten der in der jeweiligen Collage (re)konstruierbaren Lernvorstellungen verknüpft wird.

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In Kapitel 8 werden die Collagen zusammengeführt und es wird danach gefragt, wie sich die herausgearbeiteten Themen Collagen-übergreifend verstehen lassen. Es wird deutlich, dass sich Lernvorstellungen als eine Landschaft (re)konstruieren lassen, in der sich Landmarken, das heißt zentrale und konkrete Aspekte der Lernvorstellungen, beschreiben lassen, die auf einem höheren Abstraktionsniveau zu Orientierungen zusammengefasst werden können. Diese Orientierungen bilden ein Netz, das der Perspektivität unterliegt: Je nach Situation und Kontext der_des Lernenden, das heißt je nach aktueller Perspektive, verändert sich das Verhältnis der Orientierungen zueinander, Zentrum und Peripherie variieren und es entstehen neue ‚Nachbarschaften‘. Eine Zusammenfassung des Projekts „Lernbilder“ und ein Ausblick auf sich eröffnende weiterführende Forschungsfragen finden sich in Kapitel 9.

1. Welche Vorannahmen bilden die Grundlage für die Frage nach den Lernvorstellungen Lernender?

Im Projekt „Lernbilder“ wird ein ungewöhnlicher Zugang gewählt, um die Lernvorstellungen erwachsener Lernender zum Gegenstand von Forschung zu machen. Der Wahl von Collagen als entstehendes Datenmaterial und der anschließenden Analyse und Interpretation dieses Materials liegen theoretische Vorannahmen zugrunde, die, wenn sie expliziert werden, den eigenen Standpunkt markieren. Im Fall der Untersuchung von Lernvorstellungen gilt es zu erläutern, wovon die Sicht auf das Lernen Erwachsener geprägt ist, welche Vorstellungen von Lernen der Forschung selbst zugrunde liegen. Dieser Abschnitt stellt die Grundlagen vor, von denen aus im Projekt „Lernbilder“ nach den Lernvorstellungen Erwachsener gefragt wird. In der aktuellen empirischen Lernforschung, wie sie z.B. von Arnd-Michael Nohl, Florian von Rosenberg und Sarah Thomsen in ihren Studien zu Lernorientierungen und dem Verhältnis von Lernen und Bildung unternommen wird (Nohl et al. 2015), bestimmen die Autor_innen den Lernbegriff in der Auseinandersetzung mit hermeneutischen, phänomenologischen und pragmatistischen Lerntheorien als Prozess, in dem es einerseits „zu einem Zuwachs an Wissen und Können innerhalb gegebener Rahmen kommt“ (Nohl et al. 2015, S. 152), dass andererseits „Lernen seine volle Ausprägung erst und gerade dort erhält, wo angesichts der Negativität einer Erfahrung das Vorverständnis, d.h. die ‚Erfahrungsregeln‘ [Buck] erschüttert sind und sich ein neuer ‚Horizont‘ [Meyer-Drawe] öffnen kann.“ (Ebd., S. 152) In Abgrenzung zu Prozessen der Bildung, in denen es um „die Welt- und Selbstreferenz in ihrer Gesamtheit, [...] die Art und Weise des Inder-Welt-Seins“ (Nohl 2014, S. 157f.) geht, wird Lernen als derjenige „rahmentransformierend[e]“ (Nohl et al. 2015, S. 153) Prozess herausgearbeitet, bei dem etwas Spezifisches gelernt wird, das immer in Bezug auf die lernende Person zu

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betrachten ist. Dieses Lernen von etwas Bestimmtem bezieht sich zunächst auf Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen, kann jedoch „zu ‚Umlernen‘ (Buck, Meyer-Drawe, Faulstich) führen und Verständnishorizonte revidieren. Doch beziehen sich die Verständnishorizonte, die hier revidiert werden, nie auf die Welt als Ganzes, sondern sind – korrespondierend mit dem Themenbezug des Lernens – immer ausschnitthaft: Man wird sich neuer Möglichkeiten zu lernen bewusst, erwirbt andere Lernstrategien, rückt vom defensiven Lernen ab, wird sich bezüglich eines Gegenstandsbereichs eigener Irrtümer klar. Stets haben wir es mit Veränderungen zu tun, die spezifische Ausschnitte im Selbst der Lernenden betreffen.“ (Nohl et al. 2015, S. 153)

Michael Göhlich und Jörg Zirfas nähern sich dem Lernen in ihrer Analyse von Lernszenen als einem stets „kontextuierten Prozess“ (Göhlich/Zirfas 2014, S. 135), für dessen Verständnis eine detaillierte Betrachtung der Situation, in der Lernen stattfindet, und die Beteiligung – auf welche Weise auch immer – anderer Personen notwendig ist. Für den Zugang der Szenographie fassen sie Lernen als ein inhaltlich zu differenzierendes Geschehen auf, bei dem es einen Unterschied macht, ob es um den Erwerb von Wissen, das Erlernen von Fähigkeiten oder der Entwicklung neuer Lern- und Lebensweisen geht (vgl. ebd., S. 134). Die Autoren weisen auf vier Modi des Lernens hin: Erstens auf seine „Dialogizität“ (ebd.), die Lernen als einen „Prozess der Auseinandersetzung mit dem Anderen“ (ebd.) fasst, zweitens auf die „Erfahrung“ (ebd.), die dem Lernenden widerfährt und deren Reflexion Lernanlass und Lernmoment ist, drittens auf den „Sinn“ (ebd.), der als Verbindungsglied zwischen dem Interesse der Lernenden und der „lebensweltliche[n] und gesellschaftliche[n] Relevanz des Lerngegenstands und des Erlernten“ (ebd.) fungiert, und viertens auf die „sinnliche, leibliche und emotionale Dimension“ (ebd.), die Lernen zu einer über das Kognitive hinausgehenden Tätigkeit macht. In einer exemplarischen literarischen Szene werden diese Modi des Lernens aufgezeigt, als die blinde und taube Helen Keller die Verbindung herstellt zwischen dem Empfinden des Wassers, das über ihre Hand läuft, und den Zeichen, die ihre Lehrerin in die andere Hand buchstabiert: „Die Welt hat Bedeutung (konstative Beziehung) und sie bedeutet die Welt (performative Beziehung). Lernen entsteht hier aus einem leiblichen Geschehen, in dem der subjektive Prozess und der Kontext, die Lernende, die Lehrerin, die Dinge und die Zeichen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in einem dichten Knoten involviert sind. Die lernende Helen erfährt – ihr widerfährt passiv und sie entdeckt aktiv – das semantische Gesetz von Sprache.“ (Göhlich/Zirfas 2014, S. 145)

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Anhand dieser Szene arbeiten die Autoren heraus, dass Lernen, als Sprung von einem Bewusstseinszustand in einen anderen, nicht auf reiner Intention beruht, sondern dass ein wesentlicher Teil des Lernens jenseits eines Regelwerks der Logik geschieht, wenn auch im Nachhinein die ‚Regeln‘ rekonstruiert werden können. Lernen wird bei Göhlich und Zirfas zu einem Moment, in dem die „Einbildungskraft“ (ebd., S. 149), die nicht der Forderung nach Wirklichkeitstreue folgen muss, zu einem wesentlichen Faktor im Zugang zur Welt wird. Die Erfahrung und Erkenntnis des Neuen braucht in dieser Perspektive den „fruchtbaren Moment“ (ebd., S. 150), der über das Sicher-Gewusste und Bekannte hinausführt. Ob und wie die Erfahrungen dieses fruchtbaren Moments lernend verinnerlicht werden, hängt nach Göhlich und Zirfas von verschiedenen Faktoren ab. In Helen Kellers Fall waren das ihre Willensstärke, die kindgerechte Herangehensweise der Lehrerin, die unterstützende Lernatmosphäre und die Erinnerung an erste Worte, die sie vor ihrer Ertaubung gelernt hatte (vgl. ebd., S.151). Die Erfahrung fruchtbarer Momente, die über den thematischen Lernaspekt hinaus, auch das Verhältnis zur Welt verändern, schließt an an die Ausführungen von Nohl et al. zu transformierenden Aspekten des Lernens: „Lernen bedeutet als eine Verlebendigung immer auch eine zukunftswirksame Metamorphose des Lernenden selbst.“ (ebd., S.152) Die Grundlagen von Göhlich und Zirfas sowie Nohl und Nohl et al. erweiternd und integrierend, kann die Perspektive, die das Projekt „Lernbilder“ in Bezug auf das Lernen Erwachsener einnimmt, in acht zentrale Thesen gefasst werden, die im Folgenden in ihren theoretischen Bezügen dargestellt werden.

1.1 L ERNEN

IN DER

Z EIT

Lernen ist ein Vorgang, der im gesamten menschlichen Lebenslauf in wechselnden Formen anzutreffen ist. Dass Menschen ihr ganzes Leben lang lernen (können), wird zunehmend zu einem Allgemeinplatz. Der Mensch ist sein Leben lang in der Lage, sich das für das Leben und Handeln notwendige Wissen und Können lernend anzueignen und auf eine sich verändernde Umwelt lernend zu reagieren. Der Mensch als ‚Wesen der Möglichkeiten‘ ist sein Leben lang in der Lage, den Herausforderungen desselben auf neue Art und Weise zu begegnen und als Mitgestalter des eigenen Lebenslaufs aufzutreten. Auf diese Weise sind Leben und Lernen untrennbar miteinander verknüpft (vgl. Hof 2009, S. 17) und dies nicht nur in der Kindheit und Jugend, sondern weit darüber hinaus.

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Darauf bauen Bildungsangebote und Weiterbildungsformate auf, die sich mittlerweile an Menschen bis ins hohe Alter wenden. Aber: Kinder lernen anders und anderes als Erwachsene, darauf weist Peter Faulstich hin, indem er die Rolle des Anschlusslernens im Lernen Erwachsener herausstreicht (vgl. Faulstich 2013, S. 171). Lernen, das wird bei der Betrachtung des Lernens Erwachsener besonders deutlich, geschieht nicht im „luftleeren Raum“, sondern im Kontext einer Biographie, in Auseinandersetzung mit Erfahrungen und in der Körperlichkeit der Einzelnen. Mit zunehmendem Alter wird die Frage nach der Sinnhaftigkeit des zu Lernenden zunehmend wichtig, da Erwachsene „in vielfältigen Kontexten stehen, Situationen unterschiedlich wahrnehmen, Themen unterschiedliche Relevanz zumessen und in ihrer Biographie Vergangenheit verarbeiten.“ (Ebd., S. 169) Sinn und Bedeutung sind nicht ohne Rücksicht auf die soziale Eingebundenheit der Einzelnen zu unterstellen und zu verstehen, und der Sinn, den Erwachsene Lernhandlungen zuschreiben, speist sich auch aus dem sozialen Umfeld. Bourdieus Konzept des Habitus legt die Annahme nahe, dass auch die Fähigkeit und die Bereitschaft zu lernen und die Entscheidung für oder gegen die aktive Teilnahme z.B. an Weiterbildung in Abhängigkeit steht zur Position der lernenden Person im sozialen Feld (vgl. ebd., S. 164ff.). Entsprechend werden auch die Risiken und Anstrengungen, die mit der Aufnahme von Lernhandlungen einhergehen, unterschiedlich bewertet. An diesem Punkt verbindet sich im Lernen die Gegenwart des Lernenden mit seiner Vergangenheit (Vorwissen und -erfahrung) und seiner Zukunft (Antizipation einer Verbesserung oder Gefährdung), und die Abwägungen, ob sich Lernen in dieser oder jener Situation lohne, fallen in unterschiedlichen Lebenssituationen und Lebensaltern unterschiedlich aus und haben unterschiedliche Lernzugänge zur Folge. Die individuelle (Lern)Biographie und aktuelle Lebenssituation Erwachsener beeinflusst ihren Blick auf und ihre Erwartungen an Lernsituationen und damit auch die Entscheidung für oder gegen die Aufnahme z.B. einer Weiterbildung und die Art und Weise, wie mit der Lernsituation umgegangen wird (vgl. Faulstich/Bracker 2015).

1.2 L ERNEN

UND

L EIBLICHKEIT

Lernen ist Teil des menschlichen Lebens und aus diesem Grund verankert in der einen menschlichen Daseinsform, in der Körper und Geist verwoben sind. Der Mensch lernt in seiner Leiblichkeit, indem er sich als Ganzes mit der Welt konfrontiert sieht und als Ganzes in ihr agiert.

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Peter Faulstich fasst diese Perspektive in seinem Entwurf einer kritischpragmatistischen Lerntheorie zusammen: „Unhintergehbare Voraussetzung menschlichen Lernens ist seine Leiblichkeit. […] Wir haben nicht nur Körper; wir sind nicht nur Geister; wir leben und lernen als Leiber.“ (Faulstich 2013, S. 143) Im Begriff der Leiblichkeit wird eine Unterscheidung aufgemacht zwischen dem „Vorhandenen-Sein“ (ebd., S.144) des Körpers, der gesehen werden kann und Sinne hat, um Informationen der umgebenden Welt aufzunehmen, und dem „In-der-Welt-Sein“ (ebd.) des Leibes. In der Denktradition der Phänomenologie bilde der Leib ein Drittes, das „eine Brücke schlage[...] zwischen Körper und Geist, zwischen gelebtem Empfinden und erlebtem Erscheinen“ (ebd.) Erst mit dem Begriff des Leibes könne nachvollziehbar werden, wie aus den Informationen, die der Körper aufnehme, bedeutungsvolle Wahrnehmungen und Erfahrungen werden könnten. Der Leib wird zum Ort der Intentionalität, der Ausrichtung auf die Welt und zugleich der Ort, an dem die Welt sich erst als solche zeigt (vgl. ebd., S. 147 und 149f.). „Der Mensch ist nicht ein Wesen, das denkt und auch einen Leib hat, sondern er ist ein leibliches Wesen, das denkt. Unsere Vernunft ist leibhaftig und damit ausgeliefert an eine Welt, die dadurch existiert, dass der Mensch sie vernimmt (Vernunft), in ihr steht (Verstand), sie für wahr hält (Wahrnehmung).“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 173) Wahrnehmen, Empfinden, Wollen und Handeln, jedwede Begegnung mit der Welt und jedweder Umgang mit und in derselben, können gedacht werden als Verflechtungen, in denen Körper und Geist als Leib verbunden und als Leib in der Welt sind. „Leib ist das Wesen unseres in der Weltseins mit körperlichen und geistigen Bezügen.“ (Faulstich 2013, S. 152) Lernen, als ein Vorgang, in dem Menschen ihr Verhältnis zur Welt entwickeln und sich bewusst und unbewusst in ihr verorten, ist an den Leib gebunden, der die unhintergehbare Grundlage menschlichen In-der-Welt-Seins darstellt. Dabei stellt besonders die Körperlichkeit des Menschen einen Faktor dar, der das Lernen der Einzelnen beeinflusst, begrenzt, nötig und möglich macht. Die Widerstände, die die sachliche und soziale Welt bietet (vgl. auch Meyer-Drawe 2012a, S. 159ff.), werden nicht zuletzt auf körperlicher Ebene spürbar, ebenso wie der Körper dem Denken und Wollen Widerstände entgegensetzt (vgl. Faulstich 2013, S. 151). Bezugnehmend auf Holzkamps Begriff der „körperlichen Situiertheit“ (Holzkamp 1995) macht Faulstich deutlich, dass die Körperlichkeit durch Lernen nicht aufhebbar sei und berücksichtigt werden müsse, sowohl für das eigene Lernen als auch in Bezug auf ein Verstehen des Lernens als Tätigkeit des Menschen. Im Begriff der Leiblichkeit wird der Mensch zu einem Wesen in Zeit und Raum, das sich zu jeder Zeit in einer konkreten Situation an einem bestimmten

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Ort befindet, das sich erinnern und sich in der Zukunft entwerfen, aber niemals dem jeweiligen Moment entkommen oder sich ihm entziehen kann. Der denkende und entwerfende Geist wird im Leib an das Hier und Jetzt gebunden. In dieser Anbindung an Raum und Zeit, die auch das Eingebunden-Sein in soziale Bezüge meint, kommt es immer wieder zu Momenten, in denen die Welt oder die Dinge und Menschen in ihr sich den Erwartungen widersetzen, ihnen nicht entsprechen – dazu kann es auch in Begegnungen mit sich selbst kommen: Der Mensch wird sich selbst zum Rätsel. „Widerfahrnisse“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 175), die „Widerständigkeit der Welt, die sich einem einheitlichen, vorgegebenen Sinn nicht fügt“ (Faulstich 2013, S. 149), verursachen Irritation, bringen das Alltägliche ins Stolpern und können so Anlass sein für Staunen und Innehalten. Da dem Menschen „weder Selbstverständnis noch das Weltverständnis gegeben“ (ebd., S. 149) sind, bilden Widerfahrnis, Begrenzungserfahrung, Auseinanderfallen von Wollen und Können Anlässe für ein Lernen, das auf Aneignung und Integration von Sinn und Sinnlichkeit ausgerichtet ist (vgl. ebd.).

1.3 L ERNEN

ALS

V ERUNSICHERUNG

Verunsicherung spielt in Verbindung mit Lernen eine zentrale Rolle, indem Lernen durch eine solche Verunsicherung überhaupt erst initiiert wird, oder aber das neu Gelernte das Alte infrage stellt. Käte Meyer Drawe macht diese Position in ihrem Aufsatz „Lernen aus Passion“ (Meyer-Drawe 2012b) stark, in dem sie die Perspektive einer kritischen Lerntheorie der Perspektive der Phänomenologie annähert und diese Annäherung kritisch befragt. Sie entwickelt in ihren Ausführungen einen „emphatischen Lernbegriff“ (ebd., S. 10), der Lernen als „Leidenschaft“ begreift und als Form des Umgangs mit „Erschütterungen, die Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten aufs Spiel setzen“ (ebd.). Dieses leidenschaftliche Lernen sei nicht an ein Lebensalter gebunden, sondern an den Menschen, der sich immer wieder in Situationen begebe oder sich in solchen wiederfände, in denen die Macht der Gewohnheit und der Kerker der Alltagswelt überschritten würden zugunsten einer Erweiterung des eigenen Horizonts (ebd.). Derartige Situationen sind aus der Sicht Meyer-Drawes das Ergebnis von „Widerfahrnissen“, die der Mensch nicht in der Hand hat, die nicht seinem eigenen Handeln entspringen, in denen „das Vertraute brüchig und das Neue noch nicht zur Hand ist“ (ebd., S. 13). In diesen Momenten der Konfrontation mit dem eigenen Unverständnis gegenüber dem Unvertrauten würden (Vor)Urteile infrage gestellt, die bislang das Handeln bestimmten, und es käme zu einer „Umstrukturierung von Erfah-

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rungshorizonten“ (ebd.,S. 16) in der sich das Wissen und Können als Nichtwissen und Nichtkönnen herausstelle und gewohnte Denkbewegungen sich als nicht (mehr) angemessen darstellten. In Klaus Holzkamps in der kritischen Psychologie verankerten Lerntheorie bezeichnet der Begriff der „Diskrepanzerfahrung“ den Moment, in dem ein Mensch erkenne, dass die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht ausreichen, einen Gegenstand zu erfassen oder eine Situation zu bewältigen. Er ist verbunden mit einem „Gefühlszustand des Ungenügens, der ‚Frustration‘, der Beunruhigung, Angst o.ä.“ (Holzkamp 1995, S. 214). Diese emotionale Qualität einer Handlungssituation, für deren schlichte Bewältigung das (kognitive oder motorische) Handwerkszeug fehlt, bildet die Grundlage, auf der in Holzkamps Lerntheorie aus der erfahrenen Handlungsproblematik eine subjektive Lernproblematik wird, der sich das Individuum im Interesse einer Verbesserung der subjektiven Lebensqualität lernend widmet. Die Erfahrung einer Verunsicherung im bisher selbstverständlichen Umgang mit der Welt wird als Lernmotiv und als Effekt von Lernen erkennbar. Holzkamp weist auf die grundsätzliche Unsicherheit hin, die mit jeder Veränderung der individuellen Handlungs- und Denkweisen einhergeht, und die sich an der Frage entzündet, inwiefern die „unvermeidlichen Anstrengungen und Risiken“ (Holzkamp 1985, S. 371), die mit einer solchen Veränderung einhergehen, in einem angemessenen Verhältnis zu den zu erwartenden Verbesserungen stehen.

1.4 L ERNEN

IN DER

W ELT

Im Prozess des Lernens entwickeln Lernende Wege, in dieser Welt zu bestehen und, mit den Anforderungen der Welt konfrontiert, ihr Leben zu gestalten. Lernen ist Teil des Umgehens mit der Welt. Diese Perspektive macht Peter Faulstich stark, wenn er, auf so unterschiedliche Perspektiven wie die pragmatische Deweys, die kritisch-psychologische Holzkamps und die phänomenologische Meyer-Drawes Bezug nehmend, konstatiert: „Lernen ist angeeignete Erfahrung bei verändernder Gestaltung. […] Es geht um ein Orientieren des Handelns, um Probleme zu lösen“ (Faulstich 2013, S. 25) und später: „Lernen lässt sich nicht hinreichend als interner Prozess des Denkens modellieren, sondern als Aspekt menschlicher Tätigkeit in ihrem Bezug zur Welt. Das Subjekt setzt sich gegen die Welt ab, braucht aber immer die anderen, um sich selbst zu bestimmen.“ (Ebd., S. 63) In diesem Verständnis steht menschliches Lernen immer im Zusammenhang mit der die jeweiligen Lernenden umgebenden Welt, sei sie sachlich oder sozial.

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Im Lernen ist die Verbindung zwischen Mensch und Welt deutlich als Auseinandersetzung markiert und zwar als eine solche, in der der Mensch herausgefordert ist, sich zu den und mit den Gegebenheiten seiner (Um)Welt zu verhalten und zu positionieren. Die Herausforderung kann sowohl darin bestehen, mit einem Hammer umgehen zu müssen, ohne darin geübt zu sein, oder aber darin, eine Diskussion moderieren zu wollen, die ein subjektiv wichtiges Thema zum Gegenstand hat. Im Fall des Umgehens mit Hammer und Nagel ist der Mensch ganz konkret gefordert, sich körperlich zu positionieren, die gegebenen Werkzeuge zu nutzen und sich über das Ziel seiner Handlung klar zu werden; im Fall der Diskussionsmoderation geht es sowohl um eine körperliche Positionierung den Diskutierenden gegenüber, als auch um eine mentale Positionierung im Verhältnis zum Thema, um das eigene Handeln in der Situation sinnvoll zu gestalten. In beiden Fällen kann von Lernen gesprochen werden, das einerseits dazu führt, das eigene Handeln gestalten zu können und andererseits auch dazu, die Welt, in der sich die_der Lernende bewegt, zu gestalten. Der Begriff der Gestaltung, die nach Faulstich das Ziel von Lernen darstellt, ist entsprechend in einem umfassenden Sinn zu verstehen, worauf auch der Verweis hindeutet, dass der Mensch sich lernend „gegen die Welt“ (ebd.) absetze und sie zugleich für die Entwicklung des Selbst brauche (s. o.). Menschliches Lernen zielt somit auf eine Gestaltung des Selbst und auf die Gestaltung der sachlichen und sozialen Welt ab, in der sich dieses Selbst schließlich wiederfindet. Dass diese Gestaltung nicht immer intendiert ist und die_der Lernende nicht zwangsläufig die_der Initiator_in von Lernprozessen ist, darauf weist Käte Meyer-Drawe hin, die besonders ein Lernen infolge von Widerfahrnissen diskutiert, die sowohl von der dinglichen Welt ausgehen als auch von der (mit)menschlichen, und die diese Welt zugleich öffnen, indem sie das Altbekannte außer Kraft setzen und einen Moment des Zögerns, des Innehaltens ermöglichen und bisweilen erzwingen. „Erfahren ist nicht nur schauen, sondern bedeutet Berührung mit der Welt“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 173), die Wirkungen entfaltet, die die_der Einzelne nicht bezwecken oder verhindern kann. Das Staunen und die Irritation, die mit dieser Erfahrung einhergehen, sind für MeyerDrawe zentrale Momente des Lernens, indem sie Anstoß geben, Alltägliches ob seiner Selbstverständlichkeit zu befragen, und zugleich sind es Momente, denen sich der Mensch nicht entziehen kann. Die Gestaltungs‚macht‘ liegt in dieser Perspektive nicht ausschließlich bei den Lernenden, sondern ebenso bei den Dingen und Menschen, die die Welt der Handelnden bevölkern. Das ‚Umgehen mit der Welt‘ besteht demnach zugleich in einem aktiven Zugehen auf die sachliche und soziale Welt und die Erkundung ihrer Zusammenhänge zum Zwecke

V ORANNAHMEN

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einer Orientierung und Positionierung meiner Selbst und einem passiven Erleiden dieser Welt, das überhaupt erst in die Lage versetzt, in der sinnlichen und affektiven Begegnung mit den Dingen und Menschen, die Welt als solche zu erfahren, in ihrem Widerstand einen Zugriff auf sie zu bekommen.

1.5 L ERNEN

UND DAS

N EUE

Lernen heißt Neues erleben, entdecken, verstehen und begreifen. Diese grundlegende Annahme über das Lernen stellt es in den Zusammenhang einer Vorstellung vom menschlichen Leben, die nicht vor allem die bestmögliche Anpassung der_des Einzelnen an die Gegebenheiten im Blick hat, sondern die Möglichkeit der Erweiterung und Vertiefung des Verständnisses der Welt im Interesse einer Erweiterung der individuellen und gemeinschaftlichen Handlungsmöglichkeiten (vgl. Faulstich 2013, S. 17f.). Sie knüpft an verschiedene Denktraditionen an, die sich der Frage nach dem Lernen als menschliche Fähigkeit angenommen haben. Da ist zum einen John Dewey, der, als Denker in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus des beginnenden 20. Jahrhunderts, mit seiner Explikation von Lernen als Erfahrung und der Betonung der Nähe von Lernen und Forschen den Bezug des Lernens zum Handeln in den Vordergrund rückt. Aus dieser Perspektive basiert jedes Lernen auf einem Erlebnis, das aufgrund seiner besonderen Qualität und der besonderen Aufmerksamkeit, die diesem Erlebnis geschenkt wird, auf eine Weise systematisch verarbeitet und verinnerlicht wird, die es zu einer Erfahrung werden lässt. Erfahrungen wiederum, die mehr sind als unverbunden dastehende Erlebnisse, werden handlungsleitend, indem sie eine Erweiterung des Verständnisses der Welt und ihrer Zusammenhänge ermöglichen. Dewey berücksichtigt in seinen Ausführungen zum Lernen ausdrücklich die Einbettung jeglicher Erfahrung und damit auch jeden Lernens in den Kontext des Individuums als wahrnehmendes, fühlendes, denkendes Wesen und zugleich in den Kontext der sozialen Welt, mit der das Individuum in beständiger Interaktion lebt (vgl. Faulstich 2013, S. 113ff.). Zum zweiten sind Klaus Holzkamps Überlegungen zum Lernen in der Tradition der kritischen Psychologie maßgeblich für eine Vorstellung von Lernen, das mehr ist als eine Veränderung menschlichen Handelns im Sinne einer Anpassungsleistung an gegebene Bedingungen. Für Holzkamp ist menschliches Lernen zentral davon bestimmt, dass das Individuum im eigenen Lebensinteresse die ihm gegenübertretenden gesellschaftlichen Verweisungszusammenhänge „soweit individuell erfassen [muss], dass es subjektiv begründet über seine Lebens-

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und Entwicklungsbedingungen verfügen, d.h. subjektiv handlungsfähig werden kann.“ (Holzkamp 1995, S. 188) Handlungsfähigkeit und der Erhalt und die Erweiterung derselben sind für Holzkamp Ziel menschlichen Handelns und damit auch Lernens. Der Verlust der Handlungsfähigkeit ist mit Gefühlen der Angst verbunden und dem dringenden Bedürfnis, die Handlungseinschränkung zu überwinden, was einer „Überwindung der Gefahr der Ausgeliefertheit an die unmittelbaren Bedingungen“ (Holzkamp 1985, S. 242) entspricht. Das Bedürfnis der Erweiterung der individuellen und gemeinschaftlichen Verfügung über die Lebensbedingungen liefert die emotional-motivationale Grundlage für begründete „expansive“ (Lern)Handlungen, ebenso wie das Bedürfnis einer Abwendung von Bedrohung aufgrund ihrer emotional-motivationalen Qualität „defensive“ (Lern)Handlungen begründet (vgl. Holzkamp 1995, S. 190ff.). In Holzkamps Argumentation lässt sich diese Unterscheidung der Lernbegründungen anschließen an seine Unterscheidung von „deutendem“ und „begreifendem Denken“ (Holzkamp 1985, S. 394ff.): Im Begreifen, so Holzkamp, überschreitet das Subjekt die augenscheinliche Faktizität des Gegebenen, die es deutend unter Einbeziehung möglichst vieler Einflussfaktoren erfasst hat, und begreift das Gegebene als etwas historisch Gewordenes, das in sich stets die Möglichkeit der Veränderung trägt. Lernen als Begreifen hieße demnach, ein Überschreiten des deutenden Verständnisses des Gegebenen als Faktum hin zu einem begreifenden Verständnis desselben als Potential. In Holzkamps Verweis darauf, dass dieser qualitative Sprung, dieser Bruch zwischen Deuten und Begreifen6 nur in der „reale[n] existenzielle[n] Betroffenheit“ (ebd., S. 399) möglich ist, liegt auch der Hinweis darauf, dass Lernen als Begreifen immer eingebunden ist in das Leben der Lernenden, das Erfahrungsmöglichkeiten bietet, in denen Lernanlässe liegen können. Die Frage nach der Möglichkeit, überhaupt etwas Neues zu entdecken, liegt auch dem Begriff der Abduktion von Charles S. Peirce zugrunde7 (vgl. auch Schröer 2011). Jo Reichertz‘ Interpretation des Gedankens der Abduktion folgend, ist die Entdeckung und das Verständnis des Neuen ein „kreativer Schluss“ (Reichertz 1993, S. 271), der seinen Anlass im Kontakt mit etwas Fremdem, Unverständlichem hat und als Fundus seiner Kreativität auf das Vorwissen zu-

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Holzkamps Ausführungen haben in der Entwicklung einer kritischen Psychologie zentrale gesellschaftstheoretische und -kritische Implikationen. Diese werden in der vorliegenden Arbeit nicht weiter ausgeführt.

7

Der Gedanke der Abduktion erinnert an den Vorgang des Spurenlesens als Möglichkeit der Erkenntnis des Neuen, wie er von Kogge und Krämer beschrieben wird (vgl. Kogge 2007, Krämer 2008a und 2008b).

V ORANNAHMEN

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rückgreift. Der Kontakt mit dem Fremden „löst Überraschung aus, echtes Erschrecken.“ (Ebd., S. 270)8 In der Interpretation von Reichertz ereignen sich Abduktionen und sind nicht herbeizuführen, und dennoch lässt sich, so Reichertz eine Haltung einnehmen, die die Entdeckung von etwas Neuem wahrscheinlicher macht. Diese Haltung ist dadurch gekennzeichnet, „daß der bewusst arbeitende, mit logischen Regeln vertraute Verstand ausmanövriert wird“ (ebd., S. 277, Herv. im Original) und eine Bereitschaft herrscht, „alte Überzeugungen aufzugeben und nach neuen zu suchen.“ (Ebd., S. 279) In dieser Haltung kann Bekanntes in eine neue Ordnung gebracht, neu interpretiert werden. An dieser Stelle treffen sich Pierce, der Pragmatiker, und Holzkamp, der kritische Psychologe: Auch Holzkamp beschreibt eine Lernhaltung, die die Konzentration auf Gewusstes und Festgelegtes zurückstellt zugunsten einer Einstellung, in der „ein bestimmter Erfahrungszusammenhang ‚in‘ mir zur Geltung kommen kann.“ (Holzkamp 1995, S. 330)

1.6 L ERNEN –

INTENDIERT UND ‚ NEBENBEI ‘?

Lernen geschieht intendiert und als Mitlernen. Intendiertes Lernen unterscheide sich deutlich von Vorgängen des inzidentellen Lernens, das im Zuge der Bewältigung einer Situation zum Tragen komme, betont z.B. Meyer-Drawe (vgl. Meyer-Drawe 2012b). So sei Lernen „ein kreatives Handeln, ein ganz besonderes leidenschaftliches Tun, das vom eigenen Willen des Lernenden angetrieben wird.“ (Ebd., S. 17) Die Gründe, Anlässe und Voraussetzungen Lernaktivitäten aufzunehmen, verortet Meyer-Drawe in der Empfänglichkeit des Menschen, der in der Welt als leibliches Wesen (s. Kap. 1.2) verortet sei. Diese Empfänglichkeit wiederum ruhe auf der Wahrnehmungsfähigkeit, der Sinnlichkeit des Menschen, die es dem Menschen in ihrer „Verschlingung“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 200) mit der Vernunft ermögliche, sich in ein Verhältnis zur Welt zu setzen. Lernanlässe lägen in den Momenten, in denen „etwas am Selbst-, Welt- und Fremdverhältnis rüttelt und die Gewohnheiten des Denkens und Wahrnehmens aus den Fugen geraten.“ (Ebd.) „Unstimmigkeit, Irritation, Ausweglosigkeit, Staunen, Wundern, Stutzen, Ratlosigkeit, Verwirrung und Benommenheit unterbrechen den Fluss des Selbstverständlichen und drängen auf Verständnis.“ (Ebd., S. 202). In diesen Momenten, in denen einem Men-

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Die Vorstellung einer irritierenden, aufschreckenden Begegnung – mit der sozialen oder dinglichen Welt – erinnert an das Widerfahrnis (s. Kap. 1.3), das für die Phänomenologie eine zentrale Größe im Nachdenken über Lernen darstellt.

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schen etwas widerfährt, das ihn aus seinen gewohnten Denk- und Handlungsbahnen wirft, liegt die Möglichkeit zu lernen, die Welt neu zu ordnen, Fragen zu stellen und Antworten zu entwerfen. Anders als Meyer-Drawe beschreibt Klaus Holzkamp intendiertes, also absichtsvoll gewähltes und gestaltetes Lernen als Akt, in dem Lernende sich bewusst für die Auseinandersetzung mit einem Thema oder einer Aktivität entscheiden, um eine Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit und eine Erhöhung ihrer subjektiv empfundenen Lebensqualität zu erreichen. In einer solchen Lernintention wäre „die Gewinnung einer die jeweilige Situation überdauernden Permanenz und Kumulation des Gelernten mitintendiert, […] daß nun im Weiteren an diesem neuen Niveau angesetzt werden kann.“ (Holzkamp 1995, S. 183). Diesen Lernprozess gestalte die_der Lernende in verschiedenartigen Lernhandlungen, je nachdem um welche Art des Lernens (motorisch oder mental sprachlich) es sich handele. Das Mitlernen oder inzidentelle Lernen ist eine Form des Lernens, die im Gegensatz zu dem bisher Beschriebenen eben nicht absichtsvoll als Lernprozess initiiert wird – weder von Lernenden noch von Lehrenden –, sondern es handelt sich um Lernvorgänge, die stattfinden, während einer anderen Tätigkeit nachgegangen wird. Diese Lernvorgänge sind den Lernenden u. U. nicht bewusst oder werden erst im Nachhinein als solche verstanden (vgl. Faulstich/Bracker 2015) und bilden eine besondere Form informellen Lernens (vgl. Dohmen 2001). Nina Carstensen (dies. 2012) versucht Vorgänge „nicht-intendierten informellen Lernens“ (ebd., S. 165) bei Teilnehmenden einer Workshop-Reihe zu erfassen, die im Rahmen eines kommunalen Managementprojekts das Ziel verfolgen, einen Managementplan zu erstellen. Im Laufe der Zeit, so Carstensen, konnten bei den Teilnehmenden Veränderungen rekonstruiert werden auf der Ebene der „Aussagen über die Welt“ (ebd., S. 171), das „eigene Selbstverständnis, Motive und grundlegende Deutungsmuster“ (ebd.) betreffend, Veränderungen, die die „soziale Dimension“ (ebd., S. 172), d.h. die Interaktion der Teilnehmenden, umfassen und solche, die „auf der kognitiven Ebene […] verschiedene Wissensformen und den Umgang mit diesen“ (ebd.) sichtbar werden ließen. Ähnliches fand Simone Hocke in ihrer Arbeit mit Betriebsräten (Hocke 2012a). Sie wertete Gruppendiskussionen aus unter den Aspekten „Konfliktlinien und Konfliktfelder und […] Konflikte als Lernanlässe“ (Hocke 2012b, S. 269) und konstatiert: „KonfliktLernen beinhaltet eine Parallelität von Handeln/intentionalem Lernen und inzidentellen Lernprozessen.“ (Ebd., S. 275) Inzidentelles Lernen sei zwar unbeabsichtigt, aber nicht zufällig. „Was jemand warum aus welcher Situation lernt oder auch nicht lernt, ist geprägt von personaler Situiertheit, Bedeutungen und Prämissen sowie Möglichkeitsräumen.“ (Ebd.) Diese Form des Lernens findet

V ORANNAHMEN

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sich nicht nur im individuellen Handeln, sondern auch in Formen kollektiven Handelns und sie geht durchaus mit intendierten kollektiven und individuellen Lernprozessen einher. „Mitlernen“ (Holzkamp 1995, S.183) oder wie Käte Meyer-Drawe es nennt, „Lernen en passant“ (Meyer-Drawe 2012b, S. 9) sind allgegenwärtig: „Mitlernen begleitet nämlich mehr oder weniger jeden Handlungsvollzug und ist demnach auch bei der Bewältigung jeder Handlungsproblematik auf die eine oder andere Weise involviert.“ (Holzkamp 1995, S. 183; Herv. im Original) Es ist, anders als intendiertes Lernen, der Reflexion nur im Nachhinein zugänglich, und ist dennoch nicht weniger wirksam und ebenfalls Teil dessen, was als Lernen bezeichnet werden kann (vgl. z.B. Illeris 2006).

1.7 L ERNEN –

ANWENDUNGSORIENTIERT UND TRANSFORMATIV

Indem Lernen auf zukünftige (Lebens)Situationen vorbereitet und die Entwicklung von Fähigkeiten ermöglicht, ist es anwendungsorientiert. Zugleich ist es mehr als das, indem es Menschen in die Lage versetzt, sich zur Welt zu verhalten, in ihr zu handeln und sie zu verändern. Diese Annahme eröffnet eine Verbindung zwischen Lernen als dem Akt des Sich-in-die-Lage-Versetzen-etwas-zu-tun, sei es eher gedanklich oder eher praktisch, und dem, was seit Humboldt „Bildung“ genannt wird, und das den Vorgang und dessen Folgen beschreibt, in dem Menschen sich mit den Gegebenheiten der Welt auseinandersetzen, in der Auseinandersetzung mit diesen eine Identität entwickeln und zugleich an der Gestaltung der Welt teilhaben (vgl. Faulstich 2010). Joachim Ludwig entwickelt diesen Gedanken in seinem Entwurf einer Bildungsprozessforschung (Ludwig 2014)9 weiter, die von einer Stufenfolge von Lernen zu Bildung Abschied nimmt, wie sie im aktuellen Diskurs vorherrsche, und stattdessen „Bildung und Lernen als differente Diskurse bzw. Perspektiven auf ein und denselben Prozess der Welt- und Selbstverständigung“ (ebd., S. 185) fasst. Dies ist möglich, wenn sowohl Lernen als auch Bildung als sozial verankert verstanden werden, wie es Ludwig im Anschluss an Holzkamp ausführt. Lernen wird bei Ludwig als ein Prozess konzipiert, in dem Lernende in Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Welt, die ihnen in

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Auf bildungspolitischer Ebene birgt dieser Ansatz durchaus problematische Aspekte, da mit der Annäherung von Bildung an Lernen die emanzipatorische Wirkmächtigkeit des Bildungsbegriffs verschwimmt und der Ruf nach „Bildung für alle“ reduziert werden kann auf die Forderung nach Lernmöglichkeiten für alle.

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Form gesellschaftlich vermittelter Bedeutungen begegnen, ihre Handlungsfähigkeit in Bezug auf konkrete Problemstellungen erweitern oder erhalten und dies zugleich die Möglichkeit birgt, das eigene Verhältnis zur sachlich-sozialen Welt zu reflektieren und damit die Basis einer Veränderung zu legen (vgl. ebd., S. 195). Bildung, so Ludwig in Abgrenzung zum Begriff der transformatorischen Bildung bei Kokemohr, sei „nicht nur als grundlegende Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses zu verstehen [...], sondern auch als Transformation konkreter und abgrenzbarer Bedeutungs- und Wissenshorizonte.“ (Ebd.) An diesen Gedanken einer Annäherung des Bildungs- und des Lernbegriffs lässt sich das kritisch-emanzipatorische Selbstverständnis der Theorie des „Transformative Learning“ anschließen, das von Jack Mezirow in den 1970er Jahren in seinen Grundlagen ausgearbeitet und seitdem vielfach weiterentwickelt wurde. Diese besonders in den USA und Kanada rezipierte Theorie- und Forschungsperspektive betrachtet Prozesse, in deren Verlauf sich nicht nur das kognitive Wissen erwachsener Lernender verändert und erweitert, sondern auch Veränderungen in Bezug auf Identität zu beobachten sind. In dem Maß, in dem erweitertes Wissen und Können eine Neubewertung von Erfahrungen zur Folge haben, können auch Meinungen, Einstellungen und (Vor)Urteile neu formuliert werden und Lernprozesse damit beitragen „zu autonomem, kritischem Denken und zur Urteilsfähigkeit sowie zur individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit.“ (Zeuner 2014, S. 101) Transformative Lernprozesse können initiiert und unterstützt werden durch Möglichkeiten der kritischen Reflexion scheinbar selbstverständlicher Annahmen in einem reflexiven Diskurs, der in Anlehnung an Habermas' „Theorie des kommunikativen Handelns“ idealerweise als herrschaftsfrei gedacht wird und subjektive Einstellungen und Überzeugungen als veränderbar über den Weg wechselseitiger Verständigung versteht (vgl. ebd. S. 103ff.). Die damit einhergehende Veränderung des Referenzrahmens, der die Einstellungen und Deutungen des Individuums im Verhältnis zu seiner Umwelt beschreibt, bildet die eigentliche Zielgröße emanzipatorischer (Erwachsenen) Bildung. Christine Zeuner betont, dass Lernen für Menschen durchaus auch instrumentellen Charakter habe, der sich in kurzfristigen Lernbegründungen zeige, dennoch läge in diesen Lernanlässen die Chance, Transformationen zu ermöglichen, die, obwohl nicht immer intendiert, dennoch das Verhältnis der Beteiligten zu sich und der Welt nachhaltig beeinflussten. Eine auf der Idee transformativen Lernens basierende Gestaltung der Lehre und des Lernens in der Erwachsenenbildung, die partizipativ und teilnehmenden-zentriert ausgerichtet sei, könne diese Chance auf transformatives emanzipatorisches Lernen, die nach Mezirow in jedem Lernprozess liege, vergrößern (vgl. ebd., S. 112). Aus den hier skizzierten Ansätzen von Ludwig und Zeuner wird ersichtlich, wie Lernen und Bildung sich

V ORANNAHMEN

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an dem Punkt treffen, an dem Lernende nicht mehr als Einzelne verstanden werden, die lernen, um in der Welt bestehen zu können, sondern als durch und durch gesellschaftliche Wesen, deren Verhältnis zu sich und zur Welt sich (auch) in – intendierten und nicht-intendierten – Prozessen des Lernens entwickelt.

1.8 L ERNEN

UND

G ESELLSCHAFT

Lernen ist ein individuelles Geschehen und zugleich eines, das stets in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Strukturen steht. Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass Lernen, wie es hier befragt wird, den lernenden Menschen als Ganzen in den Blick nimmt, in seiner Leiblichkeit, seiner Individualität, seiner Begrenztheit und „bedingten Freiheit“ (Bieri 2005) und seiner Einbindung in soziale Strukturen. Erwachsene Lernende sind in ihren jeweiligen Lernhandlungen einerseits als einzelne, individuelle Akteure zu sehen, die Entscheidungen fällen, Fähigkeiten haben und als „Intentionalitätszentren“ (Holzkamp 1985, S. 238) anderen Intentionalitätszentren, nämlich anderen Menschen, gegenüber stehen und handelnd in die Welt eingreifen. Es sind einzelne Lernende, die Erfahrungen machen und darüber die Welt entdecken, es ist die Leiblichkeit des Einzelnen, die ihn in Raum und Zeit verortet (Faulstich 2013, unter Bezugnahme auf Waldenfels), Widerfahrnisse und Diskrepanzerfahrungen begegnen Einzelnen. Zugleich, und das ist nicht nur ein temporaler Bezug, finden all diese Ereignisse in sozialen Bezügen statt, sind von diesen durchdrungen und strukturiert. In Bourdieus Konzept des Habitus, der sowohl gesellschaftliche Strukturen formt als auch von diesen strukturiert wird, muss Lernen eine zentrale Rolle einnehmen: Die Merkmale des Habitus eines Milieus werden lernend erworben und Veränderungen sind nicht beliebig und nur langsam zu erwirken. Und: Der Habitus als strukturierendes Prinzip beeinflusst mögliche Veränderungen und zieht ihnen Grenzen (vgl. Faulstich 2013, S. 164ff.). Lernen ist ein Prozess der Erschließung und Aneignung gesellschaftlich vermittelter Bedeutungen und zugleich ein Prozess der körperlichen Einverleibung und Ermächtigung; beides ermöglicht ein individuelles Handeln in der Gesellschaft, das Reproduktion des Gegebenen und dessen Überschreitung in einem ist. Zusammenfassend lässt sich Lernen auf der Grundlage dieser Thesen als ein Geschehen beschreiben, das grundsätzlich im Verhältnis zwischen der_dem Einzelnen und der Welt, die sie_er (er)lebt, verortet werden kann. Es findet statt in der Leiblichkeit der_des Einzelnen, zeitlich aufgespannt in Biographie und Lebenslauf und eingebunden in gesellschaftliche und soziale Kontexte. Als inzi-

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dentelles Lernen oder Mitlernen durchzieht es, der Reflexion nur bedingt zugänglich, das gesamte Leben des Menschen. In Formen intendierten Lernens, wendet sich die_der Einzelne bewusst einer für sie_ihn wesentlichen, aber mit den ihr_ihm zur Verfügung stehenden Fähigkeiten nicht zu lösenden Aufgabe zu oder aber sie_er wird durch Irritationen des Gewohnten, durch eine Erschütterung ihrer_seiner Sicht auf die Welt dazu veranlasst, lernend tätig zu werden. Diese Lerntätigkeit ist einerseits auf die Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit ausgerichtet, enthält aber zugleich die Möglichkeit, transformierend auf das Verhältnis zu sich und zur Welt zu wirken.

2. Warum Collagen?

Die Collage als Form der ästhetischen Produktion hat einen ganz praktischen Vorteil: Auch Personen, die wenig bis keine Übung in der klassischen Bildproduktion mit Farbe und Pinsel oder ähnlichem haben, können ziemlich schnell und unkompliziert zu einem Ergebnis kommen. Die Hemmschwelle, sich an diese Aufgabe zu wagen, ist relativ niedrig. Doch das ist nur einer der Gründe, warum es sich lohnt, die Arbeit mit Collagen für die Frage nach Lernbildern zu nutzen. Werden Collagen als projektives Verfahren in der Marktforschung genutzt, „wird versucht, das ‚Warum‘ von Verhaltensweisen zu untersuchen. Mit [ihrer Hilfe] wird versucht, solche zunächst unbewussten Gefühle, Überzeugungen, Motivationen und Einstellungen in Bezug auf Meinungsgegenstände aufzudecken, die schwierig zu artikulieren sind oder […] schnell zu sozial erwünschten Antworten führen.“ (Gröppel-Klein/Königstorfer 2009, S. 539) Es scheint also lohnend zu sein, Menschen nicht nur im Interview oder in der Gruppendiskussion nach ihren Motiven, Gefühlen und Haltungen zu befragen, sondern auch andere Formen des Ausdrucks zu suchen, um damit andere Ebenen der Bedeutung zu erreichen. Alfred Holzbrecher spricht darüber hinaus von der „Produktivkraft des Erfahrungsprozesses: „Die freigesetzten Energien und der Spaß, der damit verbunden ist, ermöglicht, Grenzen zu überschreiten, psychische Blockaden zu überwinden, überkommene Identitätskonstruktionen in Frage zu stellen und nach neuen Deutungsmustern zu suchen. Kreativer Ausdruck vor einer reflexiven Bearbeitung ermöglicht eine ‚Bearbeitung‘ der inneren Bilder, der Wünsche und Ängste, die mit einem Thema verbunden sind.“ (Holzbrecher 2007, S. 126f.)

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2.1 D AS P RINZIP „C OLLAGE “ Ein weiterer wichtiger Punkt, der in meinen Überlegungen eine Rolle spielt, ist, dass Collagen mitnichten ausschließlich in mehr oder weniger kunstfertig zusammengestellten Bildern zu finden sind. Das Prinzip Collage, so betont zum Beispiel Karl-Joseph Pazzini, durchzieht unser Leben – heute vielleicht mehr als jemals zuvor. „Unsere Umwelt ist voller Collagen, und wir kommen nicht umhin, wenn wir ‚realistisch‘ sein wollen, anzumerken, daß wir auch collage-artig leben. […] [U]nsere Biographie und die mit ihr gewachsene Persönlichkeit weisen Ähnlichkeiten mit Collagen und Montagen auf, wie wir sie bisher nur als ästhetisches Mittel zu kennen glaubten.“ (Pazzini 1986, S. 22) Letztendlich sei die Collage „ein Verfahren, um Begriffe zu bilden, […] eine Art zu denken, wahrzunehmen, zu handeln, zu leben.“ (Ebd., S. 20) Vielfältige, sich teilweise widersprechende Rollen, Aufgaben, Lebensabschnitte und Entscheidungen prägen die Art und Weise, wie wir in der Welt zuhause sind – einer Welt, die, wie verschiedene Autor_innen betonen, sich immer weniger als fertig vorgefundene, sondern als sich ständig und mit zunehmender Geschwindigkeit verändernde darstellt. Frank Schulz bezeichnet die Collage entsprechend als „Konsequenz aus der Begegnung mit einer Welt, die seit mehr als 100 Jahren als eine Welt voller Brüche, Umbrüche und – um im Bild zu bleiben – voller Aus- und Durch- und Einbrüche erscheint. Insofern ist sie eine Strategie des Umgangs mit Bruch- und Versatzstücken.“ (Schulz 2002, S. 5) Helmi Vent weist darauf hin, dass diese Collagenartigkeit, dieses „Schwimmen in Ereignissen und Situationen disparater Semantik“ (Vent 1987, S. 19) für Pädagog_innen eine besondere Herausforderung darstellt: Wie gelingt es, Menschen darin zu unterstützen, in der teilweise erschlagenden Collagelandschaft des Alltag, das Vielschichtige zu befragen, zu entschlüsseln, für sich selbst zu interpretieren? Und wie lässt sich dabei die Spannung der Collage erhalten? Wie der Versuchung widerstehen, sie unzulässig zu vereinfachen, zu glätten? Denn natürlich lässt sich diese Vielgestalt als problematische Zerstreuung verstehen, als Anlass zu de-zentrieren statt sich zu kon-zentrieren. Und: Die Collageartigkeit unserer Realität ist durchaus auch und nicht zuletzt etwas, das den Einzelnen zugemutet wird. Vent betont jedoch, dass sie die Irritationen als Chance versteht, als Moment, der die Phantasie beflügelt: Der Wahrnehmungsprozess wird umgelenkt und erschwert, um ihn zu intensivieren (vgl. ebd., S. 23). In einer ähnlichen Argumentationsfigur bezeichnet Frank Schulz die Möglichkeit, aus Bruch- und Versatzstücken ein neues Ganzes, neue Lösungen und Ordnungen zu finden, als „die andere Seite der Collage“ (Schulz 2002, S. 5). Und das gilt, folgt man

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Pazzini und Schulz, sowohl für das Außen, die Welt, in der ich mich bewege, als auch für das Innen, den Umgang mit Lebensgeschichte und Biographie. „Collage“, so Pazzini, „ist Auseinandersetzung mit Uneinheitlichkeit“ (Pazzini 1986, S. 21) und diese Auseinandersetzung so scheint es, erfordert eine Geisteshaltung, die den Moment des Zufalls und der Spontaneität sucht. Das Suchen, Finden, Sammeln, Auswählen und Anordnen bei der Erstellung einer Collage, der Prozess des zufälligen oder absichtlichen Kombinierens, kann neue Erlebnisformen, neue Sinneseindrücke provozieren (vgl. Eid et al. 2003, S. 37). Unter Bezugnahme auf Ernst Cassirer, Roland Barthes und Claude LéviStrauss entwirft Ludwig Duncker ein ähnliches Bild der Möglichkeit der Arbeit mit Versatz- und Bruchstücken: Als Ausgangspunkt nimmt er Cassirers Annahme, der Mensch verfüge grundsätzlich über die „Fähigkeit zur Spontaneität, Produktivität und Ausdrucksfähigkeit“ (Duncker 2005, S. 12), die ihn in die Lage versetzten, in einer symbolischen „Zwischenwelt zwischen Mensch und Wirklichkeit“ (ebd.) über seine eigenen Erfahrungen zu reflektieren. Diese Zwischenwelt sei keine der „harten Fakten“ (ebd.), sondern vielmehr eine, in der sich Bedeutungen neu formieren können und in der „Bilder[...] Positionen, Hoffnungen und Ängste[...] Phantasien und Träume[...] […] eine ebenso wirksame Realität bilden, wie die sogenannten Tatsachen.“ (Ebd.) Mit Roland Barthes charakterisiert er den „Prozess des Entdeckens der Wirklichkeit“ (ebd., S. 13) als „Rekonstruktion [...], bei der Elemente gefunden, isoliert und dann wieder zusammengefügt werden.“ (Ebd.) Das Ergebnis kann dem Ausgangsprodukt ähneln oder aber völlig verschieden sein, indem die Einzelteile in völlig neuer Ordnung zusammengefügt werden. Das entstehende „Simulacrum“ (Barthes, zit.n. Duncker 2005, S. 13), diese ‚Bastelei‘, die mit Lévi-Strauss als eine „Bricolage“ bezeichnet werden könne, ermögliche Einblicke in den Gegenstand, vor allem aber in seine Kontingenz, die prinzipielle Möglichkeit, dass er auch anders aussehen könnte. Dieses Vorgehen könne als „strukturale Hermeneutik“ (ebd.) bezeichnet werden, da die Prozesse des Zerlegens und Zusammensetzens Prozesse der Bedeutungs- und Beziehungsfindung beinhalteten, die die „Wirklichkeit gleichsam als eine ‚lesbare‘ erschein[en]“ (ebd.) ließe. In diesem Sinne sind Collagen, als Bilder besonderer Art, Nietzsches „Heer von Metaphern“(Nietzsche, zit.n. Boehm 2006, S. 16) vergleichbar, das dieser in der philosophischen Sprache ausmacht: Metaphern als Sprachbilder sollen nicht feststellen oder abbilden, was „ist“, sondern sind in der Lage, das scheinbar Verbindungslose zu verknüpfen (vgl. Boehm 2006, S. 16). Metaphern, so Gottfried Boehm, entzaubern „die Illusion von der einen Welt“ und werden „zum Grund menschlicher Erkenntnistätigkeit.“ (Ebd.) Robert Musils „Möglichkeitssinn“ geselle sich zu dem uns scheinbar so vertrauten Wirklichkeitssinn, dem Sinn für

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Realität (vgl. ebd.). Mein Eindruck ist, dass Collagen auf ähnliche Weise „funktionieren“: Sie kontrastieren, bringen durcheinander, verknüpfen neu, versöhnen und irritieren und zwar sowohl auf einer sachlich-logischen als auch auf einer affektiven Ebene. Sie werden damit zu einem Rahmen, in dem ästhetische Erfahrungen wahrscheinlich werden, in denen im Deweyschen Sinne stimmungshafte Eindrücke mit Denkbestandteilen eng verzahnt sind (vgl. Dietrich et al. 2012, S. 56).

2.2 C OLLAGE

ALS

F ORSCHUNGSPRINZIP

Wenn man den obigen Ausführungen folgt, sind Alltag und Denken durchzogen von einem Prinzip, das dem der Collage ähnlich ist: Verschiedenartiges, Unverbundenes, Widersprüchliches existiert nebeneinander und trifft aufeinander, so dass die_der Einzelne beständig mit der Aufgabe konfrontiert ist, aus dem Vielen Eins, nämlich eine Person, eine Identität, einen Kristallisations- oder Knotenpunkt zu schaffen und zu erhalten und zugleich die pluralen Bestandteile nicht verschwinden zu lassen. Die Collage als Forschungszugang ermöglicht es, die Collage-Artigkeit des Denkens und Begriffe-Bildens sichtbar werden zu lassen und zugleich diese Aspekte des Zugangs zur Welt in seiner Eigenwertigkeit zu sehen und zu nutzen. Den Teilnehmenden an der Forschung wird nicht ein fertiges Gedankengebäude unterstellt, das die Forscherin aus den laienhaften Ausführungen heraus extrahieren kann/muss. Es wird davon ausgegangen, dass Haltungen, Meinungen, Wissen, (innere) Bilder sich in der Kommunikation über einen Gegenstand oder ein Nachdenken über ihn zuallererst formieren. Sie warten nicht in einer Art Galerie oder Archiv darauf, gesucht, entdeckt und schließlich ausgestellt zu werden. Sie aktualisieren sich in der jeweiligen Situation je neu und entsprechend dem jeweiligen Kontext anders (vgl. Peez 1997). Collagen bieten einen Rahmen, in dem die jeweils aktuelle Ausdeutung der Vorstellungen zur Darstellung kommen und in ihrer Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit sichtbar werden kann. Außerdem ermöglicht es die Collage, der Annahme Rechnung zu tragen, dass Begriffe keine monolithischen Blöcke darstellen, abgeschlossene Gedankenkreise, die widerspruchsfrei und ohne Reste oder Überlappungen existieren. Begriffe, Gedanken, Haltungen, Wissen sind eng verwoben mit den Kontexten ihres Erwerbs, mit der jeweiligen Situation der fraglichen Person, mit den Möglichkeiten ihres_seines Ausdrucks, mit den in der jeweiligen Situation gegenwärtigen Anderen und deren Meinungen, Haltungen, Wissen sowie den eigenen Annahmen darüber. Begriffe als Vorstellungen und Zugang zur Welt sind unabge-

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schlossen, voll loser Enden, widersprüchlicher Anteile, Lücken und offener Fragen – in sich und im Verhältnis zu anderen Begriffen –, ohne dass dieser Aspekt immer präsent wäre oder gar offen zum Ausdruck gebracht würde (vgl. z.B. Pazzini 1986). Das Erstellen von Collagen im Forschungsprozess versucht, diesen Aspekt von Wissen im weitesten Sinne – über die eigene Person, die Welt, die eigene Person im Verhältnis zur Welt – anzuerkennen, indem sie ihm explizit eine Ausdrucksmöglichkeit gibt, und die entstehende Darstellung als einen legitimen Ausdruck von Welterfahrung zu bewerten und entsprechend ernst zu nehmen. Die Gleichzeitigkeit von Vollständigkeit und Unvollständigkeit, Stimmigkeit und Widerspruch sind besondere Qualitäten von Collagen als visuelle Ausdrucks- und Kommunikationsmedien. Sie bieten die Möglichkeit einer fortgesetzten Auseinandersetzung mit gleichzeitig anwesenden/sichtbaren Details schon während des Gestaltungsprozesses und im Prozess der Rezeption (s. auch Kap. 6.2). Aus dieser Perspektive sind Collagen eine Form des ästhetischen Forschens (vgl. Kämpf-Jansen 2012), das heißt eine Form des reflexiven Umgangs mit Materialien und Themen, die Vorannahmen der Beteiligten der Betrachtung überhaupt erst zugänglich machen und neue Perspektiven eröffnen kann. „Ästhetische Forschung bezieht sich […] auf alle real gegebenen wie fiktiv entworfenen Dinge, Objekte, Menschen und Situationen. Sie bedient sich aller zur Verfügung stehender Verfahren, Handlungsweisen und Erkenntnismöglichkeiten aus den Bereichen der Alltagserfahrung, der Kunst und der Wissenschaft.“ (Ebd., S. 22) Im Falle einer Collagenerstellung erforschen die Beteiligten ihre eigenen ‚inneren Bilder‘, ihre Vorstellungen zu einer spezifischen Frage und entwickeln diese in der Auseinandersetzung mit anderen weiter. Im Zuge der Collagenarbeit entstehen „Vorstellungsdarstellungen“ (Peez 1997, S. 52), die keine Abbilder von etwas Realem sind, sondern als imaginative Objekte „Horizonte möglichen Sinns“ (Seel 1993a, S. 409) aufzeigen.10 Collagieren kann also dreierlei sein: eine Form der Abbildung einer vielgestaltigen Wirklichkeit, eine Form der Auseinandersetzung mit eigenem Wissen,

1

Die Metapher des „inneren Bildes“ ist insofern irreführend, als sie nahelegt, dass es sich um bestehende kognitive Abbildungen handelt, die im Fall einer Aktivierung lediglich aus einer Art kognitiver Galerie gezogen werden müssten. Peez zufolge sind „innere Bilder“ kontextabhängige, variable Ausdrucksweisen, die auf frühen sinnlichen Erfahrungen und sozial vermittelten Bedeutungen basieren. Insofern sind Collagen Ordnungen möglicher Sinngebung und nicht als Abbildungen innerer oder mentaler Bilder zu verstehen (s. auch Kap. 4.2).

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der Welt und ihren Formen und gleichzeitig eine Form der Produktion und Hervorbringung von Wahrnehmungen, Sinneseindrücken und Erlebnissen, die bisher nicht Teil der bewusst verfügbaren Welt waren.

2.3 C OLLAGEN ALS H ERAUSFORDERUNGEN DER ALLTAGSWAHRNEHMUNG UND ALLTAGSÄSTHETIK Helga Kämpf-Jansen stellt die Irritation des Alltagsblicks und des Alltagsverständnisses von Dingen ins Zentrum ihrer Betrachtungen zu den Möglichkeiten ästhetischer Forschung (vgl. Kämpf-Jansen 2012). Der alltägliche Blick, das alltägliche Sehen ist von dem geprägt, was Imdahl wiedererkennendes Sehen nennt (z.B. Imdahl 2006). Es ist eine Form der Wahrnehmung, die weniger die spezifisch ästhetischen Qualitäten eines Wahrnehmungsgegenstands berücksichtigt und ins Bewusstsein bringt, sondern ihn einordnet in die Welt des Alltags, der Ordnung der Gewohn- und Gewissheit. Auch die Erfahrung von Dingen, die etwas zu sein scheinen, was sich im Anschluss als Täuschung herausstellt (z.B. eine Cola-Dose als Blumenvase), hinterlässt keine größere Irritation. Um eine Erfahrung reicher geht das Subjekt der Erfahrung aus dieser hervor und bewegt sich in einer, nunmehr veränderten, aber dennoch gewohnten Welt (vgl. KämpfJansen 2012). Dieses alltägliche Sehen bestätigt uns die Welt, wie wir sie gewohnt sind. Die Sehgewohnheiten des wiedererkennenden Sehens stellen die Basis dar, auf der die_der Einzelne Darstellungsweisen und Ausdrucksmöglichkeiten entwirft. So wie Sprache verallgemeinert und entdifferenziert, wenn es sich nicht gerade um poetische, literarische oder wissenschaftliche Sprache handelt (vgl. Kämpf-Jansen S. 30), so sind auch die Wahrnehmungen und damit auch die Ausdrucks-Mittel, oder besser: die Ausdrucksideen, einer in der Welt der Ästhetik ungeübten Person eingeschränkt – im Sinne eines eingeschränkten Fundus an Vorstellungskraft, der einer_einem Produzentin_Produzenten bei der Produktion einer nicht-verbalsprachlichen Darstellung zur Verfügung steht: Alltagsworte werden für Alltagsdinge verwendet, Alltagsbilder für Alltagserfahrungen. Und das geschieht auf den ersten Blick auch in der Arbeit mit Collagen: CollagenMacher_innen finden in (den meisten) Zeitungen und Zeitschriften Bilder, die schon daraufhin ausgewählt sind, „für etwas“ zu stehen, die optimiert sind für eine Alltagsleser_innenschaft; Bilder, die bekannt sind, die sich in die Welt ihrer Rezipient_innen ohne größeren Aufwand einpassen lassen. Zugleich, und meines Erachtens ist das die Crux der Collage als Methode, werden die Macher_innen der Collagen aus ihrer gewohnten Ausdruckswelt, der Welt der verbalen Spra-

W ARUM COLLAGEN ?

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che, durch die Aufgabenstellung „ausgesperrt“. Das gesprochene Wort ist ihnen als primäres Ausdrucksmittel verwehrt; es kann nachträglich als Hilfsmittel der Vermittlung dienen, hat jedoch in der Collage selbst keinen Ort. Wörter, ausgeschnitten aus dem Zeitungsmaterial, sind möglich, werden jedoch, indem sie fixiert und sichtbar sind, zu einem Teil des Bildes und verlieren mit ihrem Satzund Textkontext spezifische Qualitäten der geschriebenen Sprache und ihrer Bedeutung. Die Collagen-Macher_innen sind damit auf eine Ausdrucksform zurückgeworfen, die den „natürlichen“, üblichen Umgang mit einer Frage, wie der hier gestellten „Was bedeutet ‚Lernen‘ für Dich?“, außer Kraft setzt. Sie sind konfrontiert mit einer Aufgabe, die sie nur bewältigen können, indem sie ungewohnte Wege gehen. Die Welt des Ausdrucks ist nicht mehr dominiert von der Wortsprache, in der man als erwachsene Person durchaus heimisch ist, die wohl geübte Ausdrucksformen und Ausdrucksweisen umfasst und, wenn nichts schief geht, keinerlei Verunsicherung oder Irritation befürchten lässt. In der Arbeit mit Collagen übernimmt für eine gewisse Zeit ein Medium die Führung, das weniger vertraut ist. Bilder, besonders die in Zeitschriften und anderen öffentlichen Medien, sind bekannt als zu konsumierende Objekte der Wahrnehmung. Sie werden gesehen und wiedererkannt, ohne in ihrer Vielschichtigkeit als ästhetische Objekte wahrgenommen zu werden. Mit der Aufgabenstellung der Collage erhalten dieselben Bilder einen Aufforderungscharakter. Die Aufgabe besteht nun nicht mehr darin, sie zu sehen und in bekannte Kategorien einzuordnen. Die Aufgabe ist nun, in den Bildern das zu erblicken, was sie auch noch sein/wofür sie auch noch stehen können. Helga Kämpf-Jansen spricht von „den kleine[n] Geschichten und Erlebnisweisen“ (Kämpf-Jansen 2012, S. 33), die den Dingen und Bildern eigen sind, ohne im Alltag zum Ausdruck gebracht zu werden. „Mit der Lust und der Faszination am Spiel, an der Täuschung, der Ironie der Inszenierung in den Bildern erhalten die konkret wahrnehmbaren Dinge durchaus die Möglichkeit eines Seiten-Blicks, der den primären Blick nicht außer Kraft setzt, sondern erweitert.“ (Ebd., S. 47) Die Bilder werden zu einer Seh-Aufgabe, die sowohl den gewohnten Umgang mit Bildern als auch den mit Sprache aussetzt und die Voraussetzung schafft für eine Befremdung, die neue Wahrnehmungen und Erkenntnisse ermöglicht (vgl. ebd., S. 135f.). Auf diese Weise entsteht in der Collage eine Ordnung der Vorstellungen/Bedeutung von Lernen, die in ihrer Entstehung gleichzeitig Erinnerung, Wahrnehmung und Vorstellung verknüpft: Über das Angebot von Bildern und das assoziative Vorgehen werden Erinnerungen an Situationen ins Bewusstsein gerufen, die wiederum mit Erinnerungen an Wahrnehmungen und Erfahrungen verbunden sind, die sich in der Bewertung eines Bildes als „passend“ oder „un-

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passend“ niederschlagen. Zugleich werden Vorstellungen, Ideale und Ideen aufgerufen, die sich in Phantasien, Utopien, Ängsten, also in Vorstellungen von Zukunft niederschlagen. Und nicht zuletzt findet die Arbeit an den Collagen in einer konkreten Situation, an einem konkreten Ort statt, so dass die leiblichen Erfahrungen der Gegenwart ebenfalls mit einfließen. In der Erstellung der Collagen und damit auch in den fertigen Produkten findet eine Verbindung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem ihren Niederschlag, die selbst eine Auseinandersetzung und Erfahrung (im Deweyschen Sinne) darstellt.

3. Ästhetik – die Wahrnehmung und Deutung der Welt über die Sinne

Ästhetik ist ein umstrittenes Feld. Was als Ästhetik zu verstehen ist bzw. als Ästhetik verstanden wird, ist vieldimensional, und diese Vieldimensionalität ist historisch entstanden. Für antike Philosophen wie Aristoteles war Aisthesis die sinnliche Wahrnehmung der Welt. Diese war nicht nur bezogen auf die sensorische Aufnahme von Empfindungen, sondern umfasste auch ein sinngebendes Umgehen mit und in der Welt. Aisthesis bildete den Gegenpol zum logos, einem begrifflich-sprachlichen Zugang zur Welt. Beiden Zugängen wurde eine eigene Rationalität, d.h. die Fähigkeit einer Sinngebung unterstellt (vgl. z.B. Zacharias 1991). Als einer der Ahnherren der Ästhetik, der diese nicht nur als Wissenschaft vom Schönen, sondern als eine Wissenschaft, die die Rolle der Sinnlichkeit, der sinnlichen Erfahrung des Menschen für die Erkenntnis ernst nimmt, gilt Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762). In seinen Schriften zur Ästhetik greift er die jahrhundertealte Auseinandersetzung um die Erkenntnisfähigkeit von sinnlicher Wahrnehmung im Verhältnis zur Vernunft auf. Indem er der Sinneswahrnehmung Erkenntnisfähigkeit zuerkennt und damit eine Wirklichkeitserfassung anerkennt, die auf sinnlicher Erfahrung beruht, erweitert er den Vernunftbegriff (vgl. Thaler 2010, S. 37). Die klare und deutliche Erkenntnis, ein Denken in wissenschaftlichen, logischen und deduktiven Bahnen, wird um „das auf die ganzheitliche Gestalt bezogene ‚klare und verworrene‘, unmittelbar sinnliche Erkennen als Erkenntnisform“ (Dietrich et al. 2012, S. 17) ergänzt. „Die Unbestimmtheit des ‚ich weiß nicht was‘, das aufwühlt und einen Prozess des unwillkürlichen Fragens und Suchens nach einem passenden Ausdruck in Gang setzt, […] erscheint […] als Kennzeichen der besonderen Art der Wahrnehmung, der es nicht um ein Wiedererkennen, das Registrieren, das klare Benennen geht, sondern eher um lustvolle Beunruhigung.“ (Ebd.)

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Eine weitere Facette der Ästhetik, die erst in neuerer Zeit betont wird, ist Ästhetik als ratio sui generis, als Rationalität, die einen eigenen, von der Sprache nicht einholbaren Zugang zur Welt bietet. Hier spielen wiederum die Künste eine besondere Rolle, da ihnen die Fähigkeit zugesprochen wird, die Welt auf eine ganz eigene, nämlich ästhetische Weise zum Ausdruck zu bringen. Diese ästhetische Ausdrucksweise verweist nicht auf die Welt der Worte, die begrifflich gefasste Welt, sondern auf eine Form der Welterfahrung, die jenseits der Sprache verläuft. Diese Facette der Ästhetik tritt gewissermaßen an, die Sprache der Begriffe, die Eindeutigkeit und Linearität suggeriert, zu unterlaufen, in Schwingung zu versetzen und sie letztendlich aufzubrechen. Sie kann als ein Gegenprojekt verstanden werden zur begrifflichen Sprache, die immer schon verstanden zu haben scheint. Sie will die mit Sprache verbundene scheinbare Eindeutigkeit verunsichern, Gelegenheiten schaffen, in denen diese ins Wanken gerät, und damit der Entstehung von Noch-nicht-Gesagtem Raum verschaffen (vgl. Rumpf 1991, Kämpf-Jansen 2012). Ästhetik kann grundsätzlich aus der Richtung der Wahrnehmung und der Richtung des Ausdrucks betrachtet werden. Da ist einmal die sinnliche Wahrnehmung selbst: Der Mensch betrachtet, spürt, riecht etwas und nimmt es als etwas wahr. Diese Wahrnehmung als etwas setzt eine Formgebung voraus, die es der_dem Wahrnehmenden ermöglicht, die Formen, Farben, Gerüche, Empfindungen als etwas Zusammengehöriges, etwas von etwas anderem Verschiedenes zu erkennen. In diesem Moment findet eine erste Sinngebung statt, die ein komplexes sensorisches Reizgeschehen als zusammengehörig und bedeutsam bewertet (vgl. Allesch 2004; Stutz 2006). Dies ist die Voraussetzung für alles weitere Umgehen mit dem Wahrgenommenen. Diese Sichtweise ist die Grundlage für bildwissenschaftliche Betrachtungen, die sich z.B. mit der Frage beschäftigt, was denn ein Bild ausmacht und was es von anderen Gegenständen unterscheidet, oder wie das Dargestellte im Verhältnis steht zur Art der Darstellung und welche Effekte dies auf die Wahrnehmung und weitere Bedeutungszuschreibungen hat (vgl. z.B. Boehm 2006, Wiesing 2000). Aus phänomenologischer Perspektive wird das Wahrnehmungsgeschehen als ein Antwortverhalten verstanden. Und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens kann das wahrnehmende Subjekt nicht umhin, das, was sich seinen Sinnen darbietet, wahrzunehmen – es handelt nicht, sondern es verhält sich – und zweitens ist die Wahrnehmung eine Antwort auf eine Aufforderung durch das Gesehene, Gehörte, Gefühlte. Die wahrnehmende Person ist ihren Wahrnehmungen in gewisser Weise ausgesetzt, muss sich ihnen stellen, sich mit ihnen auseinandersetzen oder sie beiseite schieben. Wahrnehmung aus dieser Perspektive hat durchaus passive Anteile: der Mensch „erleidet“ seine Wahrnehmungen. Wahrnehmungen in der

Ä STHETIK

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Perspektive der Phänomenologie sind Momente möglicher Widerfahrnisse, d.h. Geschehnisse, die unerwartet und plötzlich über die Betroffenen hereinbrechen und auf einem Umgang mit ihnen bestehen (vgl. Meyer-Drawe 2012a). Die andere Richtung, aus der Ästhetik befragt werden kann, ist die Seite des Ausdrucks. Ästhetischer Ausdruck, ästhetische Ausdrucksweisen können umrissen werden als der Versuch, in nicht-sprachlichen Medien Gefühle, Empfindungen, Gedanken – Sinn im weitesten Sinne – zum Ausdruck zu bringen. Bilder stellen in dieser Perspektive Akte der Kommunikation dar, die nicht das Mittel der verbalen Sprache zum Ausgangspunkt nehmen, sondern Mittel des Visuellen. Mit diesen visuellen Mitteln kann durchaus auf Begriffe verwiesen und so ihre Repräsentations- oder Zeigefunktion genutzt werden (vgl. Mitchell 1994, S. 160). Darüber hinaus schaffen sie aber Sinnüberschüsse, die nicht einfach sprachlich eingeholt, in Sprache übersetzt werden können. Als ästhetische Erfahrungen werden solche Erfahrungen bezeichnet, in denen der begriffliche Zugriff auf die Welt im Hintergrund bleibt, die den Moment der Vieldeutigkeit stark machen und eine Zeitlang in ihm verweilen (vgl. Rumpf 1991). Diese Vieldeutigkeit, dieses Ungeklärte kann ebenso Anlass einer Suche nach Ausdrucksformen sein wie der Effekt einer gegebenen Form des Ausdrucks. Ästhetischer Ausdruck ist mithin mit einem In-der-Schwebe-bleiben der Bedeutung verbunden, mit einem Entzug der Eindeutigkeit. Er ist eine Feier der Vorläufigkeit, des Versuchs. Im Folgenden werden Aspekte der Ästhetik, die für das Projekt „Lernbilder“ wesentlich sind, dargestellt und in ihrer Vielschichtigkeit diskutiert.

3.1 ÄSTHETISCHE R ATIONALITÄT – ÄSTHETISCHES D ENKEN Ein ästhetischer Zugang zur Welt wird von Wolfgang Welsch und Martin Seel mit durchaus unterschiedlichen Prämissen und gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert. Wo Welsch auf der Grundlage einer Einschätzung der Wirklichkeit als „wesentlich ästhetisch konstituiert“ (Welsch 1990, S. 57) für ein „ästhetisches Denken“ – so der Titel seiner Aufsatzsammlung – plädiert, das angesichts der zunehmenden Uneindeutigkeit und Vielschichtigkeit der Welt den gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen sei (vgl. Welsch 1990), arbeitet Seel eine „ästhetische Rationalität“ heraus, die als eine anderen Formen der Rationalität ebenbürtige und gleichwertige betrachtet wird und spezifische und wichtige Zugänge zur Welt ermöglicht (vgl. Seel 1993b). Beide stimmen darin überein, dass sie sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung als eine Art und Weise

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betrachten, die Welt zu „erkennen“, ihr Bedeutung und Sinn zu geben bzw. zu entnehmen. Seel macht auf die scheinbare Widersprüchlichkeit des Begriffs ästhetische Rationalität aufmerksam: Ästhetik werde oft mit der Beschäftigung mit dem Schönen an sich verbunden („die Schönen Künste“), und etwas oder jemand, das/der für seine ästhetischen Qualitäten hervorgehoben werde, gelte in bestimmten Kreisen als weniger ernst zu nehmen als etwas oder jemand, das/der durch seine begriffliche und argumentative Stringenz auffalle. Ästhetische Erlebnisse und Erfahrungen seien oft dem Vorwurf der Gegenwartsflucht ausgesetzt, wenn sie sich auf Qualitäten des Erlebens konzentrierten, die nicht in erster Linie einem Verstehen dieser Gegenwart dienten (vgl. Seel 2007). Auf der anderen Seite gebe es Denkfiguren, die ästhetischer Wahrnehmung und damit ästhetischer Rationalität entweder unterstellten, dass sie einen Weg darstelle, hinter dem „Schein“ der wahrnehmbaren Lebensverhältnisse, die Wahrheit über die Wirklichkeit zu erfassen, oder aber ihr zuschreiben, die „Macht der Wirklichkeit“ durchbrechen zu können, indem sie die Stabilität der Welt infrage stelle (ebd., S. 12). Seel hält dem entgegen, dass gerade die sinnliche Wahrnehmung in ihrer Angewiesenheit auf „das Hier und Jetzt der wahrnehmbaren Welt“ (ebd., S. 13) das ästhetische Bewusstsein zu „einer ausgezeichneten Form der Anschauung der Gegenwart“ (ebd.) mache, und versucht damit, die ästhetische Wahrnehmung und das ästhetische Bewusstsein aus seiner Überhöhung zu befreien und es einer Betrachtung zugänglich zu machen.1 Wahrnehmung und Rationalität als ästhetische Praxen können, so Seel, Gegenstand hermeneutischen Verstehens sein, insofern als wir nach dem Sinn dieser Praxis fragen können, also danach, weshalb Menschen Tätigkeiten unter ästhetischen Gesichtspunkten aufnehmen und weshalb auf diese und nicht auf eine andere Weise.

3.2 V ERWOBENHEIT SINNLICH - ÄSTHETISCHER UND BEGRIFFLICH - SPRACHLICHER W ELTZUGÄNGE Bilder stellen für die Wissenschaft ein Problem dar: die meisten Autor_innen sind sich darin einig, dass Bilder nicht ohne Verlust oder Veränderung in Sprache übertragen werden können oder andersherum. Jede noch so treffende Bildbe-

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Dietrich et al. weisen ebenfalls ausdrücklich darauf hin, dass „das ästhetische Erleben […] nicht außerhalb der sozialen Realität“ (Dietrich et al. 2012, S. 14) stattfände, es bleibe „ihr aber auch nicht unmittelbar verhaftet“. Es gäbe offenbar „einen gewissen Abstand zwischen Alltagswelt und ästhetischem Erleben.“ (Ebd.)

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schreibung kommt nicht umhin, eine “Übersetzung“ und damit schon eine Interpretation des Gesehenen zu sein (vgl. z.B. Breckner 2010, S.17).2 Die Transformation visueller Wahrnehmung in Sprache ist ein Unterfangen, das z.B. damit umgehen muss, dass Sprache immer einer Sequenzialität unterliegt, das heißt dass sie, anders als das Bild, ihre Sätze nacheinander zu Gehör oder zu lesen geben muss und dass das Gehörte (und in gewisser Hinsicht auch das Gelesene) danach nicht mehr greifbar ist. Jede Reflexion über Gehörtes ist immer eine Reflexion über Vergangenes, während Bilder sichtbar und spürbar in ihrer Materialität und ihrem Ausdruck präsent bleiben. Oder andersherum gesagt: Bilder stellen für einen wissenschaftlichen, und damit immer auch sprachlichen, Zugang insofern eine besondere Herausforderung dar, als sie, anders als Sprache, eben nicht nacheinander in einzeln verstehbaren Teilen auftreten, die sich dann zu einem Ganzen verdichten, das wiederum verstanden werden kann, sondern von Vornherein als Ganzes vorliegen (Bracker/Umbach 2014). Dennoch gibt es Aspekte von Bild und Sprache, die die Ähnlichkeit dieser beiden Formen menschlichen Ausdrucks deutlich machen und die Kluft, die sie zu trennen scheint, überbrücken. So weisen Sowa und Uhlig darauf hin, dass Bild und Sprache als etwas auf etwas verweisen, das außerhalb ihrer selbst liegt. Sie gelten zugleich als sie selbst und als etwas anderes und dieses ‚als‘ könne als der Kern dessen bezeichnet werden, was mit ‚Bedeuten‘ bezeichnet werde. Sie könnten als „verschiedene Modi des Bedeutens“ (Sowa/Uhlig 2006, S. 80) verstanden und genutzt werden. Bilder wie Sprache können als Symbole verstanden werden, die auf Sachverhalte, Ideen, Vorstellungen, Erfahrungen etc. verweisen, die jenseits dessen liegen, was wörtlich gesagt oder visuell dargestellt wurde. Sich auf Susanne K. Langer beziehend betrachtet Roswitha Breckner Bilder und Sprache als „verschiedene Formen der Symbolisierung“ (Breckner 2010, S. 31), die „auf der Grundlage unterschiedlicher Bedeutungszusammenhänge und -logiken“ (ebd.) entstanden seien. Langer bezeichnet die von ihr unterschiedenen Symbolisierungsformen als „diskursiven“ und „präsentativen Symbolismus“ (Langer 1987, S. 103). Sie unterscheidet die beiden Symbolisie-

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Oskar Bätschmann distanziert sich von dieser Einschätzung, wenn er fragt: „Sollen wir auch die einfache Beschreibung und die ikonische Analyse schon Interpretation nennen?“ (Bätschmann 1992, S. 57 f; Herv. im Original). Er bezieht sich damit auf Paul Ricœrs Unterscheidung zwischen dem Sinn, d.h. dem „eindeutigen offenen, gemeinten Sinn“ [eines Zeichens] und dem mittelbaren, nur durch diesen ersten manifesten hervorgebrachten Sinn, der Bedeutung.“ (Ebd., S. 58) Für die Arbeit an Collagen folge ich Breckners Perspektive, da hier auf der Ebene dessen, was beschrieben wird, nicht von eindeutigen Zeichen gesprochen werden kann.

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rungsformen nicht entlang der Unterscheidungslinien zwischen verschiedenen Medien wie etwa Bild und Sprache oder entlang dualistischer Trennungen zwischen Begrifflichkeit und Sinnlichkeit, Logik und Emotion, Körper und Geist. Vielmehr versteht sie Symbolisierung als „eine Voraussetzung jeglicher Art von geistiger Tätigkeit“ (Breckner 2010, S. 31), die immer auf der Basis von Wahrnehmungen und Erfahrungen erfolge. Sie sei ein alltäglicher, selbstverständlicher Vorgang, der nicht der Domäne der Sprachlichkeit vorbehalten sei. Sprache, so Breckner mit Bezug auf Langer, sei zwar eine besonders für die Begriffsbildung zentrale Form der Symbolisierung, aber keinesfalls die einzig denkbare. Zudem käme weder in Bildern noch in Sprache nur eine Form der Symbolbildung zum Ausdruck, sondern stets habe man es mit einer Verflechtung präsentativer und diskursiver Symbolismen zu tun. Der sprachliche Ausdruck sei in besonderer Weise geeignet, Argumente, begriffliche Herleitungen und logische Schlussfolgerungen zum Ausdruck zu bringen, und diese träten daher oft in Form eines diskursiven Symbolismus auf, während nicht-sprachliche Ausdrucksformen besonders dazu angetan seien, emotionale Befindlichkeiten und Erfahrungen zu verkörpern und würden daher vermehrt in präsentativen Formen der Symbolisierung ausgedrückt. Dennoch habe auch Sprache besonders in ihrer Form als Metapher deutlich präsentative Anteile, und bildliche Ausdrucksformen könnten ebenso diskursive Bedeutungen hervorbringen (vgl. dazu u. a Mitchell 1994, Boehm 2014, Breckner 2010, Wiesing 2000). Besonders Mitchell weist darauf hin, dass Sprache und Bild aufs Engste verzahnt und heterogen sind und sich in ihrer Verwendung als Ausdrucksmedium (jenseits ihrer „reinen“ und analysierbaren Form als System) wechselseitig „kontaminieren“ (Mitchell 1994, S. 97). Besonders deutlich wird diese Perspektive, wenn man das Bild in seinen sozialen Kontext stellt, der sowohl die Herstellung des Bildes durch Produzent_innen als auch die Entstehung des Bildes bei der Betrachtung durch Rezipient_innen umfasst. Diese Erweiterung des Bildes verdeutlicht, dass beide in einer Welt der Sprache leben und in dieser Welt ein Produkt sinnlicher Anschauung fertigen bzw. wahrnehmen (vgl. Bätschmann 2001, S. 31). Wenn man annimmt, dass ästhetischer Ausdruck immer auch ein Kommunikationsangebot ist, im Sinne einer Reflexion über bestimmte Aspekte des menschlichen Seins in der Welt, kann man einerseits ebenso annehmen, dass Produzent_innen und Rezipient_innen alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Kommunikation nutzen. Andererseits kann man auch unterstellen, dass Menschen Bilder, Gedichte, Musik oder theoretische Ausführungen nicht nur mit Hilfe eines „Kanals“ oder eines Entschlüsselungsweges zu verstehen suchen, sondern dieses auf ebenso unterschiedlichen Wegen versuchen. Dies ist

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schon daher plausibel, weil Menschen in ihrer Leiblichkeit körperliche Empfindungen, sinnliche Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erinnerungen und rationallogische Begrifflichkeit nicht als getrennte Entitäten wahrnehmen, sondern stets mit einem Konglomerat von Eindrücken und möglichen Umgehensweisen damit zu tun haben. Die für einen analytischen Zugang oft als sinnvoll erachtete Trennung z.B. zwischen Geist und Körper oder zwischen Sprache und Vernunft auf der einen und Sinnlichkeit und Empfindung auf der anderen, sind empirisch nicht abzubilden. Menschen leben in ihrer Ganzheit und nicht in ihren analysierbaren Teilen. Aus dieser Perspektive gelesen weist Breckners Hinweis auf Alfred Schütz‘ „offene Horizonte“ verschiedener Sinnwelten, in diese Richtung: Die verschiedenen Ebenen des Weltzugangs (die Appräsentationsschemata der „Welt in Reichweite“, der „intersubjektiven Welt des Alltags“, der „geschlossenen Sinnbereiche“ z.B. der Wissenschaft, Kunst oder Religion, und der „allgemeinen Symbolwelt“)3 sind stets kopräsent, wobei jeweils eines der Schemata in Abhängigkeit vom Kontext das leitende darstellt, das den Erwartungshorizont der Angemessenheit absteckt (vgl. Breckner 2010). So könnte die Art und Weise der Bezugnahme beteiligter Personen auf einen Sonnenuntergang davon abhängen, welche Sinnwelt aktuell als gültig angenommen wird: Ist eine gefühlsbetonte Ergriffenheit angemessen, eine wissenschaftliche Ausführung zur Höhe der Luftfeuchtigkeit oder eher eine ironisch-distanzierte Bezugnahme auf Kitsch und Postkartenmotive? Welcher Zugang zu einem Erlebnis als angemessen gewählt oder welche Haltung unwillkürlich eingenommen wird, hängt ab von sozialisatorischen Faktoren, von individuellen Erfahrungen und vom Kontext der jeweiligen Wahrnehmungssituation. Dennoch sind die anderen Wahrnehmungsschemata als „Horizont und damit als Möglichkeitsraum der Bedeutungsbildung“ (ebd., S. 56) ebenfalls präsent. Aus diesem Blickwinkel wird nachvollziehbar, wie sich je abhängig vom Kontext die Bedeutung eines Bildes oder einer Aussage verändern kann; zugleich wird die Verwobenheit verschiedener Weltzugänge betont, die eben nicht als getrennt voneinander zu verstehen sind, sondern als Gewebe,

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Dieses von Schütz mit Rückbezug auf Husserl entwickelte System der Appräsentationsschemata beschreibt, welche Aspekte bei der Wahrnehmung eines Gegenstandes mit assoziiert werden, obwohl sie nicht wahrnehmbar sind. Die Appräsentationsschemata reichen von der Vorstellung einer Rückseite eines Hauses beim Anblick einer Hausfront, über die Vorstellung von den Menschen, die in diesem Haus leben, das Haus als stellvertretend für Formen des Wohnens im Kontext sozialer Differenzierung bis hin zu Vorstellungen oder Bewertungen hinsichtlich eines angemessenen Lebens in einer gültigen Ordnung (vgl. Breckner 2010, S. 53ff.).

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das sowohl die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung als auch die des Ausdrucks so miteinander verbindet, dass Bedeutungsbildung bei Produzent_innen und Rezipient_innen eines Ausdrucks- und Kommunikationsgeschehens möglich wird. Aus der Perspektive der Gestaltpsychologie wird diese Sichtweise insofern gestützt, als diese nicht von einem von der Wahrnehmung getrennten Denken ausgeht, sondern Wahrnehmung und Erkennen als zugleich stattfindendes Geschehen bezeichnet. So erkenne man ein hinter Schilf halb verborgenes gestrandetes Schiff nicht nach und nach in einer Analyse der Teile, sondern auf einen Schlag in einer Synthese der Wahrnehmungen (vgl. Allesch 2004, S.13f.). Rudolf Arnheim bezeichnete es als „eine heilsame Lehre“ zu entdecken, „dass das Sehen keine mechanische Aufzeichnung von Teilelementen“ sei, sondern vielmehr das Erfassen bedeutsamer Strukturen (Arnheim, zit.n. Allesch 2004, S. 14). In seiner deutlichen Kritik am heute immer noch wirksamen „Misstrauen gegen die Sinne“ und der nach wie vor vorherrschenden „Trennung des Schauens vom Denken“ (Arnheim, zit.n. Allesch 2004, S. 12) weist Arnheim auf die Ursprünge dieser Voreingenommenheit gegen die Sinnlichkeit als Teil eines rationalen Weltzugangs hin. Platons einflussreiches Höhlengleichnis vermittele eine Vorstellung der Sinne als Opfer trügerischer Schatten, die die wahre, das heißt geistige Welt nur verzerrt zur Anschauung brächten (vgl. auch Bätschmann 2001). In Descartes wiederum findet er einen einflussreichen Denker der Trennung von Geist und Körper, wobei der Körper bei Descartes den Status einer „Empfindungsmaschine“ habe, die sinnliche Informationen ohne Frage nach Sinn oder Bedeutung aufnehme (vgl. Allesch 2004). Arnheim verwehrt sich gegen diese Beschränkung der Sinnlichkeit auf ihre Fähigkeit, Sinnesdaten aus der Umwelt aufzunehmen, indem er ausdrücklich auf ihre Fähigkeit zur Erfassung von ‚Gestalt‘, d.h. von bedeutungsvollen Formen, hinweist. Er bezeichnet diese Fähigkeit, Bedeutung aus einer Ganzheit einzelner Teile zu entnehmen, als notwendig z.B. auch für die Naturwissenschaft, die sich andernfalls in einer Beschreibung und Analyse einzelner Teile verliere, die das Ganze nie angemessen wiedergeben (vgl. ebd., S. 9f.).4 Aus einer anderen Perspektive beschreibt Lambert Wiesing die Nähe von begrifflichen und ästhetischen Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen. Sein Gedanke beruht auf der Feststellung, dass „Denken seit Kant als Synthesisleistung

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Vgl. auch Michael Polanyi , der von der Selbstzerstörung des Wissens durch die „Formalisierung […] im Sinne einer Ausschließung jeglicher Elemente impliziten Wissens“ (Polanyi 1966, S. 27) spricht.

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verstanden“ (Wiesing 2000, S. 34) wird, die darin besteht, Relationen und Verbindungen herzustellen. Diese Leistung beruht in der Sprache auf der Benutzung von Begriffen, die in ihrer Abstraktion vom Einzelfall das Nicht-Gleiche gleichsetzen (vgl. ebd.), indem von Details und Besonderheiten abgesehen werde, so dass der Begriff schließlich etwas bezeichne, das in der Empirie so nicht existiere. Gleiches geschehe, wenn etwas – ein Gedanke oder auch ein Gegenstand – in eine visuelle Form gebracht werde. Die jeweilige Art der Darstellung, der Stil (s. Kap. 3.4), stellt eine Sache auf eine bestimmte Weise dar, fasst „Teile zu Einheiten zusammen, und differenzier[t] Zusammenhänge zu Kontrasten. […] Im Bild übernimmt die sichtbare Form die Synthesisfunktion, die der unsichtbare Begriff im Denken übernimmt.“ (Ebd., S. 35) Sprache und Bild sind demnach Ausdruck einer rationalen Interpretation der Welt – ein Ausdruck, der Hinweise darauf enthält, wie die Wirklichkeit wahrgenommen und interpretiert wird.5 Dennoch bleibt zu betonen, wie das z.B. Bätschmann tut, dass diese Ähnlichkeit nicht bedeutet, dass Bilder und Sprache letztlich das Gleiche leisten oder dass sie unproblematisch in das jeweils andere Medium übersetzbar wären. Bätschmann hebt hervor, „dass Bilder nicht nur keine Aussagen [machen] (d.h. nicht analog sind zu sprachlichen Wiedergaben eines Sachverhalts), sondern dass sie auch nicht zu Aussagen reduziert werden dürften.“ (Bätschmann 2001, S. 50) Ähnlich seien sich Bild und Sprache auf der Ebene der Metaphorizität, die Abschied nimmt von der Vorstellung des Bildes als eines Abbildes der Wirklichkeit und von der Sprache als einem der Eindeutigkeit verpflichteten „System von Zeichen und Bezeichnetem“ (ebd. S. 55; vgl. auch Mitchell 1994, S. 97). Sowohl in der in der Rede realisierten Sprache als auch im materialen Bild stünden im Zentrum der Sinngebung die Verweise und Abgrenzungen der Elemente untereinander, die erst in den Relationen zueinander einen Sinn ergäben. Im metaphorischen Sprechen, so Bätschmann, ergibt sich der Sinn einer Aussage ausschließlich aus dem semantischen Verhältnis der Elemente zueinander. Ein ähnlicher semantischer Prozess sei es, der die Elemente eines Bildes zueinander in Beziehung setzt und dem Bild einen Sinn verleihe. Auf dieser Ebene der strukturellen Ähnlichkeit seien Bilder und Sprache aufeinander beziehbar, und ein Übergang vom einen in das andere werde denkbar. Alice Thaler spricht davon, dass das „Ergreifen der Wirklichkeit“ (Thaler 2010, S. 42) in der sinnlichen Wahrnehmung auf nicht-rationale, nicht-begriffliche Weise geschieht und dass

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Mit dem Hinweis auf die Ähnlichkeit von Sprache und Bild im Hinblick auf ihre zwangsläufige Abstraktion von der Wirklichkeit nimmt Wiesing eine Perspektive ein, die der Langers sehr nah ist.

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das metaphorische Sprechen die Möglichkeit bietet, diese Erfahrungen sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Sie verweist dabei auf Wolfgang Welsch, der Anschauung und Begriff als „unterschiedliche Akzentuierungen im gemeinsamen Feld der Kognition“ (Welsch, zit.n. Thaler 2010, S. 42f.) bezeichnet. W.J.T. Mitchell bringt diese semantische Perspektive auf Sprache und Bild auf den Punkt: „[F]rom a semantic point of view, from the standpoint of referring, expressing intentions and producing effects in a viewer/listener there is no essential difference between texts and images and thus no gap to be overcome by any special ekphrastic strategies. Language can stand in for depiction and depiction can stand in for language, because communication, expressive acts, narration, arguments description, exposition and other so called „speech acts“ are not medium specific, are not „proper“ to some medium or other. I can make a promise or threaten with a visual sign as eloquently as with an utterance.“ (Mitchell 1994, S.160; Herv. im Original).

Und dennoch gilt, was Eva Stattmann-Sturm betont: „Wort und Bild sind nicht imstande sich gegenseitig zu repräsentieren, weil sie sich auf unterschiedlichen Schauplätzen befinden, von denen jeder seinen eigenen Gesetzen gehorcht.“ (Stattmann-Sturm, zit.n. Kämpf-Jansen 2012, S. 15) Das heißt nicht, dass man nicht über Bilder sprechen oder schreiben könne, wie auch Bätschmann betont (vgl. Bätschmann 2001, S. 56), sondern dass man sich der Unterschiede bewusst sein muss, die Bild und Sprache als verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten, mit Langer gesprochen: verschiedene Formen der Symbolisierung, kennzeichnen. Der Versuch, die Ähnlichkeiten und Differenzen bildlich-ästhetischer und sprachlich-begrifflicher Ausdrucksformen abzuschreiten, ist in diesem Abschnitt unternommen worden. Als kleinster gemeinsamer Nenner von Bild und Text lässt sich festhalten: Bilder und Texte werden in ihrer Bedeutungshaltigkeit erst dann erkennbar, wenn sie etwas für jemanden bedeuten. Jede Art von Gestalterkennung, sei es im Hinblick auf eine sprachliche Metapher oder einen visuellen Einruck, jeder semantische Prozess, jeder Versuch einer Deutung eines Satzes oder Bildes ist nicht nur auf die Relationen der gegebenen Elemente, sondern immer auch auf Relationen mit dem Außen, auf Interaktion mit einem Subjekt angewiesen. Jede Form des Ausdrucks konstituiert sich auf ein Subjekt hin, das vor dem Hintergrund seiner sozialen und biographischen Kontexte, ein Bild oder einen Text als etwas wahrnimmt, das für das Subjekt für etwas steht, das mehr bzw. etwas anderes ist, als das aktuell Sicht- oder Hörbare, und das so den Raum möglicher Bedeutungen umreißt.

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3.3 S PRACHE

UND SINNLICHE

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E RKENNTNIS

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Sprache und Sinnlichkeit zur Erkenntnis der Welt, in der wir leben, beitragen. Sie ermöglichen jeweils eine „besondere[...] Form der Welterschließung“ (Kleimann 2002, S. 14), die sich nicht wechselseitig ersetzen können. Gemeinsam ist ihnen ihre Basis in der Erfahrung, also in Prozessen, die immer wieder das Gewohnte infrage stellen, und neue Sichtweisen auf eine Situation ergeben. Die Perspektive der ästhetischen Erfahrung ist, anders als eine wahrheitsorientiert-theoretische oder richtigkeitsorientiert-praktische Erfahrung, eine, die die sinnlich-sinnhafte Erschließung der Welt in den Mittelpunkt stellt. Sie ist jedoch, das betont Kleimann nachdrücklich, „nicht der Inbegriff der Welterschließung“ (ebd., S. 14), sondern stellt einen Weltzugang neben den anderen dar. Kleimann folgend ist ästhetische Erfahrung Teil einer grundsätzlich prozessual erfolgenden Welterschließung, die vom handelnden Subjekt sowohl erlitten als auch aktiv betrieben wird und ein „wesentlich von der Kontingenz menschlichen In-Situationen-Seins abhängiges Geschehen“ (ebd., S. 28) sei. Dieses In-der-Welt-Sein des Menschen, seine Leiblichkeit, mache ihn zu einem Wesen, das der Welt intentional, d.h. aktiv handelnd gegenübertrete, dem die Welt zugleich in unvorhersehbaren Umständen und Begebenheiten als Widerfahrnis begegne. In dieser doppelten Begegnung spielt ästhetische Erfahrung und der sinnlich-sinnhafte Aspekt der Welt eine wichtige Rolle: In der Begegnung mit der Welt als etwas, das nicht „machbar“ oder „beherrschbar“ ist, sondern dem das Subjekt auch ausgeliefert ist, ist die sinnliche Seite der Erkenntnis eine Form des Weltzugangs, der eine Form des Verstehens der Umstände, eine Art der Erkenntnis über das, was ihm gegenüber tritt, möglich macht. Wenn im Widerfahrnis die bisherigen Annahmen über die Welt ins Wanken geraten und nicht mehr gelten, dann ist die ästhetische Wahrnehmung ein Zugang zu einer neu zu formierenden Wirklichkeit (vgl. ebd., S. 27f.). Wesentlicher Bestandteil ästhetischer Erfahrung seien Formen der „ästhetischen Reflexion“, in denen über ästhetisch Erlebtes und Wahrgenommenes in sprachlicher Form reflektiert wird. Diese Reflexion diene der Verständigung über das Erfahrene einerseits und einer Selbstverständigung andererseits, die in einem intersubjektiven Abgleich der Erfahrungen auch Werturteile, Kritik und Rechtfertigung beinhalte (vgl. ebd., S. 235ff.) In dieser sprachlichen Auseinandersetzung über Gesehenes, Gehörtes, Gespürtes werde deutlich, dass Sprache im Versuch, sinnliche Erfahrungen zu reflektieren, eine besondere Funktion erfülle: Es sei nicht das Ziel der sprachlichen Fassung ästhetischer Erfahrungen festzustellen, was der Fall sei. Vielmehr sei diese besondere Form der Reflexion

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selbst wiederum ein Prozess der Vergegenwärtigung, in dem Imagination, als Erkundung des Möglichen eine zentrale Rolle spielt. Resultierend aus der Wahrnehmungsgebundenheit der ästhetischen Erfahrung ergebe sich eine sprachliche Art des Verweisens, die eher auf Erfahrungsgehalte hinweise, als sie direkt anzusprechen (vgl. ebd., S. 356; vgl. auch Thaler 2010). Sprache und sinnliche Erkenntnis werden bei Kleimann zu zwei Zugängen zu der einen Wirklichkeit, in der Menschen leben und sich einrichten. Beide Zugänge sind immer kopräsent, das heißt die begrifflich-rationale und die sinnlichästhetische Erkenntnis der Welt sind aufeinander angewiesen und bedingen einander (vgl. Kleimann 2002, S. 13f.), ähnlich wie Schütz' verschiedene „Sinnwelten“ (vgl. Breckner 2010). Aus heuristischen Gründen werden sie jedoch oft voneinander gelöst, ohne sie am Ende wieder zusammenzuführen oder ihre unauflösliche Verwobenheit kenntlich zu machen. Georg Peez betont die Notwendigkeit sinnlicher Erfahrungen nachdrücklich, wenn er sagt: „Sinn wird nicht durch sprachliche Vermittlung geknüpft, sondern durch Bilder und Erleben“ (Peez 1997, S. 50) Er macht diese Aussage im Kontext seiner Diskussion sogenannter „innerer Bilder“ im Zusammenhang mit dem „Unbewussten“, das aus gesellschaftlich vermittelten Bedeutungen bestehe, die ohne bewusstes Zutun des Subjekts ihre Wirksamkeit entfalteten. Sinneseindrücke im Zusammenspiel mit sozialer Interaktion seien die Faktoren, die „innere Bilder“ prägten, und seien grundlegend für die Vermittlung von Sinn. „‚Äußere und innere Realität‘ vermischen sich in leiblichen Vorstellungsbildern.“ (Ebd.) Diese in der Leiblichkeit des Menschen verankerten und während der Sozialisation entstehenden „inneren Bilder“ stellen damit auch eine Verbindung her zwischen rational-begrifflichen und ästhetischen Aspekten des Erlebens der Welt.

3.4 L EIBLICHKEIT Wie Peez und Kleimann betonen auch andere Autor_innen die Rolle der Leiblichkeit in der Frage nach der Erschließung der Welt. Merleau-Ponty fasst die Leiblichkeit des wahrnehmenden Menschen als eine unhintergehbare Verwobenheit mit der Welt, in der das „Selbst“ sieht und zugleich gesehen wird, sich selbst sieht, spürt und hört ebenso wie es andere(s) sieht, spürt und hört. Es ist in seiner Zeitlichkeit ein „‚Selbst‘, das zwischen die Dinge gerät“ (Merleau-Ponty 2003, S. 280), das betroffen ist von der Welt und in ihr Vergangenheit und Zukunft hat. Die kategoriale Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Wahrnehmendem und Wahrgenommenem verschwimmt, wenn sich Bild und Betrach-

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ter_in gegenseitig hervorbringen – der_die Betrachter_in wird als solche durch seine_ihre Positionierung dem Bild gegenüber hervorgebracht und das Bild wird erst in der Betrachtung zu etwas, das mehr ist als ein farbiger Gegenstand (vgl. Laner 2010). Anders als das Denken, die Imagination, hat das Sein und Handeln in der Welt direkte Auswirkungen sowohl auf die handelnde Person und als auch auf die Welt, in der sie sich befindet (vgl. auch Young 2005, S. 72f.) und damit auch auf die Art und Weise ihrer Wahrnehmung. Auf dieses spezifische In-der-Welt-Sein bezieht sich z.B. Lambert Wiesing, der den Begriff des „Stils“ einführt, um die Art und Weise zu beschreiben, wie ein Subjekt die es umgebende Welt wahrnimmt und sie zum Ausdruck bringt. Jede Wahrnehmung sei unweigerlich historisch und situational bedingt, da es sich bei Menschen eben nicht um „geflügelte Engelsköpfe ohne Leib“ (Schopenhauer, zit.n. Wiesing 2000, S. 18) handele. Je nach individueller Verfassung und gesellschaftlichen Verhältnissen unterschiedlich, werde die Welt nicht einfach in ihrer Gänze erfasst und gespiegelt, sondern die Wahrnehmung der Welt umfasse stets schon eine Aktivität des Subjekts. „In jeder Wahrnehmung werden Dinge wie in einem Bild zu prägnanten Gestalten zusammengefasst, werden Differenzierungen gesehen und Übergänge konstruiert, es treten Gegenstände in den Mittelpunkt oder verschwinden in einer horizonthaften Unbestimmtheit.“ (Wiesing 2000, S. 90) Dieser Stil, der wiederum in ästhetischen Produkten wie Bildern zum Ausdruck komme, mache deutlich, dass weder die visuelle Wahrnehmung noch die Produktion visueller Darstellungen eine Art passiver Spiegelung der Wirklichkeit sei, sondern ein Ausdrucks- und Interpretationsgeschehen zur Darstellung bringe, in dem das Subjekt als leibliches Wesen, das in der Welt lebe, sichtbar werde. „Innere Bilder“ als Produkte sinnlicher Wahrnehmung seien als solche keine objektiven Abbilder der Welt, sondern Produkt eines Subjekts, das sich in einer bestimmten Verfassung und in einer bestimmten Situation befinde. Wiesing macht deutlich, dass „innere Bilder“ nur insofern als Bilder anzusprechen sind, als sie im „Stil“ ein formales Merkmal haben, das dem eines materialen Bildes ähnelt. Die bildliche Vorstellung von etwas, die Wiesing als „nichts anderes als das Bewusstsein von dem Gesehenen“ (ebd., S. 89) bezeichnet, sei stets geprägt von der Art und Weise, wie etwas gesehen werde, wie ein wahrnehmendes Subjekt die Sinneseindrücke in eine Gestalt bringe, wie es über die Welt denke. Wird einer Vorstellung visuell Ausdruck verliehen, so sei der Stil dieser Ausdrucksform sichtbarer Ausdruck „eines vorbegrifflichen Denkens der […] Welt“ (ebd., S. 35), das die Erfahrung des Subjekts mit und in der Welt zum Ausdruck bringe und in diesem Ausdruck eine Positionierung zur Welt sichtbar werden lasse. Der Ausdruck „innerer Bilder“ oder visueller Vorstellun-

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gen in Form materialer Bilder wird so zu einer Möglichkeit, das Wie der Wahrnehmung zu erforschen. Wiesing bezeichnet das Bild als die einzige Möglichkeit, die sich ständig wandelnden Stilisierungen der Wahrnehmung festzuhalten und so eine Momentaufnahme der Wahrnehmungsweisen der Wirklichkeit zu erhalten (vgl. ebd., S. 92). Roswitha Breckner fasst den „Stil“ eines Bildes unter dem Begriff „Formgestalt“ (Breckner 2010, S. 88) und betont ebenfalls die besondere Potentialität von Bildern, in der Formgestalt „die leibliche Dimension […] sichtbar zu machen.“ (Ebd.) Zudem weist sie darauf hin, dass die Entstehung eines Bildes, und damit die Verwobenheit von Leiblichkeit, ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischem Ausdruck, nicht nur auf der Seite der_des Produzierenden zu verorten ist, sondern sondern ebenso für die Seite der_des Rezipierenden gilt. Die Bedeutung, die ein_e Betrachter_in des Bildes diesem gebe, die Sinnbezüge, die sie_er wahrzunehmen vermöge, hingen wiederum an ihrer_seiner aktuellen Verfasstheit, ihren_seinen Erfahrungen in und mit der Welt und der Situation, in der die ästhetische Begegnung stattfinde (vgl. ebd.).

3.5 ÄSTHETISCHE E RFAHRUNG Welche Rolle ästhetische Erfahrung in dieser ‚Wirklichkeitserfassung‘ spielt, darüber gehen die Vorstellungen durchaus auseinander. Während Wolfgang Welsch in seinen Ausführungen zum „Ästhetischen Denken“ der Wirklichkeit als solcher attestiert, sie erweise sich „immer mehr als nicht ‚realistisch‘, sondern ‚ästhetisch‘ konstituiert“ (Welsch 1990, S. 7), weist z.B. Martin Seel dieses Verständnis zurück und betont, dass „das, was wir als Wirklichkeit erschließen, niemals unabhängig von den konstitutionellen und artifiziellen Mitteln, Medien und Möglichkeiten ist, mit denen wir unsere Auseinandersetzung mit der jeweiligen Wirklichkeit bestreiten.“ (Seel 1993b, S. 567) Wo Welsch der Ästhetik die Stellung der eigentlich angemessenen Form der Welterschließung vor allen anderen zuspricht, versteht Kleimann mit Bezug auf Martin Seel sie vielmehr als eine Form unter anderen, die „in einer spannungsreichen Auseinandersetzung mit anderen Weltorientierungen befangen [ist]“ und „uns die sinnlich-sinnhafte Seite der Welt in einer nicht-substituierbaren Weise zugänglich macht.“ (Kleimann 2002, S. 14; Herv. im Original) Eben dies, so Kleimann, sei die Funktion eines ästhetischen Weltverhältnisses: sich die Welt in ihrer „rein phänomenalen, expressiven und künstlerischen Artikuliertheit“ (ebd.) zu erschließen. Die Interaktion dieser Welterschließung mit den theoretischen und praktischen Formen des Weltzugangs sei konstitutiv für die „aktive Auseinandersetzung mit der sinn-

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lichen Welt“ (Kleimann 2002, S. 56). Gunter Otto möchte „das Ästhetische als einen Modus von Rationalität“ verstehen, und damit eine Differenzierung der Rationalität befördern, in der auch „die Erkenntnisfähigkeit, die Erkenntnisleistung ästhetischer Prozesse – sei es Produktion, sei es Rezeption“ (Otto 1991, S. 145) Anerkennung als Teilaspekt von Rationalität findet. Ästhetische Erfahrung, die ihren spezifischen Teil zu einer Erfahrung der Welt beiträgt, wird, ebenso wie andere Erfahrungen, als ein Ergebnis des Umgangs mit Irritationen, Unsicherheiten und infrage gestellten Vorannahmen verstanden (vgl. Kleimann 2002, S. 14). Basierend auf einer ästhetischen Empfindung, die als Hinwendung zur Empfindung selbst verstanden wird, d.h. ohne die Bedeutung des Empfundenen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, wird ein spielerischer Umgang mit potenziellen Bedeutungen denkbar (vgl. Dietrich et al. 2012, S. 19). Dieses Spiel der Bedeutungen ermöglicht es, dass die Einordnung der Wahrnehmungen und Empfindungen über das Altbekannte hinausgehen kann, dass neue Zugänge zur und ein neues Verständnis der Welt bezogen auf die konkrete Situation und das konkrete Erlebnis entstehen können. Diese Art der Erfahrung, wie Dewey in seiner Arbeiten über die ästhetische Erfahrung betont, ist eng verknüpft mit unseren bisherigen Erfahrungen und Weltzugängen. „Die Bedeutungen, die Situationen […] für uns haben, ergeben sich aus dem Zusammenspiel ihrer konkreten Qualität mit dem Zusammenhang, aus dem wir sie wahrnehmen.“ (Dietrich et al. 2012, S. 56) Denkakte spielen dementsprechend im Hinblick auf ästhetische Erfahrung einen ebensolche Rolle wie Gefühle. „Sinnlichkeit ist keine begriffslose Rezeptivität, wie noch Kant meinte, sondern eine von Gefühlen und Denkakten nicht abtrennbare, immer auch aktive Auseinandersetzung mit der sinnlichen Welt.“ (Kleimann 2002, S. 56) Ästhetische Erfahrungen machen heißt also, sich handelnd den Unwägbarkeiten der ästhetischen Welt auszusetzen, um Widerfahrnisse, Überraschungen, unvorhergesehene Umstände wahrscheinlich zu machen. Horst Rumpf spricht von der „Unvertrautheit als kostbare Größe“ (Rumpf 1991, S. 129), die es ermögliche, sich dem scheinbar Vertrauten zu widersetzen, um das Fremde überhaupt wahrnehmen zu können. Diese Art der Auseinandersetzung schließt auch ein, dass ein (sprachlicher) Austausch über sinnliche Erfahrungen stattfindet, der überhaupt erst in die Lage versetzt, sich zu den gewonnenen Erfahrungen zu verhalten. Ästhetische Aspekte des Weltzugangs sind entsprechend einerseits Teil individueller Erlebnisse, und zugleich Teil einer Wirklichkeit, deren Basis eine Verständigung über sie ist (vgl. Kleimann 2002). In der ästhetischen Erfahrung fließen also Aspekte des menschlichen Weltverhältnisses zusammen, die allzu oft getrennt werden. Sinnliche Empfindsamkeit und Empfindung und damit die Körperlichkeit des Menschen in der Welt

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ebenso wie seine Fähigkeit, der Welt Bedeutsamkeit abzuringen, ihr als denkendes Wesen gegenüber zu treten. Diese Gleichzeitigkeit von Begrifflichkeit und Sinnlichkeit, von ‚in der Welt sein‘ und ‚ihr gegenüber stehen‘ nicht als Dualität, sondern als Kontinuum zu verstehen, scheint mir eines der Anliegen zu sein, das Verfechter_innen eines ästhetischen Weltverhältnisses und einer entsprechenden ästhetischen Rationalität verfolgen.

3.6 ÄSTHETISCHER AUSDRUCK Auf den ersten Blick scheint ästhetischer Ausdruck das Gegenstück zu ästhetischer Erfahrung zu bilden. In ihm kommt zum Ausdruck, was sich der diskursiven Form entzieht, diese ergänzt oder über sie hinausgeht. Doch ein genaueres Hinsehen zeigt, dass ästhetischer Ausdruck nicht nur Ausdruck von etwas ist, sondern selbst eine Form hat, die ihrerseits auf eine Art und Weise präsentiert wird, die wiederum die Sinne als Mittel der Erkenntnis in den Mittelpunkt rückt. Zugleich ist diese Form eingebunden in den kulturellen Kontext und die situativen Gegebenheiten der jeweiligen Akteure (vgl. Peez 2003). Biographische Erfahrungen tragen ebenso zum „Stil“ (vgl. Wiesing 2000) einer Ausdrucksform bei, wie die aktuelle Kommunikationssituation und die Absicht, die mit der ästhetischen Äußerung verbunden ist (vgl. auch Sowa/Uhlig 2006). Zugleich ist der Stil nicht nur auf die Herstellung ästhetischer Ausdrucksformen bezogen, sondern beschreibt auch die Art und Weise, wie Subjekte „ihre“ Wirklichkeit wahrnehmen. Schon diese Wahrnehmung findet in einem und durch ein Subjekt statt, das Erfahrungen gemacht hat, die seine Perspektive auf die Welt prägen und das nicht nur eine Perspektive auf die Welt hat, sondern in seiner Leiblichkeit Teil dieser Welt ist. Jedes Subjekt, in seinem In-der-Welt-Sein, entwickelt Stile der Wahrnehmung, die wiederum den Blick auf die Welt formen (vgl. Wiesing 2000). Bilder sind eine Form des Ausdrucks der Auseinandersetzung mit dem Inder-Welt-Sein. Bilder sind sowohl Ausdruck von Selbst- und Weltverständnis wie auch Mittel, um ein ebensolches zu erlangen. Sie sind Vehikel des Sinns, derer Produzent_innen sich bedienen, um sich einen eigenen Zugang zur Welt zu erarbeiten, und sind zugleich Ausdruck für eben jenen Zugang, jene Einsicht in die Bedeutsamkeit der Welt. Und sie sind neben diesem Hinweis auf eine Weltsicht eben auch materiale Gegenstände, die (mehr oder weniger unabhängig von ihrer Produktion) in ihrer Materialität wahrgenommen und in dieser bedeutsam werden können:

Ä STHETIK

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„Erst seit William J.T. Mitchell und Gottfried Boehm in den 1990er Jahren eine Wende hin zum Bild vollzogen, diese als pictorial turn (Mitchell) beziehungsweise iconic turn (Boehm) bezeichneten, richtete sich die Aufmerksamkeit darauf, dass ‚Bilder, unabhängig von ihrer Möglichkeit, dass sie Referenzen aufbauen können, Systeme sind, die ihrer eigenen Logik genügen, d.h. imstande sind, Bedeutung und Sinn aus ihren Möglichkeiten zu erzeugen.‘ (Boehm 2008) Vor allem der iconic turn ebnete den Weg zur Einsicht, dass die Logik der Bilder authentische Wege der Erkenntnis ermöglicht und Bilder Teile einer Verständigung über die Welt sind.“ (Thaler 2010, S. 39; Herv. im Original)

4. Die Collage als Bild

Collagen sind eine besondere Art von Bildern. Sie entstehen aus Materialien, die nicht zueinander „passen“, die oft Fundstücke aus völlig unterschiedlichen Zusammenhängen sind. Ausschnitte aus Texten, Fahrkarten, Tapetenstücke, Stoffreste, Teile von Fotos usw. werden in der Collage zusammengefügt und ergeben ein neues Ganzes, in dem die Elemente als sie selbst erkennbar sind (eine zerrissene Fahrkarte bleibt auch in der Collage eine solche), damit einen eigenen Bedeutungshorizont transportieren, und zugleich im Kontext der anderen Elemente neue Bedeutungsmöglichkeiten, überraschende Fragen und ungewohnte Sichtweisen aufwerfen (vgl. Pazzini 1986). Max Ernst (1891-1976), Künstler des Surrealismus und einer der ersten, der sich mit der Collage als Kunstform beschäftigte, beschrieb das Charakteristische einer Collage folgendermaßen: „Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“ (Ernst, zit.n. Mosch 2013, S. 114) Collagen sind demnach weniger als viele andere Bilder, der Versuch, Wirklichkeit abzubilden, sondern sie ermöglichen die Erkundung neuer Bedeutungsräume im Zusammenführen eigentlich unpassender Einzelelemente zu einem neuen Ganzen. Diese Erkundung geschieht sowohl auf der Seite der_des Produzentin_Produzenten der Collage als auch auf der Seite der Rezipient_innen. Beide bringen sich auf ihre Weise ein in die Entstehung und Hervorbringung der Collage als Bild.1 Um die Besonderheiten der Betrachtungsweise der Collage als Bild deutlich zu machen, umreißt der folgende Abschnitt Aspekte des Bildes als Möglichkeit

1

Zur doppelten Hervorbringung des Bildes siehe auch Breckner 2010 und Laner 2010.

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ästhetischen Aus- und Eindrucks und befragt die in den Lernwerkstätten entstandenen Collagen hinsichtlich ihres Bildcharakters.

4.1 F AKTOREN DER B ILDLICHKEIT Bilder sind Gegenstände, die stets mehr sein können, als es zunächst den Anschein hat. Zum einen können sie als Versuche der Darstellung verschiedener Ebenen der wahrnehmbaren und erfahrbaren Welt verstanden werden. In dieser Funktion bilden sie konkrete Gegenstände dieser Welt, aber auch Gedanken, Vorstellungen und Phantasien über diese Welt sichtbar ab, zeigen diese. Zum anderen sind sie selbst als materiale Gegenstände2 Teil von und in dieser Welt und können sinnlich wahrgenommen (gesehen, berührt, evtl. gerochen und gehört) und (in der Regel) transportiert, das heißt aus ihrem Entstehungskontext entfernt und in andere Kontexte gebracht werden (vgl. z.B. Wiesing 2000, Boehm 2006, Mitchell 1994). In dieser Materialität und der damit verbunden Dauerhaftigkeit ihrer Anwesenheit, liegt auch ihre Fähigkeit, Widersprüchliches und Ungleichzeitiges simultan darzustellen. So betonen Martina Heßler und Dieter Mersch die „spezifische Suggestivkraft von Visualisierungen“ (Heßler/Mersch 2009, S .17) z.B. in der Wissenschaft, die sie daraus bezögen, dass im Bild aus Einzelelementen ein Ganzes und im Ganzen Sichtbares gemacht würde, was eine Form von Kohärenz und Plausibilität des Dargestellten herstelle, die eher seiner Bildlichkeit als den zugrunde liegenden Ergebnissen geschuldet sei. Im Gegensatz zur binären Logik, die dem Gesetz des Entweder-Oder gehorche, seien bildliche Darstellungen in der Lage, Uneindeutigkeit zuzulassen und zeitliche Abfolgen räumlich darzustellen. Auf diese Weise ermöglichten sie die Herstellung von Relationen und Zusammenhängen und das Erkennen von Mustern, die in der ausschließend funktionierenden binären Logik des Wahr-oder-Falsch und den diskursiven Formen der syntaktisch-logischen Folge, die stets einem Nacheinander gehorchten, unsichtbar geblieben wären (vgl. Heßler/Mersch 2009, S. 24ff.). Das Bild wird auf diese Weise zu einem Gegenstand, der selbst Wissen hervorbringen und verändern kann. Es wird zu einem „epistemologischen Bild“ (Scholz 2008, S. 1),

2

Hier wird vor allem Bezug genommen auf Tafel-Bilder im weitesten Sinne. Virtuelle Bilder teilen einige dieser Charakteristika, besonders in Bezug auf die Art des „Zuhandenseins“ unterscheiden sie sich jedoch deutlich von konkreten Bildern. Zu virtuellen Bildern vgl. Mitchell 1994, Wiesing 2000.

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das „zum eigentlichen Ziel eines experimentellen Vorhabens [wird] oder zur Materialisierung einer Forschungsfrage“ (ebd.). Diese Vorstellung von bildlichen Darstellungen als Gegenstände der Erforschung der Wirklichkeit liegt nah bei Helga Kämpf-Jansens Begriff der ästhetischen Forschung als Prozess, in dem im Interesse einer tiefen Durchdringung einer Frage das Finden und Entwickeln visueller Ausdrucksformen eine zentrale Rolle spielen (vgl. Kämpf-Jansen 2012). Auch Lambert Wiesing verweist in seinen Ausführungen zum Stil darauf, dass Bilder in besonderer Weise dazu geeignet seien zu erforschen, wie Menschen die Welt, in der sie als wahrnehmende, leibliche Wesen leben, strukturierten und in einer vorbegrifflichen Weise über sie dächten (vgl. Wiesing 2000). Ein weiterer Faktor von Bildlichkeit ist seine unendliche Verflochtenheit mit diskursiven Anteilen. Darauf weist W.J.T. Mitchell hin, indem er den Begriff des „image/text“ (Mitchell 1994, S. 97) verwendet, der die Bildhaftigkeit von Sprache und die Diskursivität von Bildern deutlich machen soll, und den des „metapicture“ (ebd., S. 49), der auf zentrale theoretische Wissensformationen verweist, die in bildhafter Form Teil des Diskurses über das Selbst und seine Möglichkeiten sind, Wissen über Dinge, andere und sich selbst zu erlangen. Metapictures wie die tabula rasa oder Platons Höhle stellten bildhafte Modelle theoretischer Vorstellungen der Wirklichkeit dar, die den Vorteil hätten, leicht vermittelbar und unmittelbar einsichtig zu sein. Der Begriff mache deutlich, dass theoretische Annahmen im verbalen Diskurs bildlichen/metaphorischen Charakter bekämen, dass also Theorie und visuelle Praxis nicht voneinander zu trennen seien (vgl. ebd., S. 49)3. Mit dem Konzept des „image/text“ verweist Mitchell darauf, dass es keine Bilder gibt, die, nicht auch in irgendeiner Form auf verbale Sprache verweisen oder sie bei der_dem Betrachter_in provozieren. Und genauso wenig könne man davon sprechen, dass Sprache nicht auch bildliche Vorstellungen hervorrufe. Der Metaphernreichtum der Sprache und die Fähigkeit, mit Bildern zu argumentieren, zu erzählen und abstrakte Ideen darzustellen, zeigten vielfältig, dass die von Purist_innen des Bildes oder der Sprache eingeforderte Reinheit der Ausdrucksweisen keine empirische Wirklichkeit wiedergebe, sondern vielmehr eine Form von Ideologie darstelle. Sprache und Bild würden in dieser Reinheitsvorstellung nicht als reale Ausdrucksweisen im Sinne der „parole“ verstanden, sondern als „langue“: als unverfälschte, der wissenschaftlichen Untersuchung und Beschreibung zugängliche Systeme. Diese Ideologie habe zur Folge, dass Bild und Sprache in eine „metaphysische Opposition“ (ebd., S. 161) zueinander gebracht würden, die einer pragmatischen (d.h. die Praxis anerkennenden), dialektischen Beschreibung verschlossen bliebe. Die Forderung

3

Vgl. auch Breckner 2010, S. 25.

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nach dem ‚reinen Bild‘ oder dem ‚reinen Text‘, die oft mit der Ästhetik der Moderne und abstrakter Malerei in Verbindung gebracht werde, sei letztendlich eine moralische Forderung, „im Namen höherer ästhetischer Werte“ (ebd., S. 96f.). Mit Hilfe des „image/text“-Komplexes sei die Möglichkeit geschaffen, die unausweichliche Vielfältigkeit und vielfältige Verwobenheit von Bild und Sprache deutlich zu machen. Das in der Diskussion der Verbindung von Ästhetik und Sprache ausgeführte Verständnis Susanne K. Langers von der Verwobenheit diskursiver und präsentativer Symbolisierungen (vgl. Breckner 2010) weist in eine ähnliche Richtung. 4.1.1 Bilder als Ausdrucksform Die Erkenntnis der Welt in der Perspektive ihres sinnlichen So-Seins findet unter anderem in der Welt der Bilder, als einer ihrer Ausprägungen, ihren Niederschlag. Bilder, wie andere Ausdrucksformen auch, werden jedoch nicht nur als Abbildungen von Wirklichkeit verstanden, sondern als Artefakte, die in der Interaktion mit Rezipierenden auch aus sich selbst heraus bedeutsam werden können. „Bilder sind Verständigungsgesten im situativen und geschichtlichen Zusammenhang menschlicher Praxis.“ (Sowa/Uhlig 2006 , S. 84) Bilder seien nicht als etwas zu verstehen, dem eine Bedeutung inhärent sei, sondern als Produkte, die in einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Kontext entstanden seien. Dieser Kontext habe Einfluss auf das, was in Bildern zum Ausdruck gebracht werde, und auf die Form, in der dies geschehe. In der Aussage, Bilder seien Produkte der Phantasie und brächten etwas zur Erscheinung, was ohne sie nicht existiere (vgl. Wulf/Zirfas 2005, S. 21), machen Christoph Wulf und Jörg Zirfas einen wichtigen Punkt deutlich: Die Bedeutsamkeit von Bildern wird nicht darin gesehen, dass sie innere oder äußere Wirklichkeit abbilden. Ihre Aussagekraft besteht vielmehr darin, dass sie mögliche Sichten auf die Welt sichtbar machen. Bilder sind keine Abdrücke von etwas innerlich oder äußerlich Zuhandenem, das aus dem Kopf oder der Umgebung auf das Blatt übertragen wird. Sie sind „Objekte ästhetischer Praxis“ (Seel 1993a, S. 405) und damit „sinnreflexive Gebilde, [die] Horizonte möglichen Sinns […] exponieren.“ (Ebd.) Das Bild wird so zu einem Experimentierfeld, auf dem Produzent_innen und Rezipient_innen Vermutungen über ihre Wirklichkeit anstellen, Phantasien entwickeln und Erfahrungen in einer neuen Dimension zum Ausdruck bringen können. Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass die Funktion des Bildes als Abbild eine der häufigsten und im Alltagsverständnis von Bildern vorherrschende Vorstellung darstellt. In Schulbüchern dienen Abbildungen der Veranschaulichung von Sachverhalten ebenso wie von Dingen, Nachrichtenbildern wird unterstellt,

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dass sie in authentischen Bildern ferne oder auch nahe Wirklichkeiten zeigen. Dass diese Bilder und ihre Auswahl immer schon Interpretationen der Wirklichkeit darstellen, wird dabei oft nicht realisiert (vgl. Majetschak 2004). Ebenso wenig wird ihre Interaktion mit Rezipient_innen berücksichtigt, die beispielsweise in einem Nachrichtenfoto auf der Basis ihrer Lebenssituation, ihres Kontextes oder aktueller Fragen etwas sehr Spezifisches ‚sehen‘, das für andere Betrachter_innen ‚unsichtbar‘ bleibt (vgl. z.B. Keppler 2014, S. 224). Bilder sind sowohl Ausdruck von Selbst- und Weltverständnis wie auch Mittel, um ein ebensolches zu erlangen (vgl. Mitchell 1994, S. 49, Kämpf-Jansen 2012). Sie sind Vehikel des Sinns, derer Produzent_innen sich bedienen, um sich einen eigenen Zugang zur Welt zu erarbeiten, und sind zugleich Ausdruck für eben jenen Zugang, jene Einsicht in die Bedeutsamkeit der Welt. Bilder geben zu sehen, wie Menschen, die diese Bilder gefertigt haben, die Wirklichkeit wahrnehmen und interpretieren. Im Bild wird etwas Nicht-Stoffliches wie Vorstellungen, Wahrnehmungen, Phantasien sichtbar und statisch und damit der stetigen Veränderung entzogen, die allem Denken und Bewusstsein eigen ist. Das intentionale Bewusstsein von etwas, so Wiesing, unterliege immer wieder Veränderungen einfach deshalb, weil der wahrnehmende Mensch selbst nicht unabhängig sei von seiner eigenen Verfassung und den Umständen, in denen er sich befinde (vgl. Wiesing 2000, S. 18f.). Bilder könnten demnach als Momentaufnahmen gesehen werden, die Einblick gewährten in die aktuelle Sichtweise einer Person auf die Welt. 4.1.2 Stil und Ikonologie Bilder zeigen etwas, machen etwas sicht- und wahrnehmbar, das selbst nicht anwesend ist – Gegenstände, Szenen, Menschen an anderen Orten – oder auch niemals anwesend sein kann, wie Phantasiegebilde, utopische Entwürfe oder Darstellungen von Ideen oder Vorstellungen. In diese Darstellung von ‚etwas‘ geht die spezifische Wahrnehmung der_des Produzierenden zwangsläufig mit ein, da etwas stets auf eine bestimmte Weise dargestellt wird. Dieser Stil (Wiesing 2000) macht die_den Produzierende_n sichtbar, die_der sich, um etwas darstellen zu können, für eine bestimmte Perspektive, einen bestimmten Lichteinfall, eine bestimmte Anordnung der Gegenstände, Figuren, Linien und Farben entscheiden muss. Die Entscheidung für einen Stil basiert auf der Verschränkung von gesellschaftlich vermittelten und individuellen Wahrnehmungen und macht die Sichtweise einer Person oder Personengruppe auf einen Gegenstand – begrifflich oder nicht-begrifflich – sichtbar. Darin unterscheidet sich das Bild vom Gegenstand selbst: im Bild lässt sich der Stil oder die Sichtweise der_des Bild-

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produzentin_Bildproduzenten nicht ausblenden, während der Gegenstand selbst keine eigene Sichtweise vorgibt, sondern sich als Kristallisationspunkt von Sichtweisen anbietet (vgl. Wiesing 2000). Die notwendige Sichtbarkeit des Stils in einem Bild macht es zu einem Zeichen von Sichtweisen, die unsichtbar sind und üblicherweise unthematisch bleiben. Auf diese Weise wird das Bild zu einem Erkenntnisinstrument, das Einblicke in die Vorstellungen und Synthesisleistungen eines Menschen zulässt, die als Begleitphänomene der Wahrnehmung meist nicht thematisiert werden (vgl. ebd., S. 18f.). Die Ikonologie hat seit Erwin Panowsky die Aufgabe, die „eigentliche Bedeutung oder [den] Gehalt“ (Panowsky, zit.n. Bätschmann 2001, S. 69; Herv. im Original) eines Bildes auf der Basis „persönlicher Psychologie und ‚Weltanschauung‘“ (ebd.; Herv. im Original) herauszuarbeiten. Sie betrachtet das Bild als ein „Dokument für etwas anderes als es selbst“ (ebd., S. 70; Herv. im Original), nämlich für die im Akt der Gestaltung wirksamen Prinzipien, d.h. die im Bild zum Ausdruck kommenden „geschichtlichen Regeln und […] individuellen Motive“ (ebd., S. 72). Lambert Wiesing unterscheidet die Betrachtungsweise des Bildes „als Zeichen für Gegenstände“ nachdrücklich von einer „Verwendung des Bildes als Zeichen für Sichtweisen“, die nach dem Wie und nicht (nur) nach dem Was eines Bildes fragt (vgl. Wiesing 2000, S. 13ff.). Oskar Bätschmann hingegen legt nahe, dass der Stil als Bildaspekt in der Ikonologie Berücksichtigung findet. Indem die Ikonologie über die Suche der Ikonographie nach dem gemeinten Sinn eines Bildes hinausgehe und nach Anzeichen suche, die Aufschlüsse zulassen auf die geschichtliche Einbettung der_des Bildgestalterin_Bildgestalters und der Entstehung des Bildes gleichermaßen, spielten die Art und Weise der Darstellung und die Sichtweise auf einen Gegenstand für die Ikonologie eine wesentliche Rolle. Zugleich machen diese Hinweise auf Wahrnehmungsweisen im Bild keine „Aussagen“ über selbige, sondern sind tatsächlich als Hinweise, als Wegweiser, als Gesten des Zeigens zu verstehen. Solche Zeigegesten zeigen nicht das, worauf sie hinweisen, sondern sie verweisen darauf. So wie der zeigende Finger nicht mit dem zu verwechseln ist, auf das er zeigt, so sind auch Bilder Hinweise darauf, dass es etwas zu sehen geben kann. Was das sein kann, gilt es mit Hilfe des Bildes zu erforschen (vgl. Thaler 2010). Gunter Otto spricht von der „Symbolfunktion“ des sinnlich Wahrnehmbaren, das auf Nicht-Sichtbares verweise und „die Richtung für das Weiterdenken“ (Otto 1991, S. 160) angebe. Er folgert daraus, dass die sinnliche Erkenntnis allein bei der Betrachtung eines Bildes oder eines anderen ästhetischen Gegenstandes zu kurz greife, denn der Sinn müsse entdeckt und verstanden werden, und sei nicht nur visuell wahrnehmbar.

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4.1.3 Die ikonische Differenz Die Bedingung der Möglichkeit der Bilder, mehr zu sein als ein Abbild einer Sicht auf die Welt, sehen einige Autoren in ihrer „ikonischen Differenz“ (vgl. Boehm 2006, Müller 1997, Wiesing 2000). Axel Müller stellt diese als ein Grundphänomen jeder bildlichen Darstellung dar, das darin bestehe, dass ein Bild einerseits als materialer Gegenstand sichtbar sei, der etwas zu sehen gebe, es aber zugleich in der Darstellungsweise, in den Kontrasten und Relationen seiner Elemente eine Ebene der Bedeutung zeige, die nicht vornehmlich dem begrifflichen Denken, sondern den Sinnen offen stehe (vgl. Müller 1997, S. 20). In der sinnlichen Begegnung mit dem Bild spiele das Bild selbst eine ebenso große Rolle wie der_die Betrachter_in. Bezugnehmend auf den Künstler Josef Albers, unterscheidet Müller „factual facts” und „actual facts” (ebd., S. 19ff.) (Bildfaktum und Bildwirkung): Die factual facts des Bildes, seine Größe, seine Beschaffenheit und das, was es darstellt, kurz: seine objektiven Parameter, stellten den Ausgangspunkt dar, von dem aus von der_dem Betrachter_in actual facts geschaffen würden, die auf seinem_ihrem Erleben, seinem_ihrem Wahrnehmen, seinem_ihrem subjektiven Zugang zum Bild beruhten und das Wie der Darstellung einbezögen. So wie die visuelle Wirkung des actual fact, sein dynamisches optisches „Anschauungserlebnis“ (ebd., S. 19) aus dem Zusammenspiel des Bildes und seiner Elemente mit dem_der Betrachter_in in seiner_ihrer aktuellen Verfasstheit entstehe, so sei auch die ikonische Differenz nicht an einer Stelle des Bildes, einem bestimmten Kontrast oder einer besonderen Relation festzumachen, sondern sei „[a]ls spezifisch sinnliche Form der Exponierung des künstlerischen Sinnes“ (ebd., S. 21) angewiesen auf die je einmalige Begegnung zwischen Werk und Betrachter_in. Gottfried Boehm bezeichnet die ikonische Differenz auf dieser Grundlage als „Geburtsort jedes bildlichen Sinns“ (Boehm 2006, S. 30), der in der Interaktion mit einem_einer Betrachter_in aus dem Spiel von Gleichzeitigkeit und Sequenzialität, von äußerer Begrenztheit und innerer Fülle des Bildes entstehe. Bernd Hüppauf und Christoph Wulf sprechen von der „Einbildungskraft“ (Hüppauf/Wulf 2006), die für die Betrachtung und Herstellung von Bildern unabdingbar sei, da nur sie in der Lage sei, in einer Zusammenstellung sichtbarer Details das mit diesen verwobene Unsichtbare wirksam werden und so ein Bild entstehen zu lassen (vgl. ebd., S. 21f.). Diese Perspektive bezieht die_den Betrachter_in als wesentliches Moment der Bildlichkeit mit ein, die_der mit Hilfe ihrer_seiner „produktive[n] Einbildungskraft“ aus „Wahrnehmungsdaten Bilder entstehen“ (ebd.) und die Rede von der „Bedeutung von Bildern“ überhaupt erst sinnvoll erscheinen lässt. Die ikonische Differenz wird wirksam, wenn das

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sichtbare Bild, seine kontrastierenden Formen und Farben und seine materiale Existenz in der Interaktion mit der_dem Betrachter_in beginnen, Bedeutung zu entwickeln. 4.1.4 Bilder als Gestalter von Wirklichkeit Eine Besonderheit des Bildes, auf die u. a. Christoph Wulf und Jörg Zirfas verweisen, ist sein Effekt, Welt zu gestalten, d.h. performativ zu wirken.4 Die Unmöglichkeit, im Bild das zu verneinen, was es darstellt, unterstellt eine Faktizität, die wiederum Auswirkungen auf das Handeln von Menschen und ihre Vorstellung von der Welt hat, so Wulf und Zirfas (vgl. Wulf/Zirfas 2005). Besonders als „innere Bilder“ entwickelten sie ein Eigenleben, das die Wahrnehmung der Welt und des Selbst strukturiere. Aber auch Diagrammen oder visuellen Darstellungen (natur)wissenschaftlicher Phänomene werden welterschaffende Wirkungen zugeschrieben, indem sie eine bestimmte Perspektive auf ein beschriebenes Phänomen nahelegen, während sie zugleich Ausdruck einer bestimmten Sicht auf die Welt sind (vgl. Schmidt-Burkhardt 2009). 4.1.5 Bilder als Medien Bilder als Medien sind vielgestaltig.5 Sie sind nicht auf ästhetische Aspekte begrenzt, sondern umfassen jede Form von Ausdruck, der der Kommunikation oder der Erkenntnis dient. Die Frage, die an die Collagen als Bilder durchaus gestellt werden kann, inwiefern sie nämlich im eigentlichen Sinne ästhetische Produkte darstellen, ist unter dem Medienaspekt weniger virulent. Aus der Perspektive der Medientheorie stellen die Collagen Produkte dar, die der Darstellung und dem Ausdruck von etwas dienen, das ohne sie nicht sichtbar wäre, in diesem Fall die subjektive Bedeutung von Lernen. „Innere Bilder“, sinnlich-emotionale Erfahrungen und Gedanken, die sich bei der Frage nach dem Lernen im Subjekt aktualisieren, stellen Formen der Reflexion dar, die sich nur in Medien ausdrücken können.6 Als „Mittel eines nichtsprachlichen Denkens“ (Vogel 2001, S. 396) werden Collagen als Medien wiederum zu Werkzeugen der Erkenntnis. In dieser Perspektive ist es nicht zentral, ob die Erkenntnis genuin ästhetischer Natur ist, oder ob nicht doch rational-

4

Vgl. auch Mitchell 1994, Klemm 2011, Diekmannshenke 2011.

5

Siehe auch Kap. 5

6

Sprache wird in diesem Kontext als ein „Spezialfall medialen Handelns“ (Vogel 2001, S. 12) verstanden.

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begriffliches Denken beim Entstehen der Medien oder bei der Arbeit mit diesen eine wichtige Rolle spielt. Zentral ist, dass Geistiges verkörpert und damit etwas wahrnehmbar wird, was sonst unzugänglich geblieben wäre, und dass in dieser Verkörperung eine Kluft überwunden wird zwischen einander fremden Welten (vgl. Krämer 2008a, S. 82).7 Genau das geschieht in der Arbeit mit Collagen: Collagen verkörpern Vorstellungen unterschiedlichen Ursprungs, die sich erwachsene Lernende vom Lernen machen, und sie machen damit den Forscher_innen ein Feld zugänglich, das ihnen sonst verschlossen ist, nämlich das Feld der Alltagserfahrungen und Alltagsvorstellungen derjenigen, die Lernen erleben und erleiden, ohne es zum Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion zu machen bzw. machen zu können.

4.2 C OLLAGEN

AUS

L ERNWERKSTÄTTEN

ALS

B ILDER ?

Collagen als Bilder zu betrachten, macht es möglich, sie als Produkte menschlicher Ausdrucksfähigkeit zu verstehen, die auf sehr unterschiedlichen Ebenen Bedeutung und Sinn vermitteln können: Ein Problem, das Bildern bisweilen innewohnt, scheint bei den vorliegenden Collagen bereits gelöst: Die Collagen sollen Vorstellungen von Lernen zum Ausdruck bringen. Damit scheint das Was des Bildes geklärt: Das, was zu sehen ist, sind Vorstellungen Erwachsener, die sich in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden, von Lernen. Zugleich sind Lernvorstellungen keine Gegenstände der sichtbaren Wirklichkeit und liegen nicht als „innere Bilder“ vor, die es lediglich abzubilden gilt. Das Nachdenken darüber, worin (die eigenen) Lernvorstellungen bestehen und wie sie zum Ausdruck gebracht werden können, ist Teil des Entstehungsprozesses der Collagen. Der „Gegenstand“/das Bildobjekt entsteht erst in der Auseinandersetzung mit dem gegebenen Material und der Gruppe. Jede Collage zeigt damit in ihrer Gesamtheit eine Möglichkeit, die Frage „Was bedeutet Lernen für Dich?“ visuell zu beantworten. Die in die Collage aufgenommenen Abbildungen von Dingen, Menschen und Texten verweisen dabei einerseits auf konkrete ‚Begriffe‘ (Erfahrungen, Ideen, Vorstellungen), die mit Lernen in Verbindung gebracht werden, und können als diskursive Symbolisierungen (vgl. Langer 1987 und Kap. 3.2) gelesen werden. Zugleich stehen die ausgewählten Bild-/Textausschnitte in einem inhaltlichen und räumlichen Verhältnis zueinander und zur Gesamtheit der Collage, sie wirken kontrastierend, betonend, sind weit voneinander entfernt oder als Gruppe gestaltet, sie finden sich am Rand oder im Zentrum des Bildes

7

Zu Medien vgl. auch Kap. 5

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etc. Neben ihrem Leben als diskursiv-begriffliche Verweise sind sie als präsentative Symbole zu verstehen, die auf emotional-sinnliche Aspekte von Lernvorstellungen verweisen. In der Art und Weise der Anordnung wird der Stil sichtbar, der Hinweise auf die Produzent_innen, ihre Situiertheit (vgl. Holzkamp 1995) und damit ihren Blick auf die Thematik Lernen gibt. Die in der Gruppenarbeit entstehenden Collagen sind in ihrem Aufbau, im Wie der Darstellung, unterschiedlich und geben damit Hinweise auf die Verschiedenartigkeit des Nachdenkens über Lernen, das bei den Produzent_innen stattgefunden hat. Die Vorstellungen oder „die Bedeutung“ von Lernen werden in den Collagen auf eine bestimmte Weise zur Darstellung gebracht, die dem Vorgang des „etwas auf den Begriff bringen“ ähnelt: Die Bild- und Textausschnitte, die die Collage bilden, stellen Reduktionen der Diskussion dar; sie sind verdichtete Symbole für ein Thema oder eine Frage. Die Art ihrer Anordnung wiederum ist ebenfalls Ausdruck einer Reduktion und Kontrastbildung: Was an den Rand oder ins Zentrum rückt, was allein oder in Gruppierungen angeordnet wird, ist das Ergebnis einer Klärung in der Gruppe der Produzierenden, deren sichtbarer Ausdruck sich in der Collagen wiederfindet. In der Gestaltung der Collage und in ihrer Dauerhaftigkeit wird die Entstehung von Bedeutungen aus dem Gesamt der Darstellung heraus möglich. Im Wechselspiel von Einzelelementen und Ganzem im Auge der_des Betrachtenden werden Aspekte sichtbar, die das Gesamtbild in einem bestimmten Licht erscheinen lassen, bei dem_der Betrachter_in bestimmte Stimmungen erzeugen oder Fragen aufwerfen. Die ikonische Differenz, die Bedeutsamkeit des Bildes aus dem Zusammenspiel von Rezipient_in, Bildgegenstand und Bild als Gegenstand heraus, wird so zum Zugang zur Collage jenseits der reinen Bildbeschreibung. Die Collage als Ausdrucksform ist ein Rahmen, in dem Vorstellungen, Phantasien, Erinnerungen dargestellt werden können, ohne auf die Ausdrucksweise der verbalen Sprache in ihrer gesprochenen Form zurückzugreifen. Zugleich ist die Sprache als Medium der Auseinandersetzung in den Gruppen Teil der Entstehensbedingungen der Collagen und fließt in die Collagen ein, indem zum Beispiel bestimmte Bildausschnitte für bestimmte Wörter oder Sprichwörter stehen bzw. indem bestimmte Anordnungen einen Teil einer Diskussion abbilden. Dennoch ist die Collage nicht nur Ort der Abbildung einer sprachlichen Auseinandersetzung, sondern auch ein Raum, in dem mit Bedeutungen gespielt werden kann, in dessen Rahmen Bild- und Textausschnitte versuchsweise angeordnet werden, in dem Versuche gestartet werden können, wie eine Bedeutung zum Ausdruck gebracht werden und unterstrichen oder relativiert werden kann. So wird die Collage zu einem Forschungsraum, in dem sich Lernende selbst und

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wechselseitig zu ihren Lernvorstellungen befragen und die ihnen zur Verfügung stehenden Materialien daraufhin untersuchen, inwiefern sie als Ausdrucksmedien tauglich sind. Es findet ein doppelter Auswahlprozess statt: Die Produzent_innen selbst klären in diesem Prozess, worin ihre Lernvorstellungen eigentlich bestehen, und zugleich stehen sie vor der Herausforderung, das zur Verfügung stehende Material so zu verwenden, dass es ihre Vorstellungen zum Ausdruck bringt. Dieser Widerstand des Materials stellt einen Teil des Klärungsprozesses dar: Indem sich die zur Verfügung stehenden Bilder und Texte nicht ungebrochen als Abbilder verwenden lassen, fordern sie eine wiederholte Klärung der eigenen Vorstellungen ein.8 Die Betrachtung der Collage als Bild ermöglicht somit einen Zugang, der die Collagen-inhärenten Bedeutungshorizonte mit dem Collagenkontext in Verbindung zu bringen erlaubt. Indem ein Bild stets mehr ist als das, was es darstellt, weil sein Stil und seine Performativität, seine Materialität und seine ikonische Differenz wesentlich zur Bildhandlung beitragen, erlaubt ein bildorientierter Blick auf die in den Lernwerkstätten entstandenen Collagen, diese als „epistemische“ (Scholz 2008, S. 1) Bilder zu verstehen, die bei der Herstellung auf Seiten der Produzent_innen und bei der Entstehung auf Seiten der Rezipient_innen neue Einsichten erlauben auf das, was Lernen bedeuten kann.

8

Der „Widerstand des Materials“ ist einer der Gründe, aus denen Collagen als adäquates Material für die Arbeit in Lernwerkstätten angesehen werden (vgl. Kap. 2.2 und 2.3).

5. Collagen als Medien

Collagen, wie sie im Rahmen des hier diskutieren Forschungsprojekts entstanden sind, sind problematisch: Sie sind ästhetische Produkte insofern, als sie sich zuerst an den Sehsinn richten und nicht an die Rezeption begrifflich-sprachlicher Konstrukte. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass in dem, was die Collagen zum Ausdruck bringen, ein Gutteil sprachlich-begrifflichen Ursprungs ist, während ein anderer auf Erfahrungen sinnlicher und emotionaler Natur rekurriert. In der Erstellung der Collagen wird Wissen aktiviert, und es werden Begriffe gesucht, die für Lernen stehen können. Die Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden Materialien wiederum ist eine, in der sich Ästhetik und logischrationales Denken offensichtlich begegnen: Die Bilder in den Zeitschriften sprechen die Produzent_innen auf einer ästhetischen Ebene an, wenn sie sie als angenehm oder unangenehm empfinden, wenn die Bilder Gefühle wachrufen oder andere Bilder provozieren. Auf der sprachlich-rationalen Ebene sind sie dann präsent, wenn es darum geht, in Bildern etwas wiederzuerkennen, die Bilder in Gruppen von „passt/passt nicht zum Thema“ einzuteilen, Logiken der Bildverknüpfung zu entwerfen und diese gegenüber der Gruppe zu vertreten. Und natürlich ist die Auswahl von Textausschnitten Produkt einer zunächst sprachlichbegrifflichen Begegnung mit dem Material. Auf der Seite der Rezipient_innen geschieht ähnliches: Einerseits werden die Collagen als ästhetische Produkte in ihrer Materialität und Form wahrgenommen und ermöglichen auf dieser Ebene sinnlich-sinnhafte Erkenntnisprozesse; andererseits ist dieser ästhetische Zugang durchsetzt mit dem Wissen darum, dass die Collagen entstanden sind, um etwas darzustellen, dass es also nicht nur darum geht, die Bedeutung des Bildes aus dem Bild heraus zu entwickeln, sondern dass die Collage auf einen gemeinten Sinn verweist, den es zu entziffern gilt, will man das Material in einer angemessenen Weise interpretieren und verstehen. Zugleich wird sichtbar, dass dieser gemeinte Sinn auf eine bestimmte Weise dargestellt ist, die gelesen werden kann als subjektiver, vorsprachlicher Aus-

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druck einer spezifischen Perspektive auf eine Fragestellung, die eben auch ästhetische Erfahrungen, Gefühle und Emotionen anspricht. Die Collagen stellen also eine Mischung dar aus sinnlich-ästhetischen und begrifflich-sprachlichen Aspekten. Die Betrachtung der Collagen als Medien ermöglicht es, ein erweitertes Verständnis der Verschränkung von intendiertem Sinn, Darstellungsweise und im Bild entstehender Bedeutung zu entwickeln. Im Folgenden werden verschiedene Perspektiven auf Medien dargestellt.

5.1 M EDIEN

ALS ARTIKULIERTE

S ELBSTVERSTÄNDNISSE

Medien werden sowohl als Mittel der Verständigung und Kommunikation als auch als Mittel der Erkenntnis verstanden (vgl. Vogel 2001; Krämer 2008a und 2008b). Das heißt sie sind zugleich Mittler, die es möglich machen, sich über Nicht-Wahrnehmbares zu verständigen, die also Nicht-Existentes material wahrnehmbar machen – sei es mit Hilfe sprachlichen, visuellen oder auditiven Ausdrucks –, und sie sind Gegenstände, die eine Reflexion über dieses NichtWahrnehmbare, Geistige zuallererst ermöglichen. Medien, so Matthias Vogel, können in vielerlei Formen auftreten. Verbale Sprache sei eine, wenn auch möglicherweise eine ausgezeichnete Form des Mediengebrauchs. Bilder, Musik, Tanz sind andere Formen von Medien, die mit ihren spezifischen Mitteln etwas wahrnehmbar machen. Letztendlich seien nicht-sprachliche Medien „Mittel des nichtsprachlichen Denkens“ (Vogel 2001, S. 396), indem sie individuelle Erfahrungen vermittelten, die nicht der Beschreibung zugänglich seien. Vogel betont, dass die Vermittlung eines Erfahrungsgegenstands das sei, was Medien leisten: „Die Funktion medialer Kommunikation besteht darin, dass der Produzent einer medialen Konstellation dem Adressaten einen Gegenstand eigener Erfahrung zugänglich macht, der so zum Gegenstand der Erfahrung des Rezipienten wird.“ (Ebd., S. 291) Es gehe in der Nutzung und Gestaltung von Medien also nicht vorrangig darum, propositionales theoretisches Wissen zu vermitteln, sondern die eigenen Erfahrung anderen im Interesse einer Kommunikation über diese Erfahrung zugänglich zu machen. Der Ausdruck von Erfahrungen im Medium des Visuellen ermögliche es, sie zuallererst aus dem Strom der Erfahrungen zu isolieren, sie gleichsam still zu stellen, sie zu kommunizieren und (gemeinsam) zu reflektieren und ein Verhältnis zu ihnen und damit zu sich selbst zu entwickeln. „[Sowohl als] Mittel der Artikulation als auch als Mittel der Erschließung von Artikulation“ (ebd.) stellten Medien Möglichkeiten dar, über die Welt und das eigene Selbstverständnis zu kommunizieren und zu reflektieren und damit etwas zu tun, was Menschen erst zu dem mache, was sie seien: Menschen als Wesen,

C OLLAGEN

ALS

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die sich selbst interpretierten, bräuchten in Medien artikulierte Selbstverständnisse, anhand derer diese Selbstverständnisse immer wieder korrigiert und lernend überarbeitet werden könnten (vgl. ebd., S. 10).

5.2 D AS M EDIUM

ALS

B OTE

UND

S PUR

Sybille Krämer entwickelt ihre Betrachtung von Medien in einem ersten Schritt anhand des „postalischen Prinzips“, in dem das Medium als Bote zwischen einem Sender und einem Empfänger auftritt (Krämer 2008b). Das Medium selbst habe in diesem Vorgang ausschließlich die Rolle des Überbringers und träte selbst hinter die zu überbringende Botschaft zurück. Seine Materialität, seine Art der Darstellung oder des Auftritts dürften keine Rolle spielen, sonst verlöre das Medium seinen Charakter als solches, so Krämer. Diese Sichtweise auf das, was Medien sein können, ergänzt sie um das Bild der Spur, die die Kehrseite des Mediums als Boten darstelle: Medien seien insofern Spuren, als sie von der Anwesenheit von etwas kündeten, das nicht (mehr) anwesend sei. Sie machten also etwas wahrnehmbar, das ohne sie nicht wahrnehmbar wäre. Allerdings: „Spuren haben keinen Auftraggeber.“ (Ebd., S. 280) Spuren seien Effekte von etwas, die erst von der spurenlesenden Person in Spuren verwandelt würden und dann Rückschlüsse auf das „Etwas“ zuließen (vgl. auch Kogge 2007). Das Phänomen der Spur bestünde darin, dass sie verursacht sei, ohne beabsichtigt zu sein. Spuren seien also zunächst keine Zeichen, die auf etwas hinweisen sollten, sie seien aber nichtsdestotrotz wahrnehmbar und in dieser Wahrnehmbarkeit interpretierbar. Spurenleser_innen machten die Spur erst zu einem Anzeichen von etwas, indem sie sie unter einer bestimmten Fragestellung und mit einem bestimmten Interesse in einem spezifischen Kontext befragten.1 Diese Spur, die nur aufgrund der Wahrnehmung einer beobachtenden Person zu einer solchen wird, im Interesse eines hermeneutischen Verstehens zu beschreiben und auszulegen, das heißt in einen Horizont möglicher und möglichst plausibler Bedeutungen zu stellen, wird zur Arbeit der Spurensuche. In dem Maße, in dem diese Spurensuche über eine „archaische[...] Orientierungstechnik“ (Krämer 2008b, S.283) hinausgeht und zu einer wissenschaftlichen „Methodologie“ des Erkennens auf der Grundlage von „Indizien, Anzeichen und Sympto-

1

Die Entdeckung von Neuem anhand von Spuren ist auch die Grundlage der Abduktion (vgl. Kap.1.5 und Reichertz 1993, Schröer 2011).

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men“ (ebd.) wird, ermöglicht sie die Entdeckung und Entstehung von Neuem.2 Das Bild der Spur, so Krämer, ergänze das Bild des Mediums als Boten, der die Aufgabe habe, Kommunikation sicher zu stellen, um die Dimension der Kognition. Mit der Spur als Kehrseite des Boten kämen im medialen Geschehen zum Vorgang des Informationsaustauschs Prozesse der Erkenntnis hinzu, in denen nicht nur Bekanntes übertragen, sondern Neues entstehen bzw. entdeckt werden könne (vgl. ebd.).

5.3 M EDIEN

ALS

G RUNDLAGE

VON

K ULTUR

Mit Bezug auf Regis Debray weist Sybille Krämer darauf hin, dass die grundsätzliche kulturelle Aktivität nicht etwa darin bestehe, das im Materiellen verborgene Immaterielle, also Geistige, freizulegen, sondern vielmehr sei kulturelle Aktivität als eine Übertragung von Ideen, von Vorstellungen, generell von Unkörperlichem in die Welt der Materie zu verstehen (vgl. Krämer 2008a). Erst dort in der Welt des Materiellen bekomme das Geistige eine Form, werde greifund begreifbar. In Medien jedweder Art (hier geht es nicht nur um Gegenstände, auch Musik und Sprache fallen unter den Begriff der Medien) erhielten Gedanken einen Körper, würden verkörpert und hinterließen Spuren. Erst wenn das Geistige eine Form angenommen habe, werde es zu einem Teil der geteilten Welt und könne auf diese Weise als Medium funktionieren. Für Krämer sind „Verkörperung und Spurbildung […] die einzige mögliche Existenzform des Geistes.“ (Ebd., S. 81) Dabei ginge das Geistige, Immaterielle nicht etwa seiner Verkörperung voraus, sondern werde im Vorgang der Verkörperung erst zu dem, was es dann verkörpere. Medien, so Krämer, hätten aus dieser Warte neben ihren Eigenschaften der Spur, als nicht-intendierter Effekt von Etwas, und des Boten, der hinter der Botschaft zurücktritt, noch einen weiteres Charakteristikum: Sie hätten die Aufgabe zu übertragen und zwar dergestalt, dass sie etwas, was zunächst unzugänglich sei, zugänglich und wahrnehmbar machten. Dafür seien sie als Mittler in einem Zwischenraum „zwischen heterogenen Welten“ (ebd., S. 82) positioniert, zwischen denen sie „Verbindung, Austausch und Interaktion“ (ebd.) ermöglichten. Medien werden in Krämers Perspektive zu Ausdrucksmöglichkei-

2

Michael Polanyi, verweist auf ein ähnliches Phänomen, wenn er im Zusammenhang mit der Herleitung des Begriffs des impliziten Wissens eine zentrale Erfahrung der Wissenschaft beschreibt: „Denn ein Problem sehen heißt: etwas Verborgenes sehen. Es bedeutet, die Ahnung eines Zusammenhangs bislang unbegriffener Einzelheiten zu haben.“ (Ders. 1966, S. 28)

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ALS

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ten des Denkens und damit zu Möglichkeiten, innere Vorgänge, seien es kognitive oder emotional-sinnliche, einem Außen zugänglich zu machen.

5.4 M EDIEN

ALS PHYSIKLOSE

„G ELTUNG “

Aus einem etwas anderen Blickwinkel argumentiert Lambert Wiesing, der Medien als „das einzige Physikentmachtungsmittel des Menschen“ (Wiesing 2008, S. 248) bezeichnet, das „das Denken und Wahrnehmen von physikalischen Unmöglichkeiten“ (ebd.) möglich mache. Er kommt zu diesem Schluss, indem er die Besonderheit von Medien daran festmacht, dass sie zugleich materiale Werkzeuge seien, die während ihrer Benutzung unsichtbar bzw. unthematisch blieben, und dass sie Werkzeuge seien, die etwas herzustellen vermochten, das in seiner Form nicht materiell sei: Sie brächten „Geltung“ hervor, das heißt „sie machen ausschließlich Dinge sichtbar, die ohne Medien überhaupt nicht sichtbar sein könnten, weil sie physiklos sind.“ (Ebd., S. 246) „Geltung“, also „intersubjektive Selbigkeit“ (ebd., S. 247), habe zum Beispiel ein Roman, der in seiner Buchform der Physik unterliege, also aus einem nachvollziehbaren Herstellungsprozess (Genesis) hervorgegangen und als Buch der Zeit und dem Verfall ausgesetzt sei, zugleich aber in seinen Aussagen Zeiten überdauern und von unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Orten und Zeiten in ganz unterschiedlicher Weise gedeutet werden könne, die sich alle auf den einen Roman bezögen (vgl. ebd., S. 243). Anders als Krämer (vgl. Krämer 2008a, S. 85) betont Wiesing jedoch, dass es durchaus Medien gäbe, bei denen die Materialität des Mediums von zentraler Bedeutung sei. Bilder zum Beispiel seien als Medien angewiesen auf ihre Materialität; die Art der Darstellung und die besondere Simultaneität der Darstellung im Bild, mache das Bild zu einem Medium, das mehr sei als eine Abbildung von etwas (ebd., S. 246). Bei Wiesing und Krämer wird deutlich, dass Medien Möglichkeiten darstellen, geistige, also per se unsichtbare, Vorgänge sichtbar zu machen und sie auf eine Weise in die Welt zu bringen, in der sich auf sie bezogen werden kann und sie befragt und in Frage gestellt werden können. Zugleich betont Krämer mit dem Bild der Spur, dass Medien zwar etwas wahrnehmbar machten, damit aber die Bedeutung des Wahrgenommenen weiterhin der Interpretation bedarf. Medien machen zwar etwas wahrnehmbar, als was dieses Etwas gedeutet wird, ist damit nicht festgelegt (vgl. Krämer 2008b, S. 283).

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5.5 C OLLAGEN

ALS

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Aus einer medientheoretischen Perspektive sind die in den Lernwerkstätten entstandenen Collagen zum einen Hilfsmittel oder Werkzeuge, die es ermöglichen, Vorstellungen vom und Erfahrungen mit dem Lernen zum Ausdruck zu bringen und diesen Ausdruck und seine Verweise im Hinblick auf intendierte Bedeutungen befragbar zu machen. Die Collagen machen etwas wahrnehmbar und begreifbar, das ohne Medium nicht-existent (im Sinne materialer Präsenz) geblieben wäre. Dieser Prozess macht eine Forschung überhaupt erst möglich – und das gilt sowohl für die Teilnehmer_innen der Lernwerkstätten als auch für die wissenschaftlichen Forscher_innen. Die Kluft zwischen den Welten der Lernenden und denen der Forscher_innen einerseits und der inneren Welt der geistigen Vorstellungen und der äußeren Welt des Ausdrucks andererseits ist nur mit Hilfe von Medien zu überbrücken, die hier die Form von Collagen haben. Das Medium Sprache kommt in den Gesprächen über die Collagen, während und nach ihrer Entstehung, ebenfalls zum Einsatz. Beide Formen sind Materialisierungen von geistigen Vorgängen, allerdings hat nur die Collage die Qualität, Vorstellungen, Gedanken und Empfindungen einer eingehenden Betrachtung zugänglich zu machen, indem sie sie still stellt, damit einer weiteren Veränderung entzieht und zugleich sichtbar macht und erst so eine weitere Beschäftigung mit dem Material ermöglicht. Collagen erfüllen somit die Funktion der Kommunikation, die Krämer für Medien konstatiert. Collagen sind nicht nur die sichtbare Form geistiger Vorstellungen, sondern sie sind auch Orte, an denen Vorstellungen sich zuallererst bilden. Die Herstellung von Collagen ist ein Anlass, der zur Formgebung von etwas auffordert, das in seiner gedanklich-begrifflichen und sinnlich-emotionalen Seinsweise eher fluide ist.3 Im Verlauf der Erstellung einer Collage wird deutlich, dass es nicht das fertige Bild vom Lernen gibt. Das liegt nicht nur daran, dass sich in der Arbeit in der Gruppe aus Einzelvorstellungen eine Darstellung entwickeln muss, die die Vorstellungen der Gruppe widerspiegelt, sondern auch daran, dass die Vorstellung von Lernen erst realisiert, der Situation entsprechend ausgeformt und darstellbar gemacht werden muss. Auf diese Weise geschieht das, worauf Krämer mit Bezug auf Debray hinweist: Die geistige Vorstellung formt sich im

3

Dieser Vorgang des „Feststellens“ – im doppelten Sinn des Wortes – ist vergleichbar mit dem Geschehen, das Wolfgang Raible bei der Entstehung literarischer Texte beobachtet: Erst anhand der „festgestellten“ Gedanken des (ersten) Entwurfs, lassen sich Gedanken weiterentwickeln, die sonst flüchtig bleiben (vgl. Raible 2007).

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Prozess ihres Ausdrucks bzw. ihrer Materialisierung und ist abhängig von der aktuellen Situation, in der diese stattfindet. Die Aspekte der Spurensuche bzw. die Spurhaftigkeit der Collagen machen deutlich, dass diese als visuelle Medien auf etwas verweisen, ohne es direkt zu benennen. Das, worauf verwiesen wird, kann explizit gemeint sein, es kann aber auch ein Verweis auf unausgesprochene Aspekte sein, die aus der Sicht der Teilnehmer_innen für die Aufgabenstellung unwesentlich scheinen (vgl. auch Mosch 2013), oder aber unbewusst bleibende Grundhaltungen/Vorstellungen, die sich im ‚Stil‘ der Darstellung niederschlagen. Diese ‚Spur‘ gilt es zu ‚lesen‘, indem sie in der Annahme, dass jeder Ausdruck mehr vermitteln kann als das dargestellte Objekt, überhaupt erst als eine solche wahrgenommen wird. Der Stil der Darstellung, die Stimmung und Atmosphäre der Collagen, ihr Detailreichtum oder ihre Reduktion, ihre „Ordnung“ oder „Unordnung“ gibt Hinweise auf die Perspektive der Produzent_innen, auf ihre Vorstellungen, Erfahrungen und Emotionen in Bezug auf Lernen. Hinweise dieser Art machen die Collagen zu mehr als einem Mittel der Kommunikation, mit Hilfe dessen Lernende ihre Sicht auf Lernen vermitteln können; sie werden zu Spuren, die nicht gelegt werden, sondern entstehen bei dem Versuch, „die Bedeutung von Lernen“ zum Ausdruck zu bringen. Sie verweisen nicht auf intendierte Bedeutungen, sie sind vielmehr Hinweise auf das, was mitschwingt, wenn eine Gruppe Erwachsener über Lernen nachdenkt, auf das Unausgesprochene, das Selbstverständliche. Das Lesen dieser Spuren ergänzt die Collage als Mittel der Kommunikation um Aspekte der Erkenntnis und macht sie zu einem Mittel der Kognition.

6. Empirische Zugänge I: Die Entstehung der Collagen und die Grundlagen ihrer Interpretation

Neben der Reflexion des Materials „Collage“ und seiner Qualitäten als Bild und Medium sind die Entstehung der Collagen und ihre Interpretation zentrale Aspekte des Projekts „Lernbilder“. Die Erhebungssituation und ihre Besonderheiten bilden als Hintergrund der Collagenproduktion den Kontext, auf den jede Interpretation bezogen werden muss, die einen subjektorientierten Standpunkt einnimmt (vgl. Sowa/Uhlig 2006). Im Folgenden werden die Verbindungslinien der Lernwerkstatt zu Verfahren der Gruppendiskussion aufgezeigt, wobei besonderes Augenmerk auf die Unterschiede der Verfahren gelegt wird (Kap. 6.1). Außerdem wird die Situation der Collagenentstehung detailliert betrachtet, um die Charakteristika dieses Prozesses deutlich zu machen (Kap. 6.2). Der interpretative Zugang zu den in den Lernwerkstätten entstandenen Collagen wurde im Laufe des Projekts „Lernbilder“ entwickelt. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Methoden der Bildinterpretation und im Versuch ihrer Anwendung auf das vorliegende Material stellte sich heraus, dass sich die Besonderheiten der Collage mit existierenden Methoden nicht angemessen abbilden lassen. Aus diesem Grund wurde ein eigener Leitfaden für die Interpretation der Collagen entwickelt, dessen Grundlegungen ebenfalls im folgenden Abschnitt erörtert werden (Kap. 6.3).

6.1 V ON DER „G RUPPENDISKUSSION “ „L ERNWERKSTATT “

ZUR

Die für die hier vorliegende Forschungsarbeit gewählte Erhebungsmethode bezeichne ich als „Lernwerkstatt“. Sie entstand auf der Basis der „Forschenden

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Lernwerkstatt“, die von Petra Grell und Peter Faulstich entwickelt wurde (Faulstich/Grell 2005, Grell 2006). Ziel der Entwicklung der Methode „Forschende Lernwerkstatt“ war es, in einem Forschungsprojekt zu Lernwiderständen im Kontext selbstgesteuerten Lernens, eine partizipative, offene Forschungssituation zu gestalten, die Mehrperspektivität und Methodenpluralität erlaubt und die Unverfügbarkeit der Lernenden ausdrücklich berücksichtigt (vgl. Grell 2006, S. 67ff.). Die „Forschende Lernwerkstatt“ ist wiederum inspiriert vom Prinzip der „Gruppenwerkstatt“, in dem in einer habitushermeneutisch ausgerichteten Forschung systematisch Gruppendiskussionen mit der Erstellung von Collagen in Kleingruppen kombiniert werden (vgl. Bremer 2004). Dieses in der Lebensstilund Milieuforschung genutzte Verfahren nutzt das von Friedrich Pollock entwickelte Verfahren der Gruppendiskussion, das im Verhältnis zum Einzelinterview „die Ebene der dynamischen Interaktion [der Gruppe] mit berücksichtigt“ (ebd., S. 177) und ergänzt es um „Elemente, die Zugang zu verborgenen und ‚tieferen Schichten‘ verschaffen“ (ebd.) können und so „eine bessere Exploration des Habitus“ (ebd.) ermöglichen (vgl. auch Flaig et al. 1997, Bremer/Teiwes-Kügler 2013, Teiwes-Kügler/Vehse 2013). Die visuell-ästhetischen Verfahren, die Eingang in die Gruppenwerkstatt fanden, dienen der Steigerung der „Leistungsfähigkeit des Gruppendiskussionsverfahrens“ (Bremer 2004, S. 176) und der „Erhöhung der Validität“ (ebd., S. 177). Für Berthold Flaig et al. besteht der besondere Wert der Arbeit mit Collagen in der Gruppe darin, dass mit ihr die „neben der rationalen und begründbaren menschlichen Wahrnehmung existieren[de] […] Vielzahl von Bildern und Assoziationen“ (Flaig et al. 1997, S. 188) sichtbar gemacht werden könne. Grell weist besonders darauf hin, dass bildlich-symbolische Darstellungen in der Lage seien, verschiedene Sinn- und thematische Ebenen zu verbinden (vgl. Grell 2006, S. 103), und die Erhebung in Gruppen einem Verständnis des Selbst und der Entstehung von Einstellungen und Meinungen Rechnung trage, das der Gesellschaftlichkeit des Individuums eine zentrale Rolle zuspreche (vgl. ebd., S. 94). Die für die Entwicklung der Lernwerkstatt fruchtbaren Punkte der hier angeführten Verfahren bestehen zum einen in der Anerkennung der Gruppe als Größe in der Datenerhebung, die dahingehend genutzt wird, eine alltagsnahe Situation zu schaffen, in der Meinungen und Haltungen zum Ausdruck gebracht werden können, die im Prozess der Interaktion mit anderen erst Form annehmen. Anders als die interviewende Person im Interview kann die Moderation im Gruppenprozess in den Hintergrund treten (z.B. Bremer 2004, S. 104f.). Zum anderen sind die Verfahren der Gruppenwerkstatt und der Forschenden Lernwerkstatt deshalb

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fruchtbar für die Entwicklung der Lernwerkstatt, weil in ihnen explizit nach Möglichkeiten gesucht wurde, Aspekte menschlichen Erlebens zu erfassen, die in der verbalen Sprache schwerer zum Ausdruck zu bringen sind, weil sie emotional aufgeladen, sozial unerwünscht, wenig reflektiert und/oder weniger bewusst sind (vgl. ebd., S.167f.). Die Prinzipien der „Forschenden Lernwerkstatt“ und der Gruppenwerkstatt sehen vor, dass die Teilnehmenden in Interaktion treten, dass sie sich im gemeinsamen Tun miteinander und mit sich selbst auseinandersetzen und in dieser Auseinandersetzung etwas Gemeinsames schaffen, in dem mehr zum Vorschein kommt als bereits vorliegende Meinungen. Die „Lernwerkstatt“ unterscheidet sich von den hier skizzierten Herangehensweisen allerdings in einem zentralen Punkt: Alle bisher erläuterten Verfahren nutzen die entstehenden Collagen als eine Methode unter anderen. Dabei tritt der Eigenwert des Bildes, seine in seiner Bildhaftigkeit liegende Qualität und sein spezifisches Aussagepotenzial in den Hintergrund. Grells Zugang zu den Bildern geschieht explizit über den Text, in dem Collagenproduzent_innen ihr Werk erläutern. Die Collage stellt in diesem Kontext eine Ergänzung zu Texten bzw. verbal-sprachlichen Ausdrucksformen dar (vgl. Grell 2006, S. 218ff.). Ähnlich verfährt die Habitushermeneutik, wenn sie die in den Collagen verwendeten Bilder und Symbole als Ergänzung zur Gruppendiskussion und den Prozess der Collagenerstellung als neuen Impuls für die sprachliche Auseinandersetzung mit einem Thema nutzt (vgl. Bremer 2004, S. 168ff.) Deutlich wird bei Bremer auch die Sorge, Details der Collagen „miss[zu]verstehen“ (ebd., S. 169); er zieht daher die Aussagen der Teilnehmer_innen als Garant dafür heran, die Collagen ‚richtig‘ verstanden zu haben. Dieses Verständnis unterstellt zweierlei: Zum einen, dass es für die Interpretation der Gesamtcollage zentral ist, die Details ‚richtig‘ verstanden zu haben, was auch heißt, dass es nur ein ‚richtiges‘ Verständnis gibt. Es unterstellt zum anderen, dass die Produzent_innen in der Lage sind, sich vollkommene Rechenschaft darüber abzulegen, welche Bedeutungen sie den einzelnen Details der Collage bei der Auswahl zugesprochen, und dass diese Bedeutungen im Kontext der Gesamtcollage immer noch Gültigkeit haben. Der Zugang, der im Projekt „Lernbilder“ gewählt wird, stellt die Collage in den Mittelpunkt der Betrachtungen und bewertet sie als eine Form menschlichen Ausdrucks, in der Erlebnisqualitäten, Haltungen und Meinungen auf eine spezifische Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden können. Bei der Betrachtung der Collagen kann es m. E. nicht darum gehen, die Qualität visuellästhetischer Materialien mit der verbal-sprachlicher zu vergleichen. Es geht vielmehr darum, die Besonderheit visuell-ästhetischer Ausdrucksformen als solche zu berücksichtigen und von ihnen ausgehend ein Verständnis für das Ver-

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hältnis Lernender zum Lernen zu entwickeln. Aus diesem Grund werden die Collagen als Bilder behandelt, die in einem bestimmten Kontext entstanden sind, den es zu reflektieren gilt, wenn man dem Material gerecht werden will, aber eben nicht als „visualisierte[r] Text“ (Bremer 2004, S. 169), dessen Sinn sich ohne Umstände verbalisieren lässt. 6.1.1 Die Lernwerkstatt im Überblick Um die Idee der Lernwerkstatt nachvollziehbar zu machen, sei der Grundaufbau kurz dargestellt1: Es lassen sich drei Phasen einer Lernwerkstatt unterscheiden. In der ersten Phase geht es um ein freies und auch wildes Assoziieren, wobei Bildpostkarten mit Abbildungen verschiedenster Genres, die offen ausliegen, als Assoziationsimpuls dienen. Die Teilnehmer_innen sind aufgefordert, sich ein Bild auszusuchen, das für sie in irgendeiner Weise mit Lernen zu tun hat. Anschließend wird reihum dargestellt, welches Bild ausgesucht wurde und aus welchen Gründen. Sehr schnell und meist überraschend für alle wird die Bandbreite dessen deutlich, was die Einzelnen mit dem Begriff Lernen verbinden. In der zweiten Phase arbeiten die Teilnehmenden in Kleingruppen an der Frage „Was bedeutet Lernen für mich?“. Der Austausch und die Arbeit an dieser Frage geschehen jedoch nicht unter dem üblichen Primat der Sprache als Hilfsund Ausdrucksmittel. Im Mittelpunkt steht die Aufgabe, gemeinsam eine Collage zu gestalten, die vermittelt, was die Produzent_innen unter Lernen verstehen. Zeitungen und Zeitschriften, buntes Papier, Bindfäden und bunte Stifte stehen zur Verfügung und können auf unterschiedlichste Weise zum Einsatz kommen. Im Anschluss an diese Arbeitsphase kommt die Gruppe zusammen, um sich über die entstandenen Collagen auszutauschen. Zunächst hat die Gruppe derer das Wort, die nicht an der Herstellung der jeweiligen Collage beteiligt waren. Sie beschreiben, was sie sehen, formulieren erste Fragen und Hypothesen. Erst im zweiten Durchgang sind die Künstler_innen selbst an der Reihe zu erläutern, was die Collagen zeigen und auf welche Weise, mit Hilfe welcher Bilder und Arrangements das geschieht. Insgesamt dauert eine Lernwerkstatt etwa vier Stunden. Den Abschluss bildet ein kurzer Fragebogen, der Alter, Schulabschluss, Familienstand und Vorhandensein von Kindern, Ausbildungsgang (bei den jungen Frauen im Freiwilligen Sozialen Jahr wurde nach Berufserfahrung und Berufswunsch gefragt) und die Bereitschaft, evtl. an einem Interview teilzunehmen, abfragt.

1

Dieser Aufbau ist letztendlich ein Ausschnitt aus einer „Forschenden Lernwerkstatt“ (vgl. Grell 2006).

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Die gesamte Lernwerkstatt wird von zwei Forscherinnen, der Autorin und einer weiteren wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Fakultät für Erziehungswissenschaft, begleitet, die die verschiedenen Phasen gestalten, in der Collagenphase als nicht-teilnehmende Beobachterinnen anwesend und für den Gesamtablauf verantwortlich sind. In einem gewissen zeitlichen Abstand nach der Collagenarbeit werden mit einigen der Teilnehmenden Interviews geführt, die die individuellen Beweggründe und Bilder in den Vordergrund stellen und Raum für vornehmlich wortsprachliche Reflexion bieten.2 6.1.2 Chancen der Lernwerkstatt In einer solchen Lernwerkstatt, die neben der Erstellung einer Collage bereits in der Hinführung zum Thema Lernen visuelles Material in Form von Bildkarten nutzt, haben erwachsene Lernende die Möglichkeit, Haltungen, Erwartungen und Meinungen in Bezug auf Lernen zu entwickeln und explizit zu machen. Dabei spielt die (verbale) Auseinandersetzung in der (Klein-)Gruppe und die zeitliche Ausdehnung der Lernwerkstatt eine wichtige Rolle für die Ausformung gemeinsamer und auch sich widersprechender individueller Vorstellungen auf der Basis des Wissens und der Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen Einzelner (vgl. auch Grell 2006, 93f.). Lernwerkstätten finden in Gruppen statt und spiegeln damit wieder, dass ich davon ausgehe, dass Lernen mitnichten etwas ist, das Menschen für sich „im stillen Kämmerlein“ tun, sondern dass alles, was mit Lernen zu tun hat, immer in soziale und gesellschaftliche Kontexte eingebunden ist. Selbst abendliches Vokabeln-Lernen ist Ausdruck einer ganz bestimmten, gesellschaftlich geteilten Vorstellung davon, wie man (am besten) Sprachen lernt. Und die guten Gründe, die jemand für oder gegen bestimmte Lernhandlungen oder Lernsituationen anführt, fallen nicht vom Himmel, sondern entstehen (mindestens auch) vor dem Hintergrund ihrer_seiner sozialen Situation. Lernwerkstätten sind eine Möglichkeit, diese soziale Einbettung des Lernens in der Forschungssituation aufrecht zu erhalten, und sie eröffnen zugleich einen Raum, in dem ein wichtiger Aspekt des Prozesses des Deutens und Bedeutung-Machens erhalten bleibt: ohne soziale Kontexte ist die Suche nach Sinn und Bedeutung im wahrsten Sinne des Wortes

2

Im Laufe des Forschungsprozesses hat sich die Fragestellung dahingehend verändert, dass die Untersuchung der Möglichkeit, anhand von Collagen Lernvorstellungen zu beschreiben und zu verstehen, in den Vordergrund rückte. Die Auswertung des Interviewmaterials unterblieb aus diesem Grund.

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„sinnlos“, denn nur im Austausch, in der Rückbindung an andere, in Kommunikation und Interaktion ist die Frage nach „Sinn“ überhaupt angemessen. Sinn und Bedeutung sind aufs Engste verknüpft mit dem sozialen Wesen des Menschen.

6.2 „M ACHT

EINE C OLLAGE !“ – ANALYSE EINER AUSSERGEWÖHNLICHEN S ITUATION

Die Gruppensituation der Lernwerkstatt ist wie oben dargestellt eine ungewöhnliche und zugleich alltägliche, wenn es um die Entstehung von Bedeutung und Sinn geht. Als Teil eines Forschungsprozesses ist sie einen besonders aufmerksamen Blick wert, denn hier lässt sich das Wie der Bedeutungsfindung beobachten.3 Im Folgenden wird die Lernwerkstatt unter sechs verschiedenen Gesichtspunkten reflektiert, so dass ein Bild dessen entsteht, was im Rahmen dieser Situation geschieht (i. S. v. „was zu beobachten ist“) und welche Faktoren im Prozess eine Rolle spielen. 6.2.1 Der Kontext Die Collagenherstellung ist eingebettet in den engeren Zusammenhang der Lernwerkstatt, der wiederum eingebettet ist in eine Gesamtsituationen, die als Lernsituation gekennzeichnet ist bzw. von uns als Forscherinnen als solche klassifiziert wurde. Auswegählt wurden zwei Lerngruppen, die sich in Alter und Lehr-Lernform unterschieden. Zum einen eine Gruppe junger Frauen zwischen im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) und eine Gruppe von Umschüler_innen (s. auch Kap. 7.2). Im Fall der Umschüler_innen ist diese Lernsituation eine klassische Schulsituation: Die Umschüler_innen sind in Klassen organisiert, es gibt einen Stundenplan, es werden Noten vergeben, es herrscht Anwesenheitspflicht und es wird ein (möglichst guter, das heißt einen Arbeitsplatz wahrscheinlich machender) Abschluss angestrebt. Diese Lernsituation bestimmt das Lernen für etwa ein halbes Jahr, bevor die Umschüler_innen in einen Betrieb gehen. In diese schulförmige Lernsituation ist die Lernwerkstatt eingebettet, indem sie an einem Vormittag gegen Ende des Schuljahres anstelle des Unterrichts stattfand.

3

Die Beschreibung der Collagenerstellung basiert auf Aufzeichnungen der Forscherinnen als nicht-teilnehmende Beobachterinnen in der Collagenphase.

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Im Fall der jungen Frauen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr machen, ist der als Lernsituation angenommene Kontext ein anderer: die jungen Frauen im Freiwilligen Sozialen Jahr sind für ein Jahr in einer sozialen Einrichtung tätig und treffen sich im Laufe dieses Jahres fünf Mal für je eine Woche, um Erfahrungen auszutauschen und politische, soziale, religiöse und fachspezifische Themen zu bearbeiten. Diese Veranstaltungen dienen vor allem der Persönlichkeitsentwicklung und die Teilnehmerinnen haben die Möglichkeit, ihr Lernen bzw. die Lernzeiten mitzugestalten. Zudem finden diese Veranstaltungen in einem Seminarhaus statt, in dem die gesamte Gruppe für diese Zeit unterkommt und auch die Freizeit gemeinsam gestaltet. Die Lernwerkstatt im Freiwilligen Sozialen Jahr fand an einem Vormittag in der Mitte der zweiten gemeinsamen Woche statt. Eine Besonderheit der Lernwerkstatt mit den jungen Frauen im Freiwilligen Sozialen Jahr ist, dass eine erste Kennenlernrunde schon am Abend vor der Lernwerkstatt stattfand, da auch die Forscherinnen schon vor Ort waren. Bei den Umschüler_innen besteht eine Besonderheit darin, dass die Gruppe derer, die sich in einer angefragten Klasse im Vorfeld als an einer Teilnahme interessiert gemeldet hatten, nur sehr unvollständig erschien, genauer gesagt nur noch aus drei Personen bestand. Ein Lehrer der Einrichtung befragte spontan Schüler_innen seiner Klasse, ob sie Interesse hätten, an der Lernwerkstatt teilzunehmen. Aus dieser Gruppe kamen weitere drei Personen zur Lernwerkstatt dazu. So ergibt sich eine Teilnehmer_innengruppe, die wiederum aus zwei Gruppen besteht: diejenigen, die sich im Vorfeld gemeldet hatten, und diejenigen, die spontan dazu gestoßen waren. Die Mitglieder beider Gruppen kennen sich untereinander, aber nicht über Gruppengrenzen hinweg. 6.2.2 Sich auf die Arbeit einstellen Im Rahmen der Lernwerkstatt liegt ein besonderes Augenmerk darauf, den Zugang zum Umgang mit Fragen des Lernens so zu gestalten, dass die Teilnehmer_innen angeregt werden, sich mit dem Thema zu beschäftigen und zugleich erleben, dass im Kontext der Lernwerkstatt Inhalte und Ausdrucksformen möglich sind, die nicht dem Diktat von „richtig oder falsch“ gehorchen. Die Arbeit mit Bildkarten, die der Collagenarbeit voraus geht, macht diese Herangehensweise greifbar, indem die zur Verfügung gestellten Bilder eben nicht offensichtlich mit dem Thema Lernen zu tun haben und es die Aufgabe und die Freiheit der Teilnehmer_innen ist, eine solche Beziehung überhaupt erst herzustellen. Es wird erlebbar, dass Bedeutung einem Bild oder einem Gegenstand nicht inne-

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wohnt, sondern dass es einer bedeutungsgebenden Instanz bedarf und dass diese Instanz jedes Subjekt sein kann, das mit seiner sozialen Umwelt kommuniziert. Dieser Vorlauf zur Arbeit an Collagen öffnet das Feld der Ausdrucksmöglichkeiten, indem deutlich wird, dass Dinge/Bilder zum Ausdruck für etwas werden können, ohne dass sie offensichtlich Vorstellungen von „Ähnlichkeit“ oder einem direkten Zusammenhang erfüllen. Außerdem erleben die Teilnehmer_innen, dass der Assoziationsraum zu Lernen vielfältig ist, dass sie selbst und andere Teilnehmer_innen eine Vielzahl von Gedanken, Bildern und Empfindungen mit dem Begriff Lernen verbinden und dass es Zeit braucht und brauchen darf, sich diesen zu nähern, mit ihnen zu experimentieren und sie schließlich zum Ausdruck zu bringen. Die Bildkartenrunde hat das Ziel, sich im Vorfeld der Collagenarbeit diesem ungewohnten Umgang mit Bildern und Sprache spielerisch anzunähern bzw. sich das Spielen mit Bildern und Sprache, das nicht auf ein richtiges Ergebnis abzielt, überhaupt zu ‚erlauben‘ und zu üben. Diese ‚Aufwärmphase‘ der Lernwerkstatt legt es also darauf an, die Teilnehmer_innen an einen spielerischen, experimentierfreudigen Umgang miteinander und mit der Aufgabenstellung heranzuführen. 6.2.3 Die Erstellung der Collagen An die „Aufwärmphase“ mit Bildkarten schließt sich die Collagenphase an. Nach einer eigenständigen Aufteilung der Gruppe in Kleingruppen von maximal 5 Personen bekommen die Kleingruppen jeweils einen Stapel Zeitschriften, Scheren, Klebstoff, dicke Stifte, buntes Papier, bunte Wollfäden und ein großes weißes Blatt Papier (A2 bis A1), das als Collagenbasis dienen soll. Zusammen mit dem Material bekommen sie die Aufgabenstellung mitgeteilt: Macht gemeinsam eine Collage, die zeigt, was Lernen für Euch bedeutet. Hinterher werden Eure Werke in der Gesamtgruppe vorgestellt und besprochen. Ihr könnt für die Collage alles nutzen, was ihr in den Zeitschriften findet, außerdem stehen Stifte, buntes Papier und bunte Fäden zur Verfügung. Für diese Phase haben die Gruppen ca. 45 Minuten Zeit, die sie nach eigenem Gutdünken einteilen und nutzen können. Die Forscherinnen nehmen keinen (aktiven) Einfluss darauf, wie die einzelnen Gruppen vorgehen. Was für eine Situation gestalten die Forscherinnen mit diesem Vorgehen? Die Teilnehmer_innen sind als Gruppe auf sich allein gestellt und müssen zunächst einen Weg finden, den sie für gangbar halten, um die Aufgabe zu erfüllen. Sie sind also als erstes mit einer Kommunikations- und Aushandlungsaufgabe konfrontiert. Zudem haben sie für die Aufgabe ein begrenztes Zeitkontingent zur Verfügung, das den kommunikativen Vorlauf und auch die Arbeit mit dem

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konkreten Material zeitlich (und damit auch inhaltlich) beschränkt. Es müssen Entscheidungen über das Vorgehen gefällt werden. Außerdem müssen die Einzelnen für sich einen Weg finden, wie sie mit der gestellten Frage umgehen, wie sie nach Bedeutungen suchen und diese zum Ausdruck bringen wollen. Und das gilt es mit der Gruppe zu verhandeln.4 6.2.4 Das Material „Zeitschrift“ Die Begegnung mit dem Material „Zeitschrift“ ist eine Herausforderung. Die Zeitschriften sind, das entspricht ihrem Auftrag als Zeitschriften, gefüllt mit Bildern, die „wirken“, das heißt sie sind so ausgewählt, dass sie Menschen ansprechen, indem sie einerseits bekannt wirken oder an Bekanntes anknüpfen und andererseits neu genug sind, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Es sind Bilder, die insofern Alltag für die Teilnehmer_innen der Lernwerkstatt sind, als sie einer Bilderwelt entstammen, die nicht auf Kunst, Technik, Literatur oder ähnliches spezialisiert ist und zugleich davon lebt, dass sie Alltagswelt einerseits abbildet und sie gleichzeitig idealisiert.5 In Bildern der Werbung, aber auch in Bildern zu Textinhalten werden Situationen inszeniert, die den Inhalt eines Artikels oder den zu bewerbenden Gegenstand idealisieren und ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Aufmerksamkeit zu binden ist eine Aufgabe der Bilder, Texte zu erläutern und sie in Bildern verständlich zu machen eine andere. Für beide Ziele werden Sachverhalte bzw. wird Wirklichkeit verkürzt oder (mehr oder weniger absichtsvoll) verfälscht.6 Diese Bilder sollen in der Arbeit an der Collage die Grundlage bilden für einen Prozess, in dem sich die Teilnehmer_innen individuell und als Gruppe an das herantasten, was Lernen für sie bedeutet und zwar auf eine Weise, die den visuellen Ausdruck in den Mittelpunkt stellt. Dabei besteht eine Aufgaben darin, von dem abzusehen, wofür die Bilder im Kontext der Zeitschrift stehen, und die Aufmerksamkeit auf das Bild und seinen visuellen „Wert“, seine Anmutungen für „je mich“ und auf die eigenen Empfindungen und Assoziationen zu lenken. Dabei gibt es, wie schon bei der Bildkartenrunde, kein „richtig“ oder „falsch“:

4

Aus einer gruppendynamischen Perspektive ließe sich die Phase der Collagenerstellung weitaus kleinteiliger betrachten. Das soll in dieser Arbeit aber nicht der Fokus sein.

5

Zu Werbeabbildungen (in Zeitschriften) und Goffmans Begriff der „HyperRealisierung“ vgl. Breckner 2010, S. 157ff.

6

Zu Bildern in Werbung und medialen Inszenierungen von Personen vgl. z.B. Klemm 2011.

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Assoziationen, Erinnerungen, Empfindungen sind nicht zu bewerten (auch wenn das unterschwellig vielleicht dennoch geschieht). Referenzrahmen beim Assoziieren ist die Frage nach der Bedeutung des Lernens für die Einzelnen, die sich in der Collage wiederfinden soll. Es gilt also aus dem Bilderangebot, diejenigen Darstellungen auszuwählen, die mehr oder weniger direkt mit dem Begriff Lernen in Verbindung gebracht werden können – und zwar nicht nur individuell, sondern auch in der Gruppe vermittelbar und im Hinblick auf eine Präsentation vor der Großgruppe. Die Auswahl wird so eingeschränkt: diejenigen Bilder, die nicht an einen imaginierten gemeinsamen LernBilderkanon anschlussfähig sind, werden wahrscheinlich seltener ausgewählt als solche, die „gängig“ sind oder aber mittels Sprache leicht anschlussfähig gemacht werden können. Auch hier spielt die begrenzte Zeit eine Rolle: Was erst aufwändig erklärt werden muss, wird eher aussortiert. 6.2.5 Fremdheit Wenn erwachsene Lerner_innen den Auftrag bekommen, die Bedeutung des Lernens für sich selbst zu erforschen, dann ist das kein Auftrag, den sie sich selbst geben. Man kann zwar annehmen, dass die Frage ein Thema sein könnte, das sie berührt und sie etwas angeht, da sie sich in einem als Lernsituation definierten Kontext befinden und als Lernende angesprochen werden. Dennoch ist es eine Frage aus einer Welt – der der Wissenschaft –, die nicht dem Alltagsumgang mit Lernen entspricht. Im Alltagsumgang wird Lernen von den Lernenden selbst nicht befragt: Lernen tut man oder nicht, man kann es oder nicht, es fällt schwer oder leicht etc., aber man denkt nicht darüber nach, was es bedeuten könnte, was das Wesen des Lernens ist. Diese Fragen sind Forschenden vorbehalten.7 Lernende, nach der Bedeutung von Lernen für sie befragt, werden zudem in eine Situation versetzt, die in herkömmlichen Lerninstitutionen insofern ungewöhnlich ist, als es bei der Frage nicht darum geht, fertiges Wissen abzufragen, das sie, eventuell auch in anderen Kontexten, „gelernt“, das heißt vermittelt bekommen haben. In der Lernwerkstatt, daher der Name, besteht das Ziel darin, in einem gemeinsamen und zugleich individuellen Prozess, dem Bedeutungsfeld von Lernen auf die Spur zu kommen. Diese sprachliche Wendung weist darauf hin: Lernen „ist“ nicht – noch weniger als viele andere Dinge –, es geschieht, es wird angestrebt, aber man kann es nicht im Geschehen beobachten, es nicht her-

7

Für eine Diskussion des alltäglichen Umgangs mit der Wirklichkeit vgl. Wittpoth 2014.

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stellen oder „dingfest“ machen. Mehr als Spuren wird man nicht finden – Lernen ist immer schon vorbei. Und dennoch: Lernende sprechen davon, dass sie für eine Klassenarbeit lernen, Gitarre spielen oder Fahrrad fahren lernen, lernen sich zu motivieren etc. Lernen ist also kein unbekanntes Feld, das ganz und gar geheimnisvoll ist. Zwischen bekannt („kenne ich aus eigener Erfahrung“) und unbekannt („darüber habe ich nie nachgedacht“), nah („wichtig“) und fern („nicht mein Problem“) ist Lernen für die_den Nicht-Wissenschaftler_in ein Alltagsbegriff mit allen Attributen der Alltäglichkeit, die eine Befragung des Begriffs unwahrscheinlich machen. Nach der Bedeutung eines solchen Alltagsbegriffs zu fragen heißt, ihn aus der Alltäglichkeit herauszuholen und ihn der Befremdung zu öffnen. Mit der Frage nach der Bedeutung von Lernen für sie werden die Lernenden zugleich in eine Position gebracht, die der von Expert_innen in einem Feld ähnelt. Was auch immer sie äußern, hat eine Berechtigung, denn die „Bedeutung für mich“ ist nichts, was von außen angezweifelt werden kann. „Befremdung“, etwas fremd machen, einen Begriff verfremden heißt, sich einen Schritt heraus zu begeben aus dem Alltagsverständnis, in dem alles seinen Platz und seine Ordnung, vor allem aber eine gewisse Notwendigkeit hat. Die Frage nach der Bedeutung von Lernen und die damit verbundene Aufgabe, für die gefundene(n) Bedeutung(en) einen visuellen Ausdruck zu finden, verfremdet den sonst so alltäglichen Begriff. Etwas Alltägliches wird zum Problem. Genauer gesagt hat man es hier mit zwei, wenn nicht sogar drei Problemen zu tun: 1. Was bedeutet Lernen (für mich)?, 2. Wie stelle ich bzw. wie stellen wir eine Vorstellung/Idee visuell dar?, 3. Wie kann mit der Pluralität der Perspektiven in der Gruppe umgegangen werden? In der Phase der Collagenarbeit werden die Teilnehmer_innen mit einer Perspektive konfrontiert, man könnte sagen, sie wird ihnen aufgezwungen, die der eines_einer Forschenden entspricht: Etwas ist problematisch geworden bzw. gemacht worden, und es gilt jetzt, einen Zugang zu einem Gegenstand zu entwickeln, der dessen neuer Problemhaftigkeit, dessen Nicht-mehr-Alltäglichkeit gerecht wird und dennoch die Alltäglichkeit des eigenen Erlebens und Erleidens einbezieht und ernst nimmt. Der gesuchte Zugang soll zudem einer sein, der eine Darstellung in visueller Form erlaubt. Was also geschieht mit so einer Aufgabe? Was tun Lernende, die mit dieser (für sie u. U. neuartigen) Aufgabe konfrontiert sind? Sie fangen an zu suchen, indem sie in Zeitschriften blättern, Bilder und Texte auf der Suche nach Hinweisen, Ideen scannen und miteinander kommunizieren und zwar sowohl über das Was als auch über das Wie der Darstellung. Dieser Prozess ist durchaus vielgestaltig: einige Teilenehmer_innen fangen sofort an zu sammeln, indem sie Bilder und Textausschnitte ausschneiden und

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zwar möglichst viele möglichst schnell. Alles, was irgendwie zu Lernen zu passen scheint, wird ausgeschnitten oder -gerissen. Es macht den Eindruck eines „Jahrmarktes der Möglichkeiten“, in dem die Teilnehmer_innen sich orientieren, indem sie als erstes eine größtmögliche Zahl an „Fahrgeschäften ausprobieren“, soll heißen: die Zeitschriften rasch durchsehen und eine große Zahl an Objekten relativ grob gefiltert auswählen. Eine Besonderheit des Sammelns liegt darin, dass bisweilen nicht nur eine Abbildung zu einem Aspekt ausgewählt wird, sondern eine Vielzahl verschiedener Darstellungen des scheinbar Gleichen, wie z.B. Abbildungen von Menschen. Diese Sammlung wird im Nachgang in der Gruppe kommunikativ bewertet. Dabei reduziert sich die Anzahl der Objekte und wird zugleich gegebenenfalls um neue Objekte erweitert. Die gesammelten Objekte entsprechen dabei Aspekten des Lernbegriffs, sie stehen für etwas, das die Teilnehmer_innen mit Lernen verbinden. Diese Aspekte klären sich, werden geschärft in der Interaktion mit andern – das kann eine verbale Kommunikation sein, aber auch die Wahrnehmung der Bild-/Text-Auswahl der anderen. Andere Teilnehmer_innen lassen sich zunächst Zeit, beobachten, was die anderen tun, und beginnen dann, zielstrebig und mit Bedacht, Objekte auszuschneiden, die offenbar zu dem von ihnen gedanklich entwickelten Konstrukt Lernen passen. Diese Gruppe sucht zum Teil nach speziellen Bildern und holt sich dafür Unterstützung bei anderen, denen sie einen Suchauftrag geben oder die sie nach bestimmten Objekten fragen. An die Phase des Sammelns schließt sich eine Phase des Sortierens und Ordnens an, die auch das Aussortieren von Ausschnitten oder eine erneute Suche nach bestimmten Motiven beinhaltet. Wenn das nicht schon vorher geschehen ist, einigt sich die Gruppe in dieser Phase auf ein gemeinsames Vorgehen, das zu einem fixierbaren Gesamtbild führen soll. In dieser Phase wird außerdem verhandelt, welche Aspekte die gemeinsame Darstellung der Bedeutung von Lernen beinhalten soll, das heißt welche Aspekte der individuellen Sammlungen berücksichtigt werden, welche verworfen werden und welche evtl. noch gänzlich fehlen. Im Zuge des Aushandlungs- und Einigungsprozesses werden Anordnungen der Bilder und Textausschnitte ausprobiert, probeweise auf der Collagenbasis angeordnet und immer wieder teilweise oder vollständig verworfen, um neuen Versuchsanordnungen Platz zu machen. Indem die Bild-/Textausschnitte in einem bestimmten Abstand zueinander, im Zentrum oder in der Peripherie, allein oder als Cluster angeordnet werden, wird das Verhältnis der für die Bedeutung von Lernen für wichtig erachteten Aspekte zueinander ausprobiert. Manches bleibt nach dem ersten Versuch stehen, anderes wird mehrfach umgeordnet und damit umgedeutet(!).

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Während dieser Phase werden die Bedeutungen der einzelnen Objekte/Darstellungen kommunikativ immer wieder erneuert, erneut betont, (imaginäre) Verbindungen hergestellt, verworfen, verändert und erneut betont. Es macht den Eindruck, als schritten die Teilnehmer_innen das Feld der Bedeutungen des Lernens allein und gemeinsam ab und markierten zentrale Punkte ihrer Wanderung mit Bildern bzw. Textausschnitten. 6.2.6 Die Forscherinnen Die Forscherinnen spielen in der Phase der Collagenproduktion keine aktive Rolle. Sie geben den Auftrag für die Phase, beantworten Rückfragen, geben dann das Material aus und ziehen sich anschließend auf die Position der ‚unbeteiligten‘ Beobachterin zurück. Dennoch sind sie präsent, indem sie die Gruppen bei der Arbeit beobachten, sich Notizen machen und dabei auch als Ansprechpartnerinnen bei Rückfragen und Unklarheiten genutzt werden. Dies wird weder von vornherein ausgeschlossen noch besonders häufig genutzt. Die Aufgaben stellende Instanz ist damit bei der Bearbeitung der Aufgabe anwesend, aber nicht an der Arbeit beteiligt. Dass die Präsenz einer beobachtenden Instanz die beobachtete Situation verändert, ist zur Genüge bekannt. Daher ist die Präsenz der Forscherinnen und die Implikationen dieser Situation einen Blick wert, sind sie doch einerseits diejenigen, die eine Aufgaben gestellt haben, bei deren Erfüllung sie die Teilnehmer_innen nun beobachten, andererseits sind sie diejenigen, die sich als Laiinnen darstellen im Hinblick darauf, was Lernen für die Teilnehmer_innen jeweils bedeutet. So werden sie zu einem Zwitterwesen aus Expertin und Laiin – Expertin in Bezug auf die Form der Aufgabe und Laiin im Hinblick auf den Inhalt. Gleichzeitig sind sie diejenigen, die die Collagen im Anschluss mitnehmen und einer erneuten Auswertung unterziehen. Wie weit die Selbstdarstellung als interessierte Laiin trägt, ist damit mindestens ein Fragezeichen wert. Der Eindruck des Expertinnentums in Sachen Aufgabenstellung und Auswertung wird auch dadurch unterstützt, dass die Forscherinnen die gesamte Lernwerkstatt leiten, ohne dass die Teilnehmer_innen aktiv in die Gestaltung des Gesamtprozesses einbezogen sind. Es wird zwar darauf hingewiesen, dass Änderungen durchaus möglich und Anregungen willkommen sind, aber die Mitarbeit der Teilnehmer_innen an der Gesamtkonzeption ist nicht notwendig. Die Forscherinnen stellen so etwas Undurchschaubares dar: sie scheinen zu wissen, was sie suchen, scheinen aber nicht zu wissen, was sie bekommen werden. Die Teilnehmer_innen wiederum haben in diesem Spiel quasi die Rolle eines Orakels, das befragt wird, selbst die Auslegung nur in Teilen vornimmt und ansonsten

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von anderen ausgelegt wird im Hinblick auf etwas, das ureigenster Teil und Ausdruck des eigenen Lebens ist. Diese Ambivalenz lässt sich nicht ausschalten und wird sich wahrscheinlich in den Äußerungen der Teilnehmer_innen (verbal und visuell) niederschlagen. In der Betrachtung der Lernwerkstatt als Ganzes wird deutlich, dass es sich um eine Situation handelt, die in vielerlei Hinsicht für die Teilnehmer_innen eine Herausforderung darstellt. Ausgehend von der Aufgabenstellung über das Material bis hin zum Umgang mit den anwesenden Forscherinnen entstehen Momente der Fremdheit, die es zu bewältigen gilt. Diese Momente sind es, die die Lernwerkstatt zu einem Ort der Reflexion, des Heraustretens aus der Alltagsnormalität werden lassen. Dieser Schritt aus der unbefragten Normalität geschieht jedoch nicht außerhalb jeglichen Kontextes, sondern ist eingebettet in die aktuelle Lern- und Lebenssituation, in der sich die Teilnehmer_innen befinden. Dieser persönliche und situationale Kontext ist in der Interpretation der Collagen zu berücksichtigen.

6.3 C OLLAGEN INTERPRETIEREN – E XPLIKATION G RUNDANNAHMEN

DER

Es geht bei der Interpretation von Bildern aus der Perspektive der Sozialwissenschaften, hier speziell der Erziehungswissenschaft, darum, das Was und das Wie eines Bildes zugänglich zu machen, ohne das im Interpretationsprozess stattfindende Wechselspiel mit dem_der Betrachter_in und dem Kontext aus den Augen zu verlieren. Das heißt die Forscherin stellt sich die Frage, was das jeweilige Bildobjekt darstellt, wie das Objekt dargestellt ist, welches Bild im Moment der Betrachtung entsteht und wie das im jeweiligen Entstehungszusammenhang verstanden werden kann. Zusammengenommen erlaubt die Betrachtung dieser Bildaspekte Hypothesen darüber, welche Bedeutung das Bild vermitteln soll und welche Bedeutungen es darüber hinaus noch vermitteln kann. Dabei wird angenommen, dass die Bedeutung8, die ein materieller oder immaterieller Gegenstand für die darstellende Person hat bzw. die sie zum Ausdruck zu bringen versucht, sich in der Art der Darstellung niederschlägt. In dieser Darstellung wird zugleich eine unausgesprochene Sicht auf die Wirklichkeit wirksam, die sich als

8

Bedeutung bezieht sich hier nicht nur auf sprachlich-rational gefasste gesellschaftlich vermittelte Inhalte, die mit einem Gegenstand verbunden werden, sondern auch auf sinnlich-sinnhafte Erfahrungen, die sich für ein Individuum mit einer ‚Sache‘ verbinden.

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Spuren im Bild auffinden lässt. „Bilder, die die Welt in verschiedenen Stilen zeigen, reflektieren die Welt anders […]: Sie zeigen die Welt anders und sie denken sie anders.“ (Wiesing 2000, S. 35) 6.3.1 Besonderheiten und Herausforderungen der Collagen-Auswertung Bei den ersten Versuchen, das in den Lernwerkstätten erhobene Material auszuwerten, stellte ich fest, dass die bislang in der Erwachsenenbildung als Grundlage für Bildinterpretationen genutzten Verfahren spezifische Mängel aufweisen, wenn es darum geht, Material zu bearbeiten, das nicht nach bestimmten künstlerischen oder gestalterischen Kriterien erstellt wurde oder aber zumindest soziale Szenen darstellt, die als solche zu erkennen sind. Die von Ralf Bohnsack entwickelte dokumentarische Methode ist eine derzeit viel genutzte Methode, die auch in der Interpretation von nicht-künstlerischen Bildern wie Laien- und Werbefotografien genutzt wird (vgl. Bohnsack z.B. 2007, 2009). Es gibt jedoch zentrale Unterschiede zwischen dieser Art von Bildern und denen, die in den Lernwerkstätten entstehen: Die dokumentarische Methode nutzt Bilder, auf denen Menschen zu sehen sind, deren Blickrichtungen oder Körperausrichtungen erkennbar sind. Anhand dieser ist die „szenische Choreographie“ (Bohnsack 2007, S. 82) eines Bildes rekonstruierbar. Aufeinander bezogene Linien und geometrischen Anordnungen ermöglichen die Rekonstruktion einer „perspektivischen Projektion“ (ebd.). Des Weiteren wird vorausgesetzt, dass es sich bei dem zu bearbeitenden Bild um eine tatsächlich als soziale Szene zu interpretierende Darstellung handelt, die einen geschlossenen Rahmen abgibt, innerhalb dessen die abgebildeten Dinge und Wesen verstanden werden können. Nur dann ist die Rede vom konjunktiven und kommunikativen Sinngehalt eines Bildes sinnvoll (vgl. Bohnsack z.B. 2007 und 2009). Die Collagen, die in den Lernwerkstätten von Lernenden entwickelt werden, stellen jedoch keine Szenen im engeren Sinne dar. Sie gleichen eher Mind Maps zu Alltagsvorstellungen von Lernen, möglichen Ordnungen von Vorstellungen und ihr Verhältnis zueinander, als dass sie Lernszenen oder ähnliches darstellen. In der Lernwerkstatt werden erwachsene Lerner_innen aufgefordert, über ihren eigenen Lernbegriff nachzudenken und das Ergebnis dieses Reflexionsprozesses mit ästhetischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen. Das unterscheidet die Collagen deutlich von den Fotografien aus Familienalben, die Bohnsack für seine Untersuchungen zu Familienstrukturen in Ostdeutschland herangezogen hat (vgl. Bohnsack 2008). Wo die Fotografien bei Bohnsack als spontane Ausdrucksformen gesellschaftlicher Wirklichkeit verstanden werden, sind die Colla-

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gen Ausdruck eines Reflexionsprozesses, in dem eine bewusste Auseinandersetzung mit Vorstellungen von Wirklichkeit stattfindet. Es kann davon ausgegangen werden, dass Vorstellungen von Lernen nicht als fertige, unveränderliche Einheit vorliegen, sondern dass sie sich in der Beschäftigung mit der Frage nach ihnen zuallererst realisieren. Dieser Reflexionsprozess findet unter spezifischen Bedingungen statt, die einen Einfluss haben auf die Ergebnisse des Nachdenkens. Da ist zum einen die Gruppensituation, die einen Austausch über die je eigenen Vorstellungen nötig und zugleich möglich macht. Weiterhin gibt es einen klaren Arbeitsauftrag, der für einige der Beteiligten Gefühle von Fremdheit oder auch Druck erzeugt. Des Weiteren findet die Lernwerkstatt jeweils in einer Umgebung statt, die von Strukturen geprägt ist, die wiederum Einfluss nehmen auf die Ergebnisse der Collagenarbeit. Außerdem sind die Produzent_innen nicht frei in der Wahl ihres Materials. Die Zeitschriften, Stifte und buntes Papier werden als Grundlage zur Verfügung gestellt und der Auftrag lautet, mit dem zur Verfügung stehenden Material eine Collage anzufertigen. Dieses Material als Einflussfaktor gilt es zu berücksichtigen. Ein weiterer Faktor ist das Arrangement, in dem die Forscherinnen während der Erstellung der Collagen anwesend sind und zudem ein eng begrenzter Zeitrahmen zur Verfügung steht. In anderen Forschungsvorhaben, die mit „Eigenproduktionen“ (Niesyto 2007) arbeiten, haben die Produzent_innen deutlich mehr Zeit, um ihre Vorstellungen umzusetzen, und sind dabei allein (vgl. Gruschka 2005) oder werden von Personen begleitet, die sie bei der Umsetzung ihres Vorhabens unterstützen (für fotografische Selbstinszenierungen vgl. Klika/Kleynen 2007). Die besondere Arbeitssituation und die persönliche Situation der Teilnehmer_innen der Lernwerkstätten, die den Hintergrund bilden für ihr jeweiliges Nachdenken über Lernen, gilt es zu reflektieren, will man solcherart entstandene Collage angemessen zu verstehen versuchen (vgl. Sowa/Uhlig 2006). 6.3.2 Der Leitfaden zur Collageninterpretation im Projekt „Lernbilder“ Basierend auf den ausgeführten Überlegungen zur Rolle der Ästhetik in der Wahrnehmung und dem Verstehen der Welt, dem Verhältnis von Ästhetik und Sprache, den Besonderheiten der bildlichen Darstellung und ihrem medialen Charakter lassen sich folgende Grundsätze für die Interpretation der Collagen formulieren: 1. In der Interpretation handelt es sich um einen Versuch, systematisch und me-

thodisch kontrolliert Sinnhorizonte explizit zu machen, die ein Verstehen des

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Bildes als Ausdruck individueller und zugleich gesellschaftlich vermittelter Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffe und Ideen ermöglichen (vgl. Breckner 2010; Vogel 2001). 2. Bei der Interpretation des Bildes gilt es, den Entstehungszusammenhang und

die an der Entstehung beteiligten Personen ebenso zu berücksichtigen wie den Forschungszusammenhang, die damit verbundenen spezifischen Sichtweisen und Fragen sowie die subjektiven Perspektiven und Sichtweisen der Forschenden. Diskursiver und situativer Kontext beeinflussen die Wahrnehmung und damit auch den Ausdruck der am Gesamtprozess beteiligten Subjekte (vgl. Breckner 2010; Sowa/Uhlig 2006). 3. Die Interpretation geschieht auf eine Weise, die sich am hermeneutischen Ver-

ständnis einer schrittweise-zirkulären und immer wieder neuen Annäherung orientiert und zugleich die phänomenologische Perspektive stark macht, dass Forschenden als Basis ihrer Reflexion letztendlich vor allem und am zuverlässigsten das eigene Erleben dient (vgl. Honer 1993). 4. Die Interpretation eines Bildes schafft keinen abgeschlossenen Sinnhorizont,

der das Bild erschöpfend erfasst, sondern sie ist eine in sich und im Rückbezug auf das Bild und seinen (Entstehungs-)Kontext plausible sprachliche Fassung des im Bild Auffindbaren (vgl. Bätschmann 2001, Breckner 2010). Der hier eingeschlagene Weg, dessen Ziel es ist, mehr über Alltagsvorstellungen von Lernenden über (ihr) Lernen zu erfahren und zu entdecken, geht von zwei Prämissen aus: 1. Collagen als „Vorstellungsdarstellungen“ (Peez 1997, S. 52) stellen eine Form

ästhetischer Reflexion dar, in denen Lernende über ihre Vorstellung von Lernen nachdenken und diesem Nachdenken in Abhängigkeit von strukturellem Kontext und sozialer Situation Ausdruck verleihen. Die Ergebnisse dieses Reflexionsprozesses bilden wiederum die Grundlage für die ästhetisch-rational geprägte Auslegungsarbeit im Forschungsprozess, der damit auch zu einer Reflexion der Forscher_innen über die Reflexionsarbeit der CollagenProduzent_innen wird (vgl. Peez 1997, S. 51f.). 2. Bilder geben mehr zu sehen als das dargestellte Bildobjekt. Die Darstellungs-

weise, das heißt wie das Objekt, in unserem Fall die „Bedeutung von Lernen“ dargestellt wurde, gibt Hinweise darauf, wie Lernen auf einer vorbegrifflichen Ebene „gedacht“ wird (vgl. Wiesing 2000). Eine Beschreibung und Auslegung der Collagen wird also etwas anderes sein müssen als eine möglichst vollstän-

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dige Inventarisierung des Dargestellten. Um die „sinnstrukturierte Motivierung“ (Gruschka 2005, S. 17) der Darstellung herauszuarbeiten, bedarf es einer Betrachtung formaler Aspekte ebenso wie einer Reflexion des subjektiven Gesamteindrucks und der im Bild rekonstruierbaren Relationen. Analyse und Interpretation der Collagen umfassen auf der Basis dieser Prämissen folgende Aspekte: • Erster Eindruck:

-

Auffälliges, Besonderes, Irritierendes persönliche Empfindungen, Irritationen Woran „erinnert“ die Collage?

• Beschreiben des groben Bildaufbaus (formal):

-

Gruppen, Cluster? Löcher, Lücken? vorherrschende Farben, Formen, Linien...? Kontraste in Größe, Farbe, Form …? Gibt es eine deutliche Struktur des Bildaufbaus? Verhältnis von Bild- zu Textelementen

• Was ist dargestellt?

-

Bildausschnitte und ihr Inhalt Welche Themen kommen zum Ausdruck? Welche Sub’texte‘ werden über das Dargestellte transportiert? Was fehlt?

• Das Wie der Darstellung

-

Kontraste Harmonien Brüche Zentrum und Rand Warum so und nicht anders? Welche „Geschichte(n)“ erzählt das Bild?

• Was wissen wir über den Entstehungskontext der Collage?

-

In welchem Rahmen fand die Lernwerkstatt statt? Wie war der zeitliche und organisatorische Rahmen? Welche Rolle spielte die Lernwerkstatt in der übergeordneten Lernsituation?

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-

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Wer waren die Akteur_innen und was wissen wir über ihre (Lern-) Situation? Was ist das kommunikative Ziel der Arbeit?

Diese Aspekte bilden die Grundlage für eine Interpretationsarbeit, die sich dem Verstehen langsam nähert. In der Arbeit an und mit den Collagen folgt diese Untersuchung dem Prinzip eines zur Spirale ausgebauten hermeneutischen Zirkels, die ein fortschreitend sich entwickelndes Verstehen auf der Basis eines Dreischritts von Wahrnehmen/Erleben – Auslegen – Verstehen (vgl. Dilthey 1970; Bätschmann 2001) konstatiert. Die Arbeit mit dem Material ist daher nicht als eine lineare aufzufassen, sondern folgt eher – darin ist sie der Grounded Theory (Glaser/Strauss 2010) ähnlich – einem Mäander: Ausgehend vom Material stellt die Forscherin theoretisch informierte Vermutungen über dessen Bedeutung auf, konfrontiert diese mit dem Material, verändert sie und prüft sie erneut am Material. Es entsteht ein spiralartiger Prozess, in dem ein zunehmendes Verstehen der Collagen erarbeitet wird. Dabei spielt das Bildobjekt eine ebensolche Rolle wie die Darstellungsweise, da von einem „Eigentlichen“ und „Uneigentlichen“ im Bild nicht ausgegangen werden kann (vgl. Bätschmann 2001, S. 32). Form und Inhalt, Eindruck und mögliche Intention, Kontext und Inhalt etc. sind miteinander verwoben; es gilt sie als Einzelaspekte sichtbar zu machen, ohne sie zu vereinzeln. Im folgenden Abschnitt stelle ich mit Roswitha Breckners Ansatz der Segmentanalyse eine spezifische Form der Bildinterpretation vor, die meine Arbeit mit Collagen bereichert, da sie in vielen Grundannahmen mit den oben genannten übereinstimmt und sie zu einer Methode der Bildinterpretation integriert. 6.3.3 Segmentanalyse – eine besondere Art der Bildinterpretation Roswitha Breckner (dies. 2010) hat in der Beschäftigung mit Bildern unter soziologischen Fragestellungen ein Verfahren entwickelt, das zwei Qualitäten von Bildern besonders Rechnung trägt: einerseits stellen sie Sachverhalte nicht sequenziell dar, sondern präsentieren sie als Ganzes, und andererseits erfolgt die Wahrnehmung eines Bildes nicht nur als Ganzes, sondern in besonderer Weise auch über seine Details (vgl. Breckner 2010). Ihre Weiterentwicklung der ausgearbeiteten Prinzipien und Verfahren der interpretativen Soziologie unternimmt mit Bezug auf die bildtheoretischen Arbeiten von W.J.T. Mitchell, Susanne Langer und Alfred Schütz den Versuch, jene weitgehend textorientierten Verfahren auf den Bereich der Bilder auszuweiten

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(vgl. ebd., S. 17). „Dinge, Sachverhalte, Träume, Phantasien sowie Vorstellungen in Bezug auf diese“ (ebd. S. 111) können in Breckners Perspektive in Bildern symbolisiert werden, wobei die Darstellungen dabei „nicht nur als Repräsentationsformen einer von ihnen unabhängigen Wirklichkeit [verstanden werden, sondern] „das Potential [haben], Wirklichkeit in genuiner Weise symbolisch und das heißt sinnhaft zu gestalten.“ (Ebd.) Die Elemente eines Bildes bilden in ihren Relationen zueinander und in Bezug auf das Gesamt des Bildes ein Gewebe, das historisch und situational spezifisch bedeutsam ist. Ein Bedeutungsgewebe ist immer auf ein Subjekt ausgerichtet, ist also nicht vollständig objektivierbar. Dennoch lässt sich die Bedeutungsstruktur als potentielle Bedeutung „verschiedener Bedeutungsrelationen, die für unterschiedliche Subjekte ‚etwas‘ meinen, hypothetisch erschließen.“ (Ebd., S. 36) Um diesem Bedeutungsgewebe auf die Spur zu kommen, isoliert Breckner zunächst einzelne Elemente der von ihr untersuchten Bilder (Kunstwerke, Bilder in der Werbung, Fotos aus privaten Alben) und fragt danach, was dieser Ausschnitt allein für eine Bedeutung tragen könnte und welche Erwartungen die betrachtende Person im Hinblick auf mögliche Kontexte entwickelt. Anschließend wird der Ausschnitt wieder in das Bild eingefügt und in seinen sichtbaren Relationen zu anderen Bildelementen befragt. Diese Hypothesen werden wiederum mit den Hypothesen zu dem einzelnen Elementen konfrontiert – ein Vorgang, der die Fraglosigkeit scheinbar offensichtlicher Verbindungen oder scheinbar offensichtlicher Brüche suspendiert und das Wahrnehmen unerwarteter Relationen ermöglicht. An dieser Stelle kommen das Wissen (im weitesten Sinne) um den Kontext der Entstehung des Bildes, über die Produzent_innen und über die Intention des Bildes zum Tragen, aber auch die Empfindungen und Einschätzungen der interpretierenden Person, ihre Sichtweise auf das Bild im Rahmen ihrer subjektiven Sicht auf die Wirklichkeit. In der Arbeit mit Fotoalben nimmt Roswitha Breckner als weiteres Material Interviews zu Hilfe, die sie mit den Ersteller_innen der Alben oder ihren Nachkommen führt und die sie mit den Hypothesen zu den Bildern zu „Sinngeflechten“ (ebd., S. 271) verschränkt. Für die Arbeit mit Collagen lässt sich der Arbeit Breckners entnehmen, dass diese auf etwas hinweisen, das in der Wirklichkeit oder der Vorstellung der Produzent_innen ‚existiert‘ und dass die Collagen zugleich Ausdruck sind einer Suche nach und einem Entstehen von Bedeutung.9 Sie sind also sowohl Repräsen-

9

Vgl. auch Wiesing 2000 und 2004, dessen Ausführungen zu den besonderen Potenzialen von virtuellen Bildobjekten m. E. auf die Produktion von Collagen übertragen werden können. Die verschiedenen vorläufigen Anordnungen der Bild- und Textelemente sind dem „Probehandeln“ (Wiesing 2004, S. 126) bei Wiesing durchaus ähn-

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tationen für etwas und als auch Anzeichen von etwas. Beides ist jedoch nicht in der Art von Zeichen oder Symbolen zugänglich, denen eine konventionelle Übereinkunft zugrunde liegt. Das, wofür die Collage als Ganzes oder ihre Elemente stehen, kann nur hypothetisch erschlossen werden und dabei helfen die räumlichen und inhaltlichen Verhältnisse, in denen die Elemente einer Collage zueinander dargestellt sind. Für die Arbeit mit Collagen ist die Segmentanalyse daher in zweifacher Weise hilfreich: sie nimmt das Gestaltungsprinzip der Collage auf und ernst, und sie verdeutlicht, wie Segment und Ganzes im Verhältnis stehen. Die Interpretation einer Collage erfordert in besonderer Weise das Hin und Her zwischen Teil und Ganzem, da in dieser Form der Darstellung die einzelnen Teile oft unverbunden und auch im Kontext des „Auftrags“ zunächst „sinnlos“ erscheinen. Erst in der Zusammenschau mit anderen Details oder mit dem Bild als Ganzem wird deutlich, welche Rolle sie spielen (können).

6.4 D IE S YSTEMATIK DER I NTERPRETATION In den folgenden Interpretationen dreier Collagen wird die „Verschriftlichung“ der Collagen vollständig wiedergegeben und die Schritte der Abstraktion, weg vom konkreten Material und hin zu einem die Collagen insgesamt umfassenden Verständnis, ausführlich dargestellt. Die Interpretation folgt dabei einer Systematik, die von der Wahrnehmung der Collagen ausgeht, das heißt ihrer Beschreibung in ihren Einzelheiten und in ihrer Gesamtheit, dann zur Auslegung übergeht in Form der (Re)Konstruktion zentraler Themen, die sich in der Ausdrucksgestalt der jeweiligen Collagen finden, bis sie zu einer Ebene des Verstehens kommt, das über die Einzelcollage hinaus weist. Auf dieser Ebene wird danach gefragt, was die (Re)Konstruktionen der Lernvorstellungen verbindet und wie die konkreten Themen als Ausdruck übergreifender Thematiken und Prinzipien verstanden werden können.

lich und seine Gedanken zu virtuellen Bildobjekten als Verstärker der Imagination treffen auch auf die Arbeit mit Collagen zu: das sichtbare Bewegen der Teilelemente, ihre probeweise Anordnung sind eine „Fortsetzung des geregelte Phantasierens mit diesem imaginären Gegenstand im Medium der Sichtbarkeit des Bildes.“ (Wiesing 2000, S. 29) Der imaginäre Gegenstand „Bedeutung des Lernens“ kann in seiner Sichtbarkeit auf eine konkretere Weise manipuliert werden, als das in Gedanken möglich ist. Die sichtbaren Folgen der Manipulationen selbst eröffnen weitere Möglichkeiten der Bedeutungsfindung und -zuschreibung.

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Konkret heißt das: Die Ergebnisse der Betrachtung der Einzelcollagen werden zunächst in einen Text gefasst, in dem die Gedanken, Assoziationen, Fragen, die die Betrachterin zu den einzelnen Collagen hat, expliziert werden. Schon im Text finden erste Schritte der Auslegung statt, indem plausible Verbindungen hergestellt werden zwischen Collagendetails untereinander, zwischen Details und Collagengesamtheit und zwischen den Bildelementen und ihrer Anordnung. Im Übergang von der Textform zu einer Zusammenfassung in zentrale Stichworte, die den Text sinnvoll zusammenfassen, wird die Auslegung der Collagen vertieft und schon an dieser Stelle ein Übergang zum Verstehen vollzogen, indem die Stichworte eine erste Auswahl aus den möglichen Sichtweisen darstellen. Diese werden in Thesen zum Lernen weiter verdichtet, in denen die Stichworte als Grundlage dienen, um Positionen zum Lernen zu formulieren, die auf der Basis der Collagen sinnvoll sind und von den Teilnehmer_innen hätten formuliert werden können. Kontrastiert werden diese Positionen mit einer Reformulierung dieser Thesen zum Lernen aus einer theoretisch informierten Perspektive. Auf diese Weise werden erste Aspekte des Verstehens eingezogen. In einem weiteren Schritt (Kap. 8) werden die Thesen der drei Collagen in einer Synopse nebeneinander gelegt und miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei werden Überschneidungen und Differenzen sichtbar, und es lassen sich, Landmarken gleich, collagen-übergreifende Themengruppen herausarbeiten, die wichtige Aspekte subjektiver Lernvorstellungen zum Ausdruck bringen. Lernvorstellungen, so lässt sich zeigen, bilden eine Landschaft, in der Begriffe, die die Landmarken thematisch zusammenfassen, als Orientierungen die Lernvorstellungen strukturieren.

7. Empirische Zugänge II: Wahrnehmen – Auslegen – Verstehen

Mit Artefakten menschlicher Herkunft, wie den hier vorliegenden Collagen, verhält es sich wie mit anderen menschlichen Handlungen oder deren Ergebnissen auch: wir verstehen sie in einem bestimmten Kontext, unterstellen in diesem Kontext Sinn und Bedeutung und müssen, um das eigene Verständnis nachvollziehbar und plausibel zu machen, eben diesen Kontext sichtbar machen. „Den Kontext sichtbar machen“ das bedeutet hier zweierlei: einerseits gilt es, Einflussfaktoren herauszuarbeiten, die eine Situation prägen (s. Kap. 6.2) – wobei auch diese Betrachtungen nur einen Teil der möglicherweise relevanten Faktoren berücksichtigen (können), andererseits gilt es deutlich zu machen, mit welchem Erkenntnisinteresse sich die Forscherin der Empirie nähert, welche Fragen sie an die Artefakte oder Handlungen stellt. Ein Sichtbarmachen des Kontextes besteht also auch darin, den eigenen Forscher_innen-Standpunkt als Teil dessen zu klären, was die Zuschreibung von Sinn und Bedeutung möglich macht. Das ist in ausführlicher Form in Kapitel 1 geschehen. Die sich daraus ergebenden Fragen werden im Folgenden konkret ausformuliert, sowie die Auswahl des Materials begründet, an das diese Fragen in der Folge gerichtet werden.

7.1 F RAGEN

AN DAS

M ATERIAL

In Kapitel 1 sind grundlegende Thesen zum Lernen, die den Nährboden für den Forschungsprozess dieses Projekts bilden, erörtert worden. Diese Thesen werden im Folgenden so zusammengefasst, dass deutlich wird, mit welchen Fragen dem Material im Prozess der Interpretation begegnet wurde. Die konkrete Formulierung von Fragen an das Material macht außerdem deutlich, dass es bei der Auswertungsarbeit an Collagen nicht darum gehen kann, ‚Aussagen‘ der Produzent_innen aus dem Material zu extrahieren, sondern darum, Hinweisen nachzu-

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gehen, die Themen oder Bereiche des Lernens eröffnen, wie sie aus der Perspektive der Lernenden zum Ausdruck gebracht werden. Die Fragen an das Material lassen sich folgendermaßen fassen: • Wo finden sich Hinweise auf eine biographische Verortung von Lernen? Auf

welche Weise findet diese Verortung statt? • Wie wird Leiblichkeit, das heißt eine Verbindung von Körper und Geist,

Raum und Zeit thematisiert und wie findet eine Verknüpfung mit Lernen statt? • Wie wird auf Lernanlässe und ihren Widerfahrnis-Charakter hingewiesen? • Wie wird Lernen als Auseinandersetzung mit Welt zum Ausdruck gebracht? • Welche Hinweise finden sich auf Lernen als Entdeckung des Neuen und Be-

gegnung mit dem Neuen? • Wie wird das Feld des Lernens zwischen intendierter Handlung und inziden-

tellem Mitlernen angedeutet? • Welche Hinweise auf eine Zukunftsorientierung des Lernens lassen sich fin-

den? • Wie wird das Spannungsfeld des Lernens zwischen individuellem Prozess und

gesellschaftlicher Verortung zum Ausdruck gebracht? Diese Fragen zeigen das Forschungsinteresse auf, das die Interpretation der Collagen leitet. Die Herausforderung des Interpretationsprozesses besteht u. a. darin, das Material nicht einfach nach Hinweisen auf die Fragekategorien zu durchsuchen, das heißt es unter die im Vorfeld aufgestellten Kategorien zu subsumieren, sondern das Material selbst „zu Wort kommen zu lassen“. Mit den Ausführungen zur Problematik des Verstehens von Bildern wird nachvollziehbar, dass ein solches „zu Wort kommen“ immer eine Art Dialog, wenn nicht ‚Trialog‘ darstellt zwischen dem Bild, der Rezipientin oder dem Rezipienten und dem Kontext der Rezeption. Das erfordert ein großes Maß an Transparenz in Bezug auf die eigenen Ziele und Interessen und die explizite Reflexion des Entstehungsund Interpretationskontextes der Collagen. Zugleich beinhaltet die Anerkenntnis des dialogischen oder trialogischen Charakters des Interpretationsprozesses das Eingeständnis, dass es nicht darum gehen kann, die eine zu verstehende Bedeutung, den einen zu entdeckenden Sinn zu entschlüsseln. Vielmehr bietet die Arbeit mit Collagen, die Möglichkeit, in der transparenten Auseinandersetzung mit dem Material, den Gang der Annäherung an die Bedeutungen der Collagen und die Entstehung der Ergebnisse nachvollziehbar und damit auch diskutierbar zu machen. Um die Sichtweisen auf das Material zu erweitern und die Komplexität nicht unangemessen zu reduzieren, findet die Interpretation des Materials im Kontext

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einer Forschungswerkstatt statt, in der regelmäßig Interpretationsansätze diskutiert und auf ihre Plausibilität hin befragt werden. Anstelle einer Kombination verschiedenartiger Formen von Daten mit dem Ziel, eine möglichst vielseitige Sicht auf einen Sachverhalt zu bekommen, setzt diese Form der Triangulation auf die Kontrastierung verschiedener Sichtweisen auf einen Materialtyp.

7.2 D AS S AMPLE –

DIE

AUSWAHL

DER

C OLLAGEN

Das Konzept der Lernwerkstatt wird in der hier vorgestellten Untersuchung zwei Mal umgesetzt: die erste Lernwerkstatt findet statt mit einer Gruppe von 18 jungen Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die bei einer kirchlichen Institution einer deutschen Großstadt ein FSJ absolvieren und sich auf einer der fünf im Verlauf dieses Jahres vorgesehenen Fortbildungswochen befinden. Die Lernwerkstatt ist als thematische Ergänzung in den Verlauf des Seminars „Ich – Individualität – Erziehung – Sexualität“ eingebunden und findet in einem Seminarhaus statt. Die zweite Gruppe besteht aus sechs Frauen und Männern zwischen 26 und 45 Jahren, die an einer Umschulungsmaßnahme nach Maßgabe des Sozialgesetzbuch III teilnehmen. Die Lernwerkstatt findet anstelle des regulären Unterrichts in den Räumen einer Weiterbildungseinrichtung einer deutschen Großstadt statt. Am Ende der Erhebungsphase liegen sieben Collagen vor. Die Auswahl der auszuwertenden Collagen erfolgt nach dem Prinzip größtmöglicher Unterschiedlichkeit. Die drei ausgewählten Collagen umspannen erstens das gesamte Feld der verschiedenen beteiligten Gruppen: Es ist eine Collage aus der Gruppe der jungen Frauen enthalten, eine Collage aus der Gruppe der jüngeren Umschüler_innen ohne Familie und eine Collage älterer Umschüler_innen mit Familie. Zweitens weisen die entstandenen Collagen dem ersten Eindruck nach einen unterschiedlich hohen Grad an Komplexität auf. In der Annahme, dass ein hohes Maß an Komplexität der Collage ein vielfältiges Bild möglicher Lernvorstellungen ergibt, wird eine Collage aufgrund ihrer besonderen Komplexität ausgewählt, während die beiden anderen besonders dadurch auffallen, dass sie sich auf den ersten Eindruck im Hinblick auf die Atmosphäre oder Stimmung, die sie vermitteln, deutlich unterschieden. Auf diese Weise erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass eine Vielzahl von Aspekten in die Auswertung der Collagen einfließt und das Ergebnis bereichert.

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Die Collage „Köpfe“1 stammt aus der Lernwerkstatt der Umschüler_innen und wurde von einer Gruppe aus drei Personen erstellt, deren Mitglieder zum Zeitpunkt der Lernwerkstatt zwischen 32 und 45 Jahre alt sind und eine Umschulung zum_zur Lagerlogistiker_in machen. Alle Mitglieder der Gruppe haben Kinder und einen Hauptschul-, Realschul- oder Gymnasialabschluss. Der einzige Mann der Gruppe ist im europäischen Ausland aufgewachsen, hat dort die Schule besucht und ist als Erwachsener nach Deutschland gekommen. Die Collage „Unperfekt Heart“ stammt aus der Lernwerkstatt der jungen Frauen im FSJ. Die vier Mitglieder der Gruppe sind 19 bis 20 Jahre alt und haben vor weniger als einem halben Jahr die Schule mit einem Realschulabschluss oder dem Abitur beendet. Die Collage „Zutritt verboten“ stammt ebenfalls aus der Lernwerkstatt der Umschüler_innen. Die drei Gruppenmitglieder sind zwischen 26 und 37 Jahre alt und befinden sich im ersten Jahr der Umschulung zur_zum Speditionskauffrau_mann. Die Mitglieder der Gruppe sind ledig bzw. haben keine Kinder und einen höheren bzw. mittleren Schulabschluss. Die einzige Frau der Gruppe ist als Erwachsene nach Deutschland ausgewandert.

1

Die Titel der Collagen stammen nicht von den Collagen-Macher_innen, sondern sind Ausdruck meines ersten Eindrucks von den Collagen. Sie beziehen sich auf (aus meiner Sicht) prägnante Aspekte der Collage und können damit als Teil der Interpretation verstanden werden.

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UND I NTERPRETATION DER

C OLLAGE

Quelle: Eigene Fotografie

Abbildung 1: Collage „Köpfe“

7.3 ANALYSE „K ÖPFE “

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7.3.1 Erster Eindruck Als erstes fällt der große Büffelkopf in der Mitte der Collage auf. Er scheint der Betrachterin aus der Fläche entgegen zu kommen und bindet den Blick, wohl auch, weil er im Lernzusammenhang so überraschend scheint. Ein goldener Kopf oder eine Maske fällt buchstäblich aus dem Rahmen: der Bildausschnitt befindet sich fast vollständig außerhalb der Collagenbasis. Ein Frauenkopf, der in Flammen zu stehen scheint, ein gezeichneter Kopf, der ein Mischung aus Mensch und Maschine darstellt und der goldene Kopf, oder besser: ein Gesicht aus Gold - sind weitere Elemente, die die Collage prägen und titelgebend sind. Das Stichwort „Angst“ und die Frage „Und nun?“ fallen auf und scheinen zusammen einen Themenkomplex „Zukunftsangst“ anzudeuten. Auf den ersten Blick scheint es keine Ordnung zu geben, die sich aus der räumlichen Anordnung der Einzelteile ergibt. Die Bildausschnitte sind teilweise geschnitten und teilweise sorgfältig ausgerissen. Ich empfinde es als Herausforderung, den Büffel zu „erklären“. Was hat es mit diesem urtümlichen Tier im Kontext mit Lernen auf sich? Auffällig ist auch der goldene Kopf, der deutlich und als einziges Element über den Collagenrand hinausragt. 7.3.2 Formaler Bildaufbau Die Collage ist gleichmäßig gefüllt. Es gibt keine auffälligen Lücken oder weiße Flächen. Oben links ist ein deutliches Cluster zu sehen. Die Bildausschnitte sind hier ohne Lücken aneinander geklebt. Die Mitte der Collage ist von einem großen Büffelkopf gefüllt, der zu etwa zwei Dritteln zu sehen ist. Dessen sichtbares Auge liegt unwesentlich über der Kreuzung der beiden Bilddiagonalen, ebenso ist der gesamte Bildausschnitt nicht präzise in der Mitte, sondern ein wenig zum oberen Rand der Collage hin angeordnet. Die Köpfe in ihrer Kompaktheit und Dichte stellen einen Kontrast dar zu den vielen kleineren Bildausschnitten. Die dunkel wirkende Mitte hat dunkle ‚Ableger‘ rechts und links oben. Die Collage wirkt als deutliches Miteinander von Bildern und Text. Teilweise ist Text als Ausschnitt in Bilder eingefügt, teilweise handschriftlich ergänzt. Einige handschriftliche Anteile sind Bildausschnitten hinzugefügt. Eine große Überschrift steht als einzelner Ausschnitt für sich, eine andere als Satzanfang, der durch ein Bild ergänzt wird. Ein Cartoon enthält Textanteile als Sprechblase

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und als Bildunterschrift. Die Überschrift einer Zeitschriftenrubrik ist vollständig erhalten geblieben. Die Schriftzüge „Anfang“ und „Ende“ bilden eine Linie, die das rechte Drittel der Collage vom Rest zu trennen scheint. Der goldene Kopf ganz rechts oben durchbricht die Grenze der Collagenbasis nach außen. Die Schriftelemente sind mehrheitlich waagerecht angeordnet und auch die Bildelemente sind ihrer normalen Ausrichtung entsprechend fixiert. Die Schriftzüge „Anfang“ und „Ende“ allerdings bilden zusammen eine Senkrechte, und auf der linken Seite sind drei Elemente schräg nach oben rechts weisend angeordnet. Ein Bild-/Text-Ausschnitt, der ein Euro-Zeichen und die Silhouette einer Person mit einem Schild zeigt, ist um mehr als 90° nach links gedreht, so dass die Person und ihr Schild fast auf dem Kopf (!) stehen. 7.3.3 Betrachtung und Beschreibung der Details Zentrale Elemente sind verschieden Köpfe, die auch zum Titel der Collage geführt haben: Ganz links ein Frauenkopf mit angestrengtem Blick, dessen Haar in Flammen zu stehen scheint. *Mir brennt/raucht der Kopf*2 – diese Alltagsaussage passt zu dieser Abbildung, was auf eine Belastung oder auch eine Überlastung hinweist, die nicht auf körperliche Anstrengung zurückzuführen ist, sondern eher auf ein Nachdenken, Grübeln oder Sich-Sorgen-Machen hinweist, das überhandnimmt. In der Mitte der Collage prangt der Kopf eines Büffels, der die Betrachterin anzuschauen scheint, und obwohl nur die rechte Hälfte des Kopfes zu sehen ist, ist der Eindruck sehr lebendig, plastisch. Die feuchte Nase des dunkelbraunen Tiers und sein kleines glänzendes Auge wirken geradezu lebendig. Stoische Ruhe und Urtümlichkeit scheint das Tier zu vermitteln, das ohne Andeutung einer Umgebung zu sehen ist. *Nichts bringt mich aus der Ruhe* und *Nichts kann mich aus der Bahn werfen*, diese Assoziationen tauchen auf beim Anblick des massigen Kopfes, dessen eines Horn in Teilen zu sehen ist. Der Büffel verkörpert Kraft und Gelassenheit, aber auch die Bereitschaft, wenn notwendig, sein Gewicht und seine Hörner einzusetzen. Zudem gehört er nicht zu den domestizierten Tieren und begegnet dem Menschen als Vertreter ungezähmter Natur.

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Die Markierung *...* verweist darauf, dass die Worte oder Sätze hätten gesagt oder geschrieben werden können. Die Asteriske zeigen an, dass es sich um den Versuch einer Übersetzung handelt.

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Rechts oben ist das Bild einer Nachbildung eines menschlichen Kopfes oder Gesichtes aus Gold am Bildrand angeklebt und überragt ihn deutlich. Eine kleine Erläuterung am Bildrand erklärt den Kopf als antike Maske. Im Foto in Szene gesetzt, glänzt der goldene Kopf und scheint auf geheimnisvolle und für uns unzugängliche Zeiten und Orte hinzuweisen. Der Großteil dieses Bildausschnitts befindet sich außerhalb der Collage, und den Beobachtungen während der Produktionsphase ist zu entnehmen, dass der Bildausschnitt auch deshalb über den Rand hinaus geklebt wurde, damit man die Bilder auf der Rückseite sehen kann. Diese zeigt zwei verschiedene Variationen von Projektionen der Erde und einen Globus. Die große Unterschrift, die mitausgeschnitten wurde, lautet: „die Augen öffnen. Ganz offensichtlich“. Die Darstellungen der Erde sind ein erstaunlicher Kontrast zu der goldenen Maske – vor allem in ihrer Nüchternheit und dem Fehlen jedes Anflugs eines Geheimnisses. Und dennoch scheinen in der Collage beide Seiten eine Rolle zu spielen. Die Rückseite wirkt, auch durch ihre Bildunterschrift, wie ein Aufruf zur Aufklärung, zu einem möglichen Verstehen und Verständnis der Welt. Die Vorderseite trägt die Überschrift „Nachrichten aus Wissenschaft & Forschung“, die ebenfalls Teil des Originals ist, und darunter „GEOSKOP“. Es macht den Eindruck, als wäre in diesem Ausschnitt die Schrift auch als Herkunftsmerkmal des Bildausschnitts gedacht. Spielt es eine Rolle, dass das Bild aus GEO ausgeschnitten wurde? GEO ist eine Zeitschrift, die Themen aus Wissenschaft, Forschung und Gesellschaft aufwendig gestaltete Fotoreportagen widmet und sich „Das neue Bild der Erde“ auf die Fahnen schreibt. Oder ist der Grund für die erhaltenen Über-/Unterschriften einfach die Tatsache, dass sonst entscheidende Bildteile verloren gegangen wären? Die CollagenMacher_innen hätten in diesem Fall die Möglichkeit gehabt, die ungültige Schrift auszustreichen oder zu überkleben. Da sie diesen Weg nicht gewählt haben, ist davon auszugehen, dass der Text der Bildintention auf jeden Fall nicht widerspricht. Die rechte untere Ecke ist von einem gezeichneten Kopf ausgefüllt, von dem nur die oberen zwei Drittel zu sehen sind. Das faltige Gesicht und die fortgeschrittene Glatze lassen auf eine etwa 70 Jahre alte Person schließen. Es ist fraglich, ob der Kopf zu einem Menschen gehört, denn Öffnungen in der Schädeldecke lassen Kabel, Schalter und andere Technik sichtbar werden. Auf dem Scheitel öffnet sich ein Spalt, wie der eines Sparschweins, in den soeben eine EuroMünze fällt. Sechs kleine menschliche Gestalten mit Helm und Blaumann, die wie Bergsteiger gesichert sind, klettern an dem Kopf herum und scheinen Wartungsarbeiten zu erledigen. Aus dem Bereich jenseits des Bildausschnitts hängen Seile ins Bild. Die Augen schauen die Betrachterin neutral an. Der Mund ist nicht zu sehen. Zwei Assoziationen zu diesem Bild tauchen beim Betrachten auf:

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Wird das Hauptaugenmerk auf die Maschinenartigkeit gelegt, so wird eine Maschine, die Geld einnimmt, gewartet und instand gehalten. Ziel ist der Erhalt einer Geldquelle, deren Individualität keine Rolle spielt. Oder aber, der Aspekt des Alters spielt die Hauptrolle und dann wird ein alter, aber immer noch brauchbarer Apparat gewartet, so dass er weiterhin seine Funktion erfüllen kann. Die Falten, die dem Kopf den Eindruck des Alters verleihen, und die kleinen Glanzpunkte in den Augen geben dem Gesicht sehr menschliche Züge, die den Maschinencharakter deutlich vermindern. In der linken oberen Ecke der Collage steht, weiß auf schwarzem Grund und verhältnismäßig groß: „Angst vor dem“ und darunter ist ein zerbrochener Spiegel zu sehen. *Angst vor dem Zerbrechen* könnte eine beide Elemente verbindende Aussage sein. Rechts von den Scherben ist eine Menschenmenge zu sehen, die einen freien Raum um eine einzelne Person herum bildet. Diagonal über diesen Bildausschnitt ist die Zeile „Einer gegen alle“ geklebt. Das gesamte Bild ist in grau und Schwarztönen gehalten, vermittelt einen Eindruck von Einsamkeit in der Menge oder sogar den Zustand, von der Menge ausgeschlossen und zugleich Zentrum des Interesses zu sein. Die Figur in der Mitte des freien Platzes ist durch ihre Farbgebung noch einmal hervorgehoben. Sie ist, im Gegensatz zu den sie umgebenden grau-schwarzen Menschen, weiß. Sogar ihr Schatten fällt weiß auf den grauen Boden. In der Art der Darstellung dieses Bildelements wirkt das als ein beängstigender, wenn nicht bedrohlicher Zustand. An der am weitesten entfernten Stelle der leeren, von Menschen umgebenen Fläche ragt eine Leiter in die Höhe. Wo sie endet, ist nicht zu sehen. Diese Andeutung eines Ausweges wird jedoch durch die quer über den Bildausschnitt angeordnete Schrift von der allein stehenden Figur getrennt. Es entsteht der Eindruck, als könne sie die Leiter gar nicht sehen. Der Bildausschnitt ragt in den Textausschnitt „Angst vor dem“ hinein, der sich jetzt auch als *Angst vor dem Zustand des Einer-gegen-alle* lesen ließe. Das graue Bild der Einsamkeit-in-der-Menge oben rechts überschneidend ist ein Zitat angeordnet: „Wenn ich überlege, wie es mit mir mal sein wird, wird mir ganz anders“. Das Stichwort „Angst“ wird implizit wiederholt und mit einer körperlichen Empfindung verbunden, wobei das, weswegen einem „ganz anders“ wird, in der Zukunft liegt. Worauf sich „wie es mit mir mal sein wird“ genau bezieht, welcher Aspekt des Seins oder des Lebens gemeint ist, bleibt vage. Es macht den Eindruck, als könne es sich auch um das Leben an sich handeln, das mit großer Sorge verbunden ist. Aus dem Zitat spricht eine große Zukunftsangst, die über die räumliche Anordnung mit der Erfahrung „Einer gegen alle“ in einen engen Zusammenhang gebracht wird.

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Direkt neben dem Kopf mit brennendem Haar findet sich ein Ausschnitt, auf dem eine Frau in Rock, Bluse und Sandalen auf einem Stuhl in einem orangefarbenen Raum seitlich an einem Tisch sitzt und eine Tasse an den Mund führt. Hinter ihr sind gerahmte Bilder an der Wand zu sehen. Auf dem Tisch neben ihr, auf dessen Kante sie den Arm mit der Tasse lehnt, stehen Flaschen und Geschirr. Die gesamte Szene wirkt wie ein Café oder eine italienische Trattoria. Die Sitzhaltung der Frau wirkt, als mache sie Pause – wovon ist schwer zu sagen. Sie „hängt“ wenig damenhaft auf ihrem Stuhl: der eine Ellenbogen ist aufgestützt, der andere Arm hängt locker nach hinten über die Stuhllehne, die Beine und Füße sind entspannt nach vorn aufgestellt. Der erste Eindruck ist: sie macht Pause von ihrem Job als Kellnerin. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass sie eine Umhängetasche trägt, was den Gedanken nahe legt, dass sie in einem Café eingekehrt ist, um Pause zu machen. In diesen Ausschnitt hinein ist das Wort „Balance“ geklebt. Geht es um ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Erholung? Die nachlässige Haltung lässt die Frau erschöpft wirken. Sie scheint eine Pause, in der sie Kraft schöpfen kann, nötig zu haben. Oder aber sie sitzt entspannt bei einer (wohlverdienten) Tasse Kaffee, lässt die Seele baumeln und schaut ins Nichts. Direkt unter diesem Ausschnitt befindet sich eine kleine, grün bewaldete Insel mit Strand und Hütten am Wasser. Sie ist umgeben von türkis-blauem Wasser und scheint das Ideal einer quasi unbewohnten Südseeinsel darzustellen, der Inbegriff von Urlaub, Nichtstun, Ungestört-Sein, Ruhe. Ein ins Bild geklebter Textzusatz lautet „fix und fertig“. Das kann heißen, etwas ist bereit zur Nutzung, oder aber es ist die Beschreibung eines körperlichen und seelischen Zustands der Kraftlosigkeit. *Ich bin fix und fertig* wie auch *Ich bin reif für die Insel* sind Alltagsfloskeln, die einen hohen Grad an Erschöpfung beschreiben. Die Insel bietet Hinweise auf das dringende Bedürfnis nach Ruhe (vom Alltag) und Erholung von den Anforderungen des Lebens und nach der Übersichtlichkeit eines winzigen Eilands. Als Verweis auf ein Refugium der Rekreation und Erholung ist die Insel zugleich Hinweis auf das Gegenteil: Erschöpfung, Anspannung und Unübersichtlichkeit, die Alltagserfahrungen sind. In der linken unteren Ecke findet sich das Bild eines Schutzengels, als solcher durch das ausgeschnittene, schräg ins Bild geklebte Wort „Schutzengel“ markiert, und in roter und weißer Bekleidung mit ausgebreiteten Flügeln über einer angedeuteten Landschaft schwebend. Schutzengeln als mystischen Wesen wird nachgesagt, dass sie Menschen und Dinge im Auftrag einer göttlichen Macht beschützen und sie auf ihrem Weg begleiten. Zugleich stehen sie als Engel für das Göttliche, das Gute und Richtige = Gottgewollte, und rufen damit als ihr Gegenstück das Böse auf, vor dem es die Menschen zu schützen gilt. Zuge-

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spitzt gesagt, haben Schutzengel die Funktion einer Schutzmauer, die eine Begegnung des Menschen mit dem Bösen verhindert. Schränken sie den Menschen in seiner Lebensgestaltung ein, indem sie bestimmte Einflüsse fernhalten, oder ermöglichen sie die Entfaltung des Menschen, indem sie ihn vor Unheil schützen? Rechts neben dem Schutzengel ist eine Pendelwaage dargestellt. Sie ist von einer der Macher_innen der Collage gezeichnet worden. Der Balken der Waage zeigt ein Gleichgewicht an, zugleich ist die Waage selbst nicht ganz gerade aufgeklebt. Sie ist leicht nach links geneigt in Richtung des Schutzengels. Die Abbildung einer Waage lässt an Balance denken, an ein zu erreichendes Gleichgewicht. Die Waage ist auch ein Symbol für das Recht – ein Gleichgewicht zweier Personen ohne Ansehen ihrer jeweiligen Attribute. Auf jeden Fall ist das Gleichgewicht der Waage ein prekäres, da sie als Präzisionswerkzeug empfindlich auf Veränderungen reagiert: jede kleine Veränderung auf der einen oder anderen Seite macht sich in einem Sinken bzw. Steigen einer der Waagschalen bemerkbar. In der Zeichnung sind die Waagschalen leer; es wird nichts Spezifisches gewogen. Geht es tatsächlich gar nicht darum, etwas zu wiegen, sondern darum, auf die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Gleichgewichts hinzuweisen? Rechts neben der Waage ist der Textausschnitt „Der kleine Teufel in mir“ in roter Schrift angeordnet. Der „kleine Teufel“, das erinnert an Zeichnungen, auf denen ein kleiner Teufel und ein kleiner Engel rechts und links auf den Schultern einer Person sitzen und ihr ins Ohr flüstern. „Der kleine Teufel in mir“ ist auch eine Redefigur, mit der die Einzelne sich von eigenen Entscheidungen oder Handlungen distanzieren kann. Dinge, die man wider besseres Wissen und Wollen tut oder getan hat, werden dem „kleinen Teufel“ zugeschrieben und damit implizit aus dem Bereich der eigenen Verantwortung ausgenommen. Eine kleine handschriftliche Überschrift, über dem Kopf des Engels beginnend, lautet „Der ewige Kampf“. Sie ist so unauffällig gestaltet, dass sie zunächst gar nicht ins Auge fällt. Für sich genommen ist diese Überschrift zunächst nicht zu verstehen, denn es wird nicht darauf verwiesen, wer mit wem um was kämpft. Allerdings lässt schon das Wort „Kampf“, erahnen, dass es um einen zentralen und heftigen Vorgang geht, sonst hätte *Streit* genügt. Der Zusatz „ewig“ fügt der Rede vom Kampf noch ein verstärkendes Attribut hinzu. Dieser Kampf wird niemals beendet sein, egal wie sehr alle Beteiligten darunter leiden. Es wirkt überraschend, dass eine so deutliche und eindringliche Überschrift so klein und unauffällig daher kommt. Möglicherweise ist die Zeile gar nicht als Überschrift gedacht, sondern eher als Kommentar zu einem zur Genüge bekannten Phänomen, das darum nicht weniger virulent ist.

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Am linken unteren Rand des Büffelkopfes, rechts von „Der kleine Teufel in mir“ und der „fix und fertig“-Insel, findet sich ein Textausschnitt „Und nun?“ in großen schwarzen Buchstaben. „Und nun?“ ist eine Frage nach dem nächsten Schritt, nach dem, was als Nächstes zu tun wäre, nachdem bis zu diesem Punkt alles klar war. „Und nun?“ kann auch Ausdruck von Unsicherheit oder auch Frustration sein, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht und einen Plan durchkreuzt. Am oberen Rand über dem Büffelkopf finden sich zwei Bildelemente, die über einen Schriftzug zu einer Einheit verbunden werden. Der linke Ausschnitt zeigt drei Kinder in Badehosen und mit nassem Haar. Sie sind der Betrachterin zugewandt, lächeln etwas unsicher in die Kamera und halten jeweils eine Art Ausweis in die Höhe. Der Hintergrund wirkt wie eine Schwimmhalle. Im Bildausschnitt daneben ist eine Aufsicht auf einen naturwissenschaftlichen Hörsaal zu sehen. Vor der mit Formeln beschriebenen Tafel stehen etwa zehn Kinder, alle in weißen Kitteln, und sind intensiv mit Versuchsanordnungen beschäftigt. Zwei Erwachsene sind nah bei den Kindern, halten sich aber im Hintergrund und scheinen eher zu beobachten als selbst tätig zu sein. Es ist zu erahnen, dass der Hörsaal voll besetzt ist – wahrscheinlich mit Kindern. Das gesamte Bild wirkt wie eine Momentaufnahme einer sogenannten Kinder-Uni, bei der Kinder von etwa acht bis zwölf Jahren in besonderen Veranstaltungen in Universitäten an die Wissenschaft herangeführt werden sollen. Das verbindende Textelement zwischen den Bildausschnitten, das schräg nach rechts oben angeordnet ist und in die Bildelemente hinein ragt, heißt „für die Zukunft“. Es geht offenbar um Freizeit- und Lernsituationen, in denen sich Kinder befinden können, und diese sind verbunden mit einer Vorstellung von etwas Zukünftigem. Die Bildelemente in Verbindung mit Zukunft sind mehrdeutig: Handelt es sich bei den Kinderdarstellungen um Vorstellungen von einer Zukunft der Kinder, auf die hingearbeitet wird, oder werden die Kinder selbst zu Akteur_innen, die auf eine bzw. ihre Zukunft hinarbeiten? An der rechten unteren Ecke des Hörsaalbildes beginnt das in roter Farbe handschriftlich senkrecht nach unten geschriebene Wort „Anfang“, das an dem Bild eines unter grauem Himmel durch eine grüne Landschaft sich schlängelnden Feldwegs endet. Vor dem grauen Horizont ist ein einzelner Baum zu sehen. Das kleine Bild ist orange gerahmt. Unter dem Bild beginnt, ebenfalls in Rot und senkrecht nach unten geschrieben, das Wort „Ende“. Es endet auf der Höhe des Bildausschnitts, der die den alten Kopf zeigt. Die roten Schriftzüge scheinen „Anfang“ und „Ende“ des Wegs auf dem Bild zu markieren. Geht es darum, diesen Weg zu gehen, ihn abzuschreiten und all seine Windungen mitzunehmen? Die roten Wörter sind im Verhältnis zum Verlauf des Weges überraschend ange-

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bracht: „Anfang“ steht dort, wo die Betrachterin intuitiv das Ende des Weges vermutet hätte, nämlich dort, wo er in der Ferne verschwindet. „Ende“ ist dort vermerkt, wo der Weg breit und offen am unteren Bildrand ‚beginnt‘. Es entsteht das Bild eines Weges in der Rückschau. Über dem alten Kopf ist eine Zeichnung zu sehen, die ein um mehr als 90° gedrehtes Euro-Zeichen auf lilafarbenem Grund zeigt, das aus den blauen Silhouetten von Menschen gebildet ist. Neben diesem Symbol ist die Silhouette eines einzelnen Menschen zu sehen, der ein Schild trägt, das an ein Transparent auf einer Demonstration erinnert. Die Aufschrift des Schildes lautet „Mein Projekt“. Die anonyme Menge derer, die das Euro-Zeichen bilden, bildet einen Kontrast zu der Figur, die aus der Menge heraus tritt und mit ihrem Projekt sichtbar wird. Muss man sichtbar sein, um für das eigene Projekt Unterstützung zu bekommen? Sind Projekte immer mit Fragen und Problemen der Finanzierung verbunden? Der Inhalt dieses spezifischen Projekts, das jemand als „mein Projekt“ bezeichnet, bleibt offen. Möglicherweise sind schon das Heraustreten aus der Menge und das Sichtbarwerden als Einzelne_r Ziel und Inhalt genug, um als „Projekt“ bezeichnet zu werden. Das Projekt als *Unternehmung* wäre dann darauf ausgerichtet, wahrgenommen zu werden – und sei es nur wegen eines Transparentes. Die Person, die mit ihrem Projekt sichtbar wird, ist allein. Der_die Einzelne macht sich sichtbar und nicht eine Gruppe oder Gemeinschaft. Es geht um die Sichtbarkeit eines Individuums. Über dem Euro-Symbol ist ein Ausschnitt aus einer Karikatur zu sehen. Sie zeigt eine Szene, in der zwei sichtlich erschöpfte, Anzug-tragende Herren mit Aktentaschen im Urwald einem Eingeborenen mit Schild, Speer und Knochenschmuck im Haar gegenüberstehen. Im Hintergrund liegt ein Stapel Totenköpfe. Einer der Herren im Anzug teilt seinem Gegenüber mit „Wir suchen Leute, die schon immer gern was mit Menschen machen wollten.“ Der sichtbare Teil der Bildunterschrift erläutert: „...nd wirbt in aller Welt um Fachkräfte“. Die Karikatur bekommt im Zusammenhang der Lernwerkstatt mit Umschüler_innen eine besondere Note: Sitzen sie im Urwald des Arbeitsmarktes und hoffen darauf, gefunden zu werden? Über der Karikatur, möglicherweise als eine Überschrift oder ein Motto gedacht, findet sich in großen Buchstaben der Satz „Jetzt kommt die Erleuchtung“. „Erleuchtung“ als Alltagsbegriff beschreibt eine plötzliche Erkenntnis, ein unvorhergesehenes Verstehen, das aber durchaus auf der Basis vorhergegangener Lernbemühungen geschehen kann. Außerdem hat „Erleuchtung“ Anklänge aus einem spirituell-religiösen Kontext und bezeichnet etwas, das von außen (oder aus unzugänglichen Tiefen der eigenen Person) auftaucht und empfangen wird. Genauso unvermittelt scheint auch dieser Fall von Erleuchtung gemeint zu sein.

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Das Textelement hat keinen direkten räumlichen Berührungspunkt mit anderen Details der Collage. Fast könnte man meinen, es stelle eine Überschrift über den gesamten rechten Bereich der Collage dar. 7.3.4 Auslegung der Details in ihren Kontexten und im Gesamtkontext der Collage Innerhalb der Collage lassen sich thematische Blöcke bilden: Die linke obere Ecke ist den Themen Sorge und Zukunftsangst gewidmet und spricht auch das Risiko an, allein gegen alle anderen zu stehen an. Im Zusammenhang mit der Frage „Was bedeutet Lernen für mich?“ weist dieser Bereich der Collage einerseits darauf hin, dass Lernen immer auch Risiken birgt. Es bedeutet Veränderung, bringt Gewohnheiten und Überzeugungen in Bewegung und beinhaltet damit auch die Herausforderung, mit dem Neuen umgehen zu lernen und es mit dem, was bestehen bleibt, in Einklang zu bringen. Auch im Verhältnis zum sozialen Umfeld können Spannungen entstehen, die in der Veränderung des Altbekannten und Üblichen begründet sind und in der Situation eines „Einer gegen alle“ enden. Andererseits weist dieser Themenblock auch auf die Angst vor dem Scheitern hin. Die Situation als Lernende_r ist davon geprägt, dass jederzeit Fragen, Themen und Probleme auftauchen können, die nicht oder nicht ohne weiteres zu bewältigen sind und die die_den Lernende_n unter Umständen vor dem *Scherbenhaufen* ihrer_seiner Lernbemühungen stehen lassen. Die Angst davor „[…] wie es mit mir mal sein wird […]“ kann aus dieser Perspektive gelesen werden als *wie es sein wird, falls ich scheitere*. Es kann aber auch gelesen werden als *wie es wäre, wenn ich nicht lerne*, das hieße, wenn alles so bliebe wie bisher. Das macht eine dritte Perspektive auf diesen Themenblock auf: Es wird gelernt, obwohl und weil die Zukunft und vielleicht auch die Gegenwart Angst machen. Aus dieser Perspektive gibt es gute Gründe, Lernen für einen Weg aus einer angstbesetzten, beengenden Gegenwart zu halten. Die Leiter in der Menschenmenge erscheint als ein Hinweis dieser Betrachtungsweise. Lernen wird hier zu einer Möglichkeit, die Zwangsläufigkeit der Entwicklung aufzubrechen und Zukunft zu gestalten. Aus dem starren „wie es mit mir mal sein wird“, das die Zukunft als eine schon jetzt festgeschriebene erscheinen lässt, wird ein *wie es mit mir mal sein könnte*, das Horizonte des Möglichen unterstellt. Möglicherweise sind auch das sich in den Scherben spiegelnde Himmelsblau und die weißen Wolken ein Verweis auf die Chancen, die im Zerbrechen des Alten liegen?

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Die Mitte des linken Drittels der Collage ist dem Zugleich von Anstrengung und Erholung gewidmet. Die Frau im Café, das Haar in Flammen und die Insel, verweisen mit den zugeordneten Wörtern auf Momente körperlicher und geistiger Erschöpfung und zugleich auf einen möglichen Umgang damit. Unter der Perspektive der Vorstellungen vom Lernen sind hier Hinweise darauf zu finden, dass Lernen als Anstrengung verstanden wird, die sich vor allem auf den Kopf bezieht, die den Kopf zum Brennen bringen kann. Es wirkt nicht, als würde hier jemand ‚für eine Sache brennen‘. Die Frau im Café rechts daneben wirkt, als würde sie sich von der Arbeit erholen oder ‚einfach so‘ eine Pause machen. Sie bringt über ihre Körperhaltung einen ganzkörperlichen Aspekt in die Rede von der Anstrengung und der Erholung. Lernen erscheint als ein Prozess, der auch den Körper einbezieht und körperliche Erholung nötig macht. Der orangefarbene Hintergrund des Cafés nimmt die Farben der Flammen auf und stellt eine Verbindung her zwischen der Café-Szenerie, die Erholung verspricht, und dem flammenden Haar, das auf Überlastung hindeutet. „Balance“ ist das Wort, das den Moment im Café auf eine bestimmte Weise deutet: Es geht darum, eine Balance zu finden oder herzustellen zwischen den Anstrengungen, die die Lernsituation mit sich bringt und Zeiten der Erholung. Zusammen mit der Insel entsteht das Bild eines durch die Lernsituation und die damit verbundenen Anstrengungen hervorgerufenen Zustands der Erschöpfung. Man ist „fix und fertig“ und *reif für die Insel*, das heißt man braucht einen Ort, an dem man von allem Abstand gewinnen kann, der vollkommen anders ist als der Alltag. Die Insel ist ein Ort der Erholung, wenn die Anstrengung des Lernens bis an die Grenzen des Möglichen getrieben wurde. Die Notwendigkeit eines Ausgleichs wird über die Kombination „fix und fertig“ mit „Balance“ deutlich zum Ausdruck gebracht. Dieser Ausgleich kann im Lern-Alltag selbst gefunden werden, indem Unterbrechungen genutzt oder bewusst geschaffen werden, so dass Inseln im Alltag entstehen. Er kann aber auch einen Ausbruch aus dem Alltag nötig machen, die Flucht auf eine wie auch immer geartete Insel, deren Lage das Übergreifen des Alltags dorthin verhindert. Diese thematische Gruppe macht deutlich, dass Lernen als Anstrengung verstanden wird. Die Pause, der Ort jenseits der Anstrengung wird einerseits zu einem fast utopischen Gegenentwurf, zu einem besonderen Ort, der auch Ziel einer Fluchtbewegung sein kann, und zugleich zu einem wichtigen Moment des Lernens, auf den in der Darstellung deutlich hingewiesen wird. Die Balance zwischen Phasen der Anstrengung und der Erholung erscheint als Aufgabe, die von den Lernenden zu bearbeiten ist. Die linke untere Ecke mit dem „Schutzengel“, der Waage und dem „kleinen Teufel in mir“ ist dem „ewige[n] Kampf“ gewidmet. Offenbar gibt es einen

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Kampf, der beständig zwischen dem „Schutzengel“ und dem „kleinen Teufel“ ausgefochten bzw. mithilfe dieser beiden Protagonisten geführt wird. Zum zentralen Utensil dieses Kampfes wird in der Darstellung die Waage. Sie steht für Gleichgewicht bzw. Anzeige eines möglichen Ungleichgewichts. In der Collage sind die Waagschalen im Gleichgewicht, was darauf hinweisen kann, dass die Kräfte im Kampf ausgeglichen sind oder aber dass das Ziel ein ausgewogenes Kräfteverhältnis ist. Wo dieser Kampf stattfindet, bleibt offen. „Der kleine Teufel in mir“ weist darauf hin, dass es hier um einen Kampf geht, der wenigstens zum Teil innerhalb eines Individuums/eines Subjekts ausgefochten wird. „Der kleine Teufel“ treibt sein Unwesen „in mir“, während der „Schutzengel“ über den Dingen schwebt, eher ein Wesen des Himmels oder des Äthers ist, und weniger eines des Leibes, des „in mir“. Es ist denkbar, die Waage als Symbol für das Individuum zu lesen, das zwischen diesen beiden Wesenheiten steht und ihrem Tun insofern ausgeliefert ist, als es Anzeiger des aktuellen Kräfteverhältnisses ist. Der Gedanke an den religiösen Hintergrund der Figuren liegt nahe: der Engel, als Abgesandter einer göttlichen Macht, ist Symbol für das Gute, das Erstrebenswerte, während der Teufel, als abtrünniger Untertan eben jener göttlichen Macht, für den Widerstand gegen das Gesetz (Gottes) steht, für den Stachel im Fleisch einer allmächtigen Figur. Dieser „ewige Kampf“ zwischen Gut und Böse scheint in der Collage eine Reinszenierung zu erfahren. Die Waage wird zu einem trennenden und zugleich verbindenden Element: Sie steht trennt Engel und Teufel sichtbar voneinander und verbindet sie, indem sie die Handlungen, die der einen oder anderen Seite zuzurechnen sind, im Prozess des Wiegens miteinander in Verbindung bringt. Der Versuch, ein Gleichgewicht herzustellen, braucht beide Seiten! Im Kontext des Themas der Collage wird an dieser Stelle ein Kampf in Szene gesetzt zwischen dem, was „gottgefällig“, moralisch und in diesem Fall vielleicht gesellschaftlich erwünscht ist, nämlich zu lernen, und dem, was „des Teufels“, unmoralisch und verwerflich ist, nämlich sich den Anforderungen einer hier nicht näher bezeichneten moralischen Instanz zu widersetzen und nicht zu lernen. Der „Schutzengel“, äußere Unterstützung und Vertreter der moralische Instanz und Anforderung in einem, und der „Teufel“, in Form innerer (leiblicher?) Widerstände und als unmoralisch bewerteter Motive, treffen hier aufeinander. Die gesellschaftlichen Erwartungen, vertreten durch die Lehrinstitution (die im Übrigen auch Unterstützungsstrukturen anbietet, diesen Erwartungen gerecht zu werden), treffen auf ein Individuum, das aufgrund seiner inneren, leiblichen Verfasstheit, seines So-Seins, diesen Anforderungen nicht ohne weiteres entsprechen kann oder entsprechen will. Das Subjekt steht vor der Aufgabe, diese einwirkenden Kräfte derart zu bändigen, dass es als Subjekt handlungsfähig,

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das heißt in diesem Fall lernfähig, bleibt oder immer wieder wird. Der Kampf ist insofern „ewig“, als es nicht um eine Entscheidungsschlacht zwischen beiden Seiten geht, sondern darum, das Gleichgewicht immer wieder neu herzustellen, immer wieder handlungsfähig zu werden. In der lernenden Person treffen die Kräfte der Gesellschaft auf die Widerständigkeit des Individuums, die sich in seiner Leiblichkeit begründen. Ein Ausschnitt, der räumlich mit verschiedenen anderen in Verbindung steht, ist der Textausschnitt „Und nun?“, der sich an den „ewigen Kampf“, die „Insel“ und den Büffel anschließt. Zugleich steht er in räumlicher Opposition zur Gruppe „für die Zukunft“. Die Frage „Und nun?“ macht deutlich, dass „der ewige Kampf“ keineswegs einer mit einem klaren Ende, einem eindeutig definierbaren und sicher erreichbaren Ziel ist. Im Prozess des Lernens, im Bemühen um immer neue Lern- und Handlungsfähigkeit scheint der jeweils nächste Schritt klar, doch am Ende warten Fragen: *Wofür das Ganze?* *Was kommt als nächstes?* *Was habe ich erreicht und was folgt daraus?* *Was fange ich an mit dem Gelernten und Erreichten?* Es wird spürbar, dass Lernen aus sich heraus keinen festen Hafen bietet, in dem man anlegen kann, der Sicherheit bietet und Orientierung. Zeiten, in denen gelernt wird, sind durchzogen von der Frage „Und nun?“, nach dem *Und dann?*, die auf die Zukunft der Lernenden, das Ziel und den Sinn des Lernens abzielt. In der Collage wird die Frage nach dem Wofür des Lernens scheinbar eindeutig beantwortet: Eine wesentliche Orientierung besteht darin, für die Zukunft und zwar die Zukunft der Kinder zu lernen, wie die Bild- und Textausschnitte in der oberen Mitte, in räumlicher Opposition zu dem „Und nun?“, verdeutlichen. „Für die Zukunft“ verbindet das Bild von drei Kindern im Schwimmbad mit der daneben befindlichen Hörsaalszene. Hier zeigt sich, anders als in dem fragendunsicheren „Und nun?“, eine Sicherheit im Hinblick auf den Zweck des Lernens. Es wird nicht für die eigene Karriere, die eigene materielle Sicherheit gelernt, sondern für die Zukunft der nächsten Generation. Und diese Zukunft besteht auch darin, dass die Kinder wiederum in Lernsituationen entworfen werden, wie zum Beispiel beim Schwimmenlernen oder in der Schule oder Universität. Die Zukunft der Kinder besteht also auch darin, zu lernen und lernen zu können. In der Unterschiedlichkeit der Bildausschnitte wird auch eine Weite des Möglichkeitsraumes angedeutet, den die Kinder nutzen können. Sie können sich entfalten, sind nicht begrenzt in ihren Möglichkeiten. Zwischen Schwimmbad und Hörsaal ist vieles möglich. In Anbetracht der Situation der Produzent_innen der Collage wird deutlich, dass sie etwas, das ihnen möglicherweise verwehrt war, für ihre Kinder entwerfen. Klingt hier der bekannte Anspruch *Meine Kinder sollen es mal besser haben als ich!* mit?

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Die Bilder sprechen auf zwei Ebenen dafür: Auf der einen Seite sind die Kinder in beiden Bildausschnitten in Kontexten zu sehen, die etwas Spielerisches, Zwangloses vermitteln. Die Kinder im Schwimmbad haben gerade noch, so scheint es, im Wasser getobt; sie befinden sich an einem Ort, der mit Freizeit, Spiel, körperlichem Erleben verbunden ist. Die Kinder in der Kinder-Uni werden spielerisch an Inhalte der Wissenschaft herangeführt, an Forschen und Experimentieren. Der Bildausschnitt spricht für Neugier, Ausprobieren, Die-WeltEntdecken und für ein Lernen, das nicht für den unmittelbaren Gebrauch gedacht ist, das über das Notwendige hinausgeht. Auf der anderen Seite halten die Kinder im Schwimmbad eine Art Ausweis in die Kamera. Sie sind durchaus konfrontiert mit der Welt der Erwachsenen, in der man sich ausweisen und etwas nachweisen muss. Das etwas unsichere Lächeln, das sie zeigen, weist auf ein Gefühl der Fremdheit in dieser Welt hin. Die Kinder-Uni mit ihren Versuchen und Experimenten stellt eine Situation dar, in der Kinder an eine Welt herangeführt werden, die ihnen sonst verschlossen ist, und eine höchst technisierte und voraussetzungsvolle dazu. Die Kinder, die hier zu sehen sind, werden eingeführt in die Welt der Erwachsenen, die Welt der Arbeit und des Berufs. Sie werden vorbereitet auf ein Leben als Erwachsene, als Arbeitnehmer_innen. Auch das ist für die Collagen-Macher_innen ein Aspekt der Zukunft der Kinder: Sie werden Arbeitnehmer_innen sein, oder zumindest verbinden die Angehörigen der Elterngeneration diese Hoffnung und Erwartung mit ihrem je eigenen Lernen. Interessant ist der Blick von den Kindern im Schwimmbad aus nach links. Dort findet sich, die unteren Ränder sind auf gleicher Höhe, der Textausschnitt „Wenn ich mir überlege, wie es mit mir mal sein wird, wird mir ganz anders“. Neben einer besseren Zukunft der Kinder steht der Gedanke an die eigenen, wenig erbaulichen Aussichten. Liegt hier die Motivation dafür, für die Zukunft der Kinder zu lernen, in dem Sinne, dass man verhindern möchte, dass diese sich einmal derartige Gedanken machen (müssen)? Versteht man die beiden Bilder, die Kinder in unterschiedlichen Situationen zeigen, als Verweise auf Spaß und Freizeit einerseits (Schwimmbad) und eine explizite Lernsituation andererseits, so lässt sich eine Parallele herstellen zu der Bildergruppe, die eine Spannung zwischen Anstrengung und Erholung aufmacht. Aus der Perspektive der Erwachsenen gilt offenbar auch für die Zukunft der Kinder, dass das Leben Zeiten der Erholung, der Entspannung, der freien Gestaltung bereithält und solche der Konzentration und der zielgerichteten Tätigkeit. Eine weitere Spur, die zu dem Textausschnitt „Und nun?“ führt, ist eine Linie, die von dem Textausschnitt „Angst vor dem“ ausgehend über „Einer gegen alle“, die Kaffee trinkende Frau, „Balance“ und schließlich die Insel „fix und fertig“ verläuft. Es deutet sich ein Prozess, ein Verlauf an, der von großer Sorge,

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um die eigene Integrität, über ein Umgehen mit der Situation und ihren Herausforderungen, schließlich zu der Frage nach dem ‚Danach‘ führt. Unter dem Stichwort Lernen betrachtet, wird hier ein (Lern)Weg nachgezeichnet, der geprägt ist von einer Angst vor dem Zerbrechen und einer großen, körperlich spürbaren Sorge um die eigene Zukunft und der Erfahrung „Einer gegen alle“, in dessen Verlauf Phasen der Anstrengung und der Ruhe in Balance gehalten werden (müssen) und der (vor allem) am Ende ein großes Fragezeichen aufweist. Lernen, so lässt sich dieser Abschnitt lesen, trägt das Wozu nicht in sich. Lernen ist nicht an sich nützlich, sinnvoll oder bedeutsam. Es braucht eine Anbindung an die Lebenswirklichkeit der Lernenden, wie sie hier zum Beispiel im Bild der Zukunft und der Kinder entsteht. Die dringende Frage nach dem *Wozu* stellt sich offenbar nicht erst am Ende einer Lernphase, sondern die Lernenden stellen sie sich schon im Verlauf, wie bei der Produktion dieser Collage. Die Antwort auf diese wiederkehrende Frage, so kann man schließen, ist wesentlicher Bestandteil der damit immer wieder verbundenen Entscheidung weiterzumachen, weiter zu lernen, sich den Anstrengungen und Befürchtungen immer wieder auszusetzen. Der beschriebene Verlauf kann auch gelesen werden als eine Beschreibung des Außen des Lernens, nämlich der Umstände, in denen und der Bedingungen, unter denen Lernen stattfindet: Lernen findet für die Produzent_innen dieser Collage in einer Atmosphäre statt, die von der Angst vor dem Scheitern und der Angst vor oder um die eigene Zukunft geprägt ist und zugleich eine Anstrengung darstellt, die es auszubalancieren gilt. Direkt neben dem eben beschriebenen Verlauf findet sich der Büffelkopf, der die Mitte der Collage füllt. Er wirkt unbewegt und stoisch. Er ist einfach da. In dieser unbewegten Ruhe stellt er einen Gegenpol dar zu der Anstrengung und Sorge, die sich links von ihm abspielt. Seine räumliche Positionierung macht den Büffelkopf zu einem Dreh- und Angelpunkt der Collage. Was auch immer rundherum passiert, ist bezogen auf diese Qualitäten der Stärke, der stoischen Ruhe und des Durchsetzungsvermögens. Die rundherum dargestellten Aspekte des Lernens sind davon abhängig, dass die jeweils Lernenden diese Qualitäten haben oder entwickeln. Der Aspekt der Natur in Bezug auf Lernen stellt die Frage, inwiefern Lernen etwas ‚Natürliches‘ ist, das Menschen aus sich heraus tun und können, eine Fähigkeit, die ihnen mitgegeben ist. Im Verhältnis zu den aufwendigen Experimenten, die in der Kinder-Uni zum Einsatz kommen, könnte der Büffel auch für einen direkteren Weg zum Lernen stehen. Andersherum könnte der Büffel auch für eine unbekannte und nicht einzuschätzende Natur stehen, die auch ihre bedrohlichen, ungezähmten Seiten hat. Aus der Lernperspektive be-

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trachtet wäre die Frage zu stellen, inwiefern Lernen, wie auch an anderen Stellen der Collage gesehen, durchaus bedrohliche Aspekte hat. Die Frage „Und nun?“, in Bezug auf den Büffelkopf betrachtet, bekommt noch einmal einen anderen Klang: Mit der stoischen Ruhe des Büffels gefragt, verliert sie ihre Dringlichkeit, die Beantwortung darf Zeit brauchen. Zugleich kann man sich vorstellen, dass das Tier solange seinen ungerührten Blick nicht von einem wendet, bis man eine Antwort gefunden hat. Was die Frage an Dringlichkeit einbüßt, gewinnt sie an Beharrlichkeit. Diese Beharrlichkeit, die Ruhe und die Stärke des Büffels fließen auch mit ein, wenn man eine Linie von „Und nun“ zu der Bildgruppe „für die Zukunft“ zieht. Das Lernen für die Zukunft der eigenen Kinder oder die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für das Lernen der Kinder bekommt durch diese Beharrlichkeit eine spezielle Qualität: Dieses Lernen, so scheint es, ist nicht so leicht zu unterbinden oder abzulenken. In den Büffelkopf hinein ragt das orange-umrandete Bild eines Weges. Es befindet sich dort, wo sonst das linke Auge des Tieres zu sehen gewesen wäre. Die Wörter „Anfang“ und „Ende“ bilden eine senkrechte Linie über und unter dem kleinen Bild und parallel zum Rand des Büffelkopfausschnitts. Durch die Anordnung der Wörter scheint ein Weg in der Rückschau dargestellt zu sein. Bezogen auf einen Lernweg ist diese Anordnung durchaus nachvollziehbar: Das vorläufige Ende des Lernweges befindet sich direkt vor bzw. hinter mir. Ich bin den Weg bis hierher gegangen und das, was ich als letztes gelernt habe, ist mir noch sehr nah, während der Anfang, der Beginn des Lernprozesses sich in den Hügeln und Weiten der Vergangenheit verbirgt. Der Weg verschwindet in der Rückschau in der Ferne der mittlerweile durchschrittenen Lernlandschaft. Und: er war nicht gerade! Der vergangene Lernprozess war nicht die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten. Der Weg windet sich in Kurven durch die Landschaft, wobei ein Baum am Horizont und Zaunpfähle entlang des Wegs als Orientierungspunkte dienen können. Zugleich scheint der Weg in der Rückschau klar und ordentlich angelegt, ohne Hindernisse und Unebenheiten. Das steht in einem gewissen Kontrast zu der Anstrengung und Angst, die in der linken Bildhälfte so dominant sind. Wenn der hier abgebildete Weg jedoch tatsächlich einen Weg in der Rückschau darstellt, ergibt sich ein Sinn: Der Lernweg, solange man ihn vor sich hat, ist unsicher, voller Schwierigkeiten, Anstrengungen und Hindernisse und immer mit der Frage markiert: Wohin wird mich das, was ich gerade tue, führen? In der Rückschau kann den Lernschwierigkeiten und -anstrengungen ein Sinn zugeschrieben werden – wie das auch in biographischen Erzählungen geschieht. Das, was mir an Lernaufgaben und -hindernissen begegnet ist, wird zu schlüssigen Abschnitten, zu Teilen des Weges, die dahin führen, wo ich jetzt stehe.

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Es fällt auf, dass Weg und Landschaft menschenleer sind. Es scheint, dass Lernen oder Lernwege nicht als etwas konzipiert werden, bei dem Gemeinschaft eine große Rolle spielt. Was jedoch eine Rolle spielt, ist die lebensumspannende Qualität des Lernens: „Anfang“, „Weg“ und „Ende“ spannen in der Collage eine Verbindung auf zwischen den Themen ‚Kinder‘ und ‚Alter‘, indem sie die Kinder im oberen Teil der Collage mit der Abbildung des Kopfes eines alten Menschen verbinden. Die Kinder stellen sowohl einen Orientierungspunkt dar, auf den hin Lernen geschieht („für die Zukunft“), als auch den Anfang eines Lern(oder Lebens-?) Weges, der mit vielen Kurven und Umwegen letztendlich auch das Älter-Werden umfasst und im Alter endet. Der alte Kopf findet sich ganz links unten und bildet das untere Ende eines Bereichs der Collage, in dem sich Bildausschnitte befinden, die sich auf das Wozu des Lernen beziehen lassen. Eine Art Überschrift für die gesamte Spalte bildet das Textelement „Jetzt kommt die Erleuchtung“. Diese Aussage kann einen Ausruf der Überraschung oder eine Hoffnung am Ende einer Lernphase darstellen, die auf einen Zuwachs an Erkenntnis und Einsicht hinweist. Das heißt auch, dass erst mit oder am Ende des Lernprozesses klar wird, wozu das Ganze letzten Endes ‚gut‘ war, welche Wege jetzt neu offen stehen, was man erreicht hat. Die „Erleuchtung“ erscheint wie ein Aha-Erlebnis, ein plötzliches Augenöffnen, das neue Perspektiven erlaubt. Das Rätsel des Wozu verwandelt sich in die Hoffnung, als Fachkraft gesucht zu werden. Die Karikatur direkt unter der ‚Überschrift‘ spricht die weltweite Suche nach Fachkräften an, zu denen die Collagen-Macher_innen vielleicht eines Tages zu zählen hoffen. Das Euro-Symbol darunter versinnbildlicht die Hoffnung auf ein gutes Auskommen und die Möglichkeit, eigene Lebensentwürfe („mein Projekt“) umsetzen zu können. Der alte Kopf ganz am Ende der Reihe steht dann für ein Lernen, das auch im Alter möglich (und nötig?) ist. Dieses Lernen im Alter macht einiges an Reparatur- und Instandhaltungsarbeit notwendig, sprich: ein ständiges Weiter- und Neulernen der Einzelnen erfordert Unterstützung und Zutun von außen. Sich fit halten und fit gemacht werden für ein lebenslanges Lernen steht als Vorstellung hinter diesem Bild. Hier treten der Einzelne und die Gesellschaft in ihrer Verwobenheit auf. Gesellschaftliche Vorstellungen und Anforderungen treffen auf die Möglichkeiten des Einzelnen. Alle Bildausschnitte im rechten Bereich der Collage haben eine Besonderheit, im Vergleich zum Rest: die scheinen alle in gewisser Hinsicht ironisch überzeichnet oder gewendet. Unter einer ‚Überschrift‘, die im Zusammenhang mit Lernen von „Erleuchtung“ spricht, findet sich eine Karikatur, die eine wenig überzeugende Suche nach Fachkräften im Dschungel stattfinden lässt, ein Euro-

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Zeichen, das auf dem Kopf steht, und eine Zeichnung, die den Kopf eines alten Mannes in eine hochtechnisierte und zugleich oder deswegen extrem wartungsbedürftige Spardose verwandelt. Oder wird hier gar nicht auf eine Spardose angespielt, sondern auf einen Automaten, der nach Einwurf entsprechender Münzen, ein vorher gewähltes Programm abspult? Das würde Lernen noch einmal in ein anderes Licht stellen: Lernen bestünde in diesem Fall darin, Programme zu verinnerlichen, die dann auf Anfrage – und gegen ein entsprechendes Entgelt – automatisch abgespult werden. Auch „mein Projekt“ steht Kopf! Die Ziele und Hoffnungen, die mit dem Lernen verbunden werden, bekommen aus dieser Perspektive alle etwas Gefährdetes, etwas Uneindeutiges, so als wäre nicht ganz sicher, dass das alles so kommen wird oder kann, und wenn ja, ob das wohl eine gute Entwicklung wäre. So kommt die Sorge, die sich auf der anderen Seite der Collage gezeigt hat, wieder zum Vorschein. Hier ist sie allerdings weniger offensichtlich, nimmt sich selbst nicht so ernst oder darf sich nicht so offen zeigen. Ganz rechts, eigentlich außerhalb der Collage findet sich das Bild einer goldenen Maske. Diese fällt räumlich deutlich aus dem Rahmen: sie ist fast vollständig außerhalb der Collage angebracht und hat keinerlei räumliche Berührungspunkte zu anderen Text- oder Bildausschnitten. Durch ihre Position lässt sie sich als Kontrastfolie, als Gegenpol oder -entwurf zum Rest der Collage lesen. Und: die Rückseite des Bildelements ist ebenfalls Teil des Bildes. Die Kartenausschnitte und Globen und die Textzeile "die Augen öffnen. Ganz offensichtlich!" scheinen zusammen mit dem goldenen Kopf auf ein Wissen von der Welt hinzuweisen, das außerhalb des Lernkontextes liegt, in dem sich die Collagen-Produzent_innen befinden. Die Lage außerhalb des Rahmens der Collage lässt darauf schließen, dass die Maske auf etwas verweist, das außerhalb des sonst Verhandelten und Dargestellten liegt: Das Andere des Lernens. In Umkehrung der Themen, die in der Collage sonst sichtbar werden, handelt es sich hier um ein Lernen, das nicht von Sorgen und Ängsten, besonderer Anstrengung oder Kämpfen geprägt ist. Es braucht keine besondere Kraft oder Stehvermögen, ist nicht in besonderer Weise zukunftsorientiert oder auf Zukunft ausgerichtet und bezieht seine Rechtfertigung nicht aus Zielen, wie einer Ausrichtung auf einen Beruf oder Geld. Es ist eine Form des Lernens, das mit Leichtigkeit geschieht, das aus sich selbst heraus Freude bereitet und sein Ziel in sich selbst trägt. In dieser Lernperspektive, die einen weitgestellten Blick auf die Welt in ihren Zusammenhängen und Bedeutsamkeiten zulässt, haben Themen wie die hier thematisierte Archäologie Raum, die nicht einem direkten Anwendungsgebot gehorchen und nicht an einen Verwendungszusammenhang gebunden sind, und die zugleich, darauf weist das Kartenmaterial auf der Rückseite hin, ein Wissen und Denken in großen Zusammenhängen ermöglichen und fördern. Diesem Anderen

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des Lernens ist das Wissen über die Welt wichtig und weniger die Frage nach dem direkten Nutzen für die eigene Situation. Nimmt man die Collage insgesamt in den Blick und die in ihr aufgerufenen Themen, ist Lernen eng eingebunden in das persönliche (Er)Leben. Individuelle (Zukunfts-)Sorgen und Hoffnungen werden zusammen mit der Frage nach Lernvorstellungen aufgerufen und stellen einen Kontext des Lernens dar, in dem Ziele und Begründungen formuliert werden. Was auffällt, ist das völlige Fehlen inhaltlicher Lernfelder. Das Lernen ist orientiert an einer relativ abstrakten Zukunft für die Einzelnen selbst, die wiederum im Zeichen der Sorge für die nächste Generation steht. Der Weg dorthin scheint unabhängig von konkreten Lernthemen oder -feldern. Das Was spielt keine Rolle, während das Wie zur zentralen Herausforderung wird. Wiederholt wird sichtbar, dass ‚Lernen‘ auch das Aufeinandertreffen der Einzelnen mit des Gesellschaft beinhaltet. Die „Kampf“-Metapher weist die Mühe hin, die es macht, die Anforderungen des Außen mit den subjektiv Möglichen, dem „Innen“ zu vermitteln. Dieser Kampf trägt bei zu der empfundenen Spannung zwischen Angst und Sicherheit. Auch das Herstellen einer „Balance“ ist eine notwendige Tätigkeit, das Gleichgewicht stellt sich nicht von allein her. Lern- und Handlungsfähigkeit erscheint als ein prekäres Gut. ‚Das Andere des Lernens‘ erscheint in der Collage als ein Ort der Freiheit und Unbelastetheit. Es existiert abseits der vorherrschenden Lernvorstellungen und spielt für die Bewältigung des alltäglichen Lernens scheinbar keine Rolle. Dennoch wird es sichtbar gemacht und eröffnet einen Gegenhorizont, der das Bild des Lernens vervollständigt. Die Collage selbst enthält Hinweise darauf, dass die CollagenProduzent_innen ihre Annahmen über Ziele und Bedeutung des Lernens nicht als ungebrochen wahrnehmen. Die ironischen Verfremdungen und Überzeichnungen auf der rechten Seite der Collage weisen auf eine Distanzierung von den dargestellten Sachverhalten hin, die eine Befragung und Reflexion möglich macht. Der Büffelkopf im Zentrum der Collage erfüllt eine ähnliche Funktion: Er ist einerseits zentraler Bezugspunkt für alle Themen, auf die rund um ihn verwiesen wird. In seinen Merkmalen Kraft und Ruhe bildet er die Basis aller Lernanstrengungen. Andererseits stellt er einen Gegenpol dar zu einem Lernen, das Menschen zurichtet auf Gesellschaft, indem er in seiner Ungezähmtheit auf die Möglichkeit des Widerstandes verweist. In der folgenden Tabelle sind links zentrale Stichworte der Beschreibung und Auslegung aufgeführt, die rechts zu kursiv gesetzten Teilnehmer_innen-Positionen und über die Einzelcollage hinausweisenden Verstehensaspekten zusammengefasst werden.

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Tabelle 1: Übersicht "Köpfe" Themen in der Collage

Auslegung der Teilnehmer_innen-Position und Verstehensaspekte

Ruhe, Kraft, Beharrlichkeit

Lernen ist keine Selbstverständlichkeit; man muss mit Kraft und Beharrlichkeit dafür sorgen, dass es Platz bekommt. Um zu Lernen braucht es Kraft und Beharrlichkeit, mit denen die Hindernisse, die dem Lernen im Weg stehen, ausgeräumt werden.

Ursprüngliche Natürlichkeit

Lernen kann, tut und will jede[r] Lernen ist dem Menschen von der Natur mitgegeben. Das Interesse zu lernen ist angeboren.

Aufklärung, Wissen, Augen öffnen, Welt, Das neue Bild der Erde, das Andere des Lernens, Bildung, Welt-Wissen

Lernen heißt, immer mehr wissen und immer mehr verstehen, auch mal über das Notwendige und Nützliche hinaus. Lernen heißt, Wissen über die Welt erwerben, um das, was in der Welt geschieht, verstehen zu können. Es gibt ein besonderes Lernen, das nicht vor allem auf ein BestehenKönnen in der unbefragten Realität ausgerichtet ist.

Alter, Lernen im Alter, Instandhaltung/Wartung

Lernen kann man auch, wenn man alt ist. Außerdem muss man immer weiter lernen, damit man, auch wenn man schon älter ist, noch einen Arbeit findet. Lernen ist bis ins Alter möglich, und zugleich ist es notwendig zu lernen, um im Alter noch einsatzfähig zu sein.

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Themen in der Collage

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Auslegung der Teilnehmer_innen-Position und Verstehensaspekte

Geld, Arbeit

Ein gut bezahlter Job ist ein guter Grund zu lernen. Eine Arbeit zu finden, mit der man ausreichend Geld verdienen kann, ist eine Lernmotivation.

Sorgen, Angst, Bedrohung, Ausweg, Schutz, Zukunftsangst, Unsicherheit, Zerbrechen (Scherben), Scheitern, Ausweg

Lernen macht Angst, dass man es nicht schaffen könnte, und gleichzeitig tut man es, um weniger Angst vor der Zukunft haben zu müssen. Lernen ist mit Sorgen und Zukunftsangst verbunden. Diese gründen einerseits im Lernen selbst, dessen Scheitern möglich ist. Andererseits sind sie Lernmotivation, indem Lernen Zukunftssicherheit verspricht.

Körperlichkeit, körperliche Empfindung, Pause, Erholung, Gleichgewicht/Balance, „reif für die Insel“, Anstrengung – Erholung, Pausen im und Pausen vom Alltag, Erschöpfung, Lernbedingungen, Leiblichkeit

Lernen ist anstrengend und man muss aufpassen, dass man eine Balance hinbekommt zwischen Lernen und Nicht-Lernen. Lernen ist ein Prozess, der mit körperlicher und geistiger Anstrengung verbunden ist. Die Aufgabe der Lernenden besteht darin, eine Balance herzustellen zwischen Anstrengung und Erholung.

Kampf, Lernfähigkeit, Gut – Böse, Innen – Außen, Gesellschaft, Moral, Verantwortung

Lernen heißt kämpfen und zwar darum, mehr zu können, und darum, weiter zu lernen. So wie ich gestrickt bin, muss ich mich immer wieder dazu durchringen das zu tun, was von mir erwartet wird. Lernen ist ein beständiger Kampf um die eigene Lern- und Handlungsfähigkeit, den das Lernsubjekt auszufechten hat beim Aufeinandertreffen von gesellschaftlichen Ansprüchen und individueller Verfasstheit.

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Themen in der Collage

Auslegung der Teilnehmer_innen-Position und Verstehensaspekte

Ziel/Sinn, Lernen – Zukunft – Nur was etwas mit mir zu tun hat, kann ich verstehen und lernen und das Gelernte in ZuZukunftsoffenheit, Lernen braucht ein Ziel in der kunft nutzen. Lernen ist auf die Zukunft hin orientiert, Lebenswirklichkeit bedarf aber zugleich einer Anbindung an die Lebenswirklichkeit der Lernenden. Aus dieser Verbindung können die Lernenden den Lerninhalten Sinn und Bedeutung zuschreiben. Zukunft, Lernweg (gewunden), (Lern)Biographie

Man weiß nie, ob Lernen dahin führt, wo man hin will, aber man ist durch Lernen dahin gekommen, wo man ist. Die eigene Lernbiographie gleicht in der Rückschau einem gewundenen Weg, der auf Umwegen dahin geführt hat, wo die_der Lernende gerade steht.

Sichtbarkeit, Individualität

Lernen tue ich allein und ich habe davon Vorteile. Lernen ist ein individueller Vorgang, der individuelle Anerkennung möglich macht.

Einsamkeit, soziales Umfeld

Meine Freunde und Bekannten verstehen nicht, warum ich in meinem Alter oder meiner Situation lernen will, und finden das überflüssig. Das soziale Umfeld hat kein Verständnis für individuelle Lernbemühungen und steht dem Lernenden ablehnend gegenüber.

Neugier, Entdeckungen machen, Lernen als Möglichkeit(sraum), Entfaltung

Mit Neugier und Entdeckerfreude macht Lernen Türen in die Welt auf. Lernen mit Neugier und Entdeckerfreude eröffnet einen Möglichkeits- und Entfaltungsraum.

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Quelle: Eigene Fotografie

Abbildung 2: Collage „Unperfekt Heart“

7.4 ANALYSE UND I NTERPRETATION DER C OLLAGE „U NPERFEKT H EART “

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7.4.1 Erster Eindruck Die Collage wirkt sehr dicht und das glänzende rosafarbene Herz lenkt den Blick ins Zentrum des Bildarrangements. Dieser Eindruck von Leuchtkraft findet sich wieder in dem Labyrinth links oben. An vielen Stellen der Collage finden sich Menschen, die der Betrachterin in unterschiedlichen Situationen und Ausschnitten präsentiert werden. Das Alter der Menschen reicht vom wenige Tage alten Säugling bis zum alten Mann. Ein roter Faden, der sich von links oben nach rechts unten schlängelt und über den Rand der weißen Collagenunterlage ragt, gibt Rätsel auf. Rechts oben fordert ein säuberlich gebasteltes Heftchen mit rotem Einband und weißen Seiten die Betrachterin auf zu schauen, ob die Seiten, die man erahnen kann, wohl beschrieben sind. Die Bildausschnitte und auch die Textausschnitte sind in der Mehrzahl ausgerissen und nicht ausgeschnitten und scheinen ohne besondere Ordnung und Richtung aufgeklebt zu sein. Rechts und links oben ragen zwei Ausschnitte deutlich über die weiße Collagenbasis hinaus. Rechts der Mitte unten durchbricht ein weiterer Ausschnitt den Rand. Bild und Schrift scheinen in einem ausgewogenen Verhältnis zu stehen und sich wechselseitig zu ergänzen und aufeinander zu beziehen. Der erste Eindruck der Bilder und Textausschnitte ist der einer offenen, neugierigen, fröhlichen Grundstimmung. 7.4.2 Formaler Bildaufbau Die Collage ist auf den ersten Blick wenig geordnet. Es gibt ein Zentrum, ein pinkfarbenes Herz, dessen Zentrum wiederum ein Textblock „everybody's unperfekt“ bildet. Die meisten Bilder und Textausschnitte sind mehr oder weniger diagonal angeordnet, das heißt sie folgen nicht einer Ordnung der Waagerechten und Senkrechten. Das Zentrum ist eine Ausnahme. Sowohl Herz als auch Text sind „gerade“ angeordnet. Ein wie eine Überschrift wirkender Schriftzug „Ich will wissen“ ist ebenfalls waagerecht und befindet sich in der Mitte des oberen Bildrandes. Direkt rechts neben dem zentralen Herz findet sich ein Bildausschnitt, dessen Bildunterschrift „Übern Berg“ waagerecht ist, das Bild selbst ist aber von schrägen Linien geprägt; die wandernde Frau und ihre Stöcke bilden die einzigen Senkrechten. Quer über das Bild, von oben links nach unten rechts, verläuft in Windungen, Ausbuchtungen, Schleifen und Knoten ein roter Faden.

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Oben links und rechts sowie unten rechts der Mitte ragen Bildausschnitte über die weiße Collagenbasis und damit über den sonst eingehaltenen Bildrand hinaus. Eine Organisation der einzelnen Bilder ist nur schwer auszumachen. Man könnte vielleicht von einer verdichteten Ellipse sprechen, die von der Mitte des linken Bildrands zur Mitte des unteren Bildrands verläuft. Hier scheinen neun Einzelbilder zu einem größeren Komplex zusammengefügt zu sein. Obwohl es nur wenige sofort ersichtliche Zusammenhänge gibt, ist keines der Bilder ohne räumliche Anbindung. Alle haben mit einem oder mehreren anderen Bildern Kontakt. Neben dem roten Faden, der einen Ausbruch aus der Zweidimensionalität darstellt, gibt es in der rechten oberen Ecke ein gebasteltes kleines rotes Buch oder Heft, das mit der Rückseite auf der Collage festgeklebt ist und seine Seiten zum Lesen anbietet. Auch hier ist die Zweidimensionalität durchbrochen. Obwohl es keinen offensichtlichen Fluchtpunkt zu geben scheint, ist festzustellen, dass die Gesichter und die Richtung der Aktionen mehrheitlich auf die Mitte des Bildes weisen oder aus einer zentralen Position die Betrachterin anschauen. Lediglich die Frau mit dem Roboter und die Wandernde fallen aus diesem Muster. Sie wenden sich von der Mitte ab bzw. bewegen sich von der Mitte fort. Der Roboter selbst ist wiederum zur Mitte ausgerichtet. 7.4.3 Betrachtung und Beschreibung der Details Das Zentrum der Collage bildet ein pinkfarbenes Herz, das extra zu diesem Zweck aus einem Stück pinkfarbenem Papier ausgeschnitten wurde. Es leuchtet fröhlich und lädt ein, sich der Collage zu nähern. Auf das Herz ist ein Textausschnitt geklebt: „everybody’s unperfekt“ steht in gelben Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Die Vorsilbe „un-“ ist in orange-farbenen Buchstaben kursiv gesetzt. Der Ausschnitt bildet ein Rechteck, wobei die obere Kante schief ist. Auffallend ist, dass in der englischen Aussage das deutsche Adjektiv „perfekt“ verwendet wird. Hat sich da unbemerkt ein Fehler eingeschlichen oder ist der Fehler Teil der Aussage ‚jeder Mensch ist unperfekt‘? Der Ausschnitt selbst ist jedenfalls nicht perfekt mit seiner schrägen Kante und dem nicht ganz sauberen Schnitt unten. Die Aussage spricht mich direkt an als eine, die mit dem Herz zusammengehört: *Menschen liebevoll wahrnehmen in ihrer Unvollkommenheit.* Vielleicht auch so: *Das Herz, das Gefühl, die Emotionen können nicht mit dem Maß der Perfektion gemessen werden.* In das Herz hinein ragt ein Ausschnitt, der ein sitzendes Mädchen von etwa sechs Jahren mit einem Heft auf dem Schoß zeigt. Das Heft ist als Notenheft zu

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erkennen. Reste einer Bildunterschrift „n bedürftiger Kinder“ sind nicht abgeschnitten worden. Über der unteren Kante des Bildes ist gerade noch das Knie des Mädchens mit einem Loch in der weißen Strumpfhose zu erkennen. Das Mädchen macht einen fröhlich-aufmerksamen Eindruck. Die Reste der Bildunterschrift geben zu denken. Ist das Mädchen eines der „bedürftigen Kinder“? Das Loch in der Strumpfhose spricht im ersten Moment dafür. Allerdings könnte jedes Kind aus verschiedenen Gründen im Moment dieser Aufnahme eine kaputte Strumpfhose tragen. Über dem fröhlich lächelnden Mädchengesicht klebt ein Bildausschnitt, in den das Mädchen gerade noch hinein ragt. Ein blondes, etwa dreijähriges Kind schaut unter einer Decke hervor, unter der es mit einer deutlich älteren Person liegt, die das Kind anschaut. Das Kind reckt seinen Kopf und Oberkörper nach oben, während die Decke weiterhin seine Schultern bedeckt. Die Person neben dem Kind schaut es an und scheint etwas zu ihm zu sagen. Das Kind macht einen ernsten und entschlossenen Eindruck, als lausche es auf etwas oder habe gerade beschlossen, was als nächstes zu tun sei. Der Bildausschnitt vermittelt einen Eindruck von Vertrautheit zwischen den beiden Personen. Der Ausschnitt mit dem blonden Kind ragt in einen Textausschnitt „ich will wissen“ hinein. Der Ausschnitt wirkt dunkel, während die Schrift weiß darüber gelegt ist. Er ist von den Macherinnen der Collage mit einem schmalen grünen Rahmen versehen worden. Der Ausschnitt ist mittig etwas unterhalb des oberen Randes der Collage aufgeklebt. Er wirkt durch seinen Rahmen und seine Position wie eine Überschrift über die Collage, die allerdings zwischen den benachbarten Ausschnitten, die alle größer sind, untergeht und nicht als erstes ins Auge fällt. Die Wirkung als Überschrift wird so verfehlt. Weiter nach rechts ist ein Ausschnitt zu sehen, der eine junge Frau in einer zunächst etwas unklaren Situation zeigt. Was sie gerade tut, wo sie sich befindet, ist nicht sofort ersichtlich. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass sie in Jeans, T-Shirt, Jacke und Turnschuhen, rücklings auf einer Wiese liegt, was sich anhand einiger Grashalme und Wiesenblumenblüten folgern lässt, die ins Bild ragen. Sie streckt die Beine in die Luft. Die Hände, die zum Teil von einem Textausschnitt „NACH GETANER ARBEIT IST GUT RUHEN“ verdeckt werden, sind über den Kopf erhoben. Sie blickt die Betrachterin von unten herauf an und lächelt breit. Ihre langen schwarzen Haare sind offen und verwuselt, ihr Gesicht allerdings wirkt ordentlich geschminkt. Insgesamt wirkt sie, als habe sie sich im Spiel auf einer Wiese herum gerollt und wäre dabei überraschend fotografiert worden. Sie wirkt entspannt und offen, als würde sie die fotografierende Person kennen und sie zum Mitspielen auffordern.

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Der erwähnte Textausschnitt „NACH GETANER ARBEIT IST GUT RUHEN“, der in einer Art Handschrift gesetzt ist, verbindet die beschriebene Szene räumlich mit einem Bildausschnitt, der das Profil eines älteren Herrn mit Brille und Schnauzbart (Günter Grass) zeigt, der schreibt oder zeichnet. Zu sehen ist nur das Gesicht, ein Teil des Ohres, etwas Haar und eine hohe Stirn. Der rechte Arm ruht auf einer Unterlage und er hält in der halb verdeckten Hand einen Stift oder Ähnliches. Der Mann macht den Eindruck großer Konzentration. Er lässt sich von der Situation des Fotografiert-Werdens nicht ablenken und ist ganz bei seiner Arbeit. Das Bild vermittelt auch durch die Bildkomposition die vollkommene Konzentration auf das, was dort mit Hilfe von Stift und Hand entsteht. Die Linien von Nase, Brillengestell, Augenlid und Arm weisen alle in Richtung der Unterlage, auf der etwas geschieht, das die Betrachterin nicht sehen kann. Genau auf der Mitte zwischen der Nasenspitze des Mannes und seiner rechten Hand, ihm im Grunde die Sicht nehmend, ist ein von den Gestalterinnen selbstgemachtes kleines Heft mit rotem Umschlag und weißen Seiten aufgeklebt. Das Heft durchbricht die Zweidimensionalität der Collage und fordert dazu auf zu sehen, ob sich die Seiten umblättern lassen und ob sie beschrieben sind. Sie sind beschrieben und zwar mit je einem Wort: „Man-lernt-nie-aus“, wobei „lernt“ senkrecht von oben nach unten geschrieben ist und die ganze Höhe einer Seite ausfüllt. Das Rot des Hefts lässt es freundlich wirken und zugleich bekommt es durch seine Farbe und durch seine Dreidimensionalität einen Signalcharakter. Das Heft oder Buch selbst und sein möglicher Inhalt scheinen eine wichtige Rolle in der Collage zu haben. Zusammen mit dem Schriftzug „NACH GETANER ARBEIT IST GUT RUHEN“ scheint das Heft eine Verbindung herzustellen zwischen der jungen Frau im Gras und dem alten Mann, die im Grunde einen maximalen Kontrast darstellen, sowohl in Bezug auf ihr Alter als auch in Bezug auf ihre Pose. Der Arm des Mannes führt den Blick zu einem Bildausschnitt, der in das Bild hinein ragt und die Schreibhand halb verdeckt: Zu sehen ist eine Frau mit Wanderstöcken und Rucksack, die durch eine karge Berglandschaft bergauf steigt. Die Frau ist im Profil zu sehen und scheint aus dem Bild hinaus zu gehen. Ihr Blick ist nach vorn und unten auf den Weg gerichtet und sie macht den Eindruck großer Entschlossenheit und Konzentration. Die Bildunterschrift „Übern Berg“ ist Teil des Bildausschnitts. Das Bild dieser Frau, die allein in den Bergen unterwegs zu sein scheint, ruft in mir vor allem den Gedanken an ‚draußen sein‘ und ‚unterwegs sein‘ wach, sowie Qualitäten, die damit verbunden sind, wie Aktivität, körperliche Anstrengung, Zufriedenheit beim Erreichen des Gipfels, Genügsamkeit, weil das, was als Gepäck tragbar ist, begrenzt ist. Der Text „Übern

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Berg“ kann einmal so gelesen werden, dass er sich tatsächlich darauf bezieht, einen Berg zu überwinden: „Übern Berg“ ist man in diesem Fall dann, wenn man den Gipfel oder den Kamm erreicht hat und auf der anderen Seite ins Tal schauen kann. Anders gelesen ist „Übern Berg“ eine Metapher, die oft im Zusammenhang mit Krankheiten Verwendung findet: „Übern Berg“ sind Patient_innen dann, wenn sich ihr Zustand soweit stabilisiert hat, dass man sich keine Sorgen mehr machen muss. „Übern Berg“ steht in beiden Fällen für einen Moment der Entspannung, der Ruhe nach einer Phase der Anstrengung und Unsicherheit, der im Falle der Metapher einen Blick in eine wieder mögliche Zukunft zulässt und im Falle der konkreten Bergsituation einen Ausblick ins Tal und damit auf den weiteren Weg erlaubt. Ein Ausschnitt mit Text berührt dieses Bild auf der linken Seite: „Voller Energie“ ist diagonal angeordnet und scheint auf die Frau mit Rucksack zu weisen. Rechts neben der Wandernden und unter dem Bildausschnitt des Schreibenden befindet sich ein Ausschnitt, der drei Personen, eine Frau und zwei Männer mit zwei Totenschädeln zeigt. Die Frau, die im Hintergrund zwischen den Männern steht, ist in hellblaue Krankenhauskleidung gekleidet, die auf eine Arbeit in einem Operationssaal verweist. Sie hält einen der Schädel in der einen Hand und eine Art medizinisches Werkzeug in der anderen, mit dem sie den Schädel zu bearbeiten scheint. Im Vordergrund sitzen einander halb zugewandt zwei Männer an einem Tisch (wobei nur die Tischplatte als holzartig gemaserte Oberfläche zu sehen ist); zwischen ihnen befindet sich der zweite Schädel. Einer der Männer hält ihn, während der andere mit einem spitzen Werkzeug etwas zu zeigen scheint. Die beiden sehen jedoch nicht auf den Schädel, sondern in eine jeweils andere Richtung, als wären dort – außerhalb des Ausschnitts – weitere Personen zugegen. Das Bild wirkt merkwürdig unzusammenhängend. Die Schädel passen thematisch zwar zu der Frau im OP-Kittel, doch nicht zu den beiden Männern im Vordergrund, die sportlich-leger mit Kurzarm-Hemd bzw. T-Shirt bekleidet sind. Zudem ist die Blickrichtung der beiden weder aufeinander noch auf den Schädel gerichtet, obwohl dieser doch eigentlich das Zentrum des gemeinsamen Interesses sein sollte, da sie doch beide mit ihm beschäftigt sind. Die Blicke und die Aufmerksamkeit scheinen stattdessen auf ein Publikum gerichtet zu sein, das nicht zu sehen ist. Alles in allem wirkt das Bild wie während einer Wissenschaftsshow oder im Theater aufgenommen: Die OP-Ärztin oder OPSchwester, im Hintergrund und zugleich im Zentrum des Ausschnitts, scheint zusammen mit den Männern im Vordergrund und den Schädeln ein Stück aufzuführen. Dieser Eindruck wird noch unterstrichen vom Braunton des Hintergrun-

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des und der hölzernen Tischplatte, die so gar nicht zu den Schädeln oder Medizin im weitesten Sinne zu passen scheinen. In den Bildausschnitt mit den Schädeln ragt ein Textausschnitt hinein: „Freie Zeit“ in großen Buchstaben und darunter, wesentlich kleiner: „Kino · Musik · Literatur“. Er taucht für die Betrachterin überraschend auf, da der Bildausschnitt darüber nicht darauf hinweist, dass es um „Freie Zeit“ gehen könnte. Der Bildausschnitt darunter, in den „Freie Zeit“ ebenfalls hineinragt, zeigt das Gesicht einer Frau (Julia Roberts), das von golden-warmem Licht angeleuchtet wird. Das Gesicht ist halb im Schatten. Ihr Blick wirkt freundlich und offen und ist in die Ferne gerichtet. Sie sieht aus, als würde sie entspannt und zugleich aufmerksam in der Abendsonne stehen. Ein Textausschnitt „TASTEN, RIECHEN, FÜHLEN“ schließt sich an den unteren linken Rand dieses Bildausschnitts an. Der Ausschnitt ist an einer Stelle eingerissen und dann wieder geklebt worden. Er bleibt für mich unangebunden und an dieser Stelle rätselhaft. Direkt unter das Wort „FÜHLEN“ geklebt, befindet sich ein Bildausschnitt, der Kopf und Oberkörper eines mittelalten Mannes zeigt. Dieser trägt ein schwarzes Hemd, und er hat eine Glatze und einen Dreitagebart. Er ist schräg von oben aufgenommen worden, wohin auch sein Blick weist. Er schaut die Betrachterin von unten herauf an. Arme und Hände sind nicht zu sehen, stattdessen etwas wie Rauch oder Nebel, wo diese sonst zu erwarten wären. Der Blick des Mannes wirkt fragend und vielleicht etwas ängstlich, zugleich aber freundlich. Er könnte gerade eine Frage gestellt haben und nun eine (eventuell ablehnende) Antwort erwarten. Der Hintergrund ist grau und der Mann ist von schräg hinten hell beleuchtet, was den Eindruck einer Theaterbühne oder eines anderen Ortes einer Inszenierung hervorruft. Links von diesem Mann bilden zwei Bildausschnitte eine Einheit. Der eine zeigt den gemalten Kopf eines Mannes, dessen Gesicht gequält wirkt und aus dessen Ohren Rauch aufsteigt. Seine Augen sind entweder geschlossen oder aber der Blick ist nach unten gerichtet. Der andere Ausschnitt ist an die Stelle der Stirn und des Scheitels des gemalten Kopfes geklebt und zeigt die Fotografie von Oberkörper, Kopf und Armen eines Mannes in Trainingsjacke und T-Shirt. Dieser schaut die Betrachterin geradeaus herausfordernd an, streckt die Zunge heraus und hat beide Hände auf der Höhe der Schultern zu einem Symbol der Ablehnung und Beleidigung (Stinkefinger) geformt. Er sieht angespannt und aggressiv aus. Die beiden räumlich so dicht aufeinander bezogenen Bildausschnitte bilden ein stark kontrastierendes Paar bzw. eine Einheit und verbinden die Haltung einer sichtlich unterlegenen, unter Druck geratenen Person mit der einer protestierenden und herausfordernden. Geht es hier um den Kontrast zwischen

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äußerer Erscheinung und innerer Haltung? Ruft der wie auch immer ausgeübte Druck Abwehr hervor? Wer sind die Adressaten der Aggression? Als Betrachterin fühle ich mich einerseits direkt angegriffen und empfinde Ablehnung gegen diesen unhöflichen und sozial unangepassten ‚Störenfried‘ in der sonst von einer positiven Grundstimmung getragenen Collage. Andererseits bin ich froh, dass die Harmonie sichtbar durchbrochen wird und sich nicht alles nur in Wohlgefallen bewegt. Links neben dem Kopf mit rauchenden Ohren schließt sich ein dicht mit verschiedenen Ausschnitten beklebter Bereich an, dessen Mitte ein etwas schräg von oben links nach unten rechts ausgerichteter Textausschnitt „ICH BIN STARK“ in schwarzer Schrift auf weißem Grund bildet. Der größte Bildausschnitt klebt parallel zur Schrift unterhalb derselben und zeigt die Beine einer Frau im kurzen schwarzen Kleid von der Taille abwärts. Das rechte Bein steckt bis zum Oberschenkel in einem Gipsverband. Aus dem Gipsverband ragen Zehen mit rot lackierten Zehennägeln hervor, während am anderen Fuß ein hochhackiger schwarzer Schuh zu sehen ist. Die Frau geht auf eine Gehhilfe gestützt und offenbar neben einer Person, deren um ihre Hüfte gelegte Hand zu sehen ist. Der Ausschnitt wirkt, als würde die abgebildete Person zu einer Feier gehen, von der sie sich auch von ihrem Handicap nicht abhalten lässt. Der Kontrast von weißem Gips und schwarzem Kleid ist stark. Es verwundert fast, dass der Schaft der Krücke grün und nicht schwarz ist. *Es ist alles eine Frage des Auftretens* scheint der Ausschnitt zu sagen. Am linken Ende des Textausschnitts ist ein Bildausschnitt zu sehen, der eine Gruppe kostümierter Personen zeigt. Im Hintergrund sind weitere Personen zu sehen, die ebenfalls kostümiert zu sein scheinen. Die Personen wirken sehr selbstbewusst und fröhlich. Eine Frau präsentiert sich in einer herausforderndselbstsicheren Pose: das Gesicht und eine Schulter dem Publikum zugewandt, den Brustkorb herausgestreckt und die Hand in die Hüfte gelegt. Die gesamte Gruppe wirkt wie auf einer Feier. Die Einzelnen wirken ausgelassen bis euphorisch. Sie bilden über die Ähnlichkeit ihrer Kleidung eine Gruppe. Rechts neben den feiernden Menschen, wiederum parallel zum zentralen Schriftzug, findet sich ein Bildausschnitt, der im Vordergrund zwei junge Frauen an einem Tisch zeigt, die jeweils einen Tablet-Computer vor sich haben und sich über etwas, bezogen auf das Gerät, auszutauschen scheinen. Im Hintergrund sieht man weitere junge Menschen mit ähnlicher Beschäftigung sitzen. Die beiden im Vordergrund wirken aufmerksam und doch entspannt. Der Raum selbst wirkt sehr voll und eng, wie der Hörsaal einer Universität. Rechts neben diesem Bildausschnitt ist ein Ausschnitt zu sehen, der Kopf und Schulteransatz einer Frau zeigt, die der Betrachterin das Gesicht zuwendet

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und ein etwa zweijähriges Kind auf dem Arm trägt. Die Frau hat einen offenen Blick und lächelt unangestrengt. Im Hintergrund ist ein Platz zu ahnen, auf dem Menschen gehen oder stehen. Die dunklen Haare und das dunkelblaue Jackett der Frau kontrastieren mit dem Blond des Kindes und ihrer eigenen hellen Haut. Ihr Gesicht fällt in diesem Kontext als leuchtende Einheit auf. Diese Frau mit Kind wirkt trotz ihrer Bürde unbelastet und offen für die Welt. Links unten in der Ecke befindet sich ein Bildausschnitt, auf dem eine Frau im Dreiviertelprofil zu sehen ist. Man sieht ihr abgewandtes Gesicht und ihre Arme, während sie sich mit einem kleinen anthropomorphen Roboter beschäftigt, der auf einem Tisch vor ihr steht und vollständig zu sehen ist. Dieser Ausschnitt ist mittels eines Textausschnitts mit dem Bildausschnitt mit der Frau mit Gipsbein verbunden: „Fehler machen heißt Erfahrungen sammeln“ klebt in einer langen Zeile zwischen beiden Ausschnitten. Der Ausschnitt in der Ecke wirkt seltsam abgehängt, obwohl er über die Schrift an die Bild-Text-Gruppe darüber angebunden ist und sich der Roboter-Ausschnitt und der Gipsbein-Ausschnitt fast berühren. Der Text bleibt an dieser Stelle rätselhaft. Wer macht Fehler? Und wobei? Und welche Erfahrungen werden dabei gemacht? Die Frau, die sich mit dem Roboter beschäftigt, wirkt vorsichtig, aufmerksam, fast ein wenig zärtlich beim Berühren seiner Oberfläche. Ebenfalls ambivalent im Hinblick auf Verbundenheit und Unverbundenheit bleibt ein Bildausschnitt, der einen jungen Mann in Jeans und schwarzem T-Shirt zeigt, der mit angezogenen Beinen und über dem Brustkorb verschränkten Armen auf nacktem Betonboden liegt und zu schlafen scheint. Hinter ihm ist der untere Rand einer metallenen Absperrung zu sehen, die von hinten mit Karton oder Holz verkleidet zu sein scheint, so dass ein Hindurchsehen nicht möglich ist. Der Kopf des Schlafenden ruht auf dem Bauch einer ebenfalls dort liegenden Person, die auf dem Rücken liegt und nur zum Teil zu sehen ist. Die Absperrung wirkt schmutzig und abweisend und die beiden Schlafenden erscheinen in diesem Kontext etwas verloren. Der Ausschnitt findet sich über dem Bildausschnitt mit den jungen Frauen im Hörsaal und berührt diesen. Am linken Ende des Ausschnitts mit den Schlafenden befindet sich ein Textausschnitt „HEUTE: HILFREICHE SPRICHWÖRTER“, der den Bildausschnitt knapp kreuzt. Am gegenüberliegenden Ende bildet das senkrecht von oben nach unten aufgeklebte Wort „Erfahrung“ zusammen mit dem Bildausschnitt einen rechten Winkel. Das Bild der auf dem Boden Schlafenden wirkt, als würde es von den Texten gerahmt. Es fällt auf, dass das „HEUTE: HILFREICHE SPRICHWÖRTER“ in einer ähnlichen, an eine Handschrift erinnernden Schrift gesetzt ist, wie das rechts oben aufgeklebte „NACH GETANER ARBEIT IST GUT RUHEN“, allerdings ohne die Unterstreichung. Wird so eine Verbindung

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möglich zwischen der rechten oberen Hälfte, wo das Bild mit der jungen Frau im Gras zu finden ist, und dem Mann, der auf dem Boden schläft? Das senkrecht geklebt Wort „Erfahrung“ stellt außerdem eine räumliche Verbindung her zu dem blonden Mädchen und dem zentralen Herz. Das linke obere Viertel der Collage wird von zwei großen Bildausschnitten gefüllt: Einer zeigt ein grünes Muster auf dunklem Grund (oder umgekehrt?), das wie ein Labyrinth aus Hecken wirkt. Über dem Labyrinth befindet sich ein Ausschnitt in Schwarz-Weiß, der die Köpfe einer Dreiergruppe bestehend aus einer jungen Frau, einem Neugeborenen und einem jungen Mann zeigt. Sie scheinen zu liegen, es ist allerdings nicht ersichtlich, wo. Die Köpfe befinden sich dicht nebeneinander. Die junge Frau schaut etwas unbestimmt in die Ferne, während der junge Mann aus halb geschlossenen Augen das Neugeborene anzuschauen scheint und den Mund geöffnet hat, wie um etwas zu sagen. Das Neugeborene hat die Augen geschlossen, eine Hand zur Faust geschlossen und reckt den Kopf im Suchreflex der Säuglinge in Richtung des Gesichts des Mannes. Die Gruppe wirkt wie eine Familie, wobei die ‚Mutter‘ etwas verloren wirkt, da ihr Blick in die Ferne geht und sie – jedenfalls in dem hier sichtbaren Ausschnitt – ohne Körperkontakt zu den beiden anderen zu sein scheint. Der Bildausschnitt, der das Labyrinth zeigt, ragt an zwei Stellen in den schwarz-weißen Ausschnitt hinein und zugleich in den Ausschnitt mit dem blonden Jungen, der unter einer Decke hervorschaut. Eine weitere Verbindung zwischen den drei Bildausschnitten „Labyrinth“, „Familie“ und „blondes Kind“ bildet der Textausschnitt „Ich will Klartext, keine Klauseln.“, der über die rechte obere Ecke des braun-grünen Ausschnitts geklebt ist, Stirn und Auge des Mannes im den Schwarz-Weiß-Ausschnitt verdeckt und bis in den Bildausschnitt mit dem blonden Jungen reicht. Über die gesamte Diagonale der Collage von links oben nach rechts unten ist ein dünner roter Faden gelegt, der in Windungen, Schleifen und Knoten mehrheitlich auf, an einer Stelle aber auch unter den Bild- und Textausschnitten verläuft. Der Faden verläuft genau durch die Ecken der weißen Collagenbasis, endet aber nicht dort, sondern ragt in die Leere außerhalb der Collage hinaus. Der Faden durchbricht, wie auch schon das rote Büchlein rechts oben, die Zweidimensionalität der Collage; etwas haptisch Erlebbares wird Teil der Arbeit: Der Faden ist an vielen Stellen beweglich, nicht fixiert und fordert, ähnlich wie das Buch auf, ihn zu untersuchen.

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7.4.4 Auslegung der Details in ihren Kontexten und im Gesamtkontext der Collage Die Collage besteht zu einem großen Teil aus Bildausschnitten, die Menschen zeigen. Diese Menschen werden zum Teil in einem Kontext, z.B. bei einer bestimmten Tätigkeit gezeigt, zum Teil sind sie offensichtlich für den Zweck der Collage aus ihrem ursprünglichen Bildkontext herausgeschnitten/-gerissen worden. Es fällt auf, dass Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlichen Geschlechts dargestellt sind. So bildet die obere Querreihe von links nach rechts eine Serie, die sich mit *Lebensalter* überschreiben ließe. Hier finden sich Bildausschnitte, die Menschen vom Säuglings-, über das Kindes- und das junge Erwachsenenalter bis ins höhere Alter zeigen. Lernen wird hier als ein in der Lebenszeit von Menschen verortetes Geschehen gefasst, das quasi mit dem ersten Schrei beginnt und bis ins fortgeschrittene Alter reicht. Diese Aussage wird unterstrichen von dem in dem roten Heft verborgenen Satz „man lernt nie aus“, das sich in der Nähe des alten Mannes befindet. Zugleich werden mit dem Bildausschnitt in der linken Ecke, der eine Familienkonstellation darstellen könnte, und dem Bildausschnitt rechts daneben spezifische soziale Situationen dargestellt, die auf das Thema Generativität und Familie verweisen: Einmal sind eine ältere Person und eine jüngere (auch hier wahrscheinlich Eltern- und Kindgeneration) in Interaktion; einmal liegt ein Säugling zwischen seinen Eltern. Diese Ausschnitte verweisen damit nicht nur auf ein Lebensalter, sondern auch auf die soziale Einbettung von Lernen. Lernen, so zeigen diese Ausschnitte, findet in sozialen Kontexten statt. Andere Bildausschnitte verweisen ebenfalls auf das Thema Sozialität und legen zugleich eine Bewertung nahe: die Gruppe der kostümierten Frauen links etwas unterhalb der Mitte, die jungen Frauen im Hörsaal und die Frau mit dem Kind auf dem Arm sind verbunden durch den Satz „Ich bin stark“, der eine positive Konnotation nahe legt. Lernen wird zu einem Geschehen in Gemeinschaft oder zu einem Prozess, der in Gemeinschaft besondere Qualitäten bekommt. Vielleicht wären *gemeinsam lernen macht stark*, *im gemeinsamen Lernen wird meine Stärke deutlich* oder auch *stark bin ich in der/durch die Gemeinschaft* passende Übersetzungen dieses Aspekts der Collage. „Ich bin stark“ lässt aber auch eine andere Betrachtungsweise zu: da auf den Bildern, die um diesen Satz angeordnet sind, mehrheitlich Frauen zu sehen sind, kommt die aktuelle Diskussion um die Mehrfachbelastung von Frauen in den Sinn, die Arbeit und Familienleben organisieren und bewältigen wollen und müssen. Besonders die Frau mit dem Kind auf dem Arm weist in diese Richtung.

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Sie bietet dem Kind einen sozialen Kontext des Lernens und Groß-Werdens, ist selbst aber in ihrer tragenden Rolle allein. Auch die anderen Bildausschnitte dieser Gruppe weisen auf Anforderungen hin, denen Frauen heute begegnen, und von denen angenommen wird, dass sie sie erfolgreich bewältigen: Lernen in Schule und/oder Universität, Umgang mit Technik (Computer und Roboter), soziale Einbindung und die Herausforderung, notfalls auch an Krücken das Leben zu bewältigen. Aus dieser Perspektive wird „Ich bin stark“ entweder zu einer Art Beschwörungsformel, die auf eine den Frauen innewohnende Kraft verweist, die die Belastung tragen hilft, oder aber zu einer Selbstzuschreibung, die sich aus (gesellschaftlichen) Erwartungen in Bezug auf die Aufgaben von Frauen speist. In die Zukunft projiziert kann Lernen hier zu einem Werkzeug werden, diese Stärke zu erhalten oder auszubauen. Mit diesem Filter wird auch sichtbar, dass in den Textelementen dreimal das Wort „ich“ auftaucht und zwar in Forderungen an die Welt („Ich will wissen“, „Ich will Klartext, keine Klauseln“) und in einer Affirmation oder Forderung an sich selbst („Ich bin stark“). Hier wird ein Individuum imaginiert, das sich der Welt gegenüberstellt, sei es, indem sie_er für sich etwas einfordert, sei es in der Affirmation der eigenen Stärke, die es als besonders markiert. Diese Betonung des Individuums steht dem Aspekt der Sozialität und Gemeinschaft, der an verschiedenen Stellen sichtbar wird, deutlich gegenüber. Welche Erfahrungen mit der Abwesenheit von Stärke, nämlich mit Schwäche, gemacht wurden, kommt ambivalent zum Vorschein: die Frau mit Gipsbein ist objektiv in einer Situation der Schwäche. Sie braucht Unterstützung, hier in Form einer Krücke und evtl. auch eines stützenden Menschen, von dem nur eine Hand zu sehen ist. Dennoch lässt sie sich nicht davon abhalten, in der Öffentlichkeit aufzutreten, und hält es zudem nicht für notwendig, ihre „Schwachstelle“ zu verhüllen. Wird hier Schwäche demonstrativ zur Schau gestellt. Ist es ein deutliches *Trotzdem* im Angesicht der Einschränkung? Ganz anders der parallel zu dem Bildausschnitt mit dem weiblichen Gipsbein angeordnete und etwas aus der Gruppe um „Ich bin stark“ herausfallende Ausschnitt mit dem jungen Mann, der vor einem Absperrgitter schläft. Dieser eher dunkel und grau wirkende Ausschnitt stellt einen Kontrast zu der darunter befindlichen Bildergruppe dar, die, trotz aller Unterschiedlichkeit der Motive doch hell, freundlich, farbenfroh wirkt. Der Schlafende sieht durch seine Körperhaltung aus, als schütze er sich, und wirkt trotz der zweiten schlafenden Person allein. Die liegende Position deutet Unterlegenheit an. Selbst wenn hier nicht Obdachlosigkeit thematisiert werden soll – was mein erster Gedanke war –, so wird die Position der Schwäche hier offensichtlich und bleibt ungebrochen. Der Schlafende ist wehr- und schutzlos der Umwelt (z.B. den Blicken möglicher Passant_innen) ausgesetzt.

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Wo die Frau mit dem Gipsbein trotz ihres Handicaps aufrecht der Welt begegnet (soweit man das an diesem Bildausschnitt festmachen kann), bleibt der Schlafende eine Verkörperung der Verletzlichkeit und Schwäche. Wie ein Damoklesschwert schwebt es – räumlich gesehen – über der Vorstellung von Stärke. In der liegenden Position ist der Schlafende dem blonden, aufmerksam blickenden Kind und dem Säugling ähnlich, die jedoch nicht allein sind. Die Erwachsenen, so wird im Kontrast mit dem Schlafenden deutlich, erfüllen in Bezug auf (ihre) Kinder auch eine Schutzfunktion. Der scheinbar gradlinige Verlauf vom Säugling zum Alter wird kontrastiert von dem als Labyrinth deutbaren grünen Muster direkt unter dem Säugling. Das Labyrinth steht für Verwirrung und Verirrung, für Uneindeutigkeit und Sackgassen und zugleich für ein Gebilde, das nur aus Wegen besteht, die alle gleich zu sein scheinen, es aber letztendlich nicht sind. Im Labyrinth gibt es keinen geraden Weg, der unausweichlich zum Ziel führt. Ebenso weist die Forderung „Ich will Klartext, keine Klauseln.“ daraufhin, dass Eindeutigkeit nicht selbstverständlich ist, denn sie muss offenbar eingefordert werden. Liest man das Labyrinth als Symbol für Lernwege/-verläufe/-prozesse wird das zusammen mit der Forderung nach „Klartext“ zu einem Hinweis auf eine überwiegende Uneindeutigkeit von Lernverläufen. Auf einer Ebene scheint der Lernweg demnach eindeutig zu sein: „man lernt nie aus“ – das ist nicht zu diskutieren. Auf einer anderen Ebene, dann, wenn es um den konkreten Weg, das Wie und das Was des Lernens geht, scheinen Eindeutigkeit und Klarheit zu Ende. „Der rote Faden“, der sich über die Collage zieht, verweist auf einen ähnlichen Themenkomplex: Es geht um die Suche nach einer Richtschnur im Lerngeschehen. Ein roter Faden, zum Beispiel in einem Vortrag oder einer Unterrichtsstunde, hilft dabei, sich zu orientieren, gibt Sicherheit. Wenn ein roter Faden zu sehen ist, heißt das, die vortragende Person hat ihr Ziel vor Augen und weiß, wohin sie ein Thema bringen möchte. „Der rote Faden“ in dieser Collage ist nun mitnichten die kürzeste Verbindung zwischen den beiden Ecken, die er verbindet. Die Windungen, Knoten und Schleifen verweisen auf Umwege und Irrwege, die mit dem Lernen verbunden sind, und dennoch zeigt der Faden in der Draufsicht eine generelle Richtung an, die der Prozess nimmt. Auch wenn die Richtung aus der Sicht der jeweiligen Akteure im Lerngeschehen eventuell nicht sinnvoll erscheint, so führt der Faden grundsätzlich und aus der Distanz betrachtet sichtbar in eine Richtung. Aus welcher Position diese Distanz möglich ist, bleibt an dieser Stelle offen. Es ist jedoch auch eine andere Betrachtungsweise des roten Fadens möglich: ausgehend von dem Säugling und im Grunde jenseits von ihm beginnend könnte der „Rote Faden“ auch für eine Art Lebensfaden stehen. Aus dieser Perspektive

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wird der Faden aus der Rückschau sichtbar. Er stellt so etwas wie den *roten Faden der Biographie* dar, der unbenommen aller ‚Schlenker‘ und Umwege doch dahin führt, wo man im Moment steht, und aus diesem Moment heraus seinen Sinn bezieht. Auch scheinbare Lebensumwege werden im Nachhinein zu Momenten (gemacht), die ihren ganz eigenen Beitrag geleistet haben zum Erreichen des Jetzt. ‚Wer weiß, wofür es gut ist‘, dieser populäre Kommentar angesichts der Unwägbarkeiten des Lebens scheint auf etwas Ähnliches zu verweisen: Elementen eines Lebens oder eines Lebensabschnitts werden im Rückblick Bedeutungen zugeschrieben, die sich aus einer Gesamtschau der nachfolgenden und vorangegangenen Elemente ergeben. Die Konstruktion einer Biographie wird letztendlich zu einer Konstruktion eines (scheinbar schon immer) existenten „roten Fadens“. Der Begriff der Bedeutung/des Sinns ist der, der die beiden Betrachtungsweisen ‚Lernweg‘ oder ‚Lebensweg‘ verbinden kann: Sowohl der rote Faden im Lernen, als auch derjenige im Leben, steht für die Suche nach einer Bedeutung dessen, was geschieht bzw. was gelernt wird, und für die Unterstellung einer solchen Bedeutung. Ein roter Faden versetzt in die Lage, aus sonst unverbundenen Informationen eine Einheit, ein zusammenhängendes Ganzes zu machen. Das Bild vom roten Faden wird verwendet, wenn in einem komplexen, länger andauernden Geschehen deutlich markiert ist, welche der möglichen Bedeutungen in diesem Kontext relevant sind und wie diese Bedeutungen zusammengehören, um einen Sinn zu ergeben. Der „Rote Faden“ in Zusammenschau mit dem Labyrinth erinnert an den Mythos vom Minotauros: der Faden der Ariadne zeigt Theseus nach seinem Sieg über den Minotauros den Weg aus dem Labyrinth. Es geht also um eine Reduktion der Möglichkeiten, aber auch um einen Kniff, der die Logik des Labyrinths aushebelt: Aus Mehrdeutigkeit wird Eindeutigkeit. Die „Klauseln“ im Kontrast zum „Klartext“ sagen etwas Ähnliches: Im Gestrüpp der Klauseln kann man sich ebenso verirren wie in einem Labyrinth, sie bedürfen der Deutung, während „Klartext“ auf Eindeutigkeit verweist. Im Hinblick auf die Bedeutung von Lernen lässt dieser Komplex verschiedene Betrachtungsweisen zu: a) beim Lernen geht es darum, sich nach und nach immer weniger verwirren zu lassen und zu verirren, also immer mehr Klarheit zu gewinnen, b) Lernen wird erlebt als ein Labyrinth, das mit Hilfe eines Roten Fadens bezwungen werden kann, c) Lernen ist Labyrinth und roter Faden zugleich; es schafft Verwirrung, bringt Eindeutigkeiten ins Wanken und ist im selben Moment Werkzeug, um mit der Verwirrung umzugehen, durch sie hindurch zu gehen. Was das Ziel dieses Weges ist, bleibt jedoch unklar.

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Etwas entfernt von dem Labyrinth und der Forderung nach „Klartext“ findet sich der Satz „Ich will wissen“ wie eine Überschrift, grün umrandet in der Mitte des oberen Randes der Collage. Worauf antwortet diese Aussage, im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung von Lernen? Zunächst verweist sie auf das Ziel von Lernen: Der Wille zu wissen ist etwas, das die Produzentinnen der Collage konstatieren. Woher dieser Wille kommt und wohin er führt, bleibt offen. Das Kind, das aufmerksam unter der Decke hervorlugt, scheint eine Illustration darzustellen: Ohne sich von der Person neben sich ablenken zu lassen, versucht es – die weit geöffneten Augen und der entschlossene Gesichtsausdruck deuten darauf hin –, die Welt im wahrsten Sinne des Wortes zu „durchschauen“. Der Satz „Ich will wissen“ ist insofern bemerkenswert, als er eine Ellipse darstellt: das Objekt des Wissen-Wollens fehlt, das das Verb üblicherweise ergänzt. Es scheint weder darum zu gehen, etwas Spezifisches wissen zu wollen, noch darum, mit diesem Wissen etwas zu tun, sondern um den Zustand, wissend zu sein. Dieser Zustand wird zu einem Ziel von Lernen. Das Wort „wissen“ aus der Überschrift trifft in der Collage auf den Begriff „Erfahrung“. Einmal findet dieser sich ohne weiteren Text zwischen dem schlafenden jungen Mann und dem Mädchen mit dem Buch auf den Knien und ein weiteres Mal in dem Satz “Fehler machen heißt Erfahrung sammeln“, der den Bildausschnitt mit der Frau und dem Roboter mit dem Bildausschnitt mit dem Gipsbein verbindet. Erfahrungen sind offenbar etwas, das mit Lernen in Verbindung gebracht wird. Und man kann Erfahrung, nach den Kontexten zu urteilen, in denen das Wort auftaucht, in den unterschiedlichsten Situationen machen. Das Spektrum reicht vom Schlafen im Freien und auf nacktem Boden bis hin zum Umgang mit Technik und einer körperlichen Einschränkung. Sowohl Kinder als auch Erwachsene machen oder „sammeln“ Erfahrung. ‚Aus Erfahrung lernen‘, diese in Alltagszusammenhängen oft gebrauchte Floskel scheint hinter dem Motiv zu stehen. Im Zusammenhang mit der Aussage „Fehler machen heißt Erfahrung sammeln“ kommt eine andere Lernfloskel in den Sinn: ‚aus Fehlern lernen‘. Der Satz „Fehler machen heißt Erfahrung sammeln“ zwischen dem Bildausschnitt, der Technik und Lernen in Verbindung bringt (Roboter), und dem Bildausschnitt, der ein Trotzdem-Lernen (müssen) verbildlicht (Gipsbein), könnte ebenfalls darauf verweisen, dass Fehler in äußerst verschiedenen Situationen gemacht werden und damit Erfahrungen unterschiedlicher Provenienz möglich werden. Der Begriff der „Erfahrung“ in einer Collage, in der nach der Bedeutung von Lernen gefragt wird, bringt einen Aspekt ins Spiel, der das Lernen zum Leben hin öffnet. Erfahrung, so wird in der Collage deutlich, spielt sich im Verlauf und im Vollzug des Lebens ab. Damit wird Lernen zu einem aufs Engste mit dem

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Leben verwobenen Prozess. Aus der Perspektive einer engen Verbindung von Leben und Lernen wird das die Mitte beherrschende Herz als ein Symbol des Lebens lesbar. Es erinnert an ein Herz, das zum Blutspenden aufruft – im Namen des Lebens – oder an das symbolische Herz der ‚Aktion Mensch‘, das ein mitmenschliches Miteinander und wechselseitigen Respekt einfordert. Das Herz als Symbol steht so für (menschliches) Leben, für Menschlichkeit und menschliches Miteinander. Zugleich weist es aber auch auf eine gewisse Zuneigung zu einem Ding oder einer Sache hin. ‚Ein Herz für etwas haben‘ heißt, diesem Ding oder dieser Sache Sympathien entgegen zu bringen, es/sie mögen. ‚Mit Herz dabei sein‘ wiederum verweist darauf, dass jemand etwas mit Engagement und Motivation tut. Zusammengefasst verweist das Herzsymbol auf eine emotionale Beteiligung an, ein Berührt-Sein von etwas. Der Begriff der Erfahrung verweist auf einen ähnlichen Sachverhalt: Erfahrungen macht man dann, wenn ein Erlebnis dem Bekannten und Erwarteten, das heißt den theoretischen oder praktischen Vorerfahrungen nicht entspricht, die eigene Weltanschauung damit in Frage stellt, oder aber wenn es noch gar keine Vorerfahrungen gibt und sich mit dem Erlebnis ein neuer Blickwinkel auf die Welt öffnet. Diese Momente können als Momente der emotionalen Beteiligung verstanden werden, da in diesem Augenblick die Welt ihre scheinbare und mühsam konstruierte Stabilität verliert. Der_die Einzelne ist aufgefordert, diesem Empfinden der Instabilität zu begegnen, was unter anderem lernend geschehen kann. *Mit dem Herzen beim Lernen dabei sein* hieße dann, sich die Lerngegenstände aufgrund und evtl. auch mit Hilfe emotionaler Beteiligung anzueignen, weil ihre Aneignung für ein erweitertes Weltverständnis und damit eine neue Stabilität der Wirklichkeit notwendig ist. Der in der Mitte des Herzens angebrachte Textausschnitt „everybody’s unperfekt“ stellt etwas fest, was im Begriff der Erfahrung ebenfalls angelegt ist: Niemand ist so vollkommen, dass sie oder er nicht neuen Erfahrungen, und damit der Aufforderung, mit diesen Erfahrungen (lernend) umzugehen, ausgesetzt werden könnte. Wird hier auch eine Möglichkeit der oder ein Streben nach Perfektionierung in den Raum gestellt? Gerade im Umfeld von Lernen ist „unperfekt“-Sein möglicherweise ein gefährlicher Zustand. In der Schule, einer Lernumgebung, die die Gestalterinnen dieser Collage aus eigener Anschauung und eigenem Erleben kennen, wird oft genug eine Erwartung deutlich, die auf die Vervollkommnung von Fähigkeiten abzielt, indem Abweichungen vom Perfekten als Fehler markiert werden. „everybody’s unperfekt“ stellt eine gelebte Erfahrung dar, die in der Collage in einem Symbol für Emotionalität, Mitmenschlichkeit, (menschlichem) Leben angeordnet wird. „everybody’s unperfekt“ in seiner möglichen Doppeldeutigkeit von Aufforderung zur Perfektionierung und

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der schlichten Feststellung des Nicht-Perfekten wird so zu einer menschlichen Eigenart, der zum einen mit Respekt und Mitgefühl begegnet werden kann/soll und die zum anderen im Kontext der Bedeutung von Lernen zugleich auf eine Möglichkeit der Bewegung/Veränderung durch Lernen und auf eine mögliche Aufforderung zu einer solchen hinweist. „Fehler machen heißt Erfahrungen sammeln“ wird damit zu einem Plädoyer des Unperfekten und damit des Lebens. Gegen diese Anforderung zu lernen und die damit verbundenen Mühen regt sich jedoch auch Widerstand. Der gequält blickende Kopf, aus dessen Ohren Rauch aufsteigt, ist ergänzt durch die Halbfigur eines aggressiv-ablehnend blickenden und gestikulierenden Mannes. Ein Leiden unter der Situation und Widerstand gegen sie finden sich hier sehr nah beieinander, wobei offen bleibt, wogegen der Widerstand gerichtet ist. Ist es die Abwehr der Lernanforderung an sich oder ihre konkrete Ausprägung, die offenbar quälend sein kann? Die Ablehnung könnte sich auch gegen diejenigen richten, die als ausführende Organe die Lernanforderung, z.B. in der Schule, sicht- und greifbar machen. All diesen möglichen Adressierungen des Widerstands liegt das Empfinden zugrunde, das das Gesicht des „rauchenden Kopfes“ ausdrückt: Qual, Mühsal, Druck. Es fällt auf, dass die widerständige Halbfigur so aufgeklebt ist, dass die Stirn des Kopfes darunter halb bedeckt ist. Es sieht fast so aus, als wäre der widerständige Mann eine in dem rauchenden Kopf ‚wohnende‘ Figur. Es könnte eine personifizierte innere Stimme sein, die zum Widerstand aufruft angesichts der als unangemessen, unsinnig oder untragbar empfundenen Lernansprüche. Einen Kontrast zu dieser Doppelfigur bilden die beiden Bildausschnitte rechts unten in der Ecke, die den Kopf einer Frau und Kopf und Oberkörper eines Mannes zeigen: die Gesichter der Frau und des Mannes blicken aufmerksam bis erwartungsvoll in die Ferne bzw. in Richtung der Betrachterin, wobei der Gesichtsausdruck auch als freundlich-neutral und ruhig beschrieben werden kann. Die beiden sind ohne einen Kontext dargestellt, der etwas über die momentane Verfasstheit der Personen aussagen könnte. Gesichtsausdruck und Blickrichtung sind somit zentrale Aspekte, die im Kontext der Collage Bedeutung tragen können. Freundliche Erwartung in Bezug auf Lernen weist auf eine Haltung hin, die Lernen als etwas Positives begreift. Die Ruhe und freundliche Neutralität, die Ausdruck findet, macht den Kontrast zu der eben beschriebenen Doppelfigur ‚Druck und Widerstand‘ aus. Anders als dort wird hier auf eine Erwartung von etwas Positivem, etwas Vielversprechendem hingewiesen. Darauf weist besonders die Beleuchtung des Frauengesichts hin: Die untergehende Sonne in der Ferne spricht von einem goldenen Ausblick, von einem weiten Horizont und einem Moment der Ruhe. Das, was da erwartet wird, bedarf keiner besonderen Anstrengung oder Beunruhigung.

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Zu dieser Betrachtungsweise der beiden Köpfe passt der Bild- und Textausschnitt „Übern Berg“. Hier ist zwar eine bergwandernde Frau abgebildet, das heißt durchaus eine anstrengende Tätigkeit, durch den Text wird das Augenmerk jedoch deutlich auf das Ziel der Wanderung gelenkt: „Übern Berg“ zu sein heißt, einen Moment der Ruhe und des Angekommen-Seins einerseits und der Zukunftsoffenheit andererseits zu erleben, dem die Gesichtsausdrücke der beiden Köpfe Ausdruck verleihen könnten. In der Zusammenschau der Köpfe und mit dem Motiv der Bergwanderung wird Lernen hier zu einem durchaus anstrengenden und zugleich mit positiven Erwartungen verbundenen Begriff. Eine andere Betrachtungsweise des Motivs „Berg“ wäre die eines Hindernisses, das nicht nur anstrengend und zeitaufwändig in seiner Überwindung ist, sondern auch den Blick auf das verhindert, was jenseits des Berges ist. Erst wenn man „Übern Berg“ ist, wird sichtbar, was man sich mühsam erwandert hat. Hier wird der Berg wiederum zu einer Lernmetapher: erst wenn das Lerngebirge überwunden ist, weiß die_der Lernende, was sie_er jenseits erwartet, ob und wofür die Mühe sich gelohnt hat. Die im gängigen gesellschaftlichen Diskurs versprochenen Horizonte und Möglichkeiten, die sich Lernenden und SichBildenden darbieten sollen, sind also nicht im Vorhinein zu sehen. Man lässt sich als Lernende_r auf ein Spiel ein, dessen Ausgang ungewiss ist. Hier lässt sich eine Verbindung herstellen zu dem Labyrinth und den Lernwegen, die auf Umwegen und bisweilen ohne klare Orientierung verlaufen. Allerdings, und das stellt einen Zusammenhang mit dem Bildausschnitt mit den Totenschädeln her, gibt es durchaus konkrete Ziele, die Lernende anpeilen, wenn sie sich dafür entscheiden, z.B. eine Ausbildung zu beginnen. Und eines könnte, wenn man den Ausschnitt als Ausdruck von Beruflichkeit versteht, darin bestehen, eines Tages fachkundig mit Fragen und Themen umgehen zu können, die jenseits des Alltagshandelns liegen, also z.B. einen Beruf auszuüben. Eine Ausbildung, also eine gewählte Lernsituation, ermöglicht das Ausüben eines Berufs. Und auch das Lernen in der Schule kann unter dieses Vorzeichen gesetzt werden: Das erfolgreiche Durchlaufen der Schule ist Voraussetzung für jegliche Form weiterer Ausbildung. Ein weiteres Ziel verbirgt sich hinter dem Motiv „Ärztin/Arzt“, wenn man es unter der Perspektive gesellschaftlichen Ansehens betrachtet: Ärzt_innen sind gesellschaftlich hoch angesehen und verkörpern damit eine erstrebenswerte gesellschaftliche Position. Eines der Ziele, die bei spezifischen Lernbemühungen neben dem Erlernen eines Berufs verfolgt werden, liegt auch darin, mit diesem Beruf einen Status zu erlangen, der gesellschaftliche Anerkennung (und möglicherweise eine entsprechende Bezahlung) verspricht. Aus der Perspektive ‚Beruf‘ lässt sich auch der Textausschnitt „Freie Zeit Kino · Musik · Literatur“ lesen, der den Bildausschnitt mit den Schädeln mit dem

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golden angeleuchteten Frauenkopf verbindet: Der Aussicht darauf, einen Beruf zu erlernen und diesem dann in der Berufstätigkeit ein gewisses Maß an Zeit zu widmen, wird der Begriff der Freizeit an die Seite gestellt bzw. beigeordnet. *Wo Arbeit ist, ist auch Freizeit!* – so ließe sich dieser räumliche Bezug lesen. Im Zusammenhang mit dem Frauenkopf im Sonnenlicht und der oben ausgeführten Betrachtungsweise wird „Freie Zeit [...]“ zu einer Zeit, die einen entspannten Blick in die Umgebung und nach vorn zulässt. Wenn die Grundfrage ‚Lernen‘ hinzugenommen wird, verschiebt sich die Betrachtungsweise. Dann wird das Lernen in der Schule oder für einen wie auch immer gearteten Beruf in einen Zusammenhang gebracht mit einer Zeit, die frei ist vom Lernen. Es scheint eine Pause zu geben, in der Anderes Platz hat. Es ist interessant, dass die sogenannte „Freie Zeit“ letztendlich gar nicht frei, sondern mit „Kino“, „Musik“ und „Literatur“ gefüllt ist. Es geht hier also nicht um tatsächlich freie Zeit, sondern um Zeit, die nicht dem Lernen in formalen Kontexten gewidmet ist. Stattdessen kommen Themen zur Sprache, die oft in einen Zusammenhang mit ‚Bildung‘ gesetzt werden. Zugleich verweisen die aufgerufenen Tätigkeiten „Kino · Musik · Literatur“ auch auf verschiedene Weisen, Sozialität zu erleben: „Kino“ kann nur im Zusammenhang mit anderen gedacht werden, bei „Musik“ ist das schon weniger eindeutig (die Möglichkeiten reichen von ‚allein CD hören‘ bis ‚gemeinsam in ein Konzert gehen‘), während „Literatur“ meist auf das individuelle Lesen von Büchern anspielt und aber auch Lesungen, Literaturinszenierungen etc. umfassen kann. „Freie Zeit“ wird damit auch als eine Zeit markiert, in der soziales Eingebunden-Sein sichtbar wird. Dasselbe scheint übrigens auch für Beruflichkeit zu gelten, wenn man den Bildausschnitt als Gruppenarrangement ernst nimmt. Dennoch stellt sich bei der Betrachtung die Frage, inwieweit Freizeit in dieser Collage zu einem Gegenstück zur Lernzeit wird. Ist sie eine notwendige Ergänzung? Etwas gänzlich anderes? Inwiefern unterscheiden sie sich? Eine bemerkenswerte Erweiterung der Frage nach dem Verhältnis von Arbeit und Nicht-Arbeit stellt die rechte obere Ecke der Collage dar. Hier findet sich die junge Frau im Gras, unter der ‚Überschrift‘ „NACH GETANER ARBEIT IST GUT RUHEN“ neben dem schreibenden älteren Mann und zwischen den beiden das rote Büchlein „man lernt nie aus“. Hier wird, im Vergleich zu der eben entwickelten Betrachtungsweise der „Freie[n] Zeit“ der Aspekt der Tätigkeit herausgestellt: Es geht um Arbeit, die getan wird, um die Tätigkeit des Lernens, die nie aufhört, und um die Handlung des Ruhens. Der Aspekt der Zeit spielt insofern eine Rolle, als eine zeitliche Reihenfolge von *erst die Arbeit, dann die Ruhe* entworfen wird. Wird Lernen insofern als eine Form der Arbeit verstanden, als es oft mühsam und zeitlich und inhaltlich nicht immer den individuellen Bedürfnissen entsprechend organisiert ist, dann werden hier nicht Ar-

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beit und Freizeit gegenüber gestellt, sondern Tätigkeit wird zum Gegenpol von Ruhe. Damit findet sich hier ein Hinweis auf den Aspekt der Körperlichkeit, den einerseits die junge Frau im Gras verkörpert und der sich andererseits auch im Bildausschnitt mit der bergwandernden Frau widerspiegelt: Lernen als Tätigkeit nimmt die_den Lernende_n in Anspruch und zwar nicht nur geistig, sondern auch körperlich. Auf diese, auch körperliche, Beanspruchung wird mit dem Begriff der Ruhe reagiert. Wobei Ruhe nicht mit Schlaf gleichgesetzt wird, sondern mit einer Phase, in der der Körper nicht den üblichen disziplinierenden Vorgaben einer zielgerichteten Tätigkeit unterworfen wird: Die junge Frau ist in einer Haltung zu sehen, die eher an ein Spiel erinnert, während der Schreibende sich dem Diktat von Stift und Schreibtisch unterwirft. Die Zeit, die nicht dem Lernen gewidmet ist, wird damit auch zu einer Zeit der Rekreation, der Erholung, des Nicht-in-Anspruch-genommen-Seins, die Geist und Körper umfasst. Etwas paradox mutet das Sprichwort „NACH GETANER ARBEIT IST GUT RUHEN“ an, wenn Lernen als etwas Lebenslanges postuliert wird. Wann sollte dann Ruhe möglich sein? Hier kommt die Doppeldeutigkeit des Sprichworts zum Tragen: „NACH GETANER ARBEIT IST GUT RUHEN“ kann gelesen werden als *die Ruhe nach getaner (anstrengender) Arbeit ist von besonderer Qualität* oder aber als *es empfiehlt sich, an eine Phase der Arbeit eine Phase der Ruhe anschließen zu lassen*. Besonders in der zweiten Betrachtungsweise wird deutlich, dass Ruhe und Arbeit sich abwechseln (sollen) und dass es Phasen gibt, in denen der Fokus auf der Arbeit (dem Lernen) liegt, und andere, in denen die Rekreation im Vordergrund steht. Den Ruhephasen wird in der Collage keine explizite Funktion zugeordnet, doch mit der oben ausgeführten Perspektive der körperlichen und geistigen Rekreation wird eine Deutung möglich: Ruhephasen dienen dazu, Menschen (hier: Lernenden) die Gelegenheit zu geben, sich den eigenen Bedürfnissen gemäß zu bewegen oder zu beschäftigen – oder eben auch nicht! Zusammen mit dem Textausschnitt „Freie Zeit Kino · Musik · Literatur“ wird hier ein Hinweis auf die sogenannte und sehr aktuelle ‚Work-Life-Balance‘ sichtbar, die die Ratgeberliteratur füllt und auf eine Ausgewogenheit von Arbeitszeit (hier: Lernzeit) und Lebenszeit/Freizeit abzielt. Unter Bezugnahme auf die oben gestellte Frage nach der kategorischen Trennung von Lernzeit und Freizeit (sprachlich zugespitzt könnte man sogar sagen: zwischen Lernen und Leben) verdichtet sich die Gegenüberstellung dieser beiden Pole. Denkbar wäre auch eine Perspektive, die Körperlichkeit/Sinnlichkeit einerseits und Rationalität/Disziplin andererseits als Opposition stark macht. Dann wäre die junge Frau als Symbol der Körperlichkeit/Sinnlichkeit zu sehen, die nicht der Nutzen-Frage der Rationalität Rechenschaft schuldig ist, sondern tut,

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was sich in diesem Moment gut anfühlt. Der Schreibende, der konzentriert am Schreibtisch sitzt, wäre als Symbol für eine Rationalität zu verstehen, die sich der Disziplin bedient, um ein Handeln unter der Maßgabe einer angenommenen Zukünftigkeit zu ermöglichen. Lernen wäre hier als eine auf Zukunft ausgerichtete Handlung zu verstehen, die der Disziplin bedarf, und der zugleich Phasen der Körperlichkeit/ Sinnlichkeit zur Seite gestellt werden. Zusammen verweisen diese beiden Bildausschnitte dann nicht nur auf die Spannbreite möglicher Lernalter (s. o.), sondern auch auf die Spannbreite möglicher menschlicher Lebensund Lerngestaltung. Am unteren Rand der Collage, in Verlängerung einer Senkrechten, die durch den Bildausschnitt mit der jungen Frau im Gras und der wandernden Frau verläuft, befindet sich der Textausschnitt „TASTEN, RIECHEN, FÜHLEN“. Er weist ganz explizit auf sinnliche Wahrnehmung hin und damit auf einen Komplex des Lernens, der der Rationalität oft gegenüber gestellt wird. „TASTEN, RIECHEN, FÜHLEN“ weist, anders als die Bilder, auf denen Menschen in körperlicher Aktion dargestellt sind, in erster Linie nicht auf eine Form der aktiven Auseinandersetzung mit der Welt hin, ein Einwirken auf die Welt, ein Tätig-Sein in der Welt, sondern vielmehr auf eine rezeptive Komponente von Sinnlichkeit, die so ebenfalls zu einer Komponente von Lernen wird: Lernen findet (auch) über Empfindungen wie den Tastsinn, den Geruchssinn und das Fühlen/Spüren statt. Die Sinne als Komponente von Lernen machen deutlich, dass Lernen einen Zugang zu einer Welt darstellt, die unterschiedliche Zugangswege zulässt. Hier ist der Zugang zur Welt mit Hilfe der sinnlichen Empfindungen angesprochen. Ein anderer befindet sich wiederum am oberen Rand der Collage: das kleine rote Buch stellt, geradezu hervorragend in seiner Dreidimensionalität, den klassischen Zugang zur Welt dar. Bücher, als besondere Form, Schriftlichkeit/Textförmigkeit zu fassen, stellen Zugänge zur Welt dar, die sich der Worte als symbolische Ordnung und Vehikel der Verständigung über die Wirklichkeit selbst bedienen. Auch hier ist der Zugang zunächst ein rezeptiver: die Auseinandersetzung mit den Inhalten des Buches/des Textes erfolgt mit und nach der lesenden Aufnahme. Eventuell wird hier auch ein Hinweis auf das Lernen in der Schule deutlich: In der Schule ist Lernen vor allem textförmig und vor allem rezeptiv angelegt – von Ausnahmen abgesehen soll das gelernt werden, was gelehrt, also an die Lernenden herangetragen wird. Noch genereller verstanden zeigt sich in der Zusammenschau von Buch und Sinnlichkeit eine Perspektive auf ein Lernen, das grundsätzlich rezeptiv gedacht wird: *Lernen ist das, was ich aus der Welt aufnehme, um sie verstehen und in ihr agieren zu können.* Entsprechend sind die Werkzeuge, derer sich Lernende beim Lernen bedienen –

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Buch und Sinne/Sinnesorgane – solche, die der Aufnahme von Informationen dienen. Unter diesem Blickwinkel lassen sich die beiden Gesichter/Köpfe, die an den Textausschnitt „TASTEN, RIECHEN, FÜHLEN“ angrenzen, als Ausdruck von Aufnahmebereitschaft lesen. Der offene, gelassene, vielleicht auch erwartungsvolle Blick der Gesichter spricht von einer Offenheit für das, was kommt, von einer Bereitschaft anzunehmen, was die nähere oder fernere Zukunft bringt. Aus der Lernperspektive gesehen, wird eine Bereitschaft deutlich, sich lernend mit dem, was kommt, auseinanderzusetzen und zugleich eine Erwartung, dass etwas kommen wird, mit dem es sich auseinanderzusetzen gilt. Diese Betrachtungsweise, die eine Vorstellung von einer Rezeptivität des Lernens sichtbar macht, verweist im Rückgriff auf das Doppelbild „rauchender Kopf/Stinkefinger“ auch darauf, dass die Kehrseite der Rezeptivität darin bestehen kann, dass den Lernenden Lernherausforderungen begegnen können, die sie unter Druck setzen, die sie nicht so einfach bereit oder in der Lage sind anzunehmen, gegen die sie sich verwehren – innerlich oder äußerlich. Der Textausschnitt links unten „Fehler machen heißt Erfahrung sammeln“ lässt sich ebenfalls aus dieser Perspektive noch einmal anders verstehen: Fehler passieren. Sie sind nicht (oder nur selten) intendiert, das heißt auch die Erfahrungen, die man anhand der Fehler macht und die Lernherausforderungen, die daraus erwachsen können, sind keine, die Lernende sich aussuchen. Als Lernende sind sie einer Welt ausgesetzt – sei es der dinglichen oder der sozialen –, die ihre Handlungen als ‚unpassend‘ oder ‚passend‘ qualifiziert. „Erfahrung machen“ wird so zu einem Aspekt der Rezeptivität des Lernens: Erfahrungen macht man nicht – im Sinne von herstellen. Als Folge eigener (oder fremder!) Fehler sind sie das Ergebnis einer zwangsläufigen Offenheit (man könnte auch sagen eines Ausgeliefert-Seins) gegenüber einer Welt, die die Einzelnen nur bedingt kontrollieren können und in der Lernanlässe oft nicht ausgewählt werden. Als Gegengewicht gegenüber dieser potenziell bedrohlichen Situation wirkt die Bildergruppe „Ich bin stark“. Hier wird ein Bewusstsein und eine Überzeugung von der eigenen Kraft deutlich, die der Welt und ihren Herausforderungen entgegen gehalten werden bzw. die wappnen können für eben diese. „Ich bin stark“ wirkt wie eine Affirmation, die zugleich die eigenen Zweifel als ihre Rückseite sichtbar macht: *Bin ich stark genug?*, um zum Beispiel mit Phasen der Überforderung umzugehen, wie sie in dem Bildausschnitt rechts daneben angedeutet werden? Auf eine Variante dieser Frage weist der Bildausschnitt mit den Schlafenden hin, der der „Ich bin stark“-Gruppe bei-, aber nicht zugeordnet erscheint: Die Schwäche oder Verletzlichkeit der Schlafenden (s. o.) als Abwesenheit von Stärke illustriert die Kehrseite der Affirmation. Wird Lernen als Akt

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der Rezeption verstanden, werden Stärke oder Standhaftigkeit bzw. Schwäche und Verletzlichkeit zu Qualitäten, die einen Einfluss darauf haben, wie das, was da ungefragt an die Einzelnen herangetragen wird, auf- und angenommen wird. Aus der Perspektive der Rezeptivität und Sinnlichkeit gesehen, fallen einige der Elemente dadurch auf, dass sie eben auch einen anderen Blickwinkel aufzeigen: Nicht der Blick in die Welt und die sinnliche Wahrnehmung der Welt wird stark gemacht, sondern ein Zugang der Aktivität und in gewisser Hinsicht auch der Produktivität. Die Wandernde ist in Bewegung und begegnet den Gegebenheiten des Gebirges aktiv, der Schreibende geht seiner Tätigkeit mit Stift und Papier nach und produziert einen Text, der Umgang mit den Totenköpfen ist ein zugreifender und nach außen gerichteter, die jungen Frauen mit dem Tablet-PC sind offenbar mit dem, was dort zu sehen ist, auf aktive Weise beschäftigt, ebenso die Frau mit dem Roboter links unten. Dieser Eindruck von Aktivität, die auf etwas gerichtet ist und mit etwas umgeht, steht der reinen Rezeptivität gegenüber. Unterstrichen wird diese Perspektive durch den Textausschnitt „voller Energie“, der zwischen der Wandernden, dem Herz und dem aufmerksam blickenden Kind eingeordnet ist. Rezeptivität und Aktivität in Bezug auf Lernen sind in der Collage verschränkt. Zwei Themen, die vielleicht aber nur Varianten eines Themas sind, ziehen sich durch die Collage als Ganzes, ohne dass sie sich an einer Stelle besonders explizit zeigen. Das ist zum einen das Thema Zeit. Das Wort Zeit taucht als „Freie Zeit“ auf und wird dort als eine bestimmte, schon einer Verwendung zugedachte Form der Zeit sichtbar. An anderen Stellen wird eine andere Form der Zeit erkennbar: die Zeit, die einfach vergeht und z.B. an den verschiedenen Lebensaltern festgemacht werden kann oder an der Zeit, die es braucht, einen Berg zu besteigen. Diese Zeit lässt sich auch an dem roten Faden festmachen, der diagonal über die gesamte Collage verläuft: liest man ihn nicht als „roten Faden“, quasi als Richtschnur, sondern als Variante eines Zeitstrahls, der von einem Ursprung ausgeht und auf dem verschiedene – oft biographische, meist außergewöhnliche – Momente abgetragen werden, weist er auf das Vergehen der Zeit hin, in der auch das Lernen verortet ist. Lernen ist ein Prozess in der ständig vergehenden Zeit. Das andere Grund-Thema der Collage ist die Verknüpfung von Lernen und Leben (wie weiter oben angedeutet). Die Verbindung von Lernen und Leben über den Begriff der Erfahrung und das Herz macht etwas sichtbar, was die Collage als Ganzes durchzieht: Die Bild- und Textausschnitte in ihrer Gesamtheit sind sowohl als Darstellung wichtiger Aspekte des Lebens als auch als Ausdruck bedeutungsvoller Aspekte des Lernens sinnvoll lesbar. Die Frage danach, was lernen bedeutet, bringt Motive hervor, die zugleich Antworten auf die Frage

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nach Merkmalen des menschlichen Lebens sein können: Nähe, menschliches Miteinander, Körperlichkeit/Sinnlichkeit, verschiedene Lebensphasen und -alter, Arbeit und Freizeit, Anstrengung/Mühe, Stärke, Widerstand und die Suche nach dem (richtigen) Weg. Lernen und Leben erscheinen in der Collage als zwei Seiten einer Medaille oder zwei Frageperspektiven auf einen Prozess. *Lernen findet in der Zeit statt und diese Zeit ist das Leben selbst*, so ließe sich diese Verschränkung lesen. „HEUTE: HILFREICHE SPRICHWÖRTER“: dieser Textausschnitt bricht die affirmative Wirkung, die Ernsthaftigkeit und scheinbare Selbstverständlichkeit mit der „NACH DER ARBEIT IST GUT RUHEN“, „Fehler machen heißt Erfahrung sammeln“, „ich bin stark“ und „everybody's unperfekt“ verwendet werden. Die Phrase „HEUTE: HILFREICHE SPRICHWÖRTER“ klingt wie die Ankündigung einer Sensation und erinnert zugleich an die Überschrift einer Tageskarte in einem Restaurant. *Sprichwörter für jede Lebenslage sind im Angebot*, so könnte man das Textelement paraphrasieren. Sprichwörter sind wohlfeil und verlieren ihren spezifischen Charakter. Die Sprichwörter und Aussprüche werden auf diese Weise ironisiert und damit ambivalent. Sie werden refiguriert, das heißt durch die Ironisierung in ihrer performativen Wirkung verändert. 3 Die Unterwerfung unter die Affirmation wird fraglich und in dieser Möglichkeit der Nachfrage wird Widerstand und das Infragestellen scheinbarer Harmonie denkbar. In der folgenden Tabelle sind links zentrale Stichworte der Beschreibung und Auslegung aufgeführt, die rechts zu kursiv gesetzten Teilnehmer_innenPositionen und über die Einzelcollage hinausweisenden Verstehensaspekten zusammengefasst werden. Tabelle 2: Übersicht "Unperfekt Heart" Themen in der Collage

Auslegung der Teilnehmer_innenPosition und Verstehensaspekte

Menschen, Familie, Sozialität – Individuum

Lernen kann man in der Gruppe oder allein. Menschen lernen in Gemeinschaft und individuell.

3

Vgl. Wulf/Zirfas 2005, S. 13.

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Themen in der Collage Disziplin – Zukunft, Positive (Lern-) Erwartungen, Beruflichkeit – gesellschaftlicher Status

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Auslegung der Teilnehmer_innenPosition und Verstehensaspekte Lernen heißt, die Zukunft in die Hand nehmen, und das geht nicht ohne Entschiedenheit und Ausdauer. Lernen ermöglicht eine positive Gestaltung der Zukunft und erfordert Disziplin.

Lebensalter, Lernen als lebenslanger Lernen tut man immer, weil einem imProzess, Lernen in der Zeit = Lernen mer wieder Neues begegnet und man im Leben, Biographie, Erfahrung, Le- das auch verstehen will. Lernen findet in und mit der Zeit ben – Lernen statt, in der Erlebnisse und Erfahrungen eng mit den ihnen zugesprochenen Bedeutunge verknüpft sind und werden n. Lernzeit – Freizeit – Ruhezeit, Körperlichkeit – Disziplin – Rekreation, Arbeit

Lernen tut nicht nur der Kopf, sondern der ganze Mensch. Dabei spielen Ruhe, Freizeit und konzentriertes Lernen eine Rolle. Lernen findet in der Körperlichkeit des Individuums statt, in der Phasen der Ruhe, Phasen der freien Gestaltung und Phasen der disziplinierten Arbeit erlebt werden.

Unklarheit/Verwirrung/Ungewissheit, Manchmal hilft mir Lernen dabei, Wissen, Orientierung, Bedeutung, mich und die Welt zu verstehen, und Sinn, Neugier manchmal bringt es alles durcheinander und ich fange von vorn an. Lernen beinhaltet als Prozess Erfahrungen der Orientierung, in denen Bedeutungsfindung und Sinngebung erlebt werden, und Erfahrungen der Desorientierung, in denen Sinn und Bedeutung infrage gestellt sind.

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Themen in der Collage

Auslegung der Teilnehmer_innenPosition und Verstehensaspekte

Druck/Qual, Widerstand, Trotz, Kampf

Lernen muss man, ob man will oder nicht. Lernen ist ein Zwang, der Widerstand erzeugt.

Perfektion – Menschlichkeit

Nobody is perfect – auch mit Lernen kriegt man das nicht hin. Lernen zielt auf Unfehlbarkeit, die der Menschlichkeit widerspricht.

Stärke – Schwäche

Wenn ich lerne, kann ich mehr und bin sicherer, aber ich kann auch schnell am Ende meiner Fähigkeiten ankommen und die Sicherheit ist dahin. Lernen macht stark, aber nicht für immer (das Damoklesschwert der Schwäche bleibt).

Aktivität – Rezeptivität

Lernen heißt die Welt entdecken und sie gestalten. Lernen ist ein Prozess, in dem das Wahrnehmen der Welt und das Gestalten der Welt eng miteinander verwoben sind.

Reflexivität – Instrumentalität

Lernen heißt nachdenken und etwas tun. Im Lernen verbinden sich Reflexivität und Instrumentalität.

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Quelle: Eigene Fotografie

Abbildung 3: Collage „Zutritt verboten“

7.5 ANALYSE UND I NTERPRETATION DER C OLLAGE „Z UTRITT VERBOTEN “

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7.5.1 Erster Eindruck Auf den ersten Blick wirkt die Collage seltsam unpersönlich und steril. Es ist viel Weiß zu sehen. Jedes Teil, jeder Ausschnitt hat Platz um sich herum und ist sorgfältig ausgeschnitten. Es scheint keine Ordnung im Sinne von Gruppen, Clustern oder besonders dicht gestalteten Bereichen zu geben; auch auffällige Lücken oder Leerstellen sind nicht zu sehen. Die Collage zeigt Gegenstände, Menschen und Orte und keine der Kategorien scheint überrepräsentiert. Während der Gesamteindruck der Collage eher eine gedämpfte Farbigkeit vermittelt, ist die Mitte bonbonbunt und leuchtend. Doch auf seltsame Weise kommt das „Bunt“ nicht zum Tragen. Das dunkel-martialische Bild des Boxers in der oberen Mitte steht in deutlichem Kontrast zu dem Feuerwerk links, dem Kind rechts und den bunten Schalen im Zentrum der Collage. 7.5.2 Formaler Bildaufbau Die Collage ist nicht durch eine ausdrückliche Linienführung gekennzeichnet und weist keine ausdrückliche Ordnung auf. Wenige der Ausschnitte berühren sich. Es gibt vier sichtbar zu Zweiergruppen geordnete Bildpaare. Alle anderen Ausschnitte stehen allein. Die Ausschnitte sind mehrheitlich verhältnismäßig groß und sauber ausgeschnitten. Sie verteilen sich gleichmäßig über die gesamte Fläche der weißen Collagenbasis, und die meisten haben einen deutlichen Abstand zu den benachbarten Bildausschnitten. Es wirkt, als hätte jeder Text- oder Bildausschnitt einen Rahmen. Die Mehrheit der Ausschnitte ist in seiner „natürlichen“ Ausrichtung aufgeklebt. Auf der linken Seite allerdings sind alle Ausschnitte gekippt, mehrheitlich nach links, ein Bild kippt nach rechts. Die rechten zwei Drittel der Collage sind so gestaltet, dass man darin einen Kreis aus Bildelementen erkennen kann, der sich um drei innerhalb des Kreises befindliche, unterschiedlich große Elemente schließt. 7.5.3 Betrachtung und Beschreibung der Details Ich beginne die Beschreibung der Collagendetails in der auffallend farbigen Mitte. Diese springt nicht nur durch ihre prominente Lage, sondern auch durch ihre Farbigkeit ins Auge. Der zentrale Bildausschnitt zeigt eine Reihe von drei flachen, quadratischen Schalen in leuchtendem Orange, Grün und Pink. In diesen

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Schalen befinden sich goldgelbe, unregelmäßig geformte Kiesel, die an Goldnuggets erinnern; ein strahlender Reflex in der unteren linken Ecke unterstreicht diesen Eindruck. Wenn das zutrifft, liegt Edelmetall hier in seiner rohen Form vor, unverarbeitet und an sich wenig spektakulär. Die bunten Farben der Behältnisse stehlen ihm fast die Schau. Die Annahme, dass es sich bei den Kieseln um Gold handelt, und das Wissen um den Wert dieser gelben Kiesel macht aus dem Bildausschnitt die Abbildung eines Schatzes. Allerdings ist dieser Goldschatz nicht, wie sonst häufig der Fall, auf Samt und Seide mit dramatischer oder geheimnisvoller Beleuchtung dargestellt, auch nicht, was auch der Fall sein könnte, hoch gesichert und hinter Glas wie in einem Museum. Die bonbonbunten Schalen geben diesem Schatz einen alltäglichen Anstrich: Es sind Behältnisse, wie sie auch für Vorspeisen oder kleine Naschereien Verwendung finden. Man kann sie sich als Teil eines gedeckten Tisches vorstellen. Der Goldschatz wird so Teil des Alltagsgeschehens. Zugleich dienen die bunten Schalen auch dazu, etwas in Szene zu setzen. Sie bilden den Rahmen für besondere kleine Speisen oder Gegenstände. Der Schatz, wenn es sich um einen solchen handelt, wird einerseits in Szene gesetzt und ist andererseits möglicherweise Teil einer profanen Tischszenerie. Werden die goldfarbenen Kiesel als Goldnuggets aufgefasst, stehen sie für Reichtum. Gold gilt seit langem als der Inbegriff materieller Sicherheit. Ein Vermögen in Gold anzulegen, galt lange Zeit als sichere Art der Verwahrung, und die Goldbarren in Fort Knox waren ein Sinnbild der amerikanischen Wirtschaftskraft. Gold kann in jede andere Form von Kapital getauscht werden, sei es Geld, Ansehen, Macht oder Bildung. Der Nutzwert von Gold ist jedoch vergleichsweise gering, es sei denn man fertigt Schmuck daraus. Der Linie der Schalen nach oben folgend schließen sich zwei Bildelemente an, die einander überlappend aufgeklebt sind und zusammen zu gehören scheinen. Es handelt sich um das große Bild eines Boxers, das über einem wesentlich kleineren Bild eines silbergrauen Porsche angeordnet ist. Der Boxer steht mit freiem, muskulösem Oberkörper vor einem schwarzen Hintergrund und ist bis unterhalb der Gürtellinie seiner roten Hose zu sehen. Er hat die Hände, die in ebenso roten Boxhandschuhen stecken, erhoben und fixiert die Betrachterin. Er wird von seitlich hinten angeleuchtet. Auf der Höhe seines Bauchnabels steht in weißen Großbuchstaben „LET’S FIGHT!“. Die Inszenierung wirkt auch ohne den Schriftzug martialisch und erinnert an Heldendarstellungen in Kinofilmen. Die Pose des Kämpfers (es handelt sich um den Boxer Wladimir Klitschko) ist die eines Boxers im Ring, kurz vor Beginn des Kampfes: höchste Konzentration auf den Gegner, der hier nicht zu sehen ist, und höchste körperliche Einsatzbereitschaft. Zugleich handelt es sich bei dem Bildausschnitt um eine offensichtli-

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che Inszenierung. Der Hintergrund einer Boxarena mit Lichtern, Ring und Zuschauern fehlt. Es wird also ein Boxer als Boxer in Szene gesetzt. Der kleinere Bildausschnitt, der ein silbergraues Porsche-Cabrio mit offenem Verdeck zeigt, in dessen glänzender Motorhaube sich blauer Himmel und Wolken spiegeln, lässt, in Verbindung mit dem Boxer, an erfolgreiche Personen denken, deren Erfolg sich daran messen lässt, dass sie sich teure Autos leisten können. Der glänzende Sportwagen verweist auf teure Hobbys, die sich diejenigen leisten können, die entweder beruflich Erfolg haben oder die Erb_innen erfolgreicher Personen sind. Rechts neben dem Boxer befindet sich ein Bildausschnitt, der die Silhouetten zweier Personen zeigt, die auf einer rot-braunen Felsnase über einer Wolkendecke stehen. Im Hintergrund lassen sich weitere Berge erahnen. Sie scheinen über ein Tal zu blicken, das unter Wolken oder Nebelschwaden verschwunden ist. Die beiden Personen sind offenbar unterschiedlich alt. Die linke von beiden trägt einen Hut und steht allem Anschein nach etwas gebückt und auf einen Gehstock gestützt dort, während die rechte barhäuptig ist und aufrecht, rückwärts auf einen Wanderstock gelehnt, dasteht. Der Bildausschnitt erinnert an das Bild „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich, wobei die rechte der beiden Figuren in ihrer Haltung der Figur in Friedrichs Bild entspricht. Mit den beiden offenbar unterschiedlich alten Personen wird das Thema „Alter“ aktuell. Das rötliche Licht und die beiden ausruhenden Personen rufen außerdem Assoziationen an das abendliche Ende einer Wanderung auf, die auf dem Gipfel eines Berges endet. Der Blick ins Tal ist verwehrt, zu erahnen ist die nächste Bergkette in der Ferne, und die Betrachterin des Bildausschnittes kann ein kleines Stück des Weges sehen, der hinter den Wanderern liegt. Es geht in diesem Ausschnitt offenbar nicht um die Darstellung eines großartigen oder überraschenden Ausblicks nach dem Erklimmen eines Berges. Eher legt er Gedanken an den Weg nahe, den die Wanderer zurückgelegt haben und an die Unterschiedlichkeit der beiden Personen. Beide stehen an der gleichen Stelle, doch die Voraussetzungen für den Aufstieg waren wahrscheinlich denkbar unterschiedlich. Alter, so scheint der Bildausschnitt nahe zu legen, spielt keine Rolle, wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen. Weiter nach rechts, in der oberen Ecke befindet sich das Bild eines kleinen Mädchens im roten Kleid, das wirkt, als wäre es aus einem Kinderbuch oder Comic ausgeschnitten. Das Mädchen steht mit einer Handvoll Pinseln in der rechten und einem einzelnen Pinsel in der linken Hand vor einer Staffelei und malt offenbar an einem stilisierten Affenkopf. Die Szene findet unter freiem, blauem Himmel auf einer grünen, mit Büschen oder Bäumen bestandenen Wiese statt. Im Hintergrund lassen sich Bergspitzen vermuten. Der Bildausschnitt legt

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Gedanken an kindliche Fröhlichkeit und spielerische Unbeschwertheit nahe. Zugleich werden Assoziationen an kindlich-naive Kreativität wach, die (noch) nicht von den Sorgen und Nöten des Erwachsenseins, von Bewertungen und Leistungsansprüchen getrübt ist. Die offene Haltung des Mädchen der Betrachterin gegenüber unterstreicht diese Sichtweise. Sie muss sich nicht schützten oder wappnen vor der Welt. Das Malen an einer Staffelei geschieht unter dem Primat der Entdeckung der eigenen Fähigkeiten und der Freude daran. Der Gesichtsausdruck des Mädchens lässt sich allerdings auch als ein herausfordernder verstehen: *Sieh mal, was ich hier tue/was ich kann!* scheint es der Betrachterin zuzurufen. Diese Sichtweise wird unterstützt von der Position des Kindes im Bild, das nicht etwa der Staffelei zugewandt ist, um dort weiter zu malen, sondern neben der Staffelei steht und die Betrachterin anzuschauen scheint. Diese Sichtweise lässt Gedanken an frühkindliche Förderung wach werden, die die Begabungen von Kindern möglichst frühzeitig entdecken und ausprägen helfen soll (auch im Hinblick auf bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt). Die Tatsache, dass das Kind an einer Staffelei und nicht zum Beispiel auf dem Boden liegend oder am Tisch sitzend malt, wird in dieser Perspektive zu einer Ausrichtung auf das „richtige“ Malen, wie es auch Erwachsenen tun. Die Staffelei ist dann zwar immer noch ein Ort der Entdeckung der eigenen Fähigkeiten, doch dies geschieht jetzt unter der Maßgabe eines Ziels, das in der Zukunft liegt und nicht in der Freude am Jetzt. In dem Ausruf *Schau mal, was ich tue!* wird in dieser Perspektive ein Fragezeichen hörbar, das nach der Bewertung durch eine andere, wahrscheinlich erwachsene Person fragt. Der fröhlich-bunte Bildausschnitt wird damit zur Darstellung einer ambivalenten Sicht auf Kindheit und kindliche Kreativität: sie ist leicht und unbeschwert einerseits, und sie lässt sich zugleich zurichten und kanalisieren im Hinblick auf ein späteres Erwachsensein. Das ebenfalls allein stehende Schwarz-Weiß-Bild unter diesem bunten Bildausschnitt, zeigt eine durchtrainierte Frau, die im Sportbikini vor einer unverputzten Lochsteinwand steht. Auf der nackten Haut des Oberkörpers sieht man Teile der Olympischen Ringe. Ihre Augen sind geschlossen, die Lippen leicht geöffnet und sie hält die sehnigen Hände kurz unterhalb des Bauchnabels übereinander gelegt. Sie wirkt hoch konzentriert und vollkommen auf sich selbst zentriert, als bereite sie sich innerlich auf einen Wettkampf vor, indem sie die Umwelt ausblendet und Körper und Geist auf den bevorstehenden Wettstreit einstimmt. Zugleich macht sie durch den leicht geöffneten Mund einen verletzlichen, ungeschützten Eindruck, wie ein Mensch im Schlaf. In der rechten unteren Ecke sind in einem Bildausschnitt mit mehrheitlich braunem Hintergrund unter dem weißen Schriftzug „SITZ!“ ein kleiner weißer Roboter und Kopf und Schulterpartie einer Dogge mit schwarzglänzendem Fell

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zu sehen. Der Hund „macht Sitz“ und schaut dabei auf den Roboter hinunter, der entfernt an eine menschliche Gestalt im Kleid erinnert und halbfrontal zu sehen ist. Hund und Roboter stehen auf einem dunkelbraun glänzenden Dielenfußboden. Der Schriftzug ist zusätzlich gestaltet, indem dem mit einem Rahmen versehenen SI in „SITZ“ eine hochgestellte 14 vorangestellt ist. So wird daraus die chemische Formel von Silizium, dem Werkstoff, aus dem Computerchips hergestellt werden. Von wem der Befehl „SITZ“ ausgeht und wen er betrifft, lässt sich nicht sicher sagen. Der Verweis auf Silizium könnte darauf hinweisen, dass es der Roboter ist, der den Befehl an den Hund richtet. Ein an den Roboter gerichtetes „Sitz“ erscheint unwahrscheinlich, insofern, als es sich dabei um einen Befehl handelt, der üblicherweise von Menschen an Hunde gerichtet ist. Der Roboter tritt in diesem Fall anstelle eines Menschen auf – ein Ziel, das die Robotik seit langem verfolgt. Der Befehlscharakter des Schriftzuges wird durch das Ausrufezeichen markiert. Hier geht es nicht um das freundliche Angebot ‚Setz dich doch‘, sondern um eine Anweisung, der Folge zu leisten ist. Weiter nach links befindet sich ein Bildausschnitt, der einen (Schreib)Tisch mit einem Stuhl davor und dahinter zeigt. Neben einem hochmodernen Computerbildschirm, Tastatur und Lautsprechern befinden sich auf dem Tisch eine futuristisch anmutende Schreibtischlampe, ein iPod samt Ladestation und hinter einigen Kabeln, die auf Zeitschriften liegen, eine kleine Schale aus Ton. Im Hintergrund ist eine Balkon- oder Terrassentür halb geöffnet und durch die weißen leichten Vorhänge fällt helles Licht auf die Holzdielen des Fußbodens. Als Darstellung eines Arbeitstischs verstanden wirkt die Szene ausgesprochen aufgeräumt und zugleich freundlich. Die Holzdielen, das helle (Sonnen)Licht und das offene Fenster lassen die Szene wie ein Wohnzimmer erscheinen, das als Arbeitsplatz genutzt wird. Die sichtbare Computertechnik wird nicht zum Spielen, sondern offensichtlich zum Arbeiten genutzt, und die beiden Stühle sehen eher spartanisch aus. Ebenfalls Teil des Bildausschnitts ist eine Beschreibung dessen, was zu sehen, da es sich offenbar um einen Ausschnitt aus einer Werbung handelt. Ein Arbeitsplatz, so scheint der Bildausschnitt auszudrücken, kann auch ansprechend und leicht wirken. Und zugleich macht die Abwesenheit jeglicher persönlicher Gegenstände den Platz zu einem reinen Arbeitsplatz, der frei von jeder Art von Ablenkung ist. Die Beschreibung des Arrangements als „Home-Office“ unterstreicht die Doppeldeutigkeit des Ausschnitts: Es geht einerseits um Arbeit, d.h. um einen Ort, an dem man arbeiten kann, und gleichzeitig ist dieser Arbeitsplatz ein Teil des Wohnraums, der auch privaten Zwecken dient. Links von diesem Bildausschnitt befindet sich ein Bildelement, das einen hölzernen Schwingsessel zeigt, der hell bezogen ist und auf einem hellen fellartig wirkenden Teppich steht. Im Hintergrund ist ein Sideboard aus hellem Holz

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zu sehen. Auch hier finden sich eine Beschreibung zu Verkaufszwecken und ein Preis im Bildausschnitt. Der Sessel macht den Eindruck eines Sitzmöbels, das in einem Wohnzimmer steht und der Freizeit dient. Man kann sich vorstellen, in diesem Sessel sitzend zu lesen, Tee zu trinken oder sich zu unterhalten. Die verhältnismäßig helle Beleuchtung macht *Entspannung*, die in der Freizeit stattfindet, als Assoziation zu diesem Bild jedoch eher unwahrscheinlich; *Zweckmäßigkeit* scheint passender. Der Sessel selbst wirkt für ein Möbel, das der Entspannung dienen könnte, ein wenig zu minimalistisch und kühl. Es bleibt ein ambivalenter Eindruck, der zwischen Entspannung und Effizienz changiert. Der Bildausschnitt mit dem Schwingsessel ragt nach oben in die Abbildung einer überdimensional großen Armbanduhr hinein, die aus ihrem Kontext sauber herausgeschnitten wurde. Ansätze der Armbänder sind zu sehen, die nach oben und unten ein klassisches Ziffernblatt rahmen. Die Uhr wirkt kompromisslos und eindeutig in ihrem Verweis auf die Zeit; keine Umgebung, kein Hintergrund setzt sie in einen Zusammenhang, der etwas anderes sagen könnte als *Zeit*. Sie wirkt wie zur Mahnung eingefügt. Links neben dem Ziffernblatt der Uhr ist ein Bildausschnitt zu sehen, der keine direkte Verbindung zu den umgebenden Bildern hat. Er zeigt einen Mann im Anzug mit weißen Manschetten, der mit erhobenem Zimmermannshammer in der Hand am Ende eines auf dem Wasser schwimmenden Holzstegs kniet und offenbar damit beschäftigt ist, am Ende des Stegs weitere Bretter anzubringen. Auf dem Rücken trägt er ein Bündel Holzbretter. Der gesamte Ausschnitt ist in Grautönen gehalten und vermittelt eine melancholische Stimmung. Diese wird verstärkt vom Eindruck der Ziellosigkeit oder Vergeblichkeit, die die Arbeit des Stegbauers zu bestimmen scheint: Mit Anzug und Hemd trägt er Kleidung, die für diese Arbeit nicht gemacht ist, und der Steg endet im Wasser, ohne dass man sehen könnte, wohin er einmal führen könnte. Es scheint zu befürchten, dass er von der nächsten Welle fortgespült werden wird. Der Teil des Stegs, der schon fertig ist, macht den Eindruck eines hastig zusammengenagelten Provisoriums, das wenig handwerkliches Können zeigt und stattdessen die pure Existenz eines Stegs ins Zentrum stellt. Es scheint, als würde der Bauende eine Arbeit ausführen, für die er nicht ausgerüstet ist und deren Fortschritt und Erfolg ständig in Gefahr ist. Gleichzeitig wirkt sein Tun konzentriert und zielstrebig. Nichts lenkt ihn davon ab, eine Planke an die andere zu nageln. „Wohin?“ das scheint eine Frage zu sein, die hier keine Rolle spielt; das Bauen eines Stegs rechtfertigt sich aus sich selbst heraus. Die Richtung des Stegs führt den Blick weiter zu der schematischen Darstellung eines Schachbretts, wie man es aus Schachbüchern kennt. Die Darstellung stellt für Schachspieler_innen möglicherweise eine Aufforderung dar, über die

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Stellung der Figuren nachzudenken und die Partie in Gedanken weiter zu spinnen. Für Schach-Laien wird das Spielbrett zu einem Symbol für Spiele an sich, für Zeit, die im Spiel verbracht wird. Spielen heißt: sich dem Spiel um seiner selbst willen zuwenden, vielleicht auch die Zeit und den Ort des Spiels vergessen oder ausblenden. Die Darstellung des Schachspiels ohne Spieler_innen, als reine Abstraktion, verstärkt den Eindruck , dass es um die Darstellung von Schach als Inbegriff von „Spiel“ geht, wobei in dieser hoch reduzierten Form die Wettkampf-Orientierung des Schachspiels ebenfalls sichtbar wird. Schach ist sowohl ein Spiel, das um seiner selbst willen gespielt wird als auch um des Erfolgs in Wettbewerben willen. Rechts neben dem Schachbrett, in ähnlicher Größe, befindet sich ein Bildausschnitt, der eine halb ausgepackte Tafel Schokolade mit abgebrochener Ecke zeigt. Die Schokolade liegt auf einem weißen Untergrund, mehr ist vom Kontext nicht zu sehen. Sie ist an dieser Stelle allein in ihrer Qualität als Süßigkeit dargestellt, nichts weist darauf hin, wofür sie Verwendung finden könnte. Sie ist in keiner Weise in Szene gesetzt. Schokolade als Luxusgut und als Belohnung kommen in den Sinn: Schokolade, die das Leben versüßt und zugleich für manche Menschen zu einer Art Suchtmittel wird. Rechts neben der Schokolade findet sich ein Textausschnitt: „Pausen machen, die Akkus wieder aufladen“. Akkus sind Energiespeicher, die, wenn die gespeicherte Energie verbraucht ist, eine Phase des Aufladens benötigen, in der sie nicht verwendbar sind. In der Alltagssprache wird dieser Begriff auch in Bezug auf den Energiehaushalt einer Person verwendet: ‚Meine Akkus sind leer‘ heißt so viel wie ‚ich bin mit meinen Kräften am Ende‘. Ob „Pausen machen, die Akkus wieder aufladen“ eine Aufforderung ist oder eine Beschreibung, bleibt unklar. Klar scheint jedoch, dass hier nicht auf Akkus angespielt wird, die dem Betrieb elektrischer Geräte dienen, sondern auf den menschlichen Energiehaushalt, der sich regenerieren muss oder soll. Über den beiden Bildausschnitten „Schachbrett“ und „Schokolade“ klebt ein langes quer-formatiges Bild, das tanzende Paare vor einer nächtlichen Hafenkulisse zeigt. Sie tanzen im Freien auf einer Art Terrasse; im Vordergrund sieht man weitere Personen im Gespräch an Tischen sitzen. Die Tanzenden wirken gelöst; es scheint nicht um einen Wettbewerb zu gehen. Der sommerliche Abendhimmel hinter den Tänzer_innen vermittelt Urlaubsstimmung: Das Bild wirkt, als spiele die Zeit spielt keine Rolle; lediglich die Freude an der warmen Abendluft, am Tanz, an der Musik und an der Gesellschaft, in der man sich befindet, sind wichtig. Die Containerhafen-Szenerie im Hintergrund schafft eine Art von Spannung zwischen den Tanzenden und ‚der Welt da draußen‘. Die Lichter deu-

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ten an, dass im Hafen gearbeitet wird, während der Tanz auf der Terrasse für die Tanzenden wahrscheinlich eine Art der Freizeitgestaltung darstellt. In dieses Bildelement hinein ragt ein Ausschnitt, der ein Feuerwerk zeigt, das in unterschiedlichen Farben vor einem nächtlichen Himmel aufsteigt. Feuerwerke werden gezündet, wenn es etwa zu feiern gibt: zum Jahreswechsel, zu Nationalfeiertagen, manchmal zu Geburtstagen. Oft verkünden Feuerwerke das Ende eines langen mühevollen Arbeitsprozesses, wie z.B. bei der Eröffnung eines besonderen Bauwerks. Immer haftet dem Feuerwerk jedoch etwas Exotisches, Luxuriöses an, besonders dann, wenn es professionell gestaltet wird. Feuerwerke sind insofern ein Inbegriff des Besonderen, als das Vergnügen, das sie versprechen, von extrem kurzer Dauer ist. Die Abbildung des Feuerwerks ruft Gedanken an kindliches Staunen hervor, das auch vor Erwachsenen nicht Halt macht, und an die besondere Stimmung nächtlicher Feierlichkeiten, die in ihrer Zeitgestaltung den Rhythmus des Alltags außer Kraft setzen. Rechts neben dem Feuerwerk befindet sich ein Textelement, das weiß auf hyazinth-farbenem Grund das Wort „Balance“ zeigt. Der Textausschnitt ist nach unten von einem grünen Streifen begrenzt, der ein wenig des Kontexts zeigt, in dem das Wort ursprünglich zu finden war. Die nicht ganz gleichmäßige Grünfärbung lässt eine Ahnung von einer Hecke oder einem Wald entstehen. Das Textelement ist leicht nach links geneigt, was dem Begriff „Balance“ zu widersprechen scheint. Das Wort ruft als Assoziation „Work-Life-Balance“ auf und scheint einen starken Aufforderungscharakter zu haben: Balance ist kein Zustand, sondern ein ständiges Ziel, das es zu erreichen gilt. Zugleich klingt es prekärer als das deutsche Äquivalent „Gleichgewicht“. Die schräge Anordnung des Wortes weist in eine ähnliche Richtung: Vielleicht geht es genau darum, die Balance zu halten unter unbalancierten Umständen. Fast in der Mitte der Collage, rechts neben den Schälchen mit Goldnuggets, ist ein großes Bildelement aufgeklebt, das Teile von Wand, Fußboden und Decke eines weißgekalkten Raumes zeigt, an dessen Decke verschiedenfarbige Kabel entlang geführt sind. Eine große Zahl dieser Kabel hängt herab und es scheint, als endeten sie in großen und kleinen Rollen, die einen Haufen auf dem Boden bilden. Rechts neben den Kabelrollen finden sich eine ordentliche Reihe von Keg-Verschlüssen und in den Boden eingelassene Rohrenden, die wie Kabelschächte wirken. Eine Reihe von Druckanzeigern ist an der Wand angebracht. Hinter dem Haufen aus Kabelrollen ist eine Ecke eines Pappkartons zu sehen. Auf den ersten Blick wirkt das Bild wie ein völlig ungeordnetes Gewirr von Kabeln und geheimnisvollen Installationen. Gleichzeitig ist der Raum, oder das, was von ihm zu sehen ist, peinlich sauber und frei von jeglichen Spuren einer

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Benutzung. Bei genauerem Hinsehen ist eine Ordnung erkennbar, deren Zweck sich jedoch nicht erschließt. Unter diesem Bildausschnitt befindet sich ein Bildelement, das ein Metalloder Kunststoffschild zeigt, auf dem „Zutritt verboten“ zu lesen ist. Sichtbar sind die Enden von Schnüren, mit denen das Schild wahrscheinlich aufgehängt ist. Ansonsten gibt es keinen Hinweis darauf, wo sich diese Schild befindet. In seinem Aussehen entspricht es genau den Verbotsschildern, wie sie an Baustellen oder an Türen angebracht sind, um die Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass der hinter diesem Schild liegende Bereich nicht betreten werden darf. Wer dieses Verbot ausspricht, bleibt offen; es scheint jedoch für alle zu gelten, die diesem Schild begegnen. Da offen ist, wer das Verbot ausspricht, bleibt auch offen, unter welchen Umständen das Verbot gilt. Könnte es sein, dass der Zutritt unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt ist? Bei einer anderen Version dieser Art von Verbotsschild haben nur Unbefugte keinen Zutritt. Ließe sich die Befugnis erwerben? Oder handelt es sich bei dem, was hinter dem Schild liegt, tatsächlich um einen Bereich, der für niemanden zu betreten ist? In der linken unteren Ecke, dem Blick leicht entgehend, finden sich zwei Bildausschnitte, die ihrer Anordnung nach zusammen gehören. Einer der Ausschnitte zeigt zwei Radrennfahrer_innen auf ihren Rädern, die dicht hintereinander durch den strömenden Regen fahren. Auf ihre Arme und Beine sind Startnummern gemalt und ihren Gesichtern ist die Anstrengung des Wettkampfs anzusehen. Insgesamt wirken sie, als wären sie Teil eines technischen Ensembles. Ihre Körper sind der Geometrie der Fahrräder angepasst und sind vor allem als Arme und Beine sichtbar, die kräftezehrende Arbeit verrichten, während der Kopf von einem Helm vor Verletzungen geschützt wird. Die Rennfahrer_innen lassen sich vom Wetter offenbar nicht beeindrucken, sondern kämpfen um den Sieg, koste es, was es wolle. *Disziplin* ist ein Wort, was beim Anblick dieser Szene in den Sinn kommt: ohne Ansehen der Situation wird der Wettkampf gefahren. Ein anderer Gedanke ist *durchhalten*: Es wird solange durchgehalten, bis das Rennen bestritten ist. Nur dann gibt es eine Chance auf Sieg. In den Ausschnitt mit den Rennfahrer_innen ragt ein Bildausschnitt hinein, der ein doppelseitiges Foto in einer aufgeschlagenen Zeitschrift zeigt, auf dem wiederum vier Menschen mit schwarzer Hautfarbe an einem Strand zu sehen sind. Diese haben Pfeil und Bogen in der Hand und tragen eine Art Bauchbinde und Halsschmuck. Eine_r der Vier spannt den Bogen mit eingelegtem Pfeil und scheint etwas zu rufen, während er oder sie bis zum Bauch im Wasser steht. Eine Person steht etwas abseits und lehnt am Ast eines toten Baumes, der zusammen mit üppigem Grün den Hintergrund des Bildes bildet. Das Wasser im Bildvordergrund ist blaugrün und scheint sehr klar. Am linken Rand dieser Abbildung

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steht unter der Überschrift „Der Kampf ums Überleben“ ein kurzer Text zum Kampf eines Insel-Stammes gegen Geschenke-bringende Regierungsgesandte. Das Bild wirkt auf den ersten Blick, wie eine Inszenierung für eine Foto- oder Filmaufnahme: Der Strand ist völlig ohne Fußspuren, die Konstellation von Menschen, Wasser und Strand, im Hintergrund die Andeutung einer Pflanzenwildnis und das alles in gleißendem Sonnenlicht hat etwas Statisches, Starres. Und doch geht es um einen Kampf, der im Alltag stattfindet, der um die Lebenswelt der Kämpfenden geführt wird. Die Szenerie zeigt jedoch nichts von der Anstrengung und dem Leid, die Bildern von Überlebenskämpfen oft eigen sind. 7.5.4 Auslegung der Details in ihren Kontexten und im Gesamtkontext der Collage Der Boxer in der oberen Bildmitte hält mit seinem aggressiv-kämpferischen Gesichts- und Körperausdruck den Blick der Betrachterin fest. Das Bild ist das eines Kämpfers und Helden, der nur darauf wartet, seine Durchschlagskraft und Stärke unter Beweis zu stellen. Das Rot der Handschuhe und der Hose sowie die dramatische Beleuchtung unterstreichen diesen Eindruck. Der Schriftzug „LET’S FIGHT!“ wirkt geradezu überflüssig. In einem Kontext, in dem es darum geht, die subjektive Bedeutung des Lernens darzustellen, rückt hier der Wille zu kämpfen in einen engen Zusammenhang zum Lernen. Dabei bleibt offen, ob der Kampf sich auf die Auseinandersetzung mit dem Lernstoff im Bemühen um ein Verstehen bezieht, auf den Kampf mit sich selbst und den eigenen Widerständen, auf einen Kampf gegen andere Personen, die es im Lernen zu besiegen gilt oder aber auf einen Kampf mit der Institution und den Strukturen, denen die Lernenden ausgesetzt sind. Das Motiv des Kampfes wird auch in anderen Details der Collage sichtbar: Die Radrennfahrer_innen und die Ureinwohner_innen am Strand fechten ihre ganz unterschiedlichen Kämpfe aus und auch die Olympionikin am rechten Bildrand scheint sich mental auf den Wettkampf vorzubereiten. Der letztgenannte Bildausschnitt unterstreicht den Aspekt des Kampfes mit und gegen sich selbst: die junge Frau wirkt hoch konzentriert und vollkommen zentriert, als bereite sie sich innerlich auf einen Wettkampf vor, indem sie die Umwelt ausblendet und Körper und Geist auf den bevorstehenden Wettstreit fokussiert. Diese Selbstdisziplin und Selbstdisziplinierung ermöglicht es ihr, maximale Leistungen zu erbringen, indem die Störgrößen des Selbst soweit wie möglich kontrolliert werden. Im Unterschied zu der Athletin, die vor allem an sich selbst arbeitet, und dem Boxer, der allein posiert, machen die Ureinwohner_innen und die Radrenn-

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fahrer_innen auf den Aspekt von Kampf aufmerksam, in dem es tatsächlich um Gegner geht, die es zu schlagen gilt, zugleich aber auch darauf, dass Kämpfe nicht zwangsläufig allein ausgefochten werden, wie das beim Boxen der Fall ist: Radrennfahrer_innen fahren üblicherweise in einem Team und die bewaffneten Kämpfer_innen am Strand sind eine Gruppe, die sich gegen einen gemeinsamen Feind stellt. Bezogen auf die Frage nach der Bedeutung des Lernens zeigt sich hier eine Facette, die den Aspekt des Kampfes um seine soziale Einbettung erweitert. Im Lernen als Kampf, so legen diese Bilder nahe, spielt (Selbst)Disziplin, als Kampf mit sich selbst, eine zentrale Rolle, die die Basis legt für einen erfolgreichen Kampf mit einem äußeren Gegner. Ein Themenkomplex, der einen maximalen Kontrast zum Kampf als Aspekt des Lernens darstellt, ist das Feiern. Die linke obere Ecke zeigt Bildausschnitte, die stellvertretend für Feiern, Geselligkeit, Tanz und Gespräch verstanden werden können, während darunter mit der Schokolade und dem Schachspiel die Qualitäten Genuss und Spiel dazu kommen. Der Textausschnitt „Pausen machen, die Akkus wieder aufladen“ verbindet diese Details. In dieser Bildergruppe kommen Aspekte zum Tragen, die eine andere Logik als die der Disziplin aufmachen: Genuss und Spiel deuten auf Qualitäten hin, die sich einer ‚Mittel-zumZweck‘-Logik entziehen, indem sie nicht auf die Rationalität des Menschen abzielen, sondern seine Sinnlichkeit und Emotionalität ansprechen. Spiel, besonders das Spielen Erwachsener, ist der bewusste Entzug aus der Instrumentalisierung und Effektivität. Das Spiel ist um seiner selbst willen wichtig, und nicht, um damit etwas zu erreichen; ebenso ist der Genuss, wenn er nicht der Außendarstellung dient, reiner Selbstzweck und nur in der Gegenwart wirksam. Feiern, hier symbolisiert durch das Feuerwerk und die Tanzenden vor der Hafenkulisse, bewirken Ähnliches: sie markieren größere, oft traditionelle oder institutionalisierte Unterbrechungen im Alltag. Sie setzen im Alltag geltende Regeln außer Kraft, dienen vor allem der gemeinsamen Freude am Jetzt und sprechen Emotionalität und Sinnlichkeit an. Feiern, Spiel und Genuss werden zum Inbegriff von „Pause“: In diesen Momenten ist der Alltag ausgesetzt, und es bieten sich zugleich Gelegenheiten, Kraft und Energie für den Alltag zu schöpfen. An dieser Stelle greift die Logik des „Mittel-zum-Zweck“ letztendlich doch wieder. Der Alltag wird ausgesetzt, um ihn möglich zu machen. Lernen wird ausgesetzt, um hinterher weiter effizient und diszipliniert lernen zu können. Feiern, Geselligkeit, Genuss und Spiel verbleiben in ihrer Besonderheit, im Sinne einer von der Normalität abweichenden Qualität bestehen. Sie werden nicht als erträumter Dauerzustand oder eine gleichwertige Form der Lebensgestaltung dargestellt, sondern explizit als Unterbrechung einer Normalität, die Kraft und Energie kostet. Pausen vom Lernen, so lassen sich diese Bild- und Textaus-

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schnitte verstehen, sind notwendige Phasen der Rekreation, die die Grundlage weiterer Lerntätigkeiten bilden. Das magentafarben unterlegte „Balance“ unterstreicht diese Sichtweise: es verbindet den Bereich der Collage, der Platz für genussvolle Lebensfreude schafft, mit einem Bereich, der dem Lernen als Kampf gewidmet ist. Hier wird eine Art von ‚Work-Life-„Balance“‘ umrissen, die im Kontext der Collage auch als Lernen-Leben-Gleichgewicht gefasst werden kann. In diesem Hinweis auf die notwendige Balance von Lebensfreude und Sinnlichkeit einerseits und Lernen andererseits wird zugleich deutlich, dass diese zwei Bereiche als getrennt voneinander verstanden werden. Emotionalität, Sinnlichkeit und Genuss werden als etwas verstanden, das nicht gleichzeitig mit Lernen Platz hat. Lernen selbst braucht nach dieser Auffassung andere Qualitäten wie Stärke, Ausdauer, Disziplin, die hilfreich sind im „Kampf ums Überleben“. Zugleich bedarf es offenbar beider Seiten, wobei die sinnliche Genuss-Seite die Aufgabe hat, die Lernenden zu nähren und sie für den aufreibenden Lernalltag immer wieder zu stärken, während die Seite des Kampfes und der Disziplin zehrend wirkt und die „Akkus“ aufbraucht und zugleich Erfolg als Versprechen und Ziel beinhaltet. Das direkt unterhalb des Boxers angeordnete, glänzend neue Cabrio macht deutlich, dass es bei dem Kampf auch um den Preis geht, der auf den Sieg ausgesetzt ist. Das Cabrio stellt einen Luxusgegenstand dar, der für diejenigen erschwinglich ist, die es ‚geschafft‘ haben, während alle anderen nur davon träumen können. *Erfolg* ist auch hier das verbindende Stichwort. Als Siegprämie im Lernkampf winkt ein Erfolg, der sich an materiellen Werten festmachen lässt. *Erfolgreich sein* heißt, sich etwas leisten, sich Träume erfüllen können. Erfolg wird hier eng mit einem dem Erfolg vorausgehenden Kampf verknüpft. Ohne Kampf, so scheint es, gibt es keinen Erfolg. In dieser Perspektive des Sichetwas-leisten-Könnens werden auch die bunten Schälchen und ihr goldener Inhalt zu einem Zeichen von Erfolg, der sich materiell niederschlägt. Die Goldnuggets werden zu einer Art Belohnung für den erfolgreich bestrittenen Lernkampf und damit zugleich zu einem Versprechen, das in der Rede vom Lernen steckt: wer den Kampf aufnimmt und gewinnt, dem winkt am Ende ein Mehr an materiellen Möglichkeiten. Die Goldnuggets stellen dann so etwas wie eine in alle Währungen tauschbare Grundwährung dar, mit der sich zum Beispiel auch ein Porsche erwerben ließe. In der Mitte des unteren Randes finden sich nebeneinander der Schwingsessel auf dem flauschigen Teppich und der aufgeräumte Schreibtisch mit großem Computerbildschirm und spartanisch wirkendem Stuhl davor und dahinter. Über dem Sessel befindet sich das im Verhältnis überdimensionale Ziffernblatt der Armbanduhr. Der Bildausschnitt des Sessels ragt in den der Uhr hinein.

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Lehnstuhl und Schreibtisch haben gemeinsam, dass sie Lern- oder Arbeitsumgebungen unterschiedlicher Art darstellen können. Wo der Sessel ein gewisses Maß an Entspannung, fast etwas von „Freizeit“ vermittelt, hinterlässt der Schreibtisch mit seiner Ausstattung den Eindruck von Effektivität, disziplinierter Arbeit und Ordnung. Über die räumliche Anordnung wird deutlich, dass der Sessel nicht zu dem Komplex „Pause“ oder Freizeit gehört, der in der linken oberen Ecke der Collage seinen Platz hat. Die entspannte Atmosphäre, die der Sessel nahelegt, gehört offenbar in einen anderen Zusammenhang. Er bildet in der Collage ein Gegenstück oder einen Gegenpol zu dem Schreibtisch, der mit allen modernen Insignien eines Lern- und/oder Arbeitsplatzes ausgestattet ist. Der Lernplatz Schreibtisch ist zugleich ein Arbeitsplatz. Das Lernen an diesem Ort gehorcht den Regeln der Effizienz und Disziplin, die in vielerlei Hinsicht auf den Bereich der Arbeit verweisen. In die Nähe des Schreibtischs als Lernort gerückt, macht der Schwingsessel ein anderes Bild eines Lernorts auf: hier ist Lernen mit Wohlbefinden und körperlicher Entspannung verbunden. Lernen bekommt eher den Charakter einer Tätigkeit, die auch in der Freizeit, freiwillig stattfinden könnte. Und dennoch hängt gerade über diesem Sessel, der ein Gegenstück zum disziplinierten Lernen am Schreibtisch darstellt, eine Uhr, die in ihrer Größe dazu noch vollkommen überdimensional ist. Hier hält die Zeit Einzug ins Lerngeschehen. Lernzeit und Lernraum/-ort hängen offenbar eng zusammen. Der Ort des Lernens ist derjenige, an dem das Vergehen der Zeit spürbar bzw. sichtbar wird. Wie ein Damoklesschwert, eine ständige Mahnung, hängt die Uhr über dem Platz, der dem Lernen in Muße gewidmet sein könnte. Die Zeit ist eine Größe im Lerngeschehen, die nicht beeinflusst werden kann, die aber selbst einen überdimensionalen Einfluss hat. Selbst ein Lernen, das unter körperlich entspannten Bedingungen stattfindet, ist Teil eines Zeitregimes, das die Lernenden, nach der Darstellung hier, ‚unter sich‘ hat und sie im Zweifelsfall buchstäblich *unter sich begraben* kann. Der Faktor Zeit wir hier als einer sichtbar gemacht, der wirkmächtig mit Orten des Lernens verbunden ist. Die Darstellung der Zeit ist umgeben von Bildausschnitten, die an Kampf, Wettbewerb und Erfolg erinnern. Die goldenen Kiesel, der Porsche und der Boxer, die Ureinwohner_innen in ihrem „Kampf ums Überleben“ lassen eine Vorstellung von Lernen entstehen, das einem Kampf gegen die oder mit der Zeit gleicht. Das Wort vom Zeitdruck kommt in den Sinn; die Zeit ist nicht greifbar als Gegnerin im Lernkampf, aber sie übt nichtsdestotrotz einen Einfluss aus. Die Radrennfahrer_innen stehen in ganz besonderem Maße für einen Kampf gegen die Zeit: Für ihren Sieg kommt es auf die Hundertstelsekunde an, die sie schnel-

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ler sind als die Gegner_innen. Zeit ist nicht unter allen (Lern-)Umständen gleich wichtig, spielt aber immer eine Rolle. In ihrer Ausdehnung nach oben schließt die Uhr an den Textausschnitt „Pausen machen, die Akkus wieder aufladen“ an und lässt eine Verbindung entstehen zwischen dem Akt des Pause-Machens und der Zeit. Auch die Pausen sind keine Phasen außerhalb der vergehenden Zeit. Sie sind vielmehr ebenfalls Teil einer Einteilung, die zwischen Phasen des Lernens und Phasen der Pause unterscheidet. Das Ende der Pause bestimmt sich durch den ‚Ladezustand des Akkus‘, d.h. die Pause ist dann beendet, wenn Lernen wieder möglich ist. Die Zeit der Lernenden rhythmisiert sich so zu einem ständigen Wechsel zwischen Lernen und Pausen vom Lernen. So wie die Zeit das Lernen durchdringt und durchwirkt, so durchdringt das Lernen die (Lebens-)Zeit der Lernenden. Dieses alles durchdringende Regime der Zeit wird jedoch aufgebrochen durch den Bildausschnitt des Stegbauers. Dieses Bild wirkt wie aus genau der Zeit herausgefallen, von der im letzten Abschnitt die Rede war. Das Bild wirkt in seiner Melancholie zeitlos und zugleich ewig. Das Fehlen eines sichtbaren Ziels und die prekäre Situation des Stegbauers am Ende seines wenig stabil wirkenden Bauwerks lassen den Faktor Zeit unwichtig wirken. Stetiges Weiterbauen scheint im Vordergrund zu stehen; die Arbeit ist nicht auf Effizienz hin ausgelegt, sondern auf die Tätigkeit als solche, die langsam und beharrlich ihren Fortgang nimmt. Im Gegensatz zu den auf der anderen Seite der Uhr auf gleicher Höhe angeordneten Goldnuggets lässt nichts darauf schließen, dass es beim Bauen des Stegs um etwas anderes geht als darum, den Steg fertig zu stellen. Der Erfolg, wenn von einem solchen gesprochen werden kann, besteht bei einer Art des Lernens, das dem Stegbauen ähnelt, in der Arbeit selbst, während die goldenen Kiesel auf materiellen Nutzen oder materielle Ergebnisse des Lernens hinweisen. Aus der Perspektive dieses Kontrasts löst sich die enge Verbindung von Erfolg und Zeit: Der Kampf um Erfolg und die materiellen Effekte des Lernerfolgs unterliegen dem Zeitregime, während zugleich ein Aspekt des Lernens sichtbar wird, der diesem Regime nicht unterworfen zu sein scheint. Ein anderer Bildausschnitt, in dem Zeit eine Rolle zu spielen scheint, ist der Ausschnitt oben rechts der Mitte, der eine alte und eine deutlich jüngere Person im Gegenlicht von hinten zeigt. Auf einem Felsvorsprung stehend blicken sie in ein wolkenverhangenes Tal. Zeit spielt hier an verschiedenen Stellen eine Rolle: Einerseits weist das unterschiedliche Alter der beiden Personen auf das Vergehen von Zeit hin. Mit dem alten und dem jungen Mann werden verschiedene Phasen des Lebens charakterisiert, die unterschiedliche Zugänge zum und Perspektiven auf Lernen nahe legen. Zugleich verweisen die unterschiedlich alten Personen auch darauf, dass Lernen tatsächlich das ganze Leben hindurch eine

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Rolle spielen kann, selbst wenn diese variiert. Zeit spielt auch in der Bewältigung des Weges eine Rolle. Der Weg bis auf den Gipfel, als Lernweg verstanden, hat eine gewisse Zeit in Anspruch genommen. Die Lernzeit, die noch vor ihnen liegt, ist im Nebel verborgen, und es ist nicht absehbar, wie lang der Weg noch ist. Und noch ein weiterer Zeit-Aspekt wird sichtbar, wenn man sich die Tageszeit, wahrscheinlich Abend, vorstellt und die Haltung der Wanderer in Betracht zieht: Der Abend ist die Zeit des Tages, in der langsam Ruhe einkehrt, in der die Arbeit getan ist oder bis morgen warten kann, in der evtl. noch einmal Rückschau gehalten wird auf den Tag. Entsprechendes scheinen die Wanderer auch zu tun. Sie blicken auf das Tal zurück, aus dem sie aufgestiegen sind, auf den Weg, den sie genommen haben. Sie wirken ruhig und gelassen, als hätten sie gerade nichts anderes zu tun, als ins Tal zu schauen oder auf die Bergkette im Hintergrund. Auf eine ganz andere Art als in der Bildergruppe in der linken oberen Ecke machen sie Pause. Hier hat die Pause den Charakter einer Ruhephase, die nicht mit besonderen Aktivitäten gefüllt ist und auch nicht vordringlich der Rekreation im Hinblick auf neuerliche Anstrengungen gewidmet ist. Betrachtet man diesen Bildausschnitt im Kontext seiner direkten Nachbarschaft zu dem kampfbereiten Boxer, rückt die Bedeutung des Gipfels in den Vordergrund. Den Gipfel erreicht zu haben, ganz oben zu stehen, es geschafft zu haben, werden zu Bedeutungen, die der Bildausschnitt transportiert. Auch in diesem Bildausschnitt geht es dann darum, lernend ein Ziel zu erreichen, indem man sich den Lernanforderungen stellt. Ziel ist es, nicht am Fuß des Berges aufzugeben, sondern am Ende des Weges ins Tal schauen zu können im Wissen, dass man es geschafft hat. Der Blick ins Tal selbst und der Weg, den man genommen hat, ist offenbar nicht wesentlich, denn er ist verdeckt – ein weiteres Indiz dafür, dass *es schaffen* das eigentliche Ziel ist. Wichtig ist der Moment des Oben-Seins, des „Geschafft!“. Vielleicht ist das Bild der Bergszenerie im Abendlicht auch ein Hinweis darauf, dass es bei dem Kampf nicht nur um materielle Beweise des Erfolgs geht, sondern auch um das Erleben, das mit diesem Erfolg einhergeht. Hier wird, ähnlich wie in den Ausschnitten links oben, der körperlich-emotionale Aspekt sichtbar. Der Gipfel ist nicht als solcher dargestellt, sondern zwei Menschen stehen an einer exponierten und hochgelegenen Stelle eines Berges. Es geht also mindestens auch um die Personen und ihr Dort-Sein, ihre Empfindungen, Gedanken und Gefühle. Am Ende eines Lernwegs angekommen zu sein, heißt auch, als Mensch mit allen Qualitäten involviert zu sein, die das menschliche Dasein ausmacht. Eine Qualität, die den Lernweg bestimmt, wird in dem Bildausschnitt ebenfalls sichtbar: Lernen heißt, sich auf ein Terrain zu begeben, das unbekannt ist, das die lernende Person nur insofern kennt, als sie weiß oder hofft, dass es

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sich lernend erschließen lässt. Wie dieser Prozess des Erschließens aussieht, ist im Vorhinein nicht absehbar. Das im Nebel liegende Tal und die in der Ferne sichtbaren Berge stellen eine Metapher dar für diesen Aspekt des Lernens: Das Ziel des Lernens liegt in der Ferne sichtbar vor einem, doch Details sind nicht erkennbar und der Weg dorthin ist verborgen. Welche Tätigkeiten, welche Aufgaben sind es, die derartig an den Lernenden zehren, dass sie ihre Akkus aufladen müssen und Pausen brauchen? Einen Hinweis darauf gibt der Bildausschnitt rechts der Mitte, der einen Raum mit einer großen Menge verschiedenartiger Kabel zeigt und das darunter angeordnete Schild „Zutritt verboten“. Die Kabel scheinen auf den ersten Blick wirr und ungeordnet. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich eine Ordnung, die aber noch nicht vollständig ist. Einige der Kabel warten noch auf ihre Einbindung in Kabelbäume und Kabelschächte. Lernen, darauf weist dieser Bildausschnitt hin, heißt Ordnung in einer scheinbar unentwirrbaren Unordnung zu schaffen. Nach und nach, so das Bild, entwirrt sich das Chaos und eine Ordnung wird sichtbar, die der lernenden Person Zugang verschafft zu Räumen, die bisher unverständliches (und daher verbotenes?) Terrain darstellten. So lassen sich das Bild mit den Kabeln und das darunter befindliche Bild „Zutritt verboten“ zusammen verstehen: Lernen, das heißt das Entwirren des Chaos, ist Voraussetzung für den Zugang zu Lebensbereichen, die sonst verschlossen sind. Der aktuelle Lernkontext der Macher_innen der Collage legt nahe, dass es dabei um Zugang zu Berufen geht, die entsprechende Abschlüsse voraussetzen. „Zutritt verboten“ weist darauf hin, dass die Lernenden sich in der Rolle der aus bestimmten Bereichen Ausgeschlossenen verstehen und sie sich den Anforderungen unterwerfen müssen, die als Zugangsvoraussetzung in diesen Bereichen festgelegt werden. Erfolgreiches Lernen wird zu einer Art Eintrittskarte in Lebens- und Arbeitsbereiche, die den Lernenden bislang verschlossen sind. Ein wesentliches Lernziel, darauf weist „Zutritt verboten“ hin, besteht tatsächlich vor allem darin, Zugang zu Bereichen zu bekommen, die eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit, in diesem Fall eine Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens und eine Anerkennung dieser Gestaltung, versprechen. Was diesen Bereich im Einzelnen inhaltlich ausmacht, scheint nicht von zentraler Bedeutung. Was jedoch zentral zu sein scheint, wenn man die Bildausschnitte des Stegbauers und des Kabelraumes zusammen betrachtet, ist ein großes Maß an Ausdauer, Geduld und Gewissenhaftigkeit, die ihre Berechtigung in der aktuellen Tätigkeit finden und nicht in der Ausrichtung auf ein Ziel. Auf dem Bildausschnitt mit dem Stegbauer ist das Wohin nicht zu sehen, und wozu die Kabel letztendlich dienen, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Es ist das aktuelle Tun, die aktuelle Aufgabe, die zählt. Auf Lernen bezogen, geht es darum,

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das zu lernen, was ansteht. Das längerfristige Wozu scheint nicht von allzu großer Relevanz zu sein. In der folgenden Tabelle sind links zentrale Stichworte der Beschreibung und Auslegung aufgeführt, die rechts zu kursiv gesetzten Teilnehmer_innenPositionen und über die Einzelcollage hinausweisenden Verstehensaspekten zusammengefasst werden. Tabelle 3: Übersicht "Zutritt verboten" Themen in der Collage

Auslegung der Teilnehmer_innen-Position und Verstehensaspekte

Held, Kampf, Wettkampf, Überleben (Kampf ums …), Wille, Kampf mit sich, Kampf gegen Gegner, Körper – Maschine, Disziplin (durchhalten), Gehorsam, Effizienz, Konzentration

Lernen ist ein Kampf und das heißt, man muss diszipliniert und konzentriert lernen, um effizient zu sein. Ob und wie man lernt, kann man sich nicht aussuchen, sondern man muss damit fertig werden und sich zusammenreißen, auch wenn es hart ist. Lernen ist mit einem Kampf vergleichbar, in dem Disziplin, Konzentration und Effizienz eine wichtige Rolle spielen. Dieser Kampf erfordert eine Unterordnung unter bestimmte Bedingungen, die auch eine körperliche Ausrichtung auf Lernen beinhaltet.

Schatz, Reichtum, Kapital, materielle Güter, materielle Verfügung, Sichtbarkeit, Anerkennung, das Erfolgsversprechen, Macht (Schaltzentrale), Erfolg, „geschafft!“, Zertifikate, Nachweise, Bewertung

Wer lernt, kriegt einen gut bezahlten Job und kann sich was leisten. Dafür lohnt es sich zu lernen. Außerdem bin ich wer, wenn ich mir ein tolles Auto und einen Urlaub leisten kann. Erfolg und die damit einhergehenden materiellen Güter sind ein zentrales Motivationsmoment des Lernens, indem sie die individuellen Verfügungsmöglichkeiten erweitern und über Status-Symbole Sichtbarkeit und Anerkennung ermöglichen. Das Versprechen dieses materiellen Erfolges ist dem Lernen inhärent.

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Themen in der Collage

Auslegung der Teilnehmer_innen-Position und Verstehensaspekte

Alter, Lebensalter, Lebenslanges Lernen, Fröhlichkeit, kindliche Kreativität, Offenheit, Entdeckerfreude, kindliches Lernen – erwachsenes Lernen, Ernst, Konzentration (innen) vs. Fröhlichkeit, Leichtigkeit (außen)

Lernen tun wir das ganze Leben lang. Wie wir lernen, das verändert sich. Als Kind lernt man aus Neugierde und im Spiel, als Erwachsener macht das Lernen weniger Spaß und ist viel mühsamer. Lernen ist in allen Lebensaltern relevant und möglich. Es findet jedoch unter unterschiedlichen Vorzeichen statt: die offene Neugierde des kindlichen Lernens weicht der konzentrierten Ernsthaftigkeit des Lernens Erwachsener.

Weg, Ziel, unbekanntes Ter- Lernen ist wie ein langer, verschlungener rain, ein Feld erobern, Unord- Weg, den man vorher nicht kennt. Dabei lernt man nach und nach Neues kennen und verstenung – Ordnung hen. Lernen bedeutet sich, in unbekanntes Terrain zu begeben und Wege zu beschreiten, deren Verlauf und Ziel unbekannt ist, und dabei bislang unbekannte Bereiche und deren Ordnung und Regeln zu entdecken und zu verstehen. Befehl – Gehorsam, Verbot, Zutrittsbedingungen

Die Regeln, die bestimmen, was und wie man lernt, machen andere, ohne dass man selbst darauf Einfluss hat. So funktioniert auch der Zugang zu Jobs oder Weiterbildungen. Lernen findet unter Bedingungen statt, die von außen vorgegeben werden. Diese Vorgaben regeln auch den Zutritt zu Lern- und Arbeitsbereichen und sind nicht zu verhandeln.

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Themen in der Collage

Auslegung der Teilnehmer_innen-Position und Verstehensaspekte

Sichtbarkeit, Verletzlichkeit, Leiblichkeit, Anerkennung, Menschen in der Welt, Stimmung, Emotionalität, Sinnlichkeit, Menschen und Emotionen

Ich kann der Welt nicht ausweichen, sondern muss mich in ihr bewegen und handeln. Ich brauche die Anerkennung anderer, die ich z.B. über erfolgreiches Lernen oder über (sichtbaren) Erfolg, der auf erfolgreichem Lernen beruht, erfahre. Die Lernenden sind Menschen und mit ihrer Leiblichkeit der (Lern)Welt ausgesetzt. Sie verhalten sich zu ihr und in ihr und sind als soziale Wesen auf Anerkennung angewiesen, welche ihnen über erfolgreiches Lernen bzw. als erfolgreich Lernende zuteil wird.

Entspannung, Freizeit, Feiern, Pause, Pause als Mittel zum Zweck, Ruhe, Energie aufladen, Belohnung, Luxus, Urlaub

Pausen-Machen ist nötig, um die Akkus wieder aufzuladen und um sich nach Lernphasen zu belohnen. Ein wichtiges Gegengewicht zum Lernen sind die Pausen, in denen einerseits die eigenen Energiereserven aufgefüllt werden, die in den Phasen des Lernens wieder aufgebraucht werden, und die andererseits eine Belohnung für erfolgreiches Lernen darstellen.

Ambivalenz, Feiern – Kampf, Kampf – Lebensfreude, Balance/Gleichgewicht halten/erreichen

Ein gutes Gleichgewicht zwischen Zeiten, in denen ich unter Hochdruck lerne, und Zeiten, in denen ich entspannen kann, ist nicht selbstverständlich. Lernen bedarf eines ständigen Bemühens um Balance zwischen Phasen der Ruhe und des Feierns und Phasen der Anspannung und des Kampfs.

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Themen in der Collage

Auslegung der Teilnehmer_innen-Position und Verstehensaspekte

Zeit, JETZT, Pause, Zeit – Lernen, Zeitdruck, Lernrhythmus (Lernen-PauseLernen...), Zeitvergessen, Lernzeit, Mahnung

Lernen braucht Zeit. Entweder man verbringt seine Zeit mit Lernen oder man tut etwas anderes. Lernen findet unter dem Diktat der Zeit statt. Lernen braucht Zeit und die Lebenszeit teilt sich unter den Bedingungen des Lernens in Lernzeit und Nicht-Lernzeit ein.

Melancholie, Vergeblichkeit, Ziellosigkeit, Zielstrebigkeit ohne Ziel

Lernen heißt etwas tun, von dem man nicht sicher weiß, wohin es führt und ob es irgendwann ein Ende hat. Dem Lernen wohnt ein melancholischer Zug der Vergeblichkeit inne, die mit dem Streben nach einem unbekannten Ziel verbunden ist.

Arbeit, Arbeitsplatz (leicht, freundlich), privat – Arbeit, Arbeitsbedingungen, Ungestörtheit

Wie und wo Menschen (gut) lernen, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Lernende sind unterschiedlich. Lernen kann an den unterschiedlichsten Orten stattfinden, die den individuellen Anforderungen an Arbeits-/ Lernplätze entsprechen.

Selbstzweck, Spiel, Freiwilligkeit

Kinder lernen im Spiel und gleichzeitig ist für Erwachsene Spielen das Gegenteil von Lernen. Spielerisches Tun, das um der Tätigkeit selbst willen und freiwillig aufgenommen wird, ist mit dem Lernen über das NichtLernen oder über kindliches Lernen verbunden.

8. Vom Blick auf die Einzelcollage zu einer Gesamtsicht – Ergebnisse des Projekts „Lernbilder“

Bis zu diesem Punkt stehen die Collagen als Einzelwerke im Mittelpunkt. Ihre Analyse und Interpretation führt zu Thesen zum Lernen, die den visuellen Ausdruck der Teilnehmer_innen ausformulieren, und solchen, die Aspekte des Verstehens darstellen, das heißt zu über die Einzelcollage hinausgehenden, theoretisch informierten Thesen. Diese Thesen werden in der folgenden Tabelle in einer Synopse dargestellt, wobei thematisch ähnliche Thesen nebeneinander stehen. In diesem Schritt wird auch sichtbar, auf welche Themen sich in allen Collagen Hinweise finden lassen und welche nur in einzelnen Collagen zu finden sind. Diese Synopse ist die Basis für eine weitergehende Zusammenfassung der Thesen zum Lernen, wobei Landmarken und Orientierungen in einer Landschaft der Lernvorstellungen sichtbar werden, wie weiter unten ausgeführt wird.

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Tabelle 4: Synopse der Thesen zum Lernen Thesen zum Lernen auf Grundlage der Collagen Zutritt verboten

Unperfekt Heart

Köpfe

Lernen ist ein Kampf und das heißt man muss diszipliniert und konzentriert lernen, um effizient zu sein. Ob und wie man lernt, kann man sich nicht aussuchen, sondern man muss damit fertig werden und sich zusammenreißen, auch wenn es hart ist. Lernen ist mit einem Kampf vergleichbar, in dem Disziplin, Konzentration und Effizienz eine wichtige Rolle spielen. Dieser Kampf erfordert eine Unterordnung unter bestimmte Bedingungen, die auch eine körperliche Ausrichtung auf Lernen beinhaltet.

Lernen muss man, ob man will oder nicht. Lernen ist ein quälendes Muss, das Widerstand und Trotz erzeugt.

Lernen heißt kämpfen und zwar darum, mehr zu können, und darum, weiter zu lernen. So wie ich gestrickt bin, muss ich mich immer wieder dazu durchringen, das zu tun, was von mir erwartet wird. Lernen ist ein beständiger Kampf um die eigene Lern- und Handlungsfähigkeit, den das Lernsubjekt auszufechten hat beim Aufeinandertreffen von gesellschaftlichen Ansprüchen und individueller Verfasstheit.

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Thesen zum Lernen auf Grundlage der Collagen Zutritt verboten

Unperfekt Heart

Köpfe Ein gut bezahlter Job ist ein guter Grund zu lernen. Eine Arbeit zu finden, mit der man ausreichend Geld verdienen kann, ist eine Lernmotivation.

Wer lernt, kriegt einen gut bezahlten Job und kann sich was leisten. Dafür lohnt es sich zu lernen. Außerdem bin ich wer, wenn ich mir ein tolles Auto und einen Urlaub leisten kann. Erfolg und die damit einhergehenden materiellen Güter sind ein zentrales Motivationsmoment des Lernens, indem sie die individuellen Verfügungsmöglichkeiten erweitern und über StatusSymbole Sichtbarkeit und Anerkennung ermöglichen. Das Versprechen dieses materiellen Erfolges ist dem Lernen inhärent. Lernen heißt, die Zukunft in die Hand nehmen und das geht nicht ohne Entschiedenheit und Ausdauer. Lernen ermöglicht eine positive Gestaltung der Zukunft und erfordert Disziplin.

Mit Neugier und Entdeckerfreude macht Lernen Türen in die Welt auf. Lernen mit Neugier und Entdeckerfreude eröffnet einen Möglichkeits- und Entfaltungsraum.

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Thesen zum Lernen auf Grundlage der Collagen Zutritt verboten

Unperfekt Heart

Köpfe

Lernen tun wir das ganze Leben lang. Wie wir lernen, das verändert sich. Als Kind lernt man aus Neugierde und im Spiel, als Erwachsener ist macht das Lernen weniger Spaß und ist viel mühsamer. Lernen ist in allen Lebensaltern relevant und möglich. Es findet jedoch mit unterschiedlichen Vorzeichen statt: die offene Neugierde des kindlichen Lernens weicht der konzentrierten Ernsthaftigkeit des Lernens Erwachsener.

Lernen tut man immer, weil einem immer wieder Neues begegnet und man das auch verstehen will. Lernen findet in und mit der Zeit statt, in der Erlebnisse und Erfahrungen eng mit den ihnen zugesprochenen Bedeutungen verknüpft sind und werden.

Lernen kann man auch, wenn man alt ist. Außerdem muss man immer weiter lernen, damit man, auch wenn man schon älter ist, noch eine Arbeit findet. Lernen ist bis ins Alter möglich, und zugleich ist es notwendig zu lernen, um im Alter noch einsatzfähig zu sein.

Lernen ist wie ein langer, verschlungener Weg, den man vorher nicht kennt. Dabei lernt man nach und nach Neues kennen und verstehen. Lernen bedeutet, sich in unbekanntes Terrain zu begeben und Wege zu beschreiten, deren Verlauf und Ziel unbekannt ist, und dabei bislang unbekannte Bereiche und deren Ordnung und Regeln entdecken und verstehen.

Manchmal hilft mir Lernen dabei, mich und die Welt zu verstehen und manchmal bringt es alles durcheinander und ich fange von vorn an. Lernen beinhaltet als Prozess sowohl Erfahrungen der Orientierung, in denen Bedeutungsfindung und Sinngebung erlebt werden, als auch der Desorientierung, in denen Sinn und Bedeutung infrage gestellt sind.

Lernen heißt immer mehr wissen und immer mehr verstehen. Bildung ist Lernen, das über das Notwendige hinausgeht. Lernen heißt Wissen über die Welt erwerben, um das, was in der Welt geschieht, verstehen zu können. Bildung ist das Andere eines Lernens, das auf ein BestehenKönnen in der unbefragten Realität ausgerichtet ist.

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Unperfekt Heart

Köpfe

Die Regeln, die bestimmen, was und wie man lernt, machen andere, ohne dass man selbst darauf Einfluss hat. So funktioniert auch der Zugang zu Jobs oder Weiterbildungen. Lernen findet unter Bedingungen statt, die von außen vorgegeben werden. Diese Vorgaben regeln auch den Zutritt zu Lern- und Arbeitsbereichen und sind nicht zu verhandeln.

Lernen tut nicht nur der Kopf, sondern der ganze Mensch. Dabei spielen Ruhe, Freizeit und konzentriertes Lernen eine Rolle. Lernen findet in der Körperlichkeit des Individuums statt, in der Phasen der Ruhe, Phasen der freien Gestaltung und Phasen der disziplinierten Arbeit erlebt werden.

Lernen kann, tut und will jeder. Lernen ist dem Menschen von der Natur mitgegeben. Das Interesse zu lernen ist angeboren.

Pausen-Machen ist nötig, um die Akkus wieder aufzuladen und um sich nach Lernphasen zu belohnen. Ein wichtiges Gegengewicht zum Lernen sind die Pausen, in denen die eigenen Energiereserven aufgefüllt werden, die einerseits in den Phasen des Lernens wieder aufgebraucht werden, und die andererseits eine Belohnung für erfolgreiches Lernen darstellen.

Nobody is perfect – auch mit Lernen kriegt man das nicht hin. Lernen zielt auf Unfehlbarkeit, die der Menschlichkeit widerspricht.

Lernen ist anstrengend und man muss aufpassen, dass man eine Balance hinbekommt zwischen Lernen und NichtLernen. Lernen ist ein Prozess, der mit körperlicher und geistiger Anstrengung verbunden ist. Die Aufgabe der Lernenden besteht darin, eine Balance herzustellen zwischen Anstrengung und Erholung.

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Thesen zum Lernen auf Grundlage der Collagen Zutritt verboten

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Köpfe

Wenn ich lerne, kann ich mehr und bin sicherer, aber ich kann auch schnell am Ende meiner Fähigkeiten ankommen und die Sicherheit ist dahin. Lernen macht stark, aber nicht für immer das Damoklesschwert der Schwäche bleibt.

Lernen ist keine Selbstverständlichkeit; man muss mit Kraft und Beharrlichkeit dafür sorgen, dass es Platz bekommt. Um zu Lernen braucht es Kraft und Beharrlichkeit, mit denen die Hindernisse, die dem Lernen im Weg stehen, ausgeräumt werden.

Ich kann der Welt nicht ausweichen, sondern muss mich in ihr bewegen und handeln. Ich brauche die Anerkennung anderer, die ich z.B. über erfolgreiches Lernen oder über (sichtbaren) Erfolg, der auf erfolgreichem Lernen beruht, erfahre. Die Lernenden sind Menschen und mit ihrer Leiblichkeit der (Lern)Welt ausgesetzt. Sie verhalten sich zu ihr und in ihr und sind als soziale Wesen auf Anerkennung angewiesen, welche ihnen über erfolgreiches Lernen bzw. als erfolgreich Lernende zuteilwird. Ein gutes Gleichgewicht zwischen Zeiten, in denen ich unter Hochdruck lerne, und Zeiten, in denen ich entspannen kann, ist nicht selbstverständlich. Lernen bedarf eines ständigen Bemühens um Balance zwischen Phasen der Ruhe und des Feierns und Phasen der Anspannung und des Kampfs.

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Köpfe Lernen macht Angst, dass man es nicht schaffen könnte, und gleichzeitig tut man es, um weniger Angst vor der Zukunft haben zu müssen. Lernen ist mit Sorgen und Zukunftsangst verbunden. Sie gründen einerseits im Lernen selbst, dessen Scheitern möglich ist. Andererseits sind sie Lernmotivation, indem Lernen Zukunftssicherheit verspricht.

Lernen braucht Zeit. Entweder man verbringt seine Zeit mit Lernen oder man tut etwas anderes. Lernen findet unter dem Diktat der Zeit statt. Lernen braucht Zeit und die Lebenszeit teilt sich unter den Bedingungen des Lernens in Lernzeit und Nicht-Lernzeit ein.

Lernen heißt die Welt entdecken und sie gestalten. Lernen ist ein Prozess, in dem das Wahrnehmen der Welt und das Gestalten der Welt eng miteinander verwoben sind.

Nur was etwas mit mir zu tun hat, kann ich verstehen und lernen und das Gelernte in Zukunft nutzen. Lernen ist auf die Zukunft hin orientiert, bedarf aber zugleich einer Anbindung an die Lebenswirklichkeit der Lernenden. Aus dieser Verbindung können die Lernenden den Lerninhalten Sinn und Bedeutung zuschreiben.

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Thesen zum Lernen auf Grundlage der Collagen Zutritt verboten

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Köpfe

Lernen heißt etwas tun, von dem man nicht sicher weiß, wohin es führt und ob es irgendwann ein Ende hat. Dem Lernen wohnt ein melancholischer Zug der Vergeblichkeit inne, die mit dem Streben nach einem unbekannten Ziel verbunden ist.

Lernen heißt nachdenken und etwas tun. Im Lernen verbinden sich Reflexivität und Instrumentalität.

Man weiß nie, ob Lernen dahin führt, wo man hin will, aber man ist durch Lernen dahin gekommen, wo man ist. Die eigene Lernbiographie gleicht in der Rückschau einem gewundenen Weg, der auf Umwegen dahin geführt hat, wo die_der Lernende gerade steht.

Wie und wo Menschen (gut) lernen ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Lernen kann an den unterschiedlichsten Orten stattfinden, die den individuellen Anforderungen an Arbeits-/ Lernplätze entsprechen, wie z.B. dem Bedürfnis nach Ruhe.

Lernen tue ich allein und ich habe davon Vorteile. Lernen ist ein individueller Vorgang, der individuelle Anerkennung möglich macht.

Kinder lernen im Spiel und gleichzeitig ist für Erwachsene spielen das Gegenteil von Lernen. Spielerisches Tun, das um der Tätigkeit selbst willen und freiwillig aufgenommen wird, ist mit dem Lernen über das Nicht-Lernen oder über kindliches Lernen verbunden.

Meine Freunde und Bekannten verstehen nicht, warum ich in meinem Alter oder meiner Situation lernen will, und finden das überflüssig. Das soziale Umfeld hat kein Verständnis für individuelle Lernbemühungen und steht dem Lernenden ablehnend gegenüber.

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Thesen zum Lernen auf Grundlage der Collagen Zutritt verboten

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Köpfe

Lernen kann man in der Gruppe oder allein. Menschen lernen in Gemeinschaft und individuell.

8.1 L ANDMARKEN UND O RIENTIERUNGEN SUBJEKTIVER L ERNVORSTELLUNGEN Im folgenden Schritt werden die Thesen zum Lernen weiter verdichtet und in thematische Cluster zusammengeführt, die zentrale Aspekte der Thesen zum Lernen sichtbar machen.1 Dabei ergibt sich eine wesentliche Erkenntnis: Die herausgearbeiteten Aspekte lassen sich nicht angemessen in tabellarischer oder in einer anderen hierarchischen Form zur Darstellung bringen, ohne dass die Darstellung die Aussage verfälscht. In der Verdichtung der Synopse entstehen acht Gruppierungen von Themen, die einander ähnlich sind, einen gemeinsamen Themenraum bilden. Die thematischen Gruppen stehen zueinander in einem Verhältnis der Gleichrangigkeit; sind sie einander nicht über- oder untergeordnet. Es ergibt sich das Bild einer Landschaft, in der Räume sichtbar werden, die aus thematischen Landmarken gebildet sind. Aus zentralen Aspekten dieser thematischen Räume lassen sich im Forschungsprozess zusammenfassende Begriffe herausarbeiten, die eine gemeinsame Orientierung der Landmarken beschreiben. Diese Orientierungen2 ruhen auf dem Fundament der Landmarken und werden von diesen in ihrem Bedeutungsgehalt umrissen.

1

Bei der Gruppierung werden auch diejenigen Thesen berücksichtigt, auf die sich nicht in allen Collagen Hinweise finden lassen. Dabei nehme ich an, dass nicht die Häufigkeit des Auftretens einen Aspekt zu einem zentralen macht, sondern das Potenzial, andere Aspekte zu ergänzen oder zu kontrastieren (vgl. Bude 1985).

2

Der hier gewählte Begriff der „Orientierung“ in der Landschaft der Lernvorstellungen ist zu unterscheiden vom Begriff der „Lernorientierung“, den Nohl et al. verwenden und der „die unterschiedlichen Formen, in denen die Akteure ihr altes mit dem neuen Wissen relationieren“ (Nohl et al. 2015, S. 19) beschreibt.

Abbildung 4: Landmarken und Orientierungen subjektiver Lernvorstellungen

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Abbildung 4 zeigt Landmarken und Orientierungen subjektiver Lernvorstellungen. Die Linien in der Abbildung deuten mögliche Zusammenhänge an. Letztendlich sind zwischen allen Orientierungen Verbindungen denkbar. In welchem Verhältnis die jeweiligen Landmarken zu der zugehörigen Orientierung stehen und wie die Orientierungen die Frage nach der Bedeutung von Lernen unterschiedlich ausleuchten, wird in den folgenden Unterkapiteln ausgeführt, die die Orientierungen einzeln betrachten. 8.1.1 Materielle Güter Die Orientierung „materielle Güter“ setzt sich zusammen aus den Landmarken „Arbeit“, „Anerkennung“, „Sichtbarkeit“ und „Verfügungsmöglichkeiten“. Die Landmarken beschreiben die Art und Weise, in der materielle Güter wirksam werden und wie sie erworben werden können. „Arbeit“ ist in der Frage nach dem Erwerb materieller Güter ein zentraler Begriff. Der Erwerb und Besitz materieller Güter bildet insofern das Ziel von Lernen, als dieses dazu beitragen soll, eine Arbeit zu finden, die sich materiell auszahlt. Dieser materielle Nutzen des Lernens wird jedoch nicht nur als materielle Sicherheit wirksam, indem er die „Verfügungsmöglichkeiten“ des Subjekts vermehrt und so das Gefühl vermindert, der Welt ausgeliefert zu sein (Holzkamp 1985 und 1995). Diese ‚Lernrendite‘ wird auch insofern wirksam, als sie mit der Vorstellung verbunden ist, einerseits mit Hilfe von Konsumgütern, die als Statussymbole gelten, die eigene „Sichtbarkeit“ und damit die Möglichkeit gesellschaftlicher „Anerkennung“ erhöhen zu können, und andererseits über die bloße Mitgliedschaft in der Gruppe der Arbeitenden „Anerkennung“ zu bekommen. Die Orientierung „materielle Güter“ bestimmt sich demnach über „Arbeit“ als Voraussetzung des Erwerbs materieller Werte und über „Sichtbarkeit“, „Anerkennung“ und „Verfügungsmöglichkeiten“, die Effekte des Besitzes materieller Güter darstellen. 8.1.2 Wahrnehmen und Gestalten Die Orientierung „Wahrnehmen und Gestalten“ setzt sich zusammen aus den Landmarken „Sinn“, „Bedeutung“, „Prozess“, „Lebenswelt“ und „Möglichkeitsräume“, die ein Feld aufmachen, in dem Lernen als etwas gedeutet wird, das sowohl Gegenstand und Voraussetzung der Wahrnehmung als auch der Gestaltung ist. In dieser Orientierung wird Lernen sichtbar als eine Möglichkeit, „Sinn“ und „Bedeutung“ der Welt zunächst wahrzunehmen als etwas, was den Lernenden entgegen kommt, das in der Welt als Gegebenes bereits existiert und das es zu ergründen gilt, und zugleich als etwas, das von den Lernenden gestaltet wird.

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Lernen wird als „Prozess“ in seinen unterschiedlichen Qualitäten wahrgenommen und erlebt, während dieser „Prozess“ zugleich gestaltet wird, indem Lernende zum Beispiel ihre Lernumgebung den eigenen Bedürfnissen anpassen, Themen setzen oder ihre Zeit so verteilen, dass eine Balance herrscht zwischen Lern- und Freizeit. Ähnlich verhält es sich mit der „Lebenswelt“, die den Lernenden auf der einen Seite als gegeben begegnet und in ihrem Einfluss auf das Lernen wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite verstehen Lernende die Lebenswelt als zunehmend gestaltbar, wenn im Lernprozess ein zunehmendes Verständnis derselben entsteht. Lernen dient damit einer Erweiterung der „Möglichkeitsräume“, die in ihrer begrenzenden Wirkung und zugleich in ihrer Gestaltbarkeit wahrgenommen werden. Lernen wird in der Orientierung „Wahrnehmen und Gestalten“ sichtbar als Möglichkeit, sowohl die Wahrnehmung und das Verständnis dessen, was ist, zu erweitern, als auch als Voraussetzung jeder Form von Gestaltung dessen, was sein könnte. 8.1.3 Leiblichkeit Die Orientierung „Leiblichkeit“ setzt sich zusammen aus den Landmarken „Körper“, „Ich“, „Welt“ und „Verletzlichkeit“. Diese Orientierung zeigt, dass Lernvorstellungen davon geprägt sind, dass sich die Lernenden in der Welt befinden, die sie einerseits vorfinden und in der sie sich andererseits handelnd einbringen können. Die Landmarke „Körper“ macht deutlich, dass Vorstellungen vom Lernen verknüpft sind mit dem Erleben des eigenen Körpers, der insofern eine Rolle im Lernprozess spielt, als er berücksichtigt werden muss, zum Beispiel, wenn es um die Gestaltung von Lernorten geht und bei der Balance zwischen Lernzeit und Freizeit. Hier scheint der Körper als limitierender Faktor in den Lernvorstellungen auf. Zugleich ist der Körper der Ort des „Ich“, das sich in und mit dem Körper der „Welt“ stellt und in ihr sichtbar wird. Dieses „Ich“ entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit der „Welt“ und den in dieser verorteten Lernprozessen. Zu dieser Auseinandersetzung mit der Welt gehören auch Erfahrungen der Überforderung, der Angst, der „Verletzlichkeit“. Die Landmarke „Verletzlichkeit“ ist eng verbunden mit den beiden Landmarken „Körper“ und „Ich“, da die Erfahrung des Verletzt-Werdens auf körperlicher und seelischer Ebene möglich ist, und sich sowohl in einer Sorge um den Körper in Form einer Balance zwischen körperlich erschöpfender Lern-Arbeit und erholsamer Freizeit ausdrückt als auch in Darstellungen der Überforderung, die in Formen des Spiels ihren Ausgleich finden. Die Landmarke „Welt“ beinhaltet auch die Begegnung mit anderen, die soziale Einbindung des Lernens, die unterstützend und erschwerend wirken kann. Die Orientierung „Leiblichkeit“ macht die Einbindung des

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Lernens in das Spannungsfeld von „Ich“ – „Welt“ – „Körper“ deutlich und zeigt, wie Lernvorstellungen Formen der „Verletzlichkeit“ und der Verletzungen, die dem Lernfeld eigen sind, widerspiegeln. 8.1.4 Balance Die Orientierung „Balance“ wird von den Landmarken „Freizeit“, „Arbeitszeit“, „Erholung“, „Pausen“ und „Anstrengung“ näher bestimmt. Sie beleuchtet Formen des Umgehens mit Lernen und zugleich Formen und Folgen der Anforderungen des Lernens. Die Landmarken „Arbeitszeit“ und „Freizeit“ bilden eine Dichotomie: Lernen wird als mühevolle Arbeit verstanden, der die „Freizeit“ als Zeit der Muße und der Gestaltung frei von Nutzenerwartungen gegenüber steht, wie das zum Beispiel in Spiel und körperlicher Aktivität geschehen kann. Diese freie Zeit muss der „Arbeitszeit“ abgerungen oder zumindest bewusst als Kontrast eingefügt werden. Die „Freizeit“ wird als „Pause“ vom Lernen dargestellt, in der Phasen der „Ruhe“ Platz haben, die als „Erholung“ von den Anstrengungen der „Arbeitszeit“ verstanden werden. Eine „Pause“ kann somit sowohl von körperlicher Ruhe oder auch von besonderer körperlicher Aktivität geprägt sein. Wichtig ist, dass diese Zeit als frei von Lernanforderungen erlebt wird. Ähnlich wie das Paar „Arbeitszeit“ – „Freizeit“ sind auch die Landmarken „Erholung“ und „Anstrengung“ als Gegensatzpaar geformt: Die Phasen der „Erholung“ sind notwendig, um die „Anstrengung“, die mit dem Lernen einhergeht, leisten und verkraften zu können. Die Orientierung „Balance“ stellt eine Herausforderung dar, die Lernende im Lernprozess erleben: ‚Gestalte den Lernalltag so, dass den Anforderungen und Anstrengungen des Lernens Phasen der Ruhe und der Rekreation gegenüber stehen!‘ lautet die Aufforderung an die Lernenden. 8.1.5 Unsicherheit Die Orientierung „Unsicherheit“ wird näher bestimmt durch die Landmarken „Vergeblichkeit“, „unbekanntes Ziel“, „Stärke/Schwäche“ und „mögliches Scheitern“. Diese Orientierung verweist auf ein Feld, das aufgespannt wird durch Faktoren, die für die Lernenden Anlass zu Angst und Sorge bieten. Die Landmarke „unbekanntes Ziel“ verweist darauf, dass in einem Lernprozess das angestrebte Ziel zwar definiert sein kann, dass aber zugleich das schließlich Erreichte nicht zwangsläufig mit diesem Ziel übereinstimmen muss, dass sich Lernende im Laufe der Zeit verändern und damit auch ihre Ziele und dass sich das angestrebte Ziel am Ende als komplexer herausstellt, als das zunächst angenommen werden konnte. Es ist also möglich, dass man Lernschritte unternimmt, die

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auf ein spezifisches Ziel hinführen sollen, dass man aber am Ende einen (völlig) anderen, nicht antizipierbaren Punkt erreicht. Die Landmarke „Vergeblichkeit“ weist auf die Sorge hin, dass sich die Anstrengungen und Mühen, die für Lernprozesse aufgewandt werden, als letztendlich nicht Frucht tragend erweisen könnten. Auch dies ist, ähnlich der Landmarke „unbekanntes Ziel“ nicht vorherzusehen. Die Landmarke „Stärke/Schwäche“ macht eine Gegensatzbeziehung deutlich, die das Verhältnis der Lernenden zur Welt und ihre Verortung im Lernprozess widerspiegelt: Lernen soll eine Position der Stärke entwickeln helfen, zugleich stellt es im Prozess des Lernens sicher geglaubte Stärken infrage und versetzt die Lernenden in einen Zustand der Unsicherheit und Schwäche, der wiederum überwunden werden soll/muss. Das „mögliche Scheitern“ des Lernens, dieses Versuchs, Stärke zu erringen, hängt wie ein Damoklesschwert über jedem Lernprozess. Die Orientierung „Unsicherheit“ ist eine Orientierung, die auf die zeitliche Verortung des Lernens als einer zukunftsorientierten Tätigkeit verweist und zugleich auf die Gegenwärtigkeit von Bedingungen, die Anlass zu Unsicherheit und Angst geben. 8.1.6 Kampf Die Orientierung „Kampf“ ist bestimmt durch die Landmarken „Gegner“, „Beharrlichkeit“, „Kraft“, „Disziplin“ und „Handlungsfähigkeit“. „Kampf“ ist eine Orientierung, die auf den Umgang mit Lernen als Herausforderung verweist. Die „Gegner“ im Lerngeschehen sind einerseits die Lernenden selbst, die sich mit ihren inneren Widerständen konfrontiert sehen, und andererseits die Bedingungen, unter denen Lernen stattfindet und an denen sich die Lernenden stoßen und abarbeiten. Um im „Kampf“ zu bestehen, braucht es „Beharrlichkeit“, die verhindert, dass man vorschnell aufgibt, „Kraft“, die die Lernenden in die Lage versetzt, auch unter widrigen Umständen weiter zu machen, und „Disziplin“, die dazu verhilft, bei einer Sache zu bleiben, für die man sich entschieden hat. Ziel des Kampfes ist es, die eigene „Handlungsfähigkeit“ zu erhalten und zu erweitern. Das Zusammenspiel der Landmarken der Orientierung „Kampf“ beschreibt Lernen als einen Prozess, der den Lernenden großen Einsatz abverlangt und in dem sie auf Ressourcen zurückgreifen müssen, die nicht unbegrenzt und nicht für jede_n Lernende_n in gleichem Maß zur Verfügung stehen. 8.1.7 Neues Die Orientierung „Neues“ wird bestimmt durch die Landmarken „Verstehen“, „Regeln/Ordnung“, „Wissen“ und „Bildung“. Diese Orientierung umreißt die

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Zielsetzung jeglicher Art von Lernen. Die Landmarke „Verstehen“ weist darauf hin, dass Lernende die Welt als etwas Bedeutungsvolles erleben, dessen Sinn es zu ergründen gilt. Dazu gehört ganz zentral die Kenntnis der „Regeln“ bzw. der „Ordnung“, in denen sich Bedeutungen bewegen und hervorgebracht werden können. Zur Landmarke „Regeln/Ordnung“ gehört auch das Erlangen der Kenntnis der Regeln des sozialen Zusammenlebens, welche mit Hilfe eben dieser „Regeln“ und „Ordnungen“ generiert, weitergegeben und erworben werden. Die Landmarke „Bildung“ verweist darauf, dass Lernende Lernen nicht nur als Weg verstehen, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlangen, sondern auch als Weg zu einer entwickelten Persönlichkeit, die sich zeitlebens verändern wird. Die Orientierung „Neues“ weist auf das Ziel hin, das mit Lernen verbunden wird und auf die Elemente dieses „Neuen“, denen Lernende begegnen. 8.1.8 Zeit Die Orientierung „Zeit“ ist bestimmt durch die Landmarken „Lernweisen“, „(Lebens)Alter“, „Lernzeit – Nicht-Lernzeit“, „Diktat der Zeit“ und „Lernbiographie“. Die Landmarke „Lernweisen“ verweist darauf, dass sich die Art zu lernen im Laufe der Zeit verändert, was eng verbunden ist mit der Landmarke „Lernbiographie“, die auf die Wahrnehmung und Beschreibung des eigenen Lebens mit dem Fokus auf Lernen und Lernerfahrungen verweist. Das „(Lebens)Alter“ spielt eine Rolle bei der Auswahl dessen, was Lernende als wichtigen Lernstoff oder Lernaufgabe betrachten, zudem ist Lernen ein lebenslanger Vorgang, der in allen „(Lebens)Altern“ anzutreffen ist. Die Landmarke „Lernzeit – Nicht-Lernzeit“ weist darauf hin, dass Lernende deutlich unterscheiden zwischen Zeiten, in denen sie lernen, und solchen, die als frei von Lernanforderungen wahrgenommen werden. In den Zeiten des Lernens herrscht ein spürbares „Diktat der Zeit“, das Freizeit und Lernzeit rhythmisiert und die Lernenden unter deutlichen Zeitdruck setzt. Die Orientierung „Zeit“ macht deutlich, dass Lernen als zeitlich verortetes Geschehen stattfindet, das die Lebenszeit auch auf einer Mikroebene in Phasen des Lernens und des Nicht-Lernens gliedert, was immer wieder als Zeitdruck empfunden wird, und das zugleich auf einer Makroebene das gesamte Leben eines Menschen durchzieht und sich im Laufe des Lebens verändert.

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8.2 V ORSTELLUNGEN VOM L ERNEN ALS V ORSTELLUNGEN VOM L EBEN ? Die dargestellten Orientierungen und die ihnen zugrunde liegenden Landmarken stellen eine (Re)Konstruktion dar, die es ermöglicht, Strukturen sichtbar zu machen, die die Landschaft der Lernvorstellungen erwachsener Lernender durchziehen. Aus den Bedeutungen, die erwachsene Lernende dem Lernen zuschreiben, lassen sich die beschriebenen acht Orientierungen (re)konstruieren, die zentrale Aspekte der Bedeutung von Lernen aufzeigen. Die Landmarken bilden dabei jeweils das Fundament einer Orientierung und spezifizieren den thematischen Raum, den sie umfasst. In der Landschaft der Lernvorstellungen bilden die Orientierungen zentrale Formationen, indem sie die Landmarken prägnant zusammenfassen, während die Landmarken konkrete Ausprägungen der Orientierungen beschreiben. Die beschriebenen Orientierungen machen deutlich, dass die Vorstellungen, die Erwachsene vom Lernen haben, die Bedeutung, die Lernen für sie hat, große Nähe aufweist zu Aspekten des (Alltags)Lebens und seiner Bewältigung. Die Sorge um materielle Güter, die Wahrnehmung und Gestaltung des eigenen Seins, die Existenz als leibliches Wesen, die Suche nach und die Notwendigkeit von Balance, der Umgang mit Unsicherheit, die sich auch aus der Wahrnehmung des Lebens als Kampf speist, der Umgang mit und der Zugang zu Neuem und die Zeit als ständige Begleiterin, sind Teile des Lebens, die sich auch in den Vorstellungen vom (Alltags)Phänomen Lernen widerspiegeln. Die Orientierungen in der Landschaft der Lernvorstellungen zeigen auf, dass Lernen nicht als Vorgang verstanden und erlebt wird, der vom Erleben und Bewältigen des Alltags getrennt ist, sondern eingebettet in diesen vonstatten geht – und vonstattengehen muss – sowie auf Ressourcen zurückgreift und diese zugleich entwickeln hilft, die das Bewältigen des Lebens als solches ermöglichen. Orientierungen und die ihnen zugrunde liegenden Landmarken verweisen demnach auf die Verwobenheit des Lernens mit dem Leben als solches, was sich in den Vorstellungen vom Lernen widerspiegelt, die erwachsene Lernende zum Ausdruck bringen. Orientierungen und Landmarken in der Landschaft der Lernvorstellungen können damit verstanden werden als erlebte Verbindung von Leben und Lernen einerseits und als Hinweis auf die Notwendigkeit, Lernen als ein Teil des Lebens zu verstehen und zu gestalten.

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8.3 P ERSPEKTIVITÄT In der Zusammenschau sind die oben beschriebenen Orientierungen und Landmarken, anders als das in einer Tabelle geschieht, nicht hierarchisch zu ordnen oder als voneinander unabhängige Größen zu betrachten. Wie die Details in den Collagen auch, sind die Orientierungen Bausteine, man könnte sagen Mosaikstücke, die das Gesamtbild des Lernens bilden. Keine der Orientierungen oder Landmarken ist allein als zentral und besonders wichtig anzusetzen; sie bilden eher ein Netzwerk, das aus unterschiedlichen Knotenpunkten besteht. Je nach Perspektive und Fragestellung rücken bestimmte Teile des Netzes in den Vordergrund, während andere den Hintergrund rücken, ohne dabei ihren Einfluss auf das Gesamtbild zu verlieren. Diese Netzartigkeit der Verbindung der Landmarken und Orientierungen ermöglicht ein Verständnis von Lernvorstellungen, das Einzelaspekte als Teile eines Ganzen betrachtet und den Fokus auf dieses Ganze auch bei der Untersuchung von Details nicht aus den Augen verliert. 8.3.1 Perspektivität auf der Ebene der Collagen Hinweise auf eine Perspektivität der Vorstellungen vom Lernen lassen sich schon auf der Ebene der Collagen selbst finden. In jeder der Collagen gibt es Hinweise auf ein zentrales Thema, um das herum andere Themen sichtbar werden: In der Collage „Unperfekt Heart“ steht das Menschliche des Lernens im Zentrum (Herz, viele Menschen in unterschiedlichen Situationen, unterschiedliche Altersgruppen und Geschlechter) und gleichzeitig weisen Details der Collage auf erlebten Druck hin, auf Verletzlichkeit, auf Anstrengung und Konzentration und die Spannung zwischen Wissen-Wollen und dem Verloren-Gehen im Labyrinth des (Noch-)Nicht-Wissens. In der Collage „Köpfe“ steht im Mittelpunkt der Büffel in all seiner Stärke und Beharrlichkeit, was einen Kontrapunkt zu Darstellungen von (Zukunfts)Angst, Anstrengung und Ungewissheit darstellt. Zugleich werden auch die Aspekte Arbeit, im Sinne von Erwerbstätigkeit, Lernen als Anpassung an Anforderungen und als Blick über das Notwendige hinaus, das Thema Zukunft als Zukunft der nächsten Generation und die Frage nach einem Gleichgewicht sichtbar. In der Collage „Zutritt verboten“ finden sich an vielen Stellen Hinweise auf das Thema „Lernen als Kampf“. Dieses Thema ist jedoch vielfach eingebunden in andere Themen wie Zeit, materielle Güter und auch hier findet sich der Hinweis auf eine Balance zwischen Freizeit und Lernzeit.

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Je nachdem, welches Motiv als zentral angenommen wird, verändert sich der Blick auf die anderen ebenfalls in der Collage verarbeiteten Details. So könnte die Collage „Zutritt verboten“ auch vorrangig aus der Perspektive der Zeit betrachtet werden. Das hätte zur Folge, dass zum Beispiel an den Boxer die Frage gestellt wird, wie er sich zur Zeit verhält, ebenso an die Tanzenden und das kleine Mädchen mit der Staffelei. Möglicherweise käme man zu einer zentralen Aussage wie: „Alles hat seine Zeit.“ Damit geriete das Zeitregime des Lernens, sowohl im Alltag als auch über die Lebensspanne hinweg, und die Aufgabe für die Lernenden, die Zeit zu nutzen und mit ihrem Regime umzugehen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dieselbe Collage kann auch unter der zentralen Fragestellung der Suche nach Ordnung als Aspekt des Lernens betrachtet werden. Dann würden die Menschen in ihren unterschiedlichen Kontexten und Darstellungen zu Suchenden, deren Suche unterschiedliche Formen annimmt. Die Darstellungen von Arbeits-/Lernorten könnten dann als mögliche Such-Kontexte oder als Bedingungen einer (erfolgreichen) Suche verstanden werden. In der Collage „Unperfekt Heart“ könnte die Generationenfolge ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt werden. Der Effekt könnte eine besondere Wahrnehmung für verschiedene Formen des Lernens in verschiedenen Lebensphasen sein. Eine andere Perspektive auf die Collage wäre der Blick von der Doppelfigur „Niedergeschlagenheit/Aggression“ aus, die als Hinweis auf mögliche Reaktionen auf Lernanforderungen gesehen werden kann. Dieser Blickwinkel würde an die übrigen Details der Collage die Frage stellen, inwiefern sie Hinweise bieten auf andere Reaktions- und Umgehensweisen oder aber inwiefern sie Aspekte des Lernens, wie zum Beispiel Neugier, aufwerfen, die einen Kontrast bilden zu Niedergeschlagenheit und Aggression. In der Collage „Köpfe“ ließe sich die Frage nach dem Lernen im und für das Alter in den Mittelpunkt rücken. Aus dieser Perspektive ließen sich (hier stellvertretend für andere Details) der Büffelkopf und der Kopf mit dem brennenden Haar als Hinweise auf zwei mögliche Sichtweisen auf Lernen und Alter – stoische Ruhe und hilflose Verzweiflung – begreifen. Eine andere Perspektive könnte diejenige des „ewigen“ Kampfs sein, in deren Kontext zum Beispiel das Stichwort „Balance“ oder „Anfang“ und „Ende“ des Wegs ein Bedeutungsspektrum erhalten, das den Begriff des Kampfes näher bestimmt: Der Kampf gilt dann einem immer wieder zu erringenden Gleichgewicht, während gleichzeitig die Frage auftaucht, wo Anfang und Ende dieses Kampfes liegen, ob dieser Kampf überhaupt jemals enden wird und ob ihn die Beteiligten tatsächlich bewusst und eventuell sogar freiwillig begonnen haben und immer wieder beginnen, oder ob diese Wahl nicht eigentlich außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt.

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Es wird deutlich, dass die in den Collagen vorfindlichen Bild- und Textausschnitte ihre Bedeutungen nicht willkürlich mit jeder neuen Perspektive wechseln, sondern dass sie je nach Fragestellung und damit je nach Blickwinkel neue Verbindungen eingehen, ein neues Verhältnis zueinander entwickeln bzw. dieses Verhältnis für die fragende Betrachterin sichtbar wird. Die Möglichkeit, die Perspektive zu verändern, bedeutet auch nicht, dass das von den Gestalter_innen als zentral zum Ausdruck gebrachte Thema willkürlich ist. Die Situation, in der die Lernwerkstatt verortet ist, mit dem jeweiligen situationalen und individuellen Kontext, bildet das Bedingungsgefüge, in dem die Gestalter_innen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die aktuellen Realisierungen ihrer Lernvorstellungen – trotz oder wegen des jeweiligen Kontextes – zum Ausdruck bringen. 8.3.2 Effekte der Perspektivität auf die Interpretationsarbeit Die Perspektivität der Lernvorstellungen wird in der Phase der Analyse der Details und erst recht in der Phase der Auslegung der Collagen wirksam: Jedes Detail ruft Assoziationen hervor und wirft Fragen auf, und die Antworten auf diese Fragen, die Wahrnehmung der Assoziationen stellen das betrachtete Detail in einen imaginären Zusammenhang. Nur so kann es auf seine mögliche Bedeutung hin befragt werden, kann es überhaupt Bedeutung erlangen. In der Phase der Auslegung der Collagen, in der die Details explizit in ihren Zusammenhängen befragt werden, wird die beschriebene Perspektivität noch deutlicher: jedes Detail lebt von der Einbettung in Zusammenhänge und diese Zusammenhänge stellen sich als alles andere als statisch heraus. Die Interpretation der Collagen wird somit zu einem Spiel mit den Kontexten, in denen sich nicht eine lineare Geschichte herauskristallisiert, sondern ein Geflecht von Aspekten sichtbar gemacht werden kann. Dieses Sichtbarmachen geschieht in einem Prozess, der einer Detektivarbeit ähnelt: Die Verdachtsmomente werden so lange immer wieder neu sortiert und verdichtet, bis sich ein wahrscheinliches Muster zeigt. Im Falle der Interpretation von Collagen bietet dieses Muster Hinweise darauf, aus welchen Aspekten sich Lernvorstellungen erwachsener Lerner_innen zusammensetzen, wie diese im Verhältnis zueinander stehen und dass diese Verhältnisse nicht statisch sind, sondern abhängig von der jeweils eingenommenen Perspektive. Perspektivität meint auch, dass die Sichtweise der Forschung unterschiedliche Interpretationen der Lernvorstellungen zulässt, dass diese aber nicht beliebig sind.

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8.3.3 Perspektivität als Effekt kontextualer Einbindung Hinweise auf die beschriebene Perspektivität im Hinblick auf die Perspektive der Gestalter_innen der Collagen lassen sich auch bei einer vergleichenden Zusammenschau der Collagen erkennen: die Themen, die in den Collagen sichtbar werden, überschneiden sich, dennoch ist in jeder Collage eine eigene Darstellungsweise und damit eine der Collage eigene Perspektive gewählt worden (vgl. Wiesing 2000, S. 16). Diese Perspektive steht in engem Zusammenhang mit den Gestalter_innen der Collage, die ihre spezifischen Wahrnehmungen und Themen auf spezifische Weise zum Ausdruck bringen. So lassen sich in den Collagen Besonderheiten feststellen, die sich verstehen lassen als Ausdruck der jeweiligen Kontexte und Lebenssituationen, in denen die Lernenden sich zum Zeitpunkt der Lernwerkstatt befinden. Es scheint kein Zufall zu sein, dass in der Collage der jungen Frauen im Freiwilligen Sozialen Jahr, am Beginn des Erwachsenseins und in einem auf soziale Einbindung ausgelegten Lernkontext lachende Menschen in sozialen Situationen, die Rückbindung des Lernens an Familie und ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft die Collage prägen; Mühe und Gefahren haben auch ihren Platz, stehen aber nicht im Mittelpunkt. Die Lebenssituation, die in der Collage durchscheint, ist die eines neugierigen und zuversichtlichen Aufbrechens in die unbekannte Welt eines neuen Lebensabschnitts; Ängste und Unsicherheiten spielen durchaus eine Rolle, sind aber nicht vorherrschend. Lernen ist in dieser Darstellung ein wesentlicher Teil des Lebens in all seinen Facetten. Die Collage, die von Umschüler_innen zwischen 26 und 37 Jahren ohne eigene Familie gestaltet wurde, vermittelt ein anderes Bild: hier stehen die Anforderungen an die_den einzelne_n Lernende_n im Mittelpunkt und das Versprechen, dass mit bzw. nach erfolgreich durchlaufenen Lernphasen materielles und symbolisches Kapital wachsen. Einen Kontrapunkt bilden hier Freizeitbeschäftigungen und Spiel, die jedoch räumlich abseitig bleiben und vor allem über ihr Gegenteil, die Arbeit (i.w.S.) bestimmt sind. Es entsteht der Eindruck von Einzelkämpfer_innen, die, die Anerkennung durch materielle Güter vor Augen, Lernen als eine zu erstreitende Eintrittskarte in eine Welt jenseits ihrer bisherigen Möglichkeiten verstehen. Die Gruppe älterer Umschüler_innen, deren Mitglieder alle im Familienkontext mit Kindern und Partner_innen leben, entwirft in ihrer Collage wiederum eine andere Perspektive auf Lernen: Hier wird deutlich, dass Lernen eine Anstrengung darstellt, die an den Rand des Machbaren führen kann, ein Kampf, der immer wieder neu ausgefochten werden muss und dessen Ausgang ungewiss ist. Dieser Kampf wird geführt mit dem Blick auf die Chancen der bereits existie-

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renden nächsten Generation und den Notwendigkeiten materieller Sicherheit. Die Erfahrung der eigenen Stärke und Beharrlichkeit bietet dabei einen zentralen Halt. In diesen knappen Interpretationen wird sichtbar, wie zum Beispiel der Aspekt der Einbindung in die soziale Welt in jeder der Collagen eine andere Rolle spielt: Ist er für die jungen Frauen im Freiwilligen Sozialen Jahr Teil der Lernwelt, in der sie aufgehoben sind, so stellt er für die Gruppe der jüngeren Umschüler_innen eher den Hintergrund ihrer kämpferischen Haltung der Lernwelt gegenüber dar, während er für die älteren Umschüler_innen eine Zukunftsperspektive über die eigene Lebenszeit hinaus bildet. Die Struktur einer Landschaft von Orientierungen der Lernvorstellungen mit ihren spezifischen Landmarken und die situationale und kontextuale Variabilität dieser Landschaft lässt Lernen als komplexes Geschehen sichtbar werden, das sich nicht auf die eine oder andere Größe reduzieren lässt. Petra Grell hat diese Besonderheit des Lernens bei der Untersuchung von Lernwiderständen beschrieben: „Lernwiderstand als Form des Widerstands gegen Lernzumutungen ist ein kontextbezogenes Konzept. Selbst Teilnehmende, die aus einer Außenperspektive als extrem stark verweigernd wahrgenommen werden […], artikulieren ein positives auf Verfügungserweiterung angelegtes Bild des Lernens.“ (Grell 2006, S. 248) Aus der Warte des Projekts „Lernbilder“ gesehen, wird dieser scheinbare Widerspruch unter der Prämisse der Perspektivität von Lernvorstellungen nachvollziehbar: Widerständigkeit in der Lernsituation verweist darauf, dass das, was die Lernenden tun sollen, im Widerspruch steht zu dem, was sie für sinnvoll oder machbar halten. Die Lernsituation wird also nicht nur vom äußeren Kontext bestimmt, sondern auch von den Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen der Lernenden. In der Landschaft der Lernvorstellungen, die die Basis für Bewertungen aktueller Lernsituationen bildet, werden bei einem Missverhältnis zwischen Wollen und Sollen die Orientierung „Kampf“ und speziell die Landmarken „Gegner“, „Kraft“ und „Handlungsfähigkeit“ ins Zentrum rücken. Das heißt jedoch nicht, dass die anderen Orientierungen verschwinden, sondern dass sich die Landschaft der Lernvorstellungen in diesem Moment so verschiebt, dass die Orientierung „Kampf“ das Zentrum bildet, und die übrigen Orientierungen und die entsprechenden Landmarken sich um dieses Zentrum gruppieren. Es wäre auch denkbar, dass sich die Orientierungen „Kampf“ und „Unsicherheit“ den zentralen Platz teilen in der Wahrnehmung der Situation. Es wird deutlich, dass ein Verständnis von Lernvorstellungen als ein der Perspektivität unterliegender Aspekt dessen, was Lernende in Lernsituationen aufgrund ihrer Biographie und ihres Lebenslaufs „mitbringen“, dazu beiträgt einen subjektorientierten Blick auf Lernen zu entwickeln. Die (Re)Konstruktion der

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Landmarken und Orientierungen in einer Landschaft der Lernvorstellungen zeigt auf, dass Lernen eng mit zentralen Aspekten der Lebensgestaltung und mit der Einbindung in gesellschaftliche Zusammenhänge verknüpft ist und aus diesem Grund als kontextuales Geschehen verstanden werden muss (vgl. auch Faulstich/Bracker 2015).

9. Zusammenfassende Betrachtung des Projekts „Lernbilder“

Dieses abschließende Kapitel ist der zusammenfassenden Betrachtung des Projekts „Lernbilder“ gewidmet und bietet Raum für einen Durchgang durch ausgewählte Teilbereiche der Untersuchung zu Lernvorstellungen erwachsener Lernender. Dabei werden zentrale Punkte des Forschungsprojekts aufgegriffen und auf ihren Ertrag hin befragt: die Verortung der Collagen in der Diskussion um Bilder als Träger von Sinn und Bedeutung, die Besonderheiten der „Lernwerkstatt“ und ihr Einfluss auf den Entstehungsprozess der Collagen, der Umgang mit den Herausforderungen der Collagen-Interpretation und schließlich die (Re)Konstruktion von Orientierungen und Landmarken in der Landschaft der Lernvorstellungen. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf offene oder sich neu öffnende Forschungsfragen im Kontext des Projekts „Lernbilder“.

9.1 B ILDER

ALS

Z UGANG ZUM L ERNEN E RWACHSENER ?

Der im Projekt „Lernbilder“ gewählte Weg, Bilder als Zugang zu Vorstellungen und Haltungen zu wählen, die in Sprache anders oder gar nicht zum Ausdruck kommen, basiert auf der Annahme, dass Bilder Ebenen des Mensch-Seins ansprechen bzw. zum Ausdruck bringen, die weniger einer Logik des Fertigen, Abgeschlossenen gehorchen, sondern vielmehr einer Logik des Vorläufigen, des Unfertigen, des Beweglichen, des „Frag-Würdigen“. Die Sinngebung und Sinnfindung, die mittels Bildern geschieht, bezieht den Menschen als Ganzen ein, seine Geschichte und Biographie, seine individuelle und soziale Situation, seine Befindlichkeit, seine Erinnerungen und seine Zukunftsvorstellungen. Aus dem Zusammenspiel dieser Aspekte entstehen für die_den Betrachter_in von Bildern aus einzelnen Wahrnehmungen bedeutungsvolle (oder auch in ihrer Bewertung als „nicht-bedeutungsvoll“ bedeutsame) Zusammenhänge, die in einem Verhält-

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nis zum eigenen Erleben der Welt und dem Leben in der Welt stehen. In der Arbeit mit Collagen in Lernwerkstätten spielt dieser Moment im Umgang und in der Begegnung mit Bildern eine zentrale Rolle: Zunächst werden die Teilnehmer_innen der Lernwerkstätten von den Bildern in Zeitschriften angesprochen, es entsteht eine individuelle Bedeutung, eine Assoziation, die in diesem Fall auf das eigene Lernen bezogen wird. Diese Bilder, die die Teilnehmenden assoziativ und spontan ansprechen, werden ausgewählt, in der Gruppe zur Diskussion gestellt und gegebenenfalls in die Collage aufgenommen. In der Folge entstehen in der Collage aus dem Zusammenspiel der Einzelbilder neue, die Einzeldetails überschreitende Bedeutungen. Diese beziehen sich dabei nicht nur auf das, was dargestellt ist, sondern beziehen ihre Aussagekraft auch aus dem Wie der Darstellung. Der Stil der Collage ist ein Aspekt der ikonischen Differenz, die das Bild aus sich selbst heraus zu einer Quelle möglicher Bedeutungen werden lässt. In den Collagen der Teilnehmenden der Lernwerkstätten findet ein Zusammenspiel von Einzelbedeutungen und den Bedeutungen statt, auf die die Collage als Ganzes Hinweise enthält. Für die Entstehung und Herstellung von Bedeutung in den Collagen spielen sowohl die Macher_innen der Collagen als auch die Betrachter_innen in ihrer jeweiligen Situiertheit eine Rolle. Zudem entsteht im Laufe der Interpretation der Collagen eine Übersetzung des ästhetischen Materials in sprachliches bzw. textförmiges Material. Der Übersetzungsvorgang zieht ein weiteres Moment der Bedeutungsentstehung ein: die „Verwandlung“ der Collagen in Sprache geschieht unter der Maßgabe einer expliziten Fragestellung, die Einfluss nimmt auf die Wahrnehmung, auf die Fragen, die im Laufe der Interpretation gestellt, und auf die Schlüsse, die am Ende gezogen werden. Bilder, hier Collagen, führen eine Vorstellung von Forschung ein weiteres Mal ad absurdum, die die Arbeit der Forschenden darin sieht, Datenmaterial zu sammeln, das nur aus der Wirklichkeit entnommen, anschließend gereinigt und unter dem Mikroskop, das heißt mit dem Blick der Forschenden, betrachtet werden muss, um zu einem Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen. Das Forschen mit Collagen macht deutlich, dass die Analyse, das heißt das kleinteilige Zerlegen der Wirklichkeit, nur ein Teil der Forschungsarbeit ist. Einen mindestens ebenso großen Teil nimmt das (Wieder)Zusammensetzen der Teile ein, das im Projekt „Lernbilder“ in Form von Forschungswerkstätten auch in der Auseinandersetzung mit anderen Forscher_innen stattfindet und nach einer plausiblen Möglichkeit der (Re)Konstruktion sucht. Diese (Re)Konstruktion von Wirklichkeit mit Hilfe ästhetischer Medien ist eine, die dem Leben und der Leiblichkeit von Menschen ähnlich ist: Lernende bewegen sich in einer Fülle von Sinneseindrücken und Wahrnehmungen, die es in ihrer Gesamtheit und in ihren Teilen mit Bedeutung zu versehen gilt. Dabei

Z USAMMENFASSENDE B ETRACHTUNG

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finden Auswahlprozesse statt, es werden Zusammenhänge hergestellt, Assoziationen und Erinnerungen lenken den Prozess der Bedeutungsherstellung und nicht zuletzt werden die erarbeiteten Bedeutungen mit dem sozialen Umfeld abgestimmt. Wenn es also auch darum geht, in der Lernforschung Wege zu entwickeln, die das Subjekt des Lernens – den lernenden Menschen – in seiner Leiblichkeit ernst nehmen, dann ist ein Zugang, der die Ästhetik als Teil der Wirklichkeit des Menschen einbezieht, ein vielversprechender.

9.2 L ERNWERKSTÄTTEN : DIE ARBEIT AM GEMEINSAMEN W ERK ALS O RT DER B EDEUTUNGSPRODUKTION Lernwerkstätten, so zeigt sich im Verlauf des Projekts „Lernbilder“, sind ein besonderes Arrangement. Sie sind einerseits ein Ort der Datenerhebung, an dem Collagen entstehen, die anschließend von anderen Personen als den beteiligten Collagen-Macher_innen ausgewertet werden. Insofern sind sie den Teilnehmer_innen äußerlich; sie haben mit der Entstehung des Arrangements wenig zu tun. Zugleich sind sie ein Ort, an dem die Teilnehmenden Fragen an ihr eigenes Lernen bzw. die eigenen Vorstellungen von Lernen stellen können und sollen. Hier wird kein vorhandenes Wissen abgefragt, keine Bewertung nach den Kriterien „richtig“ und „falsch“ vorgenommen, sondern die Forschenden gestalten mit Hilfe von Materialien und Methoden eine Umgebung, in der zum gemeinsamen Nachdenken und Nachspüren eingeladen wird. Das Erstellen von Collagen stellt eine Form dar, in der erwachsene Lernende ihre Vorstellungen vom Lernen entwickeln und zum Ausdruck bringen können. Insofern sind die Collagen kein Mittel der Datenerhebung in dem Sinne, dass es vorliegende Sachverhalte gibt, die es abzufragen und zu interpretieren gilt. Vielmehr steht der Gedanke im Vordergrund, dass Lernvorstellungen in der Auseinandersetzung mit der Frage „Was bedeutet Lernen für Dich?“ erst realisiert werden, im Sinne von „real werden“: Vorstellungen werden in der Kommunikation in der Gruppe geäußert, befragt, verworfen oder zugespitzt. Sie werden vom engeren und weiteren Kontext, in dem die Frage gestellt wird, geformt. Insofern stellen die Lernwerkstätten, in denen die Collagen entstanden sind, auch keine Orte der Erhebung individueller Daten dar. Die Collagen sind Ausdruck und Ergebnis einer gemeinsamen Reflexion über Lernvorstellungen und in diesem Sinne Ausdruck einer Gruppe; die Arbeit an den Collagen ist ein Rahmen, in dem diese Reflexion stattfinden kann. Eine wesentliche Rolle in der Lernwerkstatt spielt die Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Lernen auf der Grundlage der Aufgabenstellung stattfindet, eine Collage zu erstellen. Es geht darum, etwas Blei-

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bendes zu gestalten, etwas, das sichtbar wird und dessen Details und Komposition, anders als etwa in einer Gruppendiskussion, für die Dauer der Lernwerkstatt für alle befragbar bleiben werden. Gemeinsames Handeln und Gestalten erfordern andere Formen der Auseinandersetzung als eine Diskussion über ein gemeinsames Thema. Zudem stellt die Aufgabe, mit Bildern zu arbeiten, eine Erweiterung der üblichen Reflexionssituationen dar, die meist verbal-sprachlich angelegt sind. Bilder sprechen andere Ebenen des Selbst an, und erlauben es, andere Ebenen des Selbst zum Ausdruck zu bringen. Dieses Angesprochen-Werden von und Sich-Ausdrücken in visuellen Materialien trifft in der Lernwerkstatt auf die explizite Aufforderung, Auskunft zu einer konkreten Frage zu geben. Es werden neben der ästhetischen Wahrnehmung und Sinngebung Aspekte von Rationalität angesprochen, mit deren Hilfe sich bewusst verhalten wird zu der Frage nach Lernvorstellungen und Antwort gegeben werden soll auf die Frage nach der Bedeutung von Lernen. Sinnlichkeit, die sinnliche Erkenntnis der Welt, die den Menschen im Moment verortet, und Rationalität, die Reflexions- und Abstraktionsfähigkeit, die es erlaubt, über den Moment hinaus zu gehen, sind in der Lernwerkstatt eng verwoben, und diese Verwobenheit findet in den Collagen einen Ausdruck. Die Verwobenheit von Sinnlichkeit und Rationalität, die auch die Alltagspraxis der Lernenden bestimmt, in der sie Lernsituationen erleben, gestalten und ertragen, bildet einen wesentlichen Faktor bei der Herstellung der Collagen als gemeinsam gestalteter Ausdrucksform.

9.3 C OLLAGEN – M ATERIALS

DIE

H ERAUSFORDERUNG

DES

Die Auswertung der Lernwerkstätten auf der Basis der Collagen, stellt ein Risiko dar, das vor allem darin besteht, ausschließlich das in den Collagen zu finden, was die Forschenden erwarten, also das, was zu den impliziten und expliziten theoretischen Vorannahmen passt. Die Interpretation der Collagen ergäbe dann nichts weiter als eine Rekonstruktion der Vorstellung der beteiligten Forscher_innen von den Vorstellungen erwachsener Lernender. Diese Gefahr begleitet die rekonstruktive Sozialforschung seit ihrer Entstehung. Vollständig ausschließen lässt sich dieses Risiko in der Tat nicht, aber es lässt sich mit Hilfe nachvollziehbar gestalteter Methoden der Interpretation minimieren. Korrektiv im Fall des Projekts „Lernbilder“ sind einerseits die regelmäßig stattfindenden Treffen in den Forschungswerkstätten des Forscher_innen-Teams des Arbeitsbereichs. Hier werden blinde Flecken aufgedeckt und die Plausibilität

Z USAMMENFASSENDE B ETRACHTUNG

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von Interpretationen in der Diskussion geprüft. Das Vorgehen der Analyse und Interpretation selbst ist das andere Korrektiv: Vom Wahrnehmen der Collage inklusive der Beschreibung ihrer Wirkung auf die Interpretin, über die Betrachtung des formalen Aufbaus und die detaillierte Beschreibung der Einzelelemente bis hin zur Betrachtung der Collage als Ganzes und die Wirkung ihrer Einzelteile im Gesamtkontext sind alle Schritte darauf ausgelegt, ein vorschnelles „Verstehen“ zu verhindern und die Interpretation immer wieder an das Material rückzubinden. Erst am Ende dieser Phasen der Betrachtung der Einzelcollagen erfolgt ein Schritt, der das konkrete Material verlässt und eine Suche nach übergreifenden Strukturen möglich macht. In diesem Schritt werden die Interpretationen zusammengeführt und auf eine mögliche Ordnung hin befragt. Diese Ordnung in Form von Orientierungen und Landmarken stellt eine (Re)Konstruktion der den Collagen zugrunde liegenden „spezifisch sinnkonstituierten Praxis“ (Gruschka 2005, S.18) vor dem Hintergrund explizierter theoretischer Annahmen zum Lernen Erwachsener dar. Die Konzentration auf den visuellen Ausdruck unter Ausblendung verbaler Äußerungen hat zur Folge, dass einerseits Korrekturen durch das gesprochene Wort nicht möglich sind, und andererseits wird die Gefahr, das gesprochene Wort vorschnell als „verständlich“ und damit auch schon als „verstanden“ zu behandeln, vermieden. Die Collagen in ihrer Bildlichkeit und damit in ihrer Ausdruckskraft ernst zu nehmen, ist eines der Anliegen des Projekts „Lernbilder“. Der Weg über die Segmentanalyse (Breckner 2010), die vom Detail ausgeht und anschließend die Details in ihrem Zusammenspiel betrachtet, hat sich als gangbarer Weg erwiesen, dem auf die Spur zu kommen, was in den Collagen zum Ausdruck kommt. Die Zusammenführung der Thesen zum Lernen, die sich aus den Collagen (re)konstruieren lassen, ihre Kontrastierung und Gruppierung führt über die Segmentanalyse hinaus und ermöglicht die Darstellung übergreifender Bedeutungsstrukturen.

9.4 L ERNVORSTELLUNGEN E RWACHSENER ALS L ANDSCHAFT : L ANDMARKEN , O RIENTIERUNGEN UND P ERSPEKTIVITÄT Wichtigstes Ergebnis der Untersuchung von Lernvorstellungen erwachsener Lernender ist die (Re)Konstruktion einer Landschaft aus Lernvorstellungen, in der sich Themen zu Landmarken gruppieren, die unter einem zentralen Begriff zusammengefasst, Orientierungen darstellen. Der Begriff der Landschaft ist eine Metapher, die die Charakteristika der in der Arbeit mit den Collagen

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(re)konstruierten Lernvorstellungen erwachsener Lernender deutlich macht: Landmarken und Orientierungen sind nicht vertikal zu ordnen; sie widersetzen sich dem Versuch, eine hierarchische Ordnung herzustellen. Sie bieten sich vielmehr für eine horizontale Anordnung in der Ebene an, die einer Landkarte ähnelt, die die Landschaft der einander gleichrangigen zentralen Aspekte des Lernens (re)konstruiert. Landmarken sind charakteristische, „herausragende“ Merkmale dieser Landschaft, und auf Lernen bezogen, weisen Landmarken auf Themen hin, die für die Lernenden wichtig sind, wenn sie nach der Bedeutung von Lernen für sie gefragt werden. Orientierungen bezeichnen die von den Landmarken umrissenen thematischen Felder und fassen diese in einem Begriff. Die herausgearbeiteten Orientierungen • • • • • • • •

Leiblichkeit, Wahrnehmen und Gestalten, Unsicherheit, Balance, Materielle Güter, Neues, Kampf, Zeit

zeigen auf, dass Lernen in der Vorstellung erwachsener Lernender eng verwoben ist mit Aspekten, die auf die Bewältigung und Gestaltung alltäglicher Praxis verweisen. Die Orientierungen sind nicht lernspezifisch, sondern verweisen auf Fragen und Aspekte, die im Alltag immer wieder verhandelt und bearbeitet werden müssen. Orientierungen, wie sie hier (re)konstruiert werden, verweisen auf Aspekte des Lebens, mit denen Erwachsene als Lernende auf spezifische Weise konfrontiert sind, und die zugleich nicht herauszulösen sind aus ihrer Verwobenheit mit dem Alltagsleben, in dem sie unter Umständen auf vielerlei andere Weise aktuell werden. Sie erlauben, ein Verständnis zu entwickeln davon, dass Lernen in der Vorstellung erwachsener Lernender nicht als ein separiertes Geschehen existiert, das auf einer von den übrigen Lebensvollzügen getrennten Ebene verortet wird. Die (re)konstruierte Landschaft der Lernvorstellungen zeigt im Gegenteil auf, dass Lernen eingebunden ist und eingebunden werden muss in tägliche Lebenspraxis, mit der es wesentliche Anteile gemeinsam hat, die sich aus der Perspektive des Lernens auf besondere Weise realisieren. Orientierungen und Landmarken sind nicht einzeln zu betrachten, sondern sie bilden ein Geflecht, ein Netz, dessen Knotenpunkte sie sind. Keine der Orientierungen tritt allein auf, auch wenn sie als zentrale Problem- oder Fragestellung

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erscheint. Die Verbindung zu den anderen Orientierungen bleibt bestehen und so sorgt die zentrale Stellung einer Orientierung dafür, dass sich das Netz der Orientierungen und Landmarken auf spezifische Weise darstellt und in seiner Perspektivität sichtbar wird. Denn die Metapher der Landschaft verweist auch darauf, dass die in der Vorstellung vom Lernen wichtigen Themen nicht zu hierarchisieren sind; es gibt keine feststehende Rangfolge der Wichtigkeiten, sondern die Wahrnehmung und Bewertung der Landmarken und Orientierungen, ihr Verhältnis zueinander ist abhängig von der Perspektive, die die_der Lernende einnimmt, das heißt von der aktuellen Situation, aus der heraus das eigene Lernen erlebt oder in der die Frage nach dem Lernen gestellt wird. Landmarken, Orientierungen und die Perspektivität von Lernvorstellungen zeigen auf, dass Lernen und Lernvorstellungen mitnichten ausschließlich im Individuum zu verortende Größen sind, sondern sie machen deutlich, dass diese in ihrer Einbindung in Alltagspraxis aufs Engste verwoben sind mit der gesellschaftlichen Existenz der_des Einzelnen. Die mit Hilfe eines ästhetischen Zugangs gewonnenen Einsichten in die Lernvorstellungen erwachsener Lernender tragen zu einem subjektorientierten, kontextualen Verständnis von Lernen bei, indem sie eine Ordnung der Lernvorstellungen aus der Perspektive der Lernenden sichtbar machen.

9.5 F ORSCHUNGSPERSPEKTIVEN Auch wenn sich das Projekt „Lernbilder“ zum Ziel gesetzt hat, Lernvorstellungen erwachsener Lerner_innen genauer beschreiben zu können, bleiben am Ende des Forschungsprozesses Fragen unbearbeitet und neue Fragen lassen sich aus dem Erarbeiteten entwickeln. Für eine Weiterführung und Verfeinerung der Untersuchung von Lernvorstellungen und für eine Weiterentwicklung der Lernwerkstatt als Forschungszugang wäre eine vertiefte Dokumentation der Phase der Collagen-Herstellung ein erster Schritt. Diese Phase, die im Projekt „Lernbilder“ nicht technisch aufgezeichnet worden ist, stellt ein wichtiges Moment für ein Verständnis der kollektiven Bedeutungsproduktion dar, in diesem Fall der Bedeutung des Lernens. Mit Hilfe ethnographischer Methoden, die in der Erwachsenenbildungsforschung Tradition haben (vgl. Seitter 2002), könnten die Besonderheiten dieser Phase und ihre Bedeutung für die Gestalt der Collagen herausgearbeitet werden. Die Besonderheiten der Collagen als Datenmaterial und als Orte der „Bedeutungsrealisierung“ betrachtend lässt sich fragen, wie Collagen sich zu anderen ästhetischen Produktionen verhalten und welche Rolle ihre bildhaften Qualitäten

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spielen. Die Charakteristika einer Collage unterscheiden sich deutlich von den Qualitäten z.B. einer szenischen Darstellung oder einer auditiv oder musikalisch ausgerichteten Inszenierung. Die Einbindung der Teilnehmer_innen ist in der Erstellung einer Collage, bei der Körperlichkeit nur indirekt eine Rolle spielt, eine andere als in einer szenischen Darstellung, bei der die Produzent_innen körperlich, eventuell auch stimmlich, beteiligt sind. Kommt das auditive Element dazu, verändert sich das Verhältnis von Ausdrucksmedium und Produzent_innen erneut. Es fragt sich, welche Rolle das Ausdrucksmedium für die zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen spielt. Auch die Rezeption des Produkts ist abhängig von der Art der Darstellung: ein Bild ist über den Zeitpunkt seiner Produktion hinaus sichtbar, sowohl die szenische als auch die auditive Inszenierung ist mit dem Ende der Darbietung vorbei – abgesehen von der Möglichkeit audiovisueller Aufzeichnungen. Die Art der Auswertung wäre demnach bei anderen ästhetischen Medien anzupassen bzw. es wären neue Wege der Auswertung zu entwickeln. Grundsätzlich wäre zu fragen, inwiefern bestimmte ästhetische Medien besonders geeignet sind, Zugang zu bestimmten Aspekten des Lernens und den entsprechenden Lernvorstellungen zu bekommen. Im Projekt „Lernbilder“ wird ausdrücklich auf die Hinzuziehung von verbalem Material verzichtet. Dieser Versuch, den Fokus bei der Interpretation des Datenmaterials auf den ästhetischen Aspekt zu legen, dient auch der Exploration der Möglichkeiten eines Forschungszugangs über visuelle Medien. In weiterführenden Forschungen wäre zu prüfen, wie eine Triangulation von verbalem und visuellem Material gelingen kann, ohne dass das eine nur der Illustration des anderen dient und so sein spezifischer Beitrag verloren geht (vgl. Klika/Kleynen 2007, S. 134). Die Kontextualität sowohl des sprachlichen wie auch des visuellen Materials und seine Qualität als Ort der Reflexion und der Bedeutungsherstellung, lassen vermuten, dass die Verbindung von Sprache und Bild für ein Verständnis des Lernens als subjektives Geschehen und zugleich individuelles und kollektives Handeln wertvoll ist. Das Projekt „Lernbilder“ leistet einen Beitrag dazu, den Lernbegriff weiter zu differenzieren, indem es sich explizit den subjektiven Lernvorstellungen zuwendet und das auf eine Weise gestaltet, die dem Aspekt der ästhetischen Erkenntnis und der Rolle, die die Sinnlichkeit für den Menschen als leibliches Wesen spielt, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das hat jedoch Folgen für die begriffliche Schärfe: So wird im Projekt „Lernbilder“ nicht unterschieden zwischen Lernen und Bildung, was dem entspricht, was in den Collagen zum Ausdruck kommt: Lernende, die mit Hilfe von Collagen über ihr Lernen reflektieren, differenzieren nicht zwischen Bildung und Lernen. Was heißt das für die Forschung zu Lernvorstellungen? Welche Horizonte öffnet der Lernbegriff und wo

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sind die Grenzen seiner sinnvollen Nutzung – im Kontext der Alltagswelt und in der Wissenschaft? In Bezug auf Lernanlässe und -widerstände wäre danach zu fragen, wie diese sich in den Vorstellungen der Lernenden zueinander verhalten und wie sie jeweils die Vorstellungen von Lernen beeinflussen oder aber wie Lernvorstellungen Einfluss nehmen darauf, wie Menschen Lernanlässen und evtl. -zwängen begegnen, wie sie sie beurteilen, wie Widerständigkeit zum Ausdruck gebracht wird und welche Folgen das hat. Insgesamt haben sich Collagen als ein guter Weg erwiesen, subjektorientiert Aspekte des Lernens zu untersuchen. Sie ermöglichen die Entdeckung von Ordnungen (Landmarken und Orientierungen) und damit einen Zugang zu Strukturen und Systematiken der Lernvorstellungen Erwachsener. Der Zugang der Lernwerkstatt und die in diesen entstehenden Collagen erlauben es, Lernen und die Reflexion über Lernen im Spannungsfeld zwischen den Einzelnen, der Gruppe der Lernenden und dem Lernkontext zu dokumentieren. Die dabei (re)konstruierbaren Landmarken und Orientierungen schaffen eine Verbindung zwischen Lernen als individuellem Akt und seiner Einbettung in und Verwobenheit mit der lernenden Person als leibliche Einheit, die (auch, aber nicht nur) lernend in der Welt lebt.

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Theorie Bilden Karl-Josef Pazzini Bildung vor Bildern Kunst – Pädagogik – Psychoanalyse 2015, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3277-4

Peter Faulstich (Hg.) Lerndebatten Phänomenologische, pragmatistische und kritische Lerntheorien in der Diskussion 2014, 288 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2789-3

Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Vom Scheitern Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane III 2013, 298 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2576-9

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Theorie Bilden Peter Faulstich Menschliches Lernen Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie 2013, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2425-0

Peter Faulstich Aufklärung, Wissenschaft und lebensentfaltende Bildung Geschichte und Gegenwart einer großen Hoffnung der Moderne 2011, 196 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1816-7

Ingrid Lohmann, Sinah Mielich, Florian Muhl, Karl-Josef Pazzini, Laura Rieger, Eva Wilhelm (Hg.) Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart 2011, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1751-1

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Theorie Bilden Gereon Wulftange Fremdes – Angst – Begehren Annäherungen an eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse 2015, 280 Seiten, kart., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-3023-7

Peter Faulstich, Rosa Bracker Lernen – Kontext und Biografie Empirische Zugänge 2015, 182 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3095-4

Hans-Christoph Koller, Gereon Wulftange (Hg.) Lebensgeschichte als Bildungsprozess? Perspektiven bildungstheoretischer Biographieforschung 2014, 356 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2970-5

Alisha M.B. Heinemann Teilnahme an Weiterbildung in der Migrationsgesellschaft Perspektiven deutscher Frauen mit »Migrationshintergrund« 2014, 328 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2718-3

Wiebke Bobeth-Neumann Karriere »Grundschulleitung« Über den Einfluss des Geschlechts beim beruflichen Aufstieg ins Schulleitungsamt 2013, 396 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2466-3

Manuel Zahn Ästhetische Film-Bildung Studien zur Materialität und Medialität filmischer Bildungsprozesse

Nadine Rose Migration als Bildungsherausforderung Subjektivierung und Diskriminierung im Spiegel von Migrationsbiographien 2012, 476 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2135-8

Jan Erhorn Dem »Bewegungsmangel« auf der Spur Zu den schulischen und außerschulischen Bewegungspraxen von Grundschulkindern. Eine pädagogische Ethnographie 2012, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1973-7

Hanne Walberg Film-Bildung im Zeichen des Fremden Ein bildungstheoretischer Beitrag zur Filmpädagogik 2011, 286 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1820-4

Kathrin Hahn Alter, Migration und Soziale Arbeit Zur Bedeutung von Ethnizität in Beratungsgesprächen der Altenhilfe 2011, 352 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1680-4

Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hg.) Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses 2010, 364 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1490-9

2012, 256 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2121-1

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