Gewerkschaftliche Betriebspolitik in Westeuropa: Vergleiche und Möglichkeiten der Zusammenarbeit [1 ed.] 9783428450893, 9783428050895

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Gewerkschaftliche Betriebspolitik in Westeuropa: Vergleiche und Möglichkeiten der Zusammenarbeit [1 ed.]
 9783428450893, 9783428050895

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Internationale Tagung der Sozialakademie Dortmund

Gewerkschaftliche Betriebspolitik in Westeuropa Vergleiche und Möglichkeiten der Zusammenarbeit

Herausgegeben von

Peter Kühne

Duncker & Humblot · Berlin

Gewerkschaftliche Betriebspolitik in Westeuropa

I N T E R N A T I O N A L E TAGUNG DER S O Z I A L A K A D E M I E D O R T M U N D in Verbindung mit dem Europäischen Gewerkschaftsinstitut in Brüssel

Gewerkschaftliche Betriebspolitik i n Westeuropa Vergleiche und Möglichkeiten der Zusammenarbeit

Herausgegeben von Peter Kühne

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1982 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3 428 05089 4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Peter Kühne

9

I . Einleitender Vortrag Rainer

Zoll

Gewerkschaftliche Organisationsstrukturen u n d P o l i t i k zwischen Zentralisierung u n d Dezentralisierung

21

I I . Einleitendes Podium Nationale Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung i n Betrieb u n d Unternehmen 37 Podiumsteilnehmer: Wolfgang Däubler (Bundesrepublik Deutschland)

37

Horst H a r t (Schweden)

44

Peter Jansen (Frankreich)

48

K a r l Koch (Großbritannien)

57

Marcello Pedrazzoli (Italien)

60

Bob Reinalda (Niederlande)

65

Diskussion:

70

Leitung: Günter Köpke

Berichterstattung: B i r g i t Geissler, Rainer Volz

I I I . Arbeitsgruppen Themenkreis 1: Gewerkschaftliche Organisationsstrukturen in Betrieb und Unternehmen Lutz

79

Dieckerhoff

Grundzüge der E n t w i c k l u n g u n d gegenwärtiger Stand der Vertrauensleutearbeit i n der I G M e t a l l Günther

79

Bechtle

Gewerkschaftliche Institutionalisierung betrieblicher Basisorgane — E n t stehung u n d F u n k t i o n der Delegiertenräte i n I t a l i e n 8Ç

Inhaltsverzeichnis

6 Peter

Jansen

Arbeitsmöglichkeiten gewerkschaftlicher Betriebssektionen i n Frankreich 1968 - 1981. Eine Bilanz Antonio

94

Ojeda-Aviles

Der Ausbau betriebsbezogener gewerkschaftlicher ren nach dem Sturz der Franco-Diktatur Diskussion:

Organisationsstruktu106

Leitung: Perygrin Warneke

118

Berichterstattung: Klaus Koopmann, Bettina Runge

Themenkreis 2: Integration gewerkschaftlicher Tarif- und Betriebspolitik 123 Helmut

Martens

Betriebliche Voraussetzungen gewerkschaftlicher Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland Eli

Arbeitskampffähigkeit. 123

Marx

Stellung u n d F u n k t i o n der britischen Shop Stewards i n Tarifauseinandersetzungen 135 Sophie G. Alf „Artikulierte Tarifpolitik" i n Italien Hughues

145

Blassel

Gewerkschaftliche T a r i f - u n d Betriebspolitik i n Frankreich. Konzeption u n d Praxis der CFDT 156 Diskussion:

Leitung: L u d w i g Bußmann

162

Berichterstattung: Günther R. Degen, Hans-Detlev K ü l l e r , Claus Leggewie

Themenkreis 3: Grad der Verrechtlichung betrieblicher Arbeitsbeziehungen

170

Rainer Erd Z u r rechtlichen Einbindung gewerkschaftlicher Bundesrepublik Deutschland Marcello

Betriebspolitik

in

170

Pedrazzoli

Rechtliche Einbindung gewerkschaftlicher Betriebspolitik i n Italien? Horst

der

179

Hart

Möglichkeiten betriebsbezogener gewerkschaftlicher Interessenvertretung i n Schweden seit dem Vertrauensleutegesetz 1974 u n d dem Mitbestimmungsgesetz 1976 194

Inhaltsverzeichnis Bob

Reinalda

Der Grad der Verrechtlichung betrieblicher Arbeitsbeziehungen i n den Niederlanden 201 Diskussion:

Leitung: Wolfgang Böhm, Wolfgang Däubler, Manfred Bobke 205

Berichterstattung: Manfred Bobke, Hans H. Wohlgemuth

Themenkreis 4: Veränderung der Arbeitsstrukturen durch gewerkschaftliche Betriebspolitik 209 Reimar

Birkwald

Der Lohnrahmentarifvertrag betrieblichen Praxis Enrico

I I (Nordwürttemberg/Nordbaden)

i n der 209

Taliani

Stagnation betrieblicher Arbeitskontrolle i n I t a l i e n

214

Stig Gustafsson Veränderungen industrieller Arbeitsstrukturen durch gewerkschaftliche T a r i f - u n d Betriebspolitik i n Schweden 231 Diskussion:

Leitung: Hans Pornschlegel

248

Berichterstattung: Wolfgang Lecher, H e l m u t Schauer

Themenkreis 5: National übergreifende gewerkschaftliche Organisationsstrukturen in ihrer Bedeutung für die gewerkschaftliche Betriebspolitik in Westeuropa 255 Günter

Köpke

Aktionsmöglichkeiten der Europäischen Branchen- u n d Konzernebene Emst

Gewerkschaftsausschüsse

auf 255

Piehl

Aktionstage des EGB. Bilanz u n d Perspektiven

263

Roger Briesch Vorschläge eines nationalen Gewerkschaftsbundes zur Weiterentwicklung der europäischen Gewerkschaftspolitik. Das Beispiel der CFDT 269 Werner

Olle

Europäische Gewerkschaftspolitik u n d Entwicklungsländer. Das Beispiel der Textilgewerkschaften 276 Diskussion:

Leitung: Peter Seideneck

Berichterstattung: Schneider

M a r i o n F. Hellmann,

291 Heinz Mathiçssen,

Roland

Inhaltsverzeichnis

8

I V . Abschließendes Podium Perspektiven gemeinsamen Handelns i n Westeuropa

303

Podiumsteilnehmer: Georg Benz, Hughues Blassel, Richard Heller, Günter Köpke, Werner Olle, Ernst Piehl, Peter Seideneck Leitung: Gerhard Leminsky Berichterstattung: Werner Oesterheld Verzeichnis der Referenten, Diskussionsleiter u n d Diskussionsberichterstatter der 16. Internationalen Tagung der Sozialakademie D o r t m u n d . . . 317

Vorwort Die 16. Internationale Tagung der Sozialakademie zur gewerkschaftlichen Betriebspolitik i n Westeuropa stand i m Zeichen der anhaltenden, ja sich verschärfenden Wirtschaftskrise. Sie verdankt sich u. a. den Diskussionen, die i m Rahmen des EGB über eine gewerkschaftliche Krisenantwort i n Westeuropa geführt wurden. Edmond Maire, Generalsekretär der CFDT, sprach 1979, anläßlich des 3. Satzungsgemäßen Kongresses des EGB i n München, von der schwerwiegendsten Krise des kapitalistischen Systems seit 50 Jahren und stellte damit einen deutlichen historischen Bezug her. Zur Kennzeichnung der Krise führte Maire aus, daß die strukturelle Arbeitslosigkeit bereits unerträgliche Ausmaße erreicht habe, daß der Lohndruck die Auswirkungen der Inflation nicht habe einschränken können, daß die Investitionen fast immer darauf gerichtet seien, Arbeitsplätze einzusparen. Und wörtlich: „Das Streben nach beschleunigter Produktivität, ausgelöst durch das Gesetz des Dschungels, der wirtschaftlichen und monetären Kräfteverhältnisse, verschärft die Lebens- und Arbeitsbedingungen der westeuropäischen Völker und macht sie einander immer mehr ähnlich 1 ." Diese objektive gegenseitige Angleichung habe jedoch keineswegs zu einer Angleichung auch desBewußtseins der Arbeitnehmer i n Europa geführt. I m Gegenteil, unter dem verschärften Konkurrenzdruck der Branchen und Unternehmen seien eher „nationalistische Gefühle" zu verzeichnen. I m Zusammenhang damit und bezogen auf die nationalen Innenpolitiken sieht Maire „autoritäre Gefahren". Und: „Die Frauen, die Jugendlichen und die ausländischen Arbeiter sind die ersten Opfer dieser Entwicklung, die Frauen ganz besonders, denen man das Recht auf Arbeit abspricht 2 ." A u f demselben EGB-Kongreß 1979 und bezogen auf die Formen staatlicher Wirtschaftspolitik angesichts der Krise verzeichnete der Delegierte der italienischen CISL, Camiti, „den anachronistischen Aufschwung eines freiwirtschaftlichen Geistes i n unseren Ländern" 3 , also die zunehmende Abkehr von Formen direkter staatlicher Steuerung des Wirtschaftsprozesses, an deren Stelle nun die Freisetzung der sogenannten Selbstheilungskräfte des Marktes t r i t t . 1 Protokoll des 3. Satzungsgemäßen Kongresses, München, 14. - 1 8 . M a i 1979, S. 130. 2 Ebenda. 3 A . a. O., S. 156.

10

Vorwort

Eine an gewerkschaftlichen Zielsetzungen orientierte staatliche W i r t schafts- und Gesellschaftspolitik scheint unter diesen Umständen außerhalb der Reichweite des politisch Realisierbaren, sieht man von gelegentlichen defensiven Konzepten einer regionalen, sektoralen oder auch unternehmensbezogenen Krisenregulierung ab, zu der auch die Gewerkschaften herangezogen werden. Die Gewerkschaften betonen zwar, daß sie den Staat aus seiner wirtschafts- und speziell arbeitsmarktpolitischen Verantwortung nicht entlassen. Gleichzeitig suchen sie nach staatsunabhängigen, gewerkschaftsautonomen Formen einer Durchsetzung ihrer elementaren Ziele. Von „Resyndikalisation" sprechen i n diesem Zusammenhang die Kollegen der CFDT, vom „SichVerlassen-auf-die-eigene-Kraft" sprach Heinz Oskar Vetter i m September 1978 vor der Hans-Böckler-Stiftung: „ W i r müssen uns verstärkt auf unsere eigene Kraft verlassen. W i r müssen unsere gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten ausbauen. Das bedeutet i n erster Linie: Erweiterung der Handlungsfelder der Tarifpolitik und ein Ausbau der gewerkschaftlichen Betriebs- und Unternehmenspolitik." Als „wichtige Voraussetzung" einer solchen Politik nannte Vetter die Verbesserung gewerkschaftlicher Arbeitsbedingungen i m Betrieb und Unternehmen, „also eine Stärkung der gewerkschaftlichen Organisation i m Betrieb". Als ersten praktischen Schritt i n diese Richtung schlug Vetter einen „Erfahrungsaustausch" vor, der zur Absprache „organisationspolitischer Arbeitsschwerpunkte" und „Abwehrstrategien" führen kann 4 . I m A p r i l 1979, nach den Tarifauseinandersetzungen i n der eisenund stahlproduzierenden Industrie 1978/79, betonte auch der Vorstand der I G Metall die Notwendigkeit einer verstärkten Mobilisierung der Mitgliedschaft, der Verklammerung gewerkschaftlicher Tarifpolitik und gewerkschaftlicher Betriebspolitik, der Entwicklung einer neuen tarifpolitischen Beweglichkeit und, als deren Voraussetzung, der umfassenden Information der Mitgliedschaft sowie der umfassenden Zusammenarbeit m i t den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und den örtlichen Verwaltungsstellen. I n der parallel verlaufenden sozialwissenschaftlichen Diskussion der Bundesrepublik war zum einen die Rede von der deutschen Tradition einer Einbindung der Gewerkschaften i n ein Krisenregulierungskartell m i t Staat und Unternehmern, von einem unentrinnbaren, alternativlosen, von der Weltmarktkonkurrenz auf geherrschten Kooperationszwang. Dieser Kooperationszwang sei durch die krisenhafte Entwicklung seit 1974/75 nicht etwa gelockert, sondern eher verstärkt worden. Unternehmerische Anpassungs- und Modernisierungsstrategien, die geeignet seien, die Weltmarktposition bestimmter Wachstumsbranchen zu halten bzw. auszubauen, 4

Das Mitbestimmungsgespräch Nr. 9, 1979, S. 205.

Vorwort

würden auch von den Gewerkschaften mitgetragen, um einen Kernbestand an Arbeitsplätzen zu retten und den Lebensstandard der Noch-Beschäftigten zu wahren. Angesichts eines solchen Kooperationszwangs sei der Spielraum für autonome tarif- und betriebspolitische Handlungsweisen der Gewerkschaften äußerst gering. Dem entspräche die zentralistische Organisations- und Entscheidungsstruktur i n den Gewerkschaften: Einheitsgewerkschaft, Industrieverbandsprinzip, Konzentration der Entscheidungsprozesse, hierarchische Binnenstrukturen, so daß innerorganisatorische Widersprüche und Konflikte die zentral definierte Politik nicht beeinflussen könnten und die Folgebereitschaft der großen Masse der Mitglieder stets gewährleistet sei 5 . Andererseits w i r d zwar ebenfalls betont, daß die Gewerkschaften i n der Bundesrepublik stärker als diejenigen anderer vergleichbarer Länder i n einen Regelungsmechanismus einbezogen sind, der durch staatliche Politik — gerade auch sozialdemokratischer Prägung — seit Ende der sechziger Jahre verstärkt wurde, doch w i r d gleichzeitig hervorgehoben, daß bestehende Regelungsmechanismen die Interessengegensätze und die Formen ihrer Austragung allenfalls hätten mildern können. Sie hätten die bundesdeutschen Gewerkschaften nicht der Notwendigkeit enthoben, ihre eigene Handlungsautonomie zu bewahren. I n vorsichtiger Form w i r d deshalb auf die Notwendigkeit gewerkschaftlicher organisationspolitischer Neuorientierungen hingewiesen, die i n der Lage seien, die dezentralen Kraftfelder der Gewerkschaft zu stärken und damit der Organisation insgesamt mehr Gewicht zu verleihen. Autoren, die sich i n diesem Sinne äußerten, führten dabei das für die I G Metall entwikkelte Konzept einer „neuen Beweglichkeit" an: „Neue Beweglichkeit erfordert neue und zusätzliche Formen der Beteiligung von betrieblichen Funktionären und Mitgliedern am tarifpolitischen Geschehen, Aufarbeitung und gezielte Auswertung vorhandener Streikerfahrungen und eine verbesserte Reflexion tarifpolitischer und vor allem streiktaktischer Fragen. Sie berührt auch die betriebspolitischen Voraussetzungen gewerkschaftlicher Tarifpolitik. Denn die erfolgreiche Handhabung einer neuen Beweglichkeit erfordert letztlich betriebliche Funktionskörper und Belegschaften, die über Konflikterfahrungen verfügen und die — wie Beispiele i m Stahlstreik belegen — nicht immer leicht auf eine verbindliche Politik der Gesamtorganisation festgelegt werden können 6 ."

5 Vgl. Esser, Josef: Gewerkschaften i n der Krise. Die Anpassung der deutschen Gewerkschaften an neue Weltmachtbedingungen, hektographierter Text Konstanz 1980. 6 Dzielak, W i l l i , Hindrichs, Wolfgang, Martens, Helmut, Schophaus, Walter: Arbeitskampf u m Arbeitsplätze. Der T a r i f k o n f l i k t 1978/79 i n der Stahlindustrie, F r a n k f u r t / N e w Y o r k 1981, S. 213.

12

Vorwort

Auch die Referenten der 16. Internationalen Tagung der Sozialakademie sollten die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen dezentralen Handelns als gewerkschaftliche Krisenreaktion auszuloten versuchen. Dabei sollten sie sich nicht auf die Bundesrepublik oder das sogenannte „Modell Deutschland" m i t seinen Besonderheiten beschränken, sondern Westeuropa als größere ökonomisch-politische und territoriale Einheit i n die Analyse einbeziehen. Der Erfahrungsaustausch, den Heinz Oskar Vetter zunächst für den nationalen Rahmen der Bundesrepublik vorgeschlagen hatte, wurde somit ausgedehnt auf die gewerkschaftliche Betriebspolitik ausgewählter Industrieländer Westeuropas und deren spezifische, ökonomisch-politische, geschichtliche und organisationsstrukturelle Voraussetzungen. „ W i r müssen dafür sorgen, daß sich die Mitgliedsorganisationen (des EGB) gegenseitig kennenlernen 7 !" Dieser bereits 1976 von Edmond Maire ausgesprochene Satz klingt banal. Jeder der den gewerkschaftlichen A l l t a g kennt, weiß jedoch, wie weit die Gewerkschaften von diesem Ziel noch entfernt sind. Das Kennenlernen wiederum kann kein Selbstzweck sein, es soll dazu dienen, gemeinsame Ziele und gemeinsame Aktionsformen zu entwikkeln. „Was w i r brauchen, ist die Entfaltung einer autonomen gewerkschaftlichen A k t i o n und eine aufeinanderbezogene und miteinander abgestimmte Politik vor Ort i n den Ländern und damit i n Europa", so Heinz Oskar Vetter als damaliger EGB-Präsident i n seiner Einleitungsrede zum Münchner EGB-Kongreß 8 . Edmond Maire dachte offensichtlich an eine europäische Tarifpolitik, wenn er das Kennenlernen i n eine Perspektive stellte, derzufolge die Mitgliedsorganisationen des EGB — so wörtlich — „ihre Forderungen auf dem Gebiet der Arbeitsentgelte und der Arbeitsbedingungen Hand i n Hand festlegen" 9 . Damit rücken auch diejenigen gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen i n den Blick, die einen nationalübergreifenden gewerkschaftlichen Handlungszusammenhang bereits herstellen, die aber offenbar immer noch zu kopflastig sind, d.h. zu wenig verankert i n den Branchen, Unternehmen und Betrieben. Die Ausführungen beinahe aller Delegierten des 3. satzungsgemäßen EGB-Kongresses waren durchzogen vom Ruf nach Ausbau und Effektivierung der europäischen Branchenausschüsse. Bestehende Aktionsmöglichkeiten sollten vertieft und erweitert, neue Aktions- und Interventionsformen entwickelt werden. Zitieren möchte ich den Delegierten des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes (EMB), Thierron. Er räumte ein, daß der EGB 7 Europäischer Gewerkschaftsbund: Protokoll des Zweiten Satzungsgemäßen Kongresses. London, 22. - 24.4.1976, S. 43. 8 Vgl. A n m . 1, S. 34. 9 Vgl. A n m . 7, ebenda.

Vorwort

als europäischer Zusammenschluß nationaler Dachverbände eine gewisse „Vorschlagskraft" entwickelt habe. Doch sei er trotz aller Bemühungen und trotz aller positiven Ergebnisse noch nicht bei den Arbeitnehmern an der Basis, i n den Regionen, i n den Sektoren, i n den Unternehmen angekommen, kein wirkliches Kampfinstrument für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Verteidigung der Interessen der Arbeitnehmer 1 ®. Die allgemeine Entschließung des Münchner Kongresses forderte deshalb zur Suche nach den „geeignetsten Methoden" auf, die es allen Mitgliedern des EGB ermöglichen, „unmittelbar an konvergierenden Aktionen zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele mitzuwirken, und zwar vor allem und unverzüglich i m Bereich der Arbeitszeitverkürzung" 1 1 . Auch das Tagungskonzept der 16. Internationalen Tagung der Sozialakademie stellte ein Plädoyer für mehr Dezentralität gewerkschaftlichen Handelns dar. Angesichts der Krise auf der einen Seite und der Defensivität gewerkschaftlichen Handelns auf der anderen Seite sollte nach Wegen und Möglichkeiten gesucht werden, wie Gewerkschaften ihr Gewicht als Mitgliederorganisationen stärker i n die nationale bzw. westeuropäische Waagschale werfen können — und zwar einschließlich der Risiken, die damit verbunden sind, etwa des Risikos, sich dabei selbst organisationsstrukturell verändern und auch i m Binnenverhältnis wesentliche Neuregelungen zulassen zu müssen. Gleichzeitig wurde davon ausgegangen, daß zentrales und dezentrales gewerkschaftliches Handeln aufeinander verwiesen sind und das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden kann. Dies zu verdeutlichen und damit jedes Mißverständnis auszuschließen, war Aufgabe des einleitenden Vortrages von Rainer Zoll. Ein einleitendes Podium m i t Wissenschaftlern aus sechs europäischen Ländern übernahm es sodann, die organisationsstrukturellen Voraussetzungen dezentralen gewerkschaftlichen Handelns zu klären. Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlichen Zugangs sowie gewerkschaftlicher Organisations- und Handlungsmöglichkeiten i m Betrieb wurden — bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland, Schweden, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande und Italien — vorgestellt und so ein erster, überblicksartiger Einstieg und eine Hilfe für den aktiven Mitvollzug der dann folgenden Arbeitsgruppen gegeben. I n einer zweiten Phase wurde die gewerkschaftliche Betriebspolitik i n Westeuropa selbst an Hand ausgewählter Problemfelder analysiert. 10

Vgl. A n m . 1, S. 159. Europäischer Gewerkschaftsbund: Aktionsprogramm. Allgemeine E n t schließung u n d Einzelentschließungen 1979 - 1982, angenommen v. 3. Satzungsgemäßen Kongreß, München, 14. - 18. 5.1979, S. 63. 11

Vorwort

14

I n vier parallelen Arbeitsgruppen wurden — ausgehend von der Situation i n der Bundesrepublik — jeweils drei westeuropäische Nachbarländer i n die Betrachtung einbezogen. Die Diskussion bot vor allem die Möglichkeit, detaillierte Basisformationen zu erfragen, erste Vergleiche zu ziehen und gemeinsame Trends unterschiedlicher nationaler Gewerkschaftspolitiken festzustellen. Dabei zeigte sich bald, daß auch die Arbeitsgruppendiskussionen nur einen Einstieg, keine erschöpfende Behandlung des Themas bieten konnten. Als zu diskutierende Problemfelder waren i m Vorhinein die folgenden ausgewählt worden: 1. Die gewerkschaftlichen Unternehmen.

Organisationsstrukturen

im

Betrieb

und

Hier sollte nachgefragt werden, wie Gewerkschaften auf betrieblicher bzw. Unternehmensebene handeln, handeln können, handeln wollen. Als Beispiele wurden herangezogen das Vertrauensleutekonzept der I G Metall, so wie es sich bis heute herausgebildet hat, sodann die Organisation und der Aktionsradius der französischen gewerkschaftlichen Betriebssektionen, die italienischen Delegiertenräte und schließlich der Prozeß der Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen i n Spanien nach dem Sturz der Franco-Diktatur. 2. Als zweites Problemfeld wurde ausgewählt die Verknüpfung werkschaftlicher Tarif- und Betriebspolitik.

ge-

Hier sollten die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Verknüpfung dezentralen (also vor allem betrieblichen) und zentralen (also vor allem nationalen) gewerkschaftlichen Handelns, bezogen auf Tarifauseinandersetzungen, aufgezeigt werden. Was die Bundesrepublik angeht, wurden vor allem Organisationsformen, Verlauf und Ergebnisse des Stahlarbeiterstreiks 1978/79 herangezogen. Was Großbritannien angeht, wurden die Handlungsmöglichkeiten der betrieblichen Shop Stewards analysiert. Bezogen auf Frankreich wurde die tarifpolitische Konzeption und Praxis der CFDT unter Bedingungen des Gewerkschaftspluralismus behandelt, bezogen auf Italien, das Konzept der sogenannten artikulierten Tarifpolitik. 3. Die Einengung gewerkschaftlicher Handlungsmöglichkeiten durch ein enggeknüpftes Netz rechtlicher Normen — i n weiten Bereichen noch dazu geknüpft als Richterrecht — ist ein auffälliges und immer wieder als unerträglich empfundenes Merkmal der Arbeitsbeziehungen i n der Bundesrepublik Deutschland.

Vorwort

I n der Arbeitsgruppe 3 Grad der Verrechtlichung betrieblicher Arbeitsbeziehungen sollten deshalb die Verhältnisse i n der Bundesrepublik m i t den offenbar völlig anders gearteten i n Italien, aber auch mit denjenigen Schwedens und der Niederlande verglichen werden. 4. Als vierter Problemkreis wurden die Veränderungen von Arbeitsstrukturen durch gewerkschaftliche Betriebspolitik vorgestellt. A n Hand ausgewählter Beispiele aus der Bundesrepublik, Italien, Schweden und den Niederlanden sollten bisher erzielte Ergebnisse, aber auch die Gefahr ihrer Vereinnahmung durch ein unternehmerisches Rationalisierungskalkül dargestellt werden. 5. Eine fünfte Arbeitsgruppe behandelte schließlich diejenigen gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen und Aktionsformen, die als national übergreifend bereits vorhanden sind und von denen zunehmend erwartet wird, daß sie die unterschiedlichen nationalen Gewerkschaftspolitiken koordinieren. I m einzelnen: — die europäischen Gewerkschaftsausschüsse auf Branchen- und Konzernebene, — den EGB und die Aktionstage des EGB, — die Vorschläge eines nationalen Gewerkschaftsbundes zur Weiterentwicklung der europäischen Gewerkschaftspolitik. Ausgewählt wurde hier die CFDT, die immer wieder und i n prononcierter Form zu gleichermaßen dezentralem und koordiniertem Handeln der nationalen Gewerkschaftsorganisationen i n Westeuropa aufgefordert hat. I n der A G 5 — und damit wenigstens an einer Stelle dieser Tagung — sollte die europäische Betriebspolitik auch unter Aspekten der dritten Welt gesehen und die Schwierigkeiten eines Interessenausgleichs von Arbeitern der sogenannten ersten und dritten Welt verdeutlicht werden. Anknüpfend an aktuelle Ereignisse i m Bereich der Textilindustrie behandelte ein Referat das Thema „Europäische Gewerkschaftspolitik und Entwicklungsländer. Das Beispiel der Textilgewerkschaf ten". Berichte aus den Arbeitsgruppen 1 bis 5 wurden i m Plenum vorgetragen, u m allen Tagungsteilnehmern eine Zusammenfassung der Diskussionsergebnisse i n den Arbeitsgruppen zugänglich zu machen. Eine abschließende Podiums-Plenumsdiskussion sollte über den Erfahrungsaustausch und Vergleich hinaus die tatsächlichen Handlungs-

16

Vorwort

möglichkeiten einer westeuropäischen Gewerkschaftspolitik verdeutlichen. Als Leitfragen für diese Diskussion wurden u. a. die folgenden festgelegt: — Welchen Stellenwert hat die gewerkschaftliche Betriebspolitik für unterschiedliche, auf dem Podium vertretene nationale Gewerkschaften und angesichts unterschiedlicher ökonomischer Rahmenbedingungen und unterschiedlicher historischer Gewerkschaftstraditionen? — Wie kann eine europäische Gewerkschaftspolitik stärker als bisher i n den Branchen und Betrieben verankert bzw. von der betrieblichen Basis her entfaltet werden? — Wie steht es u m die europäischen Regionalausschüsse als Anfänge einer betriebs- und branchennahen grenzüberschreitenden gewerkschaftlichen Kooperation? — Wie läßt sich ein gemeinsames Handeln mit denjenigen repräsentativen nationalen Gewerkschaften organisieren, die nicht oder noch nicht dem organisatorischen Verbund des Europäischen Gewerkschaftsbundes und seiner Branchenausschüsse angehören? — Welches sind die vordringlichen und alle westeuropäischen Gewerkschaften verbindenden Ziele einer europäischen Gewerkschaftspolitik? — Insgesamt: Was können Gewerkschaften i n Westeuropa gemeinsam tun? Abschließend danke ich all denjenigen, die zum Zustandekommen der Tagung und damit auch des vorliegenden Bandes beigetragen haben: A n erster Stelle den Referenten, Diskussionsleitern und Diskussionsberichterstattern der Tagung, etwa zur Hälfte Sozialwissenschaftler und Gewerkschafter, darunter Kolleginnen und Kollegen aus insgesamt sechs westeuropäischen Ländern. Danken möchte ich des weiteren dem Europäischen Gewerkschaftsinstitut i n Brüssel als Mitveranstalter der Tagung. Günter Köpke, Leiter des EGI, hat das Tagungsprojekt von Anfang an mit Rat und Tat begleitet. Ohne seine Hilfe wäre die Tagung so nicht zustandegekommen. Für vielfältigen Rat und verständnisvolle Begleitung des Projekts danke ich sodann der Abteilung Internationales beim DGB-Bundesvorstand, den Abteilungen „Betriebsräte" und „Vertrauensleute" beim Vorstand der I G Metall und dem Leiter des Abgeordnetenbüros Heinz Oskar Vetter beim Europa-Parlament, Peter Seideneck.

Vorwort

Für Beratung und Hilfe danken möchte ich des weiteren meinen Kolleginnen und Kollegen Werner Olle (Projektgruppe Internationale Gewerkschaftspolitik, Berlin), Wolfgang Lecher (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut des DGB, Düsseldorf), Wolfgang Däubler und Rainer Zoll (Universität Bremen), Gerlinde Strauß-Wieczorek (Vorstand I G Metall, Frankfurt), W i l l i Dzielak und Helmut Martens (Landesinstitut Sozialforschungsstelle, Dortmund). Ich danke auch den Herren Ministerialrat Norbert Pelzner vom Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen und Horst Kowalak vom DGB-Bundesvorstand, die für die Träger der Sozialakademie Grußworte an die Tagungsteilnehmer richteten. Ohne das Engagement meiner Kolleginnen und Kollegen i n der Verwaltung der Sozialakademie wäre das Vorhaben nicht realisierbar gewesen. Ich danke Frau Wilma Parker, die maßgeblichen A n t e i l an den Ab- und Umschriften sowie Korrekturen der Manuskripte hat. Ich danke des weiteren meinen Kolleginnen und Kollegen Waltraud Hauenschild, Hans-Hermann Hotop, Ernst Ottmar Nolle, Hildegard Simberg und Annemarie Weigel für die Übernahme zahlreicher organisatorischer, technischer und Schreib aufgaben. Dank auch Frau Christel Barthel und Frau Elisabeth Halke, Dortmund, die große Teile des Manuskriptes umgeschrieben haben. Danken möchte ich schließlich den Studierenden des 34. Studiengangs der Sozialakademie: Sie waren die interessierte „Kerngruppe" unter den Teilnehmern und Diskutanten der Tagung. Durch Übernahme zahlreicher Aufgaben hatten auch sie maßgeblichen A n t e i l an ihrer Durchführung. Dortmund, i m September 1981 Peter

2 Tagung Dortmund 1981

Kühne

I. Einleitender Vortrag

Gewerkschaftliche Organisationsstrukturen und Politik zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung Von Rainer Zoll, Bremen Das Problem des unterschiedlichen Grades von Zentralisierung oder Dezentralisierung gewerkschaftlicher Strukturen und gewerkschaftlicher Politik soll i m folgenden nicht als Gegenstand tagespolitischer gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen behandelt werden. Es geht m i r vielmehr u m eine grundsätzliche Klärung der Frage, ob Zentralisierung oder Dezentralisierung auf Grund der theoretischen Bestimmung gewerkschaftlicher Aufgaben richtig ist, das heißt also, ob sich aus der Funktionsbestimmung der Gewerkschaften Konsequenzen für Zentralisierung oder Dezentralisierung der gewerkschaftlichen Strukturen ergeben. Erst auf dieser Grundlage ist dann zu prüfen, ob die aktuelle Ausprägung von Gewerkschaftsorganisation und -politik den aus der theoretischen Bestimmung gewonnenen Kriterien gerecht wird. Ich habe die Behandlung des Themas i n fünf Abschnitte gegliedert, die ich zur besseren Orientierung i m folgenden kurz umreiße: 1. Zunächst w i r d aus der Bestimmung der Lohnarbeiterinteressen und ihrer gewerkschaftlichen Durchsetzung abgeleitet, daß Zentralisierung und Dezentralisierung gewerkschaftlicher Organisations- und Tarifpolitik gleichermaßen notwendig sind. I n diesem Sinn besteht kein Gegensatz zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung, sondern zwischen Zentralisierung und Zentralismus auf der einen, zwischen Dezentralisierung und Partikularismus auf der anderen Ebene. 2. Es muß festgestellt werden, daß i n der augenblicklichen Gewerkschaftspolitik und Gewerkschaftsorganisation i n der Bundesrepublik die zentralistischen Tendenzen überwiegen. Die strukturellen und die historischen Gründe dafür können nur kurz erwähnt werden. Gleichzeitig muß auch konstatiert werden, daß i n den bundesrepublikanischen Gewerkschaften i n der Regel die organisatorischen Voraussetzungen für Dezentralisierung, also für eine intensivere gewerkschaftliche Betriebspolitik, gegeben sind. 3. Die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Betriebspolitik w i r d nicht nur aus der Untersuchung der Lohnarbeiterinteressen ersichtlich,

Rainer Z o l l

22

sondern auch aus der Rückbesinnung auf die soziologische Grundlage des Sich-gewerkschaftlich-Organisierens von Lohnarbeitern. Konrad Frielinghaus und Sergio Garavini haben i n der Theorie der Belegschaftskooperation diese soziologische Grundlage beschrieben. 4. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise kann verhängnisvolle Auswirkungen auf das gewerkschaftliche Verhalten der Lohnarbeiter haben: angesichts von Krisenbetroffenheit ziehen sich viele Arbeiter und Angestellte auf privatistische Positionen zurück. Gegenüber diesen Tendenzen zur Resignation und zur Passivität und damit zur Entsolidarisierung muß der Zusammenhalt i n der Gewerkschaft gestärkt werden. Die Passivität kann letztlich nur auf der dezentralen Ebene überwunden werden, während Gegenwehr gegen die Krisenmaßnahmen meist eine Zentralisierung der gewerkschaftlichen Aktivitäten erfordert. 5. Die Notwendigkeit einer intensiveren gewerkschaftlichen Betriebspolitik kann auch empirisch belegt werden: zumindest bei den A r beitern gibt es praktisch keinen Zweifel an der Notwendigkeit der Gewerkschaft; zugleich ist jedoch eine Distanz zwischen Lohnarbeitern und Gewerkschaft, auch schon zwischen Lohnarbeitern und Betriebsrat festzustellen, die die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Gegenwehr i n der Krise erheblich einschränkt. Die Überwindung der negativen Krisenreaktion, also von Passivität und Resignation setzt die Aufhebung der Distanz voraus. Die Qualität der persönlichen Nähe, die Distanz aufheben kann, hat jedoch nur der gewerkschaftliche Vertrauensmann. Eine intensivere gewerkschaftliche Betriebspolitik hat also als Grundlage eine aktive Vertrauensleutebewegung. Zul:

Während die Unternehmer über die Produktionsmittel verfügen, besitzt der Lohnarbeiter i n der kapitalistischen Gesellschaft als produkt i v einsetzbares Eigentum nur seine Arbeitskraft. U m seinen Lebensunterhalt zu sichern, muß er die Arbeitskraft verkaufen. Sie nimmt folglich Warencharakter an. Als Verkäufer der Ware Arbeitskraft steht jeder Lohnarbeiter zu anderen Lohnarbeitern i n Konkurrenz. Aus der strukturellen Ungleichheit zwischen Lohnarbeit und Kapital ergibt sich für die Lohnarbeiter die Notwendigkeit, die Konkurrenz untereinander einzuschränken, u m ihre Interessen gegenüber dem Kapital gemeinsam geltend zu machen. Das Bemühen u m die Einschränkung der Konkurrenz der Lohnarbeiter untereinander findet seinen organisatorischen Ausdruck i n der Existenz der Gewerkschaften 1 . Die Notwendigkeit der 1

1976.

Vgl. Zoll, Rainer: Der Doppelcharakter der Gewerkschaften, F r a n k f u r t

Gewerkschaftliche Organisationsstrukturen u n d P o l i t i k

23

Gewerkschaft hat organisationspolitische Folgen: Aufhebung der Konkurrenz bedeutet nicht nur organisatorische Zusammenfassung, sondern auch Vereinheitlichung. Das Ziel w i r d nur dann erreicht, wenn die Lohnarbeiter geschlossen, und das heißt mit einem einheitlichen Willen, i n den Tauschakt m i t dem Kapital eintreten. Zusammenfassung und Vereinheitlichung bedeuten aber Zentralisierung. Die Gewerkschaft vereint die Lohnarbeiter i n ihrer Beziehung zum Kapital; sie organisiert sie unter dem Gesichtspunkt des Klassenverhältnisses und ist daher die eigentliche Klassenorganisation der Lohnarbeiter. Sie muß i n ihrer organisatorischen Struktur den entscheidenden Gliederungen des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters folgen, also den sozialen Einheiten, i n denen das Kapital die Lohnarbeiter organisiert: i n Arbeitsgruppen, i n Betrieben, i n Industriezweigen (und nicht i n Berufen), i n der Wirtschaft eines Landes, i n multinationalen Unternehmen, i n den wirtschaftlichen Zusammenschlüssen mehrerer Länder. Die Gewerkschaft muß die Lohnarbeiter auf jeder dieser Ebenen zusammenfassen, ihre Interessen vereinheitlichen, zentralisieren, u m sie durchzusetzen. Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist durch zwei getrennte Vorgänge charakterisiert. A u f der einen Seite ist es ein Tauschakt zwischen gleichen und freien Warenbesitzern, die Lohn gegen Arbeitskraft tauschen. Dieser Tauschakt w i r d m i t dem Abschluß von individuellen oder kollektiven Arbeitsverträgen, also auch von den Tarifverträgen, formal vereinbart. A u f der anderen Seite steht der Produktionsprozeß, i n dem die Arbeitskraft verbraucht w i r d und Werte produziert werden, die sich das Kapital aneignet. Die Produktion der Werte weist den Betrieb als die zentrale Grundeinheit der kapitalistischen Gesellschaft aus, die Aneignung der Werte begründet die gesellschaftliche Herrschaft des Kapitals. Obwohl der Austausch zwischen Kapital und Arbeit von der Freiheit und Gleichheit der Tauschpartner bestimmt ist, kann der Lohnarbeiter i m Tauschakt nicht allein bestehen, sondern muß sich gewerkschaftlich organisieren, um auch nur Aussicht darauf zu haben, seine Interessen durchzusetzen. Mehr noch als i m Tauschakt bedarf der Lohnarbeiter des Schutzes der Gewerkschaft i m Produktionsprozeß, i n der betrieblichen Situation, i n der die Herrschaft des Kapitals ungebrochen ist. Die Anwendung der Arbeitskraft i m Produktionsprozeß, das heißt ihre Vernutzung, geschieht i n Formen, die ihre jeweilige konkrete Ausprägung durch den unterschiedlichen Inhalt der Produktion, die unterschiedliche Produktionstechnologie und die unterschiedliche Arbeitsund Produktionsorganisation erhalten; das heißt, daß die Vernutzung der Arbeitskraft immer i n besonderen Formen stattfindet, die voi*

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Rainer Z o l l

Betrieb zu Betrieb, von Industriezweig zu Industriezweig und — bei unterschiedlichen Graden der Entfaltung des Kapitalverhältnisses — auch von Land zu Land verschieden sind. Die Gewerkschaft als kollektive Interessenvertretung muß sich auf diese verschiedenen Situationen der Vernutzung der Arbeitskraft einstellen, sie muß i n ihnen zum Schutz der Lohnarbeiter gegenwärtig sein. Während also die Gewerkschaft i m Tauschakt den Lohnarbeitern das Verhandeln über die Tauschbedingungen erst ermöglichen soll, hat sie i n der Produktion nicht nur die Aufgabe, auf die Einhaltung der Tauschbedingungen zu achten, sondern vor allem die Lohnarbeiter vor der übermäßigen Vernutzung der Arbeitskraft zu schützen. Da jedoch die konkrete Verausgabung der Arbeitskraft immer unter den jeweils besonderen betrieblichen Bedingungen stattfindet, ergibt sich für die Gewerkschaft die Notwendigkeit der Dezentralisierung; sie muß versuchen, die betrieblichen Bedingungen der Vernutzung der Arbeitskraft zu kontrollieren und zu beeinflussen. Dezentralisierung ist also die organisatorische Konsequenz der notwendigen Hinwendung zum Betrieb als zentrale Grundeinheit der Gesellschaft. Das Bedürfnis des Lohnarbeiters nach Durchsetzung seiner Interessen zielt also organisatorisch gesehen i n zwei entgegengesetzte Richtungen: die Durchsetzung der Lohnarbeiterinteressen i m Tauschakt erfordert eine möglichst umfassende Aufhebung der Konkurrenz der Lohnarbeiter untereinander, also ihre Solidarität, ihre Zusammenfassung i n möglichst mächtigen Verbänden und die Vereinheitlichung ihrer Interessen. Die Verteidigung der Interessen der Lohnarbeiter bei der Vernutzung der Arbeitskraft erfordert dagegen eine betriebliche Praxis der Gewerkschaften. Zentralisierende und dezentralisierende Tendenzen i n der Gewerkschaftspolitik sind also beide i n der Bestimmung der Gewerkschaft als Interessenvertretung der Lohnarbeiter begründet. Ein einzelner Lohnarbeiter ist für das Kapital durch einen anderen austauschbar. Er ist damit tendenziell entbehrlich und i n einer Situation der Schwäche. Als Gesamtheit der Arbeiter dagegen sind die Lohnarbeiter für das Kapital unentbehrlich. Diese Unentbehrlichkeit des Gesamtarbeiters ist die soziale Basis der kollektiven Interessendurchsetzung. Das Bedürfnis der Lohnarbeiter nach kollektiver Interessendurchsetzung w i r d jedoch nicht befriedigt, wenn i m kollektiven Tauschakt Bedingungen fixiert werden, die durch die konkrete Form der Vernutzung der Arbeitskraft i m Produktionsprozeß wieder zurückgenommen werden.

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Die Notwendigkeit von Zentralisierung und Dezentralisierung soll i m folgenden an einem Beispiel aus der Tarifpolitik verdeutlicht werden. Arbeitszeitverkürzungen werden i n Verhandlungen, also i m kollektiven Tauschakt durchgesetzt. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die Durchsetzungsebene möglichst zentral sein sollte. Kein Lohnarbeiter w i r d ohne weiteres bereit sein, etwa 48 Stunden i n der Woche zu arbeiten, wenn seine Kollegen für denselben Lohn ihre Arbeitskraft nur noch 40 Stunden zur Verfügung stellen. Die Allgemeinheit der Durchsetzung dieser Forderung w i r d am ehesten bei einer zentralen Austragung des Konfliktes gewährleistet sein. Dieses tarifpolitische Ziel erfordert also eine Zentralisierung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht. Eine Verkürzung der Arbeitszeit w i r d jedoch i n der Wirkung für die Wiederherstellung der Arbeitskraft, für ihren geringeren Verschleiß oder die Entlastung des Arbeitsmarktes entwertet, wenn ihre Einführung i m Betrieb von einer gleichgroßen oder gar größeren Intensivierung der Arbeit begleitet wird. Die besondere Form einer solchen Gegenmaßnahme des Kapitals, also der Arbeitsintensivierung, hängt jedoch von den technologischen und arbeitsorganisatorischen Bedingungen i m jeweiligen Betrieb ab. Nur i n seltenen Fällen kann der Widerstand der Lohnarbeiter gegen Intensivierungsmaßnahmen auf der zentralen Ebene wirksam organisiert werden. Dort ist es nur möglich, allgemeine Hinweise und Regeln für diesen Kampf zu fixieren, deren betriebliche Anwendung die A k t i v i t ä t der kollektiven Interessenvertretung i m Betrieb also eine Dezentralisierung der gewerkschaftlichen Politik erfordert. Wenn die möglichst umfassende Aufhebung der Konkurrenz der Lohnarbeiter die organisationspolitische Zentralisierung notwendig macht, rechtfertigt sie dennoch i n keiner Weise eine zentralistische Politik, die — aus welchen Gründen auch immer — die betriebliche Ebene vernachlässigt. Ebensowenig rechtfertigt die Verteidigung der Lohnarbeiterinteressen i m Produktionsbereich eine partikularistische oder betriebsegoistische Beschränkung auf die betriebliche Ebene, welche letztlich dem Ziel des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses, der Solidarität aller Lohnarbeiter, zuwiderlaufen würde. Die kollektive Interessenvertretung muß i m Betrieb ansetzen, also dezentral organisiert sein; zugleich jedoch vom Betrieb ausgehend eine Vereinheitlichung der Interessenvertretung i n größerem Rahmen gewährleisten, also einen zentralen Zusammenschluß verwirklichen. Wie die gewerkschaftliche Praxis zeigt, ist es außerordentlich schwierig, dieses Zugleich, diese Gleichzeitigkeit von zentraler und dezentraler Organisation und Durchsetzungsfähigkeit zu erreichen.

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Zu 2:

I n der aktuellen Gewerkschaftspolitik und Gewerkschaftsorganisation i n der Bundesrepublik überwiegen, wie i n vielen anderen Ländern, die zentralistischen Tendenzen. Dies hat strukturelle und historische Gründe, von denen hier nur einige erwähnt werden können. Der wichtigste strukturelle Grund ist der Konzentrationsprozeß des Kapitals, der unmittelbar oder über andere Faktoren vermittelt, eine zentralistische Entwicklung der gesellschaftlichen Vorgänge und Institutionen hervorruft. Ein weiterer struktureller Grund liegt darin, daß die Gewerkschaften die verschiedenen Interessen der Lohnarbeiter i n einem unterschiedlichen Ausmaß verfolgen. Gewerkschaften haben Schwierigkeiten, das Interesse der Lohnarbeiter an der Sicherheit des Arbeitsplatzes wirksam zu vertreten, weil das gewerkschaftliche Kampfmittel, der Streik, den Besitz des Arbeitsplatzes voraussetzt; deshalb sind Gewerkschaften fast immer als Verbände von Arbeitsplatzbesitzern gegründet worden. Die Gewerkschaften vertreten primär das Interesse an höherem Lohn, das sich auf den Tauschakt richtet und i m Arbeitsoder Tarifvertrag konkretisiert wird. Aus dem Ziel der Aufhebung der Konkurrenz der Lohnarbeiter untereinander läßt sich für die Lohnpolit i k die Forderung nach einer relativen Gleichheit der Entlohnung i n einem Wirtschaftsraum ableiten, wie sie am ehesten i n mehr oder minder zentralen Abkommen erreicht wird. Der Lohn ist die materielle Grundlage für die Reproduktion der Arbeitskraft, Lohnpolitik daher die primäre A k t i v i t ä t der gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Erst wenn der Zusammenhang zwischen der Reproduktion der A r beitskraft und ihrem Verschleiß i m Produktionsprozeß erkannt wird, nehmen die Gewerkschaften auch das Interesse des Lohnarbeiters an der Erhaltung der Arbeitskraft wahr. Die Vernachlässigung der dezentralen Ebene bedeutet praktisch immer, daß das Interesse der Lohnarbeiter an der Erhaltung der Arbeitskraft als zweitrangig behandelt wird. Während die strukturellen Gründe für das Überwiegen zentralistischer Tendenzen allgemeine Gültigkeit haben, müßten die historischen Gründe für jedes Land besonders untersucht werden. Hier nur einige kurze Hinweise: I n Deutschland führten die Niederlagen der meisten betrieblichen gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse und A k t i v i t ä t e n i n der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts dazu, daß die Lohnarbeiter i n der zweiten Jahrhunderthälfte ihre Gemeinschaften als starke zentrale Organisationen gründeten. Die Gewerkschaften sollten durchsetzungsfähig sein, sie sollten i n der Lage sein, Arbeitskämpfe erfolgreich zu führen. Dazu kam, daß die Gründung von Gewerkschaf-

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ten als zentrale Verbände wesentlich auf die Initiative Parteien zurückging.

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politischer

Gerade die i m internationalen Vergleich unbestreitbaren Erfolge der deutschen Gewerkschaften i n ihren Bemühungen u m eine wirksame Aufhebung der Konkurrenz der Lohnarbeiter untereinander führten zu einer weiteren Zentralisierung. Aus der Funktionsbestimmung der Gewerkschaften ergaben sich die Organisationsprinzipien Industriegewerkschaft und Einheitsgewerkschaft. Diese Prinzipien konnten jeweils bei einem gewerkschaftlichen Neubeginn durchgesetzt werden. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes gründete sich 1891 der Deutsche Metallarbeiter-Verband als erste deutsche Industriegewerkschaft, der tendenziell alle Metallarbeiter ohne Unterschied der Qualifikation vereinigte. Der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubte die Überwindung der Spaltung der Gewerkschaften i n Richtungsgewerkschaften, wie sie bis 1933 existierte, i n der Einheitsgewerkschaft. Solche Fortschritte i n der Aufhebung der Konkurrenz, also auch i n der Zentralisierung und Vereinheitlichung der Lohnarbeiterinteressen, fördern aber zugleich zentralistische Tendenzen. Es muß jedoch auch festgestellt werden, daß i n Deutschland die organisatorischen Voraussetzungen für Dezentralisierung von Gewerkschaftspolitik wenigstens i m Ansatz seit langem bestehen. Ich spreche von den betrieblichen Gewerkschaftsstrukturen, die i n Deutschland die Form der Vertrauensleute haben und die i n einigen Bereichen seit über 100 Jahren existieren. Dezentralisierung, also eine intensive gewerkschaftliche Betriebspolitik, ist ohne lebendige betriebliche Gewerkschaftsstrukturen undenkbar. Zu 3:

Bisher wurde die Notwendigkeit der Dezentralisierung gewerkschaftlicher Politik aus der Funktionsbestimmung der Gewerkschaften hergeleitet. I m folgenden soll die organisations-soziologische Grundlage gewerkschaftlicher Betriebspolitik behandelt werden. Diese Grundlage ist die A r t und Weise, i n der das Kapital die Lohnarbeiter zu seinen Zwecken i m Produktionsprozeß organisiert, sie zusammenarbeiten läßt. Diese spezifische Zusammenarbeit der Lohnarbeiter hat Marx unter der Überschrift „Kooperation" analysiert 2 . Sie w i r d von den Lohnarbeitern nicht selbst geschaffen, sondern ihnen vom Kapital auferlegt. I n der Kooperation entwickeln die Lohnarbeiter eine „Massenkraft", die sie als einzelne nicht haben. Der Gedanke, die Kooperation umzufunktionieren, sie als organisatorische Grundlage gewerkschaftlicher Interessenvertretung zu nutzen, ist keineswegs etwas Neues, sondern es gibt 2

Vgl. M a r x , K a r l : Das Kapital, Bd. 1, M E W Bd. 23, S. 341 ff.

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vielfältige Beispiele für Ansätze gewerkschaftlicher Praxis, die die Kooperation als organisatorische Basis einsetzen. Neu ist lediglich die bewußte Ausformulierung zur Theorie der Belegschaftskooperation i n den fünfziger Jahren durch Konrad Frielinghaus 3 i n der Bundesrepub l i k und Ende der sechziger Jahre durch Sergio Garavini i n Italien 4 . Allerdings könnte der bewußte Bezug auf die Belegschaftskooperation der gewerkschaftlichen Betriebspolitik eine neue Qualität geben. Der Grundgedanke ist i n beiden Varianten der Theorie das Umfunktionieren der Massenkraft i n eine „Gegenorganisation" der Arbeiter i m Betrieb, eine Organisation, die den Strukturen des kapitalistischen Industriebetriebes anhaftet, sie gewissermaßen übernimmt, u m gegen das Kapital anzutreten. Es sind die Strukturen der Arbeitsgruppen, der Arbeiter an einem Fließband, i n einer Montageinsel, i n einer Werkstatt, einer Abteilung, es sind die informellen Gruppen, die die Arbeitsorganisation bilden. A u f diese industrielle Struktur beziehen sich der westdeutsche Vertrauensmann und der italienische Delegierte. Nach Frielinghaus müßte sich eine gewerkschaftliche Betriebspolitik auf die Belegschaftskooperation stützen und sie zugleich weiter vorantreiben. Ein Teil der betrieblichen Hierarchie müßte i n den Kommunikationszusammenhang der Belegschaft einbezogen werden. A n allen Aktionen müßten immer möglichst große Teile der Lohnarbeiter eines Betriebes beteiligt werden. A u f diese A r t sollten sie sich ihrer selbst als Belegschaft und als Einheit der Gesellschaft bewußt werden. Garavini formuliert seine Variante dieser Theorie i n einer historisch wesentlich von der der späten fünfziger Jahre i n der Bundesrepublik verschiedenen Situation, nämlich während des Kampfzyklusses 1968 bis 1972, i n dem die italienische Delegiertenbewegung entstand. Die einheitliche soziale Organisation, die der Unternehmer i m Betrieb für seine Produktionszwecke schafft, könnte als Basis des eigenen Kampfes übernommen werden. Die Lohnarbeiter benötigten eine wirkliche gesellschaftliche Basis für den Aufbau ihrer Organisation und die nächstliegende, die sich ihnen biete, sei die A r t , i n der der Betrieb für die Zwecke der Produktion organisiert sei. Die italienische Delegiertenbewegung stellt für Garavini eine Verwirklichung des Grundgedankens der Theorie der Belegschaftskooperation dar. Es handelt sich für ihn u m eine Form der Demokratie und der Macht der Lohnarbeiter i m Betrieb und i n der Gesellschaft. 3 Vgl. Frielinghaus, Konrad: Belegschaftskooperation, in: Heidelberger Blätter, Nr. 14/16, Nov. 1969 - A p r i l 1970, S. 117 ff. 4 Vgl. Garavini, Sergio: Strukturen der Arbeiterautonomie am Arbeitsplatz, i n : Quaderni d i rassegna sindacale, Nr. 24, Rom, Dez. 1969, S. 19 ff.; deutsch i n : C G I L / C I S L — Z u r Geschichte u n d Theorie der italienischen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, B e r l i n 1973, S. 205 ff.

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Der Delegierte v e r t r i t t eine Arbeitsgruppe, die gemeinsame Interessen hat. Diese Beziehung entspricht der Arbeitsorganisation des Unternehmers, die umfunktioniert wird. Ich zitiere Garavini: „Die Arbeitsorganisation des Unternehmers vereint eine Arbeitsgruppe mit dem Ziel der Produktion von Profit. W i r drehen die Situation um, und diese vom Arbeitgeber i n der Funktion seines Profites vereinte Gruppe von A r beitern soll vereint ihren Delegierten wählen, weil sich i m Delegierten die Einheit und die Disziplin der Arbeitsgruppe i m Kampf gegen den Unternehmer identifiziert 5 ." Der Delegierte ist i n diesem Sinn ein Moment der Vereinheitlichung der Lohnarbeiter. Die Einheit von tarifpolitischer und organisationspolitischer Dezentralisierung i n Form der Delegiertenbewegung führte i n Italien zu einer i n ihrer Intensität erstaunlichen Wiederbelebung des Verhältnisses von Lohnarbeitern und Gewerkschaft. Das fand unter anderem seinen Ausdruck i n einer massiven Steigerung der Mitgliedszahlen. Bis zur Delegiertenbewegung benutzte der Gewerkschaftsapparat die aktiven Gewerkschaftsmitglieder als Entscheidungsgremium, u m i n bestimmten tarifpolitischen Situationen Druck auf die Gegenseite auszuüben. Die Arbeiter und Angestellten ihrerseits delegierten ihre tarifpolitischen Interessen an den Gewerkschaftsapparat. Die Delegiertenbewegung, das heißt also eine soziale Bewegung auf der Grundlage der Belegschaftskooperation, hebt tendenziell das traditionelle Delegationsverhältnis auf und ersetzt es durch eines der Partizipation, der Kontrolle und der Konfrontation. Zu 4:

I n den folgenden beiden Abschnitten werde ich versuchen, auf der Grundlage der theoretischen Ausführungen auf die aktuelle gewerkschaftliche Situation einzugehen und dabei erste Ergebnisse einer längerfristigen empirischen Forschungsarbeit über „Arbeiterbewußtsein i n der Wirtschaftskrise" einzubeziehen®. Einerseits stimmen unsere Ergebnisse mit den Resultaten von Untersuchungen aus Österreich, England und den USA anläßlich der Weltwirtschaftskrise überein, die bei vielen Arbeitern angesichts von Krisenbetroffenheit einen Rückzug auf privatistische Positionen feststellten. Diese Arbeiter resignieren, sie sind passiv und versuchen auch nicht mehr, ihre Interessen kollektiv, das heißt m i t der Gewerkschaft durchzusetzen. Viele Politiker der Arbeiterbewegung und auch Gewerkschafter glaubten ja, daß die Verletzung von Arbeiterinteressen, die allemal m i t der Wirtschaftskrise einhergeht, zu einem stärkeren Widerstand, zu einem entschlos6

Garavini, S. 21. Vgl. Zoll, Rainer, Bents, Henri, Braune, Hans-Hermann, Geissler, B i r g i t , Neumann, Enno, Volz, Rainer: Arbeiterbewußtsein i n der Wirtschaftskrise I. Krisenbetroffenheit u n d Krisenwahrnehmung, K ö l n 1981. β

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seneren Kampf der Arbeiter für die Durchsetzung ihrer Interessen führen würde. Dies scheint jedoch nur für einen kleineren Teil der Lohnarbeiter zuzutreffen. Die Passivität oder gewerkschaftspolitische Zurückhaltung vieler Arbeiter i n der Krise ist auch m i t der Kennzeichnung als Angstreaktion nicht hinreichend beschrieben. Charakteristisch für eine verbreitete Form der Krisenwahrnehmung ist vielmehr, daß die Bedeutung der Krise für die eigene soziale Situation trotz objektiver Krisenbetroffenheit i n vielfältigen Formen reduziert oder gar geleugnet wird. So werden zum Beispiel die Arbeitslosenzahlen kunstvoll auf N u l l heruntergerechnet. Eine andere Form, m i t den Krisenerscheinungen „fertig" zu werden, sind Personalisierungen. Man schreibt anderen die Schuld für die Krise zu, man sucht Sündenböcke. So w i r d etwa den ausländischen Arbeitern die Schuld für die Arbeitslosigkeit der deutschen gegeben oder der Grund für die Arbeitslosigkeit i n der angeblichen Arbeitsunwilligkeit der Arbeitslosen selbst gesucht. Wie aus den Beispielen deutlich wird, handelt es sich u m ausgesprochen unsolidarische Vorstellungen, die auch i n entsprechende Vorschläge für die Abhilfe des Übels, das trotz allem gesehen wird, münden. So w i r d zum Beispiel gefordert, daß die ausländischen Arbeitnehmer i n ihre Heimatländer zurückgeschickt werden, oder Arbeitsunwillige sollen durch Zwangsmaßnahmen zu Arbeiten verpflichtet werden, die durchaus arbeitsdienstähnlichen Charakter haben. So w i r d verlangt, die Arbeitslosen sollten die „verschlammten Friedhofsgräben" säubern. Sogar die Einführung des Arbeitsdienstes durch Hitler w i r d lobend erwähnt. Eine solche Haltung ist verständlicherweise eine denkbar schlechte Grundlage für eine gewerkschaftliche Gegenwehr gegen Krisenmaßnahmen. Gegenüber den Tendenzen zur Resignation und zur Entsolidarisierung müßte der solidarische Zusammenhalt der Lohnarbeiter i n der Gewerkschaft verstärkt werden. Die Krise ist eine allseitige Verschärfung der Konkurrenz — nicht nur zwischen Einzelkapitalen, sondern auch zwischen den Lohnarbeitern und zwischen Lohnarbeit und Kapital. Diese Verschärfung der Konkurrenz bringt einerseits Tendenzen zur Entsolidarisierung der Lohnarbeiter hervor, andererseits verstärkt sie auch das — oft allerdings nicht mehr artikulierte — Bedürfnis nach gewerkschaftlichem Schutz, nach Aufhebung der Konkurrenz. Die Krisensituation erfordert nun keine Veränderung des Verhältnisses von Zentralisierung und Dezentralisierung i n der Gewerkschaftspolitik, sondern Aktivitäten auf beiden Ebenen, die den Besonderheiten dieser Situation gerecht werden. Passivität und Resignation können letztlich nur auf der dezentralen Ebene überwunden werden. Die Analyse der objektiven Krisenbetroffenheit der Lohnarbeiter belegt, daß eine der verbreitetsten Formen

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der Krisenbetroffenheit eine besondere Intensivierung der Arbeit ist. Der Widerstand gegen diese Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ist eine vorwiegend betriebliche Aufgabe gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Der Kampf gegen Arbeitsplatzvernichtung dagegen erfordert entweder eine Zentralisierung der gewerkschaftlichen A k t i v i täten oder zumindest die Einschaltung überbetrieblicher gewerkschaftlicher Instanzen. Als Beispiele, die keiner näheren Erläuterung bedürfen, können die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung und der betriebliche Kampf für Arbeitsplatzerhaltung genannt werden, der fast immer einer Unterstützung durch überbetriebliche Gewerkschaftsstrukturen bedarf. Zu 5:

Zum Abschluß einige empirisch gestützte Überlegungen zur Frage, wie versucht werden kann, die Tendenz zur Entsolidarisierung umzukehren. Ich meine nicht, daß man hier irgendwelche Patentrezepte liefern kann. Es gibt jedoch i n unserer Untersuchung einige Hinweise, die die These bestätigen, daß dafür unter anderem eine intensivere gewerkschaftliche Betriebspolitik notwendig ist. Diese gewerkschaftliche Betriebspolitik verstehe ich dabei auch als Grundlage für erfolgreiche zentrale Auseinandersetzungen — etwa über Arbeitszeitverkürzungen. Die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche w i r d i m folgenden als Beispiel herangezogen. Grundlage gewerkschaftlicher Organisation und A k t i v i t ä t ist die Zustimmung beziehungsweise Beteiligung der Lohnarbeiter. Zumindest bei den Arbeitern gibt es praktisch keinen Zweifel an der Notwendigkeit der Gewerkschaft. Dies trifft ebenfalls für die Mehrzahl der nichtorganisierten Arbeiter zu, und auch bei den Angestellten verbreitet sich zumindest die Erkenntnis der Notwendigkeit der Gewerkschaft. Mehr noch! Der Grad der Identifikation oder zumindest des Bedürfnisses nach Identifikation m i t der Gewerkschaft ist bei den Arbeitern außerordentlich hoch. Es gibt keine andere gesellschaftliche Organisation, die i n diesem Punkt sich m i t der Gewerkschaft vergleichen könnte. Die politischen Parteien etwa werden meist eher als notwendiges Übel betrachtet. Nur wenige identifizieren sich mit ihren Zielen, auch wenn sie eindeutige Präferenzen haben, die sich i m Stimmverhalten bei Wahlen zeigen. Während einerseits die Notwendigkeit der Gewerkschaft bejaht wird, ja sogar vielfach ein Bedürfnis nach Identifikation mit der Gewerkschaft besteht, ist andererseits eine Distanz zwischen Lohnarbeitern und Gewerkschaft, auch schon zwischen Lohnarbeitern und Betriebsrat festzustellen. Diese Distanz schränkt die Möglichkeit gewerkschaftlicher

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Gegenwehr i n der Krise erheblich ein. Die Tatsache, daß die Distanz beklagt wird, drückt den Wunsch nach ihrer Aufhebung aus. Diese Distanz hat aber auch zur Folge, daß wichtige gewerkschaftliche Forderungen oder sogar Erfolge nicht bekannt sind, daß zum Teil völlige Unkenntnis über die Strukturen gewerkschaftlicher Willensbildung besteht, daß also der für eine lebendige Organisation notwendige Kommunikationsfluß i n vielen Fällen an der entscheidenden Stelle, nämlich an der Nahtstelle zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und gewerkschaftlichem Apparat unterbrochen ist. So spricht sich zum Beispiel die Mehrheit der von uns befragten Metallarbeiter gegen die Forderung nach Einführung der 35-StundenWoche aus. Dafür werden unterschiedliche Begründungen gegeben. Viele haben Angst vor einer weiteren Intensivierung der Arbeit, die sie zur Zeit i n besonderer Schärfe erfahren. Sie wissen meist nicht, daß es gewerkschaftliche Zielsetzung ist — „Arbeitszeitverkürzung bei definierten Arbeitsbedingungen" —, diese negative Konsequenz zu vermeiden. Andere nennen als alternative Zielvorstellung den sechswöchigen Urlaub und dies, obwohl zum Zeitpunkt der Befragung dieses tarifpolitische Ziel bereits tarifvertraglich garantiert war und zur Zeit durch stufenweise Einführung verwirklicht wird. Meine These kann ich nun folgendermaßen präzisieren: Die Überwindung der negativen Krisenreaktion der Lohnarbeiter, also von Passivität und Resignation, setzt die Aufhebung der Distanz zwischen Lohnarbeitern und Gewerkschaft voraus. Distanz kann nur durch Nähe aufgehoben werden. Die Qualität der persönlichen Nähe hat jedoch für das einfache Gewerkschaftsmitglied keine der übergeordneten gewerkschaftlichen Instanzen. Diese Qualität hat nur der gewerkschaftliche Vertrauensmann oder — u m noch einmal das italienische Beispiel zu erwähnen — der Delegierte. Schon i m Verhältnis zu den Betriebsratsmitgliedern beklagen die Arbeiter die Distanz, weil von ihnen diese Form der betrieblichen Interessenvertretung als eine ihnen übergeordnete Hierarchie empfunden wird. I n unserer Metallerstreik-Studie formulierte ein Arbeiter: „Der Vertrauensmann ist zwischen den Arbeitern, der Betriebsrat ist über den Arbeitern 7 ." Eine intensivere gewerkschaftliche Betriebspolitik müßte also organisationspolitisch und inhaltlich die Stellung und A k t i v i t ä t der Vertrauensleute stärken. W i r konnten feststellen, daß dort, wo die Vertrauensleute w i r k l i c h i n dem Sinn aktiv sind, i n dem es von den Gewerkschaften selbst gefordert wird, die von den Arbeitern kritisierte Distanz zwischen ihnen und der Gewerkschaft viel geringer ist als i n anderen Bereichen. 7 Vgl. Forschergruppe F r a n k f u r t / M . 1979.

Metallerstreik:

Streik u n d

Arbeiterbewußtsein,

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Wie ich i n einer Studie über die Entstehung der Delegiertenbewegung i n Italien und i n einem Vergleich m i t der Vertrauensleuteorganisation i n der Bundesrepublik gezeigt habe 8 , besteht eine enge Verbindung zwischen den organisatorischen und den inhaltlichen Momenten dieser Aufgabe, also zwischen Struktur und Zielen einer intensiveren gewerkschaftlichen Betriebspolitik. Wenn etwa viele Arbeiter trotz objektiver Krisenbetroffenheit diese Betroffenheit subjektiv nicht nachvollziehen, also auch nicht die Notwendigkeit der Gegenwehr, der A k t i v i t ä t gegen die Krisenmaßnahmen einsehen, so langt es nicht, wenn über eine bessere gewerkschaftliche Kommunikation i m Betrieb den Arbeitern die Erkenntnis ihrer Betroffenheit vermittelt wird; diese Erkenntnis ohne die Möglichkeit kollektiver A k t i v i t ä t kann sehr leicht i n Resignation münden. Es müssen zugleich die — wie auch immer — geringeren Aktionsmöglichkeiten diskutiert und gegebenenfalls ausprobiert werden. A m Beispiel der Arbeitszeitverkürzung müßte eine breite innergewerkschaftliche Diskussion, und damit ist eine Diskussion i n den Betrieben gemeint, die Voraussetzung für die kämpferische Durchsetzung der Forderung schaffen. Eine wirklich umfassende gewerkschaftliche Information setzt eine lebendige innergewerkschaftliche Kommunikation voraus. Diese Kommunikation hat wiederum als Voraussetzung die enge Partizipation, die aktive Beteiligung der Gewerkschaftsmitglieder an der Gewerkschaft, und das heißt die Aufhebung der zur Zeit i n vielen Fällen zu beobachtenden Distanz. I n diesem Sinn können auch Partikularismus und Zentralismus durch eine dynamische Wechselbeziehung von Dezentralisierung und Zentralisierung, durch ein immer wieder neu anzustrebendes Gleichgewicht von gewerkschaftlicher Betriebspolitik und zentraler Tarif- beziehungsweise Gewerkschaftspolitik überwunden werden.

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Vgl. Zoll, Rainer: Delegation oder Partizipation, F r a n k f u r t / M . 1981, S. 330. Die Abschnitte 1. u n d 3. dieses Referates sind dort unter 1.2 u n d 5.1 breiter ausgeführt. 3 Tagung Dortmund 1981

I I . Einleitendes Podium

Nationale Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in Betrieb und Unternehmen Das Beispiel Bundesrepublik Deutschland Von Wolfgang Däubler, Bremen 1. Die Dreigleisigkeit der Interessenvertretung Interessenvertretung i n Betrieb und Unternehmen vollzieht sich i n der BRD auf drei verschiedenen Wegen: Über die Organe der Betriebsverfassung, insbesondere den Betriebsrat, über die gewerkschaftlichen Vertrauensleute, sowie — beschränkt auf größere Kapitalgesellschaften — über die Arbeitnehmervertreter i m Aufsichtsrat. Die Betriebsverfassung hat eine weitgehende gesetzliche Regelung erfahren, deren Konkretisierung und Weiterentwicklung Sache der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Kommentarmeinungen ist. I n Betrieben m i t i n der Regel wenigstens fünf ständig beschäftigten Arbeitnehmern können Betriebsräte gewählt werden; besteht ein Unternehmen aus mehreren Betrieben, so w i r d zusätzlich ein Gesamtbetriebsrat gebildet, der die Interessenvertretung auf Unternehmensebene übernimmt. Das Wahlrecht zum Betriebsrat steht allen Belegschaftsangehörigen zu, die Gewerkschaftszugehörigkeit spielt insoweit keine Rolle. Der Betriebsrat besitzt eine Reihe i m Gesetz abschließend umschriebener Kompetenzen. Bei ihrer Ausübung hat er die Belegschaftsinteressen sowie das Wohl des Betriebes zu beachten. A r beitsniederlegungen oder andere Formen der Kooperationsverweigerung darf er nicht organisieren; kommt es auf Gebieten, die seiner Mitbestimmung unterliegen, zu einem Dissens mit dem Arbeitgeber, findet eine Zwangsschlichtung durch die Einigungsstelle statt. Die Betriebsratsmitglieder besitzen ein hohes Maß an rechtlicher Absicherung. Sie können ihre Aufgaben während der Arbeitszeit unter voller Lohnfortzahlung erledigen; innerhalb bestimmter quantitativer Grenzen können sie auf Kosten des Arbeitgebers gewerkschaftliche oder andere Schulungsveranstaltungen besuchen. Sie genießen einen weitgehenden Kündigungsschutz, da eine Entlassung nur möglich ist, wenn ein wichtiger, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ausschließender Grund vorliegt und außerdem der Betriebsrat selbst zustimmt oder seine Zustimmung durch das Arbeitsgericht ersetzt wird. Betriebs-

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ratsmitglieder sind jedoch auch vor überraschenden Initiativen der Arbeitnehmer gesichert: Sie besitzen ein freies, kein imperatives Mandat, während der Wahlperiode von drei Jahren können sie nur auf Grund einer arbeitsgerichtlichen Entscheidung ihres Amtes enthoben werden, die eine schwere Pflichtverletzung sowie einen Antrag durch ein Viertel der wahlberechtigten Arbeitnehmer, durch den Arbeitgeber oder durch eine i m Betrieb vertretene Gewerkschaft voraussetzt. Vom gesetzlichen Modell her ist der Betriebsrat daher „Repräsentant"; bürokratische Handlungsformen und eine relative Verselbständigung gegenüber der Belegschaft liegen i n der Logik des gesetzlichen Modells. Die gewerkschaftliche Interessenvertretung i m Betrieb hat demgegenüber keine gesetzliche Regelung erfahren. Das Betriebsverfassungsgesetz hat i n § 2 Abs. 2 diesen Bereich ausdrücklich ausgenommen. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat eine Reihe von Grundsätzen entwickelt, die die gewerkschaftliche Betätigung i m Betrieb reglementieren: So darf etwa über die Gewerkschaft informiert und für den Beitritt auch i m Betrieb selbst geworben werden, wobei allerdings unsachliche Angriffe auf den Arbeitgeber sowie eine Störung der Arbeitsabläufe grundsätzlich ausgeschlossen sind. Die Gewerkschaft als überbetriebliche Institution besitzt jedoch ein Zugangsrecht, so daß die Kommunikation mit dem hauptamtlichen Apparat sichergestellt ist. Ungefähr 10 bis 20 gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer wählen jeweils einen gewerkschaftlichen Vertrauensmann; die Vertrauensleute bilden den sogenannten Vertrauenskörper, der i n größeren Betrieben eine Vertrauenskörperleitung wählt. Die Vertrauensleute genießen mangels gesetzlicher Regelung keinen besonderen Kündigungsschutz und können ihre Funktion grundsätzlich nur außerhalb der Arbeitszeit erfüllen. Nach der Rechtsprechung ist zwar ihre Existenz als konkrete Erscheinungsform der Koalitionsfreiheit des A r t . 9 Abs. 3 GG garantiert, doch sind daraus bislang keine Konsequenzen i m Sinne eines besonderen Schutzes gegen Angriffe der Arbeitgeberseite abgeleitet worden. So ist es nach der Rechtsprechung nicht mehr mit der Koalitionsfreiheit zu rechtfertigen, daß Vertrauensleute i m Betrieb gewählt werden. I n einzelnen Fällen sehen jedoch Tarifverträge die Wahl i m Betrieb, ein gewisses Mindestmaß an Freistellung von der Arbeit sowie einen erhöhten Kündigungsschutz vor. Anders als Betriebsräte sind Vertrauensleute i m Regelfall abwählbar, unterliegen daher einem imperativen Mandat. Die Vertretung der Arbeitnehmer i m Aufsichtsrat von größeren Kapitalgesellschaften folgt dem Repräsentationsmodell. Die Aufsichtsratsmitglieder sind an das „Unternehmenswohl" gebunden, wobei umstritten ist, welchen Stellenwert die Arbeitnehmerinteressen bei der Bestimmung dieser Çrpfiç besitzen. Die Organisierung eines Arbeits-

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kampfes durch Aufsichtsratsmitglieder scheidet aus. Besteht ein Dissens mit den Vertretern der Anteilseigner, so entscheidet die Mehrheit, die außer i m Fall der Montanmitbestimmung immer auf Seiten des Arbeitgebers liegt. Eine A b w a h l ist nicht oder nur unter sehr schwer zu erfüllenden Bedingungen möglich. 2. Weitere Differenzierungen Die drei Formen der Interessenvertretung weisen eine zusätzliche Differenzierung insofern auf, als sie nicht alle Arbeitnehmer als Einheit behandeln, sondern nach Arbeitern, Angestellten und Leitenden differenzieren. Nach dem Betriebsverfassungsgesetz werden die Vertreter der Arbeiter und die Vertreter der Angestellten i m Betriebsrat i n getrennten Wahlgängen gewählt; es bedarf einer besonderen Abstimmung, u m eine Gemeinschaftswahl zu ermöglichen — auch dann müssen allerdings beide Gruppen i m Betriebsrat vertreten sein. Die leitenden A n gestellten sind nach § 5 Abs. 3 von der betriebsverfassungsrechtlichen Interessenvertretung ausgenommen. Auch i m Rahmen der Gewerkschaften w i r d zwischen den einzelnen Beschäftigtengruppen differenziert. Dies gilt zwar grundsätzlich nicht für die Wahl von Vertrauensleuten, wohl aber für den Abschluß von Tarifverträgen; einheitliche Tarife für Arbeiter und Angestellte gibt es zwar, doch stellen sie noch immer eine große Ausnahme dar. Leitende Angestellte weisen einen sehr geringen Organisationsgrad auf; ihre innergewerkschaftliche Rechtsstellung unterscheidet sich faktisch nicht von der anderer Angestellter. Die weitestgehende Differenzierung zwischen den einzelnen Statusgruppen weist die Unternehmensmitbestimmung auf; nach dem M i t bestimmungsgesetz von 1976 muß i m Aufsichtsrat notwendigerweise ein Arbeiter, ein Angestellter und ein leitender Angestellter vertreten sein. Letzteres führt dazu, daß die Arbeitgeberseite i n den meisten Fällen einen zusätzlichen Verbündeten gewinnt. Daneben existieren Vertretungsorgane für spezifische Beschäftigtengruppen oder für bestimmte Aufgaben. Die jugendlichen Arbeitnehmer werden durch die Jugendvertretung repräsentiert, deren Rechtsstellung i m Prinzip der des Betriebsrats nachgebildet ist, die allerdings nur über den Betriebsrat m i t dem Arbeitgeber verhandeln kann. Anders verhält es sich m i t dem Vertrauensmann der Schwerbehinderten, der den „ U m weg" über den Betriebsrat nicht zu gehen braucht. M i t Fragen des Arbeitsschutzes befassen sich Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit, die zwar keine Interessenvertreter i m eigentlichen Sinne sind, deren Einsetzung jedoch i n der Regel die Zustimmung des Be-

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triebsarztes voraussetzt. Entsprechendes w i r d von den Gewerkschaften für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten gefordert, der bisher ausschließlich vom Arbeitgeber eingesetzt wird. Die Aufteilung nach Beschäftigten-Gruppen und bestimmten Sachaufgaben ist i m Hinblick auf die Einheitlichkeit der Interessenvertretung problematisch, darf jedoch nicht nur als Versuch der Desolidarisierung, sondern muß auch als Ausdruck komplizierter werdender Interessenvertretung verstanden werden. Eine entsprechende Legitimation fehlt für die i m Gesetz niedergelegte Differenzierung nach Branchen. I m öffentlichen Dienst gelten statt der Betriebsverfassung die Personalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder, die i m Regelfall (wenn auch keineswegs immer) weniger Einflußmöglichkeiten für die betriebliche Interessenvertretung bieten. Eindeutig schlechter gestellt sind Arbeitnehmer i n Tendenzbetrieben, insbesondere i n Presseunternehmen; die Rechte des Betriebsrats sind insoweit eingeschränkt, die Unternehmensmitbestimmung scheidet aus. Noch schwächer sind die Rechte der Belegschaften i m Bereich der Kirchen ausgestaltet, wo weder das Betriebsverfassungsgesetz noch das Personalvertretungsrecht eingreifen, sondern innerkirchliche Normen bestehen. 3. Organisation der Interessenvertretung und Unternehmenskonzentration Das bestehende System der Interessenvertretung baut i m wesentlichen auf selbständigen Unternehmen auf, setzt daher voraus, daß über die „verhandlungsfähigen" Gegenstände beim Verhandlungspartner selbst entschieden wird. Dies führt zu Schwierigkeiten, wenn das Unternehmen zu einem Konzern gehört und die maßgebenden Dispositionen daher z. B. bei der Konzernspitze konzentriert sind. Das geltende Betriebsverfassungsgesetz sieht bei sogenannten Unterordnungskonzernen die Bildung eines Konzernbetriebsrats vor, die jedoch nicht obligatorisch ist; bei Gleichordnungskonzernen, bei bloßen eigentumsmäßigen Verflechtungen ohne nachweisbaren Einfluß auf die Geschäftspolitik und i n einigen anderen Fällen erreicht die Betriebsverfassung gar nicht jene Ebene, auf der Entscheidungen getroffen werden. I m Rahmen der gewerkschaftlichen Interessenvertretung ist dieses Problem weniger gravierend, da i n der Bundesrepublik Branchentarife vorherrschen; allerdings kann es auch hier zu Friktionen kommen, wenn es sich u m einen i n verschiedenen Bereichen tätigen Mischkonzern handelt. Die Unternehmensmitbestimmung ist analog der Betriebsverfassung konstruiert; ist die herrschende Gesellschaft als A G oder GmbH organisiert, so nehmen auch die Belegschaften der Tochtergesellschaften an

Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung

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der Aufsichtsratswahl teil, i n den übrigen Fällen fehlt es an einer Arbeitnehmerrepräsentanz. Die Defizite vergrößern sich bei multinationalen Konzernen. Nach herrschender Auffassung sind die i n ausländischen Niederlassungen und Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer nicht berechtigt, Delegierte i n den Gesamt- oder Konzernbetriebsrat zu entsenden bzw. an der Aufsichtsratswahl teilzunehmen. Umgekehrt erstreckt sich das deutsche System der Interessenvertretung nur auf die i m Territorium der Bundesrepublik und West-Berlins gelegenen Betriebsstätten, kann jedoch ausländische Konzernspitzen nicht einbeziehen. Auch wenn — wie beim Unterordnungskonzern — das eigentliche Entscheidungszentrum erreicht werden kann, besteht das Problem, daß hierarchisch strukturierte Organisationen sehr viel leichter zentralisiert werden können als demokratische Organisationen, die von ihrem A n spruch her eine Rückkopplung an die Interessen und Wünsche der einzelnen Mitglieder benötigen. 4. Die Gewerkschaft als verbindende Klammer — Einheitlichkeit der Interessenvertretung als prekäres Prinzip Die organisatorische Vielfalt der Interessenvertretung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es i n der Praxis durchaus eine einheitliche und koordinierte Politik aller Vertretungsorgane geben kann (und sehr häufig gibt). Mehr als 80% aller Betriebsratsmitglieder sind gewerkschaftlich organisiert, dasselbe gilt für die Vertreter der Arbeiter und Angestellten i m Aufsichtsrat. Dies führt nicht nur zu einer Einbindung i n die Politik der Organisation, sondern hat auch zahlreiche personelle Verflechtungen zur Folge. Betriebsratsmitglieder sind i n der Regel zugleich Vertrauensleute oder bekleiden Funktionen i n der örtlichen Gewerkschaft; auch gehören die aus dem Unternehmen kommenden A r beitnehmervertreter i m Aufsichtsrat häufig dem Betriebsrat an. Dies alles besagt jedoch nicht, daß die Dreigleisigkeit der Interessenvertretung ohne Bedeutung wäre; eine einheitliche Politik muß sich gewissermaßen immer am gesetzlichen Modell vorbeirealisieren. I n der Praxis hat sich eine bestimmte Aufgabenverteilung herauskristallisiert, die sich jedoch nur als Regeltatbestand beschreiben läßt. Danach ist die Bestimmung der Gegenleistung des Arbeitgebers (Lohn, allgemeine Sozialleistungen usw.) Sache der gewerkschaftlichen Tarifpolitik. Der Betriebsrat ist demgegenüber auf jene Probleme konzentriert, die mit der Verausgabung der Arbeitskraft i m Betrieb verbunden sind und die sich als „Leistungspolitik" umschreiben lassen. Dazu

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Wolfgang Däubler

zählt etwa die Arbeitsordnung, aber auch die Bestimmung von Vorgabezeiten und die Einführung neuer Lohnformen. I n vielen Betrieben besitzt der Betriebsrat jedoch auch wesentlichen Einfluß auf die Gegenleistung des Arbeitgebers: Nach dem gesetzlichen Modell bestimmt er über die A r t und Weise der Erbringung betrieblicher Sozialleistungen mit. Darüber hinaus kommt es oft nach Abschluß der Tarifverhandlungen zu einer „zweiten Lohnrunde" auf betrieblicher Ebene, bei der es u m die Erhaltung oder auch Erweiterung bisher bezahlter übertariflicher Zulagen geht. I m Extremfall kann dies dazu führen, daß die gewerkschaftliche Tarifpolitik für einzelne Belegschaften relativ uninteressant wird, da die eigentlichen Lohnzuwächse erst i m eigenen Unternehmen ausgehandelt werden; dies ist insbesondere dann von Nachteil, wenn der Betriebsrat eines gutgehenden Großunternehmens die gewerkschaftliche Tarifkommission stark beeinflußt. Die Tatsache, daß „betriebliche Lohnpolitik" i m Regelfall gegen § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz verstößt, ist i n der Praxis ohne nennenswerte Bedeutung. Durch die seit Jahren bestehende Rezession w i r d die Selbständigkeit der Betriebsräte tendenziell abgebaut. Das für übertarifliche Leistungen zur Verfügung stehende Volumen geht zurück, die Härte der Verteilungskämpfe führt häufig dazu, daß nur noch m i t dem M i t t e l des gewerkschaftlichen Kampfes und nicht mehr durch bloße Verständigung zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung ein Fortschritt erreicht oder eine Lohnsenkung vermieden werden kann. Weiter hat der technische Wandel dazu geführt, daß wegen steigender Belastungen immer mehr auch die betrieblichen Arbeitsbedingungen Gegenstand von Tarifverhandlungen wurden: Die Möglichkeiten der Betriebsräte reichen für sich allein nicht aus, u m die nachteiligen Wirkungen der Einführung neuer Techniken auf die Arbeitssituation des einzelnen a b z u gleichen. Besetzungsregeln, Bestimmungen über Pausen und andere Formen der Arbeitszeitverkürzung, Schutz des bisherigen Eingruppierungsniveaus sind Beispiele für neuartige tarifliche Gestaltungen, deren konkrete Ausfüllung allerdings häufig Sache des einzelnen Betriebsrats bleibt. 5. Rechtsförmige Interessenvertretung? Man spricht einen Gemeinplatz aus, wenn man auf die Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen i n der Bundesrepublik und den m i t ihr verbundenen vielbeschworenen gewerkschaftlichen Legalismus hinweist. Unbestreitbar besteht i n der Bundesrepublik eine große Anzahl von Gesetzes- und Rechtsprechungsnormen, die für viele Interessenvertreter Legitimation und Grenze des eigenen Handelns sind. A u f der

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anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß m i t einem solchen Hinweis nur die halbe Realität erklärt wäre. Neben dem gewerkschaftlichen Justitiar, der jede Tarifforderung auf ihre Vereinbarkeit m i t der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts überprüfen muß, kann es i n derselben Organisation Vertrauensleute, aber auch hauptamtliche Funktionäre geben, die eine von der Rechtsprechung für illegal erklärte spontane Arbeitsniederlegung organisieren. I n vielen Betrieben w i r d überdies nicht nur die Alternative zwischen schlichter Unterwerfung unter die sozialpartnerschaftlichen Maximen des geltenden Rechts und der offenen Konfrontation m i t der bestehenden Rechtsordnung wie beim illegalen Streik gesehen. Betriebliche Interessenvertretung kann sich auch so vollziehen, daß Rechtspositionen als Druckpotential i n Verhandlungen m i t dem Arbeitgeber eingesetzt werden, u m bestimmte Interessen durchsetzen zu können. So kann der Hinweis darauf, man werde i n Zukunft Arbeitsschutznormen exakt einhalten und Betriebsversammlungen m i t der gebotenen Gründlichkeit durchführen, einen vernünftigen Arbeitgeber oft zu einer Revidierung seines Standpunkts veranlassen. A u f diese Weise durchgesetzte Interessen können dann über einzelne Betriebe hinaus so weit verallgemeinert werden, daß auch eine Veränderung der rechtlichen Regelungen auf die Tagesordnung gesetzt werden kann. Interessenvertretung i n Betrieb und Unternehmen w i r d so zu einem dialektischen Prozeß von Rechtsgebrauch und sozialem Druck.

Nationale Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in Betrieb und Unternehmen Das Beispiel Schweden Von Horst Hart, Göteborg Eine Beschreibung der Organisation und der Tätigkeiten der schwedischen Gewerkschaften muß von der typischen Form der Kooperation zwischen Gewerkschaften, Staat und Arbeitgeberverbänden ausgehen, die seit langem unter anderem die gewerkschaftliche Interessenvertretung beherrscht. I m folgenden werden drei wichtige Gegebenheiten kurz beschrieben: — Die Parallelität von nationaler (und regionaler) staatlicher W i r t schaftspolitik und gewerkschaftlichen Interessen seit dem Zweiten Weltkrieg. — Die Beziehungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung und die Verteilung von Kompetenz und Beschlußrecht zwischen zentraler und lokaler Ebene. — Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Mitbestimmung i n Unternehmen und Betrieb. 1. Gewerkschaften und staatliche Wirtschaftspolitik Eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Gewerkschaftspolitik stellt die seit langer Zeit bestehende Zusammenarbeit zwischen der sozialdemokratischen Partei und den Arbeitergewerkschaften (LO) dar. Ideologisch kommt diese Zusammenarbeit dadurch zum Ausdruck, daß beide die kapitalistische Gesellschaft akzeptieren, aber gleichzeitig durch eine Gewinnverteilung den sogenannten Wohlfahrtsstaat schaffen wollen. I n der Praxis wurde die sozialdemokratische Regierungspolitik unter Berücksichtigung gewerkschaftlicher Interessen formuliert. Insbesondere die staatliche Arbeitsmarkt- und Industriepolitik stellte sich als notwendige Ergänzung der Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen dar. Die Formulierung gewerkschaftlicher tarifpolitischer Interessen i m Konzept einer sogenannten „solidarischen Lohnpolitik" setzt eine bestimmte Arbeitsmarktpolitik voraus. Grundidee der solidarischen Lohn-

Besonderheiten der gewerkschaftlichen I n t e r e s s e n v e r t r e t u n g 4 5 Politik ist das Streben nach einer Lohnstruktur, die nicht an der Ertragslage der Unternehmen, sondern an der A r t der Arbeit ausgerichtet ist. Gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit annullieren aber einen der wesentlichen Mechanismen der Marktwirtschaft und führen zu Stilllegungen schwächerer Unternehmen und zu Entlassungen. Dem Kapital wie der Arbeitskraft muß zu neuen Produktionsmöglichkeiten bzw. zu Arbeit verholfen werden, und das ist die Hauptaufgabe der „aktiven Arbeitsmarktpolitik". Die Strukturumwandlung, die aus der solidarischen Lohnpolitik herrührt u n d die durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik erleichtert werden soll, resultiert i n Verbesserungen der Reallöhne durch Produktivitätssteigerung und Umlokalisierung der Arbeitskräfte i n Betriebe m i t höherer Produktivität. Die gewerkschaftliche Lohnpolitik und das Handeln des Staates sind somit stark miteinander verbunden. 2. Gewerkschaftliche Organisationsstrukturen Die Abstimmung gewerkschaftlicher Tarifpolitik m i t staatlicher A r beitsmarkt- und Industriepolitik brachte den nationalen Gewerkschaftsorganisationen eine bestimmende Rolle i m politischen Planungsprozeß. Zunächst der Arbeitergewerkschaftsbund LO, dann auch die Gewerkschaften der Angestellten und Beamten (TCO und SACO) wurden i n den 50er und 60er Jahren als verantwortliche Partner i n das politische System integriert. Dies führte innerhalb der Gewerkschaften und innerhalb der Gewerkschaftsbünde zu deutlichen Tendenzen gegen die Konzentration von Kompetenz u n d Macht u n d gegen die Zentralisierung gewerkschaftlicher Aktivitäten. Diese Tendenzen konnten sich jedoch nicht durchsetzen: Die einmal eingeschlagene Politik erforderte einen wohlorganisierten gewerkschaftlichen Kontrollapparat von oben nach unten. Zentral abgeschlossene Verträge m i t dem Staat oder m i t den Arbeitgeberverbänden i n Form von Tarifverträgen u n d anderen Vereinbarungen wurden zum entscheidenden M i t t e l gewerkschaftlicher Politik. A u f betrieblicher Ebene spielten die Gewerkschaften eine eher passive, die lokalen Arbeitgeber kontrollierende Rolle. Gestärkt wurden jedoch auch die regionalen Gewerkschaftsorganisationen. Die Durchführung mehrerer politischer Programme lag bei einer regional und lokal verzweigten staatlichen Administration. Die Beteiligung ihrer regionalen Organisationen bot den Gewerkschaften deshalb die Möglichkeit, die staatliche Politik und gleichzeitig auch das Handeln der Arbeitgeber zu kontrollieren. Die staatliche regionale Administration w a r bis Ende der 60er Jahre v o l l ausgebaut. Gewerkschaftsrepräsentanten haben seitdem Sitz und Stimme i n mehreren regionalen Verwaltungen (z. B. bezogen auf Arbeitsmarkt, Ausbildung, Hochschulen und Universitäten). Eine Folge dieser Teilnahme am regio-

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Horst H a r t

nalen politischen Planungsprozeß war i n den 60er Jahren der schnelle Aufbau größerer regionaler Gewerkschaftsorganisationen und eine „Strukturrationalisierung" innerhalb der gesamten Gewerkschaftsorganisation. Mehrere mitgliedermäßig kleine Gewerkschaften wurden zusammengelegt (16 der 44 Gewerkschaften, die 1960 autonome Mitglieder der LO waren, sind bis 1970 verschwunden). Noch stärker zeigt sich die Organisationsreform auf regionaler Ebene: die 7 930 regionalen A b teilungen von LO-Gewerkschaften i m Jahre 1960 wurden bis 1970 auf 2 488 Großabteilungen reduziert. 3. Mitbestimmung auf Betriebs- und Unternehmensebene Die durch den Staat vermittelte gewerkschaftlich beeinflußte Reformpolitik ist i n den 70er Jahren zum Stillstand gekommen. Reformen zielen nunmehr darauf ab, die Stellung der Gewerkschaften gegenüber den Unternehmen und Betriebsleitungen zu festigen. Wenn man die gewerkschaftlichen Strategien der 60er Jahre m i t den heutigen vergleicht, werden die Unterschiede deutlich. Gewerkschaftliche Industriepolitik wurde früher (wie oben beschrieben) hauptsächlich über den Staat vermittelt betrieben. Gewerkschaftliche Interessen wurden somit indirekt durch den Staat gegenüber den Arbeitgebern durchgesetzt. Die Gewerkschaften spielten dabei die Rolle von Ideengebern und Kontrollinstanzen staatlicher Industrie- und Beschäftigungspolitik. Die lokalen Gewerkschaften hatten i n diesem Zusammenhang wenig Einfluß. Strategische Entscheidungen auf Unternehmensebene wurden ohne gewerkschaftliche Beteiligung getroffen. Die Entwicklung i n den letzten zehn Jahren ist nun durch zwei Tendenzen gekennzeichnet: Zum einen durch die ökonomisch bedingte abnehmende Reformfähigkeit des politischen Systems. Für die Gewerkschaften erscheint der Staat als weniger bedeutender Partner — dies u m so mehr, als die sozialdemokratische Regierung von einer bürgerlichen abgelöst wurde. Eine zweite Tendenz w i r d i n der Gesetzgebung deutlich. Eine Reihe von Gesetzen der letzten zehn Jahre hat die Rolle der lokalen Gewerkschaften (innerhalb der Unternehmen und Betriebe) verstärkt. Die wichtigsten Gesetze sind: — Das Gesetz der gewerkschaftlichen Vertretung i m Aufsichtsrat, das den Gewerkschaften der Arbeiter, Angestellten und Beamten je einen Platz (und einen Stellvertreter) i m Aufsichtsrat einräumt. — Das Kündigungsschutzgesetz, das den lokalen Gewerkschaften die Kontrolle über Kündigungen gibt und eine gewisse Möglichkeit, Kündigungen zu steuern.

Besonderheiten der gewerkschaftlichen I n t e r e s s e n v e r t r e t u n g 4 7 — Das Vertrauensleutegesetz, das Regeln für die A k t i v i t ä t e n gewerkschaftlicher Vertrauensleute festlegt. — Das Arbeitsschutzgesetz. — Das Mitbestimmungsgesetz. Diese Gesetze sind insofern einander ähnlich, als sie bestimmte Rahmenbedingungen festlegen, nicht aber, wie es i n Deutschland der Fall ist, ein für jeden Bereich festgelegtes Verfahren vorschreiben. Die beiden genannten Tendenzen haben die Rolle der nationalen Gewerkschaften verändert und die Stellung der lokalen Gewerkschaften gestärkt. Entscheidungen, die früher zusammen m i t der politischen A d ministration getroffen wurden, werden nun innerhalb der Unternehmen gefällt. Die Rolle der lokalen Gewerkschaften i n diesem Entscheidungsprozeß ist allerdings noch immer die einer hauptsächlich beratenden Instanz. Die neue Gesetzgebung gibt nur wenige formale Möglichkeiten, unternehmensbezogene Entscheidungen mitzubestimmen.

Nationale Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in Betrieb und Unternehmen Das Beispiel Frankreich Von Peter Jansen, Paris A u f Betriebs- und Unternehmensebene existieren Belegschaftsdelegierte, Betriebsausschüsse und Gewerkschaftssektionen. Sind es konkurrierende Organe, wie der Gesetzgeber es sieht, oder sind es sich ergänzende Organe, wie die Gewerkschaften es sehen? Dazu zwei einleitende Zitate aus CFDT-Publikationen: — „ A u f den ersten Blick scheint es so, als ob Belegschaftsdelegierte und/oder Betriebsausschüsse vollständig i n der Lage seien, die Probleme zu regeln, die sich den Lohnabhängigen i m Unternehmen stellen . . . Aber unter welchen Umständen sind sie entstanden? . . . Sie sind aus einem Kompromiß zwischen Unternehmern, Staat und Arbeiterbewegung hervorgegangen und dieser kann nicht ohne Einfluß auf die Funktion dieser Institutionen bleiben 1 ." — „Der Betriebsausschuß ist ein Mittel, u m die Politik des Gewerkschaftsbundes i n die Praxis umzusetzen . . A " Beide Stellungnahmen der CFDT deuten an, wo die Brisanz der Diskussion u m die Struktur der betrieblichen Interessenvertretung i n Frankreich liegt: nicht die verschiedenen Organe der betrieblichen Interessenvertretung sind umstritten, sondern die ihnen zugedachte Rolle i n der Gewerkschaftspolitik. Die Inhalte dieser Auseinandersetzung u m den gesetzlich verankerten „Dualismus" zwischen gewählten Repräsentativorganen einerseits und Gewerkschaftssektionen andererseits werden durch Rahmenbedingungen geprägt, i n denen der Gewerkschaftspluralismus eine Schlüsselstellung einnimmt. 1. Wo ist der „Dualismus" angesiedelt? Das i n Krisenperioden Stück u m Stück ergänzte System betrieblicher Interessen Vertretungsorgane ist ein „Flickwerk". Die einzelnen Ele1 2

cfdt/pratique syndicale: l a section syndicale Paris, 1977, S. 17 ff. cfdt aujourd'hui, Nr. 46, S. 82.

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mente stellen auf Grund der unterschiedlichen Zielsetzungen, die ihnen zugeordnet werden, kein i n sich geschlossenes, aufeinander abgestimmtes System dar. Die Kompromißlösungen von 1936 (allgemeine Anerkennung der Belegschaftsdelegierten) und von 1945/46 (Einrichtung der „paritätischen Betriebsausschüsse") haben als einziges gemeinsames K r i t e r i u m die Tatsache, daß sie aus allgemeinen Betriebswahlen hervorgehen. A n sonsten sind es strikt voneinander getrennte Einrichtungen, die sich durch die ihnen zugeordnete Funktion unterscheiden: — Die Belegschaftsdelegierten sind für den Bereich divergierender Interessen von Kapital und Arbeit zuständig; sie tragen die individuellen und kollektiven Beschwerden der Arbeitnehmer vor, die die Einhaltung und Anwendung bestehender arbeitsrechtlicher Regelungen betreffen. Die ihnen zugeordnete Handlungsebene ist i m wesentlichen die Werkstatt oder die Abteilung. — Die Betriebsausschüsse, i n denen der Unternehmensleiter den Vorsitz führt, sind für den Bereich „gemeinsamer Unternehmensinteressen" zuständig. Sie kooperieren m i t der Unternehmensleitung zur Verbesserung der Arbeits- und Produktionsbedingungen. Diesen beiden Organen, deren Zielsetzungen aus den jeweiligen Entstehungsbedingungen zu erklären sind, steht seit 1968 eine direkte gewerkschaftliche Betriebsvertretung zur Seite: — Es sind dies die Gewerkschaftssektionen; jede der fünf großen Gewerkschaftszentralen (CGT, CGT-FO, CFDT, CFTC und CGC; vgl. Fußnote 3) kann i n Betrieben m i t mehr als 50 Arbeitnehmern eine Sektion gründen, wobei nach dem Gesetz jede Sektion ausschließlich für die Vertretung der beruflichen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder zuständig ist 3 . s Eine gute Übersicht über die 5 repräsentativen Gewerkschaftszentralen enthält: liaisons sociales: syndicats — I I — organisations syndicales (supplément aus service quotidien No 8237). A u f nationaler Ebene als repräsentativ anerkannt sind: CGT (Allgemeiner Gewerkschaftsbund, kommunistisch orientiert). CGT-FO (reformistischer Gewerkschaftsbund, Abspaltung aus der CGT). CFDT (sozialistisch orientierter Gewerkschaftsbund, der sich aus der CFTC entwickelt hat). CFTC (christlicher Gewerkschaftsbund). Die Repräsentativität dieser Gewerkschaftszentralen betrifft alle A r b e i t nehmer. CGC (Gewerkschaftsbund der Angestellten) n u r repräsentativ für A n gestellte (mittleres u n d gehobenes Management). Andere Gewerkschaften müssen ihre Repräsentativität nachweisen. K r i t e r i e n dafür sind: Gewerkschaftsunabhängigkeit, Gewerkschaftspraxis, Z a h l der Gewerkschaftsmitglieder, Gewerkschaftsfinanzierung durch Mitgliedsbeiträge.

4 Tagung Dortmund 1981

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Peter Jansen

Die Gesetze sehen durch die genannten Funktionsbestimmungen eine Dreiteilung der betrieblichen Interessenvertretungsstruktur vor, die durch den Versuch gekennzeichnet ist, Konflikt und Kooperation voneinander zu trennen 4 . I n diesem Sinne müßte eigentlich von einem „doppelten Dualismus" gesprochen werden, der sowohl i n den Zielsetzungen als auch i n den unterschiedlichen Zusammensetzungen der einzelnen Organe deutlich w i r d : — Die Belegschaftsdelegierten setzen sich ausschließlich aus i n Gruppenwahl gewählten Arbeitnehmervertretern zusammen. Als reine Arbeitnehmervertretung ist dieses Beschwerdeorgan dem Betriebswohl nicht verpflichtet. — Die Betriebsausschüsse setzen sich aus gewählten Arbeitnehmervertretern einerseits und dem Unternehmensleiter andererseits (der wie erwähnt den Vorsitz führt) zusammen. Sie sind qua Gesetz ausschließlich dem Unternehmenwohl verpflichtet und sollen die A b stimmung der Interessen von Kapital und Arbeit gewährleisten. — Die Gewerkschaftssektionen beruhen auf der freiwilligen Mitgliedschaft betrieblicher Arbeitnehmer und werden nach außen durch den Gewerkschaftsdelegierten vertreten. Die Form seiner Ernennung bleibt den Sektionen beziehungsweise den Industriegewerkschaften überlassen. I m Unterschied zu den Mandatsträgern der gewählten Repräsentativorgane ist die Dauer seines Mandats nicht begrenzt (Belegschaftsdelegierte: 1 Jahr; Betriebsausschußmitglieder: 2 Jahre; vgl. die Übersicht i m Anhang). 2. Dualismus und gewerkschaftliche Vorrechte in den Repräsentativorganen Der Kompromißcharakter der Gesetze, die die Belegschaftsdelegierten und die Betriebsausschüsse betreffen, w i r d bei einer Untersuchung der gewerkschaftlichen Vorrechte i n diesen Organen deutlich. — Nur die repräsentativen Gewerkschaften sind berechtigt, i m ersten Wahlgang Kandidaten aufzustellen. Liegt die Wahlbeteiligung i m ersten Wahlgang unter 50%, so kommt es zu einem zweiten Wahlgang mit freier Kandidatenaufstellung. Dieses Vorrecht dient dem französischen Unternehmerverband als Vorwand, die demokratische Legitimation der Betriebsausschüsse zu bestreiten. Jede Reform der Betriebsausschüsse w i r d davon abhängig gemacht, daß dieses Vorrecht beseitigt wird. 4 Z u der Trennung v o n K o n f l i k t u n d Kooperation vgl. Adam/Reynaud: conflits du t r a v a i l et changement social, Paris 1978. Allgemeiner Quellenverweis: Code du travail, Dalloz 1980 (Paris).

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— Die gewählten Kandidaten der Gewerkschaftsliste unterliegen einem „imperativen Mandat": sie können jederzeit von ihrer Gewerkschaft abberufen werden, wobei diese Entscheidung i n einer Abstimmung durch die Mehrheit der zuständigen Wahlgruppe bestätigt werden muß. — Das Gesetz läßt die Möglichkeit einer Personalunion zu: eine Person kann i n allen drei Organen eine Funktion ausüben. I m Kontrast zu diesen Rechten, die eine gewerkschaftliche Durchdringung der gewählten Repräsentativorgane begünstigen, steht die Ausprägung anderer Rechte, die die Trennung zwischen Gewerkschaften und gewählten Organen betonen. — Jede repräsentative Gewerkschaft kann einen Gewerkschaftsvertreter i n die Betriebsausschüsse entsenden, der an den Ausschußsitzungen m i t beratender Stimme teilnimmt. Dieser Gewerkschafter muß dem Betrieb angehören. — Die Belegschaftsdelegierten können sich i n ihrer Arbeit durch einen Gewerkschaftsvertreter unterstützen lassen. Dieser muß nicht dem Betrieb angehören. Diese Regelungen tragen i n der Praxis ebenso zu einer Verwischung der Grenzen zwischen diesen Organen bei, wie die unklare Abgrenzung der jeweiligen Aufgabenbereiche. 3. Der Dualismus beinhaltet keine klare Abgrenzung der jeweiligen Arbeitsbereiche Es muß betont werden, daß die Zielsetzungen, die den einzelnen Organen zugeordnet werden (Belegschaftsdelegierte: Beschwerde; Betriebsausschüsse: Kooperation; Gewerkschaftssektion: Vertretung von Mitgliederinteressen) keine scharfe Trennung der Aufgabenbereiche beinhaltet. Lediglich die Zielsetzung, unter der bestimmte Konflikte behandelt werden, sollte nach Ansicht des Gesetzgebers unterschiedlich sein. Nach der gültigen französischen Gesetzgebung lassen sich die Aufgabenbereiche der einzelnen Einrichtungen wie folgt beschreiben: — Das Beschwerderecht der Belegschaftsdelegierten bezieht sich insbesondere auf Fragen des Lohnsatzes, der Einstufung, der Anwendung von Hygiene- und Sicherheitsvorschriften sowie allgemein von arbeitsrechtlichen Vorschriften. Sie sind ein Kontrollorgan, das die Einhaltung von Vorschriften überwacht, aber nicht befugt ist, über eine Änderung der Vorschriften zu verhandeln. Bei Konflikten m i t 4*

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Peter Jansen

der Unternehmensleitung, die nicht gütlich beigelegt werden können (was häufig der Fall ist), bleibt ihnen — rechtlich gesehen — nur die Möglichkeit, außerbetriebliche staatliche Instanzen (Arbeitsinspektion, Gerichte) anzurufen. — Die Kompetenzen der paritätischen Betriebsausschüsse beschränken sich i m wirtschaftlich-technischen Bereich (der hier ausschließlich interessiert) auf Informations- und Konsultationsrechte. Diese erstrecken sich auf Bereiche der Berufsausbildung, Umschulung, Maßnahmen zur Produktions- und Produktivitätssteigerung, Veränderungen des Β eschäftigungsVolumens und der Personalstruktur (insbesondere Massenentlassungen), Arbeitsbedingungen und Arbeitszeit. Die Informationsrechte sind reine Anhörungsrechte, während die Konsultationsrechte den Unternehmer verpflichten, vor der Durchführung von Maßnahmen, die i n den Zuständigkeitsbereich der Betriebsausschüsse fallen, deren Stellungnahme einzuholen und zur Kenntnis zu nehmen. Berücksichtigt er diese Prozedur nicht, so können seine Entscheidungen gerichtlich angefochten werden. Hält er dagegen die Vorschriften ein, so ist er i n keiner Form an eine inhaltliche Berücksichtigung der Stellungnahmen gebunden. Der Gebrauch der i n Betriebsausschußsitzungen erhaltenen Informationen w i r d durch Schweige- und Diskretionspflichten eingeschränkt, deren Kontrolle vor dem Hintergrund der gewerkschaftlichen Durchdringung der Betriebsausschüsse aber kaum möglich ist. Trotz der möglichen Personalunion zwischen Belegschaftsdelegierten und Betriebsausschußmitgliedern besteht zwischen diesen beiden Organen keine organische Verbindung, die es ermöglichen würde, die Betriebsausschüsse zur Schlichtungsinstanz für die Belegschaftsdelegierten zu machen. Diese Form der Abschottung der einzelnen Instanzen voneinander w i r d i n Großbetrieben auf die Spitze getrieben, i n denen die Betriebsausschüsse ausschließlich für betriebliche Angelegenheiten zuständig sind, während die zentralen Unternehmensausschüsse (die sich aus Mitgliedern der Betriebausschüsse zusammensetzen) nur für Unternehmensangelegenheiten zuständig sind. Da die Gewerkschaftssektion allgemein für die Wahrnehmung der beruflichen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder zuständig ist und i h r von der Rechtsprechung zunehmend die Kompetenz eingeräumt wird, faktisch die Belegschaftsinteressen zu vertreten, kann es zu dem Fall kommen, daß alle drei Instanzen für einen Konflikt zuständig werden. Bei einem Konflikt u m die Arbeitszeitregelungen könnten dann die Belegschaftsdelegierten sich über die mangelnde Einhaltung bestehender Vorschriften beschweren; die Betriebsausschüsse könnten versuchen, eine informelle Neuregelung auf Betriebs- oder Unterneh-

Besonderheiten der gewerkschaftlichen I n t e r e s s e n v e r t r e t u n g 5 3 mensebene zu erreichen, während die Gewerkschaftssektionen den A b schluß einer vertraglichen Neuregelung anstreben könnten. 4. Die Handhabung des dualistischen Interessenvertretungssystems durch die französischen Gewerkschaften Die Besonderheiten des Umgangs der französischen Gewerkschaften m i t den Zwängen und Unzulänglichkeiten dieser Interessenvertretungsstruktur lassen sich m i t dem Schlagwort der „Vergewerkschaftlichung der Betriebspolitik" umreißen. CFDT und CGT setzen den Akzent auf die Gewerkschaftssektionen, die die Arbeit der Gewerkschaftsmitglieder i n den gewählten Repräsentativorganen koordinieren sollen. Den gewählten Repräsentanten kommt i n diesem Verbund nicht die Rolle eines eigenständigen Handlungsträgers zu. Sie erfüllen die Rolle eines gewerkschaftlichen Informanten, wobei die Belegschaftsdelegierten den Kontakt m i t der Basis halten, während die Betriebsausschußmitglieder die Sektionen über die Unternehmensplanung und die Wirtschaftssituation des Unternehmens informieren. Diese Informationen werden von den Sektionen bei der Entwicklung von Handlungs- u n d Verhandlungskonzeptionen ausgenutzt. Dabei w i r d i n Abhängigkeit von der spezifischen Situation der Gewerkschaft i m Betrieb entschieden, auf welcher Ebene eine Konfliktregelung angestrebt werden soll. Die i n der Praxis federführende Rolle der Sektionen bedeutet nicht, daß darauf abgezielt wird, die Funktionen der gewählten Repräsentativorgane auszuhöhlen, da damit die Möglichkeiten eines Informationszugangs abgebaut würden; denn i n der Regel vermeidet der Unternehmer den regelmäßigen Kontakt m i t den Sektionen, setzt sich nur dann m i t ihnen an einen Tisch, wenn aktuelle Konfliktsituationen es erzwingen. Das Festhalten der Gewerkschaften an der Einrichtung der Betriebsausschüsse ist wesentlich auch durch deren Funktionen i m sozialen Bereich bedingt: sie verwalten die betrieblichen Sozialeinrichtungen oder sind zumindest an deren Verwaltung beteiligt. Die Finanzierung dieser Sozialeinrichtungen erfolgt durch den Unternehmer, wobei es ζ. T. u m erhebliche Summen geht. Die Ausnutzung der den Gewerkschaften gewährten Vorrechte beinhaltet i m weiteren den Vorteil, daß darüber vermittelt eine Vielzahl von aktiven Gewerkschaftern i n den Genuß von verbesserten K ü n d i gungsschutzrechten kommt und die zur Wahrnehmung der jeweiligen Funktionen zugestandenen Zeiten der Freistellung von der Arbeit ausnutzen kann. Da diese Freistellungen, rechtlich vermittelt über die Möglichkeit der Personalunion, zu einem Block zusammengefaßt werden können, be-

16. April 1946

Wahlen

Ernennung durch die

50 Beschäftigten

27. Dezember 1968

Gewerkschaftsdelegierte

Gewerkschaft Beschäftigte, die älter als 16 Jahre sind und mindestens — 6 Monate im Unternehmen arbeiten Beschäftige, die älter als die Wähler, die älter als 18 Jahre sind und seit mindestens 18 Jahre sind, seit 12 Mon. einem Jahr im Unternehmen arbeiten im Untern, sind

Wahlen

50 Beschäftigten

1945, geändert: 18. Juni 1966

Betriebsausschuß

Funktion der Institution

Gruppenwahl

Beschwerde/Forderung

2 Gruppen 2 1. Arbeiter/Angestellte 2. Techniker/mittlere + leitende Führungskräfte

oder 3 Gruppen entfällt 1. Arbeiter/Angesteil te 2. Techniker 3. Führungskräfte (wenn mindestens 25 Führungskräfte besch. sind) 1. Information und Konsulvertritt die Gewerksch. im tation über die Geschäfte Unternehmen; fordert, des Unternehmens handelt u. verhandelt

Zahl der Delegierten (es 1125 Besch. = 1 Del. 5075Besch.= 3 Del. bis 1 000 = 1 Del. gibt genausoviele Stell26 50 Besch. = 2 Del. 76 100 Besch.= 4 Del. 1 001 - 3 000 = 2 Del. Vertreter) 51 - 100 Besch. = 3 Del. 101 500 Besch.= 5 Del. 3 001 - 6 000 = 3 Del. 101 - 250 Besch. = 5 Del. 501 - 1 000 Besch. = 6 Del. über 6 000 = 4 Del. 251 - 500 Besch. = 7 Del. 1 001 - 2 000Besch.= 7 Del. 501 - 1 000 Besch. = 9 Del. 2 001 - 4 000Besch.= 8 Del. bei je 500 zu4 001 - 7 000 Besch. = 9 Del. sätzl. Besch. = +1 Del. 7 001 - 10 000 Besch.= 10 Del. mehr als 10 000 = 11 Del.

wählbar oder zu ernennen

wahlberechtigt®)

ins Amt gesetzt durch

i anzuwenden in Unternehmen mit mindestens 11 Beschäftigten

; Datum der GesetzesverabI schiedung

Belegschaftsdelegierte

Übersicht über die auf Betriebs- und Unternehmensebene bestehenden Interessenvertretungsorgane

54 Peter Jansen

einmal monatlich

ja, zwingend vorgeschrieben

men mit mehr als 200 Beschäftigten möglich, keine präzisiereneinmal monatlich den Angaben

Obligatorisch in Unterneh-

frei

frei, kein Veto des Unternehmers

b

) Es gibt Kollektiv- und Betriebsvereinbarungen, die ein niedrigeres Lebensalter und eine geringere Dauer der Betriebszugehörigkeit für das aktive und das passive Wahlrecht festlegen ) Es gibt Kollektiv- und Betriebsvereinbarungen, die auch Freistunden für die Stellvertreter vorsehen Ubersicht entnommen aus: Guide pratique 78, cfdt Paris, Herbst 77

a

Sitzungen mit Teilnahme des Unternehmensleiters

Versammlungsraum

Gewerkschaftsdelegierte

20 Std. für jedes amtierende 50 - 100 Besch. = 0 Std. Mitglied des Betriebsaus150 - 300 Besch. = 10 Std. 300 u. mehr B. = 15 Std.

2. Leitung/Verwaltung sozialer Einrichtungen auf Unternehmensebene

Betriebsausschuß

frei, kein Veto des Unterfrei, der Betr.-Ausschuß nehmers ist verantwortlich Bewegungsmöglichkeit der Delegierten innerhalb frei im Rahmen ihrer Aufgaben, einschließlich ihrer Abdes Unternehmens Wesenheit während der Freistunden

Plakatierungsrecht

Zahl der monatlichen, von 15 Std. für jeden amtierenUnternehmen bezahlten den Delegierten1") Freistunden der Del. schussesb)

Belegschaftsdelegierte

Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung 55

56

Peter Jansen

inhaltet dies i n Großunternehmen die Möglichkeit, einen Gewerkschaftsdelegierten auf Kosten des Unternehmens gänzlich von der A r beit freizustellen. Dieser Gewerkschafts„funktionär" soll nach CFDTVorstellungen seine Arbeitszeit dann gleichmäßig für Aufgaben i n der Sektion, i m gewerkschaftlichen Ortsverein und i n seiner Industriegewerkschaft verteilen. Diese gewerkschaftliche Einbindung soll den Tendenzen einer betriebsegoistischen Interessenvertretungspolitik vorbeugen und gleichzeitig dafür Sorge tragen, daß auch Betriebe ohne Gewerkschaftssektionen i n Konflikten einen gewerkschaftlichen Beistand erhalten können. Die Vergewerkschaftlichung der Betriebspolitik zielt insgesamt darauf ab, den Autonomiebereich der Gewerkschaften abzusichern: es w i r d abgelehnt, Gewerkschaftskompetenzen auf nur mittelbar gewerkschaftlich beeinflußbare Vertretungsinstanzen zu übertragen. Die Effizienz der betrieblichen Interessenvertretung beruht auf dem Informationsfluß zwischen den drei Organen und i n letzter Instanz auf der Arbeitskampffähigkeit der Arbeitnehmer i m Betrieb, Unternehmen und der Branche.

Nationale Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in Betrieb und Unternehmen Das Beispiel Großbritannien Von K a r l Koch, SurreyDie Entwicklung der britischen Gewerkschaftsbewegung hat unter Voraussetzungen stattgefunden, die es i n anderen europäischen Ländern so nicht gab. Diese Voraussetzungen finden sich i n der frühen industriellen Revolution. Resultat der seitdem stattfindenden Entwicklung ist eine Gewerkschaftsbewegung, die auch heute noch ca. 400 Einzelgewerkschaften zählt, die i n ihrer Organisation und Zielsetzung einer langen demokratischen Tradition verpflichtet ist und die sich nach wie vor gegenüber gesetzlichen Regelungen auf dem Gebiet der industriellen Beziehungen reserviert verhält. Die Entfaltung der speziell betrieblichen Interessenvertretung vollzog sich unter diesen Rahmenbedingungen, war aber keineswegs von den Gewerkschaften geplant. Das charakteristische Merkmal der betrieblichen Interessenvertretung i n Großbritannien, die Dominanz des Shop-Steward-Systems, hat ihren Ursprung i n informellen Vorgängen. Die Vorläufer dieser gewerkschaftlichen Repräsentanten der Gewerkschaftsmitgliedschaft auf betrieblicher Ebene wurzeln i n der frühen britischen Gewerkschaftsgeschichte. Ihre Bedeutung als Vertreter der gewerkschaftlich organisierten Belegschaft ist aber erst neueren Datums und verknüpft m i t der Entwicklung der industriellen Beziehungen seit 1945. Shop Stewards sind Gewerkschaftsmitglieder, die die Mitgliedschaft innerhalb des Betriebes vertreten. Sie werden durch Wahl bestimmt und erhalten für ihre Tätigkeit kein Entgelt. Gegenüber den Arbeitgebern haben sie keinen gesetzlichen Schutz, wohl aber die Rückendeckung durch ihre Gewerkschaft. Sie lassen sich deshalb — juristisch betrachtet — nicht m i t den Betriebsräten der Bundesrepublik vergleichen. Sie erfüllen eine Doppelfunktion: Einerseits sind sie die gewählten Vertreter der gewerkschaftlich Organisierten, andererseits nehmen sie aber auch die Belange der Gewerkschaften gegenüber der Mitgliedschaft wahr. Spezifische Ausprägungen ihrer Rolle als Interessenvertreter hängen vom Industriezweig, von Betriebsgröße und Betriebsstruktur ab, innerhalb derer sie tätig sind.

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Die inzwischen rund 300 000 Shop Stewards nehmen i n den Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen eine zentrale Rolle ein. Dies ist auf eine Reihe von Gründen zurückzuführen: 1. Der Aktionsradius der Shop Stewards wurde durch die Entwicklung von Lohnsystemen erweitert, so z. B. von Leistungslohnsystemen, bei denen das Management es einfacher fand, Verhandlungen mit Vertretern zu führen, denen die Arbeitsplätze genau bekannt waren. Dies führte zur zunehmenden Erweiterung der Verhandlungsgegenstände zwischen Management und Shop Stewards. Heute verhandeln sie über Fragen der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsordnung, über Rationalisierung, Arbeitssicherheit, über die Festlegung von Überstunden und über Versetzung und Umgruppierung. 2. Die Aktivitäten der Shop Stewards konnten sich deshalb verstärken, weil sich das Tarifvertragssystem von der Branchenebene zunehmend auf die betriebliche Ebene verlagerte. Empirische Untersuchungen haben eindeutig nachgewiesen, daß Shop Stewards „einen beachtlichen Einfluß auf den Lohn ihrer Mitgliedschaft haben durch Verhandlungen über jene Bestandteile des Lohnes, die auf der Ebene des Betriebes ausgehandelt werden" 1 . 3. Den Shop Stewards kommt eine wichtige Aufgabe bei der Lösung von Streitigkeiten zwischen Belegschaft und Management zu. Das Schwergewicht der Konfliktaustragung auf betrieblicher Ebene liegt bei ihnen. Diese Funktion w i r d auch durch das Management anerkannt und vielfach i n mündlichen oder schriftlichen Abkommen festgeschrieben. 4. Die Gewerkschaftsfunktionäre der lokalen Ebene verfügen nicht über den Einfluß i n den Betrieben, den die Shop Stewards haben. Die einschlägigen gewerkschaftlichen Richtlinien versuchen deshalb auch gar nicht, den Handlungsspielraum der Shop Stewards einzuschränken. Allerdings weisen sie auf die Funktionen hin, die die Shop Stewards traditionellerweise für die Gewerkschaft ausüben: Information der Mitglieder, Kassieren der Gewerkschaftsbeiträge, Werbung neuer Mitglieder. Für die Mitgliederbasis i n den Betrieben bedeuten deshalb die Shop Stewards die eigentliche gewerkschaftliche Interessenvertretung. Gewerkschaftliche Verwaltungsstellen sind für sie von geringer Bedeutung. Es herrscht eine gewisse Distanz zwischen gewerkschaftlichem Apparat und den Shop Stewards i n den Betrieben. 1 Batstone, E., Boroston, I., Frenkel, S.: Shop Stewards i n Action: The Organisation of Workplace Conflict and Accomodation. Oxford/Blackwell 1977, S. 179 u. 185.

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5. Ein weiterer Grund für die Aufwertung der Shop Stewards ist die Erweiterung des „closed shop", also einer A r t Zwangsmitgliedschaft i n der Gewerkschaft auf betrieblicher Ebene. Die zentrale Stellung der Shop Stewards führte zu einer gewissen Professionalisierung ihrer Rolle. Da die Gewerkschaften i n Großbritannien nicht nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind, besteht die betriebliche Interessenvertretung aus Repräsentanten unterschiedlicher Gewerkschaften. I n diesen Multi-Gewerkschaftsgremien haben sich Organisationsstrukturen herausgebildet, die es den Shop Stewards erlauben, ihre Tätigkeit gegenüber dem Management effizient wahrzunehmen. So werden z.B. Ausschüsse gebildet (Joint Shop Stewards Committees), die die betriebsrelevanten Probleme diskutieren und eine Leitung wählen, die dann i n Verhandlungen m i t dem Management eint r i t t . Hat ein Unternehmen mehrere Betriebe, so w i r d ein Koordinierungsausschuß gebildet (Shop Stewards Combine Committees). I n Betrieben, die eine große Belegschaft haben, organisieren die Shop Stewards Abteilungsvertreter, die dann ihrerseits Vertreter i n ein zentrales Committee entsenden. I n diesen Organen spielen die Senior Shop Stewards (Conveners) eine Schlüsselrolle. Sie sind somit Mittelpunkt einer gewissen Machtkonzentration. Die genannten betriebs- und unternehmensbezogenen Interessenvertretungsorgane treffen betriebspolitische Entscheidungen, die von den formellen gewerkschaftlichen Strukturen außerhalb des Betriebes nicht beeinflußt werden. Sie sind rechenschaftspflichtig gegenüber der gewerkschaftlichen Basis innerhalb des Betriebes bzw. Unternehmens. Nur ca. 1 %> der Shop Stewards werden für ihre Aufgaben freigestellt. Daß dies nicht ausreicht und daß sie zunehmend betriebliche Einrichtungen bzw. effektive Kommunikationssysteme benötigen, u m ihrer Aufgabe gerecht zu werden, w i r d weithin anerkannt.

Nationale Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in Betrieb und Unternehmen Das Beispiel Italien Von Marcello Pedrazzoli, Bologna 1. Historischer Abriß bis 1970 a) Wie i n den anderen Industrieländern hat die betriebliche Interessenvertretung auch i n Italien eine lange Vorgeschichte. I n zahlreichen Verträgen vom Anfang dieses Jahrhunderts findet die „Betriebskommission" (commissione interna) Anerkennung als Schutzorgan vor allem bei Arbeitsstreitigkeiten. I n den ersten Nachkriegs jähren wurde sie dann zum Vorläufer der „Fabrikräte" (consigli die fabbrica), jener Organe zur Erringung der Arbeitermacht, die auch bei uns nach einem ebenso kurzen wie bewegten Leben gescheitert sind. Nach dem Ende des faschistischen Regimes, unter dem das Fehlen einer echten betrieblichen Interessenvertretung immerhin abgemildert war durch die Existenz sog. „Vertrauensleute", treten i m September 1943 die Betriebskommissionen, mit Tariffähigkeit auf der betrieblichen Ebene ausgestattet, wieder auf den Plan, u m die neugeschaffene freie Gewerkschaft i n den Betrieben zu verankern. Zwischen 1945 und 1947 gab es außerdem, vor allem i n Norditalien, das sehr viel weiterreichende Projekt einer auf sog. „Mitbestimmungsräte" (consigli di gestione) gestützten Wirtschaftsdemokratie. M i t Hilfe ihrer Kontrollbefugnisse innerhalb der Betriebe sollte die für die wirtschaftliche Planung erforderliche Koordination hergestellt werden. Doch nach dem Verschwinden dieser Räte auf Grund des zentristisch-neoliberalistischen Umschwungs von 1947 (der als weitere wesentliche Folge die Gewerkschaftsspaltungen von 1948/49 auslöste) w i r d die Betriebskommission durch Tarifabkommen von 1947, 1953 und noch einmal 1966 geregelt. Doch das Schicksal dieses Organs ist schon bald von dessen wachsender Bürokratisierung gekennzeichnet. Seine eigene Kraftlosigkeit und der Vertrauensschwund seitens der Gewerkschaften machen die Kommissionen immer nachgiebiger gegenüber der Gegenseite. So entreißt die Gewerkschaft diesen Organen schließlich jede Verhandlungsmacht i m Betrieb, die sie nun selbst durch ihre Provinz-Verbände übernimmt. Darüber hinaus wird, vor allem seitens der CISL, der Versuch unter-

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nommen, sog. „Betriebliche Gewerkschaftssektionen" (sezioni sindacali aziendali) aufzubauen, die sich ausschließlich aus Gewerkschaftsmitgliedern zusammensetzen. Das Projekt hatte jedoch wenig Erfolg, und die Sektionen blieben ohne größere Bedeutung. b) Betrachtet man die Situation der betrieblichen Interessenvertretung gegen Ende der sechziger Jahre, so stellt sich diese, grob gesagt, als dualistisch und i n mancher Hinsicht inadäquat dar. Die aus den Kämpfen von 1968 und 1969 spontan entstandenen Vertretungsorgane — die Delegierten für die sog. „homogenen Gruppen" (d.h. Arbeitnehmergruppen, die von ihrer Stellung i n der betrieblichen Arbeitsorganisation her gleiche Interessen haben) bzw. der Fabrikrat für die Gesamtbelegschaft — überlagern sich mit den bereits bestehenden Formen der Vertretung und übernehmen mühelos die Führung der realen Bewegung. A l l dies geschieht weitgehend außerhalb der Gewerkschaft und auch gegen sie, was recht bald zu der Notwendigkeit führt, diesen Organen klarere institutionelle Konturen zu verleihen und deren turbulente Existenz i m Sinne einer besseren Voraussehbarkeit zu regeln. A n eben diesem Punkt w i r d zum ersten Mal der Gesetzgeber tätig. Das Arbeitnehmerstatut von 1970 sanktioniert i m wesentlichen die auf eine einheitliche Vertretung gerichteten Organisationsansätze, die aus den praktischen Kämpfen jener Jahre hervorgegangen sind; gleichzeitig jedoch stärkt es die innerbetriebliche Position der „repräsentativsten Gewerkschaften", indem es die den Vertretungsorganen kraft Gesetzes zuerkannten Rechte und Privilegien von der Anerkennung dieser Organe seitens der so bezeichneten Gewerkschaften abhängig macht. Dies entsprach i m übrigen auch der Strategie der Gewerkschaften selbst, die sich gerade i n jenen Jahren besonders stark u m eine Wiedervereinigung bemühten und eben i m Wege der breiten Bewegung i n den Betrieben eine neue einheitliche Basis finden konnten. Dieser ungemein rasche Wandel i m Verhältnis Gewerkschaft — Betrieb, bei dem faktische Machtverschiebungen, gesetzliche und tarifvertragliche Regelungen sowie eine politisch-organisatorische Umorientierung der Gewerkschaft zusammengespielt haben, hatte die Zusammenlegung sämtlicher Funktionen betrieblicher Interessenvertretung in einem einzigen Organ zur Folge: i n einem Organ, das, obwohl gewerkschaftliche Instanz, nicht auf Mitgliedschaft basiert, und das, obwohl Ausdruck der Basis, gleichzeitig Träger gewerkschaftlicher Politik i m Betrieb ist.

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2. Beschreibung der gegenwärtigen Situation Eine Darstellung der Befugnisse und Kompetenzen dieses Organs, das w i r der Einfachheit halber gemäß der gesetzlichen Formulierung als „betriebliche Gewerkschaftsvertretung" bezeichnen, muß folglich gleichzeitig die gesetzlichen Regelungen, die Verhandlungsebene und die neuen organisatorischen Konzepte der Gewerkschaft berücksichtigen. a) Das Arbeitnehmerstatut überträgt den Vertretungsorganen eine Reihe von Rechtspositionen bezüglich der gewerkschaftlichen Betätigung i m Betrieb. Hierunter sind vor allem zu erwähnen: der besondere Schutz der Mitglieder dieser Organe und die Befugnis, die für eine demokratische Willensbildung erforderlichen Initiativen zur Kommunikation m i t der Basis zu ergreifen. Außerdem führt das Gesetz ein Verfahren gegen Verhaltensweisen des Arbeitgebers ein, die auf eine Beschneidung bzw. faktische Negierung der Koalitionsfreiheit, der gewerkschaftlichen Betätigung oder der Ausübung des Streikrechts gerichtet sind. Wie man sieht, regelt das Gesetz keineswegs die Inhalte der gewerkschaftlichen Tätigkeit i m Betrieb; eine Ausnahme bilden nur die wenigen Mitbestimmungsrechte, wie z. B. hinsichtlich der Verbesserung der gesundheitlichen Bedingungen am Arbeitsplatz. b) Vor allem auf gewerkschaftsinterne Regelungen, wie sie i n gemeinsamen Beschlüssen formuliert sind und i n Tarifabkommen einfließen, stützt sich die Anerkennung der Basisorgane als gewerkschaftliche Instanz, als allgemeine Arbeitnehmervertretung mit Schutzfunktion für deren Freiheit und Menschenwürde, als Träger der Gewerkschaftspolitik i m Betrieb, sowie als abschlußbevollmächtigte Partei i n Tarifverhandlungen auf betrieblicher Ebene. So ungewöhnlich es scheinen mag, es sind hauptsächlich freiwillige, nicht gesetzliche Regelungen, die i n Italien bestimmen, auf welcher Ebene, wann, i n was für einer Form und m i t welchen Inhalten die Tarif V e r h a n d l u n g e n geführt werden; und das Gleiche gilt ganz generell für die Kontrollinstrumente der Arbeitnehmer, die allesamt i n der Hand der Gewerkschaft liegen. Die „Einheit des Verhandlungssubjekts" hat wichtige Auswirkungen auf die Verwirklichung der gewerkschaftlichen Betriebspolitik, vor allem angesichts der Tatsache, daß keinerlei Trennung zwischen Abschluß und Durchführung der Tarifverträge besteht. c) Ein eindrucksvoller Komplex von Möglichkeiten gewerkschaftlicher Kontrolle und Initiative w i r d den betrieblichen Gewerkschafts-

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Vertretungen i n den nationalen Tarifverträgen seit 1976 übertragen. Was das sogenannte Informationssystem, den „politischen Teil" des Vertrages betrifft, so muß den Vertretungsorganen i n bestimmten Zeitabständen bzw. auf Anfrage h i n Auskunft über alle bedeutsamen w i r t schaftlichen und planerischen Fragen i m Unternehmen erteilt werden. A u f diese Auskünfte folgt i n der Regel eine gemeinsame Untersuchung der Lage. I n anderen Fällen muß der Unternehmer die Vertretungsorgane i m voraus über geplante Umstellungsmaßnahmen informieren, u m gemeinsam mit diesen die jeweils vorteilhafteste Lösung zu suchen. d) Die Verhandlungen auf betrieblicher Ebene, die von den Vertretungsorganen, i n gewissen Fällen gemeinsam mit den örtlichen Gewerkschaftsverbänden, geführt werden, sind von grundlegender Bedeutung für die Arbeitsbeziehungen i n Italien, seitdem die jeweilige Zuteilung von Verhandlungsgegenständen und -Zuständigkeiten nicht mehr i n irgendeiner Form vorbestimmt ist, sondern auf Grund von politischen Kriterien entsprechend den effektiven Kräfteverhältnissen erfolgt. I n diesem Rahmen wurde die Verbesserung der i m jeweils letzten nationalen Tarifvertrag erreichten Positionen zur konstanten Funktion betrieblicher Tarifverhandlungen, und dies auch i m Hinblick auf den folgenden nationalen Vertrag. Abgesehen von dieser Hauptfunktion ergeben sich die Inhalte der betrieblichen Tarifverhandlungen einerseits aus dem Komplex der Auskunftsrechte für die Vertretungsorgane; andererseits werden sie durch die Leitverträge angeregt, die die Gewerkschaft i n den Verhandlungen mit Großunternehmen und Konzernen abgeschlossen hat. I n beiden Fällen sind die Verhandlungsgegenstände verflochten m i t für die Arbeitnehmer essentiellen Aspekten der wirtschaftlichen Planung und der Politik des Unternehmens. e) Die vorliegende Darstellung der Grundlinien gewerkschaftlicher Betriebspolitik wäre unvollständig, wenn — angesichts des Vorherrschens freiwilliger Regelungen für die Interessenvertretung — nicht auf bestimmte neue Tendenzen der letzten Jahre hingewiesen würde. Die fortdauernde Wirtschaftskrise, die eine wachsende Unfähigkeit des freiwilligen Systems gezeigt hat, gewerkschaftliche Forderungen zur Unternehmenspolitik durchzusetzen und Lösungen für die oftmals dramatischen Probleme anzubieten, ist der Hauptgrund für das wachsende Eingreifen des Gesetzgebers; dieser wurde insbesondere i m Bereich des Lohnsystems tätig, u m einige Pervertierungen automatischer Lohnerhöhungen zu korrigieren, u m die Mobilität der Arbeitskräfte zu erleichtern und u m besonders schwerwiegenden Problemen i n einigen Bereichen des Arbeitsmarktes zu begegnen; vor allem auf letzterem Gebiet gibt es inzwischen Mechanismen, die den beiden Par-

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teien — teilweise unter Einschaltung staatlicher Stellen — bestimmte Verhaltensweisen nahelegen und sie stärker auf ein bestimmtes Ergebnis festlegen. Doch auch innerhalb der Gewerkschaften selbst sind die strikten Vorbehalte gegenüber gesetzgeberischen Eingriffen geschwunden, selbst bei bisher so unantastbaren Themen wie der Wirtschaftsdemokratie. Dies sind Fakten, die meines Erachtens i n ihrer Problematik über die wirtschaftliche Krisensituation hinausgehen und wohl eher auf einer selbstkritischen Reflexion über die strukturelle Schwäche beruhen, die das freiwillige System der Arbeitsbeziehungen i n Italien i n institutioneller Hinsicht aufweist.

Nationale Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in Betrieb und Unternehmen Das Beispiel der Niederlande Von Bob Reinalda, Nijmegen Was die niederländischen Besonderheiten der gewerkschaftlichen Interessenvertretung i m Betrieb angeht, w i l l ich zwei Entwicklungslinien zur Sprache bringen, die die Geschichte der niederländischen Gewerkschaftsbewegung kennzeichnen und für die aktuelle Situation ihre Konsequenzen haben: 1. Die Uneinigkeit der Arbeiter über die Richtung der Gewerkschaftsbewegung; 2. Der unbedeutende Platz, den die gewerkschaftliche Betriebspolitik lange Zeit innerhalb der niederländischen Arbeitsbeziehungen einnahm. Ich fange an m i t dem starken Einfluß der christlichen Konfessionen auf die Gewerkschaften, weil ich mich dann gleichzeitig m i t den verschiedenen Strömungen innerhalb der niederländischen Gewerkschaftsbewegung auseinandersetzen kann. Nachher werde ich noch auf einen anderen Gegensatz innerhalb der Arbeiterklasse hinweisen, nämlich den zwischen Hand- und Kopfarbeitern. I m Vergleich zu anderen Ländern ist die niederländische Gewerkschaftsbewegung gekennzeichnet durch eine bemerkenswerte Differenzierung nach Konfessionen. Schon während der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nahmen die protestantischen Arbeiter nicht die Interessenvertretung der Lohnabhängigen zur Grundlage ihrer Gewerkschaftsarbeit, sondern die christliche Religion oder die Bibel. Dem Klassenkampf der Sozialisten stellten sie die Zusammenarbeit der Stände und Klassen gegenüber, die man als gegeben hinzunehmen hatte. Fortsetzung der protestantischen Strömung ist der CNV (Christelijk Nationaal Vakverbond), ein Gewerkschaftsverband m i t jetzt etwa 300 000 Mitgliedern. Versucht man diesen Gewerkschaftsverband zu kennzeichnen, dann ist er an erster Stelle nicht als ein Gewerkschaftsverband zu sehen, sondern als ein nach innen gerichteter religiöser Verein, für den das religiöse Prinzip am stärksten zählt 1 . Gewöhnlich 5 Tagung Dortmund 1981

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verhält der CNV sich sehr gemäßigt, meistens steht er zwischen dem, was die Unternehmer bieten, und dem, was die anderen Gewerkschaftsverbände fordern. Für lange Zeit galt die erwähnte Idee der Zusammenarbeit der Klassen auch für die katholischen Gewerkschaften. Was ihre A k t i v i täten anbelangt, so waren sie völlig der Führung der katholischen Kirche untergeordnet, wobei Priester i n ihrer Funktion als geistliche Berater der Gewerkschaften eine Schlüsselstellung einnahmen. Es gab somit wenig Raum für selbständiges Auftreten der katholischen Arbeiter selbst. Außerdem hinderten Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kirche den Ausbau der katholischen Gewerkschaften. So bestand z.B. Uneinigkeit darüber, ob man sich national oder nach Kirchenprovinzen (von denen es i n den Niederlanden damals vier gab) organisieren solle. Die Uneinigkeit der Arbeiterklasse wurde dadurch vergrößert, daß die Kirche die katholischen Arbeiter sowohl gegen die Sozialisten (dies, u m die Seele der Arbeiter vor dem Übel des Sozialismus zu schützen) als auch gegen die übrigen christlichen Arbeiter abschirmte. So wandten die Bischöfe sich gegen interkonfessionelle Gewerkschaften und brachten es dazu, daß der CNV (ursprünglich ein interkonfessioneller Verein) zur rein protestantischen Gewerkschaft wurde. Bis i n die sechziger Jahre war nicht die Emanzipation der katholischen Arbeiter das erste Ziel, sondern die Emanzipation der Katholiken zu Bürgern. (Auf diesen Hintergrund w i l l ich nicht eingehen. U m das zu verstehen, müßte man die langfristige Unterordnung der Katholiken unter die niederländischen Protestanten und das leidige Verhältnis zwischen der niederländischen katholischen Kirche und dem Vatikan erklären.) Während der sechziger und siebziger Jahre fand unter den niederländischen Katholiken eine bis dahin ungekannte politische Radikalisierung statt, verbunden m i t einem kritischen Durchdenken der Glaubenswerte. Die katholischen Gewerkschaften standen i m Mittelpunkt dieses Prozesses. Sie machten die deutliche Erfahrung einer mehr und mehr u m sich greifenden Entkonfessionalisierung. Gleichzeitig waren sie gezwungen, als Gewerkschaften aktiv zu sein, w e i l sie Mitgliederschwerpunkte gerade i n den Branchen hatten, i n denen veraltete Unternehmen vor wirtschaftlichen Problemen standen, wie z.B. i m Bergbau und i n der Textil- oder Lederindustrie. Ergebnis dieser Entwicklung war, daß der N K V (Nederlands Katholiek Vakverbond m i t jetzt etwa 320 000 Mitgliedern) sich von der katholischen Kirche freimachte und selber eine kämpferische Perspektive für die Interessen1 Harmsen, Ger, Perry, Jos, v a n Gelder, Floor: Mens en werk. Industriele vakbonden op weg naar eenheid, Baarn 1980, S. 226.

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Vertretung der Lohnabhängigen unter den heutigen sozialen Bedingungen entwickelte. Der von den Sozialisten zu Anfang des Jahrhunderts gegründete allgemeine Gewerkschaf tsverb and N W (Nederlands Verbond van Vakverenigingen) ist nach der M i t gliederzahl der stärkste (jetzt etwa 740 000 Mitglieder). I n einer Phase harmonischer Zusammenarbeit m i t N K V und CNV i n der Nachkriegszeit gab der N W viel von seiner Kampfbereitschaft auf, die er früher als Klassenorganisation unter Beweis gestellt hatte. Ende der sechziger Jahre hatte der N W seine Kampfbereitschaft jedoch wiedergefunden, zu einer Zeit also, als die katholischen Gewerkschaften sich ihrerseits radikalisierten. Nachdem ein Versuch zur Gründung einer übergreifenden Föderation der drei Gewerkschaftsverbände gescheitert war, weil der CNV nicht mitmachen wollte, bildeten N W und N K V 1975 die FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging). Sie haben die Absicht, diese Föderation bald i n eine Fusion umzuwandeln. Mehrere Einzelgewerkschaften haben damit schon begonnen. Nicht alle katholischen Gewerkschaften waren damit einverstanden. Einige verließen den N K V . Neuerdings schließen einige sich dem CNV an, der dadurch einen stärkeren interkonfessionellen, aber — gegenüber dem FNV — auch konservativen Charakter erhält. Katholische Gewerkschaften der leitenden Angestellten der privaten Wirtschaft haben sich nach ihrem Ausscheiden einer Interessenvertretung des höheren Personals angeschlossen, die nun versucht, als Gewerkschaftsverband anerkannt zu werden. (Es handelt sich u m die Raad MHP m i t etwa 120 000 Mitgliedern.) Nach der Erörterung der Strömungen innerhalb der niederländischen Gewerkschaftsbewegung w i l l ich jetzt die Frage nach dem Stellenwert der gewerkschaftlichen Betriebspolitik innerhalb der niederländischen Arbeitsbeziehungen beantworten, wobei ich m i t gewerkschaftlicher Betriebspolitik die unmittelbare Anwesenheit der Gewerkschaften i m Betrieb meine. Schon i m vorigen Jahrhundert hatten einige sozial fühlende Unternehmer i n ihren Betrieben eine A r t Räte (Fabriekskernen) eingeführt, die dem Personal eine gewisse Vertretung gaben. Diese Räte konnten jedoch auch dazu benutzt werden, die Gewerkschaften von den Betrieben fernzuhalten, etwa dadurch, daß die Unternehmer bei der Kandidatenaufstellung die nichtorganisierten Arbeiter begünstigten. Die Frage, ob die Betriebsräte ein Instrument der Unternehmer oder eine Faust der Gewerkschaften und Arbeiter waren, hing somit ab von den Kräfteverhältnissen i m Betrieb, von Bildung und Klassenbewußtsein der Arbeiter. Ein antisozialistisches Experiment zu Anfang der 5*

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zwanziger Jahre, das die Absicht verfolgte, katholische Arbeiter und Unternehmer i n einer A r t „Betriebsräte" (Bedrijfsraden) zur Zusammenarbeit zu bringen, scheiterte jämmerlich an der mangelnden Mitwirkungsbereitschaft der Unternehmer. I n der Nachkriegszeit hatte die gewerkschaftliche Betriebspolitik innerhalb der A k t i v i t ä t e n der drei Gewerkschaftsverbände einen nur geringen Stellenwert. Schon während der deutschen Besatzung der Niederlande waren Unternehmer und ehemalige Funktionäre der drei Gewerkschaftsverbände sich darüber einig, daß sie nach dem Kriege zusammenarbeiten würden. Dies geschah i m Rahmen einer sogenannten „Stiftung der Arbeit" (Stichting van de Arbeid), die zum Ziel hatte, sozialen Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit zu fördern. Die Stiftung wurde von der ersten Nachkriegsregierung aus Katholiken und Sozialdemokraten als beratende Körperschaft offiziell anerkannt. Nach Meinung des amerikanischen Arbeitssoziologen Windmuller, der die A r beitsverhältnisse i n den Niederlanden untersuchte, wurde die bedeutendste Konzession von den Arbeitern gemacht: I m Tausch gegen eine Vertretung i n offiziellen ökonomischen Körperschaften zur Beratung der Regierung verzichteten sie, jedenfalls vorläufig, auf den Anspruch aktiver M i t w i r k u n g i m Betrieb 2 . Auch die Einrichtung von Betriebsräten hatte i n den Nachkriegsjahren keine Priorität. Die von der Regierung unter Mitarbeit der Gewerkschafts verbände geführte zentral gelenkte Lohnpolitik setzte voraus, daß nicht gestreikt wurde: Das leergeraubte Land sollte wieder aufgebaut werden. Als Gegenleistung für die niedrigen Löhne erhielten die Arbeiter ein System der sozialen Sicherheit. Die damalige Lohnpolitik führte unter anderem dazu, daß der Schwerpunkt der A k t i v i t ä t e n der einzelnen Gewerkschaften sich zu den Verbandsspitzen verschob und eine K l u f t entstand zwischen den Gewerkschaftsleitungen und den Mitgliedern. U m diese K l u f t zu überbrücken, wurde von soziologischen Beratern das Konzept einer sogenannten „Betriebsarbeit" (Bedrijvenwerk) entwickelt. Diese „Betriebsarbeit" erhielt erst während der Radikalisierung und dem Wiederaufleben der Gewerkschaftsbewegung i n den siebziger Jahren ihre wirkliche Bedeutung. M i t den Bedrijfsledengroepen (BLG's auf deutsch: Gewerkschaftliche Betriebsgruppen), i n denen die M i t glieder i n den Unternehmen die Gewerkschaftspolitik unmittelbarer beeinflussen können als über die traditionellen Mitgliederversammlungen, bekamen die Gewerkschaften ein wirkliches Profil innerhalb der Unternehmen. Zunächst gab es allerdings Spannungen zwischen den gewerkschaftlichen Betriebsgruppen und den Fraktionen i m Be2 W i n d m u l l e r , J. P.: Arbeitsverhoudingen i n Nederland, U t recht/Antwerpen 1970, S. 123.

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triebsrat. Auch die Vorstände der Gewerkschaften mußten sich an die neuen Verhältnisse gewöhnen. Als die Leitung der Industriegewerkschaft N W während eines großen Arbeitskonflikts 1973 sich für die Fortsetzung der A k t i o n entschloß, ohne die Mitglieder i n den Unternehmen zu fragen, mußte sie dafür einen hohen Preis bezahlen: Sie verlor das Vertrauen vieler Mitglieder. Danach wurde es während Streiks üblich, über Streikaktivitäten m i t den Mitgliedern i n den Betrieben zu beraten und die Basis kollektiv entscheiden zu lassen. Die Gewerkschaftliche Betriebspolitik ist für die niederländische Gewerkschaftsbewegung somit zu einer bedeutenden Angelegenheit geworden, die von vielen Mitgliedern aktiv mitgetragen wird.

Diskussion Leitung: Günter Köpke Berichterstattung: Birgit Geissler, Rainer Volz 1. I n die Diskussion wurde das am Vormittag gehaltene Einleitungsreferat von Rainer Zoll m i t einbezogen. Es ging deshalb zunächst u m das Verhältnis von zentraler und dezentraler Ebene gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Als erster Diskussionsredner lobte Walter Fabian die „ausgezeichnete Darstellung" des Wechselspiels von zentraler und dezentraler Ebene, wies aber gleichzeitig auf Spannungen zwischen Basis und Zentralen hin, die sich i n der Nachkriegsgeschichte der deutschen Gewerkschaften verfolgen lassen: Er erinnert an die „Septemberstreiks" von 1969 und an die aktuellen Auseinandersetzungen u m die Lieferung deutscher U-Boote an Chile. Fabian erwähnte die immer wiederkehrenden Probleme ζ. B. der I G Metall i n ihrer Bildungsarbeit, namentlich die Klagen des Vorstandes, daß die Funktionäre „zu radikal" aus Bildungsveranstaltungen i n die Organisation zurückkehrten. Als letztes Beispiel für das Spannungsverhältnis der zentralen und der dezentralen Ebene führte er die Diskussion i n der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik über die Wahl oder Nichtwahl von Vertrauensleuten an. M i t h i n stellte sich für Fabian die Frage nach einem organisatorischen Mechanismus, u m dieses SpannungsVerhältnis zu regeln. Wolfgang Lecher stellte die Frage nach einer supranationalen Ebene der Vermittlung zwischen zentralen und dezentralen Momenten gewerkschaftlichen Handelns, insbesondere nach dem Abbau des Übergewichts des zentralen Organisationsfeldes. Andreas Resch gab zu bedenken, ob die Distanz der zentralen Gewerkschaftsebene zu ihrer Basis nur durch Stärkung der Vertrauensleute behebbar sei. Er führte als Beispiel diejenigen Probleme der innerbetrieblichen Willensbildung an, die mit oppositionellen Listen zur Betriebsratswahl gegeben sind. I n seiner A n t w o r t betonte Rainer Zoll, daß es bei Zentralisierung und Dezentralisierung nicht u m ein Entweder — Oder gehe. Ein Ausçinanderklajfïçn çder gar Gegeneinander-Ausspielen der beiden Ebenen

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— i m Referat als „Partikularismus" bzw. „Zentralismus" bezeichnet — gelte es i m Gegenteil zu vermeiden. Es gehe vielmehr u m ein immer wieder herzustellendes Gleichgewicht von zentraler und dezentraler Handlungsebene. Modelle für ein solches Gleichgewicht gäbe es, doch müßte man sich vor schematischen Übertragungen hüten. Die Notwendigkeit einer organischen Verbindung zentraler und dezentraler Ebene zeige sich i n der Lohnpolitik. Der Lohn werde i m Tarifvertrag zentral ausgehandelt, doch sei er gleichzeitig betrieblich zu bearbeitender Konfliktgegenstand. Zur Rolle der Vertrauensleute: Selbstverständlich reiche es nicht aus, lediglich die Vertrauensleute zu stärken. Die Gewerkschaft müsse i m Vertrauensleutekörper und i m Betriebsrat handlungsfähiger und durchsetzungsfähiger werden. Wie dies zu erreichen sei, könne die Theorie nicht vorschreiben, sondern müsse die Gewerkschaft i n einem inneren Willensbildungsprozeß selbst bestimmen. Mögliche Wege seien die Aufwertung des Vertrauensleutekörpers und die „Vergewerkschaftlichung" des Betriebsrats. Daß dies i n Beziehung zur zentralen Verhandlungsebene der Gewerkschaft geschehen müsse, lasse sich an der Regelung der Arbeitsbedingungen deutlich machen: I n vielen Betrieben existierten „grievance procedures", die die Arbeitsbedingungen regeln. Diese De-facto-Absprachen müßten tariflich und damit überbetrieblich abgesichert werden. Wolfgang Oäubler wies darauf hin, daß der Zentralismus gewerkschaftlicher Politik i m Steuerungsbedürfnis des Staates eine wesentliche Ursache habe. Beispiel dafür sei die Konzertierte Aktion. Solche Steuerungsmechanismen hätten das Ziel, die Arbeitswelt für die politischen Instanzen berechenbar zu machen. Eine dezentralisierte Gewerkschaftspolitik setze daher gleichzeitig ein anderes Staatsmodell voraus. Bei der Frage nach Zentralismus und Partikularismus müßten abstrakte Forderungen auf die betriebliche Ebene h i n vermittelt und i n Gedankenexperimenten durchgespielt werden. So stelle ζ. B. die i n der ÖTV erhobene Forderung nach einem einheitlichen Personalrecht für alle Statusgruppen des Öffentlichen Dienstes die Loyalität von Gewerkschaftsmitgliedern gegenüber ihrer Organisation auf die Probe, da die Beamten auf ihren Beamtenstatus verzichten müßten. Als ein nationales Beispiel für das Verhältnis von zentraler und dezentraler Handlungsebene wurde Schweden angesprochen. Günter Köpke führte aus, daß die Lohnpolitik i n Schweden zentral für alle Arbeitnehmer geregelt, auf der betrieblichen Ebene hingegen über andere Probleme verhandelt werde. A u f betrieblicher Ebene, so Horst Hart, werde durch ein neues Vertrauensleutegesetz die Möglichkeit gegeben, gewerkschaftliche Arbeit i m Betrieb zu leisten; Gewerkschafts-

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mitglieder könnten am Arbeitsplatz m i t Kollegen sprechen und Lösungsmöglichkeiten für betriebliche Konflikte erarbeiten, die dann i n Verträge einmünden. 2. M i t der Schilderung der Gewerkschaftspolitik i n Schweden wurde ein zweiter Themenbereich angesprochen, die Verrechtlichungsproblematik. Hart zufolge ist die gewerkschaftliche Handlungsmacht durch das neue Vertrauensleutegesetz i n Schweden gestiegen. Gleichzeitig schränkten Verträge die gewerkschaftliche Autonomie ein und machten zu ihrer Einhaltung eine gewerkschaftliche Kontrolle über die Mitglieder notwendig. Die Verrechtlichungsproblematik wurde auch von Marcello Pedrazzoli aufgegriffen. Er stellte für Italien eine Krise des freiwilligen Verhandlungssystems fest. Die Krise zeige sich zum einen i n zunehmenden und verstärkten Eingriffen des Gesetzgebers i n Verhandlungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften. Anderes Anzeichen dieser Krise sei die sich verbreiternde Diskussion über einen Verhaltenskodex bei industriellen Konflikten (Regulierung des Streikrechts). 3. Als dritte zentrale Frage wurde am Beispiel verschiedener Länder der Dualismus der Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Betrieb diskutiert: auf der einen Seite Vertretungen aller Beschäftigten, auf der anderen Seite gewerkschaftliche Vertretungsstrukturen i m Betrieb. Dam i t war ein Problem angesprochen, das auch i m weiteren Verlauf der Tagung eine wichtige Rolle spielte. I n bezug auf die Niederlande wurde von Wolf gang Lecher die Frage gestellt, wie das Verhältnis zwischen dem „Betriebsrat" und den betrieblichen Gewerkschaftsgruppen aussehe. Verbessern sich die Arbeitsmöglichkeiten der Gewerkschaften i m Betrieb, wenn ein gesetzliches Interessenvertretungsorgan eingerichtet wird? Von Bob Reinalda wurde diese Frage positiv beantwortet. Allerdings sei gerade die Novellierung des Betriebsratsgesetzes auf eine gestiegene Militanz der Gewerkschaften i n den sechziger Jahren zurückzuführen. Der Betriebsrat sei seit der Novellierung ein reines Arbeitnehmergremium. Die vorherige starke Stellung des Unternehmers i m Betriebsrat selbst wurde beseitigt. Die Arbeitnehmer würden durch regelmäßige Sitzungen m i t der Geschäftsleitung über die betriebliche Politik informiert; auf der anderen Seite ergäbe sich dadurch die Gefahr, für das Handeln der Geschäftsleitung mitverantwortlich gemacht zu werden. I m Betriebsrat seien Mitglieder verschiedener Gewerkschaften vertreten, die von den gewerkschaftlichen Betriebsgruppen delegiert bzw. zur Wahl aufgestellt werden. Diese Betriebsgruppen hätten wesentlich schlechtere Arbeitsbedingungen als der Betriebsrat; vor allem hätten sie kein Recht auf betriebliche Präsenz (Räume, Veröffentlichungsmöglichkeiten etc.). Ihre

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Betriebsarbeit müsse gegen den Widerstand der Unternehmer durchgesetzt werden. Die relative Schwäche der gewerkschaftlichen Betriebsgruppen habe ihren Grund jedoch auch i n der bisherigen Politik der Gewerkschaften, die den Aufbau solcher Gruppen betrieblichen Gewerkschaftern überließen und den Schwerpunkt ihrer Arbeit nach wie vor i n den Ortsverwaltungen als der Grundeinheit für die Mitgliedschaft sähen. Völlig anders ist die Situation i n Großbritannien, wie Karl Koch i m Anschluß darlegte. Es existiere kein Gesetz über eine betriebliche Interessenvertretung für alle Beschäftigten; Closed-shop-Regelungen machten jedoch die Unterscheidung einer Vertretung aller Beschäftigten oder nur der Gewerkschaftsmitglieder obsolet, da durch die gewerkschaftlichen shop stewards alle Beschäftigten vertreten würden. Das Verhältnis der betrieblichen Shop Stewards Committees zu den örtlichen Gewerkschaften sei unterschiedlich; zum Beispiel seien i n einigen Orten die betrieblichen Gewerkschaftsgruppen gleichzeitig die Ortsverwaltung der jeweiligen Gewerkschaft. Marcello Pedrazzoli wies darauf hin, daß i n Italien die Identität der Interessenvertretung aller Arbeitnehmer i m Betrieb und der gewerkschaftlichen Betriebsstruktur durch die Basisbewegung i n den Betrieben ab 1968 hergestellt wurde. Diese Entwicklung habe sich i n einer Veränderung der gewerkschaftlichen Organisationsstruktur niedergeschlagen, die i n entsprechenden Satzungsbestimmungen verankert wurde. Pedrazzoli stellte diesen historischen Prozeß kurz dar: Bis i n die sechziger Jahre gab es i n den italienischen Betrieben nur die Commissione Interna (CI) als Interessenvertretung aller Beschäftigten, dem deutschen Betriebsrat vergleichbar. Zur Wahl der CI stellten die Richtungsgewerkschaften, die zunächst nur außerhalb des Betriebes arbeiten konnten, konkurrierende Listen auf. Wesentliches Arbeitsgebiet der Gewerkschaften war die überbetriebliche Tarifpolitik; die CI kontrollierten ihre Anwendung i m Betrieb. I n den sechziger Jahren wurde von den beiden größten Richtungsgewerkschaften die Gründung gewerkschaftlicher Betriebssektionen beschlossen. Diese Trennung i n CI und Sektionen wurde i n der Bewegung ab 1968 überwunden. Als einheitliche Basis Vertretung entstanden die Delegierten, deren Zusammenschluß i n Fabrikräten die CI ablöste. Diese Entwicklung wurde 1970 von staatlicher Seite i n den arbeitsrechtlichen Bestimmungen des A r beitnehmerstatuts und von gewerkschaftlicher Seite i n der Anerkennung der (von allen Arbeitnehmern gewählten) Delegierten als gewerkschaftlicher Basisstruktur sanktioniert. Die Delegierten sind also nicht den deutschen Vertrauensleuten gleichzusetzen, da es keinen „Betriebsrat" (mehr) gibt.

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Diese „zwitterhafte" Konstruktion des Delegierten basierte bis ca. 1975 auf einer funktionierenden Aktionseinheit der Gewerkschaftsbünde und auf hoher Partizipation der Beschäftigten an der betrieblichen Interessendurchsetzung und an überbetrieblichen Gewerkschaftsaktionen. Die wirtschaftliche Krise brachte m i t sinkender Partizipation der Arbeiter und Angestellten und m i t Schwierigkeiten i n der Gewerkschaftseinheit das Repräsentationsmodell des Delegierten i n die Krise: Die Delegierten repräsentieren heute weniger als zu Beginn der siebziger Jahre die Gesamtheit der Arbeiter. Sie werden tendenziell zum reinen Gewerkschaftsorgan.» I n Frankreich haben die repräsentativen Gewerkschaftsbünde zur betrieblichen Ebene der Gewerkschaftsarbeit unterschiedliche Positionen, wie Peter Jansen ausführte. Nach der Maibewegung 1968 konnten sowohl gesetzliche Regelungen zur Einrichtung von Betriebsausschüssen (Interessenvertretung für alle Beschäftigten) als auch Gewerkschaftssektionen i n den meisten Großbetrieben durchgesetzt werden. Die CFDT versuche, betriebliche Basisarbeit sowohl i m Betriebsausschuß als auch i n der Sektion als integralen Teil ihrer Politik zu organisieren. Die CGT verstehe dagegen die Gewerkschaftsvertreter i m Betrieb eher als Mittler zur überbetrieblichen Gewerkschaftsorganisation. Dies zeige sich i n der Aufteilung der den Betriebsausschußmitgliedern zustehenden Freistunden, die zu je einem Drittel der Arbeit i m Betriebsausschuß zugeordnet werden. Die CGT-FO ist i n der Industrie organisatorisch schwach; sie verhalte sich aus diesem Grunde gegenüber dem Aufbau von Betriebssektionen zurückhaltend. Günter Köpke fügte einen Hinweis zur Situation i n Spanien ein. Dort seien die Gewerkschaften generell noch sehr schwach, obwohl die Übergangsregierung die großen Organisationen unterstütze. Der Organisationsgrad liege bei ca. 13%. Diese Schwäche werde unter anderem darauf zurückgeführt, daß keine Verbindung m i t der gewerkschaftlichen Tradition der vor faschistischen Zeit bestehe. Es gäbe i n den Betrieben zwar eine Interessenvertretungsinstanz auf gesetzlicher Grundlage (Betriebsausschüsse), doch seien deren Rechte gering. Die Gewerkschaften seien auf Grund ihrer organisatorischen Schwäche noch nicht zu einer wirksamen Betriebspolitik i n der Lage. Die gewerkschaftlichen Betriebsstrukturen sind demnach i n den meisten Ländern — m i t Ausnahme von Großbritannien — i n einer Position der Schwäche sowohl gegenüber den gesetzlichen Strukturen, soweit sie existieren, als auch innergewerkschaftlich. Dies ist auch i n den Ländern festzustellen, i n denen die Gewerkschaften auf überbetrieblicher Ebene verhältnismäßig erfolgreich sind.

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4. M i t der Frage nach den Ursachen für die aktuelle Schwäche der Gewerkschaftsstrukturen i m Betrieb sprach Detlev Albers einen vierten Problembereich an, der allerdings weder an diesem Nachmittag noch i m weiteren Verlauf der Tagung systematisch diskutiert wurde: lösten eigene, strukturelle Defizite die Krise der Basisorgane, wie sie beispielsweise i n Italien zu beobachten ist, aus, oder wirkte sich die Verringerung der Handlungsmöglichkeiten in der Wirtschaftskrise besonders auf der betrieblichen Ebene aus? Der italienische Referent kam hier noch einmal auf das Problem der Repräsentativität der Delegierten zurück. Er wies darauf hin, daß die ökonomische Krise zu einem Auseinanderfallen von betriebsspezifischen und allgemeinen Lohnarbeiterinteressen beitrage: I n den italienischen Gewerkschaften artikulierten sich verschiedene Auffassungen über die Bedeutung der betrieblichen Ebene für den gewerkschaftlichen Kampf, und m i t der Krise der Gewerkschaftseinheit zeigten sich auch verstärkt die zwischengewerkschaftlichen Differenzen hinsichtlich der Rolle der Basisorgane. Wolfgang Däubler führte für die Bundesrepublik aus, daß mit der Krise eine rechtliche Absicherung gewerkschaftlicher Einflußmöglichkeiten notwendig werde, weil die Streikwaffe nunmehr stumpfer sei. Dagegen seien zum Beispiel Mitbestimmungsrechte relativ immun gegen Krisenfolgen. Däubler wies i n diesem Zusammenhang auf das Votum des englischen TUC für eine der deutschen entsprechende M i t bestimmungsregelung hin. I n der Bundesrepublik hätten sich — i m Vergleich zu den anderen Ländern — seit dem Beginn der Wirtschaftskrise die betrieblichen Strukturen wenig verändert. Das hänge zum einen mit der hohen rechtlichen Absicherung des Betriebsrats zusammen. Zum zweiten würden — etwa i m Vergleich zu Frankreich und Italien — betriebliche Auseinandersetzungen nicht so sehr als politisierte „Bewegung" verstanden, so daß hier kaum von einer Krise der Betriebsstrukturen gesprochen werden könne.

I I I . Arbeitsgruppen

Themenkreis 1 Gewerkschaftliche Organisationsstrukturen in Betrieb und Unternehmen Grundzüge der Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Vertrauensleutearbeit in der I G Metall Von Lutz Dieckerhoff, Frankfurt a. M. Die Metallarbeitgeber und ihre Verbände unterstellen uns, auf der „10. Konferenz der I G Metall für Vertrauensleute" 1979 i n Dortmund eine völlig neue Strategie entwickelt zu haben. I n den Publikationen der Arbeitgeberverbände ist die Rede von „Strategiewechsel", einer „Gleichschaltung" bzw. „Umfunktionierung des Betriebsrates zum gewerkschaftlichen Hebel i m Betrieb". Die öffentliche Resonanz war nie zuvor so groß wie zu dieser Konferenz. Die Arbeitgeber wurden u. a. durch folgende Aussage aufgeschreckt: „Die Betriebsverfassung erhält erst ihren Sinn, wenn sie genutzt wird, u m gewerkschaftliche Zielvorstellungen i n die Praxis umzusetzen. Nicht die Betriebsrätearbeit darf die gewerkschaftliche Arbeit bestimmen, sondern die gewerkschaftliche Arbeit muß Ausgangspunkt für die Arbeit unserer Mitglieder i n den Betriebsräten sein." Daß w i r in erster Linie unsere Funktionäre i n den Betrieben als gewerkschaftliche Vertrauensleute (nachfolgend „Vertrauensleute" genannt) sehen, ganz gleich, ob sie Funktionen i m Rahmen der Betriebsverfassung wahrnehmen oder auch nicht, w i r d von den Arbeitgebern als neue gefährliche Strategie der I G Metall angesehen. Aus ihrer Sicht haben sie auch recht. Dabei haben w i r nur deutlicher und offener ausgesprochen, was schon immer Politik der „Metaller" war. Unsere Funktionäre i n den Betrieben, die Vertrauensleute, sind das Fundament unserer Organisation. Das ist keine neue Politik und keine neue Strategie. Lange vor Inkrafttreten des Betriebsrätegesetzes 1920 gab es schon die „Werkstattvertrauensmänner". I n 104 Verwaltungsstellen des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) wurden nach ersten statistischen Erhebungen Vertrauensleute bereits i m Jahre 1903 registriert. Der Vorstand des D M V gab 1912 Richtlinien über die Aufgaben der „Werk-

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stattvertrauensmänner" heraus. Die Lektüre dieser kleinen Broschüre würde jene verblüffen, die Anfänge gewerkschaftlicher Vertrauensleutearbeit erst seit 1920 — Betriebsrätegesetz — oder gar 1952 — Betriebsverfassungsgesetz — zu erkennen glauben. Viele der damals formulierten Aufgaben für die Vertrauensleute haben auch heute noch ihre Gültigkeit. Beispielsweise liest man i n der DMV-Broschüre von 1912: „Gewaltige wirtschaftliche Kräfte stehen der Arbeiterbewegung entgegen und fortgesetzt sinnen die i n mächtigen Unternehmerverbänden organisierten Unternehmer der Eisen-, Stahl- und Metallindustrie auf neue Mittel, den Fortschritt unserer Organisation aufzuhalten. Als die wirksamste Einrichtung zur Betreibung einer intensiven Agitation und zur Aufklärung und Schulung der Mitglieder erweist sich das System der Werkstatt-, Branchen- und Bezirksvertrauensmänner. Richtig organisiert, bilden die Vertrauensmänner das Rückgrat der Organisation. Die Vertrauensmänner sollen die Fühlung herstellen zwischen Werkstatt und Verband, das Bindeglied sein zwischen den Verbandsmitgliedern und der örtlichen Verbandsleitung." Die Aufgaben der Vertrauensleute von 1912 sind fast unbeschränkt auf heute übertragbar. Mitgliederwerbung, Aufklärung der Mitglieder, Beseitigung von Mißständen i n der Werkstatt, Anträge auf Gewährung von Unterstützung und Rechtsschutz sind Angelegenheiten, die von Vertrauensleuten damals wie heute geregelt werden. Das Betriebsrätegesetz von 1920 setzte den Anfang der gesetzlichen Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten i m Betrieb i n Deutschland. Der Versuch war unverkennbar, damit die direkte gewerkschaftliche Einflußnahme i m Betrieb zu verhindern. Vor den Gefahren der beginnenden Doppelstruktur der Interessenvertretung warnt Georg Flatow, indem er i n seiner Einleitung zum Kommentar des Betriebsrätegesetzes 1920 feststellt: „ A n den Gewerkschaften müssen auch die künftigen Betriebsräte ihren Halt suchen und finden. Nichts wäre verkehrter, als wenn Betriebsräte glaubten, sie könnten dank der neuen gesetzlichen Regelung, die den Betriebs Vertretungen einen erhöhten Einfluß i m Betrieb gewährt, ohne die Gewerkschaften ihre Aufgabe erfüllen. Nur dort, wo starke Organisationen hinter den Betriebsräten stehen, werden sie die Arbeitnehmerinteressen wirksam vertreten k ö n n e n . . . " Die Gewerkschaften versuchten zwar die gesetzlichen Mandatsträger i n den Betrieben i n ihre Strategie der Interessenvertretung m i t einzubeziehen, verzichteten jedoch nicht auf den weiteren Ausbau ihrer Vertrauensleutearbeit. Das Handbuch für Funktionäre des D M V aus dem Jahre 1925 ist eine logische Fortsetzung der Richtlinien des Jahres 1912. Der folgende Aus-

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zug aus diesem Handbuch beweist, daß sich die Gewerkschaften auf die Doppelstruktur der Interessenvertretung i m Betrieb eingerichtet hatten: „ Z u den weiteren Aufgaben der Vertrauensleute gehört auch die Beratung und Auskunfterteilung i n allen Angelegenheiten, die i n Beziehung zum Arbeitsverhältnis stehen, vor allem i n Sachen des Arbeitsvertrages, der Reichsversicherungsordnung, des Gewerbegerichtsverfahrens, Arbeitsgerichtsverfahrens, Schlichtungswesens usw., kurz alles dessen, was m i t dem Arbeitsrecht, der Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebung zusammenhängt. Hierzu ist es allerdings notwendig, daß der Vertrauensmann die einschlägigen Gesetze genau kennt, und sollte es sich daher jeder Vertrauensmann zur Pflicht machen und eine Ehre darin suchen, auf diesem Gebiet möglichst beschlagen zu sein." Die Machtergreifung der Nazis beseitigte alle Rechte der Gewerkschaften. Für zwölf Jahre gab es nur noch Führer und Gefolgschaft i n Betrieb, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Arbeiterschaft lehnte überwiegend die von den Nationalsozialisten aufgestellten Listen zur Wahl des sogenannten Vertrauensrates ab. Schließlich verzichteten die Machthaber darauf, weitere Wahlen durchzuführen. Nach dem Zusammenbruch 1945 waren es wieder Vertrauensleute, die i n den Betrieben tätig wurden. Sie bauten gemeinsam die gewerkschaftliche Organisation wieder auf. Von 1945 bis 1952 standen sie i m Kampf gegen die Demontage und u m die Erhaltung der Mitbestimmung i n den vordersten Reihen. 1952, m i t der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes durch den Deutschen Bundestag unter dem CDU-Bundeskanzler Adenauer, sollten die Gewerkschaften ein weiteres M a l aus den Betrieben verdrängt werden. Die logische A n t w o r t der I G Metall war, aus Tradition und entsprechend den Erfahrungen der Arbeiterbewegung die nie aufgegebene Vertrauensleutearbeit verstärkt fortzusetzen. 1952 wurden Ortsverwaltungen und Betriebsräte der I G Metall angewiesen, die Bildung von Vertrauenskörpern i n allen Betrieben voranzutreiben. Beim Vorstand der I G Metall gab es ab 1953 i m Vorstandsbereich Otto Brenner (gleichberechtigter Vorsitzender) eine „Abteilung Vertrauensleute". 1955 verabschiedete der Vorstand der I G Metall die ersten Richtlinien für die Vertrauensleutearbeit. I n den folgenden Jahren wurden diese mehrfach neu gefaßt. Während noch 1955 und 1957 bundesweite Funktionärskonferenzen den Titel „Betriebsrätekonferenz" trugen, hießen die 3. und 4. Konferenz schon Bundesbetriebsräteund Vertrauensleutekonferenz. Vier weitere Konferenzen von 1963 bis 1973 wurden als „Konferenz der I G Metall für Vertrauensleute und Betriebsratsmitglieder" durchgeführt. Die Konferenzen ab Nürnberg 1976 tragen den Titel „Konferenz der I G Metall für Vertrauensleute". Damit sollte auch optisch erkennbar werden, daß alle IG-Metall-Funktionsträger i n den Betrieben i n erster Linie Vertrauensleute sind. 6 Tagung Dortmund 1981

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Die neu gefaßten Richtlinien der I G Metall zur Vertrauensleutearbeit von 1966 regeln erstmals die Durchführung der Wahl von Vertrauensleuten, die Wahl von Vertrauenskörperleitungen und die Zusammenarbeit zwischen Betriebsratsmitgliedern und Vertrauensleuten. Dabei w i r d deutlich herausgestellt, daß i n der I G Metall organisierte Betriebsratsmitglieder und Jugendvertreter zuallererst Vertrauensleute sind. Die Richtlinien für die Vertrauensleutearbeit erhielten Satzungsautorität durch die Beschlüsse des 9. ordentlichen Gewerkschaftstages i m Jahre 1968. Nach §22 Ziffer 4 der Satzung werden die Verwaltungsstellen verpflichtet, die Bildung und das Tätigwerden von Vertrauenskörpern i n den Betrieben zu unterstützen. 1969 wurde die Bildung von Ausschüssen und Vertrauenskörperleiter-Versammlungen auf Verwaltungsstellenebene durch die Neufassung der Richtlinien festgeschrieben. M i t der Bildung von Vertrauensleute-Ausschüssen auf der Ebene des Bezirks und beim Vorstand der I G Metall wurde die Vertrauensleutearbeit i n organisatorischer Hinsicht weiterentwickelt. 1979 fanden die letzten Vertrauensleutewahlen statt. Diese Wahlen erfolgten vor dem Hintergrund eines für die Arbeitnehmer negativen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Wandels und einer schon 5 Jahre dauernden Beschäftigungskrise. Die Wahl i n den Wirkungsbereichen wurde zur dominierenden Wahlart, weil nach unserem Selbstverständnis Gewerkschaftsfunktionäre erst durch ihre Wahl die demokratische Legitimation erhalten, für die Arbeitnehmer zu sprechen und zu handeln. Die als Ausnahmefall vorgesehene Berufung der Vertrauensleute durch die Ortsverwaltung ist m i t rund 6 °/o nahezu bedeutungslos geworden. Posit i v zu werten ist auch, daß w i r unser erklärtes Ziel erreichten, den A n t e i l der Frauen und Ausländer unter den Vertrauensleuten zu erhöhen. 151209 Vertrauensleute vertreten gegenwärtig die Politik der I G Metall i n den Betrieben. Davon sind 56 873 Betriebsratsmitglieder und 5 435 Jugendvertreter. 3 714 Türken, 1 611 Italiener und 1 324 Jugoslawen wurden zu Vertrauensleuten gewählt, u m nur die zahlenmäßig stärksten Ausländergruppen zu nennen. Wie schon angedeutet, haben sich die Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Arbeit zunehmend zu unseren Ungunsten entwickelt. Die Unternehmer, ihre Verbände und ihnen nahestehende gesellschaftliche Gruppen nutzen die derzeitige wirtschaftliche Entwicklung verstärkt zur Durchsetzung ihrer profitorientierten Interessen. Sie versuchen, bestehende Rechte der Arbeitnehmerinteressenvertreter abzubauen. Sie versuchen, Handlungsspielräume einzuengen. Der Leistungsdruck w i r d ständig erhöht. Die Vertrauensleutearbeit i m Betrieb bleibt davon nicht unberührt. Unsere Funktionäre i n den Betrieben haben erkannt, daß es gegen die Unternehmerstrategie nur ein M i t t e l gibt: die Aktivierung der Vertrauensleutearbeit.

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Diese Erkenntnis fand ihren Niederschlag i n den Beratungen der schon erwähnten 10. Konferenz für Vertrauensleute der I G Metall vom 25. bis 27. Oktober 1979 i n Dortmund. Die Delegierten diskutierten unter Berücksichtigung verschlechterter Rahmenbedingungen Möglichkeiten einer Verbesserung ihrer gewerkschaftlichen Arbeit. Bemerkenswert ist, daß von den 351 betrieblichen Delegierten 265 Betriebsratsmitglieder waren. Sie setzten sich u.a. folgende Ziele, deren Umsetzung energisch vorangetrieben werden soll: Vertrauensleutetätigkeit ist Gewerkschaftsarbeit i m Betrieb. Sie muß entsprechend organisiert werden und darf sich nicht ausschließlich auf die Behebung betrieblicher Mißstände beschränken. Die Arbeit der organisierten Betriebsratsmitglieder, Jugendvertreter und des Schwerbehinderten-Vertrauensmannes ist — unter Nutzung der gesetzlichen Bestimmungen — Bestandteil gewerkschaftlicher Betriebsarbeit. Betriebsratsmitglieder und Jugendvertreter können nur m i t der Unterstützung der Vertrauensleute i n den Wirkungsbereichen (das sind die Zellen, i n denen die IG-Metall-Mitglieder ihre Vertrauensleute wählen) effektiv alle Informations-, Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsverfassungsgesetzes nutzen. Betriebsversammlungen sind das wirksamste M i t t e l der Information und zur Mobilisierung aller A r beitnehmer. Sie müssen als Instrument der Interessenvertretung genutzt und entsprechend organisiert werden. Eine intensive Vor- und Nachbereitung i m gewerkschaftlichen Vertrauenskörper ist dazu unbedingte Voraussetzung. Die Betriebsversammlung muß so durchgeführt werden, daß die Haltung des Arbeitgebers gegenüber Forderungen des Betriebsrates deutlich wird. Vertrauensleute aus den Wirkungsbereichen und der Jugendvertretung müssen verstärkt i n die Entscheidungsprozesse des Betriebsrates einbezogen werden. Die Auseinandersetzung zur Lösung von Problemen und Konflikten muß i m Betrieb unter Einbeziehung der Mitglieder und Vertrauensleute geführt werden. Zur systematischen Arbeit des Vertrauenskörpers gehört ein Arbeitsprogramm. A u f der Grundlage einer betrieblichen Bestandsaufnahme müssen gewerkschaftsorganisatorische und -politische Zielvorstellungen entwickelt werden. Daraus ergeben sich konkrete kurz-, mittel- und langfristige Aufgaben für die Vertrauensleute i m Betriebsrat, i n der Jugendvertretung, i n den Wirkungsbereichen und für den Schwerbehindertenvertrauensmann. Gewerkschaftliche Vertrauensleute sind auch außerhalb des Betriebes Interessenvertreter der abhängig Beschäftigten. Sie betätigen sich i n Parteien, Parlamenten und Selbstverwaltungsorganen m i t dem Ziel, gewerkschaftspolitische Vorstellungen durchzusetzen. β·

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Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist notwendige Voraussetzung zur wirksamen Interessenvertretung. Bildungsplanung muß daher sicherstellen, daß vorhandene Kapazitäten ausgeschöpft und Kolleginnen und Kollegen für das richtige Seminar vorgeschlagen und entsandt werden. Inwieweit diese Forderungen umgesetzt wurden, w i r d Gegenstand der Beratungen der diesjährigen Vertrauensleutekonferenz sein. Der Erfahrungsaustausch soll der Weiterentwicklung gewerkschaftlicher Arbeit dienen. Sorgen bereitet uns nach wie vor der fehlende zeitliche Bewegungsspielraum unserer Vertrauensleute i m Betrieb. 1969 haben w i r mit dem Tarifvertrag zum Schutz der Vertrauensleute die Anerkennung ihrer Existenz durch die Arbeitgeber erzwungen. So finden gewerkschaftliche Vertrauensleute mittlerweile auch i n der Rechtsliteratur Berücksichtigung. Dieser Tarifvertrag wurde zum 31.12.1974 gekündigt m i t dem Ziel, eine Verbesserung i n Form einer zeitlichen Freistellung für Vertrauensleute zur Erfüllung ihrer gewerkschaftlichen Arbeit zu erreichen. Ein Abschluß scheiterte bisher am geschlossenen Widerstand der Arbeitgeber, deren Kurs bestimmt ist durch den sogenannten „Tabu-Katalog" der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände. Bei der Verweigerung einer tarifvertraglichen Absicherung der Vertrauensleutearbeit spielte sich Gesamtmetall sogar als Hüter der Verfassung auf. Die Einwände wurden i m Hearing des Innenausschusses des Bundestages am 19.5.1976 von Rechtsprofessoren unterstützt, obwohl bis dahin keine Bedenken gegen solche Tarifverträge laut geworden waren. Die verfassungsrechtlichen „Gewissensqualen" setzten offensichtlich erst nach der Tarifforderung der I G Metall ein. Von ihrer Haltung waren die vier Rechtsprofessoren auch nicht m i t dem Hinweis abzubringen, daß die BRD 1973 das Übereinkommen Nr. 135 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über den Schutz und über Erleichterungen für Arbeitnehmervertreter i m Betrieb ratifiziert hat. Diesem Abkommen würde nämlich die tarifliche Absicherung der Vertrauensleutearbeit entsprechen. Nur m i t ungläubigem Staunen konnte man daher registrieren, daß Prof. Scholz behauptete, das Übereinkommen sei „keineswegs gleichrangig m i t dem übrigen deutschen Recht". Prof. Kraft Schloß sich dieser Meinung an. Angesichts dieser Situation sind w i r gezwungen, stärker als bisher für die Vertrauensleutearbeit bestehende gesetzliche Möglichkeiten zu nutzen. Nach §39 Abs. 3 BetrVG können alle Arbeitnehmer des Betriebes die Sprechstunden des Betriebsrates aufsuchen oder den Betriebsrat i n sonstiger Weise i n Anspruch nehmen. Die dafür aufgewandte Zeit ist vom Arbeitgeber zu bezahlen. Vertrauensleute können, wie jeder andere Arbeitnehmer des Betriebes, ohne Entgeltverlust den

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Betriebsrat aufsuchen. § 43 Abs. 1 BetrVG gibt dem Betriebsrat die Möglichkeit, über die vier Pflichtversammlungen hinaus zwei weitere Betriebsversammlungen i m Jahr durchzuführen. Behindert der Arbeitgeber die Vertrauensleutearbeit, kann der Betriebsrat dem Informationsbedürfnis der Belegschaft auf diesem Wege Rechnung tragen. Nach § 80 Abs. 1 Ziff. 3 BetrVG können alle Arbeitnehmer dem Betriebsrat Anregungen vortragen. Können Vertrauensleute durch das Verhalten des Arbeitgebers dies nicht stellvertretend für Kolleginnen und Kollegen aus ihrem Wirkungsbereich oder für den Betrieb insgesamt erledigen, muß jeder einzelne selber beim Betriebsrat vorstellig werden. Die umfassende Nutzung der rechtlichen Möglichkeiten durch alle Betriebsangehörigen muß organisiert werden. Nur so kann die Arbeitgeberseite zur Abkehr von ihrer Verweigerungsstrategie i n der Tarifauseinandersetzung über ein Vertrauensleuteabkommen gezwungen werden. A m 12. Mai 1980 hat der Vorstand der I G Metall neue Richtlinien für die Vertrauensleutearbeit beschlossen. Die Rechte und Aufgaben der Vertrauensleute, des Vertrauenskörpers und der Vertrauenskörperleitung wurden konkreter formuliert. Aus der Fülle der Rechte und Aufgaben möchte ich aus aktuellem Anlaß nur zwei Punkte herausgreifen: 1. Der Vertrauenskörper unterstützt die Ortsverwaltung bei Tarifbewegungen und sonstigen Maßnahmen der I G Metall. 2. Er hat unter der Leitung der Ortsverwaltung den Wahlvorschlag der I G Metall zur Betriebsratswahl aufzustellen und zu beschließen. Die I G Metall strebt nach wie vor die ständige Erhöhung der Arbeitnehmereinkommen, ihre Sicherung, Arbeitszeitverkürzungen, die Regelung menschengerechter Arbeitsbedingungen, ein Vertrauensleuteschutzabkommen und vieles andere mehr an. Die Arbeitskämpfe i n den letzten Jahren haben gezeigt, daß die Arbeitgeber nur unter verstärktem Druck bereit sind, auf unsere Forderungen einzugehen. Dies hat den Vorstand der I G Metall veranlaßt, i n die neuen Richtlinien folgende Formulierung einzubringen: „Die Vertrauensleute beteiligen sich aktiv an der Vorbereitung und Durchführung von Tarifbewegungen und Arbeitskampfmaßnahmen. Sie sorgen für die intensive Beteiligung der Mitglieder an der Tarifarbeit der I G Metall. Dies geschieht durch: Beratung von Tarifforderungen; Vertretung von Beschlüssen der Gremien und Organe; Erläuterung von Verhandlungsergebnissen; volle Anwendung der Tarifverträge i m Betrieb." Die Vertrauensleute haben sich i n den letzten Jahren bei allen gewerkschaftlichen Aktionen bewährt. Ohne sie wären gewerkschaftliche

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Erfolge nicht möglich gewesen. Erfolgreiche gewerkschaftliche Arbeit ist auch zukünftig ohne aktive Vertrauensleute nicht vorstellbar. Über 4 Millionen Arbeitnehmer i n den Betrieben und Verwaltungen des Organisationsbereiches der I G Metall sind i n den Monaten März, A p r i l und Mai dieses Jahres dazu aufgefordert, ihren Betriebsrat zu wählen. Bei den anstehenden Betriebsratswahlen sind insbesondere die Vertrauensleute und die Ortsverwaltungen der I G Metall gefordert. Die gewerkschaftliche Arbeit der Vertrauensleute i n den Wirkungsbereichen, die Nutzung der rechtlichen Bestimmungen durch Betriebsratsmitglieder, hat einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Es gilt, die Interessen der Arbeitnehmer wirksam zu vertreten. Bei der Aufstellung des Wahlvorschlags hat der Vertrauenskörper die Aufgabe, uns die Kolleginnen und Kollegen zu nominieren und zu unterstützen, die sich als aktive Gewerkschafter für unsere gemeinsamen Aufgaben und Ziele eingesetzt haben und das Vertrauen der Arbeitnehmer besitzen. Nur sie garantieren, unter erschwerten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen die Interessen der Arbeitnehmer m i t einer starken I G Metall zu vertreten. Der Vertrauenskörper w i r d darauf achten, daß folgende Kriterien gelten: 1. unsere Kandidaten müssen die satzungsgemäßen Voraussetzungen erfüllen; 2. sie müssen bereit sein, an gewerkschaftlichen Informations- und Bildungsveranstaltungen teilzunehmen; 3. sie müssen aktiv i m Vertrauenskörper mitarbeiten. Für die I G Metall w i r d die Betriebsrats wähl 1981 eine weitere Bewährungprobe sein. Unser Erfolg hängt entscheidend davon ab, wie es den Vertrauensleuten gelingt, die Mitglieder i n den gewerkschaftlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß einzubeziehen und für unser Programm und unsere Kandidaten zu mobilisieren. 84,5% aller gewählten Betriebsratsmitglieder, 94,2 °/o aller Betriebsratsvorsitzenden gehörten am Tag der Wahl 1978 der I G Metall an. Da inzwischen ein großer Teil der unorganisierten Betriebsratsmitglieder i n die I G Metall eingetreten ist, können w i r von einem Organisationsgrad von rund 90 % aller Betriebsratsmitglieder ausgehen. Damit sind die besten Voraussetzungen gegeben, eine wirksame Interessenvertretung durch Vertrauenskörper zu organisieren. Die I G Metall verfolgt eine Entwicklung der Vertrauensleutearbeit, çleren Ziel es ist, folgende Ansprüche einzulösen;

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— kein Betrieb ohne Betriebsrat; — kein Betrieb ohne Vertrauenskörper; — kein Vertrauenskörper ohne Vertrauenskörperleitung; — kein Vertrauenskörper ohne ein Arbeitsprogramm. Die Reaktion der Arbeitgeber auf unsere letzte Vertrauensleutekonferenz bestärkt uns i n der Einschätzung, auf dem richtigen Wege zu sein. Vertrauensleute i m Betriebsrat, i n der Jugendvertretung und i n den Wirkungsbereichen, zusammengeschlossen i m gewerkschaftlichen Vertrauenskörper, bilden einen Machtfaktor und garantieren eine w i r k same Interessenvertretung. Damit verfolgt die I G Metall keinen neuen Anspruch, kein neues Konzept und keine neue Strategie. Es handelt sich lediglich u m die Durchsetzung und Realisierung gewerkschaftlicher Zielsetzungen seit Generationen.

Gewerkschaftliche Institutionalisierung betrieblicher Basisorgane — Entstehung und Funktion der Delegiertenräte in Italien Von Günter Bechtle, Rom Das folgende Referat leidet unter dem grundsätzlichen Mangel, daß sozialwissenschaftliche Untersuchungsergebnisse — für manche vielleicht überraschend — nur spärlich vorhanden sind und wenn, keinen Repräsentativitätsanspruch erheben können. Dies gilt weniger für die historische Phase der Entstehung der Delegiertenräte, trifft aber ganz massiv auf deren aktuelle Situation zu.

1. Ursprung und Entstehung der Fabrikräte Verglichen m i t anderen industrialisierten Ländern stellt die Vertretung der Arbeitnehmer an ihren Arbeitsplätzen der Fabrik durch den Delegiertenrat eine zweifellos historisch originelle Lösung des Problems zentrale versus dezentrale Interessenvertretung dar: I n einem einzigen Organismus w i r d die Aufgabe der gemeinsamen Interessenvertretung der Arbeitnehmer eines Betriebes m i t der gemeinsamen gewerkschaftlichen Vertretung vereinigt. Dies w i r d konkret hergestellt, indem die Delegierten von allen Arbeitnehmern eines Betriebes, Gewerkschaftsmitglieder und Nichtmitglieder i n Arbeitsgruppen, Abteilungen, Werkstätten etc. gewählt und gleichzeitig von den Gewerkschaften als eigene Basisstruktur anerkannt werden. Dies ist die Formel. Es muß zur Charakterisierung des italienischen Falles hinzugefügt werden, daß die A r t und Weise der Interessenvertretung umfassend und ausschließlich auf dem Verhandlungswege, also nicht durch gesetzte Verfassungen erfolgt. Berücksichtigt man schließlich drittens, daß es prinzipiell keine sachlich nach Themen, oder zeitlich nach Dauer festgelegte Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen Verhandlungsebenen gibt, folgt daraus, daß dieser Organismus der Delegiertenräte die Funktion der Verhandlungsführung und die Kontrolle von Verhandlungsergebnissen i n sich vereinigt. Man bezeichnet letzteres als Prinzip der Nicht dele gierung. Ich wiederhole: Symbiose von direkter Arbeitnehmer- und gewerkschaftlicher Interessenvertretung, totaler Verhandlungscharakter und Nichtdelegierung von Verhandlungen

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von unten nach oben sind die drei hervorragenden Strukturmerkmale der Delegiertenräte. Diese Aussage bleibt abstrakt und hat Modellcharakter. Und genauso abstrakt könnte man nun i n Form einer Organisations- oder politsoziologischen Analyse zu bestimmen versuchen, inwieweit diese Konstruktion überhaupt funktionieren kann bzw. inwieweit sich sozusagen am Schreibtisch — vielleicht noch mit Rückgriff auf einige historische Erfahrungen — feststellen läßt, daß es sich u m ein utopisches Modell handeln muß. Statt dessen stellt sich dieses Referat die Aufgabe, zwei Fragen zu beantworten: 1. wie es historisch zu dieser Konstruktion kam, welches die Entstehungsvoraussetzungen waren und 2. was sich heute, nach zehn- bis zwölfjähriger Erfahrung, über die Stellung und Aufgabe der Delegierten innerhalb der gewerkschaftlichen Organisation und innerhalb der Arbeitnehmerschaft aussagen läßt. Läßt man einmal eine Anfangsphase der Überlagerung und des Nebeneinanderbestehens von alten gewerkschaftlichen und neuen Basisstrukturen und die Vielzahl der dabei auftretenden Mischformen außer acht, so müssen zur Erklärung der relativ raschen Etablierung des neuen Organismus gegenüber überlieferten gewerkschaftlichen Organisationspolitiken zwischen 1968 und 1972 zuallererst zwei, längere Zeit und zum Teil noch heute existierende Mythen entschieden abgelehnt werden. Dies gilt insbesondere für den ersten Mythos der sogenannten „Spontihypothese", nach der die neuen Basisorgane eine spontane Antwort der Arbeiterschaft auf die gewerkschaftliche Schwäche i m Betrieb oder überhaupt auf deren fehlende Präsenz i m Betrieb darstellten. Dieser Mythos w i r d noch besonders gepflegt, je mehr man die progressiv-revolutionären Kräfte der Arbeitnehmerschaft mit dem Typ des „neuen Massenarbeiters", jung, fabrikneu, unqualifiziert, ohne gewerkschaftliche oder politisch-ideologische Bindungen identifiziert. Man kann die Hypothese einer spontanen Entstehung der Delegierten i m Gegensatz zu jener, die die gewerkschaftseigene Initiative betont, wohl aus dem politischen K l i m a (69/70) der Massenmobilisierung unter wesentlicher Beteiligung der Studentenbewegung heraus verstehen. Aber auch die Antithese, wonach eine historische und organisatorische Kontinuität bestehe zwischen der gewerkschaftlichen Politik der dezentralen Verhandlungsführung (im wesentlichen also dem Zugeständnis eigener betrieblicher Vertragsabschlüsse m i t Tarifcharakter) i n den sechziger Jahren und der der neuen Organisationsform des Abteilungsdelegierten, hält sozialwissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen nicht stand. Diese stimmen vielmehr überein, daß jenseits der schwarzweiß-gefärbten, allzu bequemen Gegenüberstellung von basisspontanem Bruch und gewerkschaftlicher Kontinuität i n der Realität verschiedene Delegiertentypen nebeneinander bestehen: So gibt es anfangs den „Ver-

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handlungsdelegierten", der aus betrieblichen Vertragsabschlüssen m i t der technischen Aufgabe entsteht, einige Aspekte der Arbeitsbedingungen zu kontrollieren (so waren ζ. B. typischerweise die ersten Delegierten sogenannte Akkorddelegierte), „Gewerkschaftsdelegierte", die direkt von der Gewerkschaft von außen her nominiert werden, u m sich i m Betrieb organisatorisch zu verstärken, und schließlich „Kampf- oder Streikdelegierte", die direkt von streikenden Arbeitern gewählt werden. Diese Überlagerung zwischen verschiedenen Delegiertentypen charakterisiert die Phase der Durchsetzung der neuen Basisorgane. Was man heute m i t einiger Zuverlässigkeit feststellen kann, ist, daß die Einrichtung des Delegierten gewerkschaftlichen Ursprung hat. Dies aber nicht durch allgemeinen gewerkschaftlichen Konsens, sondern als politische Entscheidung eines progressiven Teils innerhalb einzelner Industriegewerkschaften in einer Situation gewerkschaftlicher Schwäche. Diese Entscheidung von Teilen der Gewerkschaft kann sich dann über den Mechanismus eines Schneeballeffektes bei der Arbeiterschaft durchsetzen; sie weckt wachsende Erwartungen dahingehend, daß die Gewerkschaft den Delegierten nicht nur als Kontrollinstanz einzelner Arbeitsbedingungen akzeptiert, sondern sukzessive auch als Agent und Koordinator der Streikmobilisierung bis h i n zum Delegierten als Gruppenvertreter und als gleichzeitigem Vertreter der Gewerkschaft. Der Delegierte entsteht also letztlich aus der besonderen historischen Konstellation, i n der eine schwache Gewerkschaft ihre Organisationskraft nur stärken kann, indem sie die Bereitschaft der Arbeiter zur kollektiven Mobilisierung durch die Veränderung ihrer eigenen Organisationsstruktur nutzt. Dieser Mobilisierungsprozeß aber w i r d getragen und vorwärts getrieben nicht von der Figur des marginalisierten Massenarbeiters; das Profil der Delegierten i n der Geburtsphase ist vielmehr durchschnittlich charakterisiert durch den 30- bis 35jährigen A r beiter mit einer durchschnittlich zehnjährigen Betriebszugehörigkeit, der gewerkschaftlich organisiert ist und i n den meisten Fällen auch i n der Vergangenheit gewerkschaftlich aktiv war. Der doppelte Ursprung des Delegierten drückt sich schließlich auch i n den Wahlprozeduren aus. Es gibt zwar mehrere Formen der A b sicherung gewerkschaftlicher Repräsentanz bei der Wahl, von der Direktnominierung von Wahlkandidaten m i t eindeutiger gewerkschaftlicher Zugehörigkeit bis zur korrigierenden Hinzuwahl von Gewerkschaftsaktivisten i n den bereits gewählten Fabrikrat; aber die mehr oder weniger — zwischen Handaufheben und Wahl auf weißen Stimmzetteln — formalisierte Direktwahl durch die Arbeitsgruppe als gemeinsamen Interessenträger hat i n 90 °/o aller Fälle den größten Erfolg und w i r d dann von den entsprechenden progressiven Gewerkschaftsteilen zum Prinzip der „homogenen Gruppe" erklärt, deren Abgren-

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zung als Wahleinheit freilich mehr oder weniger flexibel bleibt. Heute — u m i m Referat einen Schritt nach vorne zu t u n — w i r d dieses Wahlprinzip heftig i n Frage gestellt und wohl auch, aber nur teilweise, de facto durchbrochen. Für die „direkte" Bindung des Delegierten an seine Gruppe sprechen nach wie vor zwei Tatbestände: Einmal sind auch heute, nach der Schätzung einschlägiger Experten, immerhin 10 °/o der gewählten Delegierten i n keiner Gewerkschaft eingeschrieben; zum anderen beträgt der Austausch des Delegiertenrates i m Abstand von ein bis zwei Jahren, bisweilen auch weniger, 70 bis 80 %. Bleibt die banale Feststellung hinzuzufügen, daß die Ausdehnung und Verbreitung der Delegierten dort am weitesten vorankommt, wo die Spaltung zwischen den drei Richtungsgewerkschaften am wenigsten ausgeprägt ist. 2. Zur gegenwärtigen Stellung der Delegiertenräte Man spricht heute sehr viel über die Krise der Delegiertenbewegung und meint dabei ganz unterschiedliche Dinge, die ich versuchen w i l l ein wenig zu systematisieren: a) Einmal kann es wohl keinen Zweifel darüber geben, daß die Delegiertenstruktur sich differenziert hat i n den Abteilungsdelegierten auf der einen und den Exekutivausschuß des Delegiertenrates auf der anderen Seite, der dann häufig seinerseits Unterkomitees für Spezialprobleme (Arbeitsschutz, Arbeitsorganisation, Sozialprobleme etc.) bildet. Die Arbeitsteilung zwischen beiden Ebenen scheint inzwischen so auszusehen, daß dem Arbeitsdelegierten die Aufgabe der Direktintervention gegenüber unmittelbaren Problemen am Arbeitsplatz (Arbeitsrhythmen, Besetzungszahlen, Arbeitsunfälle, Absentismus) zukommt. Die dabei auftretenden Konflikte werden i n einigen Fällen mit den direkten Arbeitsvorgesetzten ausgehandelt, oder aber diese werden, weit häufiger, kaltgestellt, und die Konfliktregelung w i r d nach oben an den Exekutivausschuß und die Betriebsleitung delegiert. Der Exekutivausschuß hingegen übernimmt die Koordinierung der Teilinteressen der Arbeitsgruppen zu einer einheitlichen gewerkschaftlichen Linie i m Betrieb und gegenüber der regionalen oder gar nationalen Gewerkschaftszentrale. Nun w i r d von vielen die These vertreten, daß diese Differenzierung zu einer mehr oder weniger diskriminierenden Spaltung innerhalb der Delegierten selbst, nämlich i n solche der Α-Klasse und solche der B-Klasse, führt. Während die A-Klassen-Delegierten als gewerkschaftliche Vollzeitdelegierte, d. h. von der direkten Produktion Freigestellte, die große Gewerkschaftslinie formieren und vertreten,

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kümmern sich die B-Klassen-Delegierten u m den täglichen Kleinkram und werden mehr oder weniger zu Sozialbetreuern ihrer Gruppen, die diesen den Lohnzettel, die Urlaubsregelung, die Sozialversicherung und tausend andere Dinge mehr erklären. Diese Typisierung ist nicht ohne Realitätsgehalt, trotzdem gibt es dabei Mißverständnisse und zumindest offene Fragen: Die Kontrolle der Arbeitsbedingungen durch Delegierte ist heute weitgehend erreicht und damit auch routinisiert und wird, wo dies nicht der Fall ist, immer noch konfliktuell ausgeübt. Zu fragen aber wäre insbesondere, ob die sogenannten B-Klassen-Delegierten die alltägliche Betriebsarbeit nicht bewußt akzeptieren, sich sozusagen selbst selektionieren, auch, u m evtl. später und m i t Erfahrung andere gewerkschaftliche Funktionen zu übernehmen. Gleichzeitig kann man aber nicht übersehen, daß eine Entscheidungszentralisierung i m Exekutivausschuß die Spannungen m i t den übrigen Delegierten verschärft. b) Damit aber ist ein strukturelles Problem der gegenwärtigen Interessenvertretung i n Italien angesprochen. Die ökonomische Krise produziert notwendig Interessendivergenzen innerhalb der Arbeiterschaft, die sich auch auf der Ebene ihrer Repräsentanz widerspiegeln. Diese Divergenzen gehen auf objektive, unterschiedliche ökonomische und soziale Situationen der Arbeiterschaft zurück: Die unterschiedlich prekäre oder stabile Beschäftigungssituation auf dem Arbeitsmarkt, die unterschiedliche qualifikatorische Stellung der Arbeitskräfte i m Produktionsprozeß, die unterschiedliche Stellung i n der Betriebshierarchie verhindern, daß Delegierte besondere Interessen von Arbeitskräftegruppen und allgemeine gewerkschaftliche Interessen auf einen Nenner bringen. Die Spaltung der Delegierten selbst ist häufig die Folge. Zwei Entwicklungen sind hierbei zentral: Allgemein, solange die gewerkschaftliche Antikrisenpolitik i n der Form einer Politik der Opfei der Arbeiterklasse zugunsten ökonomischer Entwicklungen und der Anhebung des Beschäftigungsniveaus bis heute erfolglos blieben, ist den Delegierten die Vertretung einer solchen Politik i n den Betrieben unzumutbar. Dann rettet sich, wer kann, und jeder auf seine Weise. Ein Indiz hierfür könnte das abnehmende Interesse der Belegschaften an den Betriebsversammlungen sein. I m besonderen muß die Gewerkschaft Themen auf den Verhandlungstisch legen, die den Delegierten jenen Boden unter den Füßen wegziehen, auf dem sie gewachsen sind. Das signifikanteste Beispiel ist die Korrektur der gewerkschaftlichen Lohnkonzeption, die jetzt eine erneute Lohndifferenzierung nach den unterschiedlichen realen Qualifikationen verfolgt, während das Gegenteil, die egalitäre Lohnpolitik und deren Umsetzung i n betriebliche Lohneingruppierungs verfahr en genau das zentrale Aktionsfeld der Delegierten darstellt.

Gewerkschaftliche Institutionalisierung betrieblicher Basisorgane

93

Ein anderes Beispiel ist das Thema der „Veränderung der Arbeitsorganisation", Lieblingskind der Delegiertengewerkschaft bis heute. Inzwischen weiß man, daß die „große, antikapitalistische Arbeitsorganisation" zugunsten von kollektiven Arbeitsformen, kollektiver Qualifikation nicht stattgefunden hat. Man hat kleinere und normalere Brötchen gebacken, job enlargement, job enrichment etc. Damit aber genau haben die Delegierten ihre typischen Schwierigkeiten. A u f der einen Seite fühlen sie sich m i t Recht überfordert, den Brückenschlag herzustellen zwischen den i m Gang befindlichen großen technologischen Umstrukturierungen i n der italienischen Industrie: Elektronik, Mikroprozessoren, Produktionsdezentralisierung etc. und jenen Aspekten der Arbeitsorganisation (Rhythmen, Pausen, Umsetzungen, Gesundheitsgefährdungen), m i t denen sie inzwischen mehr oder weniger vertraut sind. A u f der anderen Seite ist die Durchsetzung und Kontrolle „normaler" Veränderungen sehr ambivalent, stößt sie doch i n vielen Fällen auf den Widerstand betroffener Arbeitskräfte, die i n solchen Veränderungen für sich keinen Sinn sehen. Dahinter steckt, zumindest i n Italien, ein generelles Problem: Inwiefern nämlich „Arbeit" oder Fabrikarbeit überhaupt noch jenen Stellenwert i m Gesellschaftsbewußtsein der Arbeiter einnimmt, auf dem bisher jede gewerkschaftliche Reformpolitik aufbaut. Die Erklärung eines privatistisch-resignativen Rückzugs wäre dabei m. E. i n Italien zu einfach: Die Ablehnung von Fabrikarbeit durch Jugendliche kann durchaus mit der Suche nach alternativen Arbeitsformen i n kooperativen oder anderen Formen von Selbstorganisation außerhalb der Großbetriebe verbunden sein. c) Zusammenfassend läßt sich schlußfolgern, daß die gewerkschaftliche Antikrisenstrategie die Delegierten ihrerseits i n eine dreifache Krisensituation versetzt: — Eine Vertretungskrise, insofern die Homogenisierung unterschiedlicher Interessen unter Krisenbedingungen immer weniger gelingt; — eine Demokratisierungskrise, insofern der Einfluß von Gewerkschaftszentralen auf die Delegiertenräte zunimmt und der umgekehrte Weg sich zunehmend verengt; — eine Krise der traditionellen Verhandlungsfelder der Delegierten, insofern die gewerkschaftlichen Krisenthemen: regionale W i r t schaftsplanung, Arbeitskräftemobilität etc. von den klassischen Verhandlungsfeldern der Delegierten i n den Betrieben zunehmend abgekoppelt werden.

Arbeitemöglichkeiten gewerkschaftlicher Betriebesektionen in Frankreich 1968 - 1981. Eine Bilanz Von Peter Jansen, Paris Vor dem Einstieg i n das eigentliche Thema w i l l ich noch einmal kurz die Grundstrukturen der betrieblichen Interessenvertretungsorgane i n Frankreich aufzeigen. Es existieren drei gesetzlich streng voneinander getrennte Organe. Sie unterscheiden sich i n ihrer Zusammensetzung und ihrer Zielsetzung voneinander. — Die Belegschaftdelegierten bestehen i n Betrieben mit mehr als zehn Arbeitnehmern. Sie sind ein Beschwerde- und Kontrollorgan. Die Belegschaftsdelegierten sind für die Einhaltung und Kontrolle arbeits- und tarifrechtlicher Vorschriften zuständig. — Betriebsausschüsse können i n Betrieben m i t mehr als 50 Arbeitnehmern gegründet werden. Sie sind ein „konstruktives" Organ, das zur Kooperation m i t der Unternehmensleitung verpflichtet ist. Sie werden als paritätische Ausschüsse bezeichnet, da i n ihnen Arbeitnehmervertreter, Gewerkschafter und Unternehmensleiter vertreten sind. Der Unternehmensleiter führt den Vorsitz. Die Gewerkschafter haben auf den Betriebsausschußsitzungen nur eine beratende Stimme. — Die Gewerkschaftssektionen sind die betrieblichen Basiszellen der Gewerkschaften. Sie beruhen auf der freiwilligen Mitgliedschaft der betrieblichen Arbeitnehmer. I n Abstimmung m i t der für sie zuständigen Industriegewerkschaft ernennen sie einen Gewerkschaftsdelegierten, der die Sektion offiziell vertritt. Die Gewerkschaftssektionen erfüllen i m Betrieb allgemeine gewerkschaftliche Aufgaben. Sie vertreten die beruflichen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder. Wie gehen die französischen Gewerkschaften m i t dieser Vielfalt der Interessenvertretungsorgane um? Wie handhaben sie den „doppelten Dualismus", die Trennung zwischen Konflikt und Kooperation? 1. Dynamik der Entwicklung der Gewerkschaftssektionen Bei der Behandlung dieser Frage ist es sinnvoll, sich zunächst die Situation zu vergegenwärtigen, die bis 1968 bestanden hat:

Arbeitsmöglichkeiten gewerkschaftlicher B e t r i e b s s e k t i o n e n 9 5

Bis 1968 blieben die Gewerkschaftsvertreter i n den Betriebsausschüssen die einzigen offiziell anerkannten gewerkschaftlichen Einrichtungen, die unmittelbar i m Betrieb verankert waren. Die Gewerkschaften kritisierten diese Situation. Sie vertraten die Auffassung, daß die Gewerkschaftsrechte so lange unvollständig bleiben, wie die Gewerkschaften zwar auf nationaler, regionaler, lokaler und Branchenebene anerkannt, auf Betriebs- und Unternehmensebene aber ignoriert werden. Die — nicht von den Gewerkschaften ausgehenden — Mai-Unruhen des Jahres 1968 mündeten i n ein für die Arbeiterbewegung günstiges Kräfteverhältnis. Die schwere innenpolitische Krise wurde von den Gewerkschaftszentralen zur Durchsetzung ihrer Forderung nach Gewerkschaftsrechten i m Betrieb ausgenutzt. I n der Zeit von 1969 -1972, die durch anhaltende Basiskämpfe geprägt war, kam es zu einer sprunghaften Entwicklung der Gewerkschaftssektionen. Ihre Zahl stieg i n diesem Zeitraum von 9000 auf 17 000 — verdoppelte sich also fast. Gleichzeitig nahm aber auch die Zahl der Betriebe m i t Betriebsausschüssen schlagartig zu (von 12 000 auf 18 000). Diese schnelle Entwicklung, die sich bis zum Jahre 1977 nur leicht verlangsamt (vgl. Tabelle i m Anhang), verdient zwei Kommentare: — die schnelle Verankerung der Gewerkschaftssektionen zeigt deutlicher als alle Kommentare die Bedeutung, die den betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen zugeordnet w i r d (sowohl von den Arbeitnehmern als auch von den Gewerkschaftszentralen); — die Anerkennung der gewerkschaftlichen Organisationsfreiheit i m Betrieb führt zu einer „Neubelebung" der Betriebsausschüsse. Dafür können zwei widersprüchliche Ursachen angeführt werden: — nach der Gründung der Sektionen glauben die Gewerkschaften, die Betriebsausschüsse zu einem wirksameren M i t t e l der betrieblichen Interessenvertretungspolitik machen zu können, während — die Unternehmer durch Anerkennung der Betriebsausschüsse einem Eindringen der Gewerkschaftsorganisation i n den Betrieb vorbeugen wollen.

2. Gewerkschaftliche Überlegungen zur Aufgabe der Sektionen Der Verweis auf die Mai-Unruhen von 1968 und ihren Charakter als einer spontanen Revolte erfolgte deshalb, w e i l gerade die CFDT von dieser Bewegung beeinflußt wurde. Da die CFDT sich auch zum stärk-

96

Peter Jansen

sten Befürworter der Forderung nach gewerkschaftlicher Organisationsfreiheit i m Betrieb gemacht hatte, soll an Hand dieser Gewerkschaftszentrale die Entwicklung nachvollzogen werden, die die Sektionen genommen haben. A m einfachsten ist es dabei, sich auf drei Kongresse der CFDT zu beziehen (1970, 1973, 1976). A n Hand dieser Kongresse kann aufgezeigt werden, daß die innergewerkschaftliche Aufgabe der Sektionen sich nach und nach verlagert hat. — A u f dem 35. Kongreß i m Jahre 1970 wurde als vorrangige Aufgabe der Gewerkschaftspolitik i m Unternehmen die Firmentarifvertragspolitik genannt. M i t der Firmentarifvertragspolitik sollte insbesondere die Unternehmenswillkür i m Bereich der Personalpolitik eingeschränkt werden. (Fragen des Arbeitsvertrages, der Effektivlöhne, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen.) Ausschließlicher Träger der Firmentarifvertragspolitik sollte die Gewerkschaftssektion werden. Es hieß, daß nur die Gewerkschaftssektion für diese Aufgabe geeignet sei. Nur sie verfüge sowohl über allgemeine wirtschaftliche, politische und soziale Informationen, als auch über eine genaue Kenntnis der unternehmensinternen Aspekte. Die Hervorhebung der Rolle der Gewerkschaftssektionen warf jedoch das Problem des Zusammenhangs zwischen betrieblichen Kämpfen einerseits und branchenmäßigen bzw. branchenübergreifenden Kämpfen andererseits auf. Der Vorteil der betrieblichen A k t i o n wurde darin gesehen, daß sie häufig zur Erzielung sofortiger Resultate wirksamer sei als die überbetrieblichen Kämpfe. Der Nachteil besteht i n dem Risiko der Entwicklung betriebsegoistischer Tendenzen. Bei den überbetrieblichen Kämpfen kehren sich Vor- und Nachteile um: diese Aktionsform sorgt für eine breite Solidarität der Arbeitnehmer i n allen Betrieben, schwächt aber eventuell die Aktionen der Arbeiter auf Unternehmensebene. I n einem Kompromiß, i n dem aber die Dezentralisierung der Verantwortung bei den Gewerkschaftsaktionen betont wurde, einigte man sich darauf, daß sich beide Aktionsformen ergänzen. — A u f dem 36. Kongreß der CFDT (1973) wurden stärker als 1970 die Risiken eines „Basiskultes" betont. Es müsse eine Überschätzung der Kampfbereitschaft der Arbeiter vermieden werden. Auch solle man sich vor Verallgemeinerungen hüten, die von „exemplarischen Kämpfen" ausgehen, aber deren besondere Ausgangsbedingungen vernachlässigen. Schließlich könne es nicht darum gehen, den Kampf u m des Kampfes w i l l e n zu fordern. Der spontane Beitrag der A r beiter sei zwar eine notwendige Bedingung für die Gewerkschaftsaktion, könne aber die Existenz einer dauerhaften, demokratischen Gewerkschaftsstruktur nicht ersetzen.

Arbeitsmöglichkeiten gewerkschaftlicher B e t r i e b s s e k t i o n e n 9 7

Diese Argumentation deutet die Entwicklung an, die sich auf dem 37. Kongreß der CFDT (1976) fortsetzt und zu einer Neuformulierung der Rolle der Gewerkschaftssektionen führt. — A u f dem 37. Kongreß w i r d der Akzent auf die notwendige Stärkung der lokalen Industriegewerkschaftsorganisation gesetzt (syndicat). Nur diese w i r d als sinnvolle, unterste Verhandlungsinstanz des Industriegewerkschaftsverbandes anerkannt. Die Begründung dafür gleicht der, mit der 1970 die Verhandlungsrechte für die Sektionen gefordert wurden: die Industriegewerkschaftsorganisation ist vermittelt über die Sektion i m Betrieb präsent, bleibt selbst aber außerhalb des Unternehmens. Sie hat den notwendigen Abstand, u m bei der Entfaltung von Gewerkschaftsaktionen sowohl unternehmensspezifische als auch unternehmensübergreifende Probleme gleichgewichtig zu berücksichtigen. A u f die Frage, warum die CFDT nicht i m Namen einer Dezentralisierung und des von i h r vertretenen Konzeptes der Selbstverwaltung die Sektion zur satzungsgemäßen Basiszelle machen wolle, heißt es: — auch wenn Gewerkschaftsforderungen von den unmittelbaren Problemen der Arbeiter ausgehen müssen, muß die Gefahr eines Korporativismus, einer Vereinnahmung i n den Betrieb, die Entwicklung einer betriebsegoistischen Politik vermieden werden. Zwischenbilanz Die bisherigen Ausführungen beziehen sich auf Veränderungen i n der Schwerpunktsetzung der CFDT (die hier leider nicht i n den w i r t schafts- und konjunkturpolitischen Zusammenhang gestellt werden konnten, der diese Entwicklung erklärt). Die als „Verhandlungsorgan" gestartete Sektion w i r d heute hauptsächlich als Bindeglied angesehen, das eine doppelte Funktion erfüllt: — die Sektion sichert den Zusammenhang der betrieblichen und der außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit; — die Sektion soll die Arbeit der CFDT-Mitglieder i n den verschiedenen betrieblichen Vertretungsorganen koordinieren.

3. Probleme der betrieblichen Praxis Die i n der CFDT offen geführten Auseinandersetzungen u m den Grad der wünschbaren Dezentralisierung der Gewerkschaftspolitik haben für die praktische Organisation der betrieblichen Arbeit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Auf Betriebsebene geht diese Aus7 Tagung Dortmund 1981

98

Peter Jansen

einandersetzung weiter, mündet i n die Diskussion u m die Risiken einer „Professionalisierung" der Arbeitnehmervertreter und die Gefahren einer „Institutionalisierung" ein. DieSektion als Vermittler Gewerkschaftsarbeit

zwischen betrieblicher

und außerbetrieblicher

U m die bis hierhin vielleicht etwas akademisch klingenden Auseinandersetzung u m den Grad der Dezentralisierung etwas zu verbildlichen, soll kurz die Praxis i n zwei Unternehmen geschildert werden. 1. Fall: Erdölraffinerie Elf-France i n Dönges, 900 Arbeitnehmer, davon 35 °/o i n der CFDT organisiert. Die CFDT ist bei den Belegschaftsdelegierten und i m Betriebsausschuß entsprechend gut vertreten. Die Zusammenfassung aller Freistunden, die den CFDT-lern i n allen drei Vertretungsorganen zur Verfügung stehen, ergibt einen Block von 270 Stunden pro Monat. Davon beansprucht allein der Gewerkschaftsdelegierte zur Ausübung seiner Funktion 150 Stunden. 2. Fall: Stahlwerk Usinor-Dunkerque, 11000 Arbeitnehmer. Die CFDT erhält i n den Betriebswahlen 35 °/o der Stimmen. Die Gewerkschaftssektion hat ihren Beitragskassierern einen Ausweis gegeben, der sie den Vorgesetzten gegenüber berechtigt, während der Arbeitszeit Beiträge einzusammeln und die Qewerkschaftspresse zu verteilen. Dahinter steht die Absicht der Sektion, die Kassierer zu „Werkstattdelegierten" zu machen — also: die Gewerkschaftsstruktur i m Betrieb zu dezentralisieren. Nach Untersuchungen der CFDT sind beide Fälle durchaus typisch für die Organisationsformen der betrieblichen Arbeit. A u f den ersten Fall, der oben m i t dem Risiko der Professionalisierung angesprochen wurde, reagierte die CFDT auf dem Kongreß von 1976 m i t dem Hinweis, daß die Freistunden Eigentum der Gewerkschaft, nicht aber Eigentum der Gewerkschaftssektion seien. Damit kann zwar dem erfahrungsgemäß i n Großbetrieben bestehenden Trend, die gewerkschaftliche Praxis auf die Schultern weniger aktiver Gewerkschafter abzuladen, nicht entgegnet werden, aber das auch für den Gewerkschaftsdelegierten bestehende Risiko einer Vereinnahmung i n den Betrieb w i r d verringert. Daß es sich dabei nicht u m einen rein moralischen Appell handelt, kann an einem dritten Fall verdeutlicht werden. 3. Fall: I n einer Biskuitfabrik i n Nantes, i n der die CFDT die stärkste Gewerkschaft ist, verfügt der Gewerkschaftsdelegierte über 100 Freistunden. Diese i h m zur Verfügung stehende Zeit nutzt er — zu einem D r i t t e l für die Arbeit i n der Sektion,

Arbeitsmöglichkeiten gewerkschaftlicher Betriebssektionen

99

— zu einem Drittel für die Arbeit i n der lokalen Industriegewerkschaftsorganisation, — zu einem Drittel für die Arbeit i m Industriegewerkschaftsverband. Vermittelt über diesen Mechanismus kommen die gewerkschaftlichen Organisationsrechte i m Betrieb einer Stärkung der außerbetrieblichen Gewerkschaftsorganisation zugute, und von dieser Stärkung profitieren vor allem die Betriebe, i n denen aus objektiven Gründen (Kleinbetriebe) keine Sektion besteht. Dem Risiko, daß die „einfachen Sektionsmitglieder" zu Zuschauern bei der Arbeit ihrer Delegierten werden, w i r d i m gewissen Sinne m i t der Forderung Rechnung getragen, daß allen Arbeitnehmern 1 °/o der bezahlten Arbeitszeit für betriebliche Informationsveranstaltungen zur Verfügung gestellt werden soll (Forderungsplattform der CFDT von 1977). Verhältnis der Sektion zu den Belegschaftsdelegierten ausschüssen

und den Betriebs-

Das Beispiel über die Verwendung der Freistunden der Belegschaftsdelegierten, Mitglieder der Betriebsausschüsse und Gewerkschaftsdelegierten zeigt, welche reale Bedeutung die den Sektionen zugeschriebene Koordinatorfunktion hat. Darüber hinaus w i r d deutlich, daß auch die gewählten Repräsentanten i n erster Linie Gewerkschafter sind. Es gibt allerdings kein universelles Modell, an dem sich die praktische Form der Zusammenarbeit der verschiedenen Organe orientiert. Ausschlaggebend sind die betrieblichen und regionalen Rahmenbedingungen, zu denen auch die Gewerkschafts- und Arbeitskampftraditionen gehören. Für die innerbetriebliche Rolle der Sektionen lassen sich — grob vereinfachend — drei Grundmuster beobachten, die durch die Unternehmensgröße, den Unternehmensstandort und die Branchenzugehörigkeit beeinflußt sind. a) I n Branchen, die aus vielen Klein- und Mittelbetrieben bestehen (ζ. B. Handel) dominiert eine paternalistische Unternehmerhaltung. Diese richtet sich insbesondere gegen die Gewerkschaftssektionen, versucht, diese aus dem Betrieb fernzuhalten oder zumindest zu neutralisieren. I m Zweifelsfall w i r d eher m i t den gewählten Repräsentativorganen als mit den Sektionen „verhandelt". b) I n Unternehmen der gleichen Größenordnung, die aber einer Branche angehören, i n der die Gewerkschaften traditionell stärker vertreten sind, und i n denen auch eine Arbeitskampftradition besteht, nehmen 7·

100

Peter Jansen

die Unternehmer häufig eine offen repressive Haltung gegenüber den Sektionen ein. I n solchen Unternehmen w i r d die Trennung der Funktionen zwischen gewählten Repräsentanten und Gewerkschaften betont. Solange die Sektionen sich nicht als Gesprächspartner durchsetzen können, versuchen sie, die gewählten Repräsentanten i n ihrem Sinne zu beeinflussen. Erst nach harten Konflikten zeichnet sich i n solchen Betrieben eine systematischere Funktionsteilung ab: die gewählten Repräsentativorgane werden für die Regelung der alltäglichen betrieblichen Probleme zuständig (wobei die Funktionen von Belegschaftsdelegierten und Betriebsausschußmitgliedern kaum getrennt werden); eine direkte Einschaltung der Sektion w i r d nur dann akzeptiert, wenn es gilt, einen Vertrag über betriebsspezifische Probleme auszuhandeln, c) Unabhängig von der Branchenzugehörigkeit werden die Sektionen i n Großunternehmen i n der Regel anerkannt. Sie werden i n Konfliktregelungen eingeschaltet. M i t steigender Unternehmensgröße erfolgt eine Differenzierung der Aufgaben der drei Vertretungsorgane, an der sowohl die Unternehmensleitung als auch die Gewerkschaften (CGT und CFDT) interessiert sind. Konflikte über die Organe als solche gibt es nicht, wohl aber über die Regelung der konkreten Kompetenzen, die ihnen jeweils zugeordnet werden. I n Abhängigkeit von der betrieblichen Herrschaftsstruktur setzen die Gewerkschaftssektionen die zwischen den einzelnen Vertretungsinstanzen gemachten Unterschiede ein, u m die Gewerkschaftsstrategie flexibel an die betrieblichen Erfordernisse anzupassen. Scheitern der Firmentarifvertragspolitik Wie bereits erwähnt, wurde auf dem 35. Kongreß der CFDT für die Gewerkschaftspolitik auf Unternehmensebene der Schwerpunkt auf die Forderung nach der Entwicklung der Firmentarifvertragspolitik gelegt. Diese sollte ein wichtiger Bestandteil eines inhaltlich neu zu füllenden „artikulierten Tarifvertragssystems" werden. (Unter „artikuliertem Tarifvertragssystem" ist der konsequente Verbund zwischen nationalen, branchenübergreifenden Verträgen, nationalen Branchenverträgen, regionalen und lokalen Branchenverträgen und Firmentarifverträgen zu verstehen: anders ausgedrückt geht es u m die inhaltliche Verzahnung aller Tarifvertragsebenen.) Die Praxis i n der Zeit von 1968 bis 1981 zeigt, daß sich i m Verhältnis zu früher keine nennenswerten Veränderungen durchsetzen ließen. Nach wie vor werden ca. 90 °/o aller betriebs- und unternehmenspolitischen Entscheidungen einseitig vom Unternehmer gefällt. Die Bedeutung der Verhandlungspolitik auf Betriebs- und Unternehmensebene

Arbeitsmöglichkeiten gewerkschaftlicher Betriebssektionen

101

bleibt zahlenmäßig damit eine marginale Größe. Schlüsselt man die Entscheidungsbereiche i n drei Gebiete auf, so ergibt sich folgendes Bild: Arbeitsorganiwirtschaftl. Personalpolitik sation, Arbeits- Unternehmensbedingungen entscheidungen einseitige Entscheidungen

41 %

43 %

45%

m i t Information

22%

23 %

29%

m i t Konsultation Verhandlungen (mit u. ohne Vertragsabschluß)

21 %

22 %

26 %

16%

12%

0%

100 %

100 %

100 %

Gesamtsumme

Dies zeigt eindeutig, daß die Sektionen i m Bereich der wirtschaftlichen Unternehmensentscheidungen (z.B. Investitionspolitik) keinen Verhandlungszugang haben. Darüber hinaus ist ihnen sogar der direkte Informationszugang versperrt: Information und Konsultation erfolgen i n der Regel nur gegenüber den Betriebsausschüssen. Die den Verhandlungen zugänglichen Bereiche Personalpolitik und Arbeitsorganisation/ Arbeitsbedingungen sollen hier noch auf die A r t der Verhandlungen untersucht werden. Es wurde bereits darauf verwiesen, daß durchschnittlich 1 4 % der Entscheidungen durch Verhandlungen geregelt werden, wobei diese Verhandlungen nicht immer i n einen Vertragsabschluß einmünden. Das Fehlen eines Firmentarifvertragsabschlusses erklärt sich daraus, daß der Begriff der Verhandlungen sowohl die „informellen Verhandlungen" mit den gewählten Repräsentativorganen als auch die offiziellen Verhandlungen m i t den Gewerkschaftssektionen beinhaltet. Nur die offiziellen Verhandlungen können i n einen Firmentarifvertrag einmünden, während die informellen Verhandlungen günstigenfalls zu einer Regelung führen, die (mit Einschränkungen) m i t den deutschen Betriebsvereinbarungen zu vergleichen ist. Schlüsselt man die Verhandlungen nach diesen beiden Formen auf, so zeigt sich, daß die Bedeutung der Firmentarifverträge noch geringer ist als die oben angegebenen 14%. Eine getrennte Einschätzung der Verhandlungssituation auf Betriebs- und Unternehmensebene zeigt, daß zwischen der Einschätzung durch die Unternehmensleitung und der der Arbeitnehmervertreter keine großen Unterschiede bestehen.

102

Peter Jansen Einschätzung der Verhandlungsstrukturen

Unternehmens- ArbeitnehmerLeitungen vertreter 4%

4%

7%

9 %

1 %

3 %

Charakter der Entscheidung Entscheidung w i r d i n informellen Verhandlungen getroffen Entscheidimg w i r d i n offiziellen (formellen) Verhandlungen getroffen Z a h l der Fälle, i n denen die A n wendung einer Entscheidung einer paritätischen K o n t r o l l e unterliegt

Es ist vielleicht sinnvoll, noch kurz auf die A r t der Verhandlungsinhalte i n den beiden Gebieten Personalpolitik und Arbeitsorganisation/ Arbeitsbedingungen einzugehen. I n den Bereich der Personalpolitik fallen z.B. Lohnfragen, Berufsausbildung, berufliche Weiterbildung, Umsetzungen, Einstellungen, Entlassungen... Verhandlungen i n den Einzelfragen beziehen sich auf die Ausformulierung allgemeiner Regelungen (allgemeine Einstellungskriterien, Entwicklung der Leitlinien der betrieblichen Weiterbildung u. ä.). Fragen der Lohnpolitik werden i n aller Regel nicht auf Unternehmensebene verhandelt, sie sind Gegenstand der Branchenverträge. Diese können z.B. den Rhythmus der regelmäßigen Angleichung der Lohnentwicklung an die Preisentwicklung fixieren (Lohnindexierung). A u f Unternehmensebene sind dagegen Diskussionen über die Entlohnungsprinzipien möglich (Zeitlohn, Stücklohn ...), auch die Aushandlung von Lohnzuschlägen (Prämien für Schichtarbeit, Belastungszuschläge etc.). Verhandlungen und Verträge über die Einstufung sind dagegen ausgesprochen selten. Das gleiche gilt für Verträge über die Lohnsumme eines Unternehmens. Die Ausregelung von allgemeinen Vertragsklauseln erlaubt keine Kontrolle über die Unternehmerentscheidungen, die den einzelnen Arbeitnehmer betreffen (keine Kontrollrechte bei der Fixierung individueller Lohnerhöhungen, der individuellen „Beförderung", der individuellen Einstellungs- und Entlassungspolitik). Bei den Arbeitsbedingungen beziehen sich die meisten Verhandlungen auf den Bereich Hygiene und Sicherheit (in mehr als 70 °/o der Unternehmen funktionieren die Hygiene- und Sicherheitsausschüsse, eine Unterkommission der Betriebsausschüsse). Der Charakter der Verhandlungen ist meist informeller A r t . Bezüglich der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen kann festgehalten werden, daß i n ca. 2 0 % aller Fälle die Arbeitszeitregelungen sowie das Arbeitstempo Gegenstand von Verhandlungen ist.

CFDT 25,49 FO 10,21 CGC 10,04 CFTC 4,26 Andere Gewerkschaften

25,84 10,24 9,81 4,44 5,60

40,00

b

42,37

26 816

23 822

46,37

32 809

20 367

+ 150,08

22,78

+ 184,45

+ 178,63



+

1977

40,46 — 4,08

37 545 40,56

34 343

30 171

1976 36 276

56,14

19 063

36 876

1975

41,61

30 399

26 764

51,69

17 230

37 348

1974

Diff. 70 - 77c)

25,26 24,90 24,68 24,80 24,38 — 1,11 10,84 11,30 11,74 12,26 12,67 + 2,56 10,19 10,92 11,16 11,65 11,89 + 1,85 4,52 4,65 4,95 5,11 5,16 + 0,90 6,13 6,48 5,82 5,85 5,59 5,43 — 0,17

42,67

23 828

20 721

43,00

15 658

35 400

1973

13 969

34 921

42,11

20 151

17 421

25,58 10,56 10,19 4,50 6,13

43,89

15 875

13 991

35,34

11 655

32 972

1972

») 1970 ist das erste Jahr, in dem diese Statistische Auswertung begann ) absolut in·/·

1

! i !

44,54

13 199

Zahl der Gewerksch.Delegierten

31,28

11 775

CGT (in °/o der Gewerkschaftssektionen)

30 476

1971

8137b) 9 533

29 546

Zahl der Sektionen

Unternehmen mit einer oder mehreren Gewerkschaftssektionen 27,54c)

Zahl der dem Gesetz unterliegenden Unternehmen

1970a)

Entwicklung der Gewerkschaftssektionen zwischen 1970 und 1977 (Angaben nach: Liaisons Sociales, Legislation Sociale No. 4743 vom 14. März 1979 Ν Syndicats 20)

Arbeitsmöglichkeiten gewerkschaftlicher Betriebssektionen

104

Peter Jansen

Auch diese werden meist auf der informellen Ebene geführt, münden nicht i n Verträge ein. Bei der Konfliktregelung i n diesem Bereich schalten sich i n der Regel alle drei Interessenvertretungsorgane ein. (Dabei ergibt sich eine „klassische Aufgabenteilung". Die Belegschaftsdelegierten werden auf Werkstatt- und Abteilungsebene aktiv; die Betriebsausschüsse bemühen sich u m eine allgemeine Unternehmensregelung; und wenn die Gewerkschaftssektionen gut vertreten sind, steigt der Trend, diese Probleme i n formellen Verhandlungen vertraglich zu regeln.) Dies Scheitern der Firmentarifvertragspolitik sollte allerdings vor dem Hintergrund der gesamten französischen Tarifvertragspolitik gesehen werden: regelmäßige Tarifverhandlungen sind i n Frankreich unbekannt. Schlußbemerkungen Ich w i l l hier auf die Ausformulierung von Schlußfolgerungen verzichten, u m der Diskussion nicht vorzugreifen. Statt dessen w i l l ich mit einigen Schlagworten nochmal kurz die Probleme charakterisieren, die für die Arbeit der Sektionen und die gewerkschaftliche Diskussion u m die Dezentralisierung eine wichtige Rolle spielen: — die inner- und außerbetriebliche Koordinierungsfunktion der Sektionen; — Verhandlungskompetenz der Sektionen (wobei i n der Diskussion auf die Arbeitskampfautonomie der Sektion eingegangen werden sollte); — Gefahren des Betriebsegoismus (Korporativismus), der „Professionalisierung" der Gewerkschaftsdelegierten und der „Institutionalisierung" (der Herausbildung einer neuen betrieblichen Hierarchie, die den Arbeitnehmer und das einfache Gewerkschaftsmitglied nicht i n gewerkschaftliche Entscheidungsprozesse einzubeziehen vermag).

Quellenhinweise Z u r S t r u k t u r der betrieblichen Interessenvertretungsorgane: reihe cfdt/pratique syndicale — — — —

le délégué du personnel (Belegschaftsdelegierte) comité d'entreprise (Betriebsausschuß) la section syndicale (die Gewerkschaftssektion) le syndicat (die lokale Industriegewerkschaftsorganisation) Herausgeber: çfdt, service montholon, Paris

Publikations-

Arbeitsmöglichkeiten gewerkschaftlicher Betriebssektionen

105

Zur D y n a m i k der E n t w i c k l u n g der Gewerkschaftssektion: — Bouvier, T r a v a i l et expression ouvrière, Paris 1980 — Liaisons Sociales (vgl. Tabelle) Z u den gewerkschaftlichen Diskussionen u m die Sektionen: Rechenschaftsberichte der CFDT-Kongresse, hier angeführt nach: — Syndicalisme, Sondernummern v o m Januar, März u n d A p r i l 1970 — Syndicalisme, Sondernummer v o m 15.3.1973 — zum letzten Kongreß: le syndicat (s. ο.) Z u dem Komplex: Probleme der betrieblichen Praxis: — cfdt aujourd'hui, Nr. 26 u n d Nr. 35 — Représentation et négociation dans l'entreprise Herausgeber: Centre de recherches en sciences sociales du travail, Paris 1974 Deutschsprachige L i t e r a t u r : Europäisches Gewerkschaftsinstitut: Gewerkschaftliche Grundrechte i m U n ternehmen i n westeuropäischen Ländern, Brüssel 1980. Olle, Werner (Hg.): Einführung i n die internationale Gewerkschaftspolitik, Band 2: Nationale Besonderheiten gewerkschaftlicher Politik, B e r l i n 1978.

Der Auebau betriebsbezogener gewerkschaftlicher Organisationsstrukturen nach dem Sturz der Franco-Diktatur Von Antonio Ojeda-Aviles, Sevilla L Die historischen Bedingungen des Ubergangs 1. Gewerkschaftliche Aktivitäten gegen Ende der Franco-Diktatur

Man kann sagen, daß die Institutionalisierung des freien Syndikalismus i n den spanischen Betrieben eine noch ungesicherte Wirklichkeit darstellt, obwohl die gewerkschaftliche Präsenz i m Betrieb ein allgemeines Phänomen seit Anfang der siebziger Jahre ist. Bis zum Tode des Diktators i m November 1975 war die Arbeiterbewegung neben der Studentenbewegung eine der wichtigsten Oppositionskräfte gegen die sterbeiide Diktatur. Zur Beurteilung ihrer Tätigkeit sei ein sicherlich überraschender Tatbestand angeführt: Nach einem ILO-Bericht erkämpften von 1965 bis 1975 die spanischen Arbeiter die größten Lohnerhöhungen i m Weltmaßstab. Der Grund dazu muß i m bedenklichen politischen Zustand einer Diktatur gesehen werden, die industrielle Konflikte über Jahrzehnte zwangsweise geschlichtet hatte, nun aber, i n der Phase ihres Verfalls, unfähig war, diese Rolle weiter auszufüllen. Ein großer Teil der Enttäuschung über die Demokratie, die heute i n der spanischen Bevölkerung bemerkbar wird, hängt wahrscheinlich m i t der Erinnerung an diese Jahre einer greisenhaften und geschwächten Diktatur zusammen, die die enormen Leiden der vierziger und fünfziger Jahre vergessen läßt. Auch i n progressiven Kreisen Spaniens w i r d häufig, teils i m Spaß, teils i m Ernst, behauptet, „unter Franco lebten w i r besser". Bei ihren Streiks und Forderungsaktionen bedienten sich die Arbeiter zweier juristischer Instrumente, die ihnen als A l i b i dienten, u m der Strafverfolgung zu entgehen: Eines war das Tarifvertragsgesetz, das Tarifverhandlungen und damit die Mobilisierung der Arbeiter zuließ. Das andere war die Vertrauensräteverordnung, die es erlaubte, den Forderungen der Belegschaft durch Arbeitervertreter Ausdruck zu verleihen. Wichtigste Stütze der Arbeiter war jedoch die von den geheimen Gewerkschaften unterwanderte spanische Syndikatsorganisation, die einen ähnlichen Aufbau hatte wie die nazistische Arbeitsfront.

Ausbau betriebsbezogener gewerkschaftlicher Organisationsstrukturen

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Die Ausnutzung des faschistischen Syndikats stellte den originellsten Zug der spanischen Arbeiterbewegung i m Kampf gegen die Diktatur dar, offenbar i m Gegensatz zur Strategie von Arbeiterbewegungen anderer Länder unter ähnlichen Diktaturen wie die deutsche oder die italienische. Die Unterwanderung der korporativen nationalen Syndikatsorganisation Francos durch Anhänger der geheimen gewerkschaftlichen Strömungen war schließlich umfassend. Dabei erkannten die Gewerkschaften die Unmöglichkeit, i n einem modernen System des Monopolkapitalismus zwischen politischen und wirtschaftlichen Konflikten, zwischen Staat und Gesellschaft zu unterscheiden. Sie maßen deshalb politischen und gewerkschaftlichen Streiks gleiche Bedeutung bei. Einige Zahlen mögen dies erläutern: Die Statistik der Konflikte und ihrer Gründe zeigt, daß ab 1967 die Zahl der Streiks wächst und politische Streiks gegenüber rein wirtschaftlichen i n den Vordergrund treten. Die Zahl der wegen Streiks verlorenen Arbeitsstunden stieg von 1480 000 i m Jahre 1966 auf 4 480 000 i m Jahre 1969 und 14 000 000 i m Jahre 1974, dem Jahr vor Francos Tod. I n diesem Jahr war Spanien das konfliktreichste Land Europas nach Italien. Wer diese stürmischen Jahre erlebt hat, kann bezeugen, daß der positivste Zug, der Diktaturen gern zugeschrieben wird, nämlich Ruhe und Ordnung, i n sein Gegenteil verkehrt wurde. Nach dem Tode Francos entstand zunächst ein Machtvakuum. Dennoch scheuten die demokratischen Kräfte Spaniens, die Arbeiter und die Intellektuellen i n ihrer Mehrheit, vor einer Politik des Bruchs mit der Vergangenheit zurück. Zwei Erfahrungen m i t dem demokratischen Sozialismus, die sie leidenschaftlich mitvollzogen hatten, waren noch zu deutlich i n ihrer Erinnerung: die portugiesische und, wichtiger noch, die chilenische. Die Lage i n Spanien glich derjenigen Chiles: Die hohe Bürokratie, Armee, Polizei und Justiz hielten dem alten Regime die Treue. Sie waren zutiefst geprägt von dem, was sie „Antikommunismus" nannten. Noch heute, 1981, hängt das B i l d Francos an hervorragender Stelle der Kasernen der Guardia Civil. Die demokratischen Kräfte entschieden sich deshalb für einen bedächtigen Reformismus, mit dem Ziel, die bestehenden Mächte eher zu überzeugen als zu überwältigen. Daß der Bruch nicht einmal versucht wurde, hatte aber noch einen weiteren Grund: die internationale Unterstützung eines maßvollen Übergangs der „demokratischen Konvergenz". 1976 wiesen nur die Kommunistische Partei und ihre Gewerkschaft, die „Comisiones Obreras" oder Arbeiterausschüsse, ein M i n i m u m an Organisation, Finanzen und einer eigenen Ideologie auf. I n jenem Jahr boten deshalb internationale Kräfte weitreichende Hilfen zum Aufbau gemäßigter politischer Organisationen an. Es begann der unwiderstehliche Aufstieg sowohl der Zentrums-Union (UCD) wie auch der Sozialistischen Partei

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(PSOE) und der nichtradikalen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Zugleich und unbemerkt vollzog sich der Niedergang der linksoder rechtsradikalen Organisationen, wie das folgende Jahr 1977 zeigen wird. Die Botschaft der Vereinigten Staaten, die Sozialistische Internationale, die Christlich-Demokratische Internationale, der Europarat usw. manipulierten erfolgreich das spanische politische Panorama. Sie förderten die ihnen verwandten Tendenzen, wobei sie für das von ihnen erstrebte Gesellschaftsmodell monopolistischer ökonomischer Strukturen bereits einen günstigen Boden vorfanden. Betrachten w i r nun die Lage der Gewerkschaften. 2. Die anfängliche Schwäche der freien Gewerkschaften

a) Organisatorische Schwäche Der politische Kampf stellt die Gewerkschaftsbewegung unter starke Spannungen, die sie an den Rand der Zerstörung durch Zersplitterung bringen; 1976 bestanden mindestens 10 Gewerkschaften, obwohl die großen sich i n drei Tendenzen zusammenfassen lassen: die kommunistische (Comisiones Obreras — CCOO), weit vor der sozialistischen (Unión General de Trabaj adores — UGT) und christlich orientierten (Unión Sindicai Obrera — USO). U m ihre Schwäche zu verbergen, benutzten sie die offiziellen korporativistischen Strukturen und übten die Klasseneinheit innerhalb der Arbeiterbewegung aus. Das heißt, sie entfalteten ihre Tätigkeit unter Teilnahme aller Arbeiter, die zu Versammlungen kamen und sowohl die Koordinationsausschüsse wie auch Delegierte wählten. Die Theorie der Bewegung m i t ihren Bestandteilen von Arbeiterdemokratie, Versammlungen und Räten l i t t jedoch unter einem Problem: Sie war i n Wirklichkeit ein Instrument der Hegemonie der größten Gewerkschaft, der CCOO, welche die Versammlungen und Koordinationsausschüsse wegen der schlechteren Lage der übrigen beherrschen konnte. Die Identifizierung der spanischen Gewerkschaftsbewegung m i t der Gesamtheit der Arbeiterbewegung unseres Landes rechnete nicht m i t der wichtigsten, für ein so ehrgeiziges Projekt notwendigen Voraussetzung: der Gewerkschaftseinheit. So konnte sie keinen Erfolg haben. Allerdings wurde i m J u l i 1976 eine A r t von Einheit zwischen den größten Gewerkschaften versucht, die sog. „Coordinadora de Organizaciones Sindicales". Die führte jedoch widersinnigerweise zum Gegenteil, w e i l die Gewerkschaften auf ein gemeinsames Dach der Bewegung verzichteten. Bereits nach einigen Monaten machte der sozialistische Gewerkschaftsbund Schluß m i t diesem Experiment. Dies führte dazu, daß die kommunistischen Wettbewerber sich ihrerseits i n die Grenzen einer Gewerkschaftsorganisation zurückzogen. Die

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damit gegebene Klärung der Position schien zunächst für niemanden gefährlich, weil die Mitgliederzahl enorm anwuchs und beide Organisationen nach einigen Monaten rd. 2 M i l l . Mitglieder zählten. Die Gefahren sah man später, als sich die Auseinandersetzungen steigerten und die Mitgliederzahl auf das heutige Niveau, den wahrscheinlich niedrigsten Organisationsgrad Europas, zurückfiel. b) Ideologische Schwäche Der Marxismus hatte den spanischen Gewerkschaften den Klassenkampf als Methode und als Ziel die Selbstbestimmung aufgezeigt. Diese Grundbegriffe wurden von fast allen geteilt. Die Demokratisierung Spaniens und die Entscheidung für einen vorsichtigen Reformismus forderten jedoch eine differenziert vorgehende Strategie. Die aber konnten die Gewerkschaften aus mehreren Gründen nicht erbringen: Erstens wegen des Verlustes des historischen Gedächtnisses durch die lange Unterbrechung der Diktatur; zweitens wegen des weltweiten radikal-ökonomischen Wandels auf Grund der Erdölkrise und der neuen internationalen Arbeitsteilung; drittens wegen der Kulturkrise der Linken und besonders des Marxismus; und schließlich viertens wegen des täglichen „Streß" verkümmerter und problemüberladener Organisationen. Die weltweite Orientierungslosigkeit der Gewerkschaftsbewegung w i r k t e sich deshalb auf die spanischen Gewerkschaften und deren Mitglieder m i t besonderer Härte aus: Zwar konnte i n den vergangenen fünf Jahren vieles bewirkt werden. Doch hinken die spanischen Gewerkschaften hinter der allgemeinen Entwicklung her. Originelle Aspekte ihrer Politik sind inzwischen fast vollständig abgenutzt. c) Finanzielle

Schwäche

Begeisterung und Hingabe der Mitglieder genügen nicht, u m ein gewerkschaftliches Netz über das ganze Land zu ziehen. Die Einkommen aus Mitgliedsbeiträgen sind gering. Den Gewerkschaften fehlen somit die notwendigen institutionellen und bürokratischen Stützen, die sie für einen langen Kampf benötigen. Hauptamtliche Funktionäre sind selten, eine gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist kaum entwickelt, der Informationsfluß ist gering. 1978 zeigte die sozialistische UGT Bankrottmerkmale, da nur 100 000 ihrer 2 M i l l . Mitglieder den Beitrag zahlten. Ähnliches kann man über die CCOO sagen. Somit aber werden externe finanzielle Quellen unerläßlich, — m i t der Folge massiver A b hängigkeiten: Abhängigkeit zunächst von den befreundeten Parteien, die an den Gewerkschaften als „ihrem" Wählerreservoir interessiert sind. (Die Parteien erhalten i n Spanien einen Staatszuschuß i m Ver-

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hältnis zu ihrer Vertretung i m Parlament. Die Sozialistische Partei, die über sehr viel mehr Parlamentssitze als die Kommunistische verfügt, kann sich deshalb eher bereitfinden, die UGT zu unterstützen, als die PCE die CCOO, während die Zentrumspartei zunächst zwischen verschiedenen Gewerkschaftsalternativen hin- und herpendelte). A n zweiter Stelle ist die Hilfe der internationalen Verbände und der ausländischen Gewerkschaften zu nennen. Dies ist wiederum sehr wichtig für die UGT, welche die Unterstützung des IBFG, des EGB und des deutschen DGB erhält, während die CCOO sich bisher erfolglos u m den Beitritt zum EGB bemühte. A n dritter Stelle ist die Regierungshilfe zu nennen, die das Vermögen der frankistischen korporativen Syndikate, vor allem ihre Gebäude und Einrichtungen, derart verteilte, daß die sozialistische UGT und die christliche USO gegenüber anderen Gewerkschaften bevorzugt wurden. Die UGT erhielt Ende 1980 ca. 14 Gebäude, die CCOO wurde mit leeren Versprechungen abgefertigt.

Π . 1977 -1978: Beginn der gewerkschaftlichen Aktion im Betrieb 1. Eine Zeit der Schizophrenie für die spanische Arbeiterbewegung

Die erörterten Schwächen der Gewerkschaftsbewegung verdeutlichen, daß die Entwicklung der Gewerkschaften eng m i t der allgemeinen politischen Entwicklung Spaniens verknüpft ist. Die ersten demokratischen Wahlen i m Juni 1977 brachten der Zentrumspartei den Sieg. A n zweiter Stelle folgte die PSOE. Die Kommunistische Partei wurde abgeschlagen. I m Oktober desselben Jahres schlossen die linken Organisationen m i t der Zentrumsregierung einen Waffenstillstand, den Pakt von Moncloa. Die Zentrumspartei versprach ihrerseits Reformen, die sie dann aber nicht einlöste. Jener Pakt führte zur endgültigen Entwaffnung und Entmobilisierung der Linken, ein Vorgang, dessen Folgen bis heute nicht abzuschätzen sind. Die Partei- und Gewerkschaftsspitzen schlugen eine Linie der Mäßigung, des Zentrums, ein, eine riskante Operation gegenüber den noch vom Rechtsradikalismus überzogenen „faktischen Mächten". Die Arbeiterbasis reagierte auf diese Entwicklung ihrer „Leaders", indem sie der UGT einen glänzenden Aufstieg bei den Betriebsratswahlen 1978 ermöglichte. Noch behauptete die CCOO m i t 34,5 °/o der gewählten Kandidaten die Mehrheit, doch erreichte die UGT bereits 21,5 °/o. Nur der christliche Bund USO scheiterte m i t 3,7 °/o der Mandate. Die anderen Gewerkschaften lösten sich nunmehr auf oder tendierten dazu, sich i n die großen Gewerkschaften zu integrieren.

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2. Weitere organisatorische Klärungen

Das Jahr 1977 kann man als das Jahr bezeichnen, i n dem die gewerkschaftliche Basisbewegung i n ihren letzten Zügen lag. Die Gewerkschaftszentralen hatten sich verselbständigt und machten ihre Politik ohne Rückkoppelung an die betriebliche Basis. Die spanischen Arbeiter blicken auf eine lange Tradition der Einheit zurück, die, wie bereits erörtert, während der Diktatur verstärkt wurde. Deshalb darf uns ihre Besorgnis gegenüber einer Gewerkschaftsspitze nicht verwundern, die darauf abzielte, die Basisorganisationen zu verdrängen und gleichzeitig eine Politik der Mäßigung gegenüber Staat und Unternehmern zu betreiben. I n der Debatte zwischen den A n hängern des Rätesystems und denen des Gewerkschaftssystems warfen die Erstgenannten letzteren vor, einen dem Reformismus Vorschub leistenden und jede A r t von Klasseneinheit und direkter Demokratie verneinenden Tradeunionismus zu fördern; einige von ihnen bestanden auf der Unverträglichkeit beider Organisationsformen, andere hingegen vertraten die Notwendigkeit einer gegenseitigen Unterstützung. Zufälligerweise trafen sich die Positionen der Anhänger des Rätesystems i n ihren praktischen Auswirkungen m i t denen der A r b e i t geber und Regierung. I m Dezember 1977 wurde ein Erlaß veröffentlicht, der zum Ziel hatte, der Arbeiterbasis ein „gezähmtes" Instrument der A r t i k u l a t i o n zu verleihen: Die Vertrauensräte der frankistischen Zeit wurden der neuen Lage angepaßt. Die damit geschaffenen neuen Betriebsausschüsse und ihr Verhältnis zu den betrieblichen Gewerkschaftssektionen wurden nunmehr Gegenstand heftiger innergewerkschaftlicher Diskussionen. Die Anhänger der Betriebssektionen warfen den Betriebsausschüssen vor, i n ihrem Aktionsradius auf den Betrieb beschränkt zu bleiben. Die Verteidiger der Betriebsausschüsse verwiesen demgegenüber auf die Repräsentativität ihrer Gremien und ihre Befähigung, betriebs- und unternehmensbezogene Tarifverträge m i t für die Arbeiter günstigen Ergebnissen abzuschließen. Die Debatte hatte auch eine taktische Komponente. Denn die Tatsache, daß die Mehrheit der Betriebsausschußmitglieder zur CCOO gehörten, erlaubten es dieser, sie für ihre Zwecke zu nutzen. Demgegenüber mußte die UGT eine Taktik einschlagen, die darauf abzielte, ihren gewerkschaftlichen Konkurrenten aus seinen Positionen zu verdrängen. Die Verteidigung der Gewerkschaftssektionen war deshalb für die UGT eine Lebensfrage. Ohne sie hätte sie ihre Verbindung zur Basis verloren. Sie trat deshalb für die Gewährung der Tariffähigkeit auch an die Sektionen ein, die damit gleichberechtigt neben den Betriebsausschüssen stehen sollten. Umgekehrt trat die CCOO durchaus

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für Gewerkschaftssektionen ein, jedoch gegen deren von der UGT angestrebte Tariffähigkeit. Das Ergebnis all dieser Kämpfe war für die Arbeiterbewegung negativ: Die Gewerkschaftssektionen erreichten keine rechtliche Anerkennung und wurden i n einigen Betrieben allenfalls als Mitgliedergruppen ohne betriebliche Aufgaben konstituiert. Die Ausschüsse ihrerseits überlebten rechtlich, aber m i t verminderten Funktionen. I m Sommer 1977 l u d die Regierung die größten Gewerkschaften zu Gesprächen über mehrere Themen ein, u. a. über einen Gesetzentwurf zur betrieblichen Gewerkschaftsaktivität. Bei dem Treffen zeigten sich deutlich die zwischen den Gewerkschaftsbünden bestehenden Divergenzen. I m Januar 1978 leitete die Regierung ihren Gesetzentwurf an das Parlament weiter. Der Entwurf sah die Anerkennung der Betriebssektionen i n Betrieben m i t mehr als 1 000 Arbeitern vor, und zwar für solche Gewerkschaften, die mindestens 10 °/o der Belegschaften organisieren können. Den Sektionen sollten Informations-, Beitragseinziehungs- und Anschlagsrechte zugestanden werden. Der Entwurf wurde i m Parlamentsplenum gar nicht erst diskutiert. Fachleute fragten sich damals: „Wozu haben die Verhandlungen der Regierung mit den Gewerkschaften genützt?" Die Antwort: „Dazu, daß der verwirrte, wenn nicht entrüstete Beobachter zuschauen kann, wie der hartnäckige Protagonismus der Bünde und die i h n üblicherweise begleitenden Umstände eine gemeinsame A n t w o r t unmöglich machen, eine Antwort, die die Arbeiterklasse dringend braucht, verlangt und erwartet; damit letztlich Arbeitgeber und Regierung die Schlacht u m die gewerkschaftliche A k t i o n i m Betrieb durch deren Nichtregelung gewinnen würden" (Palomeque). Lediglich i m Öffentlichen Dienst kam es zu einer Regelung, was i m übrigen aufdeckt, daß auch die privaten Arbeitgeber ihren A n t e i l am Scheitern der Gesetzesvorlage hatten. Eine interne Anweisung der Regierung vom 11. November 1977 erlaubt i n jeder öffentlichen Dienststelle die Ernennung zweier Gewerkschaftsdelegierter als Vertreter der Beamten m i t Amtszeitbonus, Versammlungsrechten, Propagandarechten, Räumlichkeiten und Anschlagtafel. Betriebsausschüsse wurden durch eine interne Anweisung vom 23.1.1981 allerdings nur für die Verwaltung der Städte und Provinzen normiert. Auch i m Bereich der Sozialversicherung wurde ein wichtiger Schritt vollzogen: Zwei Verordnungen vom November und Dezember 1978 regeln die Belegschaftsteilnahme an ihren leitenden Organen, und zwar i n paritätischer Form. Dabei gibt es einen klaren Unterschied zur deutschen Mitbestimmung: Die Arbeitervertreter werden nicht von der Belegschaft, sondern unmittelbar von den Gewerkschaften ernannt. Etwas später, i m März 1979,

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wurden die Gewerkschaftssektionen i n den Krankenanstalten der Sozialversicherung anerkannt, m i t Versammlungsrechten (für zwei bezahlte Stunden monatlich), Auskunfts- und Anhörungsrechten. Hier dürfen i n der Regel die Gewerkschaften m i t mindestens 10 % der Belegschaft als Mitglieder Sektionen bilden. Die Jahre 1977/78 endeten insgesamt m i t einem negativen Ergebnis für die Arbeiterbewegung i n Spanien. War Spanien zuvor das Land m i t den größten durchschnittlichen Lohnerhöhungen der Welt, so stand es nun, bezogen auf den Durchschnitt des Sechsjahreszeitraums 19731978, auf dem vierzehnten Platz i m Lohnwachstum. Der Lohnanteil am Bruttosozialprodukt ging 1978 deutlich zurück. Die Enttäuschung der Arbeiter am Ende des Jahres 1978 war offensichtlich. Die Mitglieder zahlten nicht mehr ihre Beiträge und brachten die Gewerkschaftsfinanzen i n ernsthafte Schwierigkeiten. Die Mitgliederzahl stagnierte. Es begannen Massenaustritte. Regierungsvorstöße zugunsten neuer ökonomischer Pakte stießen deshalb zunehmend auf den Widerstand von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Sie wollten von nun an selbst verhandeln und ihre Kräfte i n direkter Auseinandersetzung messen. ΠΙ. 1979 -1980: Konsolidierung des spanischen Modells gewerkschaftlicher Aktion im Betrieb 1. Kollektiwerträge und gewerkschaftliche Aktion

Das Jahr 1979 begann m i t zwei wichtigen, i m Dezember des vorausgegangenen Jahres getroffenen Entscheidungen: Die Regierung setzte eine 14%-Grenze für Lohnerhöhungen bei kommenden Tarifauseinandersetzungen fest (die Inflationsrate lag zum damaligen Zeitpunkt bei etwa 16,5 %>). Die Generalversammlung des Arbeitgeberverbandes CEOE sprach sich gleichzeitig für eine 10°/o-Grenze aus sowie dafür, daß jede Klausel über gewerkschaftliche Aktionsmöglichkeiten i m Betrieb, die i n einem künftigen, auf höchster Ebene auszuhandelnden Rahmentarifvertrag erörtert werden sollte, abzulehnen sei. Die Gewerkschaften fanden sich dennoch zum Kampf für ihre Forderungen bereit, obwohl die UGT für einen Rahmentarifvertrag eintrat, i n dem die Grenze für Tariferhöhungen festgelegt werden sollte. Erstmals i n der Geschichte Spaniens werden sich deshalb i m Verlauf zahlreicher Kollektivverhandlungen während der ersten Monate des Jahres 1979 die Sozialkontrahenten m i t Härte und Vernunft auseinandersetzen. Der Strategie des Arbeitgeberverbandes setzten die zwei großen Gewerkschaften ausnahmsweise eine gemeinsame Aktionsstrategie ent8 Tagung Dortmund 1981

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gegen, die darin bestand, einerseits den Kampf i m Bereich der diszipliniertesten Gewerkschaften zu beginnen und andererseits vor allem gegen die öffentlichen Arbeitgeber vorzugehen. I m Januar begannen die Verhandlungen m i t den staatlichen Eisenbahnen und i m Bergbau (Renfe Hunosa). Die Gewerkschaften erzielten ausgezeichnete Erfolge, erreichten jedoch ihr anfängliches Ziel, einen Manteltarifvertrag m i t der staatlichen, die öffentlichen Unternehmen umfassenden Holding (INI) nicht. Ebenfalls i m Januar begannen die Verhandlungen i n der Metallindustrie, worauf ein Tarifvertrag für die Provinz Madrid erreicht wurde, und zwar nach mehreren Streiks am 11. und 24./ 25. Januar sowie 1./2. und 5./6. Februar. Die Taktik zeitlich begrenzter Streiks, deren Intensität bis zum Abschluß des Tarifvertrags zunimmt — einen Tag i n der ersten Woche, zwei Tage i n der zweiten usw. — wurde 1979 regelmäßig eingesetzt, u m unnötige wirtschaftliche Verluste zu vermeiden. Die Bilanz des Jahres 1979 ist die folgende: a) Nach einer Untersuchung der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) folgte Spanien den Ländern Kanada, Großbritannien und Italien i n der Zahl der wegen Streiks verlorenen Arbeitstage. Die Mehrheit der spanischen Presse führte deshalb einen Feldzug gegen die Gewerkschaften, die sie für die einzig Verantwortlichen einer ihrer Meinung nach verderblichen Konfliktorientierung hielt. b) Einer Gesamteinschätzung zufolge erreichten fast alle Tarifverträge einen Inflationsausgleich. Was die Gewerkschaftstätigkeit i m Betrieb angeht, waren die Fortschritte wegen des starken Arbeitgeberwiderstandes gering. Nur das schon faktisch Bestehende wurde legalisiert. I n Branchen, i n denen mehr erreicht werden konnte, i n der Metallindustrie und i m Öffentlichen Dienst, wurden die Sektionen der Gewerkschaften m i t einem Organisationsgrad von 5 bis 20 °/o der Belegschaften anerkannt. Ihnen wurden Informations- und Versammlungsrechte, Anhörungsrecht, das Recht auf Beitragskassierung, ein Versammlungsraum und eine Anschlagtafel zugebilligt. I n einigen Fällen wurde darüber hinaus der Z u t r i t t von Gewerkschaftsfunktionären zum Betrieb gestattet. Der Widerstand der Arbeitgeber gegen gewerkschaftliche Aktionsmöglichkeiten i m Betrieb führte die Gewerkschaften dazu, eine spezifische Strategie anzuwenden: I m Februar wurde ein Rahmentarifvertrag m i t dem Verband der kleinen und mittleren Arbeitgeber (COPYME) unterschrieben, der u.a. die Sektionen der Gewerkschaften mit mehr als 15 Mitgliedern i n der Belegschaft bestätigte. Die unterschreibenden Gewerkschaften CCOO und UGT sahen damit den Weg für einen ähnlichen Vertrag m i t dem Arbeitgeberverband CEOE eröffnet.

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c) Die kämpferische Haltung w i r k t e sich zum Vorteil der erfahreneren und disziplinierteren CCOO aus, während die UGT unter der Spannung jener Monate schwer zu leiden hatte. Es schien, als ob sie i n der Umarmung der CCOO tödlich enden würde. Sie hatte die Initiative verloren, die Mitgliederwerbung und Finanzkraft gingen weiter zurück. Auch der Arbeitgeberverband CEOE bezog harte Lektionen i n diesen Tarifauseinandersetzungen und zog seine Konsequenzen aus der gemeinsamen A k t i o n der Bünde. I m Sommer 1979 begann eine „Teile-und-herrsche"-Strategie, wie die der amerikanischen Arbeitgeber i n den dreißiger, der deutschen i n den vierziger und der italienischen i n den fünfziger Jahren. Der gemäßigte Syndikalismus wurde von nun an durch eine Reihe von Kollektivmaßnahmen unterstützt, die w i r i m folgenden untersuchen. 2. Selektive Strategie des Arbeitgeberverbandes

Der Gewerkschaftspluralismus ist i n einer konzentrierten Wirtschaft monopolistischer A r t selbstmörderisch, dies wissen auch die spanischen Arbeitgeber. I m Juni 1979 unterzeichneten der Arbeitgeberverband CEOE und die sozialistische UGT eine gemeinsame Erklärung, durch die sich beide als Gesprächspartner gegenseitig anerkannten. Man erklärte sich m i t der Ernennung eines Vertrauensmanns i n Betrieben m i t mehr als 250 Arbeitern einverstanden, außerdem mit anderen Vorteilen für die Mitglieder der UGT. Die Arbeitgeber mögen auch an die christliche Gewerkschaft USO gedacht haben. Die befand sich jedoch i n einer Identitätskrise. Ihre radikalen Mitglieder trennten sich von ihr, was sie sogar ihrer vorherigen knappen Vertretungskraft von 3,7% beraubte. Die UGT war konsequenterweise der geeignetere Adressat der Arbeitgeberstrategie: Ihre Mitgliedschaft war noch zahlreich genug. Gleichzeitig kam es darauf an, ihren Niedergang zu stoppen. Ende 1979 bot die CEOE der UGT deshalb Verhandlungen über ein Rahmentarifabkommen an. Auch die CCOO wurde zu Verhandlungen eingeladen. Die kommunistische Gewerkschaft lehnte dies jedoch i n einem Anflug von Stolz und i m Vertrauen auf ihre eigenen Kräfte ab. Der Vertrag wurde schließlich zwischen UGT und CEOE i m Januar 1980 unterzeichnet. Der Rahmentarifvertrag setzte „angemessene" Lohngrenzen fest. A u f dem Gebiet der gewerkschaftlichen A k t i o n ließ er folgende Rechte i m Betrieb zu: Ein Auskunftsrecht für die Gewerkschaft, die Möglichkeit, Versammlungen abzuhalten, das Einziehen von Beiträgen, die Verteilung von Informationsmaterial, sodann ein Anschlagbrett i n Betrieben mit mehr als 100 Arbeitern und einen Sitzungsraum i n Betrieben m i t mehr als 1 000 Arbeitern. Dieser Tarifabschluß hatte Auswirkungen auf alle weiteren Verträge des Jahres 1980, die nun m i t der UGT abge8·

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schlossen wurden, während die CCOO zur Seite geschoben wurde. Die CCOO sah deshalb ihre Hegemonie schnell zusammenbrechen. Gleichzeitig verringerte sich die Zahl der Arbeitskonflikte u m 81 °/o, bezogen auf die entscheidenden drei ersten Monate des Jahres 1980. I m Unterschied zu 1979 konnte i n mehr als der Hälfte der Tarifverträge (56 °/o) die gewerkschaftliche A k t i o n i m Betrieb thematisiert werden. Normalerweise wurden Vereinbarungen getroffen, die denjenigen des Manteltarifvertrags entsprachen. Der späteren Anwendung der Tarifverträge setzten die Arbeitgeber allerdings neue Widerstände entgegen. Trotz ihrer formellen Anerkennung ist die gewerkschaftliche Präsenz i m Betrieb deshalb weit davon entfernt, eine wirkliche Realität darzustellen. 3. Doppelte Regierungsstrategie

Parallel zu den Arbeitgebern entwickelte die Regierung ihre eigene Politik zu den kollektiven Arbeitsverhältnissen. Diese Politik läßt sich i n zwei Phasen einteilen: Eine erste Phase dauerte ungefähr bis zum Sommer 1980. Die damals geltende Konsenspolitik i m Parlament brachte die Zentrumspartei zu der Überlegung, die UGT als Gegengewicht gegen die CCOO zu unterstützen. Dies zeigte sich u. a. darin, daß sie der UGT Gebäude und Lokale der alten korporativen Syndikate zusprach; sodann i n der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, die von der UGT ausgehandelt wurden, und — dies ist das Wichtigste — i n der Genehmigung einer A r t von Arbeitsgesetzbuch, des Arbeiterstatuts, i n dem das individuelle und das kollektive Arbeitsrecht geregelt werden. Obwohl die gewerkschaftlichen Aktionsmöglichkeiten i m Betrieb i n diesem Statut nicht geregelt werden dürfen, weil die spanische Verfassung ein besonderes Gewerkschaftsgesetz vorsieht, gibt es dennoch gewisse Paragraphen, die den „gesetzlichen Vertretern" der Arbeiter — ein Begriff, i n den die Gewerkschaftssektionen und -delegierten einbezogen werden — gewisse Befugnisse erteilen. Das Statut gibt gleichzeitig den Betriebsausschüssen und den mehrheitlichen Gewerkschaftssektionen die Tariffähigkeit auf betrieblicher Ebene. Die Konsenspolitik endete i m Sommer 1980 m i t dem Versuch der Sozialisten, die Zentrumsregierung zu stürzen. Die Regierungspolitik gegenüber der UGT veränderte sich: Die Gebäudezueignung wurde gestoppt, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen nur noch verklausuliert zugestanden. Es begann eine heftige Unterstützung des christlichen Bundes USO, der seine Krise überwunden zu haben schien. USO vertrat gemäßigte Gewerkschaftspositionen m i t dem Ziel, alle diejenigen Arbeiter und Gewerkschaften für sich zu gewinnen, die den beiden großen Gewerkschaftsbünden nicht angehören.

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A m Ende dieses Prozesses standen die Betriebsausschußwahlen von 1980/81, die der CCOO die Hegemonie i n den Betriebsausschüssen nahmen. I m Januar 1981, nach drei Wahlmonaten, lagen folgende Ergebnisse vor: Der kommunistische Bund CCOO hat 4 Punkte verloren und fällt von 34,5 °/o der Mandate i m Jahre 1978 auf 30,7 % zurück. Die sozialistische UGT erreicht dagegen 8 Punkte mehr. Sie steigert ihre Mandate von 2 1 % auf 29%. Die christliche USO nimmt zu, — von 3,7 auf 9 % . Es steigen sodann die Mandate unabhängiger Vertreter (von 12,7 auf 16,7 %) sowie der baskischen christlichen Gewerkschaften. I V . Zur gegenwärtigen Situation Hierzu die folgenden provisorischen Einschätzungen: 1. Die CCOO hat ihre Hegemonie innerhalb der Betriebsausschüsse verloren. Sie muß die Mandate nunmehr m i t der UGT teilen. Das kann zwei Konsequenzen haben: Zum einen kann die UGT ihre Angriffe auf die Ausschüsse aufgeben und diese unterstützen. Damit würden die Ausschüsse eine gewisse Wirksamkeit erlangen können. Zum anderen scheint es, daß die beiden Gewerkschaftsbünde, die die Betriebsausschüsse gemeinsam kontrollieren, ihren brudermörderischen Kampf nunmehr aufgeben. Sie haben zu viele Mitglieder und zuviel Vertrauen durch die vergangenen Auseinandersetzungen verspielt. 2. Es bildet sich ein duales Vertretungssystem i m Betrieb heraus, ähnlich dem deutschen und dem französischen, mit Vorrang für die Ausschüsse gegenüber den Gewerkschaftssektionen. 3. Die beiden großen Gewerkschaften und die Arbeitgebervereinigung CEOE denken zur Zeit über die Nachteile gewerkschaftlicher Spaltung nach. Niemand hält die gespannte Lage des Jahres 1980 für günstig. Vielleicht w i r d eine flexible Aktionsgemeinschaft U G T / CCOO zustande kommen, vergleichbar derjenigen zwischen CGT und CFDT i n Frankreich.

Diskussion Leitung: Perygrin Warneke Berichterstattung: Klaus Koopmann, Bettina Runge Zum Kurzreferat 1: Grundzüge der Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Vertrauensleutearbeit i n der I G Metall (Referent: Lutz Dieckerhoff) Es wurden die folgenden Problembereiche angesprochen: — Konflikte, die sich zwischen Vertrauensleuten, Βetriebsratsmitgliedern und Ortsverwaltungen bei der Aufstellung der Betriebsratslisten ergeben. Der Referent nannte als Ursachen für solche Konflikte u. a. persönliche Ambitionen von potentiellen Kandidaten sowie außerbetrieblich angesiedelte und i n die Betriebe hineingetragene Interessen. Nach Auffassung des Referenten solle bei der Diskussion der „Listen-Probleme" berücksichtigt werden, daß diese bisher nur i n etwa 30-40 von insgesamt 11000 Betrieben der Metallindustrie zutage getreten seien; allerdings handele es sich dabei überwiegend u m Großbetriebe. Zudem warnte der Referent davor, die aufgetretenen Kontroversen auf das Konfliktmuster „kritische Betriebsratskandidaten versus Ortsverwaltung" zu reduzieren. — Probleme, die sich aus der gleichzeitigen Mitgliedschaft von Belegschaftsvertretern im Vertrauenskörper und Betriebsrat ergeben. Der Referent betonte, daß — aus der Sicht der I G Metall — Betriebsratsarbeit nicht Selbstzweck, sondern stets gewerkschaftliche Tätigkeit sei; deshalb seien schließlich Betriebsratsmitglieder der I G Metall zugleich auch Mitglieder der Vertrauenskörper i n ihren Betrieben. Probleme, die sich aus dieser Doppelfunktion ergäben, müßten deshalb i n erster Linie aus diesem gewerkschaftsorientierten Blickwinkel betrachtet und gelöst werden. — Schwierigkeiten bei der angemessenen Berücksichtigung der Angestellten, Ausländer und Frauen in den betrieblichen Vertretungsorganen. Der Referent sprach sich i n dem Zusammenhang für gemeinsame Wahlen der gewerblichen und Angestellten-Vertreter aus. Zur Vergrößerung des Anteils der weiblichen und ausländischen Arbeit-

Diskussion

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nehmer an den gewählten Vertretungen seien zusätzliche Anstrengungen notwendig. — Die Frage der Verankerung Satzungsorgan.

der Vertrauensleute

als unmittelbares

Für die I G Metall lehnte der Referent Vertrauensleute als unterstes Satzungsorgan zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit der Begründung ab, daß die Vertrauensleutearbeit dafür noch nicht ausreichend entwickelt sei und daß eine solche statutarische Aufwertung der Vertrauensleute betriebssyndikalistischen Tendenzen Vorschub leisten würde. — Das Problem glieder.

der Vertretung

der unorganisierten

Belegschaftsmit-

Bei dieser Problematik verwies der Referent auf die Regelung i n der I G Metall, nach der die Vertrauensleute zwar ausschließlich von den Gewerkschaftsmitgliedern i n den Wirkungsbereichen gewählt würden, nach der es jedoch auch Aufgabe der Vertrauensleute sei, alle, also auch die unorganisierten Kollegen i n ihren Wirkungsbereichen, zu vertreten. Ausdruck dieser Regelung sei i m übrigen die Tatsache, daß sich die Größe der Wirkungsbereiche nicht nach der Zahl der Organisierten, sondern nach der Gesamtzahl der Belegschaftsmitglieder bemesse. — Die Kontroverse zwischen unmittelbar betroffenen Belegschaften und deren Betriebsvertretungen einerseits sowie der IG Metall als Organisation andererseits im aktuellen Fall des U-Boot-Baus für Chile in Kiel. Der Referent sprach sich eindeutig gegen Rüstungsausweitung und m i t h i n gegen die Auslieferung der U-Boote an Chile aus und berief sich dabei auf die entsprechende Beschlußlage i n seiner Organisation. Die Tatsache, daß die Diskussion der Arbeitsplatzsicherung i m dezentralen Bereich davon abweichend geführt werde, sei zu bedauern. Dieser Konflikt zwischen zentraler und dezentraler Ebene müsse jedoch ausgetragen werden. — Das Problem des die Vertrauensleute gebührend berücksichtigenden Delegiertenschlüssels für Vertrauensleute-Konferenzen. Der K r i t i k eines Teilnehmers der Arbeitsgruppe, an der 10. Konferenz für Vertrauensleute der I G Metall (1979) hätten zu wenige „reine" Vertrauensleute teilgenommen (von 351 Delegierten seien immerhin 265 Betriebsratsmitglieder gewesen), entgegnete der Referent, daß nach dem Verständnis der I G Metall organisierte Betriebsratsmitglieder zugleich auch Vertrauensleute seien. Auch auf hauptamtliche Sekretäre könne man keineswegs verzichten; denn dies

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würde die Effektivität der Kommunikation zwischen Betriebsfunktionären und Organisation unnötig belasten. I m übrigen sei der Delegiertenschlüssel grundsätzlich von Konferenz zu Konferenz veränderbar. Für die nächste zentrale Vertrauensleute-Konferenz sei der Verzicht auf die sonst üblichen zahlreichen Gäste vorgesehen. Zum Kurzreferat 2: Gewerkschaftliche Institutionalisierung betrieblicher Basisorgane — Entstehung und gegenwärtige Funktion der Delegiertenräte i n Italien (Referent: Günther Bechtle) Folgende Fragen und Problembereiche standen i m Mittelpunkt: — Struktur

und Funktion

der Delegiertenräte.

Der Referent skizzierte die Konstituierungsmodalitäten der Delegiertenräte und Exekutivausschüsse und grenzte die Funktionen beider Gremien voneinander ab. — Die These des Referenten, die Entstehung gewerkschaftlicher Akt" gewesen.

der Delegierten

sei „ein

Der Referent erläuterte seine — gegen die „Sponti-These" gerichtete — Auffassung und konkretisierte den von i h m erwähnten „Verschmelzungsprozeß" als einen Vorgang der „Überlappung" der jüngeren Massenbasis einerseits und der älteren, kampferfahrenen Arbeiter andererseits. Zur Begründung für die gemeinsame Delegiertenpolitik der drei großen Gewerkschaften Ende der sechziger Jahre führte der Referent die gemeinsam von den Verbandsführungen gewonnene Einsicht an, die derzeitige gewerkschaftliche Schwäche durch die Förderung der konstituierenden Delegiertenräte (als Einheitsorgane) zu überwinden und auf diese Weise vor allem die betriebliche Lohnpolitik zu kontrollieren. — Das Problem der gewerkschaftlichen Orientierung der Delegierten heute bzw. des realen (Kräfte-)Verhältnisses zwischen Delegierten und Gewerkschaften in der gegenwärtigen (dreifachen) DelegiertenKrise. Der Referent schätzte die gewerkschaftliche Orientierung bzw. A n bindung der Delegierten als außerordentlich ungleichmäßig ein. Wenngleich die Delegierten i m Spannungsfeld zwischen zum Teil betriebsegoistischen Anforderungen der Arbeitsgruppen einerseits und überbetrieblichen Anforderungen der Gewerkschaften andererseits stünden, sei es der „Normalfall", daß sich die regionalen bzw. zentralen Gewerkschaftsverbände gegenüber den Delegierten durchsetzten. Das heiße jedoch nicht, daß die Kontrolle der Delegierten durch ihre Arbeitsgruppen nicht mehr funktioniere; die Delegierten seien îiaçh wie vor an ein imperatives Mandat gebunden, und die

Diskussion

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Arbeitsgruppen machten von dem Hecht, ihren Delegierten jederzeit abzuwählen, häufig Gebrauch. Zum Kurzreferat 3: Arbeitsmöglichkeiten gewerkschaftlicher Betriebssektionen i n Frankreich 1968 - 1981. Eine Bilanz (Referent: Peter Jansen) Die Möglichkeiten und Grenzen betriebsbezogener gewerkschaftlicher Interessenvertretung i n Frankreich wurden u. a. am Beispiel der Stahlkrise i n Lothringen diskutiert. A u f der betrieblichen Ebene konnten Sozialpläne abgeschlossen werden, die negative Folgen der Krise abwehrten. Trotz dieses gewerkschaftlichen Erfolges wurde jedoch deutlich, daß der Handlungsspielraum der lokalen Gegenwehr i n Großbetrieben sehr gering ist, da die Entscheidungsträger nicht auf lokaler Ebene angesiedelt sind. Anders ist die Situation i n Kleinbetrieben. Wenn dort die Gefahr einer Stillegung besteht, finden Arbeitskämpfe statt, die zunächst m i t einer Betriebsbesetzung beginnen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Informationen über das Unternehmen, die man vorher durch den Betriebsausschuß erhalten hat. I m Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht dabei die Frage, ob sich der Betrieb in Form einer Kooperative weiterführen läßt. Dadurch entsteht eine autonome Gegenwehr auf betrieblicher Ebene. Diskutiert wurden des weiteren Zielvorstellungen für eine Demokratisierung der Wirtschaft. Die Position der CFDT beinhaltet, daß die gegebene Wirtschaftsordnung nicht demokratisch ist, egal welche minimalen Teilhaberechte dem einzelnen Arbeitnehmer zugestanden sein mögen. Das, was man durch gewerkschaftliche Organisation erreichen kann, ist der Versuch, die Arbeitnehmer i m Betrieb zu emanzipieren, sie durch Gewerkschaftsarbeit vorzubereiten auf eine Struktur, i n der sie nicht mehr friedliche Koexistenz m i t dem Kapital üben, sondern selbst den Betrieb übernehmen. Zum Kurzreferat 4: Der Ausbau betriebsbezogener gewerkschaftlicher Organisationsstrukturen nach dem Sturz der Franco-Diktatur (Referent: Antonio

Ojeda-Aviles)

Die vergleichsweise kurze Diskussion — die zudem noch unter erheblichen Verständigungsschwierigkeiten zwischen den deutschen Teilnehmern und dem spanischen Referenten l i t t — bezog sich fast ausschließlich auf Probleme des Gewerkschaftspluralismus. Der Referent führte aus, daß der Gewerkschaftspluralismus von unternehmerischer und staatlicher Seite stets gefördert worden sei und noch werde und

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Diskussion

daß der jüngste, auf die Unterstützung der politischen Rechten zurückzuführende Wahlerfolg der USO i n den Betrieben ein wichtiger Erfolgspunkt dieser Strategie sei. Andererseits hätten aber weder die UGT noch die CCOO bisher dazu beigetragen, die gewerkschaftliche Einheit herzustellen. Insofern sei die Besinnung der beiden größten Richtungsgewerkschaften auf die stärkere Nutzung der Betriebsausschüsse als Einheitsorgane dringend geboten.

Themenkreis 2 Integration gewerkschaftlicher Tarif- u n d Betriebspolitik Betriebliche Voraussetzungen gewerkschaftlicher Arbeitekampffähigkeit. Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland1 Von Helmut Martens, Dortmund 1. Fragestellung und theoretische Vorüberlegungen M i t dem Titel dieses Referats ziele ich auf einen wichtigen Aspekt der Beziehungen zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Gewerkschaftspolitik. Es geht m i r u m das Verhältnis von gewerkschaftlicher Betriebspolitik und Arbeitskampffähigkeit der Gewerkschaften. Ich w i l l versuchen, die These zu begründen, daß angesichts veränderter ökonomischer Bedingungen jene betriebspolitischen Voraussetzungen gewerkschaftlicher Streikfähigkeit nicht mehr hinreichend sind, von denen aus i n den 60er und frühen 70er Jahren noch tarifpolitische Erfolge möglich waren. Ich beschränke mich dabei i m wesentlichen auf offizielle gewerkschaftliche Tarifstreiks 2 . I m Zuge der Begründung der Ausgangsthese ergibt sich die Frage, ob die Bewältigung einiger sichtbar gewordener Probleme gewerkschaftlicher Arbeitskampfführung i m Zusammenhang mit Tarifstreiks durch die i n jüngerer Zeit innergewerkschaftlich vielfach geforderte engere Verklammerung von Betriebs- und Tarifpolitik erreicht werden kann, oder ob nicht eine Erhöhung gewerkschaftlicher Durchsetzungs1 Redaktionell überarbeitete u n d u m erläuternde A n m e r k u n g e n erweiterte Fassung des mündlich gehaltenen Referats auf der 16. Internationalen Tagung der Sozialakademie D o r t m u n d i m Februar 1981. 2 Diese Beschränkung erfolgt auf G r u n d des begrenzten Zeitraums, der für den mündlichen V o r t r a g zur Verfügung stand. Denn auch inoffizielle Streiks auf einzelbetrieblicher Ebene (gleichgültig ob vereinzelt oder i m Z u sammenhang m i t größeren Streikwellen w i e 1969 u n d 1973) müssen als gewerkschaftliche Streiks angesehen werden, da ihre Organisatoren i n aller Regel betriebliche Gewerkschaftsfunktionäre sind u n d die Inhalte, u m die offene Auseinandersetzungen geführt werden, nachhaltig durch die gewerkschaftliche T a r i f - u n d Betriebspolitik geprägt sind.

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Helmut Martens

fähigkeit eine Veränderung traditioneller Muster gewerkschaftlicher Politik i n beiden Politikbereichen erfordern würde, die dann aber auch für die Wirtschaftspolitik, Mitbestimmungspolitik usw. der Gewerkschaften folgenreich sein könnte. Der nachfolgenden Problemskizze liegt die allgemeine Überlegung zugrunde, daß Gewerkschaften zur wirksamen Interessenwahrnehmung nicht allein betrieblich aktionsfähiger werden müssen, sondern die Einschränkung der Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander und die Auseinandersetzung m i t dem Kapital immer auf mehreren Ebenen verfolgen müssen: auf der überbetrieblichen (also regionalen, sektoralen und nationalen) und auf der Einzelkapitalebene (also i n Betrieben, Unternehmen und Konzernen). Dazu genügt es nicht, auf allen Ebenen gewerkschaftspolitisch präsent zu sein. Entscheidend ist, daß die Gewerkschaften stets einen Vermittlungszusammenhang zwischen der Herausbildung von Interessen und den Auseinandersetzungen auf den einzelnen Ebenen herstellen. Dabei kommt es darauf an, i m Rahmen der branchenbezogenen Tarifpolitik i m Sinne der Interessenvereinheitlichung möglichst hohe Mindestnormen für die Entlohnungs- und A n wendungsbedingungen der Arbeitskraft durchzusetzen und i m Rahmen der gewerkschaftlichen Betriebspolitik die allgemein gehaltenen tariflichen Normen betrieblich umzusetzen und die überbetrieblicher Vereinheitlichung nicht zugänglichen einzelbetrieblichen Besonderheiten — also die sich aus der spezifischen Produktionsstruktur, der besonderen wirtschaftlichen Lage usw. ergebenden besonderen Gefährdungen bzw. Spielräume für die Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen — gewerkschaftlich mitzugestalten, ohne daß sich daraus Zielkonflikte mit der überbetrieblichen gewerkschaftlichen Vereinheitlichung von A r beitnehmerinteressen ergeben. Wie die gewerkschaftliche Entwicklung i n verschiedenen kapitalistischen Industriestaaten zeigt, besteht das bezeichnete Vermittlungsproblem unabhängig vom System der industriellen Beziehungen und Regelungen und darf keinesfalls als alleiniges Problem der Gewerkschaften i n der Bundesrepublik angesehen werden, das etwa auf die Besonderheiten des hiesigen „dualen Systems" der Interessenvertretung zurückzuführen wäre. Vielmehr w i r d i n den jeweiligen rechtlich-institutionellen Formen lediglich die widersprüchliche Entwicklungslogik des Kapitals i m Verhältnis von Einzel- und Gesamtkapital i n spezifischer Brechung reproduziert. Aus der hier skizzierten Überlegung bezüglich eines zentralen Erfordernisses gewerkschaftlicher Politik leitet sich auch das von m i r zugrunde gelegte Konzept von gewerkschaftlicher Betriebspolitik ab: Ich verstehe unter gewerkschaftlicher Betriebspolitik die auf die Einzel-

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kapitalebene bezogene gewerkschaftliche Politik. Der Begriff umfaßt also sowohl die Politik der Interessenvertretungsorgane i m Betrieb und Unternehmen selbst als auch die auf die betriebliche Interessendurchsetzung bezogene Politik der außerbetrieblichen Gewerkschaftsorganisation. Veränderungen gewerkschaftlicher Interessendurchsetzungspolitik auf der Einzelkapitalebene selbst ζ. B. müssen auch Auswirkungen auf jene überbetrieblich verallgemeinerten A k t i v i t ä t e n haben, die vermittelt auf die Einzelkapitalebene zielen oder die dort entwickelten Politikmaßnahmen koordinieren sollen. Gewerkschaftliche Betriebspolitik findet also auf beiden Ebenen statt, und der Begriff schließt nicht zuletzt die A r t der Vermittlung zwischen beiden Ebenen ein 3 . 2. Zur Lösung des Vermittlungszusammenhangs im rechtlichinstitutionellen System der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland Zweifellos sind die Kapital-Arbeit-Beziehungen i n der Bundesrepub l i k Deutschland durch eine i m westeuropäischen Vergleich relativ geringe Streikhäufigkeit gekennzeichnet. Dieser Sachverhalt ist bekannt und hat verschiedene Gründe: — Die wirtschaftliche Entwicklung bis zur Mitte der 70er Jahre, — die Betriebsverfassung i n ihrer konfliktregulierenden Bedeutung, — ein überwiegend von der Arbeitsrechtssprechung bestimmtes restriktives Arbeitskampfrecht — sowie das innerhalb der Gewerkschaften vorherrschende Verständnis, nach dem der „soziale Frieden" zu den positiven Merkmalen der bundesdeutschen Verhältnisse gehört und der Streik als das äußerste Mittel, als „das Schwert an der Wand", angesehen wird, dessen Einsatz bewußt begrenzt wird. Für die Verhältnisse i n der Bundesrepublik Deutschland ist ferner charakteristisch, daß die Gewerkschaften weitgehend darauf verzichtet haben, ihr tarifpolitisches Instrumentarium für betriebspolitische A k t i vitäten nutzbar zu machen. Vielmehr werden m i t Tarifverträgen allgemeine Sockelbedingungen der Entlohnung und Anwendung der Arbeitskraft fixiert, während oberhalb dieses Sockels ein mehr oder minder großer Spielraum für Differenzierungen auf der Einzelkapitalebene verbleibt. Nicht zuletzt m i t dieser, durch die Betriebsverfassung 8 Vgl. dazu ausführlicher Dzielak, W. u.a.: Belegschaften u n d Gewerkschaften i m Streik, am Beispiel der chemischen Industrie, F r a n k f u r t / N e w Y o r k 1978, S. 35 - 42 u n d S. 98 ff.

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ja keineswegs erzwungenen Selbstbescheidung der Tarifpolitik ist eine relative Verselbständigung der einzelbetrieblichen Interessenvertretung verknüpft, die die Durchsetzung (und auch schon die Formulierung) integrierter betriebs- und tarif politischer Strategien wesentlich beeinträchtigt. I n der Bundesrepublik wurde das mehrfach sehr deutlich, — so ζ. B. mit der seit Mitte der 50er Jahre immer größer werdenden Spanne zwischen Tarif- und Effektivlöhnen, die etwa i n der Stahlindustrie oder i n den Betrieben der Großchemie Größenordnungen von 50 °/o der Tariflöhne überschritt, — so ζ. B. i n der Rezession 1966/67 an den eng begrenzten betrieblichen Abwehrmöglichkeiten gegen unternehmerische Angriffe auf das Lohn- und Beschäftigungsniveau, — so ζ. B. i n den Wellen inoffizieller Streiks 1969 und 1973, die ja nicht zuletzt auch Symptome tarifpolitischer Schwächen der Gewerkschaften i m beginnenden Boom waren. — Ebenso dokumentierten einzelne Tarifbewegungen, so ζ. B. die Chemietarifrunde 1970 i n Hessen, daß gerade die Verselbständigung der einzelbetrieblichen Interessenvertretungspolitik i n den Jahren wirtschaftlicher Prosperität sich als ein Hemmnis für einzelgewerkschaftliche Tarifpolitik erwies, die darauf zielte, die betrieblich gezahlten Effektivlöhne tarifpolitisch einzufangen. Gleichwohl blieben bis Mitte der 70er Jahre derartige gewerkschaftspolitische Schwächen eher verdeckt, oder schienen — gemessen an den tarifpolitischen Erfolgen — nicht schwerzuwiegen. Innergewerkschaftlich vertretene Konzepte einer stärkeren gewerkschaftlichen Durchdringung der betrieblichen Handlungsebene und einer fortschreitenden Stärkung gewerkschaftlichen Durchsetzungspotentials über die stärkere Verknüpfung von Tarif- und Betriebspolitik i m Wege betrieblicher Mobilisierungskonzepte — deren Bestandteile die Vertrauensleutepolitik, eine betriebsbezogene Bildungsarbeit, betriebsnahe Tarifpolitik und Mitbestimmung am Arbeitsplatz sein sollten — fanden so nicht genügend Resonanz, u m sich durchsetzen zu können 4 .

4

Z u der breiten innergewerkschaftlichen Diskussion über Formen betriebsnäherer T a r i f p o l i t i k vgl. z. B. Dzielak, W. u. a. 1978, S. 75 ff.; zur unterschiedlichen praktischen Bedeutung derartiger Konzeptionen für die deutschen Gewerkschaften einerseits, die italienischen auf der anderen Seite siehe Zoll, Rainer: Centralisation and Decentralisation as Tendencies of U n i o n Organisatörial and Bargaining Policy, i n : Crouch/Pizzorno (Ed.), The Resurgence of Class Conflict i n Western Europe since 1968, Vol. 2; Comparative Analyses. London/Basingstoke.

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3. Gewerkschaftliche Tarifstreiks und ihre betriebspolitischen Voraussetzungen Ich möchte nun am Beispiel der i n der Bundesrepublik vorherrschenden Form gewerkschaftlicher Tarifstreiks die betriebspolitischen Bedingungen wirksamer gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht etwas näher betrachten. Probleme mit Streikbrechern, dem Abbröckeln einer Streikfront und i n der Folge m i t massiven Disziplinierungsmaßnahmen seitens einzelner Unternehmen traten bei einigen Streiks zu Beginn der 50er Jahre auf (insbesondere beim bayerischen Metallarbeiterstreik und dem niedersächsischen Gipsarbeiterstreik 1954)5, spielten danach aber eine vergleichsweise geringere Rolle (wichtige Ausnahme: Chemiestreik 1971). M i t einem sich allmählich herausbildenden Typus disziplinierter unid zentralisierter Streikführung, der der inhaltlichen Betriebsferne der Tarifpolitik durchaus entspricht, ließen sich zugleich auch lange Zeit Schwierigkeiten vermeiden, wie sie etwa 1956/57 beim Metallarbeiterstreik i n Schleswig-Holstein auftraten®. Waren dort mehrere Urabstimmungen erforderlich, u m schließlich eine knappe Mehrheit für einen vom Vorstand der Gewerkschaft befürworteten Kompromiß zu erreichen, so waren die großen Streiks der I G Metall i m Tarifgebiet Nordwürttemberg/Nordbaden (1963, 1971 und 1973) bis zur Mitte der 70er Jahre jeweils durch relativ hohe Zustimmungsquoten gekennzeichnet. Diese drei baden-württembergischen Streiks können i n mancher Hinsicht als ein vor dem Hintergrund der rechtlich institutionellen Rahmenbedingungen und der Streikerfahrungen der I G Metall i n der ersten Hälfte der 50er Jahre geprägtes Modell gewerkschaftlicher Streikführung i n der Bundesrepublik Deutschland gelten 7 . Seine wesentlichen Charakteristika seien hier kurz benannt: 6 Z u m Bayerischen Metallarbeiterstreik vgl. Schmidt, R.: Konflikterfahrung u n d Konfliktbewußtsein. Der bayerische Metallarbeiterstreik v o n 1954 u n d seine A u s w i r k u n g e n auf die Interessenorientierung v o n Arbeitern, E r langen 1975. Z u m Gipsarbeiterstreik i n Niedersachsen siehe Schäfer, W. (Hg.): Eure Bänder rollen, n u r w e n n w i r es wollen! Arbeiterleben u n d Gewerkschaftsbewegung i n Südniedersachsen. Beiträge zur Geschichte der I G Chemie-Papier-Keramik zwischen Harz u n d Weser 1899 - 1979, Hann.-Münden 1979. β Z u m Metallstreik i n Schleswig-Holstein siehe u . a . K a l b i t z , R . : B i o graphie über den Streik der I G M e t a l l i n Schleswig-Holstein 1956 - 57, Bochum (Ma.) 1969 u n d Bergmann,J. u.a.: Gewerkschaften i n der Bundesrepublik, F r a n k f u r t / K ö l n 1975, S. 224 ff. 7 Vgl. zum Streik 1963 Hoss, D.: Die Krise des institutionalisierten Klassenkampfes, Metallarbeiterstreik i n Baden-Württemberg, F r a n k f u r t 1974 u n d zum Streik 1971 Meyer, R.: Streik u n d Aussperrung i n der Metallindustrie, Marburg 1977. Eine zusammenfassende Charakterisierung der T a r i f p o l i t i k i m Bezirk Stuttgart der I G M e t a l l findet sich bei Dzielak, W. u. a.: Den Besitzstand sichern! Der Tarifkonflikt 1978 i n der Metallindustrie Baden-Württembergs, F r a n k f u r t / N e w Y o r k 1979, S. 25 ff.

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— Wegen der i n der Bundesrepublik üblichen Zahlung von Streikunterstützung seitens der Gewerkschaften entwickelte die I G Metall das Konzept des Teilstreiks, der i n einem Vorreiterbezirk geführt w i r d und dessen Ergebnisse anschließend auf die übrigen Tarifgebiete übertragen werden. — Die I G Metall verfügte über gesicherte Organisationsgrade und wirksame gewerkschaftliche Traditionen i n wichtigen Betrieben des Tarifgebiets und beschränkte sich weitgehend darauf, die Arbeiterbelegschaften i n den Streik zu führen. — Das Streikhandeln der Belegschaften war weitgehend durch deren disziplinierte Folgebereitschaft bestimmt. Die Masse der Mitglieder verblieb i n einer eher passiven Rolle und wurde allenfalls zu Warnstreiks bei Beginn und zentralen Demonstrationen und Kundgebungen gegen Ende der Tarifauseinandersetzung mobilisiert. — Die I G Metall konnte sich bei der Durchführung der Streiks — der Organisation von Notdiensten, der Einteilung von Streikposten usw. — auf die Bereitschaft ihrer betrieblichen Gewerkschaftsfunktionäre stützen, ihrer Organisation i n den Streik zu folgen. — Die herausgehobene Situation des Streiks wurde aber zugleich i m Bewußtsein und auch i n der Praxis der ihn tragenden betrieblichen Funktionäre weitgehend von der alltäglichen Interessenvertretungspolitik i m Betrieb getrennt. Die dort ausgebildeten Muster der Konfliktaustragung und -regulierung blieben vom Streik als einer Auseinandersetzung zwischen den Verbänden weitgehend unberührt. Betrachtet man die materiellen Ergebnisse dieser Tarifauseinandersetzungen, das relativ hohe Maß an Zustimmung seitens der Mitglieder sowie die gerade i n den Streikjahren wachsenden Mitgliederzahlen der I G Metall, so muß man diese A r t gewerkschaftlicher Streikführung als durchaus effektiv bezeichnen. Es zeigten sich aber auch schon unter den relativ günstigen wirtschaftlichen Bedingungen während der 60er und frühen 70er Jahre die Grenzen dieses Modells gewerkschaftlicher Streikführung, und es wurden negative Folgen der Verselbständigung von Tarifpolitik und Betriebspolitik sichtbar, die diesem Modell zugrunde liegen. — Tarifpolitische Schwächen zeigten sich zum Teil dort, wo anderen Gewerkschaften i m DGB außerhalb von Traditionsbereichen Tarifstreiks aufgezwungen wurden. So mußte die I G Chemie-PapierKeramik etwa 1971 die Erfahrung machen, daß gewerkschaftlich organisierte Betriebsratsmitglieder Streikaktionen von Belegschaften oder Belegschaftsgruppen nicht unterstützten oder sogar bewußt zu vermeiden suchten, u m ihre sozialpartnerschaftliche Betriebsrats-

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politik nicht zu gefährden, und daß vor allem i n den Betrieben der Großchemie hinreichend handlungsfähige gewerkschaftliche Funktionärskörper fehlten. Ein Teilstreik nach vorausgegangener U r abstimmung wurde deshalb vom Vorstand der Gewerkschaft als nicht möglich erachtet. Die statt dessen gewählte Form eines „aktiven tariflosen Zustands" m i t wechselnden, zeitlich kurz befristeten Aktionen seitens gewerkschaftspolitisch „sicherer" Belegschaften stieß aber auf das Unverständnis der Streikenden, die auf den unbefristeten Vollstreik drängten — und unterstützende Streikaktionen gerade auch aus den Betrieben der Großchemie erwarteten. — I m Streikverlauf wurde schließlich sichtbar, daß Belegschaften, die i n der stoffumwandelnden chemischen Industrie gewöhnlich sehr komplexen betrieblichen Produktionsstrukturen für eine effektive Streikführung oft nicht hinreichend beherrschten und daß die außerbetriebliche Gewerkschaftsorganisation den zwischenbetrieblichen Produktionsverbund nicht so gut überblickte, daß von dieser Seite her eine gezielte vermittelte Beeinträchtigung der Produktion nicht bestreikter bzw. infolge der gewerkschaftlichen Schwäche nicht bestreikbarer Betriebe möglich wurde 8 . — Betrachten w i r den Organisationsbereich der I G Metall, so sehen w i r , daß selbst sehr erfolgreiche Teilstreiks, wie der Streik u m den Lohnrahmentarifvertrag I I i n Baden-Württemberg 1973, insofern i n ihrer Wirkung begrenzt blieben, als es nicht mehr gelang, das i m Vorreiterbezirk durchgesetzte qualitative Tarifergebnis auf andere Tarifgebiete zu übertragen. A u f dieses Problem ist die I G Metall seither wiederholt gestoßen9. — Gerade i m Metallstreik 1973, der u m sogenannte qualitative Forderungen — nach Erholzeiten, der Verlängerung von Taktzeiten, einer Verdienstsicherung für ältere Arbeitnehmer usw. — geführt wurde, zeigte sich das Problem der Umsetzung von Tarifverträgen i m Betrieb besonders deutlich. Wenn etwa die gleichen Funktionäre, die die Tarifforderung per Streik durchgesetzt hatten, anschließend erklärten, bei ihnen i m Betrieb seien dessen Bestimmungen aber keinesfalls zu realisieren, verweist dies eindringlich auf Parzellierungserscheinungen i m Verhältnis von Tarif- und Betriebspolitik. Die I G Metall mußte hier Antworten auf eine mangelnde reale ge8 Z u m Chemiearbeiterstreik 1971 vgl. Dzielak, W. u. a. Belegschaften u n d Gewerkschaft i m Streik. A m Beispiel der chemischen Industrie. Frankfurt/ New Y o r k 1978, S. 346 - 408. ® So ζ. B. i m Zusammenhang m i t der Übertragung des 1978 i n N o r d w ü r t temberg/Nordbaden durchgesetzten Absicherungstarifvertrags. Vgl. dazu Dzielak, W. u. a. 1979, A n m . 7, S. 74 ff. u n d S. 169.

9 Tagung Dortmund 1981

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werkschaftliche Durchdringung einzelbetrieblicher tretungspolitik suchen.

Interessenver-

Gilt so bis zur Mitte der siebziger Jahre, daß zwar eine Reihe von Begrenzungen gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht auf Grund des parzellierten Zusammenhangs von Tarif- und Betriebspolitik erkennbar wurden und die Formen mancher heftiger Konflikte (gegenüber den Unternehmen und ihren Verbänden, aber auch innergewerkschaftlich) prägten, so war doch nicht i n Frage gestellt, daß tarifpolitische Erfolge i n bezug auf die Gestaltung allgemeiner Mindestnormen möglich waren. I n den Streiks 1978/79 zeigte sich aber, daß nunmehr i n der Folge der Krise und angesichts fortschreitender Rationalisierung auch hier die Grenzen enger gezogen sind. — Die vornehmlich auf die Arbeiterbelegschaften gestützte Form der Streikführung konnte der wachsenden Bedeutung der Gruppe der Angestellten nicht mehr gerecht werden. Zum einen haben die A n gestellten auf Grund ihrer großen Bedeutung für die zentrale Steuerung von Konzernen und ihrer zunehmenden produktionssteuernden, -beeinflussenden und überwachenden Funktionen (EDV-Einsatz, Bedeutung der Konstruktionsabteilung bei hoch spezialisierter Fertigung kleiner Losgrößen i n der Maschinenbau- und elektrotechnischen Industrie) inzwischen eine z.T. erhebliche Relevanz für die Entwicklung wirtschaftlichen Drucks auf die Unternehmen. Zum anderen folgt aus dem wachsenden zahlenmäßigen A n t e i l der A n gestellten, daß eine quasi stellvertretende Streikführung der Arbeiterbelegschaften für eine alle Beschäftigten betreffende Forderung sehr schnell zu Spannungen innerhalb der Belegschaften führen kann. Dies veranlaßte die I G Metall 1978 i n Nordwürttemberg/Nordbaden, die Angestellten stärker als früher i n den Streik einzubeziehen. Dabei zeigte sich, daß bei dieser — insgesamt noch recht schwach gewerkschaftlich organisierten — Arbeitnehmergruppe die bewährten Formen fallweiser Mobilisierung nicht ausreichten und veränderte Formen der Mitgliederbeteiligung und Mobilisierung angezeigt waren. — Vor allem aber hat sich am Beispiel der jüngsten Arbeitskämpfe der I G Metall und insbesondere i m Stahlstreik 1978/79 angesichts der i n der Folge der Krise 1974/75 nachhaltig veränderten ökonomischen Bedingungen gezeigt, daß die Durchschlagskraft von Teilstreiks auch i m Streikgebiet selbst begrenzt ist. Angesichts unausgelasteter Kapazitäten ist es kaum mehr möglich, m i t dem Konzept des Teilstreiks starken wirtschaftlichen Druck zu erzeugen. Zudem sind angesichts der Geschlossenheit des Arbeitgeberlagers und des vermehrten Einsatzes des Instruments der Aussperrung tarifpoli-

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tische Einbrüche i n den m i t dem „Tabu-Katalog" bezeichneten Bereich der für die Arbeitgeber nicht tarifvertragsfähigen Regelungen selbst dann, wenn wirtschaftlicher Druck erzeugt werden kann, durch diesen allein kaum mehr zu erreichen. 4. Alternativen wirksamer gewerkschaftlicher Streikführung und ihre betriebspolitischen Voraussetzungen I m Anschluß an die Arbeitskämpfe i m Frühjahr 1978 und i m Winter 1978/79 i n der Metall- und Stahlindustrie hat der Vorstand der I G Met a l l auf Grenzen der traditionellen gewerkschaftlichen Streikführung hingewiesen (Gewerkschafter 5/1979) und eine Diskussion über eine „neue tarifpolitische Beweglichkeit" begonnen, die später allerdings kaum innergewerkschaftlich fortgesetzt wurde. Das mit dem Begriff der „neuen Beweglichkeit" belegte tarifpolitische Vorgehen zielt darauf ab, i m Rahmen eines zwischen Bezirksleitungen und Vorstand eng koordinierten Vorgehens erweiterte Mobilisierungsmaßnahmen möglichst hoher Flexibilität auf örtlicher und betrieblicher Ebene zu ergreifen. Offenbar ist an den — m i t Blick auf den inner- und zwischenbetrieblichen Produktionsverbund — gezielten Einsatz von unterschiedlich langen Warnstreiks i m Wechsel m i t breiteren Mobilisierungsbewegungen aus Anlaß von Demonstrationen und Kundgebungen gedacht, die auf eine breitere Öffentlichkeitswirkung zielen. Dabei könnten auch — unter Nutzung der Arbeitsrechtssprechung, die neuerdings das M i t t e l des Warnstreiks i n Grenzen für zulässig erklärt hat — derartige Formen der Mobilisierung auf mehrere Tarifgebiete ausgeweitet werden. Hier handelt es sich also u m Formen der Arbeitskampfführung, wie sie unter ganz anderen Bedingungen 1971 von der I G Chemie-PapierKeramik ähnlich versucht wurden — übrigens ganz bewußt i n Anlehnung an flexible Streiktaktiken, ζ. B. des rollenden Streiks oder Schachbrettstreiks, die Ende der 60er Jahre i n Italien erprobt worden waren. Die Schwierigkeiten, die bei einer solchen Streiktaktik auftreten können, verweisen darauf, daß erhöhte Handlungskompetenzen i n zentralen Führungsgremien wie auch auf einzelbetrieblicher Ebene (also auf den dezentralen Organisationsebenen) zu ihren Erfolgsvoraussetzungen gehören. Es ist also wichtig, die Bedingungen gewerkschaftlicher Streikfähigkeit auf einzelbetrieblicher Ebene zu erhöhen und zugleich das Problem der Vermittlung von betrieblicher und überbetrieblicher Ebene — zunächst nur auf koordiniertes Handeln i m Streik h i n — anders zu lösen. Betrieblich gefordert sind innerhalb eines taktisch koordinierten Vorgehens: — Formen aktiver Streikbeteiligung der Belegschaften, u m demonstrativen Druck erzeugen zu können,

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— Eigeninitiativen von betrieblichen Kadern und Belegschaften oder Belegschaftsgruppen, — Kenntnisse der betrieblichen Produktionsstruktur und des zwischenbetrieblichen Produktionsverbunds, u m m i t kleineren Streikaktionen weiterreichende mittelbare Wirkungen zu erreichen. A l l diese Elemente beweglicher Streikführung lassen sich aber nicht voraussetzungslos i m Verlauf einer Tarifauseinandersetzung selbst erst entwickeln, wie sich i m Chemiestreik 1971 gezeigt hat. Damit w i r d tendenziell zu einer Bedingung erfolgreichen Streikhandelns: — die stärkere Einbeziehung der Mitglieder auch i n die alltägliche betriebliche Interessenvertretungspolitik, — eine vermehrte Reflexion über Streikverständnis, Kampfformen und Bedingungen ihres Einsatzes innerhalb betrieblicher Funktionärskörper, — eine i m Vorfeld von Tarifrunden den Streikfall ggf. frühzeitig antizipierende Interessenvertretungspolitik, die frühen Vorkehrungen der Unternehmensleitungen (ζ. B. Bevorratung) zu begegnen weiß. So zeigt sich also schon bei einer bloßen Betrachtung gewerkschaftspolitischer Durchsetzungsformen, daß taktische Variationen bei der Durchführung von Tarifauseinandersetzungen nur i n dem Maße w i r k sam werden können, wie sie m i t veränderten Formen alltäglicher gewerkschaftlicher Betriebspolitik vorbereitet werden. Die inhaltliche Verknüpfung zwischen beiden Politikbereichen ist von mindestens gleich großer Wichtigkeit. I m Organisationsbereich der I G Metall w i r d sie, wie schon erwähnt, seit dem Lohnrahmentarifvertrag I I und vor allem i n jüngster Zeit vornehmlich unter dem Aspekt der betrieblichen Umsetzung allgemeiner tarifpolitischer Ergebnisse diskutiert. Eine gewisse qualitative Ausweitung der Gegenstände gewerkschaftlicher Tarifpolitik i n bezug auf zwischenbetrieblich höchst unterschiedlich ausgeformte Bedingungen des Einsatzes menschlicher Arbeitskraft, der Regelung der täglichen Arbeitszeit sowie der Sicherung von Lohn und Gehalt angesichts von Dequalifizierungstendenzen i m Gefolge technischer Rationalisierungsmaßnahmen, gibt dieser Umsetzungproblematik ihre gewerkschaftspolitische Bedeutung. Die Tarifpolitik der Gewerkschaften versucht hier also m i t einigen vorsichtigen, aber doch wichtigen Schritten, solche Mitgliederinteressen aufzugreifen, die i n der Vergangenheit eher der Betriebspolitik „vor Ort" durch die gewerkschaftlich organisierten Betriebsratsmitglieder überlassen wurden.

Voraussetzungen gewerkschaftlicher Arbeitskampffähigkeit

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Die seither eher verstärkte inhaltliche Erweiterung von Gegenständen gewerkschaftlicher Tarifpolitik (Besetzungsregeln i n der Druckindustrie, Absicherungstarifverträge und Arbeitszeitverkürzung i n Teilen der Metallindustrie und i n der Stahlindustrie) unterstreicht das Erfordernis, betriebsnähere Formen gewerkschaftlicher Tarifpolitik zu entwickeln und eine strategisch gerichtete Vermittlung zwischen Tarifund Betriebspolitik zu erreichen. Die Entwicklung verweist nicht so sehr auf die erhöhte oder veränderte Bedeutung der sektoralen Tarifpolitik 1 0 , als vielmehr darauf, daß formell, aber auch inhaltlich, eine stärkere Verknüpfung betrieblicher wie überbetrieblicher Abwehrkämpfe erforderlich wird, wenn die Gewerkschaften i n der Bundesrepublik angesichts zunehmend schwierigerer wirtschaftlicher Bedingungen die Interessen der abhängig Beschäftigten mit ihrer Tarif- und ihrer Betriebspolitik wirksam verteidigen wollen. Und absehbar stellt sich auch die Frage, ob nicht auch i n bezug auf die Formen der einzelbetrieblichen Interessendurchsetzung eine Vergewerkschaftlichung i n der Behandlung zentraler betrieblicher Konflikte erforderlich werden wird, m i t h i n jener Teil des vorherrschenden gewerkschaftlichen Streikverständnisses, nach dem Formen des Arbeitskampfes auf einzelbetrieblicher Ebene i. d. R. nicht als ggf. angemessene Form der Interessendurchsetzung angesehen werden, problematisch werden und die arbeitskampffähige Tarifpolitik zum Instrument gewerkschaftlicher Betriebspolitik werden muß. Wenn diese Einschätzung aber richtig ist, und wenn die Gewerkschaften i n der Bundesrepublik — bzw. die I G Metall i n ihrer Vorreiterrolle innerhalb des DGB — sich verstärkt genötigt sehen, ihre Tarif- und Betriebspolitik zu verknüpfen und strategisch gerichtet zu entfalten, dann können Veränderungstendenzen gewerkschaftlicher Politik auf der hier skizzierten Linie wohl kaum folgenlos für das gesamte Spektrum gewerkschaftlicher Politik bleiben: Neue tarifpolitische Beweglichkeit, verstärkte betriebspolitische Bemühungen u m die Umsetzung gewerkschaftlich durchgesetzter Tarifverträge und eine stärkere Vergewerkschaftlichung auch der Formen einzelbetrieblicher Konfliktaustragung weisen i n ihrer Entwicklungslogik auf die inhaltliche und formelle Verknüpfung beider Politikbereiche. Sie können nur dann erfolgreich praktiziert werden, wenn i m Rahmen erhöhter Koordinierungsbemühungen verstärkte Handlungskompetenzen auf dezentraler Ebene gefördert und entwickelt werden, denn nur darüber läßt sich auch das Durchsetzungspotential auf der zentralen Ebene 10

Z u r These eines Bedeutungszuwachses der sektoralen Ebene, bzw. einer Konfliktverlagerung d o r t h i n vgl. Müller-Jentsch, W.: Neue Konfliktpotentiale u n d institutionelle Stabilität. Beitrag zum 19. Deutschen Soziologentag 1979, in: Matthes, Joachim (Hg.): Sozialer Wandel i n Westeuropa, F r a n k f u r t 1979,

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sichern oder gar ausweiten. Sie verweisen damit aber auch auf das Erfordernis, der gewerkschaftlichen Mitgliederpolitik i n beiden Politikbereichen i m Sinne der aktiven Einbeziehung i n gewerkschaftliche Arbeit neue Impulse zu geben. Eine verstärkte Mobilisierung der M i t gliedschaft gegenüber den Folgen krisenhafter wirtschaftlicher Entwicklung und ihre erhöhte Beteiligung an der Formulierung und Durchsetzung entsprechender tarif- und betriebspolitischer Zielsetzung dürften sich aber z.B. nur schwer m i t einer Wirtschafts- und Mitbestimmungspolitik der westdeutschen Gewerkschaften vereinbaren lassen, die bis jetzt m i t Blick auf die internationale Konkurrenzfähigkeit noch eher den Modernisierungs- und Rationalisierungsbestrebungen der westdeutschen Unternehmen folgt und sich dabei mit wechselndem Erfolg der Milderung oder Abwendung negativer sozialer Folgen zuwendet. Vielmehr müßten m i t noch größerer Dringlichkeit auch Fragen nach den wirtschaftspolitischen Perspektiven gewerkschaftlicher Politik neu aufgeworfen und diskutiert werden.

Stellung und Funktion der britischen Shop Stewards in Tarifauseinandersetzungen Von E l i Marx, London Es ist ziemlich schwierig, dieses Thema i m Rahmen eines Kurzreferats zu behandeln, da es sich u m die Beschreibung von innerbetrieblichen gewerkschaftlichen Interessenvertretern handelt, die m i t betrieblichen gewerkschaftlichen Vertretungen i n anderen Ländern kaum zu vergleichen sind. Obwohl anzunehmen ist, daß die bestehenden Strukturen der britischen Gewerkschaften sowie der Rahmen der Arbeitsgesetzgebung und die Grundzüge der britischen Arbeitgeber/Arbeitnehmerbeziehungen bekannt sind, soll hier doch auf einige Merkmale hingewiesen werden, u m einen Ausgangspunkt für eine realistische Darstellung des britischen Shop Steward zu schaffen. Diesbezüglich sollte es genügen, auf das Folgende aufmerksam zu machen: 1. Trotz des fortschreitenden Prozesses von gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen und Verschmelzungen finden w i r noch eine verhältnismäßig große Anzahl von Einzelgewerkschaften, die auch strukturell sehr unterschiedlich sind. Dem Dachverband der britischen Gewerkschaften — TUC — sind 109 Einzelgewerkschaften angeschlossen, deren gesamte Mitgliederzahl sich auf ca. 12 Millionen beläuft. Einfachheitshalber können diese Gewerkschaften i n drei Kategorien eingeteilt werden: a) Berufsgewerkschaften, die ihre Mitglieder ausschließlich auf der Grundlage einer abgeschlossenen Berufsausbildung i n einem anerkannten Handwerk i n abgegrenzten Fachbereichen organisieren; b) Industriegewerkschaften, die alle Beschäftigten eines bestimmten Industriezweiges organisieren, ohne Rücksicht auf Tätigkeitsbereich oder Qualifikation; c) allgemeine oder Mischgewerkschaften, die ihre Mitgliedschaft weder auf bestimmte Berufsgruppen, noch auf besondere Industriezweige begrenzen. I n der großen Mehrzahl der Betriebe finden w i r daher eine m u l t i gewerkschaftliche Interessenvertretung.

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Eli Marx

2. Fortschreitende Verlagerung der Tarifverhandlungen von der nationalen und industrieweiten auf die Unternehmens- und örtliche Betriebsebene, eine Entwicklung, die von einigen großen Gewerkschaften besonders gefördert wird. 3. Nichtvorhandensein jeglicher arbeitsrechtlich essenvertretungsform der Arbeitnehmer.

festgelegter

Inter-

Stellung, Funktion und Verantwortlichkeit des einzelnen Shop Steward oder der verschiedenen Shop-Steward-Vertretungsstrukturen sind arbeitsrechtlich unberührt und ungeklärt. 4. Tarifabkommen besitzen keine Rechtsverbindlichkeit. Durch die vorhergehenden Ausführungen soll hervorgehoben werden, daß der britische Shop Steward ein von seinen gewerkschaftlich organisierten Betriebskollegen frei gewählter Interessenvertreter ist, dessen Position i n keiner Weise arbeitsrechtlich verankert ist. Deshalb ist es also unmöglich, seine Stellung und Funktion m i t der eines deutschen Betriebsratsmitgliedes oder eines französischen Betriebskomiteemitgliedes oder eines Personaldelegierten zu vergleichen. Es wäre auch falsch, den Shop Steward einem deutschen gewerkschaftlichen Vertrauensmann gleichstellen zu wollen. Seine Stellung unterscheidet sich auch wesentlich von z. B. einem dänischen Shop Steward. I m Prinzip hat jeder Shop Steward eine Doppelfunktion, indem er der Interessenvertreter seiner gewerkschaftlich organisierten Kollegen unmittelbar am Arbeitsplatz ist und dort auch gleichzeitig die Aufgabe eines offiziellen Repräsentanten der Gesamtgewerkschaft zu erfüllen hat. Das Shop-Steward-System ist heute i n vielen Industriezweigen fest verwurzelt, ohne offiziell institutionalisiert zu sein. Es ist ein Bestandteil der Arbeitgeber/Arbeitnehmerbeziehungen, die sich weitgehend auf die bekannten britischen „Gewohnheitsregeln" stützen. A u f Grund dieser nicht institutionalisierten Form des Shop-Steward-Systems besteht auch keinerlei zahlenmäßige Regelung dieser gewerkschaftlichen Interessenvertretung i m Betrieb. Das bedeutet, daß nirgendwo festgelegt ist, welche Anzahl von organisierten Beschäftigten ein Anrecht auf die Wahl eines Shop Steward hat. Die Anzahl der i m Unternehmen anerkannten Shop Stewards w i r d i n örtlich-betrieblichen, nicht unbedingt schriftlich festgehaltenen Abkommen festgelegt. I m allgemeinen kann man natürlich davon ausgehen, daß i n stark organisierten Betrieben die Zahl der Shop Stewards verhältnismäßig am größten ist. Die Anzahl der Shop Stewards i m Verhältnis zu der organisierten Belegschaft ist jedoch i n erster Linie durch eine ganze Reihe von betrieblichen Gegebenheiten bedingt, von denen einige der maßgebend-

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sten folgende sind: A r t des Betriebes, Größeneinteilung der Beschäftigten, Einteilung der Facharbeiter, Lage der Werkstätten, Lager und anderer Einrichtungen, Arbeitseinteilung (Schichtarbeit) und andere. Das zahlenmäßige Verhältnis der Shop-Steward-Vertretung ist außerordentlich unterschiedlich i n den verschiedenen Industrie- und Dienstleistungszweigen. Statistische Erfassungen i n dieser Hinsicht sind nicht mehr als Schätzungen. Allgemein verweist man auf ein durchschnittliches Verhältnis von ca. 40 Arbeitnehmern auf einen Shop Steward. Die bestehenden Unterschiede sind aber so groß, daß man i n gewissen Betrieben Abteilungen vorfindet, i n denen 10 Arbeiter ihren eigenen Shop Steward haben, wohingegen es Unternehmen gibt, i n deren Werkstätten bis zu 100 organisierte Arbeiter durch einen einzigen Shop Steward vertreten sind. Die gegenwärtige Schätzung der Gesamtzahl der Shop Stewards bewegt sich zwischen 250 000 und 300 000. Nur die großen Gewerkschaften beziehen sich i n ihren Satzungen auf die Stellung und Funktion des Shop Steward, die aber nicht immer klar formuliert ist. Einige der Satzungen lassen die Aufgaben des Shop Steward nur als eine Hilfsfunktion für die Gewerkschaft erscheinen, die z.B. i n der Rekrutierung von Mitgliedern, dem Einkassieren von Beiträgen, der Weitervermittlung von Informationen und der Weiterleitung von Beschwerden und Forderungen zur Bearbeitung auf höherer Betriebsebene durch hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre besteht. Demgegenüber finden w i r eine maßgebende und wirklichkeitsnahe Beschreibung der Shop-Steward-Funktion i n der Satzungserklärung der großen „Transport und Allgemeine Arbeitergewerkschaft", die folgendermaßen lautet: „Der Shop Steward ist die Schlüsselfigur der Gewerkschaftspolitik für höhere Löhne und wirkungsvolle Organisation." U m die vorher schon erwähnte Doppelfunktion nochmals klar zu formulieren: Die Shop Stewards sind von der Basis direkt gewählte Interessenvertreter, die ihre Legitimation i n erster Linie von ihren Kollegen am Arbeitsplatz erhalten und diesen gegenüber zur Rückvermittlung aller Entscheidungsprozesse verpflichtet sind. Sie können von ihren Kollegen jederzeit abgewählt werden. Gleichzeitig sind sie offizielle betriebliche Gewerkschaftsvertreter, die als Voraussetzung für ihre Shop-Steward-Funktion eine Beglaubigung der hauptamtlichen Gewerkschaftsinstanz benötigen. Nur auf Grund einer solchen Beglaubigung w i r d ihre Stellung und ihr Funktionsrecht von der Unternehmensleitung anerkannt, die sie also demzufolge i n erster Linie als betriebliche Vertreter der Gesamtgewerkschaft betrachtet. Die Interessenvertretung i m Betrieb w i r d zum großen Teil während der Arbeitszeit und durchweg ohne formal festgelegte zeitliche Be-

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schränkung durchgeführt. Oft findet man es auch, daß die Versammlungen der Abteilungen bzw. Wahlkreise während der Arbeitszeit i m Betrieb abgehalten werden. I n vielen Betrieben verlassen Shop Stewards ihren Arbeitsplatz, wann immer sie es für notwendig halten, ohne unbedingt ihre Vorgesetzten u m Erlaubnis zu fragen oder sie darüber zu unterrichten. Die für ihre Shop-Steward-Funktion i m Betrieb benötigte Zeit w i r d i m Durchschnitt auf sechs Stunden pro Woche geschätzt. Es gibt aber auch hier wesentliche Unterschiede. Der Lohnausfall w i r d ihnen entweder durch besondere Shop-Steward-Kassen, das Unternehmen oder die Gewerkschaft ersetzt. I n größeren Betrieben, insbesondere solchen mit über 2 000 Beschäftigten, gibt es von der Arbeit vollkommen freigestellte Stewards, die von dem Unternehmen entsprechend dem Durchschnittslohn an ihrem ursprünglichen Arbeitsplatz bezahlt werden. Die große Mehrheit der Shop Stewards bleibt also am Arbeitsplatz und ist i n engem täglichen Kontakt mit den Kollegen. Sie stehen unter deren ständiger Beobachtung, besonders bei ihrer Kontaktaufnahme m i t Vorarbeitern, Werkmeistern und Abteilungsleitern. Oft lassen sich Shop Stewards von einem Kollegen begleiten, wenn sie zur Direktion „hochgehen". Der Shop Steward hat keine Macht über seine Kollegen. Es stehen i h m keinerlei Sanktionen zur Verfügung, sie zu etwas zu zwingen. Seine Autorität beruht auf seiner Leistungsfähigkeit als Shop Steward sowie als Mitglied seiner Gruppe. Sie gründet sich ferner auf den Besitz von Kenntnissen, die für seine Kollegen relevant sind, sowie auf seine allgemeine Eignung und muß sich ständig von neuem bewähren, u m wirksam zu bleiben. Der Wert des Shop Steward besteht aus seiner Persönlichkeit und solchen Kenntnissen, über die seine Kollegen nicht verfügen. Eine vor einigen Jahren durchgeführte Studie bezüglich der Aufteilung der Tätigkeit des Shop Steward i m Verhältnis zu den verschiedenen Aufgabenbereichen ergab die folgende prozentuale Bewertung: 32 % Unterredungen m i t Kollegen und anderen Shop Stewards 21 % Verhandlungen m i t Vorgesetzten oberhalb der Vorarbeiterebene 11 % Weitergabe und Bearbeitung von Beschwerden mit dem Vorarbeiter 8 % Besprechungen und Sitzungen 6 % Verhandlungen über die Bestimmung von Lohnsätzen 6 °/o administrative Arbeit. Die Stellung und das Ausmaß der Einflußnahme von Shop Stewards sind sehr unterschiedlich und bedingt durch eine Anzahl von Faktoren, wie etwa den folgenden: Größe des Betriebes, Unternehmensstruktur,

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Industriezweig, gewerkschaftlicher Organisationsgrad, einzel- oder multigewerkschaftliche Interessenvertretung, Status innerhalb der offiziellen Gewerkschaftsgliederung, Tarifverhandlungsform und noch andere. Je höher der gewerkschaftliche Organisationsgrad, desto stärker ist die Position des Shop Steward gegenüber der Unternehmensleitung. Die Höhe des Organisationsgrades bestimmt aber auch gleichzeitig das Verhältnis zwischen dem Shop Steward und den außerbetrieblichen Gewerkschaftsgliederungen. Je stärker die Position des Shop Steward, desto geringer ist die Notwendigkeit einer Einflußnahme seitens der hauptamtlichen Gewerkschaftsvertreter. I n einem schwach organisierten Betrieb w i r d die Einflußnahme des Shop Steward kleiner sein, und man findet eine engere Zusammenarbeit mit den hauptamtlichen Gewerkschaftssekretären, besonders bei Tarif Verhandlungen. Dahingegen kann i n den größeren und stark organisierten Betrieben eine sehr eigenständige Funktion der Shop Stewards festgestellt werden, und hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre werden nur i n schwierigen Konfliktfällen zur Beratung und Unterstützung hinzugezogen. Man sollte vielleicht bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß kaum eine britische Gewerkschaft über eine genügende Anzahl von hauptamtlichen Funktionären verfügt, u m einen geordneten und regelmäßigen Kontakt mit allen organisierten Betrieben aufrechterhalten zu können. Daher ist man auf die weitmöglichste Eigenständigkeit der Shop Stewards und auf deren Berichterstattung angewiesen. Es bestehen aber auch grundsätzliche Unterschiede zwischen dem Ausmaß des eigenständigen Verfügungsbereichs, der von den verschiedenen Gewerkschaften anerkannt und ihren Shop Stewards eingeräumt wird. Deshalb finden w i r auch eine sehr unterschiedliche Eingliederung der Shop Stewards i n die Hierarchie der offiziellen gewerkschaftlichen Entscheidungsorgane. So können w i r ζ. B. bei der „Transport und A l l gemeine Arbeitergewerkschaft" eine sehr starke Integrierung der Shop Stewards i n den Ausschüssen auf örtlicher, bezirklicher und nationaler Ebene feststellen, die es den Shop Stewards ermöglicht, als betrieblich gewählte Delegierte ihrer Beschäftigungsgruppen und der bezirklichen Gewerkschaftsausschüsse die alle zwei Jahre zu wählende höchste Entscheidungsinstanz, nämlich den nationalen Vorstandsrat, maßgeblich zu bestimmen. Bei dieser multiindustriellen, allgemeinen Gewerkschaft kann also von keiner Trennung zwischen betrieblicher und hauptamtlicher Interessenvertretung gesprochen werden. I m Gegenteil, die gewerkschaftspolitischen Weisungen unterliegen den Beschlüssen der betrieblich gewählten Shop Stewards. Bekanntlich hat nicht einmal der Generalsekretär ein Stimmrecht i m nationalen Vorstand. Hier muß allerdings hinzugefügt werden, daß es sich besonders diese Gewerk-

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schaft seit Ende der 60er Jahre zum Ziel gesetzt hatte, den Schwerpunkt der Tarifverhandlungen, wo immer möglich, von der nationalen und industrieweiten auf die Unternehmens- und örtliche Betriebsebene zu verlagern und gleichzeitig eine umfassende Demokratisierung ihrer Führungsgremien durchzuführen. Die klarste Auslegung dieser Orientierung finden w i r i n dem von Günter Degen zitierten Ausspruch des vormaligen Generalsekretärs dieser Gewerkschaft, Jack Jones, der sagte: „ W i r fordern die Shop Stewards nicht auf zu gehorchen . . .; sie sind die Gewerkschaft." Einen starken Einfluß der Shop Stewards innerhalb außerbetrieblicher Gewerkschaftsorgane finden w i r auch i n der großen Metallarbeitergewerkschaft AUEW, i n der sich das Shop-Steward-Vertretungssystem zuerst, und zwar schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, entwickelt hat. Andererseits gibt es noch Gewerkschaften, deren Shop Stewards i n viel geringerem Maße i n die hauptamtlichen Organe integriert sind, und daher ihre betriebliche Funktion weniger selbständig und die Einflußnahme der außerbetrieblichen Gewerkschaftsvertreter größer ist. Die angeführten Beispiele erlauben aber nicht die Schlußfolgerung, daß es keine Konfliktbereiche gibt, und daß die eigenständige betriebliche Interessenvertretung immer m i t der festgelegten Gewerkschaftspolitik übereinstimmt, z.B. i n bezug auf Löhne, Überstunden, Schichtarbeit und insbesondere Arbeitsniederlegungen. Wie schon zuvor angedeutet, ist die Stellung und der Aufgabenbereich des Shop Steward auch abhängig von dem Bestehen eines A b kommens zwischen der Gewerkschaft und dem Unternehmen, den örtlichen Bedingungen und seiner Position am Arbeitsplatz. Auf der einen Seite finden w i r den Shop Steward i n Betrieben, i n denen nur Minimallöhne gezahlt werden und seine Aufgabe darauf beschränkt ist, Beschwerden der Kollegen der Unternehmensleitung vorzutragen. A u f der anderen Seite verhandelt der Shop Steward oder Convener (gewählter Vorsitzender und Sprecher eines Shop Steward Committee) über Löhne, die bis zu 50 % des Gesamteinkommens ausmachen. Bezüglich der Funktion des Shop Steward i m Bereich der Lohnverhandlungen muß deshalb wiederum auf ein sehr unterschiedliches B i l d hingewiesen werden. Zum Beispiel können betriebliche Verhandlungen über A n reiz·, Leistungs- oder Stücklöhne i n den drei folgenden Formen ausgeführt werden: 1. eigenständige Verhandlungen der Shop Stewards m i t dem Unternehmen, 2. gemeinsame Verhandlungen von Shop Stewards zusammen m i t örtlichen oder bezirklichen hauptamtlichen Gewerkschaftssekretären,

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3. Verhandlungen zwischen hauptamtlichen Gewerkschaftsvertretern und dem Unternehmen ohne Beteiligung der Shop Stewards. Außerdem muß auf den Unterschied zwischen der Interessenvertretung i n einem von einer Einzelgewerkschaft organisierten Betrieb und einem multigewerkschaftlichen Unternehmen verwiesen werden. I m Falle einer alleinverantwortlichen Einzelgewerkschaftsvertretung, gekoppelt m i t einem hohen Organisationsgrad, i n vielen Fällen sogar einer „closed-shop"-Situation, befinden sich die Shop Stewards i n einer sehr starken und selbständigen Vertretungsposition und benötigen i m allgemeinen kaum außerbetriebliche Unterstützung, doch kann eine solche jederzeit ohne Schwierigkeiten hinzugezogen werden. Eine problematischere Interessenvertretung besteht hingegen i n den m u l t i gewerkschaftlichen Betrieben, die zwischengewerkschaftliche Vertretungsstrukturen erforderlich machen. Diese kollektiven Vertretungsorgane setzen sich aus Shop Stewards der verschiedenen i m Betrieb tätigen Gewerkschaften zusammen, und die Wahl des Vorsitzenden eines solchen gemeinsamen Shop Stewards Committees beruht meistens, doch nicht unbedingt, auf der Mitgliedsstärke seiner Gewerkschaft i m Betrieb. I n diesen Fällen ist eine außerbetriebliche Einflußnahme der Einzelgewerkschaften viel schwieriger und die Stellung der Shop Stewards entsprechend stark und eigenständig. Nicht i n allen Fällen beinhaltet diese zwischengewerkschaftliche Interessenvertretung auch Lohnverhandlungen. Diese werden oft von den einzelgewerkschaftlichen Vertretern für ihre Mitglieder separat geführt, doch i m allgemeinen nach gemeinsamer Absprache. Dahingegen werden wichtige Bestandteile der Arbeitsbedingungen von der zwischengewerkschaftlichen Vertretung verhandelt. Natürlich ist diese zwischengewerkschaftliche Kooperation nicht konfliktfrei, wie auch viele erfahrene Shop Stewards zugeben. Dennoch lehnen es die meisten ab, die m u l t i gewerkschaftliche Situation i n den Betrieben als schwerwiegendes Hindernis bei der Entwicklung von fortschrittlicheren Arbeitgeber/Arbeitnehmerbeziehungen und verbesserter wirtschaftlicher Leistung anzuerkennen. Die angeführten Beispiele lassen noch nicht erkennen, ob Shop Stewards nur an Abschlüssen von betrieblichen und örtlichen oder an Unternehmens- und industrieweiten Tarifverträgen beteiligt sind. Deswegen ist es notwendig, noch eine zusätzliche Vertretungsform der Shop Stewards zu erläutern, die sich auf die unternehmensweite Ebene von Tarifverhandlungen m i t staatseigenen oder privaten Großbetrieben bezieht. Hier handelt es sich u m gemeinsame nationale Verhandlungsausschüsse, in denen alle i m Unternehmen vertretenen Gewerkschaften durch dienstältere Shop Stewards aus den verschiedenen Betrieben zusammen mit einigen hauptamtlichen Gewerkschaftssekretären ver-

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treten sind. Allerdings befindet sich der Vorsitz und die Koordinierung solcher zwischengewerkschaftlichen Verhandlungsdelegationen immer i n den Händen eines hauptamtlichen Gewerkschaftssekretärs, der i n den überwiegenden Fällen als Vertreter der mitgliedsstärksten Organisation i m Unternehmen gewählt wird. Eine ähnliche Form von gemeinsamer betrieblicher und hauptamtlicher Interessenvertretung finden w i r bei einzelgewerkschaftlichen Tarifverhandlungen auf nationaler Unternehmensebene, wie z.B. bei den Tankwagenfahrern der großen Ölgesellschaften, deren Verhandlungen von Shop-Steward-Delegierten unter dem Vorsitz eines nationalen hauptamtlichen Gewerkschaftssekretärs geführt werden. Es muß hinzugefügt werden, daß in den meisten Gewerkschaften die hauptamtlichen Sekretäre kein Stimmrecht haben und daß die Annahme oder Ablehnung der unter ihrem Vorsitz erreichten Bedingungen voll und ganz i n der Macht der betrieblichen Delegierten liegt. Hier zeigt sich also eine sehr weitreichende Einflußnahme der Shop Stewards. Obwohl von einer i n alle Einzelheiten gehenden Beschreibung der so unterschiedlichen Stellung und Funktion der Shop Stewards abgesehen werden muß, ist es doch von besonderer Wichtigkeit, i n aller Kürze ihre Rolle i n bezug auf Arbeitsniederlegungen klarzustellen. Wie bekannt, handelt es sich i n der Mehrzahl u m inoffizielle, also von der Gewerkschaft nicht genehmigte oder nicht anerkannte Arbeitsniederlegungen. Es besteht die weitverbreitete Meinung, daß i n erster Linie die Shop Stewards für diese Aktionen verantwortlich seien. Diese Meinung kann weder akzeptiert noch von vorneherein abgelehnt werden. Eine Klarstellung der Rolle des Shop Steward i n einer solchen Konfliktsituation erfordert, nochmals auf seine Doppelfunktion als von seinen Kollegen gewählter Interessenvertreter wie auch als beglaubigter Vertreter seiner Gesamtgewerkschaft i m Betrieb hinzuweisen. Als gewählter Interessenvertreter seiner Kollegen hat er die Verpflichtung, ihrem Interesse und ihren Forderungen gemäß zu handeln. Seitens seiner Gewerkschaft ist es i h m gleichzeitig untersagt, inoffizielle A r beitsniederlegungen zu veranlassen oder zu befürworten. Die Verantwortung des Shop Steward gegenüber der Gesamtgewerkschaft w i r d von der Basis nicht immer verstanden, denn viele sehen i n i h m allein die „Gewerkschaft". Natürlich muß zwischen verschiedenen Formen von Arbeitsniederlegungen unterschieden werden. Eine große Anzahl dieser inoffiziellen Streiks sind sogenannte „spontane" Arbeitsniederlegungen, die meistens nur von kurzer Dauer sind. Viele sind demonstrativer A r t , die eine sofortige Lösung von aktuellen innerbetrieblichen Problemen erw i r k e n sollen. I m allgemeinen kann festgestellt werden, daß der Shop Steward i n erster Linie versuchen wird, seine Kollegen von der A r -

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beitsniederlegung abzuhalten. Zweifellos aber gibt es auch Fälle, bei welchen der Shop Steward die Initiative ergreift und zu einer Streikaktion aufruft oder zu einer solchen ermutigt, u m die Beseitigung der Konfliktursache zu beschleunigen. Es muß allerdings betont werden, daß erfahrene und verantwortungsbewußte Shop Stewards sich m i t aller Kraft gegen solche inoffiziellen Arbeitsniederlegungen stellen, durch die eine spontane Abänderung oder Nichteinhaltung des bestehenden Tarifabkommens erzwungen werden soll. I m Falle eines klaren Vertragsbruchs seitens des Arbeitgebers w i r d der Shop Steward jedoch eine Arbeitsniederlegung befürworten und oft erst danach die außerbetriebliche gewerkschaftliche Unterstützung suchen. Andererseits gibt es auch Fälle, insbesondere i n großen multigewerkschaftlichen Betrieben, i n denen die Shop Stewards (und unter ihnen eine Anzahl von Freigestellten) oft persönlich oder unter zwischengewerkschaftlichem Druck militanter sind als ihre Wählerschaft und diese zu Streikaktionen auffordern, denen nicht unbedingt Folge geleistet wird. Das bedeutet aber meistens nicht, daß die Shop Stewards i n solchen Ablehnungsfällen das Vertrauen der Basis verlieren. Es kann auch vorkommen, daß man ihrem Aufruf zur Arbeitsniederlegung zunächst folgt, daß dann aber, bei längerer Dauer des inoffiziellen oder offiziellen Streiks, die Shop Stewards von der Basis überstimmt werden und die Arbeit wieder aufgenommen wird. Allgemein soll noch gesagt werden, daß der Shop Steward, der von der Berechtigung und Notwendigkeit der Arbeitsniederlegung überzeugt ist, die Verantwortung dafür übernehmen und alles t u n wird, u m die außerbetriebliche Unterstützung seiner Gewerkschaft zu erreichen. Sollte er aber von Anfang an oder durch Beeinflussung seitens der Gewerkschaft die Arbeitsniederlegung für unberechtigt oder für ungünstig halten, so w i r d er sich mit allen Kräften bemühen, seine Betriebskollegen dementsprechend zu beeinflussen. Mehr noch als i n den anderen Aufgabenbereichen hängt der Erfolg seiner Bemühungen von der Persönlichkeit und Führungsfähigkeit des Shop Steward ab. Ich hatte m i r die Aufgabe gestellt, diesen kurzen Überblick so w i r k lichkeitsnah wie möglich zu gestalten. Aspekte, die über die Grenzen der Themenstellung hinausgehen, sind unberührt geblieben. Wie ich wiederholt ausgeführt habe, handelt es sich nicht u m eine einheitliche betriebliche Interessenvertretung. Aus diesem Grunde ist der Versuch einer umfassenden Bewertung der Stellung und Funktion der b r i t i schen Shop Stewards i n Tarifauseinandersetzungen äußerst schwierig. Es kann aber mit Bestimmtheit festgestellt werden, daß das ShopSteward-Vertretungssystem außerordentlich weitgehende Errungenschaften auf dem Gebiet der betrieblichen Einflußnahme vorzuweisen hat. Dem Beobachter i m Ausland wie auch i n Großbritannien erscheint

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das bestehende Shop-Steward-System als ungeordnet und schwer verständlich. Von vielen w i r d es als eine Ursache für die Schwächen der britischen Wirtschaft angesehen. Auch i n den Reihen derjenigen, denen die Sachlage bekannt und verständlich ist und die i n der Lage sind, sie m i t größerer Objektivität zu betrachten, w i r d auf die Notwendigkeit einer beschleunigten strukturell-organisatorischen Reform der Gewerkschaften verwiesen: Die betriebliche Interessenvertretung sei zu vereinfachen und zu stärken und damit auch die Gestaltung der Arbeitgeber/Arbeitnehmerbeziehungen i n einem positiven Sinne zu beeinflussen.

„Artikulierte Tarifpolitik" in Italien Von Sophie G. Alf, Rom

Das System der „artikulierten" Tarifverhandlungen hat sich i n den Jahren, die den starken gewerkschaftlichen Kämpfen zu Ende der sechziger Jahre, dem sog. „heißen Herbst", vorangingen, herausgebildet und konnte sich erst mit diesem voll durchsetzen. Bevor ich den Versuch einer Analyse dieses Systems und eine Beschreibung seiner Funktionsmechanismen und seiner Ergebnisse i n den letzten zehn Jahren unternehme, scheint es m i r angebracht, zuerst zu erklären, was es m i t dem Begriff selbst auf sich hat, und einige Überlegungen über das anzustellen, was w i r ein gewerkschaftliches Verhandlungssystem nennen. „Artikulierte" Verhandlungsführung, das meint zunächst und rein begrifflich betrachtet nichts anderes als die Aufgliederung oder Dezentralisierung (Ausdifferenzierung) gewerkschaftlicher Verhandlungspraxis auf verschiedene Ebenen. Für eine derartige Praxis kennen w i r viele und höchst unterschiedliche Beispiele, denn die „Artikulation" kann sowohl nach geographischen wie auch inhaltlichen Kriterien erfolgen. Bezogen auf die deutschen Verhältnisse denke ich sowohl an eine Dezentralisierung, wie etwa die i m bundesdeutschen Verhandlungssystem angelegte Aufteilung i n Tarifzonen, als auch an die ebenfalls i n diesem System praktizierte Aufgliederung der Verhandlungsinhalte i n zeitlich getrennte Verhandlungsphasen (Lohnrunde und Manteltarifverträge). A u f Italien bezogen bezeichnet das System „artikulierter" Tarifverhandlungen i m wesentlichen zwei große Verhandlungsebenen, nämlich die des Nationalen Kollektivvertrags eines Industriezweiges, der alle drei Jahre abgeschlossen w i r d und inhaltlich allumfassend ist, also Informations- und Kontrollrechte, Lohnforderungen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation, A r beitszeit, Fragen der innerbetrieblichen Mobilität und eine ganze Reihe von sozialen Rechten regelt, und die daran anschließenden Verhandlungen auf betrieblicher Ebene, die i m wesentlichen keine Einschränkung der Inhalte bedeuten, sondern deren spezifische Ausformulierung, aber auch Ausweitung auf der Ebene des einzelnen Betriebes, oder i m Falle großer Unternehmen m i t zahlreichen einzelnen Betrieben auch auf der Ebene der Unternehmensgruppe. 10 Tagung Dortmund 1981

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U m nun zum zweiten Punkt zu kommen, den ich vorab etwas näher beleuchten wollte, das gewerkschaftliche Verhandlungssystem, so muß ich gleich eine Einschränkung machen. Gewerkschaftliche Verhandlungssysteme sind das Herzstück dessen, was w i r auch mit dem Terminus industrielle Beziehungen oder Arbeitsbeziehungen i m umfassendsten Sinne bezeichnen, und w i r wissen alle, daß die Lektüre über dieses Problem Bibliotheken füllt. Deshalb w i l l ich einige Aspekte benennen, die es m i r erlauben, schnell zu Italien zurückzukehren, die gleichzeitig jedoch für eine Diskussion der italienischen Besonderheiten nützlich sein und sonst vielleicht verlorengehen würden. Dabei beschränke ich mich auf eine Beschreibung der dort üblichen gewerkschaftlichen Verhandlungspraxis. Worüber Gewerkschaften verhandeln können und auf welche Weise, hängt von vielen Faktoren ab, zuerst einmal davon, welchen Platz sie i n der jeweiligen Gesellschaft, i n der sie arbeiten, einnehmen, ein Platz, der ihnen zugewiesen werden kann oder den sie sich erkämpfen können (das ist keine Alternative). M i t „Platz" meine ich, wo sich die Gewerkschaften ansiedeln i m Verhältnis Staat — Institutionen — politische Parteien, welche rechtliche Anerkennung und evtl. Reglementierung besteht, wie weit die Sozialgesetzgebung entwickelt ist, nicht zuletzt, wie die Gewerkschaft selbst organisiert ist i n einem gegebenen Land (Einheitsgewerkschaft, politische Richtungsgewerkschaft, Zwangsgewerkschaft oder freiwilliger Verband ihrer Mitglieder). Das alles hängt natürlich ab von den besonderen historischen Umständen, unter denen sich die Gewerkschaftsbewegung i n den einzelnen Ländern gebildet hat, unter denen sie gewachsen ist und sich selbst verändert hat, und davon, welches Selbstverständnis ihrer Rolle und Aufgaben sie i n ihrem jeweiligen Kontext entwickelt hat. Wenn w i r alle diese Faktoren berücksichtigen, so gibt es innerhalb der westeuropäischen Gewerkschaftsbewegung beträchtliche Unterschiede, die w i r trotz der gemeinsamen Organisation, die w i r seit einigen Jahren i m EGB haben, nicht unter den Tisch kehren sollten und die auch nicht einfach durch den Verweis auf die vielen gemeinsamen Probleme und Aufgaben verschwinden, sondern die gerade durch genauere Kenntnis und eine „artikulierte" Betrachtungsweise, wie die Italiener das nennen würden, vielleicht zu einem Moment der Stärke werden können. I n Italien bestehen politische Richtungsgewerkschaften, obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg ein kurzer Versuch unternommen wurde, die Spaltung der vorfaschistischen Zeit zu überwinden und eine starke einheitliche Vertretung aller Lohnabhängigen zu begründen. Diese Einheitsgewerkschaft, die zwischen 1944 und 1949 bestand, zerbrach am Kalten Krieg, der alte Gegensätze verstärkte, und an direkten Eingriffen von Seiten des Vatikans und der amerikanischen Gewerk-

,Artikulierte T a r i f p o l i t i k " i n I t a l i e n

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schaftsorganisationen (AFL - CIO), die aus unterschiedlichen Interessen die Spaltung der Einheitsgewerkschaft betrieben. M i t Beginn der fünfziger Jahre haben w i r es daher i n Italien mit drei Gewerkschaften zu tun, die i n ein starkes Konkurrenzverhältnis zueinander eintraten, das eine die italienische Gewerkschaftsentwicklung bis heute charakterisierende Eigendynamik auslöste. Die Spaltung ist daher trotz ihrer negativen Züge i m Nachhinein auch, wenn nicht als positiver, so doch gewiß als ein dynamisierender Faktor der gesamten italienischen Gewerkschaftsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu betrachten. Von ihrem Selbstverständnis her brachten die beiden größten Verbände, die CGIL und die CISL, grundverschiedene Vorstellungen gerade auch über das Verhandlungssystem in die Entwicklung ein, die sich über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren gegenseitig befruchteten und i m Nachhinein gesehen gemeinsam zu wachsender Stärke der gesamten italienischen Gewerkschaftsbewegung i n den letzten zehn Jahren beitrugen. Ich möchte nicht langweilen mit Ereignissen, die 20 und mehr Jahre zurückliegen, aber ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich ohne diesen historischen Rückgriff erklären kann, wie es zur „artikulierten" Verhandlungsführung kam und was sie ist, und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß es notwendig ist, deren Entstehung kurz aufzuzeigen, weil sich sonst alles auf die Beschreibung einer Technik reduzieren würde, und es geht am allerwenigsten u m technische Fragen hierbei. Die ursprünglichen Unterschiede i m Verhandlungssystem, das sich erst i n den letzten zehn Jahren vereinheitlicht hat, gehen historisch auf die verschiedenen Konzeptionen und das unterschiedliche Selbstverständnis der beiden größten Gewerkschaftsverbände zurück (den dritten, die UIL, die heute ihren festen Platz hat, w i l l ich, was diesen kurzen historischen Exkurs betrifft, vernachlässigen, weil sie seinerzeit nicht viel mehr war als ein Betriebsunfall auf dem Wege der Spaltung, weil sie jahrelang keine klare Basis unter der Industriearbeiterschaft hatte und wenig eigene Beiträge liefern konnte). Von der Einheitsgewerkschaft CGIL (Konföderation der italienischen Arbeiter), spaltete sich die „Konföderation der freien Gewerkschaften" (CISL) ab, zurückblieb die CGIL sozialistisch-kommunistischer Orientierung. I n den Namensgebungen der beiden Verbände ist ganz klar bereits der unterschiedliche politische Standort bezeichnet, den beide einnahmen: Die CGIL verstand sich als die gewerkschaftliche Organisation aller italienischen Lohnabhängigen, als gewerkschaftlicher A r m der beiden Arbeiterparteien, der beansprucht, die beschäftigten und unbeschäftigten Teile der Arbeiterklasse gemeinsam zu vertreten und 10»

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der als Fernziel, von dem jedoch auch die Etappenziele bestimmt waren, die endgültige Emanzipation der Arbeiterklasse von der Lohnarbeit, also die Überwindung des Kapitalismus verfolgte. Dagegen verstand sich die CISL als Dachverband der ihr angeschlossenen „freien Gewerkschaften", als ein Mitgliederverband m i t der Zielsetzung, die Lebens- und Arbeitsbedingungen seiner Mitglieder zu verbessern. Diese gegensätzliche Definition der jeweiligen Rolle schlug sich i n einer total verschiedenen Wahrnehmung der gewerkschaftlichen Aufgaben nieder: Während die CGIL bis i n die Mitte der fünfziger Jahre an einer Konzeption der geschlossenen Vertretung der Interessen der Arbeiterklasse (wie sie sie interpretierte) festhielt, wählte die CISL gleich die Interessenvertretung der Beschäftigten und die betriebliche Ebene als Verhandlungsfeld, wobei sie es von vornherein als gegeben ansah, daß sich z. B. die Löhne nur innerhalb der erzielten Produktivitätszuwächse verbessern ließen (es ging sofort u m die Verteilung der Torte). I n den fünfziger Jahren war i n einer von Massenarbeitslosigkeit gekennzeichneten wirtschaftlichen Situation und i n einem militanten arbeiterfeindlichen K l i m a der Raum für jegliche gewerkschaftliche Vertretung außerordentlich eingeschränkt, die gewerkschaftliche Präsenz i n den Betrieben war äußerst schwach, und die Verbesserung der Löhne insgesamt sehr viel mehr den einseitigen paternalistischen Manövern von seiten der Unternehmer geschuldet als der gewerkschaftlichen Politik. Dennoch sind die Unterschiede i n den beiden Konzeptionen nicht unwichtig, weil sie i n einer veränderten wirtschaftlichen Situation, dem ab Ende der fünfziger Jahre beginnenden sog. „Wirtschaftswunder", aufeinanderstoßen und i n der Auseinandersetzung zu Vorformen jenes Verhandlungssystems führen, das w i r heute als das „artikulierte" bezeichnen. I n der Tat wurde die CGIL Mitte der fünfziger Jahre durch die Realität, nämlich die Tatsache, daß sie bei den Wahlen zu den Betriebsräten (Commissioni interne) traumatisch wirkende Stimmenverluste erlitt, hart darauf hingewiesen, daß ihre Politik der ständigen Verallgemeinerung der Interessen der Arbeiterklasse sie dazu geführt hatte, die realen tagtäglichen Veränderungsprozesse zu vernachlässigen und Gefahr zu laufen, lediglich unter dem bewußten Teil der Arbeiterklasse einen rein ideologisch bestimmten Konsensus zu erhalten. Außerdem wurde sie sich klar darüber, daß ihr auf Grund ihrer verallgemeinernden Optik die spezifischen Veränderungsprozesse i n den Betrieben entgingen und das von ihr propagierte System der zentralisierten Verhandlungen auf der Ebene des Dachverbandes, der die Richtlinien der Verhandlungen auf Industriezweigebene vorgeben wollte, zu weitmaschig war, u m für den nicht auf ihre politischen Ziele

,Artikulierte T a r i f p o l i t i k " i n I t a l i e n

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festgelegten Teil der Lohnabhängigen erkennbare Erfolge vorweisen zu können. Es ist bewundernswert, zu welcher klaren Selbstkritik die CGIL damals fähig war, wäre es doch ein leichtes gewesen, ihre Mißerfolge allein auf die harten Diskriminierungen zurückzuführen, denen ihre Mitglieder und Funktionäre ausgesetzt waren (Massenentlassungen, Strafabteilungen für kommunistische und sozialistische Gewerkschaftsfunktionäre). Doch brauchte die CGIL ganze fünf Jahre, von 1955 bis zu ihrem V. Kongreß i m Jahre 1960, u m aus der Selbstkritik eine Strategie zu entwickeln und innerhalb der Organisation durchzusetzen, die sie i n der inzwischen entstandenen Situation wieder handlungsfähig machen konnte. Diese Strategie hieß: Zurück i n die Fabrik! Untersuchen, aufmerksam prüfen, was sich verändert hat i n der Organisation der Produktion, i n der Zusammensetzung der Lohnabhängigen, akzeptieren, daß das kapitalistische System fähig gewesen ist, Entwicklung zu produzieren, wie immer verzerrte, ungleiche, traumatische, aber Entwicklung, was sie i h m bis wenige Jahre zuvor überhaupt abgesprochen hatte. Die CISL hatte diesen Umdenkungsprozeß nie nötig gehabt, war sie doch entstanden i m Vertrauen auf die Entwicklungskräfte gerade dieses kapitalistischen Systems. Ihre gewerkschaftliche Aufgabe hatte die CISL darin gesehen, den von ihr vertretenen M i t gliedern einen gerechten A n t e i l an dieser Entwicklung zu verschaffen, ja durch ihre Forderungen selbst zur weiteren Entwicklung beizutragen. Klassenorganisation gegen eine Vereinigung der Mitglieder als eines Teils des freien Marktes, die durch Organisation ihren Preis heraufzusetzen versuchen, das waren die beiden Ausgangssituationen i n der italienischen Gewerkschaftssituation, die bis an die Schwelle der sechziger Jahre bestanden. Weder die CGIL noch die CISL hatten i n den fünfziger Jahren große Erfolge verbuchen können, beide Organisationen waren i n den Betrieben selbst nur schwach vertreten. Die Vertretung der Beschäftigten am Arbeitsplatz war den Betriebsräten überlassen 1 , die keine formalen Verhandlungsrechte besaßen, sondern lediglich die Einhaltung der bestehenden Arbeitsverträge überwachen und die individuellen Rechte der Arbeiter vor dem Gesetz oder dem Arbeitsvertrag wahren konnten. Beide Organisationen hatten versucht, durch die Begründung gewerkschaftlicher Basisorgane i n den Betrieben (ähnlich den Vertrauensleutekörpern) ihrem Ausschluß aus den Betrieben entgegenzuwirken, doch waren diese Organe schwach geblieben, weil sie eben keine garantierten Verhandlungskompetenzen besaßen. 1 Es ist immer eine delikate Angelegenheit, die Terminologien zu übertragen, doch entsprach das betriebliche Vertretungsorgan weitgehend der Stellung der deutschen Betriebsräte heute, v o r allem darin, daß sie eben keine gewerkschaftlichen Basisorgane waren, sondern von allen A r b e i t e r n unabhängig von ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft auf v o n den Richtungsgewerkschaften vorgegebenen Kandidatenlisten gewählte Vertretungen.

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Die Lohnentwicklung der fünfziger Jahre spiegelte die Schwäche der Gewerkschaften wider: Die Reallohnentwicklung war immer höher als die tarifvertraglichen Abschlüsse. Sie blieb gleichzeitig immer weit hinter den Produktivitätszuwächsen zurück. Zwischen den Industriezweigen, Branchen und Betrieben bestanden extreme Unterschiede, die nur zum geringsten Teil gewerkschaftlichem Eingreifen geschuldet und fast generell vom Ermessensspielraum der einzelnen Unternehmer bestimmt waren. Auch die CISL hatte i m Grunde wenig erreicht, obwohl die größere Sympathie, die sie bei den Arbeitgebern genoß, es ihr erlaubt hatte, ihren Mitgliederbestand auszuweiten und zu einer realen gewerkschaftlichen Kraft zu werden. Dies war die Situation zu Anfang der sechziger Jahre, dem Höhepunkt des italienischen Wirtschaftswunders, das man immer i n Anführungsstriche setzen oder betont ein „sogenanntes" nennen sollte, denn von einem „Wirtschaftswunder" hatte es nur einen der wirklich zählenden Aspekte, nämlich hohe Wachstumsraten, während ζ. B. Vollbeschäftigung nur i n einer sehr verzerrten Form erreicht worden war: einerseits durch Massenemigration und andererseits durch eine extreme Auslese auf dem Arbeitsmarkt. Dies führte dennoch dazu, daß zeitweilig das Angebot der männlichen Arbeitskräfte der am stärksten nachgefragten Altersgruppe knapp wurde und damit die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften stieg. Dies geschah zum gleichen Zeitpunkt, zu dem steigende Profite auf Grund hoher Produktivitätszuwächse auch die objektiven Möglichkeiten für eine aggressivere gewerkschaftliche Lohnpolitik geschaffen hatten. Das Lohnniveau niedr i g — und die Gewerkschaften aus den Betrieben herauszuhalten, erschien jedoch vor allem dem privaten Arbeitgeberverband (Confindustria) als eine auch für die Zukunft unverzichtbare Bedingung. Dagegen zeigte der Arbeitgeberverband der Unternehmen mit Staatsbeteiligung (Intersind), der sich bereits 1956 von der zuvor einheitlichen Interessenvertretung der Arbeitgeber abgespalten hatte, größere Bereitschaft zur Verständigung mit den Gewerkschaften. Dies ist ein wichtiger Punkt, dessen politische Hintergründe ausführlicher erklärt werden müßten, als das hier aus Zeitgründen möglich ist. Tatsache war jedoch, daß die Differenzen i m Unternehmerlager halfen, der Durchsetzung neuer gewerkschaftlicher Verhandlungsstrategien eine Bresche zu schlagen. Das Signal, daß eine schwere Störung i n der bis dahin auch durch die Schwäche der Gewerkschaftsbewegung bedingten relativ friedlichen Lohnfront aufgetreten war, setzten die harten Kämpfe der Beschäftigten der elektromechanischen Industrien zu Ende des Jahres 1960. Obwohl erst i m Vorjahr der nationale Kollektivvertrag der Metallindustrie abgeschlossen worden war (der immer eine Friedenspflichtklausel

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enthielt), forderten die Arbeiter dieser Branche einen Zusatzvertrag, und dies geschah zum ersten Mal mit Formen des Arbeitskampfes, die dann i m „heißen Herbst" von 1969 verallgemeinert werden sollten. Die Vorgänge i n der elektromechanischen Industrie lösten eine Welle ähnlicher Forderungen i n anderen Wirtschaftszweigen und Großbetrieben aus, die Anfang 1961 dazu führten, daß das Arbeitsministerium betriebliche Zusatzverhandlungen für legitim erklärte, allerdings mit der Einschränkung, daß diese lediglich die näheren Ausführungsbestimmungen der nationalen Kollektivverträge i n den verschiedenen real bestehenden Situationen zum Inhalt haben konnten, nicht aber qualitativ neue Forderungen. Damit wurde eine Regelung sanktioniert, die bereits zuvor von dem Arbeitgeberverband der öffentlichen Unternehmen zugestanden war, die jedoch eine zu halbherzige Öffnung darstellte, als daß sie sich nicht schnell i n der Realität als unzulänglich erweisen sollte. Inzwischen war zuviel i n Bewegung geraten, was nicht mehr durch minimale Zugeständnisse aufgehalten werden konnte. Begünstigt durch eine veränderte politische Situation — die Überwindung des Kalten Krieges und die Bestrebungen, eine Regierung der linken Mitte unter Einschluß der Sozialistischen Partei zu bilden — gelang es auch der Gewerkschaftsbewegung, ihre Spaltungen allmählich zu überwinden. Dieser Prozeß wurde stark von unten gefördert und nicht zuletzt durch einen Generationswechsel unter den Arbeitern mitbedingt, da die jungen Arbeiter keine oder nur schwache kollektive Erinnerungen an die harten politischen und ideologischen Auseinandersetzungen der fünfziger Jahre mit sich trugen und von den Gewerkschaften i n erster Linie eine entschiedene Vertretung ihrer unmittelbaren Interessen erwarteten. Klarer Ausdruck dieser wachsenden Einheit waren die gemeinsam geführten Arbeitskämpfe während der Tarif runde von 1962/63, i n der es zum ersten Mal zu einem von allen drei Gewerkschaftsorganisationen getragenen Generalstreik aller Industriebeschäftigten kam. Obwohl sich i m Verlauf der sechziger Jahre die ersten Formen von „artikulierter" Tarifpolitik durchsetzten, wurde dieser Prozeß insgesamt doch stark verzögert, was auf zwei unterschiedliche Gründe zurückzuführen ist. Einerseits waren dies die Jahre mühsamen Ringens und starker politischer Auseinandersetzungen u m die Durchsetzung der neuen Koalitionsformel, die die Sozialistische Partei an die Regierung bringen sollte. Die ungeheuren politischen Konflikte, die damit verbunden waren, zeigen jedoch an, daß es u m mehr ging als lediglich u m eine neue Zusammensetzung der Regierungskoalition: Was letztlich anstand,

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war die Verwirklichung eines großen Reformmodells. So sollte eine wirtschaftliche Rahmenplanung durchgesetzt werden, die die bis dahin chaotisch und verzerrt verlaufene Entwicklung berichtigen und zu einer rationaleren Nutzung des wachsenden gesellschaftlichen Reichtums i n einem großen Konzept der Modernisierung und Rationalisierung und sozialer Reformen führen sollte. Diese politischen Bestrebungen hätten jedoch den Konsensus der Gewerkschaften zur Voraussetzung gehabt, eine A r t Sozialpakt zu erzielen, und dies ließ sich nicht verwirklichen, w e i l sowohl i m Lager der herrschenden politischen und ökonomischen Interessengruppen als auch innerhalb der Arbeiterbewegung große Unklarheiten und Widerstände gegen diese Perspektive bestanden. Die Reformkräfte waren i m Grunde sehr schwach und deswegen sehr wenig überzeugend m i t ihrem Angebot an die Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaftsbewegung wurde durch diese politischen Auseinandersetzungen gelähmt. Innerhalb der stärksten und einflußreichsten Organisation, der von Kommunisten und Sozialisten gebildeten CGIL, schlugen sie v o l l durch und brachten zeitweilig die Gefahr einer Spaltung hervor. Der zweite Grund, der die neuen Entwicklungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung verzögerte, liegt i m Auftreten der ersten schweren Nachkriegsrezession i n der Mitte der sechziger Jahre, die die Gewerkschaften durch die erneute Drohung hoher Arbeitslosigkeit schwächte. Beide Gründe zusammen, das uneingelöste Versprechen großer sozialer Reformen i n den sechziger Jahren und das Vertrauen darauf, alles beim alten belassen zu können, d. h. die Forderungen der Arbeiter nicht aufzugreifen, sondern auf das weitere Funktionieren von Selbstregulierungsmechanismen, wie etwa auch erhöhte Arbeitslosigkeit, zu hoffen, erklären die starke Explosion von Arbeitskämpfen, die i n dem „heißen Herbst" von 1969 ihren Höhepunkt fanden. Diese Arbeitskämpfe hatten bekanntlich einen stark spontanen Charakter und waren unmittelbarer Ausdruck lange aufgestauter Probleme, auf die auch die Gewerkschaften keine angemessenen Antworten gefunden hatten. Obwohl sich dieses spontan aufbrechende Konfliktpotential anfangs durchaus ohne die Gewerkschaften und i n vielen Situationen auch i n tendenzieller Gegnerschaft und Polemik zu diesen zu äußern schien, entstand daraus ein äußerst fruchtbares dialektisches Verhältnis zwischen Spontaneität und Organisation, zwischen Basis und Organisationsgefüge, das i n kürzester Zeit die italienische Gewerkschaftsbewegung stark veränderte. Daß dies jedoch möglich war, zeigt auch, daß i n den gewerkschaftlichen Organisationen bereits Lernprozesse stattgefunden hatten, die es ihnen ermöglichten, das Neue zu be-

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greifen und aufzugreifen und für die weitere Entwicklung fruchtbar zu machen. Die letzten zehn Jahre, die Jahre seit dem „heißen Herbst", eine Periode, die heute klar zu Ende geht, weil inzwischen Probleme neuer A r t entstanden sind und es nicht gelungen ist, viele der damals bereits angelegten richtig zu sehen und angemessene Antworten zu finden, sind eines der reichsten Kapitel nicht nur der italienischen, sondern auch der europäischen Gewerkschaftsgeschichte überhaupt, obwohl ich diesen damit keinesfalls einen Modellcharakter zuweisen möchte. Es ist nicht leicht, so kurz, wie das hier geboten ist, ein dennoch nicht verkürztes B i l d dieser Entwicklungen zu zeichnen, vor allem, weil alle diese Prozesse kaum aus dem Zusammenhang der allgemeinen politischen Entwicklung herausgelöst werden können, i n der die Gewerkschaftsbewegung sicher einer der dynamischsten, aber nicht der einzige Faktor war. I n äußerster Beschränkung läßt sich das, was i n den siebziger Jahren entsteht und sich ständig weiterentwickelt, beschreiben als den Versuch der Gewerkschaften, alle Aspekte des Arbeitslebens hart zu verhandeln, jedoch gleichzeitig die gesamtgesellschaftlichen Prozesse nicht aus den Augen zu verlieren. Ich betone, dies war ein Versuch. Nicht immer ist er gelungen und es scheint, daß heute auch die Grenzen dieser Strategie immer deutlicher zutage treten. Was die Verhandlung aller Aspekte des Arbeitslebens betrifft, so sind damit sowohl Lohnprobleme gemeint als auch alle Fragen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsumwelt, das aktive Eingreifen i n die durch technische und organisatorische Entwicklungen ständig veränderten Arbeitsbedingungen, aber auch der Versuch, auf allen Ebenen gewerkschaftlicher Politik einzugreifen i n industriepolitische und Investitionsentscheidungen sowohl einzelner Betriebe als auch der großen Unternehmensgruppen und ganzer Sektoren. Auch hierin könnte man das sehen, was w i r als „artikuliertes" Verhandlungssystem bezeichnet haben: umfassende und gleichzeitig differenzierte Formulierung von Verhandlungsinhalten. Und dies ist sicher ein wesentlicher Aspekt. Eingegrenzter betrachtet meint das „artikulierte" Verhandlungssystem jedoch zunächst eine Praxis, die die betriebliche Verhandlungsebene als gleichwertig m i t der des Nationalen Kollektivvertrags setzt und durch diesen keine Einschränkung erfährt, also nicht einfach eine spezifische Anwendung und Ausformulierung der Forderungen, die bereits i n den Nationalen Kollektivverträgen durchgesetzt werden konnten. Damit diese betriebliche Verhandlungsebene überhaupt möglich wurde, brauchte es die Entstehung neuer gewerkschaftlicher Vertretungsorgane i n den Betrieben, die

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w i r k l i c h Ausdruck der demokratischen Willensbildung der Beschäftigten waren und von diesen anerkannt wurden. Diese Organe entstanden Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre i n Gestalt der Delegiertenräte. Die Delegiertenräte sind direkter Ausdruck der Besonderheiten der italienischen Gewerkschaftsbewegung und gleichzeitig auch der besonderen politischen Konjunktur, i n denen sie entstanden. Von allen Arbeitern, unabhängig von ihrer gewerkschaftlichen Zugehörigkeit, gewählt und letztlich nur durch die Betriebsversammlung legitimiert, werden diese Organe doch gleichzeitig von den Gewerkschaftsverbänden, die weiterhin eigenständige Organisationen sind, als gemeinsames einheitliches Vertretungsorgan der Basis anerkannt. Ich kann auf diesen außerordentlich wichtigen und auch höchst komplizierten Punkt nicht weiter eingehen. Nur so viel: Die Delegiertenräte sind die tragenden Strukturen der betrieblichen Verhandlungsebene. Das „artikulierte" Verhandlungssystem erschöpft sich jedoch nicht i n den beiden bisher genannten Verhandlungsebenen, der des Nationalen Kollektivvertrags eines Industriezweigs und der des Betriebs. Diese beiden Ebenen sind Ausdruck der vertikalen Organisationsstruktur, eben der nach Industriezweigen, die darüber hinaus noch die sog. Liga (örtliche Zusammenfassung aller Betriebe eines Industriezweigs oder i m Falle sehr großer Unternehmen, wie etwa F I A T i n Turin, auch von einzelnen Betrieben) und die Provinzorganisation kennt. Auch diese beiden Zwischeninstanzen der vertikalen Organisationsstruktur können i n einigen Fällen Träger gewerkschaftlicher Verhandlungen sein. Daneben ist jedoch auch die sog. horizontale Organisationsstruktur zu betrachten, der die drei Gewerkschaftsverbände unterschiedliche Verhandlungsvollmachten, bzw. ein unterschiedliches Kompetenzverhältnis gegenüber den Industriegewerkschaften zuweisen. I n jedem Falle ist der Einfluß der Dachorganisationen auch auf die Verhandlungsführung der Industriegewerkschaften bedeutender als etwa i n der Bundesrepublik. Die Dachorganisationen gliedern sich auf i n verschiedene territoriale Organisationsebenen: Städte, Provinzen und Regionen, wo sie auch wieder als vereinigendes, eben horizontal zusammenfassendes Moment der einzelnen Industriegewerkschaften gedacht sind. A u f der höchsten Ebene, nämlich als Dachorganisation der drei Richtungsgewerkschaften, besteht seit 1972 die einheitliche Föderation als ständiges Gremium, das die Verhandlungen über wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitische Probleme mit der Regierung, aber auch mit den nationalen Dachorganisationen der Arbeitgeberverbände führt. Dies ist eine Besonderheit des politischen Systems Italiens, das insgesamt viel mehr Fragen auch sozialpolitischen Charakters der direkten Verhandlung zwischen

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den „Sozialpartnern" überläßt und auf eine gesetzliche Regelung verzichtet, wobei die Verhandlungsergebnisse i n diesen Fällen oft langjährige Gültigkeit und praktisch eine Stellvertreterfunktion für fehlende Rechtsnormen haben. Die territorialen Aufgliederungen der Dachorganisationen leisten die Verhandlungen m i t Kommunen, Provinzen und Regionen i n deren jeweiligen politischen Kompetenzbereichen, aber auch mit den dezentralisierten Organisationen der Arbeitgeberverbände. Man sieht also, daß das System der „artikulierten" Verhandlungen außerordentlich komplex ist. Auch inhaltlich umfaßt es weit mehr als nur die traditionellen gewerkschaftlichen Aufgaben wie Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen. Insgesamt läßt sich vielleicht sagen, daß dieses Verhandlungssystem nur auf dem Hintergrund der geringen Verrechtlichung der industriellen Beziehungen verständlich ist, gleichzeitig jedoch zu seiner Entstehung und Anwendung eine starke Gewerkschaftsbewegung braucht, die auch i n der Lage ist, Verhandlungsergebnisse nicht nur zu erzielen, sondern auch tatsächlich durchzusetzen, und das nicht nur gegenüber der Gegenseite, sondern auch unter denen, die sie zu vertreten vorgibt. Die ungeheure Flexibilität und die uneingeschränkte Verhandlungsmöglichkeit sind gewiß die Stärken dieses Systems, das jedoch auch große Anforderungen an die Gewerkschaften stellt, die ihr Handwerk i m umfassendsten Sinne beherrschen und gleichzeitig eine ausgeprägte politische Sensibilität nach innen wie nach außen besitzen müssen. Nicht zufällig weisen zahlreiche Erscheinungen darauf hin, daß die Gewerkschaften heute oft nicht mehr i n der Lage sind, die ihnen innerhalb dieses Verhandlungssystems gestellten Aufgaben zu lösen, wobei ich hier noch einmal betonen w i l l , was ich schon eingangs klargestellt habe, daß dies gewiß keine technische Frage ist. Jedes Verhandlungssystem ist Ausdruck der Kräfteverhältnisse und der zahlreichen Faktoren, die auf die Entstehung unterschiedlicher Systeme von industriellen Beziehungen Einfluß haben, und nicht zuletzt auch des Selbstverständnisses von Gewerkschaftsorganisationen über ihre Rolle i n der Gesellschaft. Die sich häufenden Krisenerscheinungen i n der italienischen Gewerkschaftsbewegung und die lebhafte Debatte über die Fragestellung: Welche Gewerkschaftsbewegung für die achtziger Jahre?, können nur sehr mittelbar i n einen Zusammenhang mit dem bestehenden Verhandlungssystem gebracht werden, obwohl andererseits auf der Hand liegt, daß auch die zukünftige Entwicklung des Verhandlungssystems davon abhängt, welche Antworten die italienische Gewerkschaftsbewegung auf diese Frage finden kann.

Gewerkschaftliche Tarif- und Betriebepolitik in Frankreich. Konzeption und Praxis der CFDT Von Hughues Blassei, Paris I n kritischen und international vergleichenden Betrachtungen der Merkmale der französischen Gewerkschaftsbewegung werden oft folgende Punkte herausgestellt: — Es handelt sich u m eine geteilte Gewerkschaftsbewegung, da es auf nationaler Ebene fünf repräsentative Organisationen gibt, zu denen jedoch noch zahlreiche, für bestimmte Verwaltungen und Unternehmen spezifische Organisationen hinzugerechnet werden müssen. — Es handelt sich u m eine Gewerkschaftsbewegung, die i n der Geschichte und auch heute noch durch politische und ideologische Divergenzen gekennzeichnet ist. Die 1947er Aufspaltung i n CGT und FO verweist auf das Problem der Kommunistischen Partei, die Trennung der CFDT von der CFTC (1964) auf die Beziehungen zwischen der Sozialdoktrin der katholischen Kirche und der Gewerkschaftsbewegung. — Es handelt sich auch u m eine relativ schwache Gewerkschaftsbewegung, betrachtet man die Mitgliederzahl. Zwar sind die großen Gewerkschaftszentralen i n der Lage, bei Wahlen die Stimmen der Arbeitnehmer auf sich zu ziehen. Doch besteht noch immer ein weiter Weg von der Wahl einer Gewerkschaft zum Gewerkschaftsbeitritt. Somit bleiben die Gewerkschaften Frankreichs unter den Gewerkschaften Westeuropas Außenseiter: Sie organisieren kaum mehr als 20 °/o der Arbeitnehmer. — Schließlich handelt es sich u m eine Gewerkschaftsbewegung, bei der die A k t i o n i n Form von Arbeitsniederlegungen eine bedeutende Rolle spielt. Auch wenn Frankreich hinsichtlich der Anzahl der Streiktage während der letzten drei Jahre weit hinter Italien und Großbritannien zurückfiel, so trifft noch immer zu, daß das Gewerkschaftsleben und damit das französische Gesellschaftssystem durch einen häufigen Rückgriff auf Streiks und insbesondere auf betriebliche Streiks gekennzeichnet ist. Diese vier Aspekte der französischen Gewerkschaftsbewegung werden i n dieser oder i n jener Form immer wieder herausgestellt. Wesent-

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lieh seltener anzutreffen ist eine Analyse des i n Frankreich geltenden Verhandlungssystems sowie eine Betrachtung der Zusammenhänge, die zwischen den genannten Merkmalen der französischen Gewerkschaftsbewegung und dem derzeitigen Verhandlungssystem bestehen könnten. Genau darüber sollen meine Ausführungen berichten. I n der Tat handelt es sich u m eine Frage, die seit zwei, drei Jahren die Überlegungen und Debatten der CFDT bestimmt und an der die CFDT ihre derzeitige Aktionsstrategie orientiert. 1. Problemstellung Abstrakt kann gesagt werden, daß i n den demokratischen Gesellschaften des Westens die Merkmale des Arbeitsvertrages, der eine Bindung herstellt zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber, durch Übereinkommen bestimmt werden, die das Ergebnis von Verhandlungen sind. Betrachtet man die französischen Verhältnisse, so zeigt sich schnell, daß dies i n Frankreich nicht zutrifft, daß sich die Merkmale des Arbeitsvertrages vielmehr aus drei Komponenten zusammensetzen: gesetzliche Maßnahmen des Staates; gewerkschaftliche Tarifabschlüsse und betriebliche Vereinbarungen. Unter diesen drei Komponenten ist die gesetzliche für die Mehrheit der Arbeitnehmer von ausschlaggebender Bedeutung. Ich möchte darauf kurz eingehen: a) Freie Verhandlungen und die Rolle des Gesetzes

Seit 1950 ist das Prinzip der freien Verhandlung zwischen den Gewerkschafsorganisationen und dem Arbeitgeberverband ein vom französischen Recht anerkannter Faktor. Dieses Prinzip trifft aber keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen den durch Verhandlungen und den vom Gesetz definierbaren Aspekten des Arbeitsvertrages. So kann sich die Arbeitszeitverkürzung oder -gestaltung ebenso aus einer Verhandlung wie aus der Einführung eines Gesetzes ergeben. Desgleichen können die Formen des Arbeitsvertrages (befristetes, unbefristetes Arbeitsverhältnis, Arbeitsverleih usw.) durch Gesetz wie durch Verhandlungen geändert werden. Auch die Zahl der Urlaubstage, das Gewerkschaftsrecht sowie viele andere Aspekte hängen von beiden Komponenten ab. Letztlich sind es lediglich die Löhne und Gehälter sowie die Einstufungen, die allein aus dem Verhandlungssystem hervorgehen. Doch auch hierbei ist zu berücksichtigen, daß der Staat einen garantierten Mindestlohn festlegt, dessen Entwicklung schließlich den Entscheidungen der Regierung unterliegt und der recht deutlich die Lohnpolitik beeinflußt.

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b) Tarifverträge und Unternehmensabkommen: Ein zersplittertes System

Durch das Gesetz von 1950 werden als bestimmende Elemente f ü r Arbeitsbeziehungen die Branchentarifverträge anerkannt. Diese stellen jedoch keinerlei Hindernis für den Abschluß vorteilhafterer Betriebsabkommen dar. Die Aufgliederung i n zwei Verhandlungsebenen ist auch i n anderen Ländern Westeuropas anzutreffen. I m Falle Frankreichs führt sie jedoch zu einer starken Zersplitterung. So ist der räumliche Geltungsbereich der Tarifverträge nicht festgelegt. Er kann national, regional, départemental oder örtlich sein. Man zählt i n Frankreich an die 275 National- und 500 Regionaltarifverträge sowie eine unbekannte Anzahl von Tarifverträgen mit kleinerem Geltungsbereich. Weiterhin ist auch die Laufzeit der abgeschlossenen Verträge nicht definiert. Sie können von bestimmter und unbestimmter Laufzeit sein. Was als Anpassungsfähigkeit des Vertragssystems ausgelegt werden könnte, führt i n der Realität zu zahlreichen Problemen: — Verfügt ein Unternehmen über Betriebe i n verschiedenen Regionen, so ist die Übertragung des Unternehmensabkommens auf die Regionalverträge äußerst kompliziert. — Haben die Unternehmensabkommen und die Regionalverträge nicht dieselbe Laufzeit, so stellt sich die Erneuerung der einen wie der anderen als äußerst schwierig dar. c) Exzessive Freiheit für die Arbeitgeber

I n Frankreich gibt es auf keiner Ebene, weder auf Branchen- noch auf Regional- oder Unternehmensebene, eine Verhandlungspflicht. Der Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband kann den Verhandlungsbeginn und -abschluß solange hinausschieben, bis i h m der Anfang bzw. das Ende von Verhandlungen durch Aktionen der Arbeitnehmer und ein bestimmtes Kräfteverhältnis aufgezwungen wird. Dennoch, und dies ist ein weiteres wichtiges Element, reicht die Unterschrift von einer der fünf auf nationaler Ebene vertretenen Gewerkschaften aus, damit ein Abkommen Gültigkeit erhält. Selbst wenn diese Organisation keinen einzigen von diesem Abkommen betroffenen Arbeitnehmer vert r i t t , kann sie unterzeichnen und damit dem Vertrag Gültigkeit verleihen. 2. Die Ursachen für ein derartiges System Die oben dargestellten Elemente können verschiedenartig ausgelegt werden. So könnte ζ. B. gesagt werden, daß sie die Gewerkschaftsteilung und somit die Unfähigkeit der französischen Organisationen widerspiegeln, ein die Arbeitgeberwillkür einschränkendes Vertragssystem

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durchzusetzen. Demgegenüber muß aber auch festgehalten werden, daß das Gesetz von 1950 geradezu darauf abzielt, den Arbeitgebern die Möglichkeit zu geben, sich Verhandlungen zu entziehen. Gleichzeitig w i r d die Konkurrenzsituation der Gewerkschaftsorganisationen untereinander verstärkt. Versuchen wir, einige Elemente freizulegen, die die Einrichtung und Funktionsweise eines derartigen Systems stark beeinflußt haben. a) Die traditionell starke Rolle des Staates in Frankreich

Der Jakobinismus ist eine alte französische Tradition, übrigens ebenso wie der ihn begleitende Zentralismus. Diese Tradition schließt jedoch einen ausgeprägten Gesetzesinterventionismus i n allen Bereichen ein. I n der Denkungsweise der französischen Rechten wie auch der Linken setzt sich diese Tradition bis heute fort. Für die Rechte, und insbesondere die gaullistische Rechte, obliegt dem einigen und untrennbaren Staat die Definition aller Grundaspekte des gesellschaftlichen Lebens. Konsequenterweise führt die Verfassung von 1958 aus, daß „das Gesetz die Grundprinzipien des Arbeitsrechts, des Gewerkschaftsrechts und der sozialen Sicherheit regelt". Die Linke begreift — entsprechend der weitverbreiteten kommunistischen Staatsauffassung — die Parteien als Verwirklicher der von den Gewerkschaftsorganisationen ausgedrückten Forderungen. Die Tatsache, daß sie nicht an der Regierung sind, führt ihrer Meinung nach dazu, daß gewerkschaftliche Ansätze zu Verhandlungen mit den Arbeitgebern eine reformistische Einfärbung bekommen, ausgenommen i n Fällen, i n denen man sagen kann, daß gewerkschaftliche Aktionen die Arbeitgeber zum Nachgeben, nicht aber zu echten Verhandlungen zwingen.

b) Selbstverständnis der Arbeitgeber

So seltsam dies klingen mag: Die französischen Arbeitgeber haben die Tatsache, daß es Gewerkschaften gibt, noch nicht akzeptiert, ja sie haben die Notwendigkeit ihrer eigenen Koalierung gegenüber den Koalitionen der Arbeitnehmer noch nicht w i r k l i c h begriffen. A n den bedeutenden Vorwärtsetappen des französischen Arbeits- und Sozialrechts läßt sich dies aufzeigen: 1936 ebenso wie 1945 -1947 bedurfte es einer außerordentlichen politischen Lage, u m das Feld für Verhandlungen oder neue Gesetze zu eröffnen. 1968 bedurfte es eines Generalstreiks, u m zu — auch hier von der politischen Gewalt gestützten — Verhandlungen zu kommen. Zwar sind zwischen 1950 und 1980 auf einigen Gebieten Abkommen geschlossen worden, doch muß festgestellt

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werden, daß sie nicht die Wirkungsweise eines möglichen Vertragsnetzes haben. So hat es bedeutende nationale, überberufliche Abkommen gegeben (namentlich über Arbeitslosigkeit, Kündigungen und berufliche Bildung), doch nur selten Verbindungen zwischen den Verhandlungsebenen und kaum eine zeitliche Kontinuität. Seit zwei Jahren — und parallel zu den gewerkschaftlichen Anstrengungen, Verhandlungen über die Arbeitszeit und ihre Gestaltung einzuleiten — hat der Arbeitgeberverband CNPF erneut und präziser denn je seine „sozialen" Zielsetzungen definiert: Weg von den Ketten der Konventionen und Abkommen und h i n zum individuellen Aushandeln der Arbeitsverträge. c) Die Gewerkschaftsorganisationen

Hier sind zwei Aspekte herauszustellen, die zur Abschwächung der Rolle von Verhandlungen beigetragen haben: Einerseits hat die Teilung der Gewerkschaften, ihre Konkurrenz untereinander, die ideologische Konfrontation, bestimmte Organisationen — und zwar die zahlenmäßig weniger großen — dazu geführt, allein Abkommen zu unterzeichnen, die von den Mehrheitsgewerkschaften abgelehnt wurden. Andererseits haben die großen Gewerkschaften CGT und CFDT eine ebenfalls gefährliche Haltung eingenommen. Ihr hochangesetztes Forderungsniveau verleitete sie dazu, die von den kleineren Gewerkschaften ausgehandelten Verträge unterzubewerten. A u f diese Weise haben sie die kleineren Gewerkschaften Abkommen unterzeichnen lassen, deren Zustandekommen i m Grunde den Aktionen von CGT und CFDT zu verdanken war. Die so entstandene, stillschweigende Arbeitsteilung zwischen großen und kleinen Gewerkschaften i n Frankreich w i r d seit 1968 von CGT und CFDT zunehmend problematisiert.

3. Die Notwendigkeit eines Systemwechsels Für die CFDT ist heute die Reform des geltenden Vertragsrechts unverzichtbar. Ihre derzeitige Forderungsstrategie, sei es bei den Löhnen oder der Arbeitszeit, kann nicht verstanden werden, wenn man diese Tatsache außer Acht läßt. Es handelt sich nicht nur darum, direkt oder indirekt zufriedenstellende Ergebnisse für die Arbeitnehmer zu erzielen, sondern sie auch so zu erzielen, daß ein regelrechtes Verhandlungsnetz entsteht.

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a) Gründe für die Notwendigkeit

Sie sind sehr unterschiedlicher A r t . Es gibt noch heute mehr als 3 M i l l . Arbeitnehmer, die von keinerlei Vertragssystem erfaßt sind. Gleichzeitig führt die Umstrukturierung der Unternehmen und der zunehmende Rückgriff auf neue Beschäftigungsformen, wie Arbeitsverleih, Fremdarbeit (innerhalb des Unternehmens), Regiebetrieb usw., dazu, daß der Rahmen bestehender Tarifverträge gesprengt wird: Von zehn i n einer Erdölraffinerie Tätigen sind nur noch vier vom geschlossenen Erdöltarifvertrag betroffen. Die anderen fallen aus dem Vertragswerk heraus, obwohl sie vor 10 bzw. 15 Jahren durchaus vertraglich erfaßt waren. Für die CFDT geht es des weiteren darum, die Bedeutung von Gesetzen und Tarifverträgen gegeneinander abzugrenzen. Das Fehlen von diesbezüglichen Präzisionen hatte negative Auswirkungen auf die Gewerkschaftsbewegung. Ob nun ein Gesetz den Zielsetzungen der Gewerkschaften folgt oder widerspricht: I n beiden Fällen fehlt den Gewerkschaften die Möglichkeit direkter Beteiligung. Sie erscheinen als überflüssig. Auch Tarifverträge werden von den Arbeitnehmern als ihnen ferne Größenordnung begriffen, doch kann ihnen eine gewerkschaftliche Verfahrensweise, die sich zwischen A k t i o n und Verhandlung bewegt, die Bedeutung von Tarifverträgen näherbringen. I n der gegenwärtigen Krisensituation, die sich i n Frankreich auch durch eine Abwendung von der Gewerkschaftsbewegung äußert, braucht die Gewerkschaft eine stärkere Bestätigung ihrer Rolle als Verteidigerin der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer. b) Die Schwierigkeit, einen Systemwechsel durchzusetzen

Die Strategie der CFDT, die darauf abzielt, i n Frankreich ein Vertragsnetz zu schaffen, verfolgt zwei Wege, — nämlich einmal den Versuch, eine Debatte zu eröffnen, die zum Ziel hat, das System, wie es aus dem Gesetz von 1950 hervorgegangen ist, zu revidieren; und zum zweiten, alle Forderungsperspektiven (Einkommen, Arbeitszeit, A r beitsrecht) i n ein erneuertes Verhandlungssystem einzubeziehen. Diese Strategie ist nicht leicht zu verwirklichen: Sie kollidiert frontal mit der der Arbeitgeber. Gleichzeitig stellt sie die i n Frankreich lebhaft diskutierte Frage nach den Grenzen der Staatsmacht. Schließlich w i r d sie von den anderen französischen Gewerkschaftsorganisationen nicht mitgetragen, obwohl alles darauf hindeutet, daß es sich u m ein für die Erneuerung der französischen Gesellschaft grundlegendes und dringend notwendiges Projekt handelt.

11 Tagung Dortmund 1981

Diskussion Leitung: Ludwig Bußmann Berichterstattung: Günther R. Degen, Hans-Detlev Küller, Claus Leggewie Zum Kurzreferat 1: Betriebliche Voraussetzungen gewerkschaftlicher Arbeitskampffähigkeit — Das Beispiel Bundesrepublik Deutschland (Referent: Helmut Martens) Es wurde zunächst bekräftigt, daß „zentrale" und „dezentrale" Strategien gewerkschaftlicher Politik nicht Gegensätze sind, sondern eine Einheit bilden, die national jeweils unterschiedlich gewichtet und gestaltet ist. Das auf die Praxis der DGB-Gewerkschaften bezogene Postulat stärkerer Dezentralisierung (Stichwort: relative Betriebsferne, zentralistischer Gewerkschaftsaufbau) wurde mit Blick auf die aktuelle soziale und wirtschaftliche Situation problematisiert. Denn massive Arbeitsplatzvernichtung, das geschlossene und offensive Auftreten der Arbeitgeber und die hohe gesamtwirtschaftliche und brancheninterne Diversität (z.B. i m Metallbereich) wurden insbesondere von Betriebskollegen als Argument für die Notwendigkeit zentralen Vorgehens hervorgehoben; nur so könne Arbeitsplatzsicherung überbetrieblich gewährleistet werden (z.B. durch Entwicklung regionalund wirtschaftspolitischer Strategien) und betriebliche Partikularisierung vermieden werden. Voraussetzung einer stärkeren Dezentralisierung sei aber auch eine Kompetenzerweiterung und Stärkung der Vertrauensleutekörper. Angesichts der aktuellen und einige Jahre zurückliegenden Probleme in der I G Chemie wurde angemerkt, daß die Dezentralisierungsforderung zwar zu begrüßen, aber insgesamt von einem gewissen Voluntarismus gekennzeichnet sei. Dem wurde entgegengehalten, daß z.B. i n der I G Metall stärkere Tendenzen i n Richtung auf eine Dezentralisierung (Stichwort: neue tarifpolitische Beweglichkeit) zu verzeichnen seien. Ein gewichtiges Problem bei ihrer Durchsetzung sei die allerorts zu konstatierende Distanz zu den Angestellten und die spezielle Situation des öffentlichen Dienstes, die bisher nicht genug gesehen worden seien. Das Betriebsverfassungsgesetz wurde nicht als rechtliche Schranke dezentraler Tarifpolitik betrachtet.

Diskussion

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Zum Zusammenhang von zentralen und dezentralen Strategien wurde darauf hingewiesen, daß es sich hier auch u m eine zwangsläufige historische Entwicklung handele: Während früher zentral erreichbare Forderungen i m Vordergrund gestanden hätten, seien i m Verlauf der siebziger Jahre neue tarifpolitische Inhalte überhaupt nur dezentral realisierbar, wie etwa ein Blick auf die Öffnungsklauseln des Lohnrahmentarifs I I zeige. Abschließend wurde angemerkt, daß die Bevorzugung zentraler Strategien i n der Bundesrepublik auch mit der Organisationsstruktur und Geschichte der Gewerkschaften zusammenhänge, was heute zum Fehlen eines Verbindungsglieds zwischen betrieblichen und überbetrieblichen Interessenvertretungsorganen geführt habe. Zum Kurzreferat 2: Stellung und Funktion der britischen Shop Stewards i n Tarifauseinandersetzungen (Referent:

Eli Marx)

Die Diskussion konzentrierte sich zunächst auf die bereits i m Referat deutlich gewordenen komplexen Strukturen und Voraussetzungen gewerkschaftlicher Betriebspolitik i n Großbritannien. Es wurde deutlich, wie schwer das Charakteristische der gewerkschaftlichen Betriebsarbeit auf dem Hintergrund der historischen Entstehungsbedingungen und Entwicklungsprozesse insbesonderer der Shop-Steward-Vertretungen zu beschreiben bzw. i m Ländervergleich zu bewerten ist. Shop Stewards als „Diener zweier Herren", das heißt zum einen die unmittelbaren Interessenvertreter der gewerkschaftlich Organisierten am Arbeitsplatz und i m Betrieb und zum anderen die offiziellen Repräsentanten der betreffenden Gewerkschaftsorganisation i m Betrieb. I n ihrer Doppelfunktion haben sich die Shop Stewards seit Mitte des letzten Jahrhunderts zum zentralen gewerkschaftlichen Vertretungsorgan unmittelbar auf der betrieblichen Ebene entwickelt. Zum Verständnis der gegenwärtigen gewerkschaftlichen Betriebspolitik wurde jedoch noch einmal darauf hingewiesen, daß auch die Gewerkschaftsstruktur i n Großbritannien insgesamt als ein zentraler Erklärungszusammenhang m i t berücksichtigt werden müsse: So sind aus dem historisch begründeten Nebeneinander verschiedener Gewerkschaftsorganisationen — neben Berufs-Facharbeitergewerkschaften, Industriegewerkschaftsverbänden sowie allgemeinen bzw. Mischgewerkschaften — gewerkschaftliche Strukturen hervorgegangen, die für die unmittelbare betriebliche Ebene i n fast allen Betrieben ein Nebeneinander von Mitgliedern verschiedener Einzelgewerkschaften bedeuten. Daraus ergibt sich für die betriebliche Ebene und die betriebliche Gewerkschaftspolitik die Situation von „Multigewerkschaftsbetrieben", auf deren 11·

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Diskussion

Grundlage dann jeweils eigenständige betriebliche Vertretungsorgane gebildet werden müssen. A u f dem Hintergrund der Gewerkschaftsstruktur insgesamt sowie der betrieblichen Shop-Steward-Strukturen muß darüber hinaus berücksichtigt werden, daß die britischen Arbeitsbeziehungen (Industrial Relations) i n der Vergangenheit und auch noch weitgehend i n der Gegenwart kein kollektives Arbeitsrecht i m Sinne der bundesrepublikanischen Betriebsverfassung oder Mitbestimmungsgesetzgebung kennen. Dementsprechend wurde betont, daß daher auch Tarifabkommen keine Rechtsverbindlichkeit nach unserem Verständnis haben, sondern Vereinbarungen zwischen Unternehmern und gewerkschaftlich Organisierten und ihren Verbänden darstellen, die jeweils nach den bestehenden Kräfteverhältnissen abgeschlossen werden und daher auch i n bezug auf die einzelnen Regelungen äußerst unterschiedlich ausfallen. Eine längere Diskussion, die zum Teil auch unterschiedliche Einschätzungen widerspiegelte, entwickelte sich u m die Frage, ob und inwieweit die kaum zu generalisierenden Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Betriebspolitik i n Großbritannien sich gegenwärtig verändern. Dabei wurde beispielsweise darauf verwiesen, daß die Verhinderung von Sanktionen gegenüber führenden Shop Stewards heute eher auf dem Verhandlungswege als durch spontane Kampfmaßnahmen bewerkstelligt würde. Als weitere Veränderung wurde eine zunehmend durch Richterrecht und gesetzliche Bestimmungen ermöglichte Einflußnahme auf die unmittelbaren Auseinandersetzungen zwischen gewerkschaftlich Organisierten i m Betrieb und den Unternehmern vermerkt. Angesichts der wirtschaftlichen Krisensituation m i t einer Rekordzahl von Arbeitslosen sowie weiterhin hohen Teuerungsraten wurde ferner diskutiert, daß eine starke Konfrontation mit der konservativen Regierung bisher dennoch ausgeblieben sei und die statistischen Streik-Übersichten für 1980 die seit 1941 geringste Zahl von Arbeitsniederlegungen ausgewiesen haben. I n der Einschätzung und Bewertung der aktuellen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen unmittelbar auf Betriebsebene wurde jedoch der These widersprochen, daß von einer starken gewerkschaftlichen Kraft der Shop Stewards lediglich i n wirtschaftlichen Aufschwungphasen und einer dementsprechenden Schwäche i n Zeiten wirtschaftlicher Krisensituationen gesprochen werden könne. Die historische Entwicklung und Bedeutung der betrieblichen Gewerkschaftsorgane i n -Großbritannien können eine derartige These nicht belegen.

Diskussion

Als wichtiger Erklärungszusammenhang wurde vielmehr auf die sich verändernden ökonomischen Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten verwiesen, durch die auch für die betriebliche Gewerkschaftsarbeit eine veränderte Situation eingetreten sei. Während i n der Vergangenheit vorrangig unmittelbare Konfliktaustragung und Konfliktlösung direkt am Arbeitsplatz bzw. auf der betrieblichen Ebene möglich gewesen sei, haben sich angesichts zunehmender Rationalisierungen bzw. Produktionsverlagerungen oder vielfach auch durch Betriebsstillegungen Bedingungen herauskristallisiert, die nicht mehr allein und erfolgreich durch betriebliche Arbeitskampfmaßnahmen zu lösen sind. Insofern wurde betont, daß eine weiterhin einseitig auf eine betriebliche Militanz ausgerichtete Gewerkschaftsarbeit u m die Dimension qualitativer, über die unmittelbare Betriebsebene hinausreichender Forderungen erweitert werden müsse. M i t dieser Einschätzung wurde dann i n der weiteren Diskussion auf die wichtige Frage „zentrale und/oder dezentrale Gewerkschaftsarbeit" eingegangen, die sich gleichsam als roter Faden durch die gesamte Tagung zog. Auch i n diesem Diskussionsrahmen wurde übereinstimmend betont, daß keinesfalls i m Sinne einer alternativen Vorstellung von „entweder - oder" diskutiert werden könne. Vielmehr zeige insbesondere das Beispiel der starken betrieblichen Gewerkschaftsarbeit durch umfassende Shop-Steward-Interessenvertretungen, daß für die Aufnahme, Behandlung und Lösung der vielschichtigen betrieblichen Alltagsprobleme eine unmittelbare und konsequente Interessenvertretungsarbeit i m Sinne der abhängig Beschäftigten unabdingbar ist. Für tiefgreifendere Probleme, ζ. B. angesichts von Massenentlassungen oder Betriebsstillegungen müsse jedoch die allein auf die betriebliche Ebene beschränkte Gewerkschaftsarbeit erweitert werden, u m durch überbetriebliche gewerkschaftliche oder politische Aktivitäten Lösungsmöglichkeiten zur Verteidigung von Arbeitsplätzen erfolgreich durchsetzen zu können. Als Beispiele derartiger, über den unmittelbaren Arbeitsplatz oder den einzelnen Betriebsteil hinausgehende Aktivitäten wurde die Entwicklung von direkten Kontakten zwischen Shop-Steward-Vertretungen i n einigen multinationalen Konzernen angeführt. Ausgehend von den betrieblichen Gewerkschaftsorganen würden direkte Kontakte zu den entsprechenden Kollegen i n anderen Werken desselben Konzerns auch über Landesgrenzen hinaus geknüpft, u m so eine den Unternehmensstrukturen entsprechende Gewerkschaftsarbeit zur Durchsetzung der gemeinsamen Interessen aufbauen zu können. I n diesem Zusammenhang wurde noch einmal auf die grundlegenden Schwierigkeiten einer Veränderung gewerkschaftlicher Strukturen und Rahmenbedingungen i n Großbritannien hingewiesen. So seien die positiven Erfahrungen der betrieblich begründeten Kampfkraft britischer Gewerkschaften durch-

Diskussion

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aus i n einzelnen Phasen auch über die unmittelbare Betriebsebene hinaus deutlich geworden, als ζ. B. der Kampf gegen die Verrechtlichung und zum Teil gegen eine staatliche Einkommenspolitik erfolgreich geführt werden konnte. Diese Entwicklungsprozesse seien jedoch jeweils auf begrenzte Problemsituationen gerichtet gewesen und hätten nicht zu einer durchgehenden Veränderung der gewerkschaftlichen Schwerpunktsetzungen geführt. I m übrigen müsse i n diesem Zusammenhang auch deutlich auf die außerordentlich begrenzten materiellen und personellen Möglichkeiten zur Schulung der gewerkschaftlichen Shop Stewards verwiesen werden. Während eine Einbeziehung der einzelnen Gewerkschaftsmitglieder i n eine umfassende Bildungsarbeit nahezu ausgeschlossen bleibt, reichten die vorhandenen finanziellen M i t t e l für die Weiterbildung von betrieblichen Gewerkschaftsfunktionären zu kaum mehr aus als einer dringend erforderlichen Grundinformation über die Gewerkschaftsorganisation und die besonderen Bedingungen der gewerkschaftlichen Betriebspolitik. Eine darüber hinausgehende Schulung i n weiteren Bereichen der politischen Bildung könne faktisch nicht geleistet werden. Abschließend wurde noch eine kurze Diskussion über mögliche Veränderungsprozesse i n Großbritannien geführt, die i n den gegenwärtigen Auseinandersetzungen innerhalb der Labour-Party sichtbar werden. Verwiesen wurde auf den Kern des Konflikts, bei dem es am Beispiel des Wahlverfahrens für den Parteivorsitzenden u m zentrale Fragen der innerparteilichen Demokratie und Willensbildung geht. Ob und inwieweit sich von diesen Entwicklungsprozessen auch Rückwirkungen auf die Diskussionen der gewerkschaftlichen Strategievorstellungen bzw. Schwerpunktsetzungen ergeben können, wurde angesichts der begrenzten Zeit nicht mehr diskutiert.

Zum Kurzreferat 3: „Artikulierte Tarifpolitik" i n Italien (Referentin:

Sophie G. Alf)

Die Diskussion war überwiegend geprägt durch die Klärung von Detailfragen zum System der artikulierten Tarifpolitik i n Italien. Eine vergleichende Bewertung des italienischen Verhandlungssystems, ζ. B. durch einen Rückbezug auf das System i n der Bundesrepublik, erfolgte nur i n Ansätzen. Als Grund hierfür mag der erhebliche Nachholbedarf an Informationen über das italienische System bei den Diskussionsteilnehmern angesehen werden. Die intensivste Diskussion ergab sich bei der Erörterung folgender drei Fragenkomplexe:

Diskussion

— Wahrnehmung der Arbeitnehmerrechte i n Kleinbetrieben, damit verbunden das Problem des sogenannten „Nord-Süd-Gefälles" i n Italien; — Rolle der staatlichen Sozial- und Strukturpolitik, damit verbunden die Frage nach dem „eigentlichen Verhandlungspartner" für die Gewerkschaften; — gewerkschaftliche Angestelltenarbeit, Politik der Lohnnivellierung.

negative Tendenzen

einer

Innerhalb des ersten Fragenkomplexes wurde von einigen Diskussionsteilnehmern zunächst die Vermutung geäußert, daß das System gewerkschaftlicher Verhandlungspolitik i n Italien sich hauptsächlich auf Großbetriebe konzentriere, während i n Klein- und Mittelbetrieben keine „gewerkschaftliche Betriebspolitik" i m eigentlichen Sinne stattfinde. Diese Vermutung wurde von der Referentin i m wesentlichen bestätigt. Die i n Italien i m Vergleich zu anderen Industrieländern extrem dezentralisierte Produktion (Verlagerung auf kleinere Zulieferbetriebe sowie Heimarbeiter) erschwere es den Gewerkschaften, sämtliche A r beitnehmer i n den Willensbildungsprozeß über gewerkschaftliche Forderungen einzubeziehen. Zum Teil sei dies auch auf gesetzliche Regelungen zurückzuführen, da verschiedene arbeitsrechtliche Bestimmungen auf Grund der gesetzlichen Lage i n Kleinbetrieben bis zu 15 Beschäftigten nicht gültig seien. U m das hierdurch eingetretene Vertretungsdefizit zu kompensieren, sei deshalb die Form der sogenannten „Bezirksräte", basierend auf dem Wohnsitzprinzip, gefunden worden. Gerade hier, so die Referentin, sei aber i n den letzten Jahren die gewerkschaftliche Diskussion ins Stocken geraten. Bereits deshalb sei es durchaus gerechtfertigt, von einer gewissen Krise des Verhandlungssystems i n Italien zu sprechen. Diese Krisenerscheinungen i m italienischen Verhandlungssystem wurden noch deutlicher bei der Behandlung des zweiten Fragenkomplexes. I m Unterschied zu anderen Ländern, so ζ. B. der Bundesrepublik, existiert eine ausgebaute Sozialpolitik des Staates i n Italien nur i n Ansätzen. Dadurch seien die Gewerkschaften, erläuterte die Referentin, darauf angewiesen, gesamtgesellschaftliche Fragen m i t den Arbeitgebern selbst zu lösen, eine i m Prinzip nicht lösbare Aufgabe. I n diesem Zusammenhang müsse auch zugleich festgestellt werden, daß die allzu häufige Nutzung des Instruments Streik sowie eine gewisse Verzettelung bei Aktionen zu einem negativen Echo i n der Öffentlichkeit geführt habe, woraus wiederum eine verringerte Aktionsbereitschaft bei den Beschäftigten resultiere. Die von mehreren Diskussionsteilnehmern angesprochene „Krise des Verhandlungssystems" i n Italien sei deshalb, so die Referentin, eine i n der Tendenz richtige Feststellung.

Diskussion

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Zum dritten Fragenkomplex erläuterte die Referentin auf Grund der Fragen einiger Diskussionsteilnehmer, daß die 1973 durchgeführte Lohnstrukturform i n Verbindung m i t einer 1975 vorgenommenen Veränderung des Inflationsausgleichsmechanismus inzwischen stärker zu greifen beginne, als dies ursprünglich beabsichtigt war. I m Ergebnis fühle sich heute ein zunehmender Teil der höherqualifizierten Angestellten nicht mehr v o l l von den Gewerkschaften vertreten. Auch von dieser Erscheinung gingen zunehmende Belastungen auf das italienische Verhandlungssystem aus. I n der allgemeinen Diskussion hoben mehrere Diskussionsredner hervor, daß es zwar wichtig sei, sich m i t der Verbindung von Betriebspolitik und Tarifpolitik i n anderen Ländern intensiver auseinanderzusetzen, u m daraus für die eigene Politik lernen zu können. Ebenso wurde angesichts des Berichts über das Verhandlungssystem i n Italien und der sich hierin abzeichnenden Krisenerscheinungen vor einer Überbewertung der „artikulierten Tarifpolitik" gewarnt. Es unterblieb jedoch der Versuch, die Konsequenzen hieraus zu ziehen und zu erörtern, wie eine Verbindung zwischen Betriebspolitik und Tarifpolitik ζ. B. i n der Bundesrepublik gezogen werden könnte. Zum Kurzreferat 4: Gewerkschaftliche Tarif- und Betriebspolitik i n Frankreich — Konzeption und Praxis der CFDT (Referent:

Hughues Blassel)

Auch i n dieser Diskussion standen zunächst Fragen i m Vordergrund, die die genauere Erläuterung des französischen Verhandlungssystems zum Inhalt hatten. Zunächst wurde dabei auf die Frage eingegangen, ob es Haustarifverträge gibt. Hieran anschließend wurde vom Referenten der Begriff „recentrage" (Neozentrierung) erläutert. Dieser Begriff löste eine lebhafte Diskussion aus, wobei es zunächst u m die Fragen der gewerkschaftlichen Aktionseinheit sowie die Bezüge zur Volksfrontpolitik ging, später jedoch auch die Brücke zur Diskussion i n Großbritannien einerseits sowie die Bundesrepublik andererseits geschlagen wurde. Bei der Erläuterung des Begriffs „recentrage" betonte der Referent, daß es der CFDT darum gehe, die Ebene des Verhandeins mit der Ebene des gewerkschaftlichen Handelns stärker zu verknüpfen, was jedoch eine generelle Revision des Verhandlungssystems erforderlich mache. Insbesondere ginge es darum, die Einwirkungsmöglichkeiten des Staates i n bestimmten Bereichen derart zu reduzieren, daß den Beschäftigten wieder stärker klar würde, wozu Tarifverhandlungen nötig seien. A m Beispiel der Arbeitszeitgesetzgebung erläuterte der Referent eindrucksvoll seine These von den „Fallstricken des Etatismus". Hier seien mitten i n langwierige Verhandlungen der Tarifpar-

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teien hinein staatliche Verordnungen erlassen worden, die die Verhandlungen zumindest ζ. T. gegenstandslos gemacht hätten. Die folgende Diskussion konzentrierte sich auf die Bezüge zwischen gewerkschaftlicher Aktionseinheit (CGT und CFDT) einerseits sowie Volksfrontpolitik andererseits. Hier räumte der Referent zunächst ein, daß zweifellos derartige Verbindungen bestünden, was auch die zeitliche Parallelität des Auseinanderbrechens der Volksfront und der Aufgabe der gewerkschaftlichen Aktionseinheit erkläre. Der CFDT ginge es u m eine verstärkte Autonomie der Tarifparteien gegenüber dem Staat; u m diese erhöhte Autonomie zu erreichen, sei aber eine Aktionseinheit der CFDT und CGT erforderlich. Von mehreren Diskussionsteilnehmern wurde sodann der Versuch unternommen, den Begriff „recentrage" m i t der deutschen Diskussion u m eine „Rückbesinnung auf die eigene gewerkschaftliche Kraft", wie sie i n den vergangenen Jahren vom DGB-Vorsitzenden immer wieder gefordert wurde, zu vergleichen. I n seinem Schlußwort griff der Referent diese Parallelitäts-These auf, warnte jedoch vor einem allzu schematischen Vergleich. E i n direkter Vergleich der gewerkschaftlichen Verhandlungssysteme, Organisationsstrukturen und Aktionsformen von Land zu Land berühre das jeweilige politische System, insbesondere die Parteienlandschaft. Jeder schematische Vergleich drohe deshalb zum „Attentat gegen die Geschichte der K u l t u r der jeweiligen Länder" zu geraten.

Themenkreis 3 Grad der Verrechtlichung betrieblicher Arbeitsbeziehungen Zur rechtlichen Einbindung gewerkschaftlicher Betriebspolitik in der Bundesrepublik Deutschland Von Rainer Erd, Frankfurt a. M. Die Institution des m i t gesetzlich garantierten Rechten versehenen Betriebsrats, eingezwängt i n die normativen Fesseln der „vertrauensvollen Zusammenarbeit" und des „Betriebswohles", gilt i n vielen europäischen Ländern als Symbol für einen Koloß auf tönernen Füßen. Das über mehrere Dutzende von Paragraphen sich erstreckende Betriebsverfassungsgesetz, für angelsächsische Länder ein unvorstellbares Monstrum staatlichen Perfektionszwangs, gewährt dem Betriebsrat zwar eine Unmenge von Einflußmöglichkeiten unterschiedlichster A r t , nicht i m entferntesten jedoch kann die betriebliche Interessenvertretung derart weitgehend auf die Entscheidungen der Geschäftsleitung einwirken, wie das etwa i n England der Fall ist. Verrechtlichung also mehr als eine Beschränkung denn als Erweiterung betrieblicher Handlungsmöglichkeiten? Das „Gewiß" auf diese Frage geht jedem halbwegs Informierten schnell über die Lippen, weniger bekannt indes scheint m i r zu sein, aus welchen Gründen es i n Deutschland zu dieser spezifischen Verrechtlichung der betrieblichen Interessenvertretung gekommen ist und welche gewerkschaftspolitische Funktion sie erfüllt. Diesen Gründen nachzugehen, erfordert — das sei vorweg warnend gesagt — eine kritische Reflexion gewerkschaftlicher Politik i n der Bundesrepublik, die das allzu bequeme Argument nicht akzeptiert, Betriebsräte würden ja interessenbewußter handeln, wenn ihnen das Gesetz nur den notwendigen Spielraum ließe. Meine These, knapp formuliert, ist die: Nicht das Betriebsverfassungsgesetz trägt die Verantwortung dafür, daß die betriebliche Interessenvertretung i n der Bundesrepublik i m Zweifel dem Betriebs wohl den Vorrang vor Arbeitnehmerinteressen und dem Arbeitsfrieden vor dem Streik gibt, sondern das Selbstverständnis und die Praxis der bundesdeutschen Gewerkschaftspolitik. Noch kürzer formuliert: Gäbe es kein BetrVG, die deutschen Gewerkschaften w ü r -

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den es vom Gesetzgeber fordern, freilich m i t ein wenig erweiterten M i t bestimmungsrechten, nicht jedoch m i t einer anderen Struktur. Bevor diese provokative These näher ausgeführt wird, möchte ich m i t wenigen Strichen die Spezifika der rechtlich institutionalisierten Betriebsverfassung i n der BRD skizzieren. 1. Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) von 1952 (und auch das von 1972) hat das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Betriebsräten i n einer spezifischen Weise rechtlich geregelt. Gewerkschaften und Betriebsräte fungieren als eigenständige Institutionen der Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten. Die Regelungsbereiche der Gewerkschaften sollen sich ebenso von denen der Betriebsräte unterscheiden wie die Formen der Interessenartikulation und -durchsetzung. Die Gewerkschaften regeln i m Rahmen der Tarif autonomie die Tausch- und Gebrauchswertseite der Arbeitskraft (den Lohn i m Lohntarifvertrag, die Arbeitsbedingungen i m Lohnrahmen- oder Manteltarifvertrag), die betriebliche Interessenvertretung soll die Regelungslücken der Tarifautonomie ausfüllen (Vorrang des Tarifvertrages vor der Betriebsvereinbarung). Der Gesetzgeber überantwortet der betrieblichen Interessenvertretung einen eigenständigen Bereich (die konkrete Verwertung des Gebrauchswertes der Arbeitskraft), den man mit Kontrolle der Einsatz- und Verwertungsbedingungen der Arbeitskraft beschreiben kann (Mitbestimmung i n sozialen, personellen und w i r t schaftlichen Angelegenheiten). Die Intensität der Kontrolle über die Einsatz- und Verwertungsbedingungen der Arbeitskraft variiert mit der Nähe zu den genuinen unternehmerischen Entscheidungen. Das M i t bestimmungsrecht des Betriebsrats ist am stärksten ausgestaltet bei Problemen, die die Rahmenbedingungen der Verwertung der Arbeitskraft betreffen (den „sozialen Angelegenheiten"), weitaus schwächer hingegen, sofern die Einsatzbedingungen der Arbeitskraft i n Frage stehen („personelle" und „wirtschaftliche" Angelegenheiten). Der thematischen Beschränkung und Ausdifferenzierung von Tarifautonomie und Betriebsverfassung entspricht die unterschiedliche Regelung der Handlungsmöglichkeiten von Gewerkschaften und Betriebsräten. Während für die Erhaltung des Tausch- und Gebrauchswerts der Arbeitskraft das Spektrum gewerkschaftlicher Handlungsmöglichkeiten von Tarifverhandlungen bis zum Streik (mit gewissen Restriktionen) garantiert wird, versagt der Gesetzgeber der betrieblichen Interessenvertretung diese Handlungsformen. Die Einsatz- und Verwertungsbedingungen der Arbeitskraft sollen individuell geregelt werden: Der Betriebsrat w i r d auf die „vertrauensvolle Zusammenarbeit" m i t der Geschäftsleitung festgelegt (§ 49 Abs. 1 BetrVG 1952), kollektive Kampfmaßnahmen sind i h m untersagt (§49 Abs. 2 BetrVG), er darf Informa-

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tionen über Maßnahmen der Geschäftsleitung nur i n beschränktem U m fang an die Belegschaft weitergeben (§ 55 BetrVG) so wie umgekehrt der Einfluß der Belegschaft auf die Arbeit des Betriebsrats beschränkt ist (§ 44 BetrVG). 2. Die Auseinandersetzungen der Gewerkschaften mit dem Staatsapparat um die Verrechtlichung der betrieblichen Interessenvertretung durchzog i n sämtlichen Phasen der Nachkriegsgeschichte der Widerspruch, daß trotz ständiger „Niederlagen" der (erfolglose) Verhandlungsweg die Möglichkeit kollektiver Aktionen dominierte. Sofern die Gewerkschaften zu Kampfmaßnahmen aufriefen, standen diese unter der Perspektive baldestmöglicher Beendigung zugunsten weiterer Verhandlungen. Die Gewerkschaften beklagten und kritisierten zwar ständig die Niederlage ihrer Neuordnungskonzeption, fügten sich indessen stets den normativen Rahmenbedingungen. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Ich möchte die These begründen, daß der DGB die Auseinandersetzungen u m die Verrechtlichung der betrieblichen Interessenvertretung deshalb ohne umfassende Mobilisierung führte, w e i l dem Betrieb i n der Neuordnungskonzeption kein strategisch offensiver Stellenwert zukam, er vielmehr als nachgeordnetes Problem unter defensiven Aspekten diskutiert wurde. Die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes war zwar insofern eine „Niederlage" gewerkschaftlicher Vorstellungen, als die Gewerkschaften einen Teil ihrer Forderungen nicht vollständig durchsetzen konnten, eine Niederlage freilich, die nicht den Kern des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses für eine Neuordnung der Gesellschaft traf. Hinzu kam, daß die kooperative Betriebsverfassung wichtige (wenn auch widersprüchliche) Funktionen für eine zentrale Tarifpolitik erfüllte. a) I n den Neuordnungsvorstellungen der führenden sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionäre, die i n wesentlichen Teilen an die Konzeption der „Wirtschaftsdemokratie" aus der Weimarer Republik anknüpften (Naphtali), spielte der Betrieb als Basis gewerkschaftlicher Politik eine untergeordnete Rolle. Nach dem Konzept der „Wirtschaftsdemokratie" sollte die Demokratisierung der Wirtschaft, eine notwendige Ergänzung zum parlamentarisch verfaßten politischen System, i m Wege der Gesetzgebung von der nationalen bzw. Unternehmensebene nach unten erfolgen, nicht i m Betrieb ihren Ausgangspunkt nehmen. Schwerpunkte der Neuordnungsvorstellungen waren dementsprechend die Beteiligung der Gewerkschaften an den staatlichen Organen der Wirtschaftspolitik und der Versorgung m i t öffentlichen Dienstleistungen, den Selbstverwaltungskörperschaften von Industrie, Handel, Handwerk und Landwirtschaft sowie bei der Kontrolle von Monopolen und

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Kartellen. Der gewerkschaftliche Einfluß auf die konkreten betrieblichen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sollte neben der Beteiligung i n den zentralen Entscheidungsgremien der Unternehmen und der Einflußnahme auf die staatliche Sozialpolitik durch kollektive Vereinbarungen gewährleistet werden. Da die Partizipation der Gewerkschaften an den zentralen Gremien durch gewerkschaftliche Spitzenfunktionäre erfolgte, erschien dem Theoretiker der „Wirtschaftsdemokratie", F. Naphtali, die gesetzliche Beschränkung der Rolle der Betriebsräte durchaus angemessen: „Die soziale und wirtschaftliche Führung (kann) nur durch die kollektive überbetriebliche Vertretung der Arbeiterschaft ausgeübt (werden) und den Betriebsräten daher nur die Durchführung und Überwachung verbleiben 1 ." I m Zentrum der Theorie der „Wirtschaftsdemokratie" stand die über staatliche und wirtschaftliche Spitzengremien vermittelte Beteiligung der Gewerkschaftsfunktionäre an der gesetzlichen Demokratisierung der Wirtschaft. Aus dieser strategischen Perspektive mußte eine eigenständige betriebliche Interessenvertretung als Basis der gesellschaftlichen Umgestaltung nicht nur überflüssig, sondern sogar bedrohlich erscheinen. Die betriebliche Interessenvertretung — so seien die Ausführungen von Naphtali pointiert zusammengefaßt — ist nicht der Träger gesellschaftlicher Neuordnungskonzeptionen, sie fungiert als gewerkschaftliches Ausführungsorgan i m Kontext einer von zentralen Institutionen paritätisch verwalteten Wirtschaftsdemokratie. Die Konzeption der „Wirtschaftsdemokratie" wurde zwar Ende der zwanziger Jahre theoretisch formuliert, nach dem Zweiten Weltkrieg griffen die Gewerkschaftsführer jedoch i m wesentlichen auf sie zurück, ergänzten sie allein i n einigen, eher sekundären Punkten. Die Betriebsräte fanden nun zwar stärkere Beachtung, erhielten aber i n allen Neuordnungskonzeptionen wiederum einen untergeordneten Stellenwert. I m Mittelpunkt der Neuordnungsvorstellungen stand erneut die Beteiligung der Gewerkschaften an der staatlichen Planung der Wirtschaft und i n den Selbstverwaltungskörperschaften, obwohl dieses Konzept i n der Weimarer Republik gescheitert war. Hinzugefügt wurde nun jedoch, daß „Gewerkschaften und Betriebsvertreter an der Leitung größerer Betriebe zu beteiligen" sind. Das Zugeständnis an die Betriebsräte, Einfluß auf die Gestaltung der großen Betriebe zu nehmen, war freilich nicht Ausdruck einer neuen Konzeption, die der betrieblichen Bewegung einen entscheidungrelevanten Stellenwert zuwies, sondern Resultat der Überlegung, daß der Aufbau der zerstörten Be1 Naphtali, Fritz: Wirtschaftsdemokratie — I h r Wesen, Weg u n d Ziel, B e r l i n 1928, Neuausgabe F r a n k f u r t a. M . 1966, S. 162 f.

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triebe ohne die institutionelle Beteiligung betrieblicher Gremien nicht möglich sein werde. Betriebliche Interessenvertreter sollten i n einer spezifischen — der Logik zentralisierter gesellschaftlicher Wirtschaftsplanung durchaus entsprechenden — Form an den Entscheidungen beteiligt werden: der paritätischen Besetzung der Aufsichtsräte i n den Großbetrieben. Die Auswahl der Arbeitnehmervertreter für die A u f sichtsorgane wollten die Gewerkschaften vornehmen. Die Betriebsräte waren nicht als Kampforgane der Belegschaft zur Durchsetzung unmittelbarer Interessen am Arbeitsplatz konzeptionalisiert, sondern als Verwaltungsorgane der Gewerkschaften i m Rahmen zentralistischer Planung der wirtschaftlichen Entwicklung. Dieses Verständnis der Rolle der Betriebsräte für die Neugestaltung der Wirtschaft erklärt, warum die Gewerkschaften den Schwerpunkt ihrer Neuordnungspolitik auf die paritätische Mitbestimmung i n den Aufsichtsräten (der Eisen- und Stahlindustrie) legten, während die i m Bereich der betrieblichen Mitbestimmung vom Kontrollratsgesetz Nr. 22 eröffneten Chancen ungenutzt blieben. Es erklärt auch, warum die ersten Vorschläge des DGB zur „Neuordnung der deutschen Wirtschaft" zwar präzise Vorstellungen für die Mitbestimmung auf überbetrieblicher (Bundeswirtschaftsrat, Landeswirtschaftsrat, Wirtschaftskammern) und auf Unternehmensebene enthielten, die betriebliche Mitbestimmung jedoch nur am Rande erwähnten. Seit Beginn der Verhandlungen über das Betriebsverfassungsgesetz i m Jahre 1950 bis 1952 legte der DGB keinen Alternativentwurf vor. Nicht etwa deshalb, weil er der restriktiven Verrechtlichung der betrieblichen Interessenvertretung keinen Vorschub leisten wollte, sondern weil er die betriebliche Mitbestimmung nur als untergeordneten Bereich i m Rahmen der von zentralen Gremien gesteuerten Neuordnung der Wirtschaft ansah. Und so w i r d es schließlich auch verständlich, daß die betroffenen DGB-Gewerkschaften 1951, als die CDU-Regierung die gesetzliche Rücknahme der paritätischen Unternehmensmitbestimmung beabsichtigte, ihre Mitglieder zur Urabstimmung aufriefen und so die Intentionen der Regierung vereitelten, während sie ein Jahr später eine umfassende Mobilisierung gegen die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes unterließen. „Das Fehlen eines politischen Programms der Arbeiterbewegung i n Deutschland, das den Betrieb zum Mittelpunkt hat und vom Betrieb ausgeht, hat sich nach 1945 als ganz besonders nachhaltig für die gewerkschaftliche Entwicklung i n Westdeutschland ausgewirkt 2 ." b) Der Rekurs auf das Konzept der „Wirtschaftsdemokratie" verdeutlichte, daß der geringe Widerstand der Gewerkschaften gegen die Verabschiedung des BetrVG keineswegs mangelndem Kampfpotential zu2

Pirker, Theo: Die blinde Macht, Band 1, München 1960, S. 117.

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zuschreiben ist, sondern dem strategischen Programm des DGB zur Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft entsprach. Nun entwickelte der DGB aber dennoch einige Initiativen, u m eine verrechtlichte Betriebsverfassung i m Sinne der Gewerkschaften durchzusetzen. Diese Aktivitäten für ein BetrVG und vor allem für eine spezifische Institutionalisierung des Betriebsrats (vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Geschäftsleitung, Friedens- und Schweigepflicht, kein imperatives Mandat) veranlassen zu der Frage nach den positiven Interessen der Gewerkschaften an einer spezifischen Form der Verrechtlichung der betrieblichen Interessenvertretung. Der ADGB verstand das Betriebsrätegesetz von 1920 explizit als politische Alternative zu den (auf die grundlegende gesellschaftliche Umwälzung zielenden) Forderungen der Rätebewegung. Die zentralen Strukturelemente der gesetzlichen Betriebsverfassung gingen auf Initiativen von ADGB und SPD zurück, m i t der Intention, den Arbeiterräten per Gesetz die revolutionären Flügel zu stutzen und ihren Tätigkeitsbereich auf den Betrieb zu beschränken. Die Funktion des Betriebsrätegesetzes charakterisierend schrieb E. Fraenkel 1929: „Die Eingliederung der Räte i n die Gewerkschaftsbewegung, die nach schwerwiegenden Kämpfen . . . gelang, ist das soziale Meisterstück der deutschen Gewerkschaftsbewegung der Nachkriegszeit. Nicht mehr besteht jene ursprüngliche Gegnerschaft zwischen Betriebsrätebewegung und Gewerkschaften, die Betriebsräte sind vielmehr . . . zu dem verlängerten A r m der Gewerkschaften innerhalb des Betriebes geworden, die Betriebsräte werden von den Gewerkschaften aufgestellt, geschult und kontrolliert, sie sind die Vertrauensleute der Organisation innerhalb der Betriebe. Wenn h i n und wieder von kommunistischer Seite der Versuch gemacht wird, die Betriebsräte gegen die Gewerkschaften aufzuputschen, hat dies, wie die Ereignisse der letzten Betriebsrätewahlen zeigen, heute keine erhebliche soziologische Bedeutung mehr 3 ." Wenngleich sozialistische und kommunistische Betriebsräte nicht annähernd die gesellschaftliche Bedeutung erlangten wie nach 1918, so bekämpften die Gewerkschaftsführer die Ansätze alternativer Betriebspolitik dennoch mit der gleichen Härte wie die Arbeiterräte i n der Novemberrevolution. I n einzelnen Gewerkschaften (IG Bau-SteineErden, I G Metall) vor allem i m Ruhrgebiet konnten sich kommunistische Gewerkschafter einen gewissen Einfluß verschaffen. Sie k r i t i sierten die auf verhandlungsförmige Auseinandersetzungen zielende Politik sowie den untergeordneten Stellenwert der Betriebspolitik i m 3 K o l l e k t i v e Demokratie, in: Ramm, T h i l o (Hg.): Arbeitsrecht u n d Politik, Neuwied—Berlin 1966, S. 88.

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Konzept des DGB. Die Gewerkschaften reagierten wie i n den Auseinandersetzungen u m die Arbeiterräte 1918/19: m i t administrativen Maßnahmen. Der Höhepunkt der administrativen Ausschaltung der Opposition lag in dem Jahr, als das Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet wurde. Während der DGB einerseits mit der Bundesregierung über einen stärkeren Einfluß auf der betrieblichen Ebene verhandelte, schlossen die Einzelgewerkschaften auf Grund eines Unvereinbarkeitsbeschlusses massenhaft kommunistische Mitglieder aus. I m Ruhrgebiet löste der Hauptvorstand der I G Bau-Steine-Erden über Nacht ganze Verwaltungsstellen auf, i n denen Kommunisten über einen dominanten Einfluß verfügten, und besetzte sie m i t sozialdemokratischen Mitgliedern. Die Strategie der Gewerkschaftsführer, auf zentraler Verhandlungsebene die Neuordnung der deutschen Wirtschaft gesetzlich zu verankern, vertrug sich nicht m i t einer sozialistischen oder kommunistischen Politik, die i m Betrieb die Basis für eine gesellschaftliche Veränderung sah. Deshalb trat die Mehrheit der DGB-Führer auch nach 1945 für eine sozialpartnerschaftliche Struktur der Betriebsverfassung ein. Der Kampf des DGB gegen den geringen Einfluß der Gewerkschaften auf die Betriebsräte und die beschränkte Form wirtschaftlicher M i t bestimmung verdeckte die positive Option für die von der Bundesregierung vorgeschlagene Struktur der Betriebsverfassung. Allerdings stellte die normative Einbindung und Zähmung der Betriebsräte ohne ihre „Vergewerkschaftlichung" und ohne umfassende wirtschaftliche Mitbestimmungskompetenzen die Gewerkschaften nicht zufrieden. Das BetrVG leistete für die Gewerkschaften gleichsam nach links wesentliche Dienste, wandte sich aber zugleich auch gegen fundamentale Vorstellungen gewerkschaftlicher Neuordnungskonzeptionen. Wenn die DGB-Gewerkschaften dennoch nicht zu konsequenten Kampfmaßnahmen gegen die Verabschiedung des Gesetzes aufriefen und seine kooperative Struktur bis heute akzeptierten, dann auch deshalb, weil das Betriebsverfassungsgesetz neben seiner Option gegen eine räteförmige Betriebsverfassung ein weiteres Votum für gewerkschaftliche Vorstellungen traf. Zentralistisch verfaßte Gewerkschaften sind m i t einem Dilemma konfrontiert: Einerseits erlaubt der bürokratische Apparat, daß betriebliche und regionale ökonomische Wachstumsdifferenzen verallgemeinerbar werden und auf diese Weise das Durchsetzungspotential der Organisation erhöht wird, andererseits droht der mangelnde Kontakt zum betrieblichen Geschehen der zentralisierten Macht ständig die Legitimationsbasis zu entziehen. Der institutionell gezähmte Betriebsrat erwies sich nun deshalb für die Gewerkschaften als notwendig, weil

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er das Bindeglied zwischen Apparat und Mitgliedern i m Betrieb darstellt, ohne für eine eigenständige Politik machtvoll ausgestattet zu sein. Das Streikrecht blieb allein den Gewerkschaften zugewiesen (§ 49 Absatz 2 BetrVG a. F.), und sie erhielten die gesetzliche Zuständigkeit für ihren zentralen Tätigkeitsbereich, die Lohnpolitik (§ 59 BetrVG a. F.). Die Kompetenzen der Betriebsräte konzentrierten sich auf die Bereiche, welche die zentrale gewerkschaftliche Lohn- und Manteltarifpolitik nicht erfassen kann; die Betriebsräte sind gesetzlich als Ausführungsund Lückenfüllungsorgane konzipiert, die sich nicht als Konkurrenz gegenüber den Gewerkschaften etablieren sollen. Auch faktisch erhielten kooperative Betriebsräte eine wesentliche Funktion für die strukturellen Defizite zentraler Tarifpolitik. Die auf zentrale bzw. regionale Abschlüsse ausgerichtete Tarifpolitik der Gewerkschaften wies i n den Hochkonjunkturphasen bis Mitte der sechziger Jahre eine bedeutsame Schwäche auf: Zwar gelang es ihr, für alle Betriebe eines Tarifgebietes (auch die schlecht organisierten) bzw. für den gesamten Bereich der Gewerkschaft einheitliche Lohnvereinbarungen durchzusetzen, die Erhöhung orientierte sich jedoch eher am finanziell schwachen Grenzbetrieb als am produktivitätsstarken Großbetrieb. I n den finanziell starken Großbetrieben verblieb den Betriebsräten somit ein von der gewerkschaftlichen Tarifpolitik nicht erfaßter und nicht erfaßbarer Bereich betrieblicher Lohnpolitik. Indem sie ohne größere Konflikte m i t den Unternehmern zusätzliche Vereinbarungen trafen, waren die Betriebsräte geradezu ein Garant dafür, daß die zentrale Tarifpolitik nicht von unten erschüttert wurde. Die kooperative betriebliche Lohnpolitik füllte die Schwachstellen der zentralen Tarifpolitik aus, ohne sie i n Frage zu stellen. Daneben erfüllten die sozialpartnerschaftlichen Betriebsräte wesentliche Funktionen für die Organisationsprobleme der Gewerkschaften: Sie warben neue Mitglieder, verteilten gewerkschaftliches Informations· und Agitationsmaterial i n den Betrieben und kassierten die Beiträge. Ihre Mitgliedernähe machte sie zum unverzichtbaren Teil des gewerkschaftlichen Organisationsprozesses. Bedeutung erlangen die Betriebsräte für die Gewerkschaften auch insofern, als sie ihnen präzise Informationen über die ökonomische Entwicklung der Branche, besonders der großen Betriebe verschaffen, die für die Vorbereitung von Tarifrunden unverzichtbar sind. Und schließlich vermitteln sie den Gewerkschaften Einschätzungen über die „Stimmung" der Mitglieder, was besonders bei der Vorbereitung von Kampfmaßnahmen relevant ist. 3. Die Betriebsräte überdeckten die Defizite zentraler Tarifpolitik freilich nur so lange, als die ökonomische Prosperität lohnpolitische Erfolge auf dem Verhandlungsweg zuließ. Ökonomische Krisenerschei12 Tagung Dortmund 1981

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nungen mußten die Funktion der Betriebsräte für eine kooperative Gewerkschaftspolitik objektiv i n Frage stellen. Gelang es den Betriebsräten nicht mehr, m i t der Geschäftsleitung höhere Löhne auszuhandeln oder versuchten sie, m i t kämpferischen Formen Verbesserungen durchzusetzen, dann vertieften sie die Legitimationsprobleme der Gewerkschaften. I m einen Fall deshalb, weil nun offensichtlich wurde, daß eine kooperative Gewerkschaftspolitik allein i n den Schönwetterperioden des Kapitalismus erfolgreich sein kann, i m zweiten Fall aus dem Grund, w e i l eine kämpferische Betriebspolitik der an gesamtökonomischen Daten orientierten Tarifpolitik zuwiderläuft. Da die Gewerkschaften konzeptionell an einer kooperativen Betriebspolitik festhielten, mußten sie einerseits Bereiche betrieblicher Politik übernehmen und sektoral verhandeln und andererseits Ansätze einer alternativen Betriebsrätepolitik verhindern. Die seit der Krise verstärkt auftretenden Gewerkschaftsausschlüsse sowie beschäftigungspolitische Initiativen i n der Druck- und i n der Metallindustrie deuten auf die veränderte Funktion der Betriebsräte unter Krisenbedingungen hin. Das Dilemma, vor dem die verrechtlichte Betriebsverfassung heute, nach langen Jahren ökonomischer Stagnation, steht, ist dies: Die Betriebsräte allein sind ohnmächtig, den Rationalisierungsstrategien der Unternehmer wirksamen Widerstand entgegenzusetzen und müssen deshalb die Gewerkschaften zu A k t i v i t ä t e n ermutigen. Sofern diese etwas unternehmen, wie beispielsweise die I G Druck und Papier m i t dem Rastertarifvertrag, bedarf es der betrieblichen Konkretisierung solcher Tarifverträge, wenn sie mehr als Papier sein sollen. Das indes verweist wieder zurück auf den Betriebsrat, dessen Handlungsmöglichkeiten, wie beschrieben, begrenzt sind. Was erforderlich wäre, so möchte ich schließen, ist ein anderes Verhältnis von Betriebsrat und Gewerkschaft und eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Betriebsräten. Das indes, so hoffe ich klargemacht zu haben, setzt ein anderes, dezentraleres Verständnis gewerkschaftlicher Politik voraus.

Rechtliche Einbindung gewerkschaftlicher Betriebspolitik in Italien ? Von Marcello Pedrazzoli, Bologna 1. Vorbemerkung Zur Einleitung meines Referats über die rechtliche Einbindung betrieblicher Gewerkschaftspolitik dürfte es nützlich sein, kurz einige Besonderheiten des italienischen Systems der Arbeitsbeziehungen hervorzuheben. A u f den durchgängig monistischen Charakter der Interessenvertretung werde ich anschließend eingehen. Zunächst ist zu betonen, daß bei uns die Betriebsverfassung so gut wie keine institutionelle Geschichte hat, und daß auch die gegenwärtige Situation sich kaum m i t der i n der BRD vergleichen läßt; daß ferner keine gesetzlichen Mitbestimmungssysteme, insbesondere nicht i n unternehmerischen Organen, eingeführt wurden; und daß das Tarifsystem nie — außer i n der Zeit des Korporativismus — gesetzlichen Regelungen unterstellt war. Es besteht nicht nur ein weites Feld für die Schaffung freiwilliger Normen, sondern auch für die Definition der Modalitäten einer solchen Normgebung. Die Faktoren, die bei der Entstehung von Regelungen mitspielen, sind i m wesentlichen: Konflikt, Verhandlung, Druckausübung, Schlichtung, Kompromiß; kurz: eine permanente Verhandlung (in dem etwas allzu weiten Sinn, den der Begriff bei uns angenommen hat), die i m großen und ganzen keine juristische Sanktionierung genießt, denn die Verantwortlichkeiten bei Nichtfunktionieren sind nicht klar festgelegt, und deren Wirksamkeit von faktischen, gewissermaßen vorjuristischen Umständen abhängt. Hiermit soll kein Werturteil abgegeben werden, es gilt lediglich festzuhalten, daß aus den genannten Gründen eine Darstellung der rechtlichen Ausformung des italienischen Systems i n seiner Gesamtheit schwierig ist und vieles dabei fragwürdig bleibt. Da die normativen Voraussetzungen fehlen, von denen die Diskussion über die Verrechtlichung gewöhnlich ausgeht, ist das Problem aus einem italienischen Gesichtswinkel heraus noch schwerer zu fassen. Meine Ausführungen werden sich deshalb darauf beschränken, die wenigen Rechtsnormen zur betrieblichen Interessenvertretung darzustellen, sowie jene anderen Regeln herauszuarbeiten, die deren Funktionsweise bestimmen, u m so 12·

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ein Gesamtbild der Normen zur Regelung der Politik i m Betrieb zu liefern.

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2. Gesetzliche Regelung der betrieblichen Interessenvertretung a) Erscheinungsformen des monistischen Vertretungssystems

U m sofort zur Sache zu kommen, w i l l ich die turbulenten Jahre 1968 - 70, i n denen sich die neuen Tendenzen der Interessenvertretung herausgebildet haben, hier übergehen und von der relativen Konsolidierung des Systems ausgehen. Anfang der siebziger Jahre gibt es eine ganze Reihe betrieblicher Strukturen m i t unterschiedlichen Bezeichnungen. Die „Delegierten" (und der „Delegiertenrat") deuten gewöhnlich auf eine Wahl oder direkte Ernennung seitens „homogener Gruppen", ebenso der „Fabrikrat" — doch dieser seitens der gesamten Belegschaft. „Betriebliche Gewerkschaftsvertretung" — wie das Gesetz es formuliert — deutet hingegen auf eine verstärkte Einflußnahme der externen Gewerkschaft auf die Bildung des betriebsinternen Organs, was bis zur direkten Ernennung von dessen Mitgliedern gehen kann (man denke etwa an „heikle" betriebliche Situationen). Der Begriff „erweiterter Fabrikrat" schließlich weist auf eine Einbeziehung von Mitgliedern, die unmittelbar aus der Gewerkschaft kommen. Diese und andere Terminologien bezeichnen historisch gewachsene, differenzierte Realitäten. Doch zumindest hinsichtlich der juristischen Natur und der Behandlung jener betrieblichen Vertretungsorgane haben die Unterscheidungen m i t wachsendem Abstand zu der Welle von 1968/69 immer mehr an Bedeutung verloren. Tatsächlich haben alle diese Organe eine doppelte Legitimation: einerseits repräsentieren sie die Gesamtheit der Arbeitnehmer eines bestimmten Betriebs, andererseits sind sie — und dies nach dem Willen der Gewerkschaft — unmittelbarer Bestandteil der gewerkschaftlichen Organisation selbst. Wie w i r sehen werden, hatte eben diese Anerkennung seitens bestimmter Gewerkschaften den legislativen Schutz zur Folge. b) Die Privilegierung der „repräsentativsten Gewerkschaften" durch das Arbeitnehmerstatut

Die betriebliche Interessenvertretung, die hinsichtlich der früheren „Betriebskommissionen" lediglich durch Tarifabkommen geregelt war, ist zum ersten M a l i m Jahre 1970 Gegenstand gesetzgeberischer Initiative geworden, als i n einem grundlegenden Teil des Arbeitnehmerstatuts eine deutliche Unterstützung der gewerkschaftlichen A k t i v i t ä t i m Betrieb eingeführt wurde. Diesem Teil des Gesetzes sind Normen zur Koalitionsfreiheit vorangestellt, die als individuelles Recht erneut

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bekräftigt w i r d (Art. 14), und die außerdem geschützt ist durch das Verbot diskriminierender Vereinbarungen oder Handlungen auf Grund der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Gewerkschaft oder der Teilnahme an einem Streik (Art. 15). Hinzu kommen das Verbot kollektiver Diskriminierungen durch ungleiche Löhne (ζ. B. Antistreikprämien; s. A r t . 16) und das Verbot der Einrichtung oder Unterstützung gelber Gewerkschaften durch den Arbeitgeber (Art. 17). I n bezug auf die gewerkschaftlichen A k t i v i t ä t e n i m Betrieb bestimmt das Statut i n Abschnitt I I I zunächst das Organ, das diese ausübt, sowie die Voraussetzungen, m i t deren Vorhandensein seine besonderen Rechte und Privilegien verknüpft sind. Die betriebliche Gewerkschaftsvertretung — so A r t . 19 — kann auf Initiative der Arbeitnehmer i n jedem Betrieb m i t mehr als 15 Beschäftigten (Art. 35) gebildet werden, und zwar i m Rahmen a) der Gewerkschaften, die den auf nationaler Ebene repräsentativsten Gewerkschaftsbünden angehören, oder b) der Gewerkschaften, die auf nationaler oder provinzieller Ebene Tarifverträge abgeschlossen haben, die i n dem fraglichen Betrieb Anwendung finden. Da als repräsentativste Gewerkschaften praktisch einhellig die CGIL, die CISL und die U I L betrachtet werden, privilegiert das Statut i m Betrieb eindeutig die historisch glaubwürdigsten Ausdrucksformen der Gewerkschaftsbewegung und deren Tendenz zur Einheit. Die Gewerkschaften außerhalb der genannten Bünde sind demgegenüber sehr viel schlechter gestellt, denn die Voraussetzungen des Buchstabens b) sind nur äußerst selten gegeben. Was die Frage der Ungleichbehandlung durch diese Norm betrifft, so hat der Verfassungsgerichtshof entsprechende Bedenken ausgeräumt (Urteil vom 6. März 1974, Nr. 54). Wenn die Interessenvertretung, egal wie sie zustandegekommen ist und wie sie sich nennt, von den privilegierten Gewerkschaften anerkannt w i r d (was auch stillschweigend geschehen kann), so kommt das Statut für sie zur Anwendung. Das Vertretungsorgan kann folglich jene Maßnahmen treffen und genießt jene Rechte und Privilegien, die i m folgenden gerafft, aber doch so vollständig wie möglich dargestellt werden sollen. c) Materielle Voraussetzungen der gewerkschaftlichen Aktivität i m Betrieb

Das Gesetz sichert zunächst einmal einige materielle Voraussetzungen zur Ausübung der Interessenvertretung. Besonders betont w i r d das Recht auf Meinungsfreiheit auch i m Betrieb (Art. 1), und damit verbun-

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den das Recht auf Proselytismus (Mitgliederwerbung, Propaganda, Organisationsarbeit — A r t . 26, Abs. 1). Wenngleich diese Rechte allen Arbeitern zustehen, sind sie natürlich i m Zusammenhang der privilegierten Gewerkschaften besonders wirksam. Dasselbe gilt für die Befugnis zur Einziehung der Gewerkschaftsbeiträge durch Einbehaltung vom Lohn — nach tarifvertraglich bestimmten Modalitäten, die die Geheimhaltung gewährleisten (Art. 26, Abs. 2). Die Vertretungsorgane sind weiterhin befugt, an dafür vorgesehenen Stellen Anschläge anzubringen (Art. 25) und haben einen Anspruch auf Stellung geeigneter Versammlungsräume, die bei Betrieben m i t mehr als 200 Beschäftigten ständig zur Verfügung stehen müssen (Art. 27). Von grundlegender Bedeutung ist die Befugnis der Vertretungsorgane, die notwendigen Initiativen zur Kommunikation m i t der Belegschaft zu ergreifen. Das Recht zur Einberufung von Versammlungen über „gewerkschaftliche und betriebliche Fragen" (Art. 20), die innerhalb bestimmter Grenzen auf die Arbeitszeit angerechnet werden, ist i n der Tat Ausdruck eines Modells der Entscheidungsbildung, das i n den Kämpfen von 1968/69 die Demokratie i n den Fabriken verwirklicht hatte und auf der Tarif ebene bereits Anerkennung genoß. Diese demokratische Funktion, die die Betriebsversammlung jahrelang tatsächlich ausgeübt hatte, scheint i n letzter Zeit immer schwächer zu werden. Dagegen hat ein anderes Instrument i n der Hand der Vertretungsorgane — das der Urabstimmung (Art. 21) — eine gewisse Aufwertung erfahren. I n der Vergangenheit kaum beachtet, w i r d sie nun explizit zur Kontrolle und Korrektur von Entscheidungen benutzt, die ohne den erforderlichen Konsens zustandegekommen waren. d) Schutz der betrieblichen Gewerkschaftsvertreter

Die sog. „internen Gewerkschafter" — Mitglieder der Fabrikräte, Delegierte, Gewerkschaftsvertreter — haben einen Anspruch auf Freistellung von der Arbeit zur Durchführung ihrer Aufgaben und Funktionen, und dies — innerhalb bestimmter Grenzen — ohne Lohneinbußen (Art. 23); die Einzelheiten, besonders die gleichmäßige Verteilung der Gesamt-Stundenzahl auf die einzelnen Organisationen, werden durch Tarifvertrag geregelt. Außerdem ist ungezählter Sonderurlaub möglich (Art. 24), sowie eine — ebenfalls unbezahlte — Beurlaubung zur Wahrnehmung gewerkschaftlicher Ämter (Art. 31). Ebenfalls zum Zweck der Sicherung einer optimalen Kommunikation m i t den Arbeitnehmern ist die Versetzung von Gewerkschaftsvertretern i n eine andere Abteilung nicht nur durch die allgemeinen Vorschriften (Art. 13) eingeschränkt, sondern auch an die Einwilligung

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seitens der Gewerkschaft gebunden (Art. 22). Ein besonders wirksames Privileg besteht hinsichtlich des Kündigungsschutzes. I m Normalfall ordnet der Richter bei einer rechtswidrigen (weil nichtigen, nicht gerechtfertigten oder unwirksamen) Kündigung die Wiedereinsetzung an den Arbeitsplatz an. Für Mitglieder eines Vertretungsorgans kann diese Anordnung sogar bei noch laufendem Verfahren ausgesprochen werden, wenn der Richter die vom Arbeitgeber angeführten Gründe für unerheblich oder unzureichend erachtet. Außerdem ist die Nichtbeachtung der Anordnung i n diesem Fall m i t härteren Sanktionen belegt (Art. 18, Abs. 4 - 7), u m den sofortigen Vollzug zu erreichen. e) M itb estimmun gs- und Mitwirkungsrechte

Auch wenn man das Wort i n Italien nicht gern hört, das Statut sieht bestimmte Mitbestimmungsrechte vor, die m i t der deutschen Betriebsverfassung vergleichbar sind. So existiert eine A r t Vetorecht der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung gegen die Einrichtung audiovisueller Überwachungsanlagen am Arbeitsplatz (Art. 4) und hinsichtlich der A r t und Weise körperlicher Durchsuchungen (Art. 6), soweit diese gesetzlich überhaupt zulässig sind. Kommt es zu keiner Einigung, so w i r d i n beiden Fällen eine staatliche Schiedsstelle eingeschaltet. Was den Schutz der Gesundheit betrifft — über die Kontrolle der Einhaltung von UnfallverhütungsVorschriften hinaus —, so können (nicht näher definierte) Vertreter der Arbeitnehmer (in der Regel die gewerkschaftliche Vertretung bzw. von den Arbeitnehmern benannte Sachverständige) Verbesserungen der Sicherheitsvorkehrungen und der gesundheitlichen Bedingungen am Arbeitsplatz vorschlagen (Art. 9). f) Maßnahmen gegen antigewerkschaftliches Verhalten des Arbeitgebers

Zum Schutz der Koalitionsfreiheit, der gewerkschaftlichen Betätigung und des Streikrechts i m Betrieb ist i n A r t . 28 des Arbeitnehmerstatuts ein ganz außergewöhnliches Verfahren vorgesehen. Dieses Verfahren, bei dem der Amtsrichter umfangreiche Aufklärungsbefugnisse hat, ermöglicht es, innerhalb kürzester Zeit eine Anordnung zur Unterlassung und zur Beseitigung der Wirkung unternehmerischer Verhaltensweisen zu erwirken, die die Ausübung der obengenannten Rechtspositionen direkt oder indirekt behindern, auch wenn davon nur ein einzelner Arbeitnehmer betroffen ist. Dieses Verfahren hat eine enorme praktische Tragweite und stellt einen der „politischsten" Fälle des richterlichen Eingriffs i n Arbeitsstreitigkeiten dar. Angesichts der Brisanz der Materie hat die Gewerkschaft jedoch einen immer sparsameren Gebrauch von diesem Instrument gemacht.

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Der Rückgriff darauf w i r d oft als A k t letzter Hoffnung betrachtet und ist somit dort häufiger, wo die Gewerkschaft relativ schwach ist bzw. i n Zeiten oder gegenüber Gegnern, wo das Kräfteverhältnis ungünstig ist. Deshalb hat das Verfahren i n allerletzter Zeit wieder eine erhöhte Bedeutung gewonnen, ohne daß jedoch ein Vergleich m i t der stürmischen Zeit zu Beginn der siebziger Jahre zulässig wäre, als von den „Richtern des Sturmangriffs" gesprochen wurde. 3· Monistische Struktur der Interessenvertretung im Betrieb, gewerkschaftliche Organisation und Tarifsystem Trotz der hervorragenden Bedeutung dieses bescheidenen Normenkomplexes ist dieser nur ein Bestandteil der rechtlichen Voraussetzungen gewerkschaftlicher Politik i m Betrieb; denn deren Logik, deren M i t t e l und Inhalte haben i m wesentlichen andere Grundlagen, nämlich i n der Praxis und i n vertraglichen Regelungen. Immerhin waren bereits vor 1970 i m Wege von Verhandlungen und mehr noch von Arbeitskämpfen bestimmte Instrumente und Garantien der Interessenvertretung i m Betrieb durchgesetzt worden, die sich durchaus m i t den anschließend i m Statut festgelegten vergleichen lassen. Vor der Darstellung dieser anderen Elemente, auf die sich die Interessenvertretung stützt, soll jedoch näher untersucht werden, zu welchen Auswirkungen deren i n den siebziger Jahren entstandener monistischer Charakter geführt hat, und zwar sowohl auf der Ebene der innergewerkschaftlichen Organisation, als auch i n bezug auf das Tarifsystem. a) Der Impuls zur Gewerkschaftseinheit und zur Erneuerung der gewerkschaftlichen Organisationsstruktur

Nachdem die Gewerkschaft von der Autonomie der Arbeiter i n den Kämpfen von 1968/69 überholt worden war, hatte sie mehr denn je die Verankerung i n den Betrieben verloren. Das führte zu einem Reflexionsprozeß und — bei ihren aufgeschlossensten Teilen — zu einem Interesse für die neuentstandenen Strukturen demokratischer Vertretung. Die kurz darauf einsetzende gesetzgeberische Initiative hat diesen Revisionsprozeß natürlich erheblich erleichtert. Innerhalb weniger Jahre werden die Delegierten, die Fabrikräte, die betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen zunächst von den wichtigsten Industriegewerkschaften und dann i m Jahre 1972 von den drei Gewerkschaftsbünden als Basisstrukturen ihrer Organisation anerkannt. Dieser neue Tatbestand findet auch Eingang i n zahlreiche nationale Tarifverträge der Jahre 1973 und folgender. I n demselben Zeitraum werden viele

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Betriebstarifverträge durch die gegenseitige Anerkennung der Tarifparteien eingeleitet, da für die Arbeitnehmerseite jetzt deren betriebliche Vertretungen auftreten. Dieses Phänomen der Institutionalisierung, bei der die gesetzgeberische Hilfestellung sich verbindet m i t dem neuen Organisationskonzept der Gewerkschaft, bildet die Grundlage der sog. „Rätegewerkschaft". Ein solches Modell wäre unvorstellbar ohne die treibende Idee der Gewerkschaftseinheit. Nach der dramatischen Spaltung von 1948/49, den Kontrasten und Rivalitäten der fünfziger Jahre und dann der weitgehenden Aktionseinheit auf der Tarifebene i n den sechziger Jahren, geriet die italienische Gewerkschaftsbewegung so zwangsläufig i n einen Trend zur Wiedervereinigung. Das bestimmende Moment dieser Entwicklung war dabei eben die Verbreitung jener Einheitsstrukturen i n den Betrieben, die aus der Geschlossenheit der Kämpfe und den einheitlichen Forderungen der Basis hervorgegangen waren. Der Anspruch einer demokratischen Erneuerung und Vereinheitlichung von unten, von den Organen einheitlicher Vertretung i m Betrieb her, stellte die Gewerkschaft vor die Notwendigkeit, nicht nur ihren Arbeitsstil, sondern auch ihre gesamte Organisationsstruktur zu verändern. Einerseits werden die örtlichen Gewerkschaftsinstanzen enger an die betriebsinternen Organe gebunden und stärker auf die betrieblichen Auseinandersetzungen ausgerichtet. Andererseits bilden sich neue Organisationsmodelle heraus als Ausdruck der Homogenität der Interessenvertretung auf allen Ebenen, angefangen von der betrieblichen bis auf die Ebene der Auseinandersetzung m i t der Regierung. I n diesem Zusammenhang ist auch auf neue Organisationsebenen hinzuweisen, die die Verbindung zwischen Betrieben und gewerkschaftlichen Ortsverbänden herstellen sollen. I n den letzten gemeinsamen Vorschlägen zur Verbesserung der organisatorischen Strukturen (Vorbereitungspapier von Montesilvano, 5. - 7. Nov. 1979) werden durchgreifende Veränderungen ins Auge gefaßt, über deren Tragweite jedoch erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen. A u f wenig Zustimmung stößt insbesondere die Idee der CGIL, die Verbindung zwischen Betrieb und örtlichen Gewerkschaftsinstanzen auf neue „consigli die zona" (Bezirksräte) zu stützen und damit gleichzeitig eine horizontale (branchenverbindende) Instanz zur Vermeidung von Partikularismus und Verlust der Gesamtperspektive zu schaffen. Eine derartige Reform würde die glorreichen Camere del lavoro (Arbeitskammern) und die Provinzverbände der Industriegewerkschaften auf eine völlig marginale Funktion zwischen der Betriebs- und der Regionalebene herabstufen.

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Marcello Pedrazzoli b) Die Durchsetzung der Einheit des Verhandlungssubjekts

Das italienische Tarif Vertragssystem stellt sich — nach Auflösung der etwas geordneteren Situation i n den sechziger Jahren — als Vielzahl von Verhandlungsebenen ohne jede feststehende Zuständigkeitsverteilung dar. Bestimmte Fragen können ständig auf einer ganz bestimmten Ebene verhandelt werden, sie können gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen auftauchen, und sie können plötzlich auf einer anderen Ebene als bisher zur Sprache gebracht werden. A l l das geschieht auf Grund von politischen Kriterien, ohne eine effektive technische Koordinierung, was ständig die Gefahr von Überschneidungen und unklarer Rangordnung der geschaffenen Regeln untereinander zur Folge hat. Vor dem Hintergrund dieser Situation hat die Entstehung einer gewerkschaftlich legitimierten betrieblichen Interessenvertretung zu einer Erneuerung von grundlegender politischer Bedeutung geführt. Denn die Gewerkschaft hat diese Organe nicht nur anerkannt, sondern ihnen auch ausdrücklich Abschlußvollmachten i n betrieblichen Tarifverhandlungen übertragen. Die örtlichen Instanzen der Gewerkschaft, die früher auf Betriebsebene die einzig anerkannte Vertretung der Arbeitnehmerseite darstellten, sind heute den i n jeder Hinsicht tariffähigen betrieblichen Strukturen allenfalls zur Seite gestellt. A u f sämtlichen Ebenen der Tarifauseinandersetzung, von der nationalen über die Branchen-, Konzern- bis zur Betriebsebene gibt es somit ein einheitliches Verhandlungssubjekt, — die Gewerkschaft. Dadurch stellen sich i n Italien bestimmte Probleme nicht, die für das deutsche System typisch sind, wie z.B. das der inhaltlichen Schranken von Betriebsvereinbarungen sowie ganz allgemein das Abstecken der Bereiche von Mitbestimmung des Betriebsrats einerseits und gewerkschaftlicher Tarifpolitik andererseits. Außer der Einleitung von Kampfmaßnahmen, der Eröffnung von Tarifverhandlungen und dem Abschluß von Verträgen fällt den Vertretungsorganen auch die Aufgabe zu, die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften zu überwachen und die Tarifverträge zu „verwalten". Auch diese Konzentration verschiedener Funktionen i n ein und demselben Organ trägt bei zum Verständnis, weshalb trotz des Fehlens einer organischen normativen Regelung die Gewerkschaftspolitiken und die Arbeitsbeziehungen i n Italien eine gewisse Kohärenz aufweisen. I n der Tat betont die Gewerkschaft die Einheit des Verhandlungssubjekts stets als eine Errungenschaft, ohne die eine wirksame, i n eine Globalstrategie eingebettete Betriebspolitik nicht möglich wäre. I n einer denkwürdigen Versammlung der Fabrikräte und Delegierten (vom 13./14. Feb. 1978 i n Rom) hat die Förderation der Gewerkschaftsbünde

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CGIL - CISL - U I L unter anderem „die Gültigkeit und Unantastbarkeit sämtlicher Tarif ebenen" sowie „die daraus folgende Ablehnung jeder Form von Zentralisierung der Verhandlungen" betont, — eine Position, die man vor 1970 als völlig abwegig betrachtet hätte. 4. Gewerkschaftliche Betriebspolitik und Tarifverhandlung Die obigen Ausführungen sollen hauptsächlich beitragen zum Verständnis der Verknüpfung jener so ungleichen Faktoren, auf die sich i n Italien die Interessenvertretung i m Betrieb stützt. Denn der Doppelcharakter der damit betrauten Organe — gewerkschaftliche Instanz und Vertretung der gesamten Belegschaft — hat sich gegenseitig bedingende Konsequenzen, die i n anderen Rechtssystemen zu differenzierten Regelungen geführt haben. Es fällt an diesem Punkt nun leichter, die Darstellung der normativen Grundlagen gewerkschaftlicher Betriebspolitik und deren Ausdrucksformen zu vervollständigen. Die „institutionelle" Präsenz, die das Arbeitnehmerstatut der Gewerkschaft innerhalb des Betriebes sichert, erhält seine instrumentelle Bedeutung nicht so sehr hinsichtlich der wenigen gesetzlich fixierten Mitbestimmungsrechte, als vielmehr i n bezug auf den zentralen Stellenwert der Tarifverhandlungen und die allumfassende Bedeutung, die diese i n Italien auch auf der betrieblichen Ebene haben. Dies soll uns hier i n seiner normativen Bedeutung vor allem unter zwei Gesichtspunkten interessieren: Als Quelle von Normen und Rechten, die die betrieblichen Interessenvertretungen betreffen und unter dem Aspekt der Verhandlungen auf Betriebs- bzw. Konzernebene. a) Der Impuls zu gewerkschaftlicher Aktivität und Kontrolle i m Betrieb durch die tarifvertraglichen Informationsrechte

Bereits i n den sechziger Jahren konnte man i n den nationalen Tarifverträgen Bestimmungen finden — meist i n Verbindung m i t Klauseln zur Verweisung von Einzelfragen auf die betriebliche Ebene —, i n denen der Gewerkschaft bestimmte Informations- und Mitwirkungsrechte übertragen wurden, z. B. i n bezug auf technische Neuerungen, Gestaltung der Arbeitsräume, Lohngruppeneinteilung; aber auch i n bezug auf Fragen, die nicht Gegenstand der Verweisung nach unten waren, wie z.B. die Durchführung von Massenentlassungen, gemäß Tarifabkommen vom 5.5.1965, das nach wie vor i n Kraft ist. Derartige sporadische Tendenzen haben Mitte der siebziger Jahre systematischen Charakter angenommen, was teilweise zu der überzogenen Hoffnung führte, es könne sich damit ein italienischer Weg zur

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Wirtschaftsdemokratie eröffnen. Ein großer Teil der 1976 abgeschlossenen Tarifverträge (und darunter alle wichtigeren) enthalten einen ersten (den sog. politischen) Teil m i t dem Titel „Informationsrechte", i n dem die einzelnen Fragen aufgeführt sind, die auf den verschiedenen Ebenen Gegenstand von Auskunfts-, Anhörungs- und Kontrollrechten sein können. Es handelt sich dabei u m Fragen von ganz zentraler Bedeutung, die fast alle Entscheidungen und Vorgänge i m Zusammenhang m i t dem Produktionsprozeß erfassen. Vor allem auf betrieblicher Ebene (in Betrieben m i t einer Mindest-Beschäftigungszahl von z.B. 300 oder — wie i n der Metallindustrie — 200) bestehen periodische Auskunftsund Anhörungsrechte hinsichtlich der Unternehmensplanung (neue Niederlassungen, Umstrukturierung bestehender Produktionsstätten, Entscheidungen über Lokalisierung und Diversifikation einzelner Produktionsbereiche), i n bezug auf Investitionen, teilweise Auslagerung der Produktion zu Drittunternehmen bzw. i n Form von Heimarbeit, Arbeitsorganisation, gesundheitliche und Umwelt-Bedingungen, Auswirkungen geplanter Maßnahmen auf den Beschäftigungsstand usw. Träger all dieser Rechte sind die betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen, eventuell gemeinsam m i t den örtlichen Gewerkschaftsinstanzen. Für den Unternehmer sind sie Gegenstand von Vertragspflichten, die er m i t einer bestimmten Regelmäßigkeit oder zu bestimmten Zeitpunkten zu erfüllen hat. I n anderen Fällen stellen sich Information und Anhörung als Auflage für den Unternehmer dar, d.h. er kann bestimmte Maßnahmen erst dann treffen, wenn er zuvor die Vertretungsorgane darüber informiert und m i t ihnen darüber diskutiert hat. Solche Regelungen finden sich z. B. i m Hinblick auf Rationalisierungsmaßnahmen, Einführung technischer Neuerungen, Dezentralisierung oder Ausgliederung von Teilen der Produktion, innerbetriebliche Mobilität. Es ist unmöglich, die minutiöse und differenzierte Kasuistik nachzuzeichnen, die i n den einzelnen Tarifverträgen zu diesem Fragenkomplex enthalten ist. Es soll nur noch einmal darauf hingewiesen werden, daß inzwischen auch vom Gesetzgeber Informationspflichten gegenüber den gewerkschaftlichen Vertretungsorganen aufgestellt wurden (für den Fall des Rückgriffs auf die Lohnausgleichskasse). Außerdem hat die Tarifrunde 1979 das System der Informationsrechte noch weiter konsolidiert, vor allem durch die Ausweitung der Kontrolle auf die sog. „externe Mobilität", d.h. i m wesentlichen auf das Problem der durch Rationalisierungen überflüssig gewordenen Arbeitskräfte. Wie gut funktioniert dieses Instrumentarium n u n tatsächlich? Der Verstoß des Unternehmers gegen die Pflicht zu periodischer Auskunfts-

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erteilung bzw. Anhörung stellt an sich schon eine Vertragsverletzung dar. Der Verstoß gegen die Auflage der vorherigen Mitteilung kann dagegen zur Rechtswidrigkeit der betreffenden Maßnahmen führen. Alle derartigen Verstöße lassen sich außerdem durch die allgemeine Norm des A r t . 28 Arbeiterstatut als antigewerkschaftliches Verhalten erfassen, insofern sie die tarifvertraglich festgelegte Tätigkeit der Gewerkschaft behindern oder einschränken. Es versteht sich von selbst, daß bei so brisanten wirtschaftlichen Fragen der gerichtliche Weg — abgesehen von seinem ungewissen Ausgang — ganz generell ein wenig geeignetes M i t t e l ist und allenfalls eine Hilfestellung für anderweitige Vermittlungsversuche bietet. b) Grundmuster betrieblicher Tarifpolitik

Die Möglichkeiten gewerkschaftlicher A k t i v i t ä t i m Betrieb, wie sie i m „politischen Teil" der nationalen Verträge eröffnet werden, sind gegenüber den wenigen Bestimmungen des Arbeitnehmerstatuts sehr viel weiter gesteckt, vielfältiger und von größerer Tragweite. Außerdem ziehen Information und Anhörung zu den genannten Fragen in vielen Fällen regelrechte Verhandlungen nach sich. Es kommt so zu einer A r t Verlängerung der Informationsrechte i n den Bereich dei Tarifauseinandersetzung hinein, was ganz generell eine stimulierende W i r k u n g auf die betriebliche Ebene des Tarifsystems hat. Ein zweites Grundmuster betrieblicher Tarifpolitik basiert auf dei Präjudiz Wirkung von Ergebnissen der Verhandlungen m i t Großunternehmen und Konzernen. Seit 1973 wurden i n dieser Richtung bedeutende Erfolge verbucht: I n einigen Großunternehmen wie z. B. Pirelli. Fiat, Montedison, Zanussi, Alfa Romeo usw. wurden Bestimmungen über Investitionen, Schaffung neuer Arbeitsplätze bzw. neuer Produktionseinheiten i n die Tarifverträge aufgenommen, einschließlich der Fristen zur Erfüllung der aufgestellten Programme (sog. Entwicklungsverträge); und all diese Inhalte wurden dann zu Präzedenzfällen f ü i eine inzwischen verbreitete betriebliche Tarifpolitik. Ganz allgemein sind die betrieblichen Verhandlungen schließlich immer enger m i t der nationalen Tarifpolitik verknüpft. Etwa bei Halbzeit der meist dreijährigen nationalen Verträge werden auf betrieblicher Ebene Plattformen vorgelegt und Verhandlungen eröffnet A u f diese Weise versucht man, das Niveau der nationalen Regelungen zu verbessern und gleichzeitig die Brauchbarkeit der neuen Linien der Betriebspolitik zu testen, wie sie von den Industriegewerkschaften und den Gewerkschaftsbünden ausgearbeitet sind. Es w i r d so die Voraussetzung einer anschließenden Verallgemeinerung von Regeln geschaffen, die es dann i n den nationalen Vertrag einzubringen gilt. Auch hier

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kommen häufig Fragen i m Zusammenhang m i t den Informationsrechten ins Spiel. Es geht dabei u m die Kontrolle und Steuerung von Rationalisierungsprozessen durch tarifvertragliche Einflußnahme auf die Dezentralisierung der Produktion, die Arbeitsorganisation, die Arbeitszeiten und Schichten, das Arbeitstempo und die Arbeitsräume, die Lohngruppen und den Personalbestand; darüber hinaus geht es u m die Ausweitung der Informationsrechte und schließlich u m eine reale Kontrolle über das effektive Lohnniveau. Für den zuletzt genannten Aspekt wären gesonderte Ausführungen nötig, u m die Besonderheiten des italienischen Lohnsystems und die Lohnpolitik der Gewerkschaft verständlich zu machen. 5. „Wirtschaftlicher Notstand" und legislative Unterstützung gewerkschaftlicher Politik Seit einigen Jahren ist das hier gezeichnete B i l d von deutlichen Krisensymptomen durchzogen. Der Prozeß der Vereinheitlichung ist auf dem Niveau der frühen siebziger Jahre stehen geblieben und hat teilweise sogar Rückschritte gemacht. Die drei Gewerkschaftsbünde haben gegenüber den politischen Kräften an Autonomie eingebüßt, entsprechend den Frontverschiebungen, die die Beziehungen zwischen den Parteien nach 1976 kennzeichnen. Die innergewerkschaftliche Demokratie hat an Substanz verloren, vor allem i n ihrem Basisorgan, das, insofern es alle Arbeitnehmer vertritt, vom Gesichtspunkt der Organisation her ein heterogenes Element darstellt. M i t der Abnahme von Engagement und Konsens bei der Basis kehren bürokratische Tendenzen auf der einen und die Gefahr der Betriebsborniertheit auf der anderen Seite wieder. Die Mitgliederzahlen der repräsentativsten Gewerkschaften sinken. I n einigen Sektoren gewinnen autonome Gewerkschaften m i t einer Politik des Partikularismus immer mehr an Bedeutung. a) Das Problem der Wirksamkeit und Angemessenheit der Medianismen gewerkschaftlicher Betriebspolitik

Zu dem internen „Auseinanderbröckeln" kommen anhaltende negative Faktoren auf gesamtwirtschaftlicher Ebene: die bedrohliche Beschäftigungslage, die unaufhaltsame Inflation. A u f diesem Hintergrund w i r k t die auf die Tarifverhandlungen gestützte Betriebspolitik der Gewerkschaften oft hilflos. Sie w i r d ersetzt durch ein hektisches Bemühen, die Löcher zu stopfen, die tagtäglich i m Netz der Produktion aufgerissen werden und durch eine meist vergebliche Suche nach Instrumenten, die die Rechtsordnung kaum ansatzweise zu bieten vermag.

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Das italienische System muß sich folglich damit auseinandersetzen, daß es an einem organischen institutionellen Instrumentarium fehlt, das bestimmte Verhaltensweisen bei den beiden Seiten anzuregen, eine praktikable Vermittlung seitens staatlicher Stellen anzubieten und die Einhaltung vertraglich vereinbarter Zielsetzungen zu erzwingen vermag. Denn die Resultate, die dieses System hervorbringen kann, d.h. (abgesehen von den Informations- und Anhörungsrechten) die tarifvertraglichen Resultate, können, da es keinen Abschlußzwang gibt, Zustandekommen oder auch nicht; wenn sie Z u s t a n d e k o m m e n , können sie ganz oder teilweise wirkungslos bleiben; wenn sie tatsächlich W i r kungen entfalten, kann dabei — solange die Unternehmer jedesmal wirtschaftliche Unvereinbarkeiten entgegenhalten können — unter Umständen das Gegenteil von dem herauskommen, was man sich erhoffte. Angesichts all dieser Ungewißheiten bleibt nur die Fähigkeit der Arbeitnehmer, ihre Interessen selbst zu wahren, eine Fähigkeit, die i n Anbetracht der Umstände zum Glück noch sehr lebendig ist. Da es der Gewerkschaft i m übrigen an einem klar definierten Verhältnis zur Justiz und selbst an klar formulierbaren Ansprüchen und Forderungen hierzu fehlt, w i r d von i h r der Rechtsweg relativ selten beschritten. Schließlich kann man noch auf die Bereitschaft staatlicher Stellen zur „Vermittlung" hoffen, u m so Lösungen zu erleichtern, die nach wie vor auf Freiwilligkeit basieren und dementsprechend auf jeden Fall unsicher bleiben. b) Tendenzen zu einer verstärkten Intervention des Gesetzgebers

Es w a r kein Zufall, daß Mitte der siebziger Jahre die gesetzliche Absicherung der Informationsrechte samt der auf ihnen basierenden Verhandlungen vorgeschlagen wurde. Dieser Weg wurde zwar i m Prinzip abgelehnt, es sind jedoch einzelne, unkoordinierte Schritte i n dieser Richtung unternommen worden. So hat das Gesetz vom 8. Aug. 1977, Nr. 675 über die Industriepolitik und die Neustrukturierung der Industrie, gemeinsam m i t anderen Normen (VO vom 30. März 1978, Nr. 80, später Ges. vom 26. Mai 1978, Nr. 215; VO vom 13. Dez. 1978, Nr. 795, später Ges. vom 9. Feb. 1979, Nr. 36), u. a. das Problem der „Externen Mobilität" i n Angriff genommen, und zwar durch Schaffung privilegierter Kanäle zur Wiedereinstellung überschüssig gewordener Arbeitnehmer aus Betrieben, i n denen rationalisiert oder stillgelegt wurde. I n diesem komplexen Instrumentarium ist u. a. vorgesehen, daß die privaten Vereinbarungen zwischen den Tarifparteien Voraussetzung zum Eingreifen der gesetzlichen Garantien sind. Ganz egal, was man von dem Gesetz hält, der Gewerkschaft w i r d jetzt klar, daß die getroffene gesetzliche Regelung ohne ihre so beharrlich proklamierte Forderung, die Mobilität zum Tarifgegenstand zu machen, weitgehend

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unerfüllt geblieben wäre und der Unternehmer sich i n der Krise eines unbeschränkten Rechts zur Stillegung und Einschränkung der Produktion erfreuen würde, ohne sich u m die Arbeitnehmer Gedanken machen zu müssen. I n den letzten Jahren gab es auf allen Erscheinungsebenen der Krise ein konstantes Eingreifen des Gesetzgebers. Zur Frage der Arbeitskosten wurden Tarif abkommen bzw. Vereinbarungen zwischen Gewerkschaft und Regierung mehr oder weniger getreu i n Gesetze umgewandelt (so z. B.: über die zeitweise Blockierung der gleitenden Lohnskala: VO vom 11. Okt. 1976, Nr. 699, später Ges. vom 10. Dez. 1976, Nr. 797; über die zeitlich begrenzten und dann mehrmals verlängerten Maßnahmen zur Übernahme der Soziallasten durch den Staat: VO vom 7. Feb. 1977, Nr. 15, später Ges. vom 7. A p r i l 1977, Nr. 102; VO vom 6. J u l i 1978, Nr. 353, später Ges. vom 5. Aug. 1978, Nr. 502; über den Ausschluß der Anwendung der gleitenden Lohnskala auf die Berechnung der Dienstaltersprämie: VO vom 7. Feb. 1977, Nr. 12, später Ges. vom 31. März 1977, Nr. 91). Weiterhin wurden zur Erhöhung der Produktivität einige Feiertage abgeschafft (Ges. vom 5. März 1977, Nr. 54). Die gesetzlichen Schranken für Arbeitsverträge auf Zeit wurden flexibler gestaltet (Ges. vom 26. Mai 1977, Nr. 266; VO vom 3. Dez. 1977, Nr. 876, später Ges. vom 3. Feb. 1978, Nr. 18; Ges. vom 24. Nov. 1978, Nr. 737). Abgesehen von dem bereits zum Problem der Mobilität Gesagten, wurde eine ganze Reihe von Regelungen zur Behebung der Jugendarbeitslosigkeit geschaffen (Ges. vom l . J u n i 1977, Nr. 285; VO vom 30. September 1977, Nr. 706, später Ges. vom 29. Nov. 1977, Nr. 864; VO vom 6. J u l i 1978, Nr. 351, später Ges. vom 4. Aug. 1978, Nr. 479). Weiterh i n gab es das Gesetz vom 9. Dez. 1977, Nr. 876 zur Gleichberechtigung von Mann und Frau. I m Bereich der Berufsausbildung wurde das Rahmengesetz vom 21. Dez. 1978, Nr. 843 erlassen. Schließlich w i r d i n Kürze ein Gesetz zur systematischen Regelung des Arbeitsmarktes erwartet. Gewiß konnten einige der genannten Probleme überhaupt nur legislativ angegangen werden. Gleichwohl ist es eine Tatsache, daß die Gewerkschaft inzwischen bereit scheint, gesetzgeberische Hilfestellungen auch auf Gebieten zu akzeptieren, die sie bislang als ihre ureigene Domäne angesehen hatte. So kommt es z. B. vor, daß nach einer jahrelangen Debatte über das System der Informationsrechte, aus der lediglich das tiefe Mißtrauen der italienischen Gewerkschaften gegen jede Form der Mitbestimmung hervorging, i n den konkreten Vorschlägen zur Frage der industriellen Demokratie der Gesetzgeber zum Eingreifen aufgefordert w i r d .

Rechtliche Einbindung gewerkschaftlicher Betriebspolitik i n Italien?

193

Für den von der CGIL 1979 vorgelegten Unternehmensplan soll ein System von Informationsrechten über bestimmte Fragen gesetzlich festgelegt werden, i n Verbindung m i t einem mehrjährigen Unternehmensprogramm; eine Verletzung der darin enthaltenen Verpflichtungen seitens des Unternehmers soll den Verlust von steuerlichen Vergünstigungen, Finanzierungs- und Krediterleichterungen nach sich ziehen. Das vor allem von der CISL 1980 betriebene Projekt eines „Solidaritätsfonds" hatte bereits i n eine Rechtsverordnung Eingang gefunden, die jedoch nicht i n Gesetz umgewandelt wurde und inzwischen wieder ihre Geltung verloren hat. Das Projekt besteht jedenfalls darin, die Gewerkschaft selbst an der Akkumulation von Kapital zu beteiligen: fünf Jahre lang sollen 0,5 %> der Löhne an einen gemeinsam von Gewerkschaft und Staat verwalteten Fond abgeführt werden, der zu gezielten Entwicklungsmaßnahmen für bestimmte Wirtschaftssektoren verwendet werden soll. Zum Schluß eine mehr anekdotenhafte Anmerkung: gerade i n den letzten Wochen kam angesichts des unzumutbaren Verhaltens der „autonomen" Gewerkschaften i m öffentlichen Dienstleistungssektor wieder einmal das Problem der gewerkschaftlichen Selbstkontrolle zur Sprache, d.h. die Frage einer freiwilligen Kodifizierung des Arbeitskampfs. I n bestimmten Kreisen der Gewerkschaft wurde sogar geäußert, eine solche freiwillige Reglementierung könne später eventuell i n ein Gesetz umgewandelt werden. Das w i r d sicher nicht geschehen; aber man muß sich trotzdem klarmachen, daß dies — wenn auch auf den Transportsektor beschränkt — die erste legale Beschränkung des Streikrechts wäre, seit dieses verfassungsmäßig verankert und vom Arbeitnehmerstatut geschützt worden ist. c) Schluß

Der beschriebene Trend ist bezeichnend sowohl i m allgemeinen als auch hinsichtlich der Interessenvertretung und der gewerkschaftlichen Politik i m Betrieb. Die Krise hat verdeutlicht, daß die Dynamik und die extreme Freiheit i n der inhaltlichen Bestimmung der Tarifpolitik nicht unbedingt ein „Standhalten" des Systems garantieren: zu dessen offenkundigen Vorzügen kommt auf die Dauer ein entscheidender Mangel an Zuverlässigkeit. Immer mehr macht sich deshalb der Verdacht breit, daß dieser Mangel vor allem auf das Konto der allzu dürftigen rechtlichen Normierung und institutionellen Absicherung von Gewerkschaftspolitik und Arbeiterkontrolle geht.

13 Tagung Dortmund 1981

Möglichkeiten betriebebezogener gewerkschaftlicher Interessenvertretung in Schweden seit dem Vertrauensleutegesetz 1974 und dem Mitbestimmungsgesetz 1976 Von Horst Hart, Göteborg

M i t dem Inkrafttreten des Mitbestimmungsgesetzes am 1. Januar 1977 wurde eine 30jährige Tradition der Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen verlassen. Seit Jahrzehnten waren Beziehungen und Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften ohne Eingreifen des Staates vertraglich geregelt worden. Erst seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre wurden Verträge zunehmend durch Gesetze ersetzt. Das Mitbestimmungsgesetz von 1977 stellt dazu einen gewissen Schlußpunkt dar. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Olof Palme bezeichnete es i m schwedischen Reichstag als „die größte Reform seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts". Die Erwartungen der Gewerkschaften an die erweiterten Möglichkeiten, die sich aus dem Gesetz ergeben, waren hoch. Ihre Stellung gegenüber den Arbeitgebern hat sich auf betrieblicher Ebene zweifellos verbessert. Die beiden hier zu behandelnden Gesetze müssen aber i n dem oben angedeuteten größeren Gesetzgebungszusammenhang gesehen werden, da sie nur zum Teil die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten festschreiben. Als weitere Gesetze sind das Kündigungsgesetz, das Arbeitsschutzgesetz und das Aufsichtsratsgesetz zu nennen. M i t ihnen zusammen bilden das Vertrauensleutegesetz und das Mitbestimmungsgesetz den Rahmen für die legalen Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften. 1. Das Vertrauensleutegesetz

Das Vertrauensleutegesetz schreibt vor, daß die Arbeitnehmer, die i m Betrieb oder am Arbeitsplatz gewerkschaftliche Aufgaben übernehmen, dafür bezahlte Arbeitszeit i n Anspruch nehmen können. Über Umfang und Verteilung der zu vergebenden Arbeitszeit können die Gewerkschaften mitbestimmen. Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute genießen außerdem einen verstärkten Kündigungsschutz.

Interessenvertretung i n Schweden seit dem Vertrauensleutegesetz

195

Es gibt noch keine systematisch gesammelten Erfahrungen über die Auswirkungen dieses Gesetzes. I m großen und ganzen scheint es jedoch erfolgreich zu sein. So konnten die A k t i v i t ä t e n der Vertrauensleute auf betrieblicher Ebene i n den siebziger Jahren gesteigert und erweitert werden. Die Anzahl der Vertrauensleute ist gestiegen. Der größere Teil der gewerkschaftlichen Arbeit — insgesamt 75 % — w i r d während der Arbeitszeit ausgeführt. I m Bereich der LO-Gewerkschaften sind es sogar 80 °/o, i m Bereich der TCO 70 °/o, bei den Akademikergewerkschaften 65 °/o. Gleichzeitig zeigt sich ein Wandel i m Bewußtsein der Vertrauensleute. Es w i r d nun nicht mehr für anrüchig gehalten, sich die gewerkschaftlichen A k t i v i t ä t e n von den Arbeitgebern bezahlen zu lassen. Als problematisch w i r d ein nur kurzes Verlassen des Arbeitsplatzes empfunden, u m gewerkschaftliche Aufgaben wahrzunehmen. Die Arbeit bleibt dann unausgeführt liegen, oder die Arbeitskollegen müssen die Arbeit mitübernehmen. Als — i n den Augen der Vertrauensleute — beste Lösung w i r d deshalb eine halbzeitige Arbeitsbefreiung angesehen. 2. Das Mitbestimmungsgesetz

Das Mitbestimmungsgesetz w i r d i n Schweden oft als „Rahmengesetz" bezeichnet. Die Bedeutung des Wortes „Rahmen" ist aber nicht eindeutig. So legt das Gesetz zum einen die Grenzen für den gewerkschaftlichen Einfluß auf die Arbeitsbedingungen i m Betrieb fest. Dieser Einfluß kann die Rechte der Kapitaleigner, der Hauptversammlung und Aufsichtsräte, die durch das Aktiengesellschaftsgesetz definiert sind, nicht aufheben. Dasselbe gilt für die Regeln der öffentlichen Verwaltung. Auch sie bestehen weiter fort. Zum anderen schafft das M i t bestimmungsgesetz einen Freiraum, der von Gewerkschaften und Arbeitgebern gefüllt werden kann. Zu seiner Kennzeichnung läßt sich folgendes sagen: a) Das Mitbestimmungsgesetz trifft nur wenige inhaltliche Regelungen. Seine Bestimmungen sind zumeist formal und beschreiben das einzuschlagende Verfahren. Die beiden wichtigsten Verfahrensvorschriften sind die Auskunftspflicht und die Beratungspflicht. Danach können die Betriebsgewerkschaften von den Arbeitgebern Auskunft über alle wichtigen Vorgänge verlangen, die die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern berühren. Hierzu gehören Auskünfte über die finanzielle Lage der Unternehmen, über Planung (Personalplanung und Produktionsplanung), kommende Investitionen oder Veränderungen der Arbeitsorganisation. Vor Entscheidungen über Fragen, die für die Mitglieder der Gewerkschaft irgendeine Veränderung der Anstellung oder Arbeit bedeuten, muß der Arbeit13*

196

Horst H a r t

geber m i t der Betriebsgewerkschaft verhandeln. Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaft sich nicht einigen können, hat die Betriebsgewerkschaft die Möglichkeit, sogenannte zentrale Verhandlungen zu verlangen. Zentrale Verhandlungen werden von der nationalen Gewerkschaft mit dem Arbeitgeber geführt. A u f diese Weise haben die Gewerkschaften die Möglichkeit, bestimmte Entscheidungen zu verzögern. Andererseits gibt es keine Bestimmung, die eine von beiden Parteien anerkannte Vereinbarung zwingend vorschreibt. b) Eine von Anfang an für bedeutungsvoll gehaltene Bestimmung schreibt vor, daß das Mitbestimmungsgesetz durch Kollektivverträge verbessert, präzisiert oder ergänzt werden kann. Diese Bestimmung soll den Gewerkschaften die Möglichkeit offenhalten, bei evtl. veränderten Kräfteverhältnissen weitere Verbesserungen zu ihren Gunsten durchzusetzen. Die bis heute abgeschlossenen M i t bestimmungsverträge für den öffentlichen Sektor, die Konsumgenossenschaft und die staatlichen Unternehmen haben die gewerkschaftlichen Rechte aber kaum erweitert. Die Gewerkschaften haben zwar die Möglichkeit, auch den Streik als Kampfmittel zur Durchsetzung solcher Verträge einzusetzen (d.h.: der Arbeitgeber darf keinen Schadenersatz verlangen), doch haben sie von dieser Möglichkeit noch keinen Gebrauch gemacht. c) Das Mitbestimmungsgesetz gilt für die Beziehungen zwischen A r beitgebern und Gewerkschaften. Es sieht keine direkten Verpflichtungen der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmern vor. I n welchem Umfang die Arbeitnehmer über die Verhältnisse i m Betrieb informiert sind, hängt somit von der Verbindung der Gewerkschaftsmitglieder zu ihrer Gewerkschaftsleitung ab. Das Mitbestimmungsgesetz scheint vorauszusetzen, daß diese Verbindung immer gegeben ist. 3. öffnet das Mitbestimmungsgesetz neue Möglichkeiten für Gewerkschaften?

Die Umsetzung des Mitbestimmungsgesetzes ist Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten an schwedischen Universitäten und Forschungsinstituten. Der größere Teil der Forschungsarbeiten ist noch nicht abgeschlossen. Dennoch soll hier der Versuch gemacht werden, die bisherigen Ergebnisse i n einigen Punkten zusammenzufassen: a) Inhalt und Organisation der betrieblichen Mitbestimmung

Die praktisch wichtigsten Bestimmungen i n dem Mitbestimmungsgesetz sind die Auskunfts- und Beratungs- bzw. Verhandlungsbestimmungen. Aus einer größeren Umfrage bei etwa 1 000 Gewerkschaften

Interessenvertretung i n Schweden seit dem Vertrauensleutegesetz

197

i m sowohl privaten wie öffentlichen Sektor geht hervor, daß die Betriebsgewerkschaften zwar ausreichend über die Verhältnisse am Arbeitsplatz informiert werden, daß aber nur selten mit ihnen verhandelt wird. Tabelle J.Auskunft und Beratung in verschiedenen Bereichen (•/o der Gewerkschaften, die mit JA antworten) Auskunft

Bereich

81 % 87 % 91 % 76% 77% 87 % 77 % 87% 77 % 85%

Ausrüstung Veränderungen i m Betrieb Umorganisation Personalpolitik Einstellung von Vorgesetzten Versetzungen Kündigungen Arbeitszeit Investitionen ökonomische Lage

Tabelle

Beratung 78 % 84% 89 % 75% 72% 87% 77 % 84% — —

2:

Auskunftsfrequenz (Anzahl) Mindestens einmal / Woche Mindestens einmal / Monat Eher selten

169 595 291

Von anderen Untersuchungen weiß man, daß sowohl die Menge wie auch die Qualität der Auskünfte durch das Mitbestimmungsgesetz verbessert worden ist. A m deutlichsten w i r d dies i n denjenigen Betrieben, i n denen die Betriebsgewerkschaften früher eine schwache Stellung hatten (Krankenhäuser, Sozialhilfe, Schulen). Gegenüber der Auskunftspflicht werden die Bestimmungen über die Beratungs- oder Verhandlungspflicht verhältnismäßig selten erfüllt. Zwar können die Gewerkschaften selbst die Initiative ergreifen und den Arbeitgeber zu Verhandlungen zwingen. Doch w i r d von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch gemacht. Die geringe Zahl von Verhandlungen ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß die gewerkschaftlichen Vertretungen in den unterschiedlichen betrieblichen Leitungsgremien bereits konsultiert wurden. Solche Leitungsgremien gibt es auf mehreren Ebenen des Betriebes. Sie können entweder für den Betrieb (oder einen Betriebsteil) verantwortlich sein

Horst H a r t

198

Tabelle

3:

Anzahl der Gewerkschaften, die im Jahre 1978 mit ihrem Arbeitgeber nach dem Mitbestimmungsgesetz verhandelt haben

0 1- 5 6-10 10-20 20-30 30-40 40-

§11

§10

§12

240 401 169 126 38 6 37

660 254 49 16 6 0 4

644 272 55 20 2 1 3

oder eine beratende Aufgabe haben (in letzterem Fall sind diese Gremien oft paritätisch zusammengesetzt). Arbeitgeber und Gewerkschaften sind i m allgemeinen damit einverstanden, daß die Behandlung und Entscheidung eines Problems i n einem derartigen Gremium die Bestimmungen des Mitbestimmungsgesetzes bereits erfüllt. Tabelle

4:

Auskunfts- und Beratungspflicht ist/sind erfüllt durch: (% der Gewerkschaften) Auskunftspflicht Beratungspflicht Aufsichtsrat Vorstand (Direktion) Abteilungsleitungsgruppe Werkmeister Paritätische Beratungsgruppen Freiwillige Sitzungen — regelmäßig — bei Bedarf

37 24 16 17 40

26 21 13 13 33

46 59

58 14

b) Innergewerkschaftliche Probleme

Die traditionelle Rolle der Betriebsgewerkschaften innerhalb dei gewerkschaftlichen Gesamtorganisation ist eine verhältnismäßig passive Die übergreifenden gewerkschaftlichen Zielsetzungen wurden bis zur Mitte der 70er Jahre auf nationaler Ebene formuliert. Die Betriebsgewerkschaft hatte zwei Aufgaben: — die Interessen der Arbeitnehmer nach oben zu vermitteln, — die Verträge, die national m i t den Arbeitgebern geschlossen wurden, auf der betrieblichen Ebene zu kontrollieren.

Interessenvertretung i n Schweden seit dem Vertrauensleutegesetz

199

Diese zwei Aufgaben sind noch immer von Bedeutung. Heute nehmen die Betriebsgewerkschaften jedoch noch eine dritte Aufgabe wahr, — diejenige, den eigenen Arbeitgeber direkt zu kontrollieren. Die Gewerkschaftsorganisation ist an diese neuen Verhältnisse noch nicht angepaßt, sie spiegelt die vergangene Funktionsweise der Organisation wider. So ist die lokale Ebene (die Betriebsorganisation) zu wenig ausgebaut. Die Vertrauensleute sind überlastet und oft nicht i n der Lage, die Bestimmungen des Mitbestimmungsgesetzes auszuschöpfen. Seit 1977 w i r d dem durch den Ausbau von betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen („klubbar") entgegengewirkt. Ein typischer „klubb" besteht meistens aus einem Vorstand („styrelse"), der von den Gewerkschaftsmitgliedern i m Betrieb jährlich gewählt wird. Der Vorstand (meistens etwa 10 Personen) verteilt die verschiedenen Aufgaben, die die Gewerkschaft gegenüber dem Arbeitgeber wahrzunehmen hat, unter sich auf. Aber auch dieser Vorstand arbeitet i n einer gewissen Abgehobenheit von den Mitgliedern. Die Mitglieder werden nur zweibis viermal pro Jahr zu Sitzungen eingeladen, i n denen die gewerkschaftlichen Probleme besprochen werden („klubbmöte"). Somit folgt die Vorstandsarbeit auf betrieblicher Ebene noch immer dem alten Organisationskonzept, wonach der Vorsitzende eine zentrale Rolle spielt. Zwar hat das Mitbestimmungsgesetz die Bereiche ausgeweitet, die der gewerkschaftlichen Interessenvertretung unterliegen, doch sind die Verbindungen zwischen Mitgliedern und Gewerkschaftsleitung noch immer schwach entwickelt, w e i l die meiste Arbeit von einer Person oder, i n den größeren Betriebsgewerkschaften, von einem inneren Kreis ausgeführt werden. Tabelle

5:

Die Aktivitäten und die Zeitverwendung von Vertrauensleuten in 15 lokalen Gewerkschaften Anzahl: v o n 100 Vorstandsmitgliedern Tarifverhandlungen Arbeitsschutz Leitungsgruppen Planungsgruppen Regionale u n d nationale Gewerkschaften A r b e i t i m Gewerkschaftsvorstand, Mitgliederkontakt Anderes

30 16 44 24

% der Zeit für gewerkschaftliche A k t i v i t ä t e n 10 14 19 7

% % % %

8

3%

89

40 % 7%

200

Horst H a r t c) Die Arbeitgeber

Die Arbeitgeber sind, wenn man den Äußerungen des nationalen Arbeitgeberverbandes folgt, Gegner einer Mitbestimmung der Gewerkschaften. Der Widerstand gegen den Einfluß der nationalen Gewerkschaften ist allerdings härter als derjenige gegen die jeweiligen Betriebsgewerkschaften. A u f betrieblicher Ebene w i r d die gewerkschaftliche Mitbestimmung vor allem als M i t t e l zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Unternehmens angesehen. Man meint, daß es viele Bereiche gibt, i n denen die gewerkschaftliche Mitbestimmung schwierige Entscheidungen erleichtern kann. Die gewerkschaftliche Zustimmung zu solchen Entscheidungen erhöht deren Legitimität bei den Arbeitnehmern. Oft können die Gewerkschaftsvertreter zu einer — auch i m Sinne der Arbeitgeber — „besseren" Lösung beitragen, weil sie die Verhältnisse besser kennen.

Der Grad der Verrechtlichung betrieblicher Arbeitebeziehungen in den Niederlanden Von Bob Reinalda, Nijmegen Wenn Sie mich fragen, ob der Grad der Verrechtlichung betrieblicher Arbeitsbeziehungen i n den Niederlanden hoch ist, dann muß ich dies bejahen. Den Hintergrund für diese Aussage bildet die Klassenzusammenarbeit zwischen Unternehmern und Gewerkschaftsverbänden, die kurz nach dem 2. Weltkrieg i n den Niederlanden entstand und von der Regierung anerkannt und mitgetragen wurde. 1945 erkannte die Regierung die „Stiftung der Arbeit", ein gemeinsames Beratungsgremium der drei Gewerkschaftsverbände und der Unternehmer, als offizielle Körperschaft an. Daneben bemühte sich die Regierung u m eine Organisation der betrieblichen Arbeitsbeziehungen. Dazu wurde 1950 das Gesetz über die Betriebsorganisation (PBO) erlassen, das die Stiftung der Arbeit i n den Hintergrund treten ließ. Die Stiftung wurde eine beratende Körperschaft auf sozialem Gebiet, wo die Gewerkschaftsverbände und Unternehmer i m Vorfeld von Entscheidungen gewisse Vorüberlegungen anstellen konnten. A n Bedeutung gewann dagegen der Wirtschafts- und Sozialrat (SER), der auch eine verordnende Befugnis erhielt, also berechtigt war, selbst Regelungen i n den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu treffen. Er zählt 45 M i t glieder, ein Drittel Gewerkschafter, ein Drittel Unternehmer und ein Drittel von der Krone berufene Mitglieder. Letztere sollen unabhängig und objektiv-sachverständig mitwirken. I n der Praxis entwickelte sich der Wirtschafts- und Sozialrat vor allem als beratende Körperschaft, ζ. B. i m Hinblick auf die Sozialversicherung, die Lohnbildung, die w i r t schaftliche Lage, die Arbeitsgesetzgebung, die Struktur der Unternehmen usw. Die Regierung ist verpflichtet, den Wirtschafts- und Sozialrat bei allen wichtigen Maßnahmen, die sie auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet treffen w i l l , zu konsultieren. I m Gegensatz zu dem auf nationaler Ebene wirkenden Wirtschafts- und Sozialrat kamen die entsprechenden Betriebskörperschaften kaum zur Geltung. Das von m i r skizzierte System industrieller Arbeitsbeziehungen ließ bei den Sozialdemokraten die Idee aufkommen, es sei möglich, den Klassenkampf i n Form regelmäßiger Beratungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaftsverbänden zu führen. Dabei komme dem Staat

202

Bob Reinalda

als drittem Beteiligten die Verantwortung für das „allgemeine Interesse" zu. Maßgeblich für eine solche Politik war der tiefe Wunsch, eine nochmalige Massenarbeitslosigkeit wie die der dreißiger Jahre zu vermeiden. U m Vollbeschäftigung zu garantieren, sollte ein für die Unternehmen günstiges Sozialklima geschaffen werden. Dies schien durch niedrige Löhne und geringe soziale Lasten möglich. Als Preis für die Mitarbeit der Arbeiter wurde ein entwickeltes System der sozialen Sicherung gefordert, das durch langfristige und geduldige Verhandlungen von Gewerkschaftern und Politikern schließlich auch realisiert werden konnte. Es muß allerdings "gesagt werden, daß die Unternehmer hier nur widerstrebend nachgaben. Materielle Grundlage des Ganzen war die zentralgelenkte Lohnpolitik. Statt kollektiver Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen galt ein von oben auferlegtes Lohnniveau m i t nicht nur einem Minimum-, sondern auch einem Maximumlohn, der allerdings nicht allzu sehr über dem M i n i m u m lag. Es wurde ein Gremium staatlicher Vermittler gebildet, das an Hand ministerieller Richtlinien über die Arbeitsbedingungen des ganzen Landes zu bestimmen hatte. Ausgangspunkt für die Festlegung des Lohnniveaus war nicht das Nationaleinkommen, sondern das errechnete Existenzminimum (das „Lebensmittelpaket"). Über die praktischen Auswirkungen und die weitere Ausarbeitung dieses Systems w i l l ich hier nicht viel sagen, sondern nur noch auf den peinlichen Umstand aufmerksam machen, daß, allen internationalen Verträgen zuwider, der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen ein Bestandteil der offiziellen Regierungspolitik wurde und dies auch bis 1975 blieb. Versuchen w i r , bezogen auf diese Entwicklung eine Schlußfolgerung zu ziehen, so ist es die, daß die Politik der niedrigen Löhne und hohen Gewinne deutlicher als i n anderen Ländern dafür gesorgt hat, daß der niederländische Kapitalismus nicht nur von den Arbeitern aufgebaut wurde, sondern auch auf ihre Kosten. Waren die Niederlande während der Zwischenkriegszeit eines der Länder mit hohem Durchschnittseinkommen, so gehörten sie während der fünfziger Jahre — mit Italien — zu den europäischen Niedriglohnländern. Auch für die Entwicklung des Kapitalismus war diese Politik nicht unbedingt günstig. Die niedrigen Löhne hatten zur Folge, daß veraltete, wenig Gewinn bringende oder sogar schlecht geführte Unternehmen sich noch aufrechterhalten konnten. Außerdem wurde die technologische Entwicklung eher gehemmt. Der Reiz zur Modernisierung und Mechanisierung der Produktion fehlte, was dazu beitrug, die Konkurrenzfähigkeit der niederländischen Industrie zu schwächen.

Verrechtlichung betrieblicher Arbeitsbeziehungen

203

Für die Gewerkschaften brachte die Politik der niedrigen Löhne einen Rückgang ihrer Mitgliederzahl, für die sozialistische Partei Stimmenverluste und damit das Ausscheiden aus der Regierung. So konnte 1959 die neue konservative Regierung mit einer freien Lohnpolitik beginnen. Der Schwerpunkt der Lohnverhandlungen wurde nun wieder zu den einzelnen Gewerkschaften, d.h. weg von den großen Gewerkschaftsverbänden, gelegt. Die Arbeiter i n den Industriezweigen mußten streiken, bevor die Regierung verbot, daß die Unternehmer die höheren Löhne auf die Preise abwälzten. Seit 1963 lag die Verantwortlichkeit für die Lohnpolitik wieder an erster Stelle in den Händen der Tarifparteien, wenn die Regierung sich auch allgemeine Befugnisse vorbehielt. Außerdem durften die Lohnsteigerungen nicht auf die Preise abgewälzt werden. Während der Jahre 1963-65 trat schließlich eine A r t Explosion von Streiks und Lohnerhöhungen ein, m i t dem Ergebnis, daß die Löhne i n den Niederlanden das europäische Niveau erreichten. Sie waren aber noch nicht so hoch wie i n der Bundesrepublik. 1969 brachte der Minister für Sozialangelegenheiten einen Gesetzentwurf i m Parlament ein, u m nunmehr auch formell die zentralgelenkte Lohnpolitik zu beenden. I n dem neuen Gesetz wurde aber eine doppelte Ausnahme gemacht. Erstens bleibt es der Regierung möglich, eine Lohnpause anzuordnen (was i m folgenden auch geschah). Zweitens kann die Regierung Paragraphen eines neuen Tarifvertrages, die ihrer Meinung nach i m Widerspruch zu allgemeinen sozialen und wirtschaftlichen Belangen stehen, für ungültig erklären. I n einem solchen Fall t r i t t der neue Tarifvertrag nicht i n Kraft. Trotz großer Widerstände wurde das Gesetz angenommen. Ich komme nun zu dem zweiten Punkt, der für unser Thema, die gewerkschaftliche Betriebspolitik ,νοη Bedeutung ist, nämlich die Entwicklung der staatlichen Betriebsorganisation auf der Ebene des Betriebes. Dazu wurde 1950 ein Betriebsratsgesetz erlassen. Auch hier können w i r feststellen, daß die Katholiken viele ihrer Ideen realisiert haben, ohne daß die Sozialdemokraten viel Widerstand geleistet hätten und für ihre eigenen Ideen eingetreten wären. Der kapitalistische Unternehmer bekam i m Betriebsrat eine dominante, j a unangreifbare Position, während Sanktionen bei Nichterfüllen des Gesetzes fehlten. So wurde z.B. der Unternehmer Vorsitzender des Betriebsrates. Er hatte auch die Möglichkeit, gewählte Mitglieder des Rates bei einer Betriebskommission zur Beurlaubung oder Entlassung vorzuschlagen. Diese paritätisch zusammengesetzte Betriebskommission war eine aufsichtsführende Körperschaft des jeweiligen betroffenen Industriezweiges. M i t der Errichtung von Betriebsräten hatten die Unternehmer dennoch keine große Eile. 1957 gab es erst 800 Räte bei 5 000 Unternehmen, die dafür i n Frage kamen.

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Bob Reinalda

Als die Gewerkschaftsbewegung der siebziger Jahre wieder eine klarere Klassenposition einnahm und mit ihren gewerkschaftlichen Betriebsgruppen auch den Kampf innerhalb der Unternehmen verschärfte, kamen die Betriebsräte zu neuem Ansehen. 1971 wurde das alte Gesetz novelliert. I m Unterschied zum alten Gesetz w i r d der Betriebsrat nicht mehr ausschließlich als eine Körperschaft des „allgemeinen Unternehmensinteresses", sondern auch als Vertretung der speziellen Interessen der Arbeiter gesehen. Die Möglichkeiten der Kandidatenaufstellung für den Betriebsrat wurden erweitert. Auch darf der Rat jetzt — für eine bestimmte Zeit — i n Abwesenheit des Vorsitzenden, der noch immer von der Unternehmensleitung gestellt wird, zusammenkommen. Sodann darf er sich mit bestimmten Beratern treffen. Ein Mitglied des Betriebsrats zu entlassen, ist nur noch möglich, wenn ein Gericht aus bestimmten vorliegenden Gründen zustimmt. Dennoch bleibt der Betriebsrat i n der Hauptsache eine beratende Körperschaft. Entscheidungen über die Führung und Tätigkeiten des Unternehmens kann er nicht treffen. 1979 wurde das Betriebsratsgesetz erneut novelliert. Der Betriebsrat hat jetzt nur noch Mitglieder aus den Reihen der Arbeitnehmer, die sich selbst einen Vorsitzenden wählen. Die Beratung zwischen dem nunmehr selbständigen Betriebsrat und der Unternehmensleitung geschieht i n einer Beratungs Versammlung. Für die Gewerkschaften ist der Betriebsrat — obgleich nach wie vor eine Körperschaft des Unternehmens — von großer Bedeutung. Der Betriebsrat hat das Recht auf Information, er kann die Tätigkeit des Unternehmens kontrollieren und beratend tätig werden. Die gewerkschaftliche Betriebsratsfraktion hat dafür zu sorgen, daß der Betriebsrat so weitgehend wie möglich die Interessen der Arbeitnehmer vertritt und entsprechende Initiativen ergreift. Eine gute gewerkschaftliche Betriebsgruppe kann sich hierbei als nützlich erweisen. Für die gewerkschaftliche Betriebspolitik i n den Niederlanden wurde auf diese Weise mehr Raum gewonnen. Das neue Betriebsratsgesetz von 1979 bietet einer streitbaren Gewerkschaftsbewegung somit weitergehende Möglichkeiten als früher, obwohl w i r nicht zuviel erwarten dürfen, wie uns die Praxis ebenfalls lehrt. Zusätzlich zum Betriebsrat ist die Betriebsarbeit der Gewerkschaften zu sehen, die von den Mitgliedern hoch eingeschätzt wird.

Diskussion Leitung: Wolfgang Böhm, Wolfgang Däubler, Manfred Bobke Berichterstattung: Manfred Bobke, Hans H. Wohlgemuth Die Arbeitsbeziehungen i n der Bundesrepublik gelten als i n hohem Maße verrechtlicht. Rainer Erd zieht aus der Praxis des Umgangs m i t dem Betriebsverfassungsgesetz den Schluß, daß nicht das Betriebsverfassungsgesetz selbst die Ursachen für eine restriktive Verrechtlichung setzt, sondern die Politik und das Selbstverständnis der Deutschen Gewerkschaften. Inzwischen sei aber die kooperative Gewerkschaftspolitik i n eine Krise geraten. I n der Diskussion wurde kritisiert, daß Erds Verrechtlichungsbegriff unpräzise bleibt und eine Definition fehlt. Deshalb blieb auch nicht einsichtig, warum der Begriff „Verrechtlichung" primär negativ aufgeladen wurde, zumal ausschließlich eine Begründung aus dem Betriebsverfassungsgesetz erfolgte. Zu der Alternative zwischen legalem und nicht-legalem Gewerkschaftshandeln —entwickelt am Beispiel des gewerkschaftlichen Widerstandes gegen den Industrial-Relations- Akt i n Großbritannien — wurde angemerkt, daß es eine weite Grauzone zwischen beiden Möglichkeiten gibt: So zeigt die Auseinandersetzung u m die Interpretation von Rechtsnormen, daß es vielfach gerade keinen unumstrittenen LegalismusBegriff geben kann .Dazu gehört auch die extensive Ausnutzung von Arbeitnehmerrechten. Ohne gegen den Wortlaut des Betriebsverfassungsgesetzes zu verstoßen, können beispielsweise mehrtägige Betriebsversammlungen durchgeführt werden. Auch kann eine kollektive Inanspruchnahme der Sprechstunde des Betriebsrates und ähnliches erfolgen, u m Forderungen durchzusetzen bzw. Arbeitgeberangriffe abzuwehren. A l l e i n schon das Bestehen auf i n der Regel kaum gehandhabten Arbeitssicherheitsvorschriften kann ähnlich erfolgreich sein. Die Frage nicht-legaler gewerkschaftlicher Aktionen — so wurde auch kritisch angemerkt — stellt sich jedenfalls nicht auf dieser abstrakten Ebene, sondern allein i n der konkreten Situation. Viele

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Diskussion

gewerkschaftliche Erfolge — vor allem Erkämpfung der Koalitionsfreiheit selbst — wurden gegen die Rechtsordnung und m i t nicht-legalen M i t t e l n durchgesetzt. Trotzdem darf dies — so wurde gesagt — nicht dazu führen, daß gesicherte, also inzwischen legal gewordene Aktionsformen gegenüber nicht-legalen Formen zurücktreten sollen. I n diesem Zusammenhang wurde auch von einer romantischen Verherrlichung nicht-legaler Aktionen gesprochen. Gerade die Tarifpolitik ist ein Beispiel positiv zu bewertender Verrechtlichung. Denn hier sind die Gewerkschaften am Prozeß der Rechtsetzung selbst beteiligt. Verwunderlich ist, daß i m Konzept von Erd die gewerkschaftlichen Vertrauensleute i m Gegensatz zu den Betriebsräten nicht erwähnt wurden. Die alleinige Orientierung auf die Austragung betrieblicher Konflikte birgt die Gefahr des Betriebsegoismus und des Syndikalismus. Einheitliches gewerkschaftliches Handeln gerät dann i n Gefahr, eine entpolitisierende W i r k u n g auf die Gewerkschaften kann nicht ausgeschlossen werden. Bei der Untersuchung verschiedener westeuropäischer Länder ging es darum, den jeweiligen Grad der Verrechtlichung der gewerkschaftlichen Betriebspolitik zu behandeln. Dies, u m i m internationalen Vergleich Schlußfolgerungen für die Funktion einer Verrechtlichung zu ziehen. Entsprechend den nationalen Besonderheiten war die Gewichtung der Einzelreferate höchst unterschiedlich (betriebliche, überbetriebliche Aktivitäten, Gewerkschaftsrechte i m Betrieb), weshalb nur sehr bedingt eine Vergleichbarkeit hergestellt werden konnte. Auch war es den Referenten i n der Kürze der Zeit nur möglich, sozusagen schlaglichtartig einige wichtige Rechtsmaterien und ihre Bedeutung für die Gewerkschaftspolitik zu behandeln. Zusammenfassend lassen sich folgende allgemeinen Aussagen machen: — der Grad der Verrechtlichung erreicht i n keinem der behandelten Länder — m i t Ausnahme vielleicht der Niederlande — ein Ausmaß wie i n der Bundesrepublik — eine der bundesdeutschen Diskussion entsprechende Verrechtlichungs-Debatte w i r d — soweit erkennbar — i n diesen Ländern nicht geführt — i n allen Ländern ist tendenziell ein Prozeß der Verrechtlichung zu betrachten. Marcello Pedrazzoli untersuchte die rechtliche Einbindung gewerkschaftlicher Betriebspolitik i n Italien.

Diskussion

Dort besteht eine monistische Interessenvertretung, die durch das Arbeitnehmer-Statut von 1970 erstmalig festgeschrieben wurde. I n der Diskussion wurde zunächst näher herausgearbeitet, daß das Tarifsvertragssystem nicht gesetzlich geregelt ist, Tarifnormen i n der Regel nicht einklagbar sind (es sei denn, die Verletzung stelle ein antigewerkschaftliches Verhalten nach dem Arbeitnehmer-Statut dar) und die Tarifverträge Mindestnormen setzen, die i n der betrieblichen Praxis ausgeweitet werden können. Von Sophie Alf, die sich an der Diskussion der A G 3 beteiligte, wurde betont, daß die Gewerkschaften gezwungen seien, Recht zu setzen. Grundsätzlich gelte, daß nicht jede gesetzliche Regelung abgelehnt wird. Für den Bereich des Arbeitsschutzes etwa sei festzustellen, daß Italien auf diesem Gebiete ein „Entwicklungsland" sei. Hier werde eine Verrechtlichung durchaus begrüßt und gefördert. Dagegen w i r d eine der bundesdeutschen vergleichbare Mitbestimmung sowie eine rechtliche Umsetzung der Forderung nach einer Wirtschaftsdemokratie nur von der kleinsten Richtungsgewerkschaft (UIL) gefordert. Es wurde allgemein festgestellt, daß i n der ökonomischen Krise wegen der jetzt geringeren Streikbereitschaft die Durchsetzung tariflicher Normen schwieriger geworden ist. I n dieser Situation w i r d einerseits von manchen Gewerkschaften das Fehlen eines staatlich garantierten Instrumentariums auf dem Felde der Tarifpolitik beklagt. Gleichzeitig werden aber auch die davon unter Umständen ausgehenden Tendenzen zur Einbindung der Gewerkschaftspolitik und die damit verbundene Einschränkung ihrer Kampfkraft betont. Es gibt Anzeichen für einen Trend, „gesetzgeberische Hilfestellungen" auch auf Gebieten zu akzeptieren, die bislang die ureigene Domäne autonomen Gewerkschaftshandelns waren. A m Beispiel der Absicherung der Delegierten durch das Arbeitnehmer-Statut von 1970 wurde die Schutzfunktion des Rechts für die Interessenvertretung herausgearbeitet. Horst Hart erläuterte die Möglichkeiten bei der betriebsbezogenen gewerkschaftlichen Interessenvertretung i n Schweden seit dem Vertrauensleutegesetz von 1974 und dem Mitbestimmungsgesetz von 1977. I n der Diskussion wurde festgestellt, daß das Mitbestimmungsgesetz viele neue Möglichkeiten für die Gewerkschaften eröffnet, aber auch für die schwedischen Gewerkschaften die Gefahr der damit verbundenen Einbindung festgestellt werden kann. Die Interessenvertretungen werden vielfach so stark m i t Material und einer Fülle von Informationen eingedeckt, daß eine Professionalisierung der Funktionsträger unumgänglich wird. A u f diese neue Situation sei die innere Organisation der Gewerkschaften nur unzureichend vorbereitet.

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Diskussion

Bob Reinalda behandelte die rechtliche Einbindung gewerkschaftlicher Betriebspolitik i n den Niederlanden. Die Interessenvertretung auf der betrieblichen Ebene, der Betriebsrat, sei hervorgegangen aus einem paritätisch von Gewerkschaften und Unternehmensvertretern besetzten Organ. Diskutiert wurden die Auswirkungen der langjährigen Praxis, eine „Institutionalisierung des Klassenkampfes" voranzutreiben und auf dem Beratungswege i m Wirtschafts- und Sozialrat Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen. Spätestens i n den Wirtschaftskrisen der 60er und 70er Jahre wurde deutlich, daß das Konzept des Lohnverzichts zugunsten einer vermeintlichen Förderung der Exportfähigkeit der niederländischen Wirtschaft den Bestand der gewerkschaftlichen Organisation gefährdet, weil dann die Organisation für die restriktive staatliche Lohnpolitik verantwortlich gemacht wird. Der teilweise Verzicht auf autonomes gewerkschaftliches Handeln führt so zu einem In-FrageStellen der gewerkschaftlichen Organisation bei den Mitgliedern. Allgemein wurde i n der Gruppe betont, daß gerade unter Krisenbedingungen Gewerkschaftspolitik als ureigenste Sache der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft erlebbar sein muß, u m den verbreiteten Tendenzen zur Resignation entgegen zu wirken. Hier sollte die Notwendigkeit einer gewerkschaftlichen Betriebspolitik ansetzen.

Themenkreis 4 Veränderung der Arbeitsstrukturen durch gewerkschaftliche Betriebspolitik Der Lohnrahmentarif vertrag I I (Nordwürttemberg/Nordbaden) in der betrieblichen Praxis Von Reimar Birkwald, Frankfurt a. M. Einleitend möchte ich darauf hinweisen, daß es sich u m einen Lohnrahmentarifvertrag handelt, der seit 17 Jahren gekündigt war. Dies zeigt, wie zäh gewerkschaftliche Arbeit sein muß. Nicht allein der gewerkschaftliche Einfiallsreichtum zählt. Vielmehr müssen bestimmte Rahmenbedingungen gegeben sein, die schließlich einen tarifpolitischen Durchbruch ermöglichen. Auch i n der I G Metall war ein Umdenkungsprozeß nötig, der etwa 10 Jahre dauerte: eine Umorientierung von einer i m Schwerpunkt auf materielle Verbesserungen gerichteten Tarifpolitik, die die schon eingetretenen oder zukünftigen Veränderungen der Arbeitswelt — technische und organisatorische Einflüsse — so regelt, daß sie von den betroffenen Arbeitnehmern akzeptiert werden. I m Vorfeld von Bedeutung war des weiteren der 1972 aufgenommene § 90 BetrVG, der Arbeitgeber und Betriebsrat verpflichtet, bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung „die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit zu berücksichtigen". Auch REFA hatte 1972 unter starker gewerkschaftlicher Beteiligung eine neue Methodenlehre des Arbeitsstudiums entwickelt, i n der vor allem auf dem Gebiet der Datenermittlung zur Festlegung von Leistungsnormen klare und von allen akzeptierte Regeln und Definitionen geschaffen wurden und die gleichzeitig klare Abgrenzungen zwischen Tarifvertragsregelungen und von REFA angebotenen Methoden brachten. Nicht zu vergessen ist schließlich die weltweite Diskussion und Infragestellung von Bandarbeit, die zunehmend als unmenschlich und unzumutbar empfunden wurde. 14 Tagung Dortmund 1981

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Trotzdem bedurfte es erheblicher Überzeugungsarbeit i m Bezirk Stuttgart der I G Metall, u m die Kolleginnen und Kollegen für einen solchen Tarifabschluß zu gewinnen. Viele Funktionäre sind i n den ca. 1 000 Veranstaltungen i n der Vorbereitungsphase tätig geworden, u m den umfangreichen und komplizierten Inhalt der Tarifvertragsentwurfs zu erläutern. 1. Unsere erste Kernforderung war, die Angst vor Kündigung und Verdienstausfall angesichts bestimmter Entwicklungen i n der Metallindustrie zu nehmen, und dies zumindest für die älteren Kolleginnen und Kollegen über 50 Jahre. Diese Forderung wurde akzeptiert und auch von den Jüngeren mitgetragen. Das war das Wunder, das sich bei diesem Tarifvertrag vollzogen hat. Zum ersten Mal hat die I G Metall einen Arbeitskampf geführt, der nur auf die Veränderung der Arbeitsbedingungen gerichtet war und völlig frei war von der Komponente Lohn. Viele haben uns prophezeit, es werde ein Fiasko geben. Das Gegenteil ist eingetreten. Eine zweite Kernforderung war die nach einer Erholungszeit pro Stunde als Mindesterholungszeit. Fließband- und Taktarbeit sollten so erträglicher werden. Dabei haben w i r uns freigemacht von den jahrelangen arbeitswissenschaftlichen Auseinandersetzungen u m die Ermittlung und Höhe der Erholzeiten — Wissenschaft hin, Wissenschaft her — und haben sechs Minuten Erholzeit i n der Stunde gefordert, dazu drei Minuten i n der Stunde für persönliche Zeiten — unter Vermeidung irgendwelcher menschenunwürdigen Kontrollpraktiken. Eine dritte Kernforderung war die der Anreicherung von Qualifikationen — und u m dieses zu erreichen: die Verlängerung der Taktzeiten auf mindestens 1,5 Minuten. Denn je länger die Arbeitszyklen werden, u m so eher ist eine Anreicherung der Arbeitsinhalte möglich. Dies läßt sich zumindest als Tendenzaussage feststellen. Unsere vierte Forderung: Eine Verdienstgarantie von 140 % für Leistungslöhner sollte sicherstellen, daß die Kollegen i m Leistungslohn vom Druck, am Anfang eines Monats nicht zu wissen, was am Ende verdient sein würde, befreit sein sollten. Zumal die Gründe für diese Unsicherheit hauptsächlich auf der Unternehmensseite liegen. Hier gab es zunächst lange und zähe Vorgespräche m i t dem Verhandlungsführer der Arbeitgeber, Hans-Martin Schleyer, die dann aber zum Erfolg führten. Fünfte Kernforderung: Mehr Mitbestimmung bei Gruppen- und Fließarbeit. Hauptsächlich hierbei war der Ausbau von Mitbestimmung

Der Lohnrahmentarifvertrag I I (Nordwürttemberg/Nordbaden)

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über die Leistungsbedingungen bei Gruppenarbeit und über die personelle Zusammensetzung der Gruppen .Die i n der betrieblichen Praxis übliche dauernde und oft willkürliche personelle Zusammensetzung der Gruppen mit ihren sozialen Folgen sollte beseitigt werden. Ein sechster Forderungskomplex war die Regelung der Datensammlung und -auswertung i m Bereich der Leistungsentlohnung. Hier ging es darum, bei der Datensammlung eindeutige Abgrenzungen innerhalb und zwischen den verschiedenen Methoden zu schaffen, Transparenz für alle herzustellen und W i l l k ü r zu beseitigen. Ich nenne hier nur diese sechs von insgesamt 55 Forderungen und schließlich durchgesetzten Veränderungen. 2. I m Ausland, u m es hier einzuschieben, w i r d oft nicht verstanden, wie man sich mit einem Lohnrahmen, der eine fünfjährige Laufzeit hat, binden kann. Hier ist unsere Rechtskonstruktion Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung zu beachten. So ermöglicht § 77,3 BetrVG auf der einen Seite, daß Tarifvertragsparteien überhaupt operieren und von den Betriebsräten nicht als Ersatztarifvertragspartei unterlaufen werden können. A u f der anderen Seite kann ein Tarifvertrag den A b schluß ergänzender Tarifvereinbarungen durchaus zulassen — weshalb w i r dem Lohnrahmen I I über 30 Öffnungsklauseln eingefügt haben. Und hier ist der Anknüpfungspunkt für die Arbeit der Betriebsräte. Es w i r d möglich, i n den fünf Jahren Laufzeit des Tarifvertrages durch den Abschluß betriebsindividueller Regelungen eine Menge zusätzlicher — i m Nichteinigungsfall erzwingbarer — Vereinbarungen abzuschließen, die, und das ist wichtig, bei veränderten betrieblichen Rahmenbedingungen erneut verändert werden können. Daß das nicht leicht ist angesichts des akademisch ausgebildeten Spezialistentums auf Unternehmensseite, versteht sich von selbst. 3. Nun zur Umsetzung des Lohnrahmens I I : Großen Widerstand leisteten die Unternehmer gegen die Einführung von Erholungszeiten: Sie sollten von insgesamt 40 auf 20 Minuten reduziert werden. Dabei wurde m i t harten Pressionen gearbeitet — etwa der Androhung, daß der Betrieb bei einer solchen Pausenforderung schließen müsse. Es wurde sodann der Versuch gemacht, Pausen gegen Entgelt abzukaufen. Die I G Metall hat hier ihre Vertrauensleute mobilisiert und ist letztendlich erfolgreich geblieben. Von den Arbeitnehmern sind die Erholungszeiten inzwischen v o l l angenommen. Sollte sie jemand antasten wollen, würde es einen A u f stand geben. Bei der Ausgestaltung der Erholungszeiten wurde der Wunsch nach längeren Pausen deutlich: Die Erholungszeiten pro Stunde werden genutzt, u m die AZO-Pausen nach vorne und hinten zu ver14·

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längern. Pausen werden so zum sozialen Erlebnis m i t wirklichen Gesprächsmöglichkeiten. Das Kantinenessen kann sich weniger hastig vollziehen. Hier sind w i r — entgegen den sogenannten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen, die Kurzpausen den Vorrang geben — von den Betroffenen selbst deutlich belehrt worden. A u f Widerstand stießen auch die Vorschriften zur Ermittlung von Daten für den Zeitfaktor. Die Unternehmer haben sehr schnell begriffen, daß es sich hier u m einen völlig neuartigen Eingriff i n die A r beitsorganisation und damit i n i h r Weisungsrecht handelt. Auch unter Gewerkschaftern war noch während der 60er Jahre umstritten, ob man i n diesen Bereich eingreifen kann, und wenn j a — an welcher Stelle und wie. Einen Zweifrontenkrieg mußten w i r führen bei der Neudefinition und Durchsetzung der Entlohnungsgrundsätze: W i r mußten uns mit den Unternehmern auseinandersetzen, aber auch m i t zahlreichen Betriebsräten. Was w i r wollten, war eine klare Definition der Entlohnungsgrundsätze — ohne Haken und Ösen. Danach mußte der Leistungslohn Vorrang haben, w e i l er der Mitbestimmung und dem Zwang zur Betriebsvereinbarung unterliegt. W i r müssen nun einmal m i t § 87, Abs. 1, Ziff. 1, 10 und 11 des geltenden Betriebsverfassungsgesetzes leben und darauf achten, daß w i r die Mitbestimmung erhalten. Das war der Hintergrund für unsere Überlegungen — nicht etwa, daß w i r Herrn Taylor Blumen reichen wollten. John F.Taylor w i r d sich dreimal i m Grabe herumdrehen, wenn er sieht, was w i r aus seinem Leistungslohn gemacht haben. Überall mußten w i r aber auch m i t den Betriebsräten reden, die oft genug der Meinung waren, dieser und jener Arbeitsgang sei nicht mehr akkordfähig. W i r mußten ihnen beispielsweise verdeutlichen, daß Leistungslohn m i t hohen Anteilen von Prozeßzeiten möglich und notwendig ist, u m den Schutz der Mitbestimmung nach § 87, Abs. 1 Ziffer 10 zu erhalten. Die Unternehmer übten einen ungeheuren Druck auf die Betriebsräte aus, sich nunmehr auf den Zeitlohn einzulassen. I n einem merkwürdigen Rollentausch waren sie es, die den Leistungslohn verteufelten. Für die Kollegen hätte dies bedeutet, die Erholungszeiten, die persönliche Zeit, die Verdienstgarantie und die Mitbestimmung zu verlieren. I n einigen Fällen, i n denen dies bereits geschehen war, mußten w i r die Einigungsstellen bemühen, u m den Entlohnungsgrundsatz Leistungslohn erneut durchzusetzen.

Der Lohnrahmentarifvertrag I I (Nordwürttemberg/Nordbaden)

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Von Bedeutung sind sodann die erworbenen Informationsrechte der gewerblichen Arbeitnehmer, die nunmehr z.B. das tarifliche Recht haben, bei der Einstellung den ihnen zugesprochenen Arbeitsplatz anzusehen. Die Unternehmer versuchten, dies unter Verweis auf i m Ausland angeworbene ausländische Arbeitnehmer zu unterlaufen. Was die Lohnsicherung angeht, so haben w i r i m Vertrag die 130 °/o festgeschrieben. Diese Lohnsicherung gilt auch dann, wenn der A k k o r d reklamiert wird. Das gibt es so bisher i n keinem Tarifvertrag. Bei der Festlegung der Bezugsleistung kam es darauf an, von der sogenannten inneren menschlichen Leistung, die keiner w i r k l i c h definieren und beurteilen kann, wegzukommen. Bezugsleistung ist nun die „ i m Zeitfaktor zugrunde gelegte Mengenleistung des Arbeitnehmers. Sie ist so festzusetzen, daß der Akkordarbeiter bei menschengerechter Gestaltung der Soll-Arbeitsbedingungen nach Einarbeitung ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter und tägliches Schwanken der Arbeits-' leistungsfähigkeit wie des Arbeitsergebnisses ohne gesteigerte A n strengung den Tariflohn seiner Lohn- und Arbeitswertgruppe erreichen kann". Die Einführung der Gruppenarbeit und die dabei zu beachtenden Grundsätze sind durch Betriebsvereinbarungen festzulegen. Dies hat sich als wirksames Druckmittel auf die Arbeitgeber herausgestellt: Jede Veränderung i n diesem Bereich erfordert i m Grunde eine Betriebsvereinbarung. Für viele Arbeiter war die Schadenshaftung ein bedeutendes Problem. Schäden von beträchtlicher Höhe können heute bei komplizierten Anlagen und teuren Werkzeugen und Materialien durch kleine Fehlhandlungen entstehen und i m Falle der Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch den Arbeitgeber zu einer Belastung für den Arbeitnehmer führen, die lebenslange Zahlung bedeutet.

Schlußbemerkung Die Inhalte des Lohnrahmentarifvertrages I I von Nordwürttemberg/ Nordbaden konnten von der I G Metall bis heute i n keinem anderen regionalen Tarifvertrag auf dem Verhandlungswege v o l l durchgesetzt werden. Der Widerstand von Gesamtmetall ist so groß, daß er i n jedem anderen Tarifgebiet durch Arbeitskampf erreicht werden müßte. Nur i m Lohnrahmentarifvertrag m i t dem Volkswagen-Werk i m Jahre 1979 sind alle Bestimmungen des Lohnrahmentarifvertrages I I — zum Teil verbessert — übernommen worden.

Stagnation betrieblicher Arbeitekontrolle in Italien Von Enrico Taliani, Pisa 1. Die neue soziale Realität Wer die Ereignisse, die die soziale Dialektik der letzten Jahre i n Italien charakterisieren, aus der Nähe betrachtet, w i r d eine wachsende Dissonanz zwischen den Erwartungen der Arbeiter und den allgemeinen Richtlinien der Gewerkschaft feststellen. Es handelt sich u m eine Erscheinung, die sich nunmehr auf territorialer und betrieblicher Ebene verbreitet, und die zu tiefgreifenden, beinahe unüberwindlichen Spaltungen i m Lager der Arbeiter geführt hat. Es ist überflüssig, anzufügen, daß diese Tendenz, wenn sie so weiterläuft, die Errungenschaften der Arbeiter und Gewerkschaften vermindern wird, die bisher die Macht der Unternehmer und Manager i n Fabrik und Gesellschaft seit 1968 i n Schach hielten. Da dieses Phänomen jedoch existiert und zentraler Punkt der gewerkschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatte ist, müssen w i r uns folgende Fragen stellen: Gilt ein gewerkschaftliches Konzept, das sich als oberstes Ziel die Änderung der Produktionsverhältnisse durch eine soziale Dialektik innerhalb und außerhalb der Fabrik setzt, ein Konzept, das den Wert und folglich die „Objektivität" der Arbeitsorganisation m i t all ihren sozialen Auswirkungen i n Frage stellt? Oder treten w i r i n eine Phase ein, i n der es sich die Gewerkschaft, trotz Rissen und Spaltungen, zur Aufgabe stellt, selbst die Steuerung der Wirtschaft zu übernehmen, u m so auf lange Dauer die gegenwärtigen Machtverhältnisse i m Lande zu verändern? Wenn sich unsere Analyse auch auf einige spezifische Aspekte des Problems „Arbeitskontrolle" konzentrieren wird, so darf man doch die allgemeine sozio-politische Situation nicht ganz vernachlässigen, die die Gewerkschaftsstrategie beeinflußt. Vor allem müssen einige Voraussetzungen geklärt werden, die dann i m folgenden Text als Arbeitshypothesen auftreten: a) Die italienische Gewerkschaft erlebt eine tiefe endemische Krise, die i n der ganzen italienischen Gesellschaft verbreitet ist. Diese Krise bringt die staatlichen Institutionen auf allen Ebenen i n Mißkredit; sie setzt die Erneuerungstendenzen einer globalen Politik herab, die auf ein anders gestaltetes Modell der Beziehungen A r -

Stagnation betrieblicher Arbeitskontrolle i n I t a l i e n

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beit — Produktion auf betrieblicher Ebene und der Beziehung Gesellschaft — Wirtschaft auf nationaler Ebene zielt. Es entstehen Widersprüche, die die Arbeiterbewegung i n eine Verteidigungsposition, wenn nicht sogar i n eine anachronistische Rolle zu drängen scheinen, wobei es nicht gelingt, eine organische Beziehung zwischen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse und den neuen sozialen „Randgruppen" herzustellen, die eine eigene kulturelle und politische Dimension bilden und sich einer institutionellen Schematisierung, wie sie bis heute gehandhabt wurde, entziehen. b) Die italienische Gewerkschaft muß sozusagen an zwei Fronten kämpfen. Erstens muß sie eine Übereinstimmung zwischen der Problematik der betrieblichen Forderungen und einem fortschreitenden Dequalifizierungsprozeß der Arbeitsverrichtungen finden, der durch die gegenwärtigen Restrukturierungen i m Organisationsund Produktionsbereich bedingt ist. A u f der anderen Seite muß sie durch eine „Vermittlungspolitik" eine noch schwierigere Übereinstimmung erzielen, die die Vielfalt der Neuerungsströmungen objektiver A r t (Rationalisierungen durch die Anwendung neuer Technologien) und subjektiver A r t (individuelle oder gruppenspezifische Forderungen und Erwartungen der Arbeiter) m i t Änderungshypothesen der Wirtschafts- und Produktionsordnung i n Italien zu vereinigen weiß, indem sie die menschlichen Ressourcen und Investitionen i n die Bereiche leitet, die als „reif" oder „advanced" gelten. c) Die italienische Gewerkschaft muß Träger der Neuerungen sein, die die Randgruppen ansprechen, i n dem Versuch, sie für einen Entwurf der Gesellschaftsveränderung zu gewinnen, dessen Hauptziel darin besteht, andersgestaltete Lebens- und Arbeitsperspektiven zu realisieren. Diese schwierige Aufgabe stellt sich dann, wenn traditionelle Grundwerte, wie Arbeit, Familie, Dorf- und Gruppengemeinschaft, an Prägekraft verlieren und neue, von außen kommende Anreize und Güter das Verhalten i m Alltagsleben bestimmen, ohne daß das Individuum darauf bereits vorbereitet ist. Wenn w i r den Bezugsrahmen aus den Augen verlieren, i n dem die neuen Aspekte der sozialen und gewerkschaftlichen Realität zum Ausdruck kommen, w i r d es vielleicht noch schwieriger, die Grundlinien einer Forderungsstrategie zu verstehen, die unter dem Druck weltweiter Ereignisse (Inflation, neue internationale Arbeits- und Produktionsteilung, Einführung der neuen Technologien) sich erneuert oder zurückweicht, Ereignisse, die i m guten wie i m schlechten der Gewerkschaft — mindestens i n Italien — eine Protagonistenrolle i m Änderungsprozeß des sozialen und produktiven Bereichs zuweisen. Aber warum existiert die Spaltung zwischen Gewerkschaft und Arbeiter-

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klasse zu einem Zeitpunkt, i n dem sich die Bedingungen für ein selbst geleitetes, spezifisches und qualifiziertes Eingreifen bietet, m i t der Perspektive, das Ansehen und die Glaubwürdigkeit zu gewinnen, die notwendig sind, u m verschiedene soziale Kräfte i m Entwurf der Gesellschaftsveränderung zu vereinen? Hier sind eine Reihe von Rahmenbedingungen des Produktionsprozesses zu beachten, die sich während der letzten Jahre i n Italien ereignet haben und mit denen es sich jetzt auseinanderzusetzen gilt: A n erster Stelle die D e z e n t r a l i s i e r u n g d e r vom großen auf den mittleren und kleinen Betrieb.

Produktion

Der Verlust der Konkurrenzfähigkeit vieler italienischer Industriebetriebe einerseits und der unternehmerische Geist der italienischen Landbevölkerung andererseits haben den sogenannten Dezentralisierungsprozeß hervorgebracht: Auslagerung von Produktionszyklen und -phasen bis i n die kleinste produktive Einheit, nämlich die Familie, und dies i n fast allen italienischen Regionen m i t der Tendenz, aus der näheren Umgebung weg und möglichst weit nach Süden zu gehen. Man spricht von einer kapillaren Erscheinung, die — auf mittlerem qualifikatorischem Niveau — große organisatorische Fähigkeiten erfordert und eine Begabung, verschiedene Aufgaben m i t oftmals verschiedenartigen Arbeitsinhalten zu bewältigen. Ihre Verbreitung und der damit verbundene Isolierungsprozeß der Beteiligten entzieht sich jeder Kontrolle. Er führt zu einer relativen Entpolitisierung der örtlichen Bevölkerung und breiter Arbeiterschichten. Es ist die Großfamilie, die nun eine neue, direkte Funktion i m Produktionsprozeß erhält, indem sie gleichzeitig industrielle, kommerzielle und landwirtschaftliche A k t i v i täten bewältigt. Auch die Gewerkschaften sind ohne jeden Einfluß, obwohl viele „Heimarbeiter" gleichzeitig „Industriearbeiter" sind. Es fehlt an Kontrolle über den Gesundheitszustand der Arbeitenden, über Arbeitsrhythmus, Profitmacherei, Mutterschaftsregelungen, K i n derarbeit usw. Gleichzeitig steigt der Wohlstand gerade dort, wo früher A r m u t herrschte. Es bilden sich regelrechte Hochburgen der dezentralisierten Arbeit und der Heimarbeit, wo diese Produktionsarbeit verteidigt und ihre Bedingungen direkt m i t der Gegenpartei, meist Vermittler oder direkte Agenten von Unternehmen, ausgehandelt werden. Zuverlässige Informationen über A r t und Quantität der Produktion, A r t der gebrauchten Maschinen, über das Alter, das Geschlecht und selbst die Zahl der einbezogenen Personen sind nicht zu erhalten. Es gibt zwar einige Untersuchungen. Sie erlauben jedoch nicht, das Phänomen landesweit zu quantifizieren. Durch die Dezentralisierung der Produktion erzielen die Unternehmer direkt oder indirekt folgende Resultate: Ansteigen der Produktion und

Stagnation betrieblicher Arbeitskontrolle i n I t a l i e n

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der Produktivität ohne Investitionen zugunsten neuer Arbeitsstrukturen; Absinken des Lohnniveaus; größere Flexibilität der Arbeitskraft durch eine effektive Kontrolle über den Arbeitsmarkt, höhere Profitraten durch Verstärkung der Arbeitsrhythmen und -belastung; Erweiterung des Machtbereichs der Unternehmer i m Vergleich zu den Arbeitererrungenschaften der letzten Jahrzehnte; Erprobung neuer Technologien i m Arbeits- und Organisationsprozeß des Betriebes durch die Auslagerung „unproduktiver Apparaturen"; Einführung neuer Produktionselemente nach der Erprobung dezentraler Produktionsweisen. Zum zweiten ist das A b s i n k e n d e s Beschäftigungsn i v e a u s und die Einschränkung der „institutionalisierten Arbeit" zu nennen. Man spricht auch i n diesem Fall von einem Reflex der verminderten organisatorischen und produktiven Fähigkeit der italienischen Industrie, hauptsächlich des großen Betriebes. Die Beschäftigungsstrukt u r verändert sich langsam, aber auffallend i n den einzelnen W i r t schaftssektoren. Es verringert sich die Zahl der Angestellten i n Industrie und Landwirtschaft, und sie erhöht sich i n schwindelerregender A r t i m tertiären Dienst, während die Zahl der Arbeitslosen eine der höchsten i n den Mitgliedsländern der europäischen Gemeinschaft bleibt (8,8 °/o i m Februar 1981 gegenüber 5,0 °/o zu demselben Zeitpunkt i n der Bundesrepublik Deutschland). Die Beschäftigungszunahme i m tertiären Bereich vollzieht sich hauptsächlich i n den Sozialdiensten und i m Transportwesen, zum Teil i m Bankfach. Es herrscht eine Tendenz zu Hilfstätigkeiten vor, die eine kurze Ausbildung voraussetzen und geringe berufliche Aufstiegsmöglichkeiten bieten. I n Großbetrieben ist eine konstante Verminderung der Arbeiter zu verzeichnen, während die Quoten der Angestellten steigen. Dieses Phänomen registriert man z.B. i n allen — i m Verlauf einer Untersuchung i n der Provinz von Livorno 1 — von uns geprüften Betrieben. Das technische Niveau w i r k t sich direkt auf die Zusammensetzung der Arbeitskraft und ihren Wandel aus. Der vielleicht widersinnigste Aspekt, der die Dynamik des Arbeitsmarktes i n Italien charakterisiert, ist das Vorhandensein unterschiedlicher Beschäftigten-Kategorien: A u f der einen Seite die Beschäftigten des offiziellen Arbeitsmarktes: Arbeitnehmer m i t vorschriftsmäßigem Arbeitsvertrag; auf der anderen Seite die Schwarz- oder Nebenarbeiter: Jugendliche auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung, eine wachsende Zahl von Frauen und all denjenigen, denen es nicht gelang, einen regulären Arbeitsvertrag zu bekommen, die von der Hand i n den 1 Vgl. Taliani, Enrico: I l quadro intermedio nell'impresa industriale: l a voro, professionalità e formazione, ETS, 1979, S. 47.

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Mund leben und bereit sind, irgendeine Arbeit m i t mehr oder weniger provisorischem Charakter zu akzeptieren. Unter ihnen gibt es viele „Heimarbeiter", deren Tätigkeit nicht kontrollierbar ist, auch nicht mit Hilfe von Nachforschungen (Stichproben) des Zentralen Instituts für Periodische Statistik i n verschiedenen Teilen Italiens. Die Zahl dieser „Arbeitslosen", „Heimarbeiter" und „Schwarzarbeiter" steigt hoffnungslos an. Man spricht von 3 500 000 bis 4 000 000 Personen. Viele Arbeitnehmer verbinden eine offizielle m i t einer inoffiziellen „Zweitarbeit". Sie üben außerhalb ihrer Arbeitszeit eine Tätigkeit aus, die ihnen oft mehr einbringt, als die offizielle. Hinzu kommen ca. 800 000 (die genaue Zahl kennt niemand) ausländische Arbeiter, die i n Tätigkeiten eingestellt werden, die meist von den italienischen Kollegen abgelehnt werden. Auch dies ist ein Phänomen, das sich vergrößert, sei es i n den großen Stadtzentren oder i n den Randgebieten des Landes, so hat ζ. B. i n Sizilien die Zahl der als Fischer oder i n den Fischverarbeitungsindustrien beschäftigten tunesischen und ägyptischen Arbeiter erheblich zugenommen. Schließlich gibt es viele farbige Arbeiter, die als Hausangestellte beschäftigt werden. Insgesamt handelt es sich u m eine konfuse Arbeitsmarktsituation, die die Gewerkschaften unvorbereitet antrifft und ihnen viele Schwierigkeiten bereitet. Die traditionelle Verteidigung der Interessen der offiziell Arbeitenden ruft unkontrollierte Reaktionen der sozial Schwachen, also der Jugendlichen, Frauen, Rentner etc., hervor. Die Erörterung der Arbeitskontrolle i m Betrieb kann somit nicht losgelöst von der Gesamtdynamik der nationalen Volkswirtschaft Italiens und ihres Arbeitsmarktes erörtert werden.

2. Die Suche nach neuen Formen der Arbeitskontrolle I n meinen bisherigen i n deutscher Sprache veröffentlichten Beiträgen 2 habe ich auf wesentliche Aspekte gewerkschaftlicher Forderungen und ihrer strategischen Umsetzung seit dem „heißen Herbst" 1968 hingewiesen. Es handelt sich — kurz gesagt — u m einen Angriff auf die kapitalistische Arbeitsteilung i m Betrieb. Aus einer eher defensiven Position heraus sollte das verteidigt werden, was als Tätigkeit (mestiere) des Arbeiters angesehen wurde. Dabei ging es vor allem 2 Taliani, Enrico: Modelle betrieblicher Demokratie i n Italien, i n : V i l m a r , Fritz, Hg.: Industriedemokratie i n Westeuropa, Reinbeck bei Hamburg, 1975; Recht auf B i l d u n g u n d Demokratisierungsprozeß i n Italien, i n : Weick, Edgar, Hg.: A r b e i t u n d Lernen (Beiträge zum italienischen Modell des Bildungsurlaubs), B e r l i n 1976; Erfahrungen m i t k o l l e k t i v e n Regelungen arbeitswissenschaftlichen Charakters, i n : Pornschlegel, Hans u n d Scholz, Herbert, Hg.: Arbeitswissenschaft i n der Gesellschaftspolitik, B e r l i n 1978.

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darum, ein gewisses qualifikatorisches Niveau zu wahren, das durch die schrittweise Trennung von Arbeitsaufgabe und Qualifikation i n Formen taylorisierter Arbeit (Fließproduktion etc.) i n Frage gestellt war. Es wurde deshalb eine am Arbeitsplatz ansetzende Forderungsstrategie entwickelt, die einer weiteren Reduzierung der Arbeitsqualifikation entgegenwirken sollte. Es entwickelte sich ein System „artikulierter Verhandlungen", das den Arbeitern die Möglichkeit des direkten Eingreifens i n Arbeitsorganisation und -teilung des Industriebetriebes eröffnen und als komplementäres Moment zu den nationalen (interföderativen) Tarifverträgen w i r k e n sollte. Die betriebsbezogene gewerkschaftliche Vertragspraxis wurde auf diese Weise zum Instrument direkter Beteiligung der Arbeiter. Bestehende Arbeitsinhalte sollten substanziell verändert, die stufenweise Übernahme betrieblicher Entscheidungskompetenzen durch die Arbeiter selbst begünstigt werden. Es waren deshalb die Delegierten der homogenen Arbeitsgruppen, die als neuartige betriebliche Interessenvertretung i n Erscheinung traten. Die Ausformung der „homogenen Arbeitsgruppen" spiegelte noch selbst die organisatorische und produktive Logik der Zerlegung des Arbeitsprozesses wider: Wenn eine Gruppe von Arbeitern an demselben Fließband tätig ist, unterliegt sie denselben Arbeitsrhythmen, denselben Akkordvereinbarungen, denselben Berufskrankheiten, demselben Streß. Der Delegierte galt als unmittelbarer Ausdruck betrieblicher und gewerkschaftlicher Demokratie. I n seiner Vermittlungsfunktion wurde er zum tragenden und entscheidenden Element i m Vertragssystem. Dies galt auch dann, wenn er institutionell keine direkte Kompetenz zum Vertragsabschluß hatte. Gewählt von allen Arbeitern der homogenen Arbeitsgruppe, wurde er zur Mikrozelle einer Gewerkschaft, die sich ständig neu orientieren mußte an der Entfaltung neuer Arbeitsund Organisationsformen i m Betrieb sowie der „neuen Bedürfnisse" der Arbeiterbasis. Dieselbe Gewerkschaft mußte bemüht bleiben u m eine Synthese unterschiedlicher betrieblicher Situationen, u m auf der Grundlage breitangelegter Forderungen Druck ausüben und Kampfstrategien entwickeln zu können. Die Symbiose von artikulierten Verhandlungen und Funktion der Delegierten einerseits bzw. außerbetrieblichen Gewerkschaftsstrukturen andererseits erforderte eine bestimmte Konzeption der Arbeiterbildung. Ziel dieser Arbeiterbildung mußte es sein, zum einen die betrieblichen Veränderungen der Arbeitsorganisation begreifbar zu machen und zu ihrer Gestaltung zu befähigen, zum anderen aber auch die Belange jener zu berücksichtigen, die aus dem Produktionsprozeß herausfielen, und hier vor allem der Jugendlichen, sowie eine Verbindung herzustellen zu jenen Arbeitergruppen, die als Zweit- und Schwarzarbeiter tätig sind.

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Zu fragen bleibt, wie ein derartiger Entwurf der Umgestaltung der betrieblichen Arbeits- und Machtstruktur realisiert werden kann, ohne die Erarbeitung einer allgemeinen wirtschaftspolitischen Strategie zustande zu bringen, die i n der Lage wäre, neue Produktions- und Arbeitsverhältnisse i m ganzen Lande zu befürworten. A n dieser Kernfrage scheint die Gewerkschaftspolitik der letzten fünf Jahre zu scheitern. Zu fragen bleibt des weiteren, was geschehen soll, wenn die Arbeitsorganisation weiteren globalen Veränderungen ausgesetzt wird. Dies ist heute der Fall bei der Ersetzung der Fließbandmontage durch Roboter der zweiten Generation. Der Delegierte erleidet einen Funktionsverlust gerade dort, wo er sich am stärksten und direktesten entfalten konnte.

3. Stagnation betrieblicher Arbeitskontrolle in Italien? Hierzu zunächst drei Fragen: a) Was bedeutet Arbeitskontrolle zu einem Zeitpunkt tiefgreifender Veränderungen i m Arbeits- und Organisationsbereich des Industriebetriebs? b) Wer sind die Träger der Arbeitskontrolle? c) Kann man überhaupt von „Stagnation betrieblicher trolle" sprechen? Zur ersten Fragestellung: verstanden:

Arbeitskon-

Unter „Arbeitskontrolle" w i r d dreierlei

— eine Überwachungsfunktion bei der Umsetzung der auf nationaler Ebene oder betrieblicher Ebene unterzeichneten Vereinbarungen; — eine Entscheidungsfunktion für die Anwendung von Druckmitteln von seiten der Arbeiterbasis, wenn die Verhandlungen m i t der Betriebsleitung stagnieren; — eine Planungsfunktion — auf italienisch „capacità progettuale" = Entwurffähigkeit — bei der Erarbeitung jener Forderungen, deren Hauptziel darin besteht, die Widersprüche i m Produktionssystem zu „entlarven" 3 und die Kampfdialektik immer neu zu beleben. I m Grunde dreht es sich u m die schöpferische Fähigkeit, solche Forderungen zu stellen, daß die betriebliche Konfrontation sich an immer neuen Kampfinhalten festmachen kann. 8

Gespräche m i t Fiat- u n d Piaggio-Delegierten, November 1974 u n d 1980.

Stagnation betrieblicher Arbeitskontrolle i n I t a l i e n

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Zur zweiten Fragestellung: Die eigentlichen, produktions- und organisationsgemäßen Träger und Befürworter der oben geschilderten Arbeitskontrollkonzeption sind die Delegierten. Es gibt Abteilungs-, Montage- und Angestelltendelegierte, die an allen Knotenpunkten der Betriebsorganisation ihre Funktionen ausüben. Der Fabrikrat besteht aus allen diesen Komponenten und gilt als die „politische Synthese" aller gewerkschaftlichen und nichtgewerkschaftlichen Vertreterkompetenzen 4 . Aus den vielen i n den letzten Jahren geführten Gesprächen mit Fiat-, Piaggio-, Motofides- und Spica-Delegierten konnten folgende Aufgabenbereiche der direkten A k t i o n des Fabrikats festgestellt werden: — Erarbeitung der betrieblichen Forderungsstrategie Durchsetzung auf betrieblicher Ebene;

sowie

deren

— Informations-, Beratungs- und Kontrollfunktionen bei der Festlegung des nationalen Forderungskatalogs; — Verhandlungsfunktionen m i t Vertretern der Betriebsführung; — Entscheidungsfunktionen für die Anwendung von Druckmitteln. A n Hand dieser Indikatoren läßt sich ersehen, welche Rolle die Basisstrukturen i m Betrieb i m Laufe der letzten zehn Jahre gespielt haben. Die folgende Zusammenstellung beruht sowohl auf direkter Erfahrung wie auch auf Ergebnissen der soziologischen Forschung: a) Erarbeitung

der betrieblichen

Forderungsstrategie

Die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. I n diesem Zusammenhang spielt eine sehr große Rolle die Dimension des Betriebs; der Veränderungsgrad des technisch-produktiven Systems durch die Einführung neuer Technologien; die qualitativen Veränderungen des Arbeitsverfahrens (Gruppenarbeit statt Erweiterung der Job rotation oder des Job enlargement); das Bildungsniveau der Arbeiter; die Rollenstruktur bzw. die Verringerung der exekutiven Arbeitskräfte und die gleichzeitige Ausdehnung der Angestelltenschaft. Alle diese Faktoren sollen i n Betracht gezogen werden, u m zu verifizieren, inwieweit die Delegierten eine w i r k l i c h führende Funktion bei der Gestaltung der Arbeitskontrolle ausgeübt haben. Aus unseren direkten Erfahrungen 5 läßt sich folgendes behaupten: Die Delegierten, i m weiteren Sinne die Basisstrukturen, stoßen auf wachsende Schwierigkeiten wegen der fortschreitenden technisch4

Ebenda. Ich beziehe mich auf Gespräche m i t Delegierten i n Großbetrieben aus Nord- u n d M i t t e l i t a l i e n u n d auf eine Untersuchimg über die Techniker u n d Angestellten der „Acciaierie d i Piombino". 5

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organisatorischen Veränderungen i m Betrieb. Zwei Beispiele: Die teilweise oder vollständige Roboterisierung einiger Arbeitsprozesse bei Fiat oder bei Piaggio, sodann: die Umsetzung von einer Abteilung zur anderen oder von einem Betriebsort zum anderen. Der Delegierte verliert seine Hauptfunktion, nämlich Schiedsrichter, Interpret, Verteidiger und Befürworter der Forderungen homogener Arbeitsgruppen zu sein. Wenn Roboter eingesetzt werden, wenn desinteressierte bzw. gewerkschaftlich schlecht geschulte Arbeiter eingestellt werden oder wenn Unternehmerstrategien entwickelt werden, die zum Ziel haben, die unterschiedlichen Arbeitsgruppen zu spalten (auf der einen Seite die Facharbeiter, auf der anderen Seite die un- oder angelernten Arbeiter), scheint es unwahrscheinlich, daß die 1968 neugeschaffenen Basisorganismen der Gewerkschaft ihre Stoßkraft beibehalten können. I n diesem Zusammenhang w i r d auf eine Erscheinung hingedeutet, die für die jetzige Arbeitersituation als charakteristisch gilt. Vor allem unter den jungen Arbeitern verringert sich von Jahr zu Jahr die Anzahl der gewerkschaftlich Organisierten. Gleichzeitig nimmt die Bereitschaft ab, als Delegierte zu fungieren. Dies hat zur Folge, daß die Verhandlungsfähigkeit der Delegierten gegenüber der Betriebsleitung abnimmt, während sich die Amtszeit der gewählten Delegierten über Jahre hinaus fortsetzt. Nicht zufällig w i r d von einer Verbürokratisierung des Delegiertensystems gesprochen. Aus Gesprächen m i t Betriebsleitern geht deutlich hervor, daß die Delegierten immer seltener als „legitime" und „geachtete" Gesprächs- bzw. Gegenpartner auftreten. M i t anderen Worten: Die Arbeiterbasis identifiziert sich nicht mehr m i t den betrieblichen Vertretungsstrukturen. Es entsteht ein politisches Vakuum bei Verhandlungen und Vereinbarungen, das sowohl den offiziellen Gewerkschaften wie auch den Betriebsleitungen Schwierigkeiten bereitet. b) Informations -, Beratungsgung des gewerkschaftlichen

und

Kontrollfunktionen Forderungskatalogs

bei der

Festle-

A u f diesem Gebiet spielen die Delegiertenräte noch eine bestimmende Rolle. Die von Seiten der Betriebsleitungen eingeführten technischen Neuerungen und deren Auswirkungen auf Arbeitsinhalte und Mobilität werden ziemlich genau verfolgt und von Fall zu Fall analysiert. Die Gewerkschaften verfügen so — trotz allem — über ein umfassendes B i l d von allen Neuerungen i m Produktionsprozeß der Groß- und Mittelbetriebe. Bei Verhandlungen läßt sich dieses Informationsgerüst gut einsetzen, zumal die meisten Delegierten an Erfahrung und Geschicklichkeit bei der Verwendung von Analyseninstrumenten gewonnen haben.

Stagnation betrieblicher Arbeitskontrolle i n I t a l i e n

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Beispielhaft aufzeigen ließe sich dies an der letzten betrieblichen Vereinbarung m i t der Leitung des Piaggio-Werkes. Es handelt sich u m ein Dokument von ungefähr 40 Schreibmaschinenseiten, i n dem alle Aspekte des Produktionsprozesses, der betrieblichen Investitionen, der Planungsperspektiven, der Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Erweiterung des Beschäftigungsniveaus, der Arbeitsinhalte, des Verhältnisses von Angestellten und Arbeitern usw. exakt beschrieben sind. c) Verhandlungsfunktionen

mit Vertretern

der

Betriebsleitung

Wie gesagt, verlieren die Delegierten auf dem Gebiet der direkten Verhandlung m i t den Managern an Stoßkraft, d.h. an Entscheidungsfähigkeit. Es konnte i n verschiedenen Betrieben festgestellt werden, daß eine direkte Beziehung zwischen der Verringerung der Verhandlungsfähigkeit am Arbeitsplatz und der Verschärfung der Kontraste zwischen Arbeiterkategorien besteht. I m allgemeinen entwickeln sich Situationen, die selbst von den Delegierten als „schwankend", „widersprüchlich", „streitig" bezeichnet werden, je mehr sich das Delegiertensystem auf territorialer Ebene nicht ausdehnen konnte, d.h. es fehlt an jeder Koordinierung zwischen den Fabrikräten, so daß die sogenannten horizontalen Vertretungsstrukturen der Gewerkschaften bis heute keine wesentliche Funktion ausgeübt haben. I n den siebziger Jahren wurde der Delegierte als die „kleinste Zelle der innerbetrieblichen Organisation der A r beiterklasse", als „eine neue Methode i n den Beziehungen zwischen Arbeitern und Gewerkschaften" oder als ein „Instrument zur Belebung und Fortsetzung des Klassenkampfes i m Betrieb" anerkannt®. M i t der Zeit hat sich erwiesen, daß alle diese Definitionen und Kompetenzen der Realität nicht entsprechen. I n der heutigen betrieblichen und gewerkschaftlichen Realität riskiert der Delegierte, isoliert zu werden, oder er w i r d gezwungen, eine Nebenrolle zu spielen i m Einklang mit der Intensivierung der Rationalisierungsprozesse. Betriebsräte von Piaggio, Motofides und der Acciaierie di Piombino geben auf die Frage: „Welche Schwierigkeiten entstehen bei der Ausfüllung der Delegiertenfunktionen i n der Verhandlungspraxis?" die folgenden Antworten: „Die Arbeiterbasis ist heute sehr wankelmütig, desinteressiert. Sie denkt nur an den Lohn, ist unpolitisch, gewerkschaftsfeindlich, niedergeschlagen"; oder: „Der junge Arbeiter hat heute andere Werte und Zielsetzungen i m Kopf, so daß es β Gespräche m i t Fiat-Delegierten u n d T u r i n e r Gewerkschaftern, in: Taliani, Enrico: Modelle betrieblicher Demokratie i n Italien, i n : V i l m a r , Hg., A n m . 2, S. 208 - 218.

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Enrico T a l i a n i

immer schwieriger wird, m i t den neuen Generationen auszukommen"; oder: „Die Betriebsleitung ist wieder Herr der Lage; w i r haben Ideen entwickelt über andersgestaltete Arbeitsverfahren, jetzt w i r d dies von den Betrieben ausgenutzt, ohne daß w i r etwas dagegen t u n können"; und: „Sicher ist, daß die gestrigen Druckmittel, wie etwa Streiks, plötzliche Produktionseinstellungen, Protestaktionen m i t politischem Charakter usw. kein großes Interesse mehr finden".

4. Die „nuova Professionalità" als Träger einer andersgearteten Arbeitskonzeption I n der langen und bewegten Debatte über die „neue Professionalität", nämlich über eine neue A r t , Arbeit und Qualifikation miteinander zu verknüpfen, wobei zu beachten ist, wie sich die technische Arbeitsteilung i n der Fabrik entwickelt und gliedert, kann man Aspekte eines Tendenzwandels feststellen. Tatsächlich strebt man seit 1971 i n vielen Betrieben eine Rekomposition der Tätigkeiten durch direkt vom A r beitsplatz ausgehende Verhandlungen an. Als Folge w i r d die Funktion der Bildung des Arbeiters wieder höherbewertet, einer Bildung, die sich nicht ausschließlich auf den beruflichen Werdegang des einzelnen bezieht, sondern zu einem Element der Synthese werden könnte, das den theoretischen Anspruch m i t der spezifisch beruflichen Fähigkeit vereint. Eine solche Umwertung geht notwendigerweise m i t einer Vertiefung technischer Fähigkeiten einher, die direkt m i t der Arbeitserfahrung erworben werden. Sie greift sodann die organisatorische Struktur des Betriebes an, also jene Produktions- und Organisationsmethoden, die dazu da sind, die Arbeitsleistungen zu unterteilen, und damit eine Führungslogik, die die strategische Achse der Rationalisierung darstellt. Das Bedürfnis nach einer „neuen Professionalität" entsteht somit als Gegenposition zu einer Auffassung der Arbeit als reine Ausführung und Standardisierung. Der Bruch i n der Beziehung Qualifikation — Arbeit ist j a nicht nur das Produkt der Entwicklung der Arbeitsteilung, sondern auch einer Managementphilosophie, die einseitig die Optimierung des Einsatzes des Faktors Arbeit betreibt, ohne von einer realen, menschengebundenen Wertung der beruflichen Fähigkeiten auszugehen7. 7 Stefanelli, R.: Capire l'economia (Dizionario critico del capitalismo contemporaneo), Bd. I I , De Donato, B a r i 1977, S. 523. Diese These, die i m M i t t e l p u n k t der Diskussion unter Fachexperten, Gewerkschaftern u n d Wissenschaftlern steht, g i l t als Ausgangspunkt jeder theoretischen u n d gewerkschaftspolitischen Überlegung, die dazu neigt, ein alternatives Modell der Beziehung Arbeit—Qualifikation aufzuzeigen.

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M i t den Arbeitsverträgen, die seit 1971 i n den meisten Betrieben abgeschlossen werden, versucht die Gewerkschaft, die bisherige Konzeption einer beruflichen Wertordnung zu ändern. Vorgeschlagen w i r d eine neue A r t der Klassifizierung der Arbeit, die die längst überholte, auf „job evaluation" basierende, ersetzen kann. Job evaluation als Klassifikationssystem der Arbeit bedeutet Einstufung i n Lohngruppen je nach dem Grad der Verantwortung, der Leistungsfähigkeit, der Qualifikation, der Unannehmlichkeiten und des Risikos eines Arbeitsverfahrens. Dieses System hatte i n vielen Betrieben eine zu große Fächerung der Lohngruppen zur Folge. Die Unterschiede wurden derart betont, daß man bis zu 24 Rangstufen festlegte. Der Vorschlag der Gewerkschaft geht nun dahin, das System der unterschiedlichen Lohnstufen einzuschränken und eine einheitliche Klassifizierung weniger Gruppen festzulegen, die an Hand von Beispielen von Berufsprofilen definiert werden, abgestimmt m i t dem Betrieb und i m Einklang m i t den beruflichen Fähigkeiten und Möglichkeiten des einzelnen Arbeiters. So ergibt sich die Basis für die Definierung der Professionalität des Arbeiters i n einem Bezugsrahmen, der es erlaubt, neue Linien und Methoden des Eingriffs i n die Arbeitsorganisation zu erproben, — i n Übereinstimmung (oder auch nicht) m i t den Wirkungen der Einführung neuer Technologien; andererseits w i r d der Prozeß einer Höherbewertung des berufsmäßigen Charakters des Arbeitsverfahrens ( = Professionalität) vorangetrieben, der bisher nicht die Möglichkeit fand, sich auszudrücken. „Wenn man also von der Feststellung ausgeht, daß das Anwachsen der Lohnstufen einer betrieblichen Organisationslogik und -praxis entspricht, die i n erster Linie die Arbeitsleistung abwertet und die beruflichen Fähigkeiten des einzelnen Arbeiters verringert, ist es nunmehr oberstes Ziel, ein kollektives Wiedererlangen der Professionalität anzustreben, indem die Anzahl der Lohnstufen reduziert wird 8 ." A u f diese A r t ergibt sich die Gelegenheit für „eine Rekomposition des Berufsbildes" des Arbeiters und Angestellten. Beide Berufskategorien unterlagen bisher, wenn auch m i t verschiedenen Rhythmen und Modalitäten, demselben Dequalifizierungsprozeß oder, wie es die Gewerkschaft bezeichnet, „einer beruflichen Verarmung". Unter den hervorstechendsten Initiativen, die unternommen werden, u m die beruflichen Fähigkeiten des Arbeiters höher zu bewerten und zu entwickeln, finden sich die folgenden: — Rotation i n Positionen desselben oder eines höheren Tätigkeitsniveaus; — Kurse zur Berufsausbildung und Allgemeinbildung; 8 Gespräche m i t Mitgliedern des Fabrikrates des Piaggio-Werkes, November 1978.

15 Tagung Dortmund 1981

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— Rekomposition des beruflichen Aufgabenbereiches durch Anreicherung der Arbeitsinhalte; — Vervollkommnung spezifischer beruflicher Fähigkeiten, die einige besonders schwierige Arbeitsphasen betreffen; — schrittweise Abschaffung von Arbeitsbereichen, die starke psychischphysische Belastungen m i t sich bringen; — Arbeitsplatzwechsel i n solche Bereiche, die günstigere Bedingungen für die Entfaltung beruflicher Fähigkeiten bieten; — Ausbau der Qualifikation unter Berücksichtigung spezifischer und subjektiver Aspekte, wie Erfahrung, Alter, angeeignete berufliche Fähigkeiten und Bildungsniveau. I n den Gewerkschaftsdokumenten oder i n der Spezialliteratur, die konkrete betriebliche Situationen analysieren, werden normalerweise Lösungen vorgeschlagen, die eine A r t von Professionalität verlangen, bei der das Moment der „Entwurfsfähigkeit" oder der „schöpferischen Begabung" das der „unpersönlichen Ausführung" überwiegt. Man verficht eine A r t der Industriepolitik, die ins Zentrum der Dialektik Mensch — Produktion die Wiederaufwertung des Faktors Arbeit stellt, der nicht mehr als unmittelbarer Reflex des Produktionsprozesses und der technologischen Entwicklung betrachtet wird, dem vielmehr die Perspektive eröffnet wird, den Produktionsprozeß aktiv zu gestalten und unter Kontrolle zu halten. Die Realität der italienischen Betriebe, die i n vieler Hinsicht ganz verschieden ist von derjenigen hochindustrialisierter Länder, hat das Bedürfnis hervorgebracht, die soziale und funktionale Arbeitsteilung und die Rückwirkungen technologischer Erneuerung zu überdenken. Beachtenswert sind auch i n diesem Zusammenhang die theoretischen Beiträge und empirischen Untersuchungen von Experten der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, der Gewerkschaften verschiedener ideologischer Orientierung und selbst der Arbeitsgruppen, die mit den Fabrikräten und anderen Vertretungsstrukturen der Arbeiterbewegung mehr oder weniger zusammenarbeiten. Das Verlangen nach neuer Professionalität, nach einem anderen Konzept der Arbeitausführung i m Industriebetrieb, führt auf weitverbreitete Bestrebungen und Überzeugungen zurück, die Arbeitsorganisation zu ändern. Was diesen Bestrebungen oftmals fehlt, ist eine gewisse Präzisierung ihrer Umsetzbarkeit. Man geht zwar von theoretischen Voraussetzungen aus, die Anregungen vermitteln, die aber i m großen und ganzen nicht i n machbare und akzeptable Vorschläge übertragen werden können. Seit einiger Zeit hat sich auch von Unternehmerseite die Initiative zur Änderung einiger Trägerstrukturen der Arbeitsorganisation i n der Fabrik durchgesetzt, die auf längere Zeit quantitative und qualitative

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Auswirkungen auf die Berufs- und Beschäftigungsstruktur haben können, die i m Moment schwer vorhersehbar sind. Die Reflexion über eine neue Professionalität, über die Methode, wie man die augenscheinlichsten Formen dequalifizierter Arbeit überwinden kann, gew i n n t ständig an Bedeutung. Man gibt die Irrtümer offen zu, die i n der Vergangenheit durch die Einführung und den übertriebenen Gebrauch des Fließbands, der extremen Aufteilung des Arbeitsprozesses usw. gemacht wurden. Langsam zeichnet sich ein Weg ab, der, wenn auch i n seiner Grundorientierung nicht greifbar, die Überwindung des traditionellen Drucks zwischen „Ausführung" und „Leitung", zwischen „Handarbeit" und „Kopfarbeit" anstrebt, indem die „Computerisierung" von ganzen Arbeitsabläufen und Prozeduren vorangetrieben wird, die bisher ein durchschnittlich niedriges Niveau an Fähigkeiten und Kenntnissen zu ihrer Ausführung verlangten. Die Einführung der „robotgate" bei Fiat i n der exekutiven Arbeit und der immer rationellere Einsatz des Computers i n betrieblichen Informationssystemen können sich schon morgen auf das Berufsbild auswirken, wobei neue individuelle oder gruppenspezifische Arbeitsformen zur Geltung kommen. Die hierarchische Rangordnung von Berufsprofilen verschwindet. Hier hat der Kampf u m die neue Professionalität seinen Ort, — als Weg zu tiefgreifenden Veränderungen i m Berufsbild der Industriearbeit und vielleicht i n der Auffassung von Arbeit schlechthin. Die neue Professionalität stellt ein Instrument dar, das den Produktionsprozeß durch eine hohe Bewertung der Wirksamkeit menschlicher Ressourcen beeinflussen kann. Die „capacità die fare" ( = Fähigkeit zum Wirken) steht gegen einen zunehmenden Dequalifizierungsprozeß. Die neue Professionalität setzt sich somit immer mehr als kreatives Moment i n einem Prozeß durch, der seiner Natur nach den Menschen der W i l l k ü r des Produktionsablaufs aussetzt. Die Forderung nach neuer Professionalität ist noch heute an die Grundlinien gebunden, die zu Anfang der siebziger Jahre ausgearbeitet wurden. Tatsächlich handelt es sich darum, Forderungen beruflicher A r t voranzutreiben, also einem i n Arbeiterkreisen weitverbreiteten Bedürfnis entgegenzukommen, wonach die berufliche Tätigkeit nach Produktionskriterien zu bewerten sei. Es geht darum, den Faktor Arbeit i n einem „egalitaristischen Rahmen" und i n einer „ M i t w i r kungsperspektive" (dimensione partecipativa) neu zu interpretieren. Arbeitern und Angestellten soll ein Anreiz gegeben werden, sich direkt mit den Fragen der realen oder potentiellen Qualitäten ihrer Tätigkeit auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung hat sich auf die gesamte Arbeitsorganisation zu beziehen, also auch auf den hierarchischen Aufbau und die Machtstruktur i m Betrieb. Man kann also i n den gewerkschaftlichen Forderungen nach einer neuen Professionalität zwei 15*

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Elemente oder besser zwei strategische Ziele feststellen, die heute wie gestern die Unternehmer von der Arbeiterfront tief trennen. Das erste Ziel ist das einer Rekomposition der drei traditionellen Berufsgruppen, i n die die Arbeitnehmer innerhalb des Betriebs eingeteilt sind: die ungelernten Arbeiter (Fließbandarbeiter), die Facharbeiter und die Angestellten. Es handelt sich hierbei u m die Forderung des „inquadramento unico e professionale", einer neuen Klassifizierung der Berufskategorien nach Kriterien des Funktionenwechsels, mindestens auf den niedrigeren Lohn- und Gehaltsstufen. Das zweite Element zeigt sich i n einer A r t , die Professionalität zu sehen, die i n Kriterien und Methoden besteht, die die potentiellen Fähigkeiten des Arbeiters einbeziehen, i n anderen Worten, die eine größere Sicherheit für die Karrieremöglichkeit innerhalb des Betriebes bieten. Etwas forciert kann man vielleicht das inquadramento unico von Arbeitern und Angestellten als ein taktisches Instrument betrachten, das die Organisation des Betriebs i n ihren technischen und verwaltungsmäßigen Grundelementen trifft, während das Bedürfnis nach einer neuen Professionalität ein Instrument ist, das sich über längere Zeit gesehen i n eine Eingriffsstrategie verwandeln kann, m i t dem Ziel, neue Formen der Arbeitsorganisation zu entwickeln. I m letzteren Fall dreht es sich u m die Auffassung der Arbeit als unabhängige Variable und nicht als Reflex der Rationalisierungsmodelle, die i n den italienischen Betrieben eingeführt worden sind, übrigens m i t großer Verzögerung gegenüber den hochindustrialisierten Ländern. Und deshalb scheint die Feststellung Gallinos, eines führenden Industriesoziologen Italiens, zutreffend zu sein, der bei der Darstellung der Bedeutung des inquadramento unico und der nuova professionalità den Unterschied zwischen beiden insofern betont, als er ersteren als statisch, wenn auch als neues Phänomen, bezeichnet, während i h m die neue Professionalität ein vorwärtstreibendes und dynamisches Element zu sein scheint, das die gesamte Phänomenologie der Arbeit verändern kann. I n die Definition der neuen Professionalität geht neben ihrem statisch-strukturellen und dynamisch-projizierenden Moment ein drittes ein, das w i r als conoscitivo ( = erkennend) bezeichnen. Dabei geht es u m die „Erkenntnisfähigkeit" (capacità di conoscenza) hinsichtlich des Produktionszyklus und die Eingriffsfähigkeit, die zu seiner Veränderung führt. M i t dem inquadramento unico von Arbeitern und Angestellten und m i t der Einführung von Forderungen nach einer andersgestalteten Professionalität gerät eine Auffassung der Arbeit i n Mißkredit, die auf der Qualifizierung als „Wert" basiert und insofern eine Verbesserung der beruflichen Fähigkeiten anstrebt, als diese die soziale Mobilität erleichtern kann 9 . Statt dessen w i r d eine A r t „subjektiver Professionali-

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tat" wieder aufgewertet, derzufolge die beruflichen Fähigkeiten und das entsprechende Potential i m Einklang gesehen werden mit einer wirklichen Bereicherung der Arbeitsinhalte: — Austausch von Routinetätigkeiten m i t kreativeren, d. h. mit Tätigkeiten, die vielseitige Fähigkeiten und Einsatz verlangen; — Austausch von Tätigkeiten, die den „Menschen demütigen" und i h n zum Schatten seiner selbst degradieren, durch Arbeiten, die zum „Nachdenken anregen"; — Befähigung, „das H i r n zu gebrauchen, u m die Bedeutung und Wichtigkeit der Phänomene des ganzen Produktionsprozesses zu begreifen". Letztlich kann man behaupten, daß der Arbeiter m i t dem inquadramento unico und der nuova professionalità eine Struktur bilden möchte, die ihn nicht mehr anonym beläßt; er w i l l wissen, welches seine w i r k liche Stellung i n einem Wandlungsprozeß des Organisationsgefüges des Industriebetriebes ist. Abschließend lassen sich die Grundorientierungen, die aus den letzten Arbeitsverträgen, aus Untersuchungsergebnissen über die Arbeitsorganisation und aus wissenschaftlichen Überlegungen zu dieser Themat i k hervorgehen, so zusammenfassen: a) Die Ablehnung einer job evaluation nach tayloristischen Regeln als Bewertungskriterium der Tätigkeiten und der Lohngruppenstrukt u r ist weit verbreitet. Daraus folgt jedoch i n der Betriebspraxis nicht immer der Wille und Einsatz, andere Organisations- und Leitungsformen der Arbeit zu erkunden. Man kann also behaupten, daß die Ablehnung zwar ins Bewußtsein gedrungen ist, aber dennoch häufig der Anstoß fehlt, alternative Formen der Arbeitsorganisation zu realisieren. b) Die Forderung nach „neuer Professionalität" zeigt sich zunächst als eine Antwort auf die Zersplitterung des Arbeits- und Produktionszyklus i n eine Vielfalt von einförmigen Handgriffen, noch nicht als eine Langzeitstrategie, die darauf abzielt, Bildungsprozesse nachzuholen und die Trennung von Schule und Arbeit aufzuheben. c) Die Notwendigkeit einer effektiven Kontrolle über das Organisations· und Produktionssystem eines Betriebes, die als globaler Prozeß des Eingreifens verstanden werden w i l l , ist nicht nur sehr verbreitet, sondern gewinnt i n den Betrieben an Bedeutung, wo 9 Lettieri, Α.: Inquadramento Unico e Strategia delle Qualifiche: una discussione, i n : Rassegna Sindacale, n. 35. Außerdem: Contributo al dibattito sulle qualifiche, T u r i n 1971 (unveröffentlichtes Gewerkschaftsdokument).

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man eher dazu bereit ist, den Konflikt m i t der Gegenpartei zum Element einer Dialektik zu machen, die darauf abzielt, neue Formen der Machtverteilung i n der Fabrik zu erproben. Dieser Aspekt, der von den vorhergehenden nicht zu trennen ist, w i r d von einigen Fabrikräten als Voraussetzung dafür betrachtet, daß der Prozeß einer neuen Professionalität w i r k l i c h i n Gang gebracht werden kann. f j d) Die Notwendigkeit einer Verknüpfung der Problematik der Arbeit i n der Fabrik m i t den inner- und außerbetrieblichen Bildungsstrategien w i r d von allen Beteiligten: Arbeiter, Angestellte und Führungskräfte als zwingend betrachtet, u m Bildungsprozesse zu requalifizieren. e) Die neue Professionalität kann nur dann als ein erneuerndes Element/Instrument w i r k e n und ihre Vermittlungsfunktion zwischen Bildungsprozessen und Arbeitswelt erfüllen, wenn es i h r wirklich gelingt, Hypothesen einer „Erweiterung der Produktionsbasis, die auf die Entwicklung und Erforschung der technologischen Autonomie gegründet ist", zu formulieren. Es dreht sich darum, inwieweit diese „Autonomie" zu einem Bestandteil der Arbeitskontrolle wird. Die Frage, ob die Rede von einer „Stagnation der betrieblichen A r beitskontrolle i n Italien" berechtigt ist, möchte ich, trotz aller Widersprüche, eher m i t einem „nein" beantworten. Und das aus zwei Hauptgründen: — Der Arbeiter orientiert sich an Modellen und neuen Zielsetzungen, wobei der Antagonismus (die Gegenüberstellung m i t dem „Padrone") stärker als je zuvor zutage t r i t t . Dafür sprechen viele Tatsachen, wie zum Beispiel die Suche nach neuen Formen des Arbeits- und Organisationsprozesses, die es den Arbeitern ermöglichen, eine direkte Gestaltungsfunktion auszuüben; oder: Der Einsatz zur Neudefinierung der Arbeitsinhalte nach gruppenspezifischen Kriterien, die dazu beitragen sollen, die individualistische Berufsauffassung bei der Arbeitsausführung auf lange Sicht zu überwinden. — Der Arbeiter kann sich zwar nicht m i t den betrieblichen Vertretungsstrukturen (Delegierte der homogenen Arbeitsgruppe, Fabrikrat) v o l l identifizieren; er kann sogar die Gewerkschaft wegen Unfähigkeit, Immobilismus, Bürokratisierung kritisieren, dennoch überleben der „Geist" und das „Erlebnis" des Kampfes der vergangenen zehn Jahre, die dem Arbeiter einen Weg eröffnet haben, m i t Intelligenz und Beharrlichkeit die Widersprüche zu erkennen und zu entlarven, die das jetzige Produktions- und Arbeitssystem bestimmen,

Veränderungen industrieller Arbeitsstrukturen durch gewerkschaftliche Tarif- und Betriebspolitik in Schweden Von Stig Gustafsson, Stockholm

1. Vorbemerkung Die Technik w i r d i m allgemeinen als neutral angesehen. Neue Produktionssysteme werden von Unternehmensleitungen als „unpolitische" technische Lösungen vorgestellt. Was an den Technischen Hochschulen gelehrt w i r d und was i n den Entwicklungsabteilungen der Unternehmen ausgearbeitet wird, w i r d i n politischer Hinsicht nicht als kontrovers betrachtet. Zu diesem B i l d gehört auch die Vorstellung, daß die Technik eine selbständige Logik habe: sie entwickele sich von Stadium zu Stadium i n naturgegebener Ordnung und ließe die Wertvorstellungen der Menschen nicht auf sich einwirken. Dies ist keine korrekte Beschreibung der Rolle der Technologie i n der Gesellschaft. Dies ist ein Mythos, der lange Zeit hindurch geschaffen und befestigt worden ist. I n Wirklichkeit gibt es keine „natürliche technische Entwicklung", die unabhängig von den sonstigen gesellschaftlichen Verhältnissen vor sich geht. Die technische Entwicklung enthält i n jedem Stadium eine Menge Versprechungen. Die wirkliche geschichtliche Entwicklung bedeutet aber, daß nur ein Teil dieser Versprechungen eingelöst wird. A u f diese Weise ermöglicht und fördert die Technologie gewisse Dienstleistungen und Waren, während die Existenz anderer erschwert oder verhindert wird. Die Machtverhältnisse i n der Gesellschaft sind es, die die Weichen dahingehend stellen, welche Technologie heranwächst. Diejenigen, die das Kapital und den Produktionsapparat beherrschen, sorgen dafür, daß die Technologie i n erster Linie ihre eigenen Interessen wahrt. Daher ist die Technologie i n der schwedischen Gesellschaft kein neutraler Produktionsapparat, m i t dessen Hilfe ein gewisser Standard produziert werden kann. Sie ist eine Produktionsweise m i t eingebauten politischen Aufgaben und Konsequenzen. Erstens ist die Technologie derart ausgeformt, daß sie vor allem das Gewinninteresse fördert. Dieses Interesse teilt den Arbeitsprozeß i n kleine Stücke auf und ermöglicht es, den Bedarf an beruflichem Können

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Stig Gustafsson

und an Ausbildung bei den Arbeitnehmern zu verringern. A u f diese Weise werden neue Niedriglohnberufe geschaffen. Das Verhältnis zwischen Gewinn und Lohn gestaltet sich so, daß den Interessen der Kapitaleigner Genüge getan wird. Zweitens w i r d diejenige Technologie entwickelt, die Machtpyramiden erhält und verstärkt, wobei die meisten Beschäftigten geringere Möglichkeiten bekommen, auf ihre Situation einwirken zu können. Drittens w i r d eine Technologie entwickelt, die uns die tägliche Lehre erteilt, daß es notwendig ist, wenn wenige Menschen die große Menge der Menschen steuern können. Diese Technologie verhindert Arbeitsformen, die Teamwork und menschliche Gemeinschaft begünstigen. Die Computertechnik ist ein Teil der Technik, die bis i n unsere Tage hinein entwickelt worden ist. Der Beitrag der Computer zur Entwicklung

der Technik

Der Computertechnik können i n verschiedenen produktionstechnischen Zusammenhängen verschiedene Rollen zugeteilt werden. Bisher ist sie hauptsächlich dazu benutzt worden, u m Tendenzen zur Deklassierung von Arbeit durch Aufsplitterung zu verstärken. Dabei verlieren die arbeitenden Menschen die Kontrolle über die Arbeit, die Arbeitswerkzeuge und das Resultat der Arbeit. Für den Handwerker, der seine Werkzeuge und sein Produkt selbst herstellte, war die Arbeit eine Ganzheit. Das bedeutete, daß die theoretischen Kenntnisse m i t der praktischen Arbeit verbunden waren. Die Möglichkeiten der Mechanisierung wurden jedoch nach und nach i n einer Weise ausgenutzt, daß die Arbeit ihren Charakter veränderte. Die Mechanisierung bedeutete, daß die arbeitenden Menschen ihrer Kenntnisse über die Arbeit als Ganzes beraubt wurden. Es wurde eine lenkende Schicht geschaffen, die — obwohl sie nur Kenntnisse i n der Betriebsleitung oder Kapital zur Verfügung hatte — einen immer festeren Griff über die Lenkung der Produktion, die Planung und die Kontrolle bekam. I n diesem historischen Entwicklungsprozeß haben die Computer und Prozeßrechner ihren Einzug gehalten. Sie haben schon dabei mitgewirkt, den Prozeß weiterzutreiben, und sie bieten enorme Möglichkeiten, diese Tendenzen anzuheizen und zu verstärken. Die äußerste Folge einer solchen Entwicklung ist, daß die arbeitenden Menschen zu einem reinen Anhang der Maschinen i n einem komplizierten Produktionsprozeß degradiert werden. Zwar erfordert eine solche Organisation geringe körperliche Anstrengung, und die Unfallrisiken während der Arbeit sind gering, aber gleichzeitig sind die Forderungen nach Ausbildung, Erfahrung, Verantwortung, Einwirkung auf die Produktion und Beschlußfassung sehr begrenzt.

Veränderungen industrieller Arbeitsstrukturen i n Schweden

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Entwicklungen dieser A r t sind heute nicht mehr auf die Industrieproduktion beschränkt. Auch i m Handel, i m Dienstleistungssektor und i n der öffentlichen Planung, u m nur einige Beispiele aus anderen Sektoren der Gesellschaft zu nennen, werden Technologien und Formen der Arbeitsorganisation mit den gleichen Kennzeichen und der gleichen M i t w i r k u n g der Computertechnik entwickelt wie i n der Industrieproduktion. Demokratie

in den Unternehmen

Was können w i r ausrichten angesichts der Bedrohung durch Kräfte, die, wie es scheint, unsere Rolle i n der Arbeitswelt begrenzen, die uns zu einem bloßen Anhang i n Produktionssystemen machen und die w i r als einzelne nicht vollständig überblicken können? Das Ziel muß eine Organisation der Geschäftstätigkeit i n den Unternehmen sein, die es möglich macht, daß die einzelne Arbeitsgruppe die Kontrolle über ihre Arbeitssituation und die Beschäftigten insgesamt die kollektive M i t bestimmung über die gesamte Geschäftstätigkeit des Unternehmens gewinnen. Die Frage, ob die Computer eine Bedrohung oder Zukunftsmöglichkeiten bedeuten, berührt m i t anderen Worten den Inhalt der Arbeit des einzelnen und die Formen der koordinierten Leitung der Gesamttätigkeit. Was den Inhalt der Arbeit betrifft, so bedeutet die Automatisierung oft eine starke Verarmung. Die Entwicklungstendenzen der Technologie und Organisation der Arbeitswelt führen zu einer Schichtung der arbeitenden Menschen: Eine Minderheit bekommt qualifizierte Aufgaben und hat Funktionen i n der Lenkung der Produktionssysteme inne. Die allermeisten werden jedoch auf Arbeitsaufgaben verwiesen, die immer geringere Möglichkeiten für die Entwicklung von Kenntnissen und für die Kontrolle über die Entwicklung der eigenen Arbeitsbedingungen geben. W i r kennen viele Beispiele, wie die Technologie die Arbeitnehmer passiv und es ihnen schwer macht, zusammen als ein solidarisches Kollektiv i n A k t i o n zu treten. Diese Entwicklung muß umgedreht werden. Die Ausrichtung für eine solche Arbeitnehmerstrategie w i r d i n den Programmen für Wirtschaftsdemokratie angegeben, die sowohl vom Schwedischen Gewerkschaftsbund (LO) wie von der schwedischen Zentralorganisation der Angestellten und Beamten (TCO) angenommen worden sind. M i t Hilfe der neuen Arbeitsrechtsgesetzgebung und von Manteltarifverträgen über die M i t bestimmung können die Arbeitsbedingungen so verändert werden, daß die Arbeit ihren Wert wiederbekommt. Die arbeitenden Menschen können durch eine gradweise veränderte Arbeitsorganisation die Kontrolle über die Arbeitsprozesse erhalten.

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Stig Gustafsson

2. Demokratische Organisation der Arbeit Das Mitbestimmungsgesetz Durch das Mitbestimmungsgesetz nuar 1977) haben die Beschäftigten nisation die Möglichkeit erhalten, nehmen und Behörden — und zwar

(MBL) von 1976 (in Kraft ab 1. Jaüber ihre gewerkschaftliche Orgaauf Entscheidungen i n den Unterauf allen Ebenen — einzuwirken.

Der Grundzug des Gesetzes ist, daß die Arbeitgeber nicht mehr einseitig Beschlüsse fassen dürfen, die von Bedeutung für die Arbeitnehmer sind. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, m i t den Organisationen der Arbeitnehmer zu verhandeln, ehe ein Beschluß gefaßt wird. Die für die Zukunft wichtigste Bestimmung des Mitbestimmungsgesetzes ist das Anrecht auf den Abschluß von Manteltarifverträgen über die Mitbestimmung. Solidarität

und Recht auf Arbeit

A n jedem Arbeitsplatz gibt es bei den Arbeitnehmern große Mengen an Erfahrung. Viele Menschen haben jedoch ein Gefühl des Unbehagens bei ihrer Arbeit. Der Grund dafür ist einfach. Sie bekommen nie — oder jedenfalls sehr selten — eine Möglichkeit, ihre Erfahrung, ihre Kenntnisse und ihren Willen zur Übernahme von Verantwortung anzuwenden. Es sind andere, die die Arbeit lenken, oft Menschen, die sich weit entfernt von dem Platz befinden, an dem die Arbeit ausgeführt wird. Die Arbeitsorganisation muß deshalb so verändert werden, daß die Arbeitnehmer i n Gesprächen miteinander entscheiden können, wie die Arbeit organisiert werden kann und wer das t u n soll. Die Arbeit kann dann so organisiert werden, daß die Zusammengehörigkeit und die Solidarität unter den Arbeitskollegen zunimmt. Das führt auch zu leistungsfähigeren Unternehmen. U m dies zu erreichen, ist es erforderlich, daß die Arbeitnehmer eine Mitbestimmung bei der Planung und der Verwaltung der Unternehmen erhalten. Konkret bedeutet dies, daß die Arbeitnehmer daran teilnehmen, die Arbeitsorganisation so zu gestalten, daß die Arbeitsaufgaben inhaltsvoller und interessanter werden und daß man durch Mitbestimmung die Möglichkeit der E i n w i r kung sowohl auf seine eigene Arbeit wie auf die Voraussetzungen für die Arbeitsaufgaben insgesamt erhält. Neue Arbeitsorganisation

— bessere Produktivität

Eine demokratische Arbeitsorganisation w i r d auch die Voraussetzungen für eine erhöhte Produktivität verbessern, indem — der Personalumsatz und die Abwesenheit von Personal abnimmt,

Veränderungen industrieller Arbeitsstrukturen i n Schweden

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— das Abdrängen von Arbeitskräften i n die Randzonen nachläßt, — Menschen mit beruflichen Behinderungen zu ihrem Recht kommen, — die Arbeit vielseitiger wird, — die Arbeitnehmer an der Schaffung von Arbeitsaufgaben beteiligt sein werden, die auf den Menschen zugeschnitten sind, — Geld i n der Verwaltung gespart werden kann, da eine geringere Zahl von Spezialisten für die Detailplanung und Kontrolle benötigt wird, — Kenntnisse und Erfahrungen auf Seiten der Arbeitnehmer die Voraussetzungen für eine technisch komplizierte Produktion m i t hohen Qualitätsanforderungen schaffen. Gruppenorganisation

— Selbstbestimmung

U m Forderungen nach einer demokratischen Arbeitsorganisation Genüge zu tun, müssen Verwaltungsaufgaben denjenigen übertragen werden, die die Arbeit ausführen. Dies bedeutet, daß die Arbeitnehmer ihre Arbeit selbst organisieren sollen. Damit w i r d die Vielseitigkeit der Arbeitsorganisation gesteigert, was größere Möglichkeiten für die Arbeitnehmer m i t sich bringt, wenn es gilt, Störungen zu beheben und Veränderungen durchzuführen. Die kleinste Einheit i n der Arbeitsorganisation w i r d dann eine Gruppe von Arbeitnehmern, die selbständig über die Arbeit innerhalb eines bestimmten Produktionsabschnittes Beschlüsse faßt. Damit ist klar, daß die Arbeit den Charakter einer Gruppenorganisation erhält. Die Rahmen für die Tätigkeit der Gruppen werden von den gewerkschaftlichen Organisationen ausgeformt und bei Verhandlungen m i t dem Arbeitgeber festgelegt. Dies gilt beispielsweise für die Größe, die Zusammensetzung und die Arbeitsaufgaben der Gruppen. Die Abgrenzung,

Größe und Zusammensetzung der Gruppe

Die Entscheidung über Größe und Zusammensetzung der Gruppe w i r d danach getroffen, welche Lösung für jeden einzelnen Arbeitsplatz am geeignetsten ist. Für bestimmte Unternehmen kann es angebracht sein, daß alle Arbeitnehmer eine Gruppe ausmachen. I n anderen Unternehmen oder Behörden kann die Gruppe aus Arbeitnehmern bestehen, die zu einer bestimmten Abteilung oder einem bestimmten Vorarbeiterbereich gehören. Gleichartige Arbeitsaufgaben oder Arbeit an bestimmten Produkttypen können auch ein Einteilungsgrund sein. Die Abgrenzung, Größe und Zusammensetzung der Gruppe hat große Bedeutung für das Resultat, das m i t der neuen Arbeitsorganisation

236

Stig Gustafsson

erzielt wird. Diese Verhältnisse können entscheidend dafür werden, ob die Gruppe sich w i r k l i c h selbst bestimmt. Es kann manchmal ein Vorteil sein, kleinere Gruppen zu schaffen, weil die Mitglieder i n der Gruppe dann größere Möglichkeiten haben, i m Laufe des Arbeitstages zusammenzuarbeiten. Es kommt für die gewerkschaftliche Organisation jedoch darauf an, darüber nachzudenken, welche Größe und Abgrenzung die größten Voraussetzungen hat, zu einer wirklich demokratischen Arbeitsorganisation zu führen. Kleinere Gruppen können ein bewußter Kniff von Seiten der Unternehmensleitung sein, u m ihre Machtstellung i m Unternehmen zu bewahren. Eine kleinere Gruppe kann abhängiger von der Leitung und der Koordination eines Unternehmens sein, während eine größere Gruppe Möglichkeiten haben kann, eine selbständigere Organisation der Arbeit zu schaffen. Definition

und Zusammenfassung

Die Gruppenorganisation stellt eine Möglichkeit dar, die Arbeit von Arbeitnehmern so zu organisieren, daß sie selbständig darüber entscheiden, i n welcher Weise die Arbeit organisiert, geleitet und verteilt werden soll. Das Arbeitsgebiet der Gruppe und die Beziehungen zur Werkstattleitung und den übrigen Einheiten i m Tätigkeitsbereich werden durch Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft und dem Arbeitgeber festgelegt. Wie soll die Gruppe im Unternehmen

fungieren?

I n der Übereinkunft, die die Tätigkeit der Gruppen regeln soll, werden das Arbeitsgebiet der jeweiligen Gruppe und die Fragen, i n denen die Gruppe selbst Beschlüsse fassen soll, festgelegt. Dies kann z. B. bedeuten, daß die Gruppe eingesetzt wird, u m einen größeren Arbeitsauftrag auszuführen oder einen Produktionsplan zu verwirklichen. Wie der Arbeitsauftrag durchgeführt werden soll, w i r d von den Mitgliedern der Gruppe gemeinsam entschieden. I n der Übereinkunft soll klar festgelegt werden, daß die Mitglieder der Gruppe gemeinsam die Leitung der Arbeit und die Kontrolle über die Arbeit ausüben, die auf dem Arbeitsgebiet der Gruppe ausgeführt werden soll. Dies bedeutet, daß Beschlüsse über die Planung und Verteilung der Arbeit, über Arbeitsmethoden und Arbeitsausrüstung von der Gruppe gemeinsam gefaßt werden.

Veränderungen industrieller Arbeitsstrukturen i n Schweden

Die Planung der Tätigkeit

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der Arbeitsgruppen

Sobald die Arbeitsorganisation i n der hier skizzierten A r t und Weise verändert und demokratisiert wird, muß die Gesamtplanung i m Unternehmen nach und nach verändert werden. Die übergreifende Planung i m Unternehmen muß den Forderungen angepaßt werden, die sich aus der Gruppenorganisation ergeben, so daß die Gruppen die richtigen Voraussetzungen zur Ausführung ihrer Arbeit erhalten. Die Leitung der Arbeit in der Gruppe Wenn die Gruppenorganisation festgelegt worden ist, w i r d eine neue Form der Leitung der Arbeit geschaffen. Die Mitglieder der Gruppe übernehmen selbst einen großen Teil der Arbeitsaufgaben, die die traditionellen Vorarbeiter und Werkmeister früher ausgeführt haben. Das bedeutet, daß die Gruppe selbst die Leitung der Arbeit sowie die Verteilungs-, Planungs- und Kontrollaufgaben ausführt, während der frühere Vorarbeiter ζ. B. an der Produktionsvorbereitung und anderen einschlägigen Aufgaben arbeitet. Der Vorarbeiter oder Werkmeister soll eine Ressource sein, die der Gruppe zur Verfügung steht. Die Gruppe soll die Kenntnisse und die Erfahrung des Vorarbeiters oder Werkmeisters nutzen können. Wenn die zukünftige Vorarbeiter- oder Werkmeisterrolle gestaltet wird, muß dies i n enger Zusammenarbeit m i t den Vorarbeitern und Werkmeistern selbst und m i t ihren Gewerkschaftsorganisationen geschehen. Kontaktobleute Jede Gruppe braucht eine Anbindung an ihre Gewerkschaft. I n den Gruppen müssen deswegen gewerkschaftliche Kontaktobleute gewählt werden. Ihre Aufgabe ist es u. a., Forderungen und Probleme an das nächste gewerkschaftliche Entscheidungsgremium heranzutragen, z.B. den Ortssektionsvorstand, den Betriebsgewerkschaftsvorstand oder bei kleinen Arbeitsplätzen an den überörtlichen Verwaltungsvorstand oder deren Beauftragte. Alle gewerkschaftlichen Kontaktobleute kommen i n regelmäßigen Abständen zusammen und einigen sich über die A r t und Weise bzw. Form des gewerkschaftlichen Vorgehens, tauschen Informationen aus usw. Der Auftrag des gewerkschaftlichen Kontaktobmannes müßte i n der Gruppe rotieren, so daß so viele Kollegen wie möglich Kontakt auch m i t der gewerkschaftlichen Arbeit bekommen.

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Stig Gustafsson

Die Organisation

der Arbeit in der Gruppe

Die Arbeit soll so organisiert werden, daß die Mitglieder der Gruppen und die Arbeitsaufgaben nicht i m Detail von außen gesteuert werden. Die Gruppe wählt die Arbeitsformen selbst, so daß die Mitglieder ihre Fähigkeit, selbst und zusammen zu planen, zu organisieren, Beschlüsse zu fassen und Verantwortung zu übernehmen, anwenden können. Wenn die Gruppe nun die Möglichkeit hat, die Arbeit selbständig zu organisieren, kann dies z.B. für die Erweiterung der Arbeit und für Arbeitstausch genutzt werden. Durch Erweiterung der Arbeit und Arbeitstausch kommen die einzelnen Arbeitnehmer i n Kontakt mit mehreren Arbeitsaufgaben innerhalb des Tätigkeitsgebiets der Gruppe und sie können daher i n verschiedenen Fragen besser gemeinsam handeln und sich die ganze Zeit hindurch entwickeln. Man schafft Arbeitsaufgaben, die dem Menschen angepaßt sind und kann dadurch Menschen mit beruflichen Behinderungen m i t i n den Arbeitsprozeß einbeziehen. Dies trägt dazu bei, die Solidarität unter Arbeitskollegen zu stärken. Wenn es für die Gruppen nötig ist, sollen sie sich an „Sachkundige" innerhalb oder außerhalb des Unternehmens wenden können. Das kann z.B. bei Änderungen von Arbeitsplätzen und der Produktgestaltung nötig sein, so daß beispielsweise eine Erweiterung der Arbeit ermöglicht wird. Gruppenarbeit

— Alleinarbeit

Die häufigste Arbeitsform ist, daß jeder Arbeitnehmer seine besonderen Arbeitsaufgaben hat. Gruppenarbeit kommt auch an vielen Arbeitsplätzen vor. Sowohl Gruppenarbeit wie Alleinarbeit sind natürliche Arbeitsweisen i n einer Gruppenorganisation. Wenn die Gruppenorganisation eingeführt wird, ist es deshalb nicht immer nötig, die bisherigen A r beitsformen zu verändern. Dagegen w i r d die Gruppe die Arbeitsaufgaben i n demokratischer Weise koordinieren. Die Zusammenkünfte

der Gruppe

Da die Gruppen selbst die Leitung und die Verteilung der eigenen Arbeit erledigen sollen, ist Zeit für die gemeinsame Planung erforderlich. Die ganze Gruppe und manchmal auch Teile der Gruppe müssen Gelegenheit haben, die Arbeitsaufgaben, das Budget, Personalfragen, die Umwelt am Arbeitsplatz usw. zu diskutieren. Dies kann auf verschiedene A r t und Weise geschehen, teils fortlaufend i m Laufe der

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Arbeit, teils i n Formen von Zusammenkünften, stellt aber immer einen integralen Teil der Arbeit dar. Personalfragen Zu den Aufgaben der Gruppe gehören außer der praktischen Arbeit auch eine Reihe von Personalfragen. Bestimmte Personalfragen werden von der Gruppe selbst erledigt, für eine Reihe anderer macht die Gruppe Vorschläge. Es kann sich z.B. darum handeln, die Personalstärke zu planen, die für die nächstfolgende Jahresperiode benötigt wird. Es kann sich aber auch darum handeln, längerfristige Beurteilungen zu erarbeiten. Mitwirkung

an der Budgetjplanung

Die finanzielle Planung i m Unternehmen, ζ. B. die Ausarbeitung des Budgets, ist von großer Bedeutung für die Möglichkeiten, die Arbeit erfolgreich durchzuführen. Wenn die Arbeitnehmer — durch die Gruppenorganisation — Mitbestimmung i n der Arbeit ausüben, ist es notwendig, daß sie auch Mitbestimmung bei der Budgetausarbeitung bekommen. Die Gruppen müssen i n regelmäßigen Abständen diejenigen Budgetfragen diskutieren, die das Arbeitsgebiet der betreffenden Gruppe berühren. Sie haben dabei die Möglichkeit, die Wahl von Investitionen i n Maschinen, Ausrüstung, Arbeitsplatzgestaltung, Ausbildung u. a. zu diskutieren, die die Arbeit der Gruppe berühren. Die Genehmigung von Budgets für die Arbeitsgebiete der Gruppen sowie für das Unternehmen als Ganzes erfolgt i n Verhandlungen, die von den gewerkschaftlichen Organisationen geführt werden. Die Lohnform Wenn man eine Arbeitsorganisation verändert und muß man gleichzeitig darauf achten, daß die Lohnform ist, daß sie die erwünschte Demokratisierung erschwert macht. Die Lohnform darf nicht von der A r t sein, daß liche Arbeitsleistungen prämiiert, wie die jetzigen es tun.

demokratisiert, nicht dergestalt oder unmöglich sie nur körperLeistungslöhne

Wenn die Lohnform die Einführung einer demokratischen Arbeitsorganisation erleichtern soll, statt sie zu erschweren, müssen eine Reihe wichtiger Forderungen erfüllt sein: — Die Lohnform soll allen die Möglichkeit geben, Arbeitsaufgaben zu testen und bei Arbeitsaufgaben zusammenzuarbeiten. Der Verdienst darf nicht sinken, wenn man die Möglichkeit ausnutzt, etwas Neues zu lernen.

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Stig Gustafsson

— Die Lohnform darf keine Konflikte innerhalb einer Gruppe von Arbeitern oder zwischen Gruppen verursachen. Sie darf auch nicht zu Lohnunterschieden führen, die als unberechtigt aufgefaßt werden, oder zu Statusunterschieden, die zu Konkurrenz innerhalb einer Gruppe oder zwischen Gruppen führen. — Die Lohnform darf kein Hindernis sein, wenn die Arbeitnehmer selbst Arbeit planen und organisieren. Und sie darf auch nicht das Interesse von gemeinsamen Angelegenheiten abziehen. — Die Lohnform muß allen ein sicheres Einkommen garantieren. Ausgehend von diesen Forderungen kann festgestellt werden, daß die heutige Form von Leistungslöhnen nicht die Anforderungen erfüllt, die man i n einer demokratischen Arbeitsorganisation an die Lohnform stellen muß. Ausgangspunkt bei der Diskussion arbeitsorganisatorischer Veränderungen muß ein Lohn sein, der die oben genannten Anforderungen erfüllt. 3. Gewerkschaftliche Ausbildung Die Arbeitsrechtsreform, die am 1. Januar 1977 i n Kraft trat, stellt neue Forderungen an die gewerkschaftliche Ausbildung und w i r d auch weiterhin neue Forderungen an sie stellen. Aus der erweiterten Mitbestimmung i n den Betrieben folgt die Verantwortung, zur Lösung der praktischen Probleme beizutragen. Es hängt sehr viel von den Mitgliedern selbst und deren Vertrauensleuten i n den Betrieben ab, welche Resultate erzielt werden können. Teils handelt es sich jetzt u m größeren Spielraum für Einsätze auf Gebieten, auf denen man schon bisher beträchtliche A k t i v i t ä t entfaltet hat, teils handelt es sich aber auch u m mehr oder weniger „neue" Gebiete, beispielsweise u m Organisationsfragen. Dies stellt natürlich Anforderungen an die Sachkenntnisse der A r beitnehmer und ihrer Vertretungen. Vor allem aber muß die gewerkschaftliche Ausbildung dem Training i n praktischer Problemlösung und Übungen i n der Übertragung von demokratischen Wertvorstellungen auf die praktische tägliche Arbeit vermehrten Raum geben. Es w i r d notwendig sein, alle Mitglieder bei der Ausformung der Politik einzuspannen, die die örtliche Gewerkschaft i m Unternehmen betreiben soll. Der Inhalt der Ausbildung muß auf die Probleme ausgerichtet werden, die den Mitgliedern am meisten am Herzen liegen. Die Ausbildung muß deshalb i n so großem Umfang wie möglich i n die Nähe der Betriebe verlegt werden und am besten einen integralen Teil der täglichen Gewerkschaftsarbeit ausmachen.

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Eine andere wichtige Aufgabe für die Ausbildung ist es, die Erfahrungen m i t verschiedenen Formen der Mitbestimmung auszutauschen, die an verschiedenen Arbeitsplätzen gemacht werden. Dafür ist es erforderlich, daß ein Teil der Ausbildung i n zentralen Internatskursen erfolgt. I n diesen zentralen Internatskursen w i r d auch die Entwicklungsarbeit für diesen Typ von Kursen betrieben. A n einigen Schulen, die vom Schwedischen Gewerkschaftsbund betrieben werden, gibt es diese A r t Ausbildungstätigkeit. Das Studienmaterial für die Arbeitskreise auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation besteht aus Abschnitten, die die Zielsetzung der Arbeitsorganisation sowie die Möglichkeiten behandeln, wie diese Ziele erreicht werden können. Ferner werden die Wertvorstellungen behandelt, die die heutige Arbeitsorganisation prägen. Weitere Abschnitte des Studienmaterials sind: — Wie soll die eigene Arbeitsorganisation aussehen? — Kriterien der Gruppenorganisation. — Welche Hindernisse gibt es für Veränderungen der Arbeitsorganisation? — Wie soll man gewerkschaftlich m i t Fragen der Arbeitsorganisation arbeiten? Auch dieses Material schließt m i t der Aufgabe, einen Vorschlag zu einem Arbeitsprogramm für die gewerkschaftlichen Organisationen i n diesen Fragen zu formulieren. Die Durcharbeitung des Materials dürfte ca. 20 Stunden dauern. Die Internatskurse umfassen zwei Kurswochen. Das Kursprogramm für die erste Woche enthält i n der Hauptsache folgende Abschnitte: die Arbeitsorganisation, geschichtliche Entwicklung, jetzige Situation, Inventarisation der Probleme, Arbeitsorganisationsfragen vom gewerkschaftlichen Gesichtspunkt, Voraussetzungen für die gewerkschaftliche Arbeit durch das Zustandekommen des Mitbestimmungsgesetzes, Hindernisse für Veränderungen, Arbeit an Problemlösungen anhand vorher aufgelisteter Probleme. Die Teilnehmer (30 Personen) diskutieren i n Gruppen von 6 - 7 Personen über ihre Erfahrungen und welche Probleme sie i n ihren eigenen Unternehmen erlebt haben. Es bandelt sich also u m eine weitere Vertiefung von Fragen, die viele von ihnen vorher bei sich zu Hause i n Arbeitskreisen diskutiert haben. Der Unterschied ist jetzt, daß die Diskussionen i n einem größeren Kreis und m i t Teilnehmern aus anderen Unternehmen stattfinden. Die Teilnehmer sind jedoch meistens aus der gleichen Branche. Aufgabenstellung während der ersten Kurswoche ist, daß die Teilnehmer i n einer Gruppe sich für eins der i n 16 Tagung Dortmund 1981

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der Gruppe vorgebrachten Probleme entscheiden. Ausgehend von diesem Problem und den sonstigen Verhältnissen i m Unternehmen w i r d ein Programm zusammengestellt. Dazu gehört dann, die Veränderung zu präzisieren, die man i n der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsweise erreichen w i l l , und zu beschreiben, wie die Lösung durchgeführt werden soll. Die Lehrer fungieren als Tutoren. Sie beziehen meistens ihre Erfahrung und ihre Kenntnisse aus der praktischen gewerkschaftlichen A r beit als Betriebsratsvorsitzende oder einer ähnlichen Aufgabe, und sie haben i m allgemeinen auch Erfahrung m i t Veränderungen der Arbeitsorganisation i n einem Unternehmen. Nach dieser Darstellung der technischen Entwicklung, ihrer Bedeutung für die Zukunft, der Auffassung der Gewerkschaftsbewegung von einer demokratischen Arbeitsorganisation und unserer Ausbildung für eine solche Arbeitsorganisation möchte ich zum Schluß eine kurze Beschreibung der veränderten Arbeitsorganisation i n zwei Unternehmen geben, und zwar zunächst der Veränderungen i m Volvo-Zweigwerk i n Kalmar (Volvo Kalmarverken). Dort w i r d eine alternative Form der Kraftfahrzeugherstellung praktiziert. Und dann der Veränderungen bei A B A L M E X , einem Unternehmen der feinmechanischen Industrie, i n dem die Gewerkschaft die Initiative zu einer veränderten Arbeitsorganisation ergriffen hat. 4. Volvo-Kalmarverken I n Kalmarverken wurde die Montage eines Autos i n überschaubare Montageabschnitte aufgeteilt. Das Getriebe, die Lenkung usw. werden i n eigenen Abschnitten montiert. A n jedem Montageabschnitt arbeitet eine Arbeitsgruppe. Die Fabrik hat ein Lager i n der Mitte des Gebäudes, und die Arbeitsgruppen mit einer Stärke von 15-20 Mann je Gruppe befinden sich rundherum. Jede Produktionsgruppe hat ihre eigenen Sozialräume m i t Eingang von außen. Die Sozialräume liegen i n unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes, die Entfernungen, die man zu Fuß zurücklegen muß, sind minimal. Der Prozeßrechner weiß Bescheid E i n zentraler Prozeßrechner wacht darüber, wo sich jedes Auto befindet, welches Modell es ist, welche Farbe es hat usw. Wenn das Auto, das lautlos auf einer von Elektromotoren getriebenen Luftkissen-Plattform transportiert wird, bei einer Arbeitsgruppe ankommt, gibt der Rechner eine Kontrolliste aus, die für dieses bestimmte Auto gilt.

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I n den Prozeßrechner werden auch Angaben der Kontrollstationen eingegeben. Wenn eine bestimmte Arbeitsgruppe einen Fehler macht, schlägt der Rechner Alarm. Nach zwei Stunden bekommt die Arbeitsgruppe zu wissen, welchen Fehler sie gemacht hat. Die Arbeitsgruppen haben gewisse Möglichkeiten, Mitteilungen i n den Prozeßrechner einzugeben, wenn sie ζ. B. schneller arbeiten wollen, um längere Pausen machen zu können. Das setzt voraus, daß sich alle i n der Gruppe darüber einig sind, das Prozeßtempo vorübergehend zu erhöhen. Der Durchschnitt muß bei 15,5 Autos i n der Stunde, gerechnet auf einen Arbeitstag, liegen. Pufferbereiche

ohne Sperren

Zwischen den Gruppen gibt es Pufferbereiche. Wenn eine Gruppe ihre Arbeit an einem Auto ausgeführt hat, muß das Auto i m Pufferbereich warten, bis die nächste Gruppe Zeit hat, es i n Arbeit zu nehmen. Diese Pufferbereiche sind nicht m i t eingebauten Sperren versehen. Die Gruppen können deshalb gegenseitig auf ihre Arbeit einwirken. Wenn eine Gruppe etwas langsamer arbeitet und die nachfolgende Gruppe etwas schneller — weil sie eine Pause einarbeitet —, w i r d der Pufferbereich zwischen den Gruppen geleert. Die letztgenannte Gruppe muß dann auf die erstgenannte warten. Aufarbeitung erfolgt oft i n einer anderen Weise, als es gedacht war. Der Pufferbereich, von dem das Auto i n den Arbeitsbereich eingeführt wird, w i r d oft schon als Montageplatz benutzt. Die Ansichten über die Verteilung von Zeit gehen auseinander. Einige meinen, zeitlicher Spielraum sei gut, weil man dann schafft, was man schaffen soll; andere wollen lieber i n einem gleichmäßigen Takt arbeiten, der eine ruhigere Arbeitssituation gewährleistet. Die meisten sind unzufrieden mit den Pufferbereichen. „Die Gruppen machen ihre Arbeit ohne Hilfe" Wie funktionieren die Arbeitsgruppen? Gibt es Streitigkeiten oder andere Probleme? Einige Beschäftigte mochten die Gruppenarbeit nicht und erhielten deshalb eine Arbeit i n der Vormontage, wo sie nicht i n der gleichen Weise m i t einer Gruppe zusammenarbeiten. Wem es schwerfällt, i m Tempo mitzuhalten, kann ebenfalls für kürzere oder längere Zeit i n der weniger anstrengenden Vormontage arbeiten. Normalerweise ist der Arbeitsablauf so organisiert, daß man zwischen der Vormontage und der Endmontage wechselt: einmal i n der 16·

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Stig Gustafsson

Woche oder dergleichen — manchmal nach einem Schema, das die Gruppe selbst festgelegt hat. Unter den Monteuren kommt Arbeitstausch i n neun von zehn Fällen vor. Acht von neun finden diese Arbeitsweise gut. Wie die Gruppen ihre Arbeit organisieren, hängt davon ab, welche Anforderungen die Produktionsaufgaben stellen und welche Qualifikationen die Gruppenmitglieder haben. Wenn nicht alle i n der Gruppe alle Arbeitsaufgaben erledigen können, beschränkt das den Arbeitstausch. Wenn Frauen i n einer Gruppe mitarbeiten, w i r d das von allen i n der Gruppe als positiv bewertet. Man ist auch der Ansicht, daß Gruppen m i t großer altersmäßiger Streuung besser als andere Gruppen fungieren. I n den Gruppen gibt es keinen formellen Vorgesetzten, dagegen ist einer i n der Gruppe Instrukteur. Er soll neu eingestellte Arbeitskameraden instruieren und Informationen über Fehler entgegennehmen, die die Gruppe gemacht hat. Er hält die Verbindung m i t den Produktionstechnikern und übermittelt die Ansichten der Gruppe (ζ. B. über etwas, was schlecht funktioniert) an andere. Der Instrukteur w i r d von der Unternehmensleitung nach Beratungen m i t der Gewerkschaft eingesetzt. Diese Umstände führen dazu, daß viele den Instrukteur als eine A r t Vorarbeiter auffassen. Kann man auf die Arbeitssituation

einwirken?

Wie erwähnt, steuert der Prozeßrechner die Arbeit eines großen Teils der Produktionsgruppen. I n der Endmontage scheint kaum Spielraum für eigene Einwirkungen gegeben zu sein. Die Methoden der Montage sind so weit entwickelt, daß es schwerfällt, an ihnen etwas zu verändern. Die Pufferbereiche sind, wie erwähnt, eine Einrichtung, die die Organisation der Arbeit durch die Gruppe eher einschränkt. Unter den Monteuren ist deshalb nur ein Viertel der Ansicht, daß sie große Möglichkeiten haben, auf die Arbeit einzuwirken. Die Hälfte der Monteure findet, daß die Möglichkeiten gering sind, und ein weiteres Viertel, daß überhaupt keine Möglichkeiten der Einwirkung bestehen. 5. AB A L M E X Bei der Firma A B A L M E X i n Stockholm, einem Feinmechanikunternehmen m i t 250 Beschäftigten (produziert werden Fahrschein- und Fahrgeldmaschinen für den öffentlichen Nahverkehr), hat die Betriebsgewerkschaftsgruppe der schwedischen Metallarbeitergewerkschaft selbststeuernde Gruppen i n der Produktion durchgesetzt. Die Arbeiter verteilen die Arbeit selbst. Man übernimmt kollektive Verantwortung.

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Das Resultat: Sowohl die Betriebsgewerkschaft als auch die Unternehmensleitung sind zufrieden und wollen die Gruppenarbeit beibehalten. Die Motive der Betriebsgewerkschaft, sich für Fragen der Arbeitsorganisation zu engagieren, waren, daß die Arbeitnehmer dadurch i n größerem Umfang auf die Produktion des Unternehmens einwirken und sich gleichzeitig persönlich weiterentwickeln konnten. Man glaubte auch an eine Verbesserung des Gemeinschaftsbewußtseins unter den Arbeitnehmern. Schließlich wollte man durchsetzen, daß die Arbeitnehmer i m Unternehmen weitergebildet werden. Es begann 1974. Der damalige Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsgruppe der Metallarbeitergewerkschaft nahm an einem Kursus für gewerkschaftliche Vorstandsarbeit teil. Dort traf er Arbeitskollegen, die Erfahrungen mit selbststeuernden Gruppen gemacht hatten. Er nahm die Idee mit an seinen Arbeitsplatz. Die Betriebsgewerkschaftsgruppe legte sie der Leitung des Unternehmens vor. Die zeigte sich interessiert. I m Frühjahr 1975 wurde ein Arbeitsausschuß gebildet, der die Frage weiterbearbeiten sollte. I n dem Arbeitsausschuß waren die Betriebsgewerkschaftsgruppen der schwedischen Metallarbeitergewerkschaft, der schwedischen Industrieangestelltengewerkschaft und des schwedischen Werkmeisterbundes sowie die Unternehmensleitung vertreten. Kurz darauf wurde ein Studienzirkel für Fragen der demokratischen Arbeitsorganisation bei Almex gebildet. A n vier Abenden i n der Woche vertieften sich fünf Gruppen i n die einschlägigen Fragestellungen. Insgesamt nahmen 85 Personen teil, darunter die gesamte Unternehmensleitung. Zwar führten Pläne, selbststeuernde Gruppen einzurichten, zu einer gewissen Beunruhigung unter den Vorarbeitern und den Vorgesetzten i m mittleren Management. Dennoch sagte die Unternehmensleitung Anfang 1976 „ja" zu selbststeuernden Gruppen. I m Mai 1976 begann die erste Gruppe ihre Arbeit. Heute sind sieben von elf Produktionsabteilungen selbststeuernd. Selbststeuernde Gruppen sind i n folgenden Bereichen organisiert worden: Montage Gütekontrolle Vorrichtungs- u n d Werkzeugwerkstatt Kundendienstabteilung (Reparaturen)

1 Gruppe 1 Gruppe

8 Personen 14 Personen

1 Gruppe

2 Personen

1 Gruppe

3 Personen

Stig Gustafsson

246 Versuchsabteilung Verpackungs- u n d Warenempfangsabteilung

1 Gruppe

2 Personen

1 Gruppe

3 Personen

Die Gruppen erledigen ihre Arbeit ohne Vorarbeiter I n einer Übereinkunft zwischen dem Unternehmer und der Betriebsgewerkschaftsgruppe der Metallarbeitergewerkschaft wurde folgendes „Recht der Beschlußfassung" i n Arbeitsgruppen vereinbart: 1. Die Gruppe beschließt selbst nach gemeinsamer Beratung. 2. Zusammenarbeit m i t allen Partnern muß vorhanden sein. 3. Die Leitung und Verteilung der Arbeit w i r d i n der Gruppe beschlossen. 4. Die Gruppe plant den laufenden Arbeitstausch innerhalb der Abteilung. 5. Die Gruppe beschließt über vorübergehende Überstunden und bew i l l i g t kürzeren unbezahlten Urlaub. Dienstfreiheit und längerer unbezahlter Urlaub werden vom Produktionsleiter bewilligt. 6. Die Gruppe kann selbst eine gewisse Weiterentwicklung ihrer A r beitsmethoden und eine gewisse Anlernung ihrer Mitglieder durchführen. 7. Die Gruppe wählt ihren formellen Kontaktmann selbst. 8. Die Gruppe übernimmt die kollektive Verantwortung für ihre Verpflichtungen. 9. Wenn der Personalbedarf mit den festgelegten Plänen nicht übereinstimmt, soll m i t dem Produktionsleiter gesprochen werden, u m gemeinsam Abhilfe zu schaffen. 10. Bei Produktionsproblemen, die die monatlichen Lieferungen oder sonstige festgelegte Pläne i n Frage zu stellen drohen, ist m i t dem Produktionsleiter gemeinsam zu beraten. 11. Bei Konflikten i n der Gruppe, die die Gruppe selbst nicht lösen kann, soll jeder das Recht haben, m i t den Gewerkschaftsvertretern oder dem Produktionsleiter über seine Probleme zu sprechen. Die Erfahrungen, die bei A B A L M E X gemacht wurden, lassen sich stichwortartig so zusammenfassen: — Keine Verschlechterung der Produktivität. — Verbesserte Qualität.

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Die veränderte Arbeitsorganisation hat zu weniger häufiger Unregelmäßigkeit i n der Produktion geführt. Es gibt jetzt Spielraum für eigene Initiative. Weniger Abwesenheit. Bessere Voraussetzungen, Arbeitskameraden mit beruflichen Behinderungen i n den Arbeitsprozeß einzubeziehen. Größere gewerkschaftliche A k t i v i t ä t (Zusammenkünfte während der bezahlten Arbeitszeit). Aktivere Freizeit (ein großer Teil der Arbeiter nimmt an Studienzirkeln teil). Die Arbeiter verkehren i n ihrer Freizeit mehr miteinander. Die Weiterbildung der Arbeiter angesichts des Übergangs von der Mechanik zur Elektronik i n der Produktion ist i n Gang gekommen.

Diskussion Leitung: Hans Pornschlegel Berichterstattung: Wolfgang Lecher, Helmut Schauer Der folgende Kurzbericht konzentriert sich auf die wesentlichen Aussagen und Diskussionsergebnisse. Dabei w i r d — einer Integration von Referaten und AG-Diskussion der Vorzug gegeben, gegenüber einer chronologischen Schilderung des Ablaufs; — nur auf die wenigen Hauptthemen unter Aussparung der zeitweise recht verästelten Diskussion Bezug genommen; — auf Wunsch der Gruppe eine subjektive Einschätzung der Berichterstatter zur Bedeutung der Ländererfahrungen für den internationalen Vergleich vorgenommen; die Gruppe selbst konnte dies auf dem heterogenen Hintergrund der nationalen Beispiele und i n der Kürze der vorgegebenen Zeit nicht leisten. Die gewerkschaftliche Politik zur Verbesserung der Arbeitsstrukturen, wie sie Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre eingeleitet wurde, scheint durch die Krise i n allen Ländern zu stagnieren. Überall blieb es bei einzelnen und eher experimentellen Fällen der Neuorganisation industrieller Arbeitsstrukturen, wobei häufig immer noch die Paradebeispiele genannt werden, die seit Mitte der siebziger Jahre bekannt sind. Daß die qualitative Verbesserung repetitiver Teilarbeit seitdem nur wenige und allenfalls vereinzelte Fortschritte gemacht hat, zeigt j a auch das Beispiel des Lohnrahmens II, der i n der westdeutschen Metallindustrie — abgesehen von wenigen Erweiterungen — auf den Tarifbezirk Nordwürttemberg/Nordbaden eingeschnürt blieb und dort nach einem offensiven Beginn i n den Jahren 1973/74 allmählich zu einem Instrument der Verteidigung von Arbeitsbedingungen wird. Jedenfalls sahen sich angesichts der Verschärfung der Wachstumskrise i n den letzten Jahren alle Gewerkschaften der europäischen Länder nicht i n der Lage, größere politische oder tarifpolitische Initiativen und Aktionen zur Durchsetzung umfassender qualitativer Arbeitsverbesserungen zu unternehmen. Diese Ziele mußten überall hinter der Sicherung und Verteidigung der Beschäftigung, der

Diskussion

Reallöhne und der sozialen Errungenschaften der Prosperitätsphase zurücktreten. So weist Stig Gustafsson darauf hin, daß die schwedischen Gewerkschaften i m vergangenen Jahr erstmals Reallohn-Verluste hinnehmen mußten und sich i n dieser Situation nicht zu größeren arbeitspolitischen Initiativen imstande sahen; Enrico Taliani spricht sogar von einer Krise des Staates und der Gewerkschaften i n Italien, deren Politik sich nur sehr unzulänglich m i t den Erwartungen der Arbeitnehmer vermitteln würde; und schließlich zeigt ja auch die aktuelle tarifpolitische Situation in der Bundesrepublik, wie schwer die Verteidigung der Reallöhne ist. Unter diesen Voraussetzungen mußten zunächst der Verlauf und die Folgen der gegenwärtigen Rationalisierungsprozesse für die Praxis der Gewerkschaften besondere Aufmerksamkeit gewinnen, wie sie Enrico Taliani für Italien analysiert hat. Hier scheinen sich vor allem zwei Erscheinungsformen der Rationalisierung i n der Produktion negativ auf die Aktionsfähigkeit der Gewerkschaften auszuwirken: Erstens zerbricht der einsetzende Mechanisierungsschub durch die Handhabungstechnik und die Industrieroboter die sogenannten „homogenen Gruppen" der Industriearbeiter, die am Ende der sechziger Jahre zur Basis der „Delegiertenbewegung" i n Italien wurden, so daß auch die politische Kraft dieser betrieblichen Vertreter geschmälert wird. Diese vor allem i n den Hauptzentren der metallindustriellen Massenfertigung wie der Fahrzeugbranche sich abzeichnende Entwicklung bedeutet ja auch für die I G Metall i n der Bundesrepublik, daß Teile ihrer bestorganisierten und betriebspolitisch aktionsfähigsten Basis auf die Dauer ausgehöhlt werden. Zweitens zeigt sich i n Italien eine Tendenz, die i n der Bundesrepublik i n dieser direkten Form bislang jedenfalls kaum zu beobachten ist, nämlich die sogenannte „territoriale Taylorisierung der Produktion". Das heißt: Nicht-technologisch gebundene Arbeit w i r d aus den großen Betrieben herausgenommen und auf Klein- und Familienbetriebe verlagert, so daß sich nicht nur die betriebliche Dezentralisation verstärkt, sondern nicht zuletzt auch die Heimarbeit recht erheblich zunimmt. Quantitative Daten über die Bedeutung dieser Tendenz sind zwar nicht vorhanden. Daß es sich hierbei jedoch nicht nur u m marginale Prozesse handelt, zeigt sich auch daran, daß die festen, institutionalisierten A r beitsverhältnisse i n Italien bei etwa 21 Millionen stagnieren, während die nichtgarantierten und häufig vertragslosen Arbeitsverhältnisse auf etwa 4 Millionen angestiegen sind. Es braucht wohl kaum darauf hingewiesen zu werden, wie beeinträchtigend diese Entwicklung für die Gewerkschaften und ihre politische Durchsetzungsfähigkeit sein muß.

250

Diskussion

I n der Arbeitspolitik der italienischen und der bundesdeutschen Gewerkschaften scheinen nun durch die Krise i n ähnlicher Weise regionale Aspekte und Komponenten größeres Gewicht zu gewinnen. So streben die italienischen Gewerkschaften i m Interesse der Beschäftigungssicherung die Programmierung der sozialökonomischen Entwicklung als überbetrieblichen Prozeß der Demokratisierung an. I m Zentrum ihrer Forderung steht das Hecht auf Information über betriebliche Investitions- und Produktionsplanungen, die die Grundlage für öffentliche und vor allem auch regional orientierte Diskussionen und Kontrollen über diese Entscheidungen und ihre Folgen bilden soll. Initiativen hierzu gehen i n erster Linie von den betrieblichen Delegierten der Arbeitnehmer aus, die sich durch die öffentliche Behandlung betrieblicher Planungsentscheidungen und ihre Bedeutung für die regionalen Lebensbedingungen eine Stärkung ihrer Positionen erhoffen und i n Einzelfällen tatsächlich auch Planungsänderungen zugunsten der beschäftigungspolitischen Interessen der Arbeitnehmer erzwingen konnten. Daß unter Krisenbedingungen betriebliche Produktionsentscheidungen auch i n der Bundesrepublik schneller und stärker zur Angelegenheit der Regionen und Städte werden, zeigen nicht nur die Auseinandersetzungen hier i n Dortmund über das Hoesch-Werk. Auch die Ansätze zur betriebs- und rationalisierungsbezogenen Aktivierung lokaler Gewerkschaftsarbeit, wie sie etwa i n einigen Verwaltungsstellen der I G Metall intensiver betrieben werden, verdienen i n diesem Zusammenhang Beachtung. Schließlich führen die krisenhaften Rahmenbedingungen zu Modifikationen i n der Zielsetzung der gewerkschaftlichen Arbeitspolitik i m engeren Sinne. I n der Bundesrepublik ist hier an die deutlichere Akzentuierung allgemeiner Forderungen nach Qualifikationssicherung zu erinnern, die m i t den Arbeitskämpfen zur Lohnsicherung i m Jahre 1978 deutlich wurde. Auch i n Italien sind die Fragen der Rotation und der Arbeitsinhalte hinter Forderungen zurückgetreten, die sich mehr auf die allgemeine Arbeits- und Betriebsorganisation richten. Von betrieblichen Arbeiterdelegierten w i r d die Integration von A r beitsfunktionen der mittleren Hierarchie i n Arbeitsgruppen der unmittelbaren Produktion angestrebt und damit die Hierarchie konfliktreich i n Frage gestellt. Man sucht also die Arbeitsgruppen funktional zu stärken und sie zugleich als Basis der Interessenvertretung i m Arbeitsalltag auszubauen. Wo die Rationalisierung ohnehin zur Ausdünnung der mittleren und unteren Hierarchie und ihrer Funktion geführt hat, scheint diese T a k t i k auch nicht aussichtslos zu sein. Aus Untersuchungen, die das Göttinger Soziologische Forschungsinstitut (SOFI) zur Umsetzung des Lohnrahmens I I vorgenommen hat, geht hervor, daß ein Teil der Betriebsräte i n der Metallindustrie der

Diskussion

Bundesrepublik den Aufbau arbeitsplatznaher Vertretungsstrukturen betreibt, die in die formelle Arbeitsorganisation hineinreichen und die Basis zur Einbindung unterer Vorgesetzter i n die Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen i n den einzelnen Arbeitsbereichen verbessert. I m allgemeinen scheint jedoch die „gewerkschaftliche Arbeitsgruppenpolitik", und damit meist auch die Rolle der Vertrauensleute, nach wie vor zu unentschieden und diffus bestimmt zu werden, als daß diese zu den verantwortlichen und mit konkreten arbeitsorganisatorischen Funktionen ausgestatteten Arbeitsgruppen-Sprechern werden könnten, die dann auch erst die betriebsverfassungs- und tarifrechtlichen Möglichkeiten zur Mitbestimmung der Leistungsbedingungen voll ausschöpfen könnten. I n Schweden wurden die Einfiußmöglichkeiten gewerkschaftlicher Tarif- und Betriebspolitik auf die Arbeitsstrukturen vor allem durch ein Zusammenwirken von staatlicher Rahmengesetzgebung, gewerkschaftlichen Manteltarifverträgen und sehr weitgehender Ausgestaltung auf betrieblicher Ebene bestimmt. Hier macht sich die Nicht-Existenz einer dualen Interessenvertretung, wie sie z.B. die BRD, die Niederlande, Belgien und Frankreich kennzeichnen, auf der betrieblichen Umsetzungsebene positiv bemerkbar. Durchsetzung und Umsetzung neuer arbeitsorganisatorischer Formen werden immer und ausschließlich von der Betriebsgewerkschaftsgruppe vorgenommen. So werden schwierige Abstimmungsprozesse und die Probleme unterschiedlicher Basis Vertretungen, wie sie i n den genannten Ländern mit dualer Vertretung strukturell angelegt sind, vermieden. Die Gewerkschaften sind sich über die Interessenabhängigkeit der Technik und demzufolge der ihr angepaßten Veränderungen der Arbeitsstrukturen bewußt. Sie versuchen, über die Einrichtung von kleinen, autonomen Arbeitsgruppen eine Kontrolle des und Mitbestimmung über den Produktionsprozeß mit seinen Konsequenzen für die Arbeitsbedingungen i m weiten Sinn zu erreichen. I h r Ziel ist, die Arbeitsorganisation dahingehend zu verändern, daß weitestgehende Selbstentscheidung und Solidarität ermöglicht wird. Dies gewährleistet nach schwedischer Einschätzung das Prinzip der Gruppenarbeit und der Gruppenentscheidung. Die wichtigsten Implikationen dieses Grundsatzes sind die Abschaffung des unmittelbaren Vorgesetzten durch gemeinsame, autonome Entscheidungsfindung und die Ersetzung des individualisierenden Stücklohns zugunsten des Festlohns. Empirische Beispiele (Volvo/Fahrzeugbau und Almex/Feinmechanik) zeigen daher, daß dieses System autonomer Gruppenarbeit nicht nur Vorteile für die Arbeitnehmer und Gewerkschaften bringt (größere gewerkschaftliche Aktivitäten, tendenzielle Qualifikationserhöhungen durch Arbeitsanreicherung, aktivere Freizeitgestaltung, mehr Kontakte

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Diskussion

der Kollegen untereinander auch i n der arbeitsfreien Zeit, größere Rücksichtnahme aufeinander i m Produktionsprozeß), sondern auch der Kapitalseite ganz erheblich entgegenkommt (Verbesserung der Produktivität, d.h. meist auch Erhöhung der Arbeitsintensität, weniger Unregelmäßigkeiten i m Arbeitsablauf, reduzierte Ausschußproduktion, geringe Absentismusraten, erhöhter Leistungsanreiz durch Gruppendruck). Aus der Tatsache, daß die Methode der Gruppenarbeit erstmals bei Volvo von der Kapitalseite eingeführt wurde, läßt sich auf die Dominanz des Unternehmensinteresses und der Kapitalvorteile schließen, während andererseits befürchtet werden muß, daß das Arbeitnehmerinteresse an der Wahrnehmung einiger weniger untergeordneter Leitungsfunktionen und die teilweise selbstbestimmte Entwicklung neuer Arbeitsmethoden objektiv nur eine sekundäre Rolle spielen. Gruppenarbeit scheint nur akzeptiert zu werden, wenn das Kapitalverwertungsinteresse nicht berührt wird. Eine Überbewertung dieser Methode zur Gestaltung der Arbeitsorganisation auf Betriebsebene als gewerkschaftliche Perspektive verbietet sich auf Grund der Tatsachen, daß 1. ihre Ausbreitung unter eingeschränkten ökonomischen Rahmenbedingungen nur langsam erfolgt, 2. i m Angestellten- und Beamtenbereich keine Erfahrungen vorliegen, 3. das Mitbestimmungsrahmengesetz, unter dessen Mantel eine rasche Entwicklung erwartet wurde, bei der gegebenen konservativen Regierung auf Eis liegt. I m Unterschied zu den schwedischen Erfahrungen zeigt das niederländische Beispiel l, daß unter stark korporativ geprägten Beziehungsmustern zwischen Staat und Tarifparteien, einer hochzentralisierten Tarifpolitik und der Dominanz der Gesetzgebung gegenüber qualitativer Tarifpolitik Ansätze zur bewußten eigenen Gestaltung der Arbeitsstrukturen durch gewerkschaftliche Betriebspolitik nur sehr schwierig zu erarbeiten und durchzusetzen sind. I n der Krise verfolgen die Gewerkschaftsbünde mitgliedergestützt eine Politik des Reallohnverzichts zugunsten unternehmerischer Kompromißbereitschaft i n Beschäftigungsfragen. Nur eine Minderheit i m Gewerkschaftsbund FNV vertritt die Perspektive der Kaufkraftsteigerung durch Lohnausweitung, wobei die Konfrontation dieser beiden Positionen zu einer Zerreißprobe zu werden droht. Grundsätzlich gilt aber i n jedem Fall, daß weder über die gewerkschaftlichen Vertrauensleute (denen nur geringe tarifpolitische Willensbildungsfunktionen zukommen), noch durch die vor kurzem 1 Das M a n u s k r i p t des v o n T o m E t t y (FNV) gehaltenen Referates wurde dem Herausgeber leider nicht zugestellt.

Diskussion

novellierten Betriebsräte (denen immerhin i n Fragen der Arbeitsorganisation ein Vetorecht zusteht) bis heute die Problematik der Arbeitsorganisation einer grundlegenden Diskussion zugeführt werden konnte. Gewerkschaftliche Ansätze Mitte der siebziger Jahre, wie die sogenannten Arbeitsplatzübereinkommen, waren zwar als umfassende Instrumente der Beschäftigungsplanung konzipiert, m i t deren Hilfe Quantität und Qualität der Arbeitsplätze nach Mitgliedervorstellungen diskutiert, ausgehandelt und festgelegt werden sollten. Unter verschärften Krisenbedingungen erwies sich aber, daß solche Abkommen zwischen den Tarifparteien — wenn überhaupt — nur zur Abfederung von Rationalisierungsproblemen und unternehmerisch verfügter Beschäftigungsreduktion eingesetzt werden, sie also auf ein defensivquantitatives Instrument beschränkt werden. Die i m internationalen Vergleich relative Erfolglosigkeit der niederländischen Gewerkschaften bei der tarifpolitischen Durchsetzung veränderter Arbeitsstrukturen auf dezentraler Ebene hängt i m wesentlichen von folgenden Faktoren ab: 1. die weitgehende Delegation dieses Problems an den traditionell und i n der Krise verstärkt korporativ agierenden Gesetzgeber; 2. eine gleichfalls traditionelle und tiefsitzende Ablehnung der niederländischen Gewerkschaften, Mitverantwortung für die Unternehmerpolitik nicht nur i n Fragen der Arbeitsstrukturierung zu übernehmen (das ist unter anderem auch eine Folge ihrer mangelhaften Β asisver ankerung) ; 3. noch kein sicherer, erprobter Umgang m i t den neuen Vetorechten des Betriebsrats. Versucht man ein übergreifendes Fazit aus Referaten und Diskussion der A G 4 — „Veränderungen der Arbeitsstrukturen durch gewerkschaftliche Betriebspolitik" zu ziehen, so läßt sich — mit aller gebotenen Vorsicht — folgendes sagen: — Die nationalen Ausgangsbedingungen sind historisch und institutionell so verschieden, daß auf konkrete Umsetzungsprobleme bezogene Generalisierungen kaum haltbar erscheinen; — generell aber läßt sich sagen, daß unter eingeschränkten ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen i n der Krise die Durchsetzung qualitativer Inhalte gewerkschaftlicher Betriebs- und besonders Tarifpolitik schwieriger wird; — generalisieren läßt sich auch die These, daß die Gewerkschaften heute dazu neigen beziehungsweise dazu gezwungen sind, i n der

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Diskussion

Krise wieder die quantitativen Elemente ihrer Politik zu betonen und dabei versuchen, wenigstens den status quo an Reallohn und Verteilung zu halten; — die Schlußfolgerung für eine Internationale Gewerkschaftspolitik könnte sein, die Informations- und Anregungsfunktionen über Ziele und Inhalte qualitativer Tarifpolitik besonders auf EG-Ebene zu erweitern, bei gleichzeitiger Reduktion des Anspruchsniveaus an den Erfolg international koordinierter Aktionen auf nationalstaatlicher Ebene.

Themenkreis 5 National übergreifende gewerkschaftliche Organisationsstrukturen in ihrer Bedeutung für die gewerkschaftliche Betriebspolitik in Westeuropa Aktionemöglichkeiten der Europäischen Gewerkschaftsausschüsse auf Branchen und Konzernebene Von Günter Köpke, Brüssel Grob gesagt läßt sich eine gewisse Entsprechung herstellen zwischen einerseits dem Deutschen Gewerkschaftsbund und den Einzelgewerkschaften und andererseits dem Europäischen Gewerkschaftsbund und den einzelnen europäischen Gewerkschaftsausschüssen. Dabei handelt es sich allerdings u m eine grobe Vereinfachung. Ein solcher Vergleich drückt nur die halbe Wahrheit aus. Anders gesagt, der DGB kann ohne die 17 Einzelgewerkschaften nicht existieren, ohne sie wäre er gar nicht da. Der Europäische Gewerkschaftsbund aber kann durchaus leben ohne die europäischen Gewerkschaftsausschüsse. Der Europäische Gewerkschaftsbund ist i n erster Linie ein Bund der Gewerkschaftsbünde. Er setzt sich zusammen aus 33 Gewerkschaftsbünden i n 18 Ländern Westeuropas, ich betone: 18 Länder. Weit über die EG hinaus erfaßt er also auch die Gewerkschaftsbünde der EFTA-Länder und einiger anderer Länder und v e r t r i t t insgesamt 40 M i l l . Arbeitnehmer. Ein Teil der europäischen Gewerkschaftsausschüsse gehört auch zum Europäischen Gewerkschaftsbund. Sie sind Mitglieder, wenn man so w i l l , jedoch nicht mit dem gleichen Status wie die Gewerkschaftsbünde, rechtlich, politisch und finanziell. Es ist also eine doppelte Struktur festzustellen. Diejenigen europäischen Gewerkschaftsausschüsse, die vom EGB anerkannt sind, und das ist die Mehrzahl, haben ζ. B. auf dem Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes Stimmrecht i n bezug auf die Gewerkschaftspolitik, abgesehen von finanziellen und statutären Fragen. Das heißt, sie sind dort vertreten m i t Delegierten, die Stimmrecht haben. Dies setzt voraus, daß sie eine A r t Mitgliedschaft i m Europäischen Gewerkschaftsbund haben. Sie sind selbstverständlich, soweit sie anerkannt sind, auch i m Exekutivausschuß des EGB anwesend und

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haben dort Rederecht. Es ist also eine gewisse Verklammerung zwischen der Dachorganisation, dem EGB, und den anerkannten europäischen Gewerkschaftsausschüssen vorhanden. Der EGB wurde 1973 gegründet und diese Gründung darf man rückblickend ganz sicher als eine historische Wende bezeichnen, weil mit ihr ein dreifaches Ziel erreicht wurde: Die Vorläuferorganisation des EGB, die sich auf die EG-Länder beschränkte, erweiterte sich geografisch auf Gesamt-Westeuropa. Ferner gelang es, die bisherigen sozialistisch geprägten Gewerkschaftsbünde m i t den christlichen Gewerkschaftsbünden einiger weniger Länder wie Belgien, Niederlande, Luxemburg und der Schweiz zusammenzufassen. Der EGB hat also mehr oder weniger auch das Startzeichen gegeben für die Überwindung der Spaltung zwischen den sozialistischen und christlichen Gewerkschaftsorganisationen auf europäischer Ebene. Schließlich — und das ist noch wichtiger — gelang es, die italienische CGIL, die man i m allgemeinen als „kommunistisch geprägt" bezeichnet, die tatsächlich jedoch sozialistisch-kommunistisch orientiert ist, ebenfalls i n den EGB zu nehmen. Ich w i l l jetzt nicht auf die Geschichte eingehen, wie das geschah, m i t welchen Widersprüchen. Tatsache ist, daß auch diese Organisation Mitglied des EGB ist. Die europäischen Gewerkschaftsausschüsse sind gegenüber dem EGB zum Teil viel älter. Der älteste Gewerkschaftsausschuß ist der Montanausschuß, d. h. der Ausschuß, der die Bergarbeiter und die Stahlarbeiter i n der EG umfaßt, denn bald nach Gründung der Montanunion 1951 wurde dieser Ausschuß gegründet. Es gibt zur Zeit 13 europäische Gewerkschaftsausschüsse. Zum besseren Verständnis zähle ich die Organisationsbereiche auf, ohne die genauen Namen der entsprechenden Organisationen zu nennen. 1. Metall 2. Nahrung, Genuß, Gaststätten 3. Bergbau und Stahl 4. Landwirtschaft 5. Handel, Banken und Versicherungen 6. Post, Telegrafen, Telefon 7. Kunst, Unterhaltung 8. Verkehr und Transport 9. Öffentlicher Dienst Die europäischen Gewerkschaftsausschüsse dieser Bereiche sind M i t glieder der EGB.

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Darüber hinaus gibt es noch 4 weitere europäische Gewerkschaftsausschüsse, die aus unterschiedlichen Gründen nicht Mitglied des EGB sind, nämlich für die Bereiche: — Textil, Bekleidung und Leder — Bau und Holz — Chemie — Erziehung und Wissenschaft. Die Struktur dieser Gewerkschaftsausschüsse ist sehr verschiedenartig, und ich muß darauf eingehen, damit verstanden werden kann, welche Aktionsmöglichkeiten bestehen. Die Aktionsmöglichkeiten hängen zum Teil von der Aufgabenstellung der Gewerkschaftsausschüsse, aber auch von ihrer Struktur und von ihren Schwachstellen ab. Geografisch gesehen gibt es einige Gewerkschaftsausschüsse, die sich streng auf die EG-Länder beschränken. Es gibt andere, die diesen Rahmen überschritten haben und auch Gewerkschaften aus anderen Nachbarländern umfassen. Und es gibt — geografisch gesehen — auch Gewerkschaftsausschüsse, die Gesamt-Westeuropa umfassen, so wie der EGB organisiert ist. Das alles hat i m einzelnen seine Gründe, auf die ich jetzt nicht eingehen kann. Ich kann m i r einfach feststellen, daß — geografisch gesehen — der Operationsbereich der Gewerkschaftsausschüsse sehr unterschiedlich ist. Gewerkschaftspolitisch gesehen stellen w i r ebenfalls erhebliche Unterschiede fest. Es gibt Ausschüsse, die sich begrenzen auf die freien oder sozialistischen Gewerkschaften, es gibt andere, die die christlichen Gewerkschaften miteingeschlossen haben und andere, die auch CGIL-Einzelgewerkschaften i n Italien aufgenommen haben. Des weiteren bestehen hinsichtlich der zahlenmäßigen Größe erhebliche Unterschiede. Der m i t Abstand größte Gewerkschaftsausschuß ist der EMB, der Europäische Metallgewerkschaftsbund, m i t mehr als 7 M i l l . Mitgliedern. U m einen Vergleich zu bieten, nenne ich einen anderen Ausschuß, nämlich Nahrung, Genuß, Gaststätten, m i t 1,2 M i l l . Mitgliedern. Die Mitgliederzahl hat finanzielle Konsequenzen für die Ausschüsse und damit Konsequenzen für ihre praktische Tätigkeit. Wenn man diese beiden Ausschüsse vergleicht, so kann man feststellen: Der EMB verlangt als Beitrag pro Jahr 11 Pfennig pro Einzelmitglied von seinen Mitgliederorganisationen. Der Ausschuß für NGG muß 26 Pfennig pro Mitglied von seinen Mitgliederorganisationen verlangen, und man kann sich vorstellen, daß die Gewerkschaftsausschüsse, die kleiner sind und natürlich über weniger finanzielle M i t t e l verfügen, auch i n ihren praktischen Möglichkeiten behindert sind. 17 Tagung Dortmund 1981

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Ein wichtiger anderer Punkt ist das Verhältnis des europäischen Gewerkschaftsausschusses zur jeweiligen internationalen Gewerkschaft, zu den sog. Internationalen Berufssekretariaten. Hier gibt es auch ganz erhebliche Unterschiede. Es gibt Ausschüsse, die relativ autonom sind, wie etwa der EMB. Es gibt andere, die eingebunden sind i n die Internationalen Berufssekretariate und wenig Spielraum haben sowohl politischer wie auch praktischer A r t . Und es gibt weitere, die vom Statut her eine reine Regionalorganisation der Internationalen Berufssekretariate darstellen, wie beispielsweise der Ausschuß Euro-Fiet für Handel-Banken-Versicherungen. Das ist wichtig zu wissen i m Hinblick auf die praktische Tätigkeit und die Möglichkeiten dieser Ausschüsse. Schließlich ein letzter Gesichtspunkt: Einige europäische Gewerkschaftsausschüsse sind vom EGB anerkannt — das ist die Mehrzahl, wie ich schon sagte —, einige nicht oder noch nicht. Der EGB hat bestimmte Kriterien festgelegt für die Anerkennung, und diese Kriterien sind zum Teil nicht erfüllt oder es gibt politische Schwierigkeiten, auf die ich hier i m Einzelnen nicht eingehen kann. U m etwas deutlicher zu werden: Der Ausschuß Textil, Bekleidung, Leder ist nicht bereit, die italienische Textilgewerkschaft CGIL aufzunehmen und damit entsteht auch eine gewisse Blockade, diesen Ausschuß v o n Seiten des E G B a n z u e r k e n n e n .

Man erkennt aus dieser kurzen Übersicht, daß die Struktur und die Form der Ausschüsse recht unterschiedlich ist. Daraus ergeben sich Schlußfolgerungen für den Aktionsradius der Ausschüsse. Sie alle stehen vor verschiedenartigen Problemen, weil sie unterschiedliche Wirtschaftszweige repräsentieren, und die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer i n diesen Wirtschaftszweigen sich stark unterscheiden. Ich w i l l das an einigen Beispielen verdeutlichen: I n der Automobilindustrie spielen Fließbandarbeiter als Problem eine ganz bedeutende Rolle, i n der Flugzeugindustrie die hochqualifizierten Facharbeiter und Techniker, i m Bergbau die Arbeitsbedingungen für die Grubenarbeiter, i n der Stahlindustrie die Schichtarbeit. Der Ausschuß, der sich m i t dem Hotel- und Gaststättengewerbe befaßt, muß sich mit den Fragen der Teilzeitarbeit und der festen Bezahlung von Kellnern und Hotelpersonal beschäftigen. Oder ein anderes Beispiel aus der Fleischwarenindustrie: Hier haben diejenigen Arbeiter, die i n den Kühlhäusern bei Temperaturen von minus 20 Grad arbeiten müssen, ihre besonderen Probleme. I n der Chemieindustrie besteht das Problem der Herstellung und Verwendung von Asbest und seinen gesundheitsschädigenden Folgen. Soll Asbest noch hergestellt werden oder nicht, soll es verboten werden, das sind hier wichtige Fragen. I n

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der Bauindustrie haben w i r das Problem vor allem der Leiharbeiter und die Frage des Schlechtwettergeldes. Ich w i l l diese Beispiele nicht zu weit ausdehnen. Sie zeigen jedenfalls, daß die europäischen Gewerkschaftsausschüsse vor sehr verschiedenartigen spezifischen Arbeitsbedingungen i n ihren jeweiligen Wirtschaftszweigen stehen. Eine weitere Aufgabennstellung w i r d hervorgerufen durch die Strukturkrise i n mehreren Industriezweigen, die die Gewerkschaften zwingt, gemeinsame Abwehrstrategien zu entwickeln. Ob das die Textilindustrie ist, die vor dem Problem der Verlagerung von Produktionen i n Drittländer steht, oder die Stahlindustrie i n der EG, die m i t dem Problem des Überlebens konfrontiert ist und infolgedessen ein Quotensystem auf EG-Ebene einführen mußte, oder die Automobilindustrie, die sich i n einigen Ländern m i t Fragen des Protektionismus auseinandersetzt und die Gewerkschaften zwingt, hier eine gemeinsame Haltung einzunehmen. I n der Flugzeugindustrie steht die Entwicklung eines europäischen zivilen Flugzeuges etwa i n Form des europäischen Airbusses an, u m der Übermacht der Amerikaner auf diesem Markt entgegenzuwirken. Die Chemieindustrie steht vor dem Problem der Überkapazität i n der Kunstfaserproduktion. I n der Datenverarbeitungsund Computerindustrie müssen sich die Europäer bemühen, der Dominanz vom IBM, die ja 60°/o des europäischen Marktes beherrscht, entgegenzuwirken. I n diesen Krisensituationen müssen die Gewerkschaften gemeinsame Stellungnahme erarbeiten, und das geschieht weitgehend i n den europäischen Gewerkschaftsausschüssen. Nachdem ich einige Probleme aufgezeigt habe, möchte ich nun einige Hinweise auf gewerkschaftliche Aktionsmöglichkeiten geben. Ob es sich u m Ausschüsse i n Industrien, i m Dienstleistungsbereich oder i n der Landwirtschaft handelt, sie alle haben i m Grunde zwei Hauptaufgaben zu erfüllen, nämlich erstens einen gegenseitigen Informationsaustausch zwischen den Mitgliederorganisationen zu sichern und zweitens gemeinsame Forderungen zu erarbeiten. Beides sind Voraussetzungen für Aktionen. Solange diese beiden Voraussetzungen nicht erfüllt sind, hängt die A k t i o n i n der Luft. Gemeinsame Forderungen zu erarbeiten, w i r d nicht nur erzwungen durch die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, die i n Richtung auf das jeweils höchste Niveau angeglichen werden müssen, auch nicht erzwungen durch die Wirtschaftskrisen i n einzelnen Industriezweigen, die ich gerade genannt habe, sondern merkwürdigerweise vor allem durch die Existenz der EG. Die Tatsache, daß die EG die Gewerkschaften — zunächst i m EG-Rahmen, aber später auch darüber hinaus — zwingt, zu gemeinsamen Stellungnahmen zu kommen, ist nicht zu unterschätzen. Ob es sich darum handelt, auf Vorschläge der Kommission zu reagieren oder 17*

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darum, gemeinsame gewerkschaftliche Stellungnahmen zu erarbeiten, u m i n bestimmten Ausschüssen wirksam zu werden, ζ. B. i m W i r t schafts- und Sozialausschuß oder neuerdings vor allem i m Europäischen Parlament oder auch gegenüber Regierungen und dem Ministerrat, immer ist die Existenz der EG von Bedeutung für die Gewerkschaftsausschüsse. Es wäre eine lohnende Aufgabe für die Forschung an den Universitäten, den Beziehungen zwischen EG und Gewerkschaftsausschüssen einmal genauer nachzugehen. Was sind nun Aktionsmöglichkeiten? Der Sprachgebrauch i n der Bundesrepublik hat sich da etwas gewandelt. Es gab vor einigen Jahren noch das Problem, daß man das Wort A k t i o n i m europäischen Kontext nur m i t Vorsicht verwenden durfte, w e i l sofort der Eindruck von Streik oder Kampfmaßnahmen entstand. Wenn unsere französischen oder italienischen Kollegen aus bestimmten Anlässen Aktionen forderten, dann zitterten manche Organisationen, die glaubten, eine gemeinsame Streikaktion führen zu müssen. Das Wort „Aktion" war jedenfalls belastet. Heute — i n der Zwischenzeit — hat sich das ein wenig abgeschliffen und das Verständnis ist weiter gewachsen. Sicher gehört die Versendung eines Rundschreibens nicht unbedingt zu einer Aktion, aber das ist sozusagen das Mindeste, was man als A k t i o n noch ansehen kann. A u f der anderen Seite ist ein gemeinsamer europäischer Streik, gleichzeitig geführt i n verschiedenen Ländern anläßlich einer bestimmten Konfliktsituation, wohl die weitestgehende Vorstellung von einer wirklichen Aktion. Die Praxis liegt dazwischen, und der Hauptteil der Arbeit der europäischen Gewerkschaftsausschüsse ist nicht spektakulär. Darüber müssen w i r uns i m klaren sein. Es w i r d sehr viel Kleinarbeit geleistet, die durchaus wirksam sein kann, und darin unterscheidet sich die Arbeit europäischer Gewerkschaftsgremien nicht von der nationaler Gewerkschaftsinstanzen. Nicht alles verläuft spektakulär und trotzdem kann man einiges erreichen, ohne daß es immer für Außenstehende sichtbar wird. Ich möchte die Aktionsmöglichkeiten am Beispiel des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes EMB etwas näher aufzeigen, natürlich aus Zeitgründen nur kurz: Ich glaube, es gibt vor allen Dingen drei Ebenen, Aktionsmöglichkeiten zu entwickeln. Die erste Ebene ist die tarifpolitische Koordinierung. Die zweite Ebene ist die Arbeit innerhalb der Branchenausschüsse und Industriezweige. Die dritte Ebene betrifft die Tätigkeit gegenüber den Multinationalen Unternehmen. Einige Erläuterungen zur ersten Ebene: Die Tarifpolitik w i r d von allen Gewerkschaften als Herzstück ihrer Gewerkschaftspolitik angesehen. M i t diesem Bewußtsein kommt man

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auch i n den europäischen Gewerkschaftsausschüssen zusammen, und daraus entwickelte sich die Notwendigkeit, daß diese europäischen Gewerkschaftsausschüsse auch versuchen, Informationen auszutauschen über die tarifpolitischen Situationen i n einzelnen Ländern, über die Forderungen, die i n einzelnen Ländern gestellt werden und über die Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens, einer gleichen Gangart i n die gleiche Richtung auf bestimmten Gebieten. Dies ist nicht i n dem Sinne zu verstehenn, daß hier gemeinsame verbindliche Beschlüsse für die Durchführung bestimmter tarifpolitischer Aktionen geführt werden, doch soll eine gewisse Übersicht und eine gewisse Koordinierung erreicht werden. Ich selbst habe i m Europäischen Metallgewerkschaftsbund als ehemaliger Generalsekretär sehr früh damit begonnen, jeweils zwei Sitzungen des tarifpolitischen Ausschusses i m Jahr anzuberaumen, und zwar eine Sitzung nach Ablauf der Tarifbewegungen i n den verschiedenen Ländern, u m sozusagen auszuwerten, wie die Tarifbewegungen verlaufen sind, m i t welchen Ergebnissen und welchen Schwierigkeiten. Diese Sitzung fand regelmäßig i m Mai oder Juni statt, denn die meisten Tarifverhandlungen sind i m Winter/Frühjahr. Die andere Sitzung fand i n der Regel i m November oder Dezember statt, also i m Vorfeld der Tarifverhandlungen. Dies war sehr wichtig, damit die einzelnen Mitgliederorganisationen aus erster Hand und nicht nur aus der Zeitung erfuhren, welche Forderungen i m einzelnen i n anderen Ländern gestellt wurden, m i t welchen Begründungen, m i t welchen Motiven, die dahinter standen und welche tatsächlichen oder angeblichen Taktiken die Gewerkschaften verfolgten. Diese Arbeit hatte zum Teil recht praktische Folgen. Die Briten hatten i n der Metallindustrie — es ist noch garnicht so lange her — einen Maximalurlaub von 18 Tagen, und sie haben erst dann v o l l erkannt, daß auf dem Kontinent die Urlaubsdauer normalerweise 4 Wochen war. Nachdem sie ihren Rückstand festgestellt hatten, gingen sie i n Verhandlungen m i t den Arbeitgebern i n Großbritannien mit dem ausdrücklichen Hinweis und m i t der Argumentation: A u f dem Kontinent hat man bereits die vier Wochen, warum nicht w i r . Und es gelang ihnen schließlich innerhalb von 2 Jahren den Vier-Wochen-Urlaub durchzusetzen. Das ist ein Einzelbeispiel für viele Fälle. Oder die Luxemburger standen vor dem Problem, das Urlaubsgeld einzuführen. Nun hatten die Deutschen schon eine Urlaubsgeldregelung besonderer A r t , die Holländer hatten ein anderes System der Urlaubsgeldregelung, und die Luxemburger zögerten, welches System sie wählen sollten, weil ihnen von den Arbeitgebern ein ganz anderes System angeboten worden war. Also haben w i r die drei zusammenge-

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bracht, u m die Vor- und Nachteile der jeweiligen Systeme zu vergleichen. Zweite Ebene: Die Branchenausschüsse. Das ist — glaube ich — die Hauptoperationsbasis zur Zeit. Ich vermute, daß es etwa 35 Branchenausschüsse auf europäischer Ebene gibt, die die verschiedenen europäischen Gewerkschaftsausschüsse aufgebaut haben. I n der Metallindustrie beispielsweise Schiffbau/Schiffsreparatur, Flugzeug-/Raumfahrtindustrie, Automobilindustrie, Eisenbahnmaterial, Datenverarbeitungsindustrie, Unterhaltungselektronik — sehr wichtig zur Zeit —, i m Lebensmittelbereich etwa Brauereiindustrien. Dritte Ebene, die oft als spektakulär dargestellt w i r d : Multinationale Unternehmen. Hier muß man, glaube ich, k l a r erkennen, daß die europäischen Gewerkschaftsausschüsse nicht Ersatzorganisationen sind für die Internationalen Berufssekretariate. Die meisten Multinationalen sind weltweit organisiert. Infolgedessen müssen die Internationalen Gewerkschaftsorganisationen i m wesentlichen diese Aufgabe erfüllen. Es kann aber sein, daß ein multinationales Unternehmen seinen Schwerpunkt i n Europa hat, wie etwa Philips, oder daß Konflikte ausbrechen, wie vielleicht Streiks oder tarif politische Auseinandersetzungen, die zwei/ drei Länder betreffen, wo es dann darauf ankommt, schnell die Verbindungen herzustellen, u m Abwehrstrategien zu entwickeln, etwa Überstundenarbeit i n einem Land zu verweigern, Produktionsverlagerungen zu verhindern, Aufklärung über die wahren Motive der Geschäftsleitungspolitik zu führen usw. Aber man muß feststellen, daß von den europäischen Gewerkschaftsausschüssen sich i n diesem Bereich tatsächlich nur wenige aktiv engagieren. Die Haupttätigkeit auf diesem Gebiet muß von den internationalen weltweit organisierten Gewerkschaften geführt werden, i n den verschiedensten Formen, die es gibt, etwa i m Rahmen der Weltkonzernausschüsse oder durch direkte Interventionen bei den Muttergesellschaften der multinationalen Unternehmen oder durch direkte gewerkschaftliche Aktionen vor Ort i m Falle von Streiks.

Aktionstage des EGB. Bilanz und Perspektiven Von Ernst Piehl, Brüssel Ich werde meine Einführung i n vier Hauptteile gliedern: Erstens ist es beim Thema „Aktionstage des EGB" unumgänglich, etwas generell und grundsätzlich zum EGB zu sagen, der ja diese Aktionstage koordinieren oder sie durchführen soll; zweitens werde ich dann eine Kurzbeschreibung der bereits stattgefundenen bzw. i n der Durchführung befindlichen Aktionstage geben; drittens ist zu versuchen, die Hauptprobleme i m Lichte der Erfahrung m i t diesen Aktionstagen i m EGB zusammenzufassen; viertens werden einige Thesen zur Bilanz und zu Perspektiven des EGB zur Diskussion gestellt. 1. Der EGB ist 1973 unter drei Ansprüchen gegründet worden. Der erste Anspruch ist der Versuch — der historische Versuch, wie einige sagen —, die traditionell gespaltene Arbeiterbewegung auf Seiten der Gewerkschaften i n drei Familien unter einem Dach, zumindest oben, was die Organe angeht, zu vereinigen. Die drei weltanschaulichen Familien sind die folgenden: erstens die sozialdemokratisch-sozialistische Richtung, die i n Westeuropa mehrheitlich ist; zweitens die ehemals christliche, die sich jetzt „Weltverband der Arbeitnehmer" nennt; die dritte ist die mehrheitlich kommunistische Richtung. Der zweite Anspruch bei der EGB-Gründung war, die i n der Nachkriegszeit eingetretene Spaltung i n zwei verschiedene Wirtschaftsblöcke, EG und EFTA, für die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften nicht nachzuvollziehen. Der dritte Anspruch ist der Versuch, die Unterschiedlichkeiten i n der Gewerkschaftsorganisation zu überbrücken. Einerseits haben w i r als Mitgliedsbünde i m EGB, ζ. B. i n der Bundesrepublik, Einheitsgewerkschaften, andererseits bestehen trotz einiger Einigungstendenzen weiterhin Richtungsgewerkschaften vor allem i n Frankreich. Auch wenn die Vertreter dieser politischen Richtungsgewerkschaften nebeneinander i m EGB-Vorstand sitzen, werden trotzdem nicht die Richtungsgewerkschaften i n Frankreich oder anderswo abgeschafft. Die Unterschiede wirken natürlich nach, besonders wenn man Aktionen auf nationaler und europäischer Ebene machen w i l l .

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Was sind die Hauptaufgaben des EGB? Erste Hauptaufgabe, die prinzipiell jede internationale Gewerkschaftsorganisation hat, heißt Informationsaustausch, Kommunikation und einen möglichen Minimalkonsens zwischen den Mitgliedern herbeizuführen, d. h. für den EGB zwischen 33 Mitgliedsbünden aus 18 Ländern Westeuropas. Das spricht sich leicht aus, ist freilich i n der Praxis, gerade was die Konsensfindung betrifft, nicht einfach. Für eine Übereinstimmung auf internationaler Ebene i n vielen politischen Fragen sind Statuten m i t dem juristischen Instrument von Zwei-Drittel-Mehrheiten nur begrenzt brauchbar. Sie können die Konsensfindung erschweren, weil der zurückhaltendste Mitgliedsbund das Tempo der europäischen Entscheidungsfindung weitgehend bestimmen kann, auch wenn es i m EGB formal kein Vetorecht gibt. Zweite Hauptaufgabe ist die vielfältige Interessenvertretung gegenüber den europäischen Institutionen; das ist sehr zeitraubend, teilweise erfolgreich, teilweise auch viel Arbeit m i t wenig Erfolg. Gleichwohl ist das Sekretariat auch dafür von den nationalen Bünden geschaffen worden; die sechs politischen Sekretäre i n Brüssel haben sich täglich mit der Papierproduktion der vielen Beamten der Kommission, der Abgeordneten des Europäischen Parlaments sowie der Mitglieder des W i r t schafte- und Sozialausschusses auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt gibt es dann noch den Ministerrat, der letztlich über alle wichtigen Dossiers entscheidet. Angesichts der Kräfteverhältnisse i n den Nationalstaaten und i n der EG können w i r zusammen m i t unseren nationalen Bünden oft lediglich nach der Devise verfahren: Retten, was zu retten ist. Diese zweite Hauptaufgabe heißt natürlich auch Interessenvertretung gegenüber den europäischen Arbeitgeberorganisationen, die i n Form ihres Dachverbandes, der sog. UNICE, i n Brüssel vertreten ist. Die UNICE stützt sich auf eine Vielzahl von Fachverbänden und auf die europäischen Abteilungen der großen Konzerne; dadurch sind die Arbeitgeber auf europäischer wie auf nationaler Ebene finanziell und administrativ der Arbeitnehmerseite weit überlegen. Die dritte Hauptaufgabe besteht aus der Anregung und Koordination von Aktionen. Peter Kühne hat i n der Ausschreibung dieser Tagung aus dem Aktionsprogramm des EGB 79/82 zitiert, i n dem es heißt, daß der EGB Aktionen der Mitgliedsbünde koordinieren soll. Soweit die drei Hauptaufgaben, die entsprechende M i t t e l verlangen; dazu sind wiederum drei Hauptinstrumente zusammenzufassen: Erstens gibt es beim EGB wie für jede Gewerkschaftsorganisation die statutären Organe: Kongresse, die bei uns alle drei Jahre stattfinden, dann der Vorstand, der 5 bis 6mal i m Jahr zusammenkommt und alle

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Generalsekretäre und Präsidenten der 33 Mitgliedsbünde vereinigt, und schließlich das Sekretariat, das zur Zeit 28 Mitarbeiter hat, davon 6 politische Sekretäre. Der EGB ist i m Vergleich zu der personellen Besetzung der Arbeitgeberorganisationen und ihrer Hilfsorganisationen auf europäischer Ebene doch relativ klein. Zweitens gibt es Arbeitsgruppen, permanent oder ad hoc, rund 20 - 25 zur Zeit, die sehr wichtige Arbeit leisten, nämlich die gesamte Vorarbeit für die Entscheidungsfindung i m Vorstand und auch i n Vorbereitung der Kongresse; sie erarbeiten i n der Regel Empfehlungen und tragen zu den genannten Aufgaben der Kommunikation und der Konsensfindung zwischen den nationalen Bünden wesentlich bei. Hinzu kommen noch unter diesem M i t t e l spezifische Arbeitsgruppen, die w i r i n vier Bereichen haben: Jugend, Frauen, ausländische Arbeitnehmer und die interregionale gewerkschaftliche Zusammenarbeit. Das dritte Hauptinstrument des EGB ist das Europäische Gewerkschaftsinstitut. 2. Wie angekündigt, werde ich i m zweiten Hauptteil eine kurze Beschreibung der schon stattgefundenen Aktionstage des EGB 1978 und 1979 vornehmen und auch eine kurze Skizze dessen geben, was i n diesen Wochen als Kampagne anläuft. A l l e Aktionstage sind mit einer Pressekampagne eingeleitet worden, wobei insbesondere die vielfältige Gewerkschaftspresse von den gemeinsamen Bemühungen und von den gemeinsamen Forderungen namentlich auf Verkürzung der Arbeitszeit berichtet hat. Als zentrales Element wurden Veranstaltungen möglichst i n Orten durchgeführt, wo mehrere Bünde verschiedener Länder teilnehmen konnten, also gerade i n Grenzregionen. Zum Beispiel gab es eine Großkundgebung i n Saarbrücken, an der Kollegen aus den Nachbarländern teilnahmen und bekannte Redner, wie der jetzige EGB-Präsident W i m Kok, gesprochen haben. Schließlich sind Delegationen zu den Sitzungen des Ministerrates bzw. zum Europäischen Gipfel der Staats- und Regierungschefs gereist und haben dort dem jeweiligen Präsidenten unseren Forderungskatalog überreicht. Und schließlich wurden i n einigen Ländern, namentlich i n Italien, außerordentliche Betriebsversammlungen organisiert, wo versucht wurde, insbesondere die Forderung nach Verkürzung der Wochenarbeitszeit i n nationale und lokale Aktionen zu übersetzen. Insgesamt kann man beide Kampagnen von 1978 und 1979 folgendermaßen zusammenfassen: Zentrale Koordination von dezentral durchgeführten Aktionen unter Berücksichtigung der jeweiligen politischen und organisatorischen Bedingungen der verschiedenen Länder.

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I n diesen Wochen läuft die dritte Aktionskampagne des EGB an. Die mehrmonatigen Vorbereitungen m i t Pressearbeit usw. sind identisch mit denen der beiden ersten Aktionstage. Es w i r d als neues Element hinzukommen, daß gezielte Treffen mit europäischen Parlamentariern stattfinden — einmal mit Parlamentariern verschiedener Fraktionen, die vor ihrer Wahl gewerkschaftliche Funktionen i n ihren jeweiligen Ländern hatten; zum anderen mit einer Reihe von Parlamentariern zu konkreten Problemkreisen. Gleichfalls stehen Treffen mit den vier wichtigsten politischen Formationen i n Europa (Bund sozialdemokratischer/sozialistischer Parteien i n der EG, christlich-demokratische, liberale und kommunistische Gruppierung) auf der Tagesordnung. A m 23. März w i r d eine Großkundgebung mit anschließender Demonstration i n Maastricht anläßlich des nächsten „Europäischen Gipfels" stattfinden. Bei der Planung erweist es sich als sehr hilfreich, daß es einen interregionalen Gewerkschaftsrat i n der dortigen Grenzregion gibt, der seit Jahren konkret und erfolgreich zwischen allen Gewerkschaften der drei Länder Belgien - Niederlande - Bundesrepublik gearbeitet hat. M i t dessen organisatorischer Unterstützung kann eine solche Kundgebung nicht nur unter Mobilisierung der hauptamtlichen Sekretäre, sondern auch von gewerkschaftlichen Mitgliedern vor Ort umgesetzt werden. Natürlich sind die nationalen Bünde ebenfalls gefordert. Die Veranstaltungen des diesjährigen l . M a i sollen stärker unter zentrale europäische Forderungen gestellt werden und ein Redneraustausch über die Grenzen erfolgen. Schließlich w i r d eine Vielzahl von allen möglichen Materialien, Broschüren, Flugblätter, Plakate usw. produziert, die die Hauptforderungen zu popularisieren versuchen, u m i n der zweiten Junihälfte zu einer großen, zentralen Kundgebung und Demonstration aufzurufen, wo möglichst alle Mitgliedsbünde m i t Delegationen anwesend sein sollen, wobei das Gros der Teilnehmer aus geographischen Gründen von den beiden belgischen Bünden gestellt wird. Vielleicht gelingt es auch, daß sich nach der Kundgebung und Demonstration nationale Delegationen zu dem gleichzeitig tagenden Ministerrat bzw. zu deren ständigen Botschaftsvertretungen entsandt werden. Soviel zur Beschreibung und zur Zusammenfassung der wichtigsten Elemente der stattgefundenen Aktionstage 78/79 und der gerade laufenden dritten Kampagne. 3. I m dritten Hauptteil gehe ich jetzt auf die Hauptprobleme ein, die sich bei einer Analyse der Aktionstage zeigen. Ausgehend von der ungleichen Wirtschaftsentwicklung, von den ungleichen Sozialstrukturen sowie von der verschiedenen Geschichte, stellen die Unterschiede der gewerkschaftlichen Organisation, Tradition und nicht zuletzt die verschiedenen Sprachen Barrieren dar, u m gerade Arbeiter und Gewerk-

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schafter von der jeweiligen Basis i n größerer Zahl an internationalen Aktionen zu beteiligen. Hinzu kommt, daß das europäische Handeln weiterhin i n die nationalen Rechtsordnungen bzw. i n nationale Tarifverträge umzusetzen ist. Solange auf europäischer Ebene nichts dergleichen besteht, solange ist auch die gewerkschaftliche A k t i o n vor allem auf den Nationalstaat orientiert. I m zweiten Bündel von Hauptproblemen sind die Hemmnisse anzusprechen, die aus dem Zusammenschluß von Richtungsgewerkschaften und von unterschiedlichen Organisationsstrukturen weiter fortwirken. Nicht nur Richtungsgewerkschaft gegenüber Einheitsgewerkschaft ist gemeint, sondern auch die Verschiedenheit, daß einige Gewerkschaften stärker zentralisiert, andere mehr dezentral strukturiert sind. I n einigen Ländern wie Großbritannien gibt es bis heute kaum Branchengewerkschaften i m deutschen Sinne, sondern stärker berufs- oder standesorientierte Gewerkschaften. Auch ist nicht zu übersehen, daß die Organisationsgrade selbst i n den Nachbarländern der Europäischen Gemeinschaft erheblich voneinander abweichen, ζ. B. beträgt der Anteil der gewerkschaftlichen Mitglieder an den Erwerbstätigen i n Belgien und i n Irland rund 70%, dagegen i n Frankreich weniger als 25 °/o. I n der dritten Gruppe von Problemen ist festzuhalten, daß es zwar schon mehrere Gewerkschaftsausschüsse verschiedenster Sektoren auf europäischer Ebene gibt, wobei einige davon auch sehr aktiv i m EGB m i t wirken, aber nicht alle Branchen, darunter einige wichtige Wirtschaftsbranchen, bisher abgedeckt sind. Hinzu kommt, daß größere Aktionen bei der gegenwärtigen Ausstattung finanziell, personell und administrativ nur mit größten Schwierigkeiten durchführbar sind. 4. I m abschließenden vierten Hauptteil komme ich zu ein paar Thesen, die einerseits etwas sagen zur Bilanz der Aktionstage und andererseits einige Perspektiven aufzeigen. Die Bilanz könnte man kurz so zusammenfassen: Weder gibt es Anlaß zur Resignation über eine angeblich bescheinigte Aktionsunfähigkeit der europäischen Gewerkschaftsbewegung, noch ist Schönfärberei am Platz. Ein i n Brüssel ausgerufener Generalstreik i n allen europäischen Ländern ist nicht i n Sicht. Gleichwohl ist eine Einigkeit i n Kernfragen und auch eine zwar bescheidene, aber konkrete Handlungsfähigkeit durch die abgelaufenen Aktionstage zu belegen. Eine Bilanz der Aktionstage bringt auch die Probleme ans Licht, die generell da sind, aber die hier spezifisch auftreten; beispielsweise die mangelnde Verzahnung zwischen dem auf Bundesebene stattgefundenen Einigungsprozeß i m EGB und die bedauerliche Lücken aufweisende Zusammenarbeit der verschiedenen Branchensekretariate.

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Nun zu Perspektiven: Es ist nicht zu übersehen, daß eine gewisse Simultanisierung i n den Hauptforderungen gerade durch die Aktionstage vorangekommen ist, vor allem die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit. Dem EGB ist es gelungen, sowohl durch seine Aktionstage als auch durch seine Kongresse den Regierungen zumindest immer wieder diese Kernforderung i n Erinerung zu bringen. Wie weit alle nationalen Mitgliedsbünde und ihre Mitgliedsgewerkschaften auch in ihrer nationalen Politik der Verkürzung der Arbeitszeit die entsprechende Priorität einräumen, ist ein anderes Thema, das ich m i t Interesse i n der Diskussion erwarte, da ja Kollegen aus verschiedenen Bereichen anwesend sind. Als zweite Perspektive kann man angeben, daß neben der Simultanisierung, d.h. der Herstellung von gleichzeitigen Hauptforderungen, auch die Koordination praktischer Aktionen i n der europäischen Gewerkschaftsbewegung möglich ist, insbesondere dann, wenn sie dezentral in einigen Regionen durchgeführt w i r d ; möglichst i n Regionen, die an der Grenze liegen und i n denen eine große Zahl von Kollegen aus verschiedenen Ländern unmittelbar angesprochen werden. Grenzregionen sind periphere Regionen i n der Wirtschafts- und i n der staatlichen Struktur ihrer nationalen Länder, aber die Betroffenheit über internationale Probleme und über die Notwendigkeit europäischer Lösungen ist stark ausgeprägt. Die Kollegen der europäischen Grenzregionen gaben i n den EGB-Aktionstagen Ansporn für alle Gewerkschafter, europäische Solidarität nicht nur verbal mitzutragen, sondern sich persönlich an ihrer praktischen Umsetzung zu beteiligen.

Vorschläge eines nationalen Gewerkschaftsbundes zur Weiterentwicklung der europäischen Gewerkschaftspolitik. Das Beispiel der CFDT Von Roger Briesch, Paris Die Wahl des Themas dieser 16. Internationalen Tagung entspricht unseren Besorgnissen und Fragen, die w i r über die Grenzen hinweg stellen, d. h. den Problemen, mit denen die einen wie die anderen heute direkt konfrontiert sind. Das Ziel der Tagung ist, die derzeitige Lage zu untersuchen und gemeinsam über mögliche Antworten nachzudenken. Die von uns zu lösenden Probleme äußern sich zwar i n jedem Land auf unterschiedliche Weise, doch bleibt der alle verbindende Tatbestand, daß die Arbeitnehmer und die Bevölkerung i n unterschiedlichem Maße die Auswirkungen der Krise und der Kapitalumstrukturierung tragen müssen. Damit stellt sich die Frage: Sind w i r i n dieser Lage fähig, dem außerordentlichen Druck, dem w i r ausgesetzt sind, Widerstand zu leisten, gemeinsam Forderungen zur Änderung der Lage zum Ausdruck zu bringen und die notwendigen Aktionen zur Einlösung dieser Forderungen zu entwickeln? U m eine effiziente Lösung für die Probleme der Arbeiter zu finden, muß unsere A k t i o n notwendigerweise eine europäische, eine internationale Dimension erhalten. 1. Zunächst einige Anmerkungen zur gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage: I n Frankreich arbeiten zwei von fünf Industriearbeitern für den Export. Französische Privat- und Staatsfirmen haben Tochtergesellschaften i m Ausland eingerichtet. I n der Textilbranche überführt die Industrie ganze Betriebe i n Länder mit billigen und nichtorganisierten Arbeitskräften. Bei der Erpressung mit dem Arbeitsplatz, die so auf die Arbeitnehmer ausgeübt wird, beruft man sich auf die Konkurrenzsituation. I n den Spitzenbereichen der Industrie (Flugzeug-, EDV-, Nuklearindustrie) erschwert die Überlagerung der Interessen der großen m u l t i nationalen Konzerne und des Staates das Leben von ganzen Regionen. Bestimmte Industriezweige und insbesondere die historischen Zweige, die die Grundlage für die Wirtschaft gebildet haben, unterliegen starken Erschütterungen.

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Es vollzieht sich eine industrielle Umstrukturierung: Entwicklung neuer Branchen unter dem Druck der internationalen Konkurrenz und i n der Folge: Werksschließungen, Entlassungen, Arbeitszeitverkürzungen, Herabstufungen, Erhöhung der Kadenzen, Ausbau der Schichtarbeit, Entvölkerung zahlreicher Regionen. Und schließlich die Arbeitslosigkeit: A l l e i n i n Westeuropa sind mehr als 6 M i l l . Arbeitnehmer betroffen. Kein Land ist von ihr verschont geblieben. Überall sind die Jugend, die Frauen und die ausländischen Arbeiter die Hauptopfer. Somit sehen w i r einerseits Millionen von Arbeitslosen i n ständiger Sorge u m ihren Lebensunterhalt und andererseits Frauen u n d Männer, die sich abhetzen, u m bei 40 Arbeitsstunden (zuzüglich der Zeit, die für den Arbeitsweg benötigt wird) den Haushalt und die Erziehung der Kinder zu bewältigen; einerseits Millionen von Frauen und Männern i n Unterbeschäftigung, andererseits Arbeitnehmer, die der Arbeitsintensität, dem Wettlauf u m die Produktivität unterworfen sind; einerseits Millionen von Frauen und jungen Menschen, die sich wünschen, arbeiten zu können, andererseits eine Gesellschaft, die sich weigert, kollektive Einrichtungen auszubauen: Kindertagesstätten, sozial-kulturelle Einrichtungen, soziale Zentren zur Versorgung der Kranken und Bedürftigen. Von den Ländern der Dritten Welt geht schließlich die Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung aus. Sie aber w i r d nur unter der Bedingung zustande kommen, daß es einer m i t allen fortschrittlichen Kräften verbündeten weltweiten Gewerkschaftsbewegung gelingt, die Ausbeutungs- und Beherrschungsmechanismen finanzieller, w i r t schaftlicher, politischer, kultureller und technologischer A r t aufzubrechen. Es könnten zahlreiche Beispiele aufgeführt werden für den täglichen Einfluß von auf internationaler Ebene getroffenen Entscheidungen auf das Leben der Arbeitnehmer. Wie und m i t welchen M i t t e l n können w i r uns demgegenüber Gehör und Gewicht verschaffen, auf Entscheidungen einwirken, Aktionen koordinieren, u m Lösungen i m Interesse der Arbeitnehmer durchzusetzen? Die internationale A k t i o n ist ein Element unserer allgemeinen Aktionspolitik, u m den Machtzentren dort zu begegnen, wo sie anzutreffen sind. Die Koordinierung der A k t i o n auf internationaler Ebene w i r d dann erleichtert, wenn die Arbeitnehmer feststellen, daß sie über die Unterschiede hinweg mit gleichartigen Problemen konfrontiert sind, die von Entscheidungszentren ausgehen, auf die sie keinen Einfluß haben, wenn sie nicht gemeinsam handeln. Was Europa angeht, so gibt es keine wirkliche politische Gemeinschaft. Die EWG hat eine Freihandelszone eingerichtet, die sich für

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Großunternehmen und diverse herrschende Unternehmen i n den neun europäischen Staaten gewinnbringend auswirkte. Europa ist lediglich ein gemeinsamer Markt. Es hat sich als ebenso unfähig erwiesen, i m Industrie-, Energie- und Sozialbereich eine Gemeinschaftspolitik zu fördern, wie kohärente Strategien gegenüber den Staaten und Blöcken sowie den Großkonzernen Nordamerikas und Japans zu entwickeln. Die CFDT hat sich immer für ein offenes demokratisches, von den Großmächten unabhängiges Europa ohne Wälle zum Schutz der nationalen Egoismen, aber i m Dienst der europäischen Völker und Arbeitnehmer ausgesprochen. Solange die multinationalen Konzerne ihren Willen durchsetzen, w i r d es keine echte „Europäische Gemeinschaft" geben. 2. Aus all diesen Gründen räumt die CFDT dem Europäischen Gewerkschaftsbund Priorität ein. Ihre Handlungen sind so ausgerichtet, daß der EGB w i r k l i c h zum europäischen Gewerkschaftsorgan wird, um die Arbeitnehmer für gemeinsame Forderungen und eine andere W i r t schafts- und Sozialpolitik zu mobilisieren und u m einen Beitrag zur Erneuerung der internationalen Gewerkschaftsbewegung zu leisten. A u f europäischer Ebene spielt dieser Gewerkschaftsbund somit eine bedeutende Rolle. Durch die Zahl seiner Mitglieder stellt er eine starke Organisation dar, doch müssen noch Anstrengungen zum Ausbau seines Zusammenhalts und seiner analytischen Leistungsfähigkeit gemacht werden. Dazu zwei Anmerkungen: a) Der Europäische Gewerkschaftsbund muß zu einem wirksamen Aktionsinstrument werden. Dies bedingt, daß er bei den angeschlossenen nationalen Dachverbänden die Einsicht i n die Gemeinsamkeit der Situationen, denen sie sich gegenübergestellt sehen, sowie der daraus abzuleitenden Forderungen und Aktionsformen zu einem integralen Bestandteil ihrer Polit i k werden läßt. I m einzelnen, — daß er zum gemeinsamen Nachdenken über Fragen, die sich allen Dachverbänden stellen, anregt, damit gemeinsame Analysen und Forderungen entstehen, insbesondere i n den vorrangigen Bereichen der Beschäftigung, der Einkommen, der Lebens- und Arbeitsbedingungen, der gewerkschaftlichen und bürgerlichen Rechte und Freiheiten, der Lage der Arbeitnehmerinnen; — daß eine Strategie entwickelt wird, die konvergierende und gemeinsame Aktionen ermöglicht: massive Informationskampagnen, Durchführung von Kundgebungen, konzertierte Arbeitsniederlegungen usw.;

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Roger Briesch

— daß er die Mitgliedschaftsanträge repräsentativer Spitzenorganisationen m i t einer positiven Einstellung aufnimmt und untersucht. Nur so kann ein Kräfteverhältnis geschaffen werden, das es dem EGB ermöglicht, die europäischen Arbeitgeber an den Gesprächstisch zu zwingen und Tarifverträge und Rahmenabkommen über vorrangige Themen erfolgreich auszuhandeln. Zugleich könnte der Europäische Gewerkschaftsbund besser auf die europäischen Organe einwirken und auch hier die Problemstellungen und Prioritäten der Arbeitnehmer besser zur Geltung bringen — statt lediglich auf Vorschläge dieser Organe zu reagieren. b) I m Europäischen Gewerkschaftsbund müssen die europäischen Gewerkschaftsausschüsse ihren festen Platz haben. U m ihre volle W i r k samkeit zu erreichen, muß die vom Europäischen Gewerkschaftsbund angeregte Gewerkschaftsaktion i n Europa aus einer engen Zusammenarbeit zwischen den Dach- und Branchen- bzw. Berufsverbänden hervorgehen. Dabei ist es wichtig, daß sich der Europäische Gewerkschaftsbund auf die europäischen Branchenstrukturen, also die Gewerkschaftsausschüsse, stützt. Die Gewerkschaftsausschüsse müssen sich v o l l i n die A k t i o n und da Leben des Europäischen Gewerkschaftsbunde integrieren, sowohl bei der Situationsanalyse wie bei der Definition der Forderungen, der Festlegung der Aktionsformen und der Arbeitsweise der Strukturen des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Dies ist von grundlegender Bedeutung, w i l l sich der Europäische Gewerkschaftsbund i n der Realität der Arbeitskämpfe verankern. Um die Wirksamkeit der gemeinsamen und konkreten A k t i o n sicherzustellen, muß sich der Europäische Gewerkschaftsbund auf die internationale Branchenaktion der europäischen Gewerkschaftsausschüsse stützen. Nur so kann er ernsthaft und effizient den Entscheidungen entgegentreten, die i n unterschiedlichen Bereichen getroffen werden und die das Leben der Arbeitnehmer und ganzer Regionen beeinflussen, wie ζ. B. die Entscheidungen i n der Stahl- und i n der Automobilindustrie. Die Gewerkschaftsausschüsse haben die Aufgabe, — eine Analyse der Lage der Arbeitnehmer aufzustellen; — die Gemeinschaftsforderungen und -aktionen auszuarbeiten; — die A k t i o n auf der Ebene derjenigen multinationalen Konzerne zu organisieren, deren Sitz oder schwerpunktmäßige Tätigkeit i n Europa liegt; — die Interessen der Arbeitnehmer bei den Arbeitgeberorganisationen und den europäischen Organen zu vertreten. Die Gewerkschaftsausschüsse müssen — bei Wahrung des eigenen Profils der angeschlossenen Gewerkschaften — einen Einheitscharakter

Weiterentwicklung der europäischen Gewerkschaftspolitik

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haben und ohne Ausnahme allen Branchengewerkschaften offenstehen, die den Dachverbänden, die Mitglieder des EGB sind, angeschlossen sind. I n diesem Sinne unterstützt die CFDT ohne Vorbehalte auch die Bildung der Interregionalen Ausschüsse. 3. Welches sind nun die Vorschläge und Forderungen der CFDT? Aufgabe der Gewerkschaftsbewegung kann es nicht sein, die W i r t schaftsbelebungsprogramme der Regierungen zu stützen, die sich i n den unterschiedlichen Industrieländern nach denselben Grundsätzen entwickeln und nur zur Aufrechterhaltung der gegebenen Situation, nicht aber zu deren Veränderung führen. Diese Programme der nationalen Regierungen zielen darauf ab, die Kampfkraft der Arbeitnehmer zu schwächen und eine Situation zu stabilisieren, die es den Kapitalisten ermöglicht, ihre Lösungsvorschläge durchzusetzen. Insbesondere sind sie den Interessen der Großunternehmen verpflichtet. Sie stehen damit einer Entwicklung i m Wege, die sich nach Kriterien einer alternativen sozialen Wachstumsdynamik vollziehen könnte. Schließlich sind sie darauf angelegt, die Bedingungen für eine internationale Wirtschaftsordnung zu schaffen, die den Absatzmärkten und den Handelsinteressen der Großfirmen und hochentwickelten Industriestaaten den Vorzug geben. Es liegt somit i n der Verantwortung der Gewerkschaften, Perspektiven aufzuzeigen, die den Kampf der Arbeitnehmer orientieren und unterstützen, sowie neue Aktionsfelder eröffnen. Dabei kommt es darauf an, kurzfristig notwendige Aktionen und demokratische Zielvorstellungen zur Gesellschaftsveränderung i n Übereinstimmung zu bringen. I n diesem Sinne stellt die CFDT die folgenden Forderungen zur kurzfristigen Lösung der dringenden und unmittelbaren Probleme der A r beitnehmer: — Gezielte Stärkung der Kaufkraft der Arbeitnehmer durch selektive Maßnahmen der Einkommens- und Steuerpolitik, die geeignet sind, die Kaufkraft besonders der schwächsten Gruppen zu stärken, ausgleichende Korrekturen der Einkommensskalen vorzunehmen und ungerechtfertigte Unterschiede abzubauen. — Entwicklung einer qualitativen Beschäftigungspolitik m i t dem Ziel einer Verringerung der Arbeitszeit. Es ist besser, Arbeitnehmer zu bezahlen, als Arbeitslose zu unterstützen. — Veränderung der Arbeitsbedingungen als ein Mittel, das gleichzeitig sofortige Auswirkungen und strukturelle Konsequenzen hat: Über18 Tagung Dortmund 1981

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Roger B r e s c h

wachung der Arbeitsbelastungen, m i t Vorrang bei Band- und Schichtarbeit, Herabsetzung der Kadenzen, Infragestellung der sozialen Arbeitsteilung. — Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten der Gewerkschaften und Arbeitnehmer i n den Betrieben. Sie sind unabdingbare Ergänzungen einer Forderungspolitik. Sie ermöglichen den Schutz der Arbeitnehmer, die quantitative und qualitative Anhebung der Beschäftigung sowie eine Ausdehnung der industriellen Demokratie. — Sofortige Neuorientierung der Wirtschaft auf qualitativ andersartige Produktionsziele. I n diesem Zusammenhang etwa: Entwicklung kollektiver Einrichtungen i m Bildungs-, K u l t u r - , Gesundheitsund Sozialbereich als Elemente des sozialen Wandels und als Anreiz für eine Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze schaffende Entwicklung, die auf anderen Prioritäten beruht. — Kontrolle bestimmter Produktionen und Technologien, ζ. B. der Waffenproduktion. — Kontrolle der Zuweisung öffentlicher M i t t e l an die Industrie unter Berücksichtigung sozialer Zielsetzungen und Gemeinschaftsinteressen, insbesondere hinsichtlich der Arbeitsplätze. Gegebenenfalls: Verstaatlichungen. — Durchführung einer von aktiver Solidarität bestimmten internationalen Gewerkschaftspolitik, die i n der Lage ist, — die Annäherung der Gewerkschaftspolitiken verschiedener Länder zu gewährleisten; — die sozialen Kämpfe über die Staatsgrenzen hinaus zu koordinieren; — eine effektive Solidarität zwischen den Arbeitnehmern der Industriestaaten und der i m Industrialisierungsprozeß stehenden Staaten herzustellen — und zwar auf der Grundlage von Gegenseitigkeits- und Gleichheitsbeziehungen; — sich über die Blockpolitik und die Spaltungen des kalten Krieges hinwegzusetzen und somit den Ausbau solcher internationaler Beziehungen zu gewährleisten, die nicht auf der Staatsraison, sondern auf den Klasseninteressen der Arbeitnehmer basieren. Diese internationale gewerkschaftliche Annäherung und Koordination ist u. E. notwendig, u m die Verschärfung der Ungleichheiten zwischen den Staaten und den Arbeiterklassen zu verhindern; u m Versuchen, neue Formen der internationalen Arbeitsteilung einzuführen, entgegenzutreten, u m engbemessenen nationalistischen Politiken, die sich auf Protektionismus und Isolation stützen, entgegenzuwirken und eine Rückkehr zur Politik des Kalten Krieges zu verhindern.

Weiterentwicklung der europäischen Gewerkschaftspolitik

275

Nur einer auf eine aktive Solidarität gegründeten Gewerkschaftspolitik w i r d es möglich sein, die neuen Garantien und Rechte zu erringen, die den materiellen Interessen der Arbeitnehmer sowie deren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Emanzipation entsprechen, sowie eine Wirtschaftsordnung durchzusetzen, die w i r k l i c h neu ist, w e i l sie auf den realen Bedürfnissen der Völker basiert. I n einer solchen Wirtschaftsordnung werden die Entscheidungen auf der Ebene der Betroffenen selbst gefällt, und zwar auf der Grundlage demokratischer Auseinandersetzungen und durch diejenigen Institutionen und Organisationen, die die Arbeiter sich selbst geschaffen haben. Für uns ist eine Alternative zum gegenwärtigen System erforderlich. Diese Alternative kann nur demokratischer Natur sein. Wenn es uns somit täglich gelingt, den Gewerkschaftskampf i n der gegenseitigen Annäherung und Solidarität neu zu beleben, w i r d Europa seiner besonderen Aufgabe gerecht werden können: Ein Europa, das i n der Lage ist, sich autonom gegenüber den Großmächten und multinationalen Konzernen zu behaupten. Es wäre ein bedeutender Faktor für den Frieden und die Sicherheit i n der Welt. Es wäre ein anderes Europa, ein sozialistisches Europa, ein Europa der Arbeitnehmer. Ein derartiges Europa ist unseren kämpferischen Einsatz wert.

Europäische Gewerkschaftspolitik und Entwicklungsländer. Das Beispiel der Textilgewerkschaf ten Von Werner Olle, Berlin Europäische Gewerkschaftspolitik wäre heute zweifellos nur unzureichend charakterisiert, wollte man sich auf die Frage nach den Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Restriktionen einer grenzüberschreitenden Kooperation der Gewerkschaften innerhalb der westeuropäischen Region begrenzen. Gerade das letzte Jahrzehnt weltwirtschaftlicher Strukturveränderungen hat dokumentiert, daß gewerkschaftliche Interessenvertretung auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene i n Westeuropa i n wachsendem Umfang durch Einflußfaktor en bestimmt wird, die außerhalb der westeuropäischen Region — und auch außerhalb des Kreises der traditionellen Industrienationen — liegen. Ob w i r das Beispiel der Eisen- und Stahlindustrie, der Feinmechanik und Optik, der Uhrenindustrie, der Werftindustrie, des Fahrzeugbaus, von Teilen des Maschinenbaus und der Elektrotechnik/Elektronik, der Chemiefaserindustrie, der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Schuhund Lederindustrie usw. nehmen, überall zeigt sich, daß die i n diesen Branchen eingetretenen Strukturveränderungen heute nur noch als weltweites Phänomen zu begreifen sind, d.h. unter vollem Einschluß der Entwicklungsländer. Damit stellt sich aber auch für die europäischen Gewerkschaftsausschüsse neben der Frage nach ihrem organisatorischen Status, ihrer gewerkschaftspolitischen Ausrichtung und ihrer Funktionsbestimmung auf westeuropäischer Ebene zusätzlich das Problem, europäische Gewerkschaftspolitik auch hinsichtlich der Auswirkungen einer Einbeziehung der Entwicklungsländer i n eine neue internationale Arbeitsteilung zu definieren. Auch wenn die Textil- und Bekleidungsindustrie keineswegs der einzige Industriezweig ist, i n dem diese Verschränkung von europäischer Gewerkschaftspolitik und weltweiten Einflußfaktoren für gewerkschaftliches Handeln sichtbar wird, so t r i t t die Problemstellung hier dennoch besonders deutlich zutage. Erst vor wenigen Wochen (am 2. Dezember 1980) haben die europäischen Gewerkschaften dieses Industriezweiges durch eine einstündige Arbeitsniederlegung erneut dokumentiert, welche Bedeutung sie den weltwirtschaftlichen Strukturveränderungen für gewerkschaftliche Politik i n Westeuropa beimessen.

Europäische Gewerkschaftspolitik u n d Entwicklungsländer

277

Was veranlaßte die Gewerkschaften zu dieser — i n Form und Umfang einmaligen — Aktion, mit der sie ihrer Forderung nach einer Verlängerung und Verbesserung des gegenwärtigen Welttextilabkommens Nachdruck verleihen wollten? „ I n 12 Jahren haben unsere Industrien fast ein Drittel ihrer gesamten Arbeitsplätze opfern müssen. Die Experten schreiben die Hälfte dieser Verluste dem Druck der Niedrigpreisimporte zu. Selbst i m Jahre 1980 haben diese Importe spektakulär zugenommen und dies trotz aller Abkommen", heißt es i n einem Offenen Brief des Europäischen Gewerkschaftsausschusses Textil-Bekleidung-Leder an den Präsidenten der EG-Kommission Roy Jenkins. Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist allerdings nicht nur ein allgemeines Beispiel für die wachsende Bedeutung der Entwicklungsländer für die Handlungsbedingungen der Gewerkschaften i n den Industrienationen; sie gilt zugleich als Beispiel i n einem sehr spezifischen Sinne. Spezifisch insofern, als hier der Bezug der westeuropäischen Gewerkschaften zur entwicklungspolitischen Problematik ausschließlich über drohende Arbeitsplatzverluste in den Industrienationen motiviert ist und rein defensiver Natur zu sein scheint. Unter dem Stichwort „Protektionismus" w i r d daher gerade am Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie vielfach die metropolitane Orientierung internationaler Gewerkschaftspolitik zum Gegenstand der K r i t i k . Ehe man allerdings einen solchen Vorwurf ausspricht, sollte man sich zunächst den Hintergrund und den Begründungszusammenhang der gewerkschaftlichen Forderungen zum Welttextilabkommen im Detail vergegenwärtigen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher i m wesentlichen auf diesen Ausschnitt der Gesamtproblematik „Europäische Gewerkschaftspolitik und Entwicklungsländer". 1. Entwicklungstendenzen der Welttextilindustrie I m letzten Jahrzehnt sind i n der Welttextilindustrie einschneidende Strukturveränderungen eingetreten, die selbst auf der Ebene von Daten zur Weltproduktion, zur Weltausfuhr und zur Weltbeschäftigung hinreichend belegt werden können. — Weltproduktion I m letzten Jahrzehnt hat sich die Wachstumsrate der textilen Weltproduktion insgesamt deutlich verlangsamt und sich dabei zugleich zwischen den einzelnen Regionen stark differenziert. Während die Wachstumsraten i n den Industrienationen rückläufig sind (in den 70er Jahren betragen sie nur noch jahresdurchschnittlich 1,5%), verzeichnen die Entwicklungsländer und Staatshandelsländer anhaltend hohe Wachstumsraten (jahresdurchschnittlich 4,5% i n der Textil-, 6 %

278

Werner Olle

i n der Bekleidungsindustrie). Dieser Prozeß einer Produktionsverlagerung an neue Standorte wäre für die Arbeitsplätze und damit auch für die gewerkschaftliche Interessenvertretung bedeutungslos, wenn er von einer Nachfrageverlagerung i n dem Sinne begleitet wäre, daß die expandierende Textil- und Bekleidungsproduktion i n den Entwicklungsländern für den immensen heimischen Bedarf bestimmt wäre. Aber gerade dies ist jedoch nicht der Fall. — Weltausfuhr Ungleich expansiver als die Wachstumsraten der Produktion, haben sich die Zuwachsraten der Entwicklungsländer-Exporte entwickelt. I n den 70er Jahren wachsen die Textilexporte der Entwicklungsländer u m 34%. Damit hat sich das Exportvolumen der Entwicklungsländer innerhalb relativ kurzer Zeit etwa vervierfacht. Aber nicht allein dieser globale Zuwachs, sondern insbesondere zwei Strukturmerkmale sind für die Gewerkschaften von Bedeutung. Die Entwicklungsländer-Exporte gehen einerseits ganz überwiegend i n die Märkte der Industrienationen (zu ca. 70 °/o) und entstammen andererseits ganz überwiegend aus wenigen Entwicklungsländern (ca 8 0 % kommen aus den süd- und südostasiatischen Entwicklungsländern). Bei rückläufigen Wachstumsraten der Weltproduktion (und Weltnachfrage) mußte diese Entwicklung zu wachsenden Importüberschüssen der Industrieländer i m Textil- und Bekleidungssektor führen. Ende der 60er Jahre weist der textile Außenhandel der Industrienationen m i t den Entwicklungsländern erstmals Importüberschüsse auf: i n den 70er Jahren haben sich diese etwa verzehnfacht. — Weltbeschäftigung Eine parallele Strukturveränderung läßt sich hinsichtlich der weltweiten Beschäftigung i n diesen Industriezweigen ausmachen. I n den letzten zehn Jahren hat sich die Beschäftigungszahl i n der Welttextilindustrie nicht wesentlich erhöht. I n den einzelnen Regionen der Welt sind jedoch höchst gegenläufige Entwicklungstendenzen eingetreten: — i n den Industrienationen beschleunigt sich i m Verlauf der 70er Jahre der Beschäftigungsrückgang (jahresdurchschnittlich — 3 % ) ; besonders krass i n den Textil- und Bekleidungsindustrien der EG, deren Beschäftigtenzahl sich i m Verlauf der 70er Jahre u m knapp 1. Mio. Beschäftigte verringert, — i n den Staatshandelsländern nimmt die Beschäftigung noch leicht zu (jahresdurchschnittlich u m 4- 1 %), — die Entwicklungsländer verzeichnen demgegenüber bedeutende Zuwächse (jahresdurchschnittlich + 4,5 % i n der Textil-, + 8,3 % i n der Bekleidungsindustrie).

Europäische Gewerkschaftspolitik u n d E n t w i c k l u n g s l ä n d e r 2 7 9

Diese Zahlen weisen aus, daß i n den letzten zehn Jahren i n der Welttextilindustrie nicht nur eine Produktionsverlagerung, sondern auch eine Arbeitsplatzverlagerung an neue Standorte insbesondere i n Entwicklungsländer stattgefunden hat. 2. Der beschäftigungspolitische Problemdruck für die Gewerkschaften in den Industrienationen Gerade diejenigen, die sich der Dimensionen der Massenarmut i n Entwicklungsländern bewußt sind, können häufig das Verhalten der Gewerkschaften i n den Industrienationen nicht verstehen. Die Industrienationen verfügen doch über eine komplexe Industriestruktur; über Kapital, Technologie und qualifizierte Arbeitskräfte; zudem über Exportüberschüsse i n einer Reihe anderer Industriezweige — warum also widersetzen sich die Gewerkschaften der Industrienationen so vehement den Textil- und Bekleidungsimporten aus Entwicklungsländern? U m diese Reaktion verständlich zu machen, müssen eine Reihe von strukturellen Faktoren berücksichtigt werden: — I n den letzten zehn Jahren hat nicht nur ein Prozeß der Produktionsverlagerung i n dem Sinne stattgefunden, daß die inländische Produktion quantitativ verringert wird, die verbliebene Produktion i m übrigen aber unangetastet bleibt. Dieser Prozeß ist vielmehr m i t Produkt- und Prozeßinnovationen im Inland kombiniert, die ihrerseits beschäftigungsmindernd wirken. Gerade i n der Textilindustrie sind weit über dem Durchschnitt der Industrie liegende Rationalisierungsund Automatisierungsinvestitionen vorgenommen worden; i n der Bekleidungsindustrie steht eine analoge Entwicklung unmittelbar bevor. — Zweitens hat sich das Spektrum von Industriezweigen, die i n eine „Strukturkrise" geraten sind, fortlaufend erhöht. Dies gilt sowohl für Industriezweige, die unmittelbar m i t der Textil- und Bekleidungsindustrie verknüpft sind (Chemiefaser, Bekleidungs- und Textilmaschinen), als auch für eine Fülle weiterer Branchen (Feinmechanik und Optik, Stahl, Schiffbau, Teile des Maschinenbaus und der Elektrotechnik). Insgesamt hat dieser Prozeß dazu geführt, daß sich die Möglichkeiten zu kompensatorischen Beschäftigungseffekten, wie sie noch i n den 60er Jahren bestanden, bedeutend verringert haben. — Drittens — und dies ist vielleicht der wichtigste Faktor — ist der Beschäftigtenabbau i n der Textil- und Bekleidungsindustrie regional und strukturell konzentriert Betroffen sind insbesondere Regionen, i n denen Unternehmen der Textil- und Bekleidungsbranche vielfach der wichtigste Arbeitgeber sind, so daß der Arbeitsplatzverlust i n diesen Industriezweigen für die Betroffenen unweigerlich m i t dem Zwang zur

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Werner Olle

regionalen Mobilität und den damit verbundenen Belastungen verknüpft ist. Betroffen sind zudem vor allem weibliche Arbeitskräfte, die i n der Bekleidungsindustrie und der größten Einzelsparte der Textilindustrie (der Maschenindustrie) m i t ca. 70 °/o den weit überwiegenden Teil der Arbeitskräfte stellen. Umfang und Struktur des Beschäftigtenabbaus i n der Textil- und Bekleidungsindustrie, der zu einem erheblichen Teil auf wachsende Importüberschüsse bzw. beschäftigungsmindernde Anpassungsstrategien der inländischen Unternehmen zurückgeführt werden kann, veranlassen die Gewerkschaften dazu, nach einem begrenzten außenwirtschaftlichen Flankenschutz zu verlangen, wie i h n das Welttextilabkommen darstellt. 3. Die Forderung nach einem neuen Welttextilabkommen Das Welttextilabkommen erfaßt den Welthandel m i t Textilien und Bekleidung aller Faserarten (daher auch der Name „Multifaserabkommen" i m Unterschied zu den Baumwollfaser abkommen der 60er Jahre). Ein solches Welttextilabkommen existiert seit 1974 und wurde 1978 erneut m i t vierjähriger Laufzeit verlängert. Vertragspartner des Welttextilabkommens sind einerseits Industrienationen, andererseits über 20 Entwicklungsländer sowie einige Staatshandelsländer. Hinzu kommen weitere Länder, m i t denen bilaterale Selbstbeschränkungsabkommen identischen Inhalts abgeschlossen wurden. Bilaterale A b k o m m e n der E G i m Rahmen des Welttextilabkommens

A. Entwicklungsländer

(24)

Argentinien, Brasilien, Guatemala, H a i t i , Kolumbien, Mexiko, Peru, Uruguay Bangla Desh, Hongkong, Indien, Indonesien, Iran, Israel, Macao, Malaysia, Pakistan, Philippinen, Singapur, Sri Lanka, Südkorea, T h a i l a n d Ägypten Jugoslawien

B. Staatshandelsländer

(3)

Polen, Rumänien, Ungarn Sonstige A b k o m m e n : — autonome Maßnahmen der E G (Taiwan sowie die nicht unter Β genannten Staatshandelsländer) — freiwillige Selbstbeschränkungsabkommen (Griechenland, Malta, Portugal, Spanien, Türkei, Zypern, Marokko, Tunesien) Quelle: Textüe Asia 11/1978, S. 105.

Europäische Gewerkschaftspolitik u n d Entwicklungsländer

281

Was beinhaltet das Welttextilabkommen? Es bedeutet kein Importverbot, sondern regelt ausschließlich die Importzuiüächse i n die Industrienationen. Das gegenwärtig noch gültige Welttextilabkommen sieht ζ. B. vor, daß die Menge der importierten Textilien global m i t jahresdurchschnittlich 6 % anwachsen darf. Dieser globale Mengenzuwachs ist i m 2. Welttextilabkommen nach einem differenzierten Verfahren aufgeschlüsselt worden: — zum einen erfolgt eine Differenzierung nach Produktgruppen. Alle Textil- und Bekleidungswaren werden je nach dem Marktanteil der Importe i n 6 Gruppen unterschiedlicher Sensibilität eingeteilt. Die hochsensiblen Produkte, bei denen Importwaren einen Marktanteil von über 2 5 % behaupten, verfügen nur über eine unterdurchschnittliche Zuwachsrate (von 1,5%), während weniger sensible Produkte höhere Zuwachsraten aufweisen. — Zum anderen erfolgt eine Differenzierung nach Ländern. Dabei w i r d den größten Exportländern (wie z.B. Hongkong, Südkorea) eine äußerst geringe Zuwachsrate eingeräumt, während andere Entwicklungsländer m i t höheren Zuwachsraten ihre Exporte steigern können. Diese Differenzierung erfolgt nicht nur für die Export-, sondern auch für die Importländer. So werden ζ. B. innerhalb der EG ländermäßige Anteile für die einzelnen Produktgruppen festgelegt. Dadurch w i r d das Welttextilabkommen i n technischer Hinsicht ein äußerst umfangreiches und kompliziertes Vertragswerk, das auch die Kontrolle seiner Einhaltung äußerst schwierig macht. Angesichts des trotz Welttextilabkommens fortschreitenden Beschäftigungsabbaus fordern die Gewerkschaften nicht nur die Verlängerung dieses Ende 1981 auslaufenden Abkommens, sondern zugleich einige restriktivere Inhalte: — die Laufzeit von bisher 4 Jahren soll auf 10 Jahre ausgedehnt werden, — der Mengenzuwachs von bisher 6 % soll drastisch gekürzt werden (auf 1,5 %), — der Katalog der hochsensiblen Produkte soll erheblich erweitert werden (ab einem Marktanteil der Importe von 13 % statt bisher 25%), — die Hauptexportländer (namentlich Hongkong, Südkorea, Taiwan, Brasilien) sollen ihre Exporte verringern, d.h. Minuswachstumsraten.

282

Werner Olle

I n all diesen Forderungen stimmen Gewerkschaften und Unternehmerverbände v o l l überein. Die Unternehmen insbesondere der Bekleidungsindustrie machen keinen Hehl daraus, daß es ihnen vor allem u m einen zeitlichen Rahmen geht, der die unternehmerischen Investitionen kalkulierbar macht. M i t anderen Worten: es w i r d unüberhörbar nach einem außenwirtschaftlichen Flankenschutz verlangt, der die bevorstehenden technologischen Innovationen (z. B. i n der Näherei) absichern soll. Demgegenüber betonen die Gewerkschaften, daß es ihnen u m eine Verknüpfung der beschäftigungspolitischen Interessen i n den Industrienationen m i t den entwicklungspolitischen Interessen der ärmsten Regionen der Welt geht. Der Beschäftigtenabbau i n den Industrienationen soll zumindest verlangsamt, der A n t e i l der ärmsten Entwicklungsländer am Welthandel erhöht werden. Die Gewerkschaften unterstreichen zudem, daß Nutznießer einer neuen internationalen Arbeitsteilung nicht nur die Multis, Importhändler und lokalen Eliten sein dürfen, sondern daß dieser Prozeß auch von einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen i n den Entwicklungsländern begleitet sein müsse. Aus diesem Grunde fordern sie erneut eine Sozialklausel, die die Vertragspartner dazu verpflichten soll, bestimmte Mindestnormen einzuhalten (z.B. Koalitions-, Tarifund Streikrecht — Festlegung von Mindestlöhnen und Höchstarbeitszeiten — Mindestalter für die Beschäftigung von Jugendlichen usw.). Es ist fast überflüssig, darauf hinzuweisen, daß diese gewerkschaftliche Forderung auf keine Gegenliebe seitens der Unternehmen stößt. Hintergrund und Inhalt der gewerkschaftlichen Forderungen dokumentieren, daß es hier nicht pauschal u m einen Protektionismus geht, sondern u m einen differenzierten Versuch, sowohl die beschäftigungspolitischen Probleme i n den Industrienationen, als auch die entwicklungspolitischen Probleme anzugehen. Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob das Welttextilabkommen „protektionistisch" sei, sondern ob es i n der Lage ist, als beschäftigungs- und entwicklungspolitisches Steuerungsinstrument zu fungieren. Ehe w i r uns dieser Frage zuwenden, sei jedoch kurz auf die K r i t i k der Entwicklungsländer an den gegenwärtigen Forderungen zur Verlängerung des Welttextilabkommens verwiesen. 4. Die Kritik der Entwicklungsländer Daß derart weitgehende Forderungen von den Entwicklungsländern nicht akzeptiert werden können, hat unlängst eine Konferenz bestätigt, die eine erste Sondierung der Positionen beinhaltete (Conference on International Trade i n Textiles and Clothing, 27. - 29. Mai 1980 i n Brüs-

Europäische Gewerkschaftspolitik u n d E n t w i c k l u n g s l ä n d e r 2 8 3

sei). Die dort vorgetragenen Stellungnahmen der Vertreter Brasiliens, Hongkongs und Sri Lankas sowie eines Repräsentanten der UNCTAD haben exemplarisch dokumentiert, daß derartige Forderungen seitens der Entwicklungsländer als Bruch m i t den ursprünglichen Zielsetzungen des Welttextilabkommens interpretiert werden. Die Entwicklungsländer kritisieren zunächst die quantitative wie sie i n den Industrienationen vorherrscht.

Optik,

— Sie verweisen zurecht darauf, daß auch heute noch die Industrienationen i m Welttextilhandel dominieren. Nach Angaben der UNCTAD entfielen 1977 — d. h. auch nach einem Jahrzehnt stürmisch angewachsener Exporte der Entwicklungsländer — immer noch 6 4 % der Weltexporte i m Bereich Textil/Bekleidung auf die Industrienationen gegenüber nur 2 6 % der Entwicklungsländer. Identische Prozentsätze zeigt auch die Regionalstruktur der Importe der Industrienationen i n diesem Sektor, die ebenfalls zu zwei Dritteln aus anderen Industrienationen entstammen.

jährliche Wachstumsrate der Exporte 1970 - 1977 (in °/o) A n t e i l am Weltexport 1977 (in %) Regionale Herk u n f t der I m porte der I n d u strienationen 1977 (in %)

Textil und Bekleidung

Bekleidung

Textil Welt

Industrienationen

Entwicklungsländer

Welt

Industrienationen

Entwicklungsländer

Welt

Industrienationen

15,4

14,3

19,3

20,9

16,8

30,4

17,4

15,1

25,0



72,9

19,4



50,9

36,7



63,7

26,5



78,7

15,7



52,0

37,1



65,9

26,0

|Entfwick[lungs[länder

Quelle: U N C T A D : Trade in manufacturies of developing countries and territories 1977 reviews, New York 1980

— Diese Feststellung ist m i t zwei Schlußfolgerungen verknüpft: zum einen, daß die Importe aus Entwicklungsländern i n einem unvertretbaren Maße für Arbeitsplatzverluste i n den Industrienationen verantwortlich gemacht werden; zum anderen, daß den Entwicklungsländern i n unvertretbarem Maße außenwirtschaftliche Restriktionen aufgebürdet werden.

284

Werner Olle

— Letzteres sei umso unverständlicher, als die Exporte der Entwicklungsländer i m Textil- und Bekleidungsbereich zu einem erheblichen Teil auch Inputs aus den Industrienationen enthielten. Dies zeigt sich nicht nur darin, daß die Entwicklungsländer lediglich i m Bekleidungssektor über Exportüberschüsse i m Handel m i t den Industrienationen verfügen (1977 + 5,9 Mrd. Dollar), nicht aber i m Textilsektor (1977 — 3,4 Mrd. Dollar), da hier die Bezüge von Vorprodukten aus den Industrienationen überwiegen. Hinzu kommen die Bezüge der Entwicklungsländer bei Chemiefasern sowie Textil- und Bekleidungsmaschinen. — Schließlich sei die Vorstellung gänzlich abwegig, i n einem Sektor wie der Textil- und Bekleidungsindustrie isoliert auf einer ausgeglichenen Handelsbilanz zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu beharren. Für viele Entwicklungsländer ist dies eine der wenigen, häufig die einzige Branche, i n der Exportüberschüsse erzielt werden können. Es w i r d daran erinnert, daß der A n t e i l der Entwicklungsländer am Welthandel m i t Erzeugnissen der verarbeitenden Industrie insgesamt lediglich etwa 8 °/o beträgt. — Nach Auffassung der Entwicklungsländer sind daher nicht ihre Exporte das Problem, sondern die mangelnde Bereitschaft der Industrienationen, sich diesen — seit gut einem Jahrzehnt abzeichnenden — Veränderungen der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen. Führt diese Sichtweise bereits zu einer deutlich unterschiedenen Bewertung des Welttextilabkommens, so kommen nun auch Divergenzen hinsichtlich der vertragsimmanenten Grundsätze hinzu. Vertreter aus Entwicklungsländern erinnern gegenwärtig m i t Nachdruck daran, daß der Ausgangspunkt des am 1.1. 74 i n Kraft getretenen Welttextilabkommens nicht war, die Protektionen gegenüber EntwicklungsländerExporten zu erhöhen, sondern vorhandene nationale Protektionen abzubauen und diese überhaupt zum Verhandlungsgegenstand zwischen Export- und Importländern zu machen. Das Welttextilabkommen sollte für den Zeitraum „einiger weniger Jahre" dazu dienen, „Schwierigkeiten zu beseitigen, die i n diesem Sektor existieren" — so A r t i k e l 1.1 des Vertragstextes. Der Vertragstext des Welttextilabkommens formuliert zudem an mehreren Stellen eine ausdrückliche Bevorzugung der Entwicklungsländer. Da es ein wesentliches Ziel des Welttextilabkommens sei, „die ökonomische und soziale Entwicklung der Entwicklungsländer zu fördern" (Art. 1.6), verpflichten sich die Importländer, mit restriktiven Maßnahmen die Exportbedürfnisse der Entwicklungsländer besonders zu berücksichtigen (Art. 3.7) und ihnen bei notwendig werdenden Restriktionen „günstigere Bedingungen als anderen Ländern einzu-

Europäische Gewerkschaftspolitik u n d E n t w i c k l u n g s l ä n d e r 2 8 5

räumen" (Art. 6.1). Dieser Hintergrund erklärt, daß bereits das heute gültige Welttextilabkommen seitens zahlreicher Entwicklungsländer äußerst skeptisch beurteilt w i r d : „Das Welttextilabkommen, das eine ,Abweichung' von den GATT-Prinzipien 1 darstellt, ebenso wie das verlängerte Welttextilabkommen (d. h. 1978 -1981), das eine »Abweichung4 von der »Abweichung* beinhaltet, haben i h r grundlegendes Ziel verfehlt. Aus Sicht der Entwicklungsländer hat das Welttextilabkommen eher als Plattform zur Restringierung des Welttextilhandels fungiert, denn zu seiner Liberalisierung." Den Entwicklungsländern ist bewußt, daß angesichts drohender unilateraler Restriktionen der gänzliche Verzicht auf das Welttextilabkommen und eine Rückkehr zu den Bedingungen vor 1974 keine realistische Alternative darstellt. Zugleich w i r d von ihnen die bloße Verlängerung des gegenwärtigen Abkommens i n höchstem Maße als unbefriedigend empfunden. A l l e r dings i n einem Sinne, der den Forderungen der Industrienationen genau entgegengesetzt ist. Während die Industrienationen auf eine weitere Verschärfung des Welttextilabkommens drängen, favorisiert die Mehrzahl der Entwicklungsländer eine Rückkehr zum ursprünglichen Abkommen. Damit w i r d unüberhörbar zum Ausdruck gebracht, welch prinzipielle Bedeutung die Entwicklungsländer den kommenden Verhandlungen beimessen. Verweist diese höchst unterschiedliche Bewertung des Welttextilabkommens und der gegenwärtigen Forderungen zu dessen Verlängerung heute bereits auf ein eher gestiegenes Konfliktpotential zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, so w i r d dieses auch künftig unweigerlich weiter expandieren, wenn es nicht oder nur unzureichend gelingt, die beschäftigungs- und entwicklungspolitischen Probleme gemeinsam zu lösen. Schon aus diesem Grunde erscheint eine kritische Reflexion der gewerkschaftlichen Forderungen zum Welttextilabkommen dringend geboten. 5. Das Welttextilabkommen als beschäftigungs- und entwicklungspolitisches Steuerungsinstrument Vertragspartner des Welttextilabkommens sind Nationen, Akteure der Welttextilproduktion und des Welttextilhandels sind aber private Unternehmen. Dieser Umstand läßt einige Zweifel aufkommen, ob das Welttextilabkommen die von den Gewerkschaften erhoffte Steuerungsfunktion ausüben kann. 1 (GATT, Arrangment Regarding International Trade i n Textiles, Genf 1974).

286

Die beschäftiguTigspolitische

Werner Olle

Steuerungsfunktion

Die Begrenzung weiterer Importzuwächse i m Rahmen des Welttextilabkommens ist i n beschäftigungspolitischer Hinsicht nur für jenen Teil des Beschäftigtenabbaus von Bedeutung, der direkt den VoZZimporten aus den — dem Welttextilabkommen angeschlossenen — Entwicklungsländern zuzuordnen ist. U m welche Größenordnung es sich hierbei handelt, soll am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland verdeutlicht werden. Hier kann man i n der Textilindustrie davon ausgehen, daß ca. 25°/o des Beschäftigtenabbaus direkt aus den Importüberschüssen resultiert, von denen allerdings nur knapp 4 0 % aus Entwicklungsländern kommen. Von größerer Bedeutung sind Importüberschüsse i n der Bekleidungsindustrie. Hier können ca. 5 0 % des Beschäftigtenabbaus als direkte Folgen der gestiegenen Importüberschüsse betrachtet werden, von denen etwa die Hälfte aus Entwicklungsländern stammt. M i t anderen Worten: das Welttextilabkommen hat eine direkte beschäftigungspolitische Bedeutung i n der Textilindustrie lediglich für etwa 10%, i n der Bekleidungsindustrie für etwa 25 % des bisherigen Beschäftigtenabbaus. Diese Zahlen unterstreichen, daß die beschäftigungspolitische Steuerungsfunktion des Welttextilabkommens keinesfalls überschätzt werden darf. Zwei Faktoren, die für den Beschäftigtenabbau eine wesentliche Bedeutung haben, entziehen sich dem Zugriff des Welttextilabkommens. Der erste Faktor sind Importe spezifischer A r t . Spezifisch insofern, als es sich u m keine Vollimporte handelt, sondern u m Importe nach vorausgegangener Auslagerung eines bestimmten Teils des Fertigungsprozesses. Diese Importe aus sog. Veredelungsverkehren, die gerade für die deutsche Bekleidungsindustrie eine wichtige Rolle spielen, sind bislang nicht Gegenstand des Welttextilabkommens. Die Unternehmen, denen diese Eigenimporte wesentliche Kostenvorteile bringen, sind selbstverständlich nicht daran interessiert, diesen Zugriff auf billige Arbeitskräfte einzuschränken. Der zweite Faktor betrifft die indirekten Auswirkungen der veränderten internationalen Arbeitsteilung i n der Welttextilindustrie. Hierunter fallen insbesondere Rationalisierungen und Umstellungen i n der Produktpalette. Auch diese unternehmerische Anpassung an veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen entzieht sich den W i r kungen eines Handelsabkommens. Es ist unrealistisch anzunehmen, daß eine Begrenzung der Importzuwächse aus Entwicklungsländern beschäftigungsmindernde Rationalisierungsprozesse aufhalten könnte, da diese ja nicht nur aus der Konkurrenz zwischen Industrie- und Entwicklungsländern resultieren, sondern ebenso aus der Konkurrenz innerhalb der Industrieländer. Der Wettlauf u m technologische Vor-

Europäische Gewerkschaftspolitik u n d E n t w i c k l u n g s l ä n d e r 2 8 7

teile hat i n der Textilindustrie längst begonnen, i n der Bekleidungsindustrie sind analoge Entwicklungen i n den nächsten Jahren zu erwarten. Unsere Schlußfolgerung: auch ein neues Welttextilabkommen w i r d i n nur sehr begrenztem Umfang den Fortgang des Beschäftigtenabbaus i n den Textil- und Bekleidungsindustrien i n den Industrieländern verhindern können. Die Gewerkschaften werden i n erhöhtem Maße auf tarifpolitische Instrumente angewiesen sein, unter denen w i r — i n beschäftigungspolitischer Hinsicht — der Verkürzung der Wochenarbeitszeit sowie dem tariflichen Schutz gegen technologische Freisetzung die größte Bedeutung zumessen. Die entwicklungspolitische

Steuerungsfunktion

Ähnlich skeptisch sind auch die erhofften entwicklungspolitischen Wirkungen eines veränderten Welttextilabkommens zu beurteilen. Die Frage lautet: ob eine ländermäßige Differenzierung der Importzuwächse zugunsten der ärmsten Entwicklungsländer deren Industrialisierungsbemühungen i n Konkurrenz zu den „Schwellenländern" entscheidend erleichtern kann. Auch hier darf nicht unterschätzt werden, daß auch die Unternehmen i n den Entwicklungsländern sich einem veränderten Welttextilabkommen und den Entwicklungstendenzen i n der Welttextilund -bekleidungsindustrie anpassen. Und zwar i n dreifacher Hinsicht: Da das Welttextilabkommen eine Begrenzung des Mengenzuwachses vorsieht, ist seit Jahren das Phänomen des sog. „trading up" zu beobachten. Dies bedeutet, daß gerade die entwickelten Textil- und Bekleidungsindustrien i n den Entwicklungsländern i n höhere Qualitätsund Preiskategorien ausweichen, durch die neue Produktbereiche i n der Textil- und Bekleidungsindustrie i n den Industrieländern gefährdet werden. Zumindest i n diesem Punkt führt das Welttextilabkommen sogar zu einer Verschärfung des beschäftigungspolitischen Problemdrucks. Zugleich bedeutet diese Umorientierung i n der Textil- und Bekleidungsindustrie der Schwellenländer nicht unbedingt, daß hieraus die ärmsten Entwicklungsländer Vorteile ziehen. Man darf nicht vergessen, daß heute i n der Textil- und Bekleidungsindustrie i n der Dritten Welt zum Teil beachtliche Unternehmensgrößen entstanden sind, bei gleichzeitiger Verteilung der Produktionsstätten auf verschiedene Länder. Den multinationalen Konzernen aus Südkorea und Hongkong wie ζ. B. Daewoo, Sunkyong, Textile Alliance u. a. dürfte es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten, die inländischen Exporte i m Sinne des trading up umzustellen, die Niedrigpreislagen stattdessen aus Produktionsstätten i n Sri Lanka oder Bangla Desh zu exportieren. Die länder-

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mäßige Differenzierung dürfte i n diesen Fällen lediglich eine unternehmensinterne Umstrukturierung bewirken. Zum zweiten darf nicht übersehen werden, daß die Entwicklungsländer nicht nur von den Märkten der Industrienationen abhängig sind, sondern zugleich von den Mechanismen der Vermarktung. Wesentliche Teile der Textil- und Bekleidungsimporte der Industrienationen sind Eigenimporte inländischer Produktions- und Handelsunternehmen, die angesichts der weltweiten Konkurrenz auf diesem Sektor keinem Entwicklungsland dauerhafte Bezüge garantieren können. Auch hier dürfte die ländermäßige Differenzierung des Welttextilabkommens lediglich bereits i n Gang gekommene Strategien inländischer Unternehmen verstärken, ihre Ein- und Zukäufe stärker regional zu diversifizieren. Die anvisierte Umschichtung innerhalb der Textil- und Bekleidungsindustrien der Dritten Welt durch das Welttextilabkommen w i r d schließlich drittens durch die technologische Entwicklung zunehmend untergraben. Denn die technologische Innovation macht keineswegs vor den Textil- und Bekleidungsindustrien der Entwicklungsländer Halt. Gerade die exportorientierte Industrialisierung nötigt auch den Entwicklungsländern i n zunehmendem Maße den Zwang zu Rationalisierung und Automatisierung auf. Die Antwort auf die Frage, welche Entwicklungsländer am ehesten ihre Textil- und Bekleidungsindustrien auf neueste Technologie umstellen können, ist einfach zu beantworten. Es werden jene Länder sein, die ökonomisch i n der Lage sind, diese Technologie zu importieren bzw. i n begrenztem Umfang selbst herzustellen (z. B. auf Lizenzbasis), also wiederum die Schwellenländer. Unsere Schlußfolgerung: auch die von den Gewerkschaften erhoffte entwicklungspolitische Steuerungsfunktion des Welttextilabkommens w i r d auf vielfältige Weise untergraben. A u f der einen Seite begrenzen interne Konzentrationsprozesse i n den Entwicklungsländern sowie deren Abhängigkeit von der Vermarktung durch Unternehmen aus Industrienationen fortlaufend die erhofften entwicklungspolitischen Zielsetzungen einer ländermäßigen Differenzierung des Welttextilabkommens. A u f der anderen Seite dürfen die bevorstehenden technologischen Innovationen, denen sich auch die Entwicklungsländer auf Grund ihrer Einbindung i n den Weltmarkt nicht entziehen können, eher noch zu einer weiteren Ausprägung des Entwicklungsgefälles zuungunsten der ärmsten Länder beitragen. 6. Schlußthesen für die Diskussion a) Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie zwingt zunächst zu einer paradox erscheinenden Schlußfolgerung: trotz der

Europäische Gewerkschaftspolitik u n d Entwicklungsländer

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begründeten Skepsis gegenüber der erhofften beschäftigungs- und entwicklungspolitischen Steuerungsfunktion des Welttextilabkommens existiert unter den gegenwärtigen ökonomischen und politischen Bedingungen keine Alternative zum Ansatz (wohl aber zu den aktuellen Forderungen zur Verlängerung) des Welttextilabkommens. Ohne diesen Versuch eines multilateralen Regulativs der internationalen Warenströme wären nationale Protektionen die unweigerliche Konsequenz, die allerdings auch die Bemühungen u m eine grenzüberschreitende Kooperation der Gewerkschaften zum Scheitern verurteilen würden. Diese paradox erscheinende Schlußfolgerung zeigt überdies,, wie begrenzt unter den gegenwärtigen ökonomischen und politischen Bedingungen die Spielräume für gewerkschaftliches Handeln sind. b) Ein internationales Handelsabkommen vom Typus Welttextilabkommen kann allerdings kein Substitut für gewerkschaftliche Aktionsmittel und perspektivische Orientierungen gewerkschaftlicher Politik sein. Eine überzeugende Alternative w i r d letztlich von den Gewerkschaften nur dann formuliert werden können, wenn abseits von kurzfristigen Interessen und über pragmatische Strategieansätze hinaus, weitergehende Beurteilungsmaßstäbe wiedergewonnen werden. Ohne eine qualitative Neubestimmung wirtschaftlichen Wachstums und ohne interne Umverteilung von Einkommen und Arbeitszeit, w i r d es auf absehbare Zeit weder gelingen, die beschäftigungspolitischen Probleme i n den Industrienationen, noch die entwicklungspolitischen Probleme i n den ärmsten Regionen der Welt zu lösen.

Quellenhinweise — Comitextil, The W o r l d Textile Industry, Brüssel 1979 (Bulletin 79/5 - 6) — Economist Intelligence U n i t , W o r l d Textile Trade and Production, London 1979 (EIU Special Report No. 63 b y Vincent Cable) — G A T T , Arrangement Regarding International Trade i n Textiles, Geneva 1974 — Gewerkschaft Textil-Bekleidung, Die G T B u n d die Außenhandelspolitik auf dem T e x t i l - u n d Bekleidungssektor, Düsseldorf 1979 (Informationen f ü r Vertrauensleute der G T B Nr. 5/Dezember 1979) — Gewerkschaft Textil-Bekleidung, W i r kämpfen für ein neues W e l t t e x t i l abkommen — Eine Dokumentation über die Protestaktion am 2. Dezember 1980, hrsg. v o m Hauptvorstand der GTB, Düsseldorf 1981 — International chamber of commerce, Paris/Trade Policy Research Centre, London: Conference on International Trade i n Textiles and Clothing, Brussels M a y 27 - 29, 1980 19 Tagung Dortmund 1981

Werner Olle International labour office, International Division of Labour Programme — Analysis of Employment, Production and Trade Structures i n Textiles and Clothing i n Selected Countries i n the 1970s (WEP Research W o r k i n g Paper W P 4/5 b y A . Field/J.-P. Sajhau), Geneva 1979 I T B L A V (Internationale T e x t i l - , Bekleidungs- u n d Lederarbeiter-Vereinigimg), Dokumente des 3. Weltkongresses v o m 6. - 10. Oktober 1980 i n W i e n (u. a. zu Fragen des internationalen Handels, der technologischen E n t w i c k lungstendenzen etc.) U N C T A D , Trade i n manufactures of developing countries and territories 1977 review, New Y o r k 1980 U N C T A D , Fibres and Textiles — Dimensions of Corporate Structure, New Y o r k 1981

Marketing

Diskussion Leitung: Peter Seideneck • Berichterstattung: Marion F. Hellmann, Heinz Mathiessen, Roland Schneider Die seit dem Ende der sechziger Jahre verstärkt zu beobachtenden Aktivitäten multinationaler Konzerne und die sich i n ihrem Gefolge vollziehenden Veränderungen der internationalen Arbeitsteilung bedeuten eine Herausforderung für die Gewerkschaften. Die Internationalisierung der Produktion und die m i t ihr verbundenen Produktionsverlagerungen und Rationalisierungsprozesse haben vielfach zu Arbeitslosigkeit geführt und bedrohen den sozialen Besitzstand der Lohnabhängigen. Der dadurch ausgelöste Problemdruck, dem die Gewerkschaften ausgesetzt waren, verstärkte sich auf europäischer Ebene durch die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit der Nationalstaaten (Montanunion, EG, EFTA): Diese richtete sich insbesondere auf die Sicherstellung der Freizügigkeit des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs und berührte so die unmittelbaren Interessen der Lohnabhängigen. Hierdurch wurde die Entwicklung national übergreifender gewerkschaftlicher Organisationsstrukturen i n Europa, ihre Aufgabenstellung und ihre praktische Arbeit entscheidend mitgeprägt. Allerdings zog die Internationalisierung des Kapitals keineswegs bruchlos die Internationalisierung der Gewerkschaften nach sich — eine Hoffnung zahlreicher Gewerkschafter, die unerfüllt blieb. Dies wurde aus den Referaten der Kollegen Köpke (EGI) und Piehl (EGB) deutlich. Gleichwohl waren die Diskussionsteilnehmer überwiegend der Auffassung, daß die Gründung und Entwicklung des EGB einen hoffnungsvollen Ansatz zur Reduktion bzw. Eingrenzung nationaler und ideologischer Unterschiede zwischen den europäischen Gewerkschaften darstellt und weiterentwickelt werden müsse. Dabei stand jedoch außer Frage, daß es dem EGB i n seinem noch nicht abgeschlossenen Konsolidierungsprozeß nicht möglich war, eine einheitliche „europäische" Gewerkschaftsstrategie zu entwickeln oder gar „europäische" Tarifverhandlungen zu führen, eine Forderung, die die politische und gewerkschaftliche Realität i n Europa verkennt und die die Problematik einer gewerkschaftlichen Internationalisierung nicht erfaßt. Dies kann jedoch nicht verdecken, daß es dem EGB trotz unterschiedlicher gesell19*

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Diskussion

schaftlicher Bedingungen i n den europäischen Ländern sowie unterschiedlicher Traditionen, Erfahrungen, Handlungsbedingungen und -konzeptionen seiner Mitgliedsbünde gelungen ist, eine schrittweise Verständigung auf gesellschaftspolitische Ziele herbeizuführen. Dies w i r d belegt durch die programmatische Entwicklung des EGB: Konnten 1974 auf dem Kongreß i n Kopenhagen infolge von Meinungsverschiedenheiten noch keine Aktionsziele bzw. kein Aktionsprogramm verabschiedet werden, so wurden 1976 bereits erste Aktionsziele formuliert und 1979 ein erstes Aktionsprogramm verabschiedet. Dies ist jedoch kein Anlaß zur Euphorie: Aktionsprogramm und -ziele sind notgedrungen weitgehend allgemeiner Natur; seine Hauptforderungen sind die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung durch eine entsprechende staatliche Wirtschaftspolitik sowie durch Arbeitszeitverkürzung, die Demokratisierung der Wirtschaft, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie die Einschränkung der wirtschaftlichen Macht m u l t i nationaler Konzerne. Einzelfragen gewerkschaftlicher Tagespolitik sind demgegenüber aus dem Aktionsprogramm weitgehend ausgeklammert. Doch trotz der Reduktion des programmatischen Konsenses auf allgemeine gesellschaftspolitische Fragen ist seine Stabilität keineswegs gesichert. Dies gilt, wie i n der Diskussion deutlich wurde, insbesondere i m Zusammenhang m i t den seit einigen Jahren anhaltenden ökonomischen Krisentendenzen, die zugleich auch eine Krise der europäischen Integration bewirkt haben. Infolge ungleichen Verlaufs und Auswirkungen des Krisenprozesses i n den Mitgliedstaaten der EG sind unterschiedliche nationale Krisenbewältigungsstrategien praktiziert worden, wodurch der Integrationsprozeß nicht nur ins Stocken geriet, sondern auch Tendenzen zur Desintegration gefördert wurden. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf national übergreifende gewerkschaftliche Organisationsstrukturen i n Europa (EGB, Europäische Gewerkschaftsausschüsse) werden vom Grad der Einbindung und Partizipation der Mitgliedsbünde i n die nationalen Krisenbewältigungsstrategien abhängen. Ein Teil der anwesenden Vertreter des EGB sah auf Grund der bisherigen Erfahrungen keinen Anlaß für die Befürchtung, daß die gegenwärtige Krise der europäischen Integration infolge nationaler Krisenbewältigung über eine Renationalisierung gewerkschaftlicher Arbeit auch zu einer Krise der europäischen Gewerkschaftsbewegung führen könne. Die von diesen Zusammenhängen ausgehende Diskussion über die praktische Tätigkeit des Europäischen Gewerkschaftsbundes bezog sich auf die i n dem Referat von Ernst Piehl genannten wichtigsten Aufgaben, nämlich auf die Interessenvertretung gegenüber den europäischen Institutionen sowie auf die Anregung und Koordination von gewerkschaftlichen Aktionen. Bezüglich der Vertretung der Interessen der Lohnabhängigen gegenüber den Institutionen der EG

Diskussion

(Ministerrat, Kommission, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof), der EFTA und des Europa-Rates wurde kritisch vermerkt, daß die Interessenvertretung gegenüber den Institutionen der EG nahezu ausschließlich die Tätigkeit des EGB dominiere, daß über diese Tätigkeit nur eine unzureichende gewerkschaftsinterne Öffentlichkeit bestünde (ζ. B. unzureichende Berichterstattung i n der Gewerkschaftspresse) und daß diese Tätigkeit für die Lohnabhängigen nicht zuletzt deswegen schwer erfahrbar sei. Einwände dagegen, daß die Mehrzahl der Mitgliedsbünde des EGB dessen EG-Fixierung ausdrücklich befürworteten bzw. daß die Mitgliedsbünde aus den Ländern außerhalb der EG als ein entsprechendes Korrektiv anzusehen seien, wurden weder als ausreichende Begründung für die Dominanz der Interessenvertretung gegenüber der EG empfunden, noch schienen sie eine realistische Basis für eine „europäische" Gewerkschaftsarbeit zu begründen. I n der weiteren Diskussion wurde demgegenüber deutlich, daß ungeachtet der positiven Einstellung zahlreicher Mitgliedsbünde des EGB zur europäischen Integration durch den Integrationsprozeß zugleich der EGB einem Anforderungsdruck ausgesetzt wird, dem er sich nicht zu entziehen vermag. Die institutionelle Struktur der EG ist nämlich einerseits durch unzureichende Entscheidungstransparenz und parlamentarische Kontrolle charakterisiert, andererseits existieren nur unzureichende institutionell gesicherte gewerkschaftliche Einfhißmöglichkeiten. Dies bedingt spezifische Formen der Einflußnahme und erkärt ihren großen A n t e i l an der Gesamttätigkeit des EGB. Die Dominanz der Interessenvertretung gegenüber den EG-Institutionen — die sich erst durch eine Demokratisierung der institutionellen Struktur der EG reduzieren ließe, eine immer noch uneingelöste Forderung des EGB — stellt somit nicht nur eines der wesentlichsten Probleme der Tätigkeit des EGB dar, sie w i r k t zugleich auch restriktiv auf die andere Hauptaufgabe des EGB, die Anregung und Koordination von gewerkschaftlichen Aktionen. M i t anderen Worten: Es besteht die Gefahr, wie es i n einem Diskussionsbeitrag formuliert wurde, „daß die autonome gewerkschaftliche A k t i o n zu kurz kommt, weil der EGB auf den von der EG vorgegebenen Handlungsrahmen fixiert ist" und durch die Interessenvertretung gegenüber den EG-Institutionen zu viele Kräfte gebunden werden. I n der Tat, die bisherige Praxis des EGB läßt trotz der Organisation von nunmehr zwei Aktionstagen und der gegenwärtig laufenden Aktionskampagne (die weitgehend EG-orientiert ist) ein autonomes, auf die Durchsetzung von zentralen gewerkschaftlichen Forderungen gerichtetes Handeln vermissen. Dies gilt gleichermaßen auch für nahezu alle europäischen Gewerkschaftsausschüsse. I m Gegensatz zur Einschätzung der Aktionstage durch den Referenten waren zahlreiche Diskussionsteilnehmer der Auffassung, daß die abgelaufenen

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Aktionstage eine noch sehr bescheidene und keineswegs ausreichend konkrete Handlungsfähigkeit belegen. Die fehlende Dimension autonomen gewerkschaftlichen Handelns i n der praktischen Arbeit verweist auf eine „relativ ausgeprägte Schwäche" des EGB, der i m Vergleich zu seinen eigentlichen Möglichkeiten infolge unzureichender organisatorischer Ressourcen seine Funktion als Mittler und Koordinator nicht zur Genüge wahrnehmen kann. Bezogen auf die Ausgangsfragestellung der Diskussion läßt sich somit als Zwischenergebnis festhalten, daß den national übergreifenden gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen gegenwärtig für die gewerkschaftliche Betriebspolitik i n Europa noch nicht die Bedeutung zukommt, die ihnen angesichts der bestehenden Problemlage zuzumessen wäre. Dies gilt vordergründig für den EGB, aber es gilt nahezu ausnahmslos auch für die europäischen Gewerkschaftsausschüsse. Bei der Suche nach den Bedingungsfaktoren dieser unbefriedigenden Situation wurde angezweifelt, daß die vielfach unzureichenden finanziellen und personellen Ressourcen der national übergreifenden Gewerkschaftsstrukturen das Zurückbleiben ihrer praktischen Arbeit hinter den potentiellen Möglichkeiten und Notwendigkeiten bedingen. Zurückgewiesen wurde i n der Diskussion auch die Auffassung, daß das unzureichende internationale Bewußtsein der Lohnabhängigen erfolgreiche internationale Aktionen verhindere, daß gewerkschaftlicher Internationalismus prinzipiell „illusionär" sei. Demgegenüber wurde i n der Diskussion überwiegend die Meinung geäußert, daß die Probleme der Verwirklichung internationaler Solidarität primär durch andere Faktoren bedingt sind. Die Erfahrungen mit der Einbeziehung der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung i n die gewerkschaftliche Praxis zeigen ein Dilemma gemeinsamer europäischer Gewerkschaftspolitik und internationaler Solidarität auf: Die noch immer hohe Bedeutung der Nationalstaatlichkeit i m EGB, unterschiedliche rechtliche Regelungen des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital auf nationaler Ebene, unterschiedliche Bedingungen für Tarifverhandlungen sowie unterschiedliche nationale Wirtschaftspolitiken haben bislang eine koordinierte A k t i o n europäischer Gewerkschaften zur Durchsetzung von Arbeitszeitverkürzung verhindert — einer Forderung, deren V e r w i r k lichung schon seit einigen Jahren ansteht! I n der Diskussion wurde i n diesem Zusammenhang ferner deutlich, daß der Verwirklichung internationaler gewerkschaftlicher Solidarität innerhalb des gegenwärtigen Systems der internationalen Arbeitsteilung eine schier unüberwindliche Schranke gesetzt ist: Die aus dem auf dem Weltmarkt stattfindenden Waren- und Kapitalexport resultierende „Beschäftigungskonkurrenz" zwischen den Lohnabhängigen der versAiçdenea Nationen (dies ist Ausdruck der Tatsache, daß unter Krisen-

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bedingungen der Warenexport zugleich einen Export an Arbeitslosigkeit bedeuten kann, während Importe umgekehrt zu Arbeitslosigkeit führen können). Allerdings kann internationale Gewerkschaftspolitik diese Schranke selbst nicht überwinden, sie kann und muß aber dazu beitragen, daß die Lohnabhängigen i n den einzelnen Nationen nicht dauerhaft durch unternehmerisches Handeln gegeneinander ausgespielt werden! Wie dringlich die Bewältigung dieser Aufgabe ist, wurde durch das Referat von Werner Olle deutlich, der über Probleme internationaler Beschäftigungspolitik i m Bereich der Textil- und Bekleidungsindustrie referierte. I n der sich an das Referat anschließenden Diskussion wurde hervorgehoben, daß das Welttextilabkommen (WTA) die von den Gewerkschaften, erhoffte beschäftigungs- und entwicklungspolitische Steuerungsfunktion nicht ausüben kann. Die Regelungen des W T A seien zu komplex, so daß sich eine Überwachung seiner Regelungen als äußerst schwierig gestalte. So sind z.B. eine Reihe von sog. Umgehungseinfuhren über Ostblockländer bekannt geworden, die nicht dem Welttextilabkommen unterliegen. Die Diskussion wandte sich danach der Frage zu, wie das W T A aus gewerkschaftlicher Sicht einzuschätzen sei und wie das Verhältnis der Gewerkschaften aus den Entwicklungsländern zum W T A sei. Von den Gewerkschaften wurden bisher zwei Antworten auf die Probleme, die sich aus der internationalen Konkurrenz für lohnabhängig Beschäftigte ergeben, gefunden. Zum einen w i r d versucht, über eine Harmonisierung der Lohn- und Arbeitsbedingungen die unterschiedlichen Produktionsbedingungen anzugleichen, andererseits w i r d angestrebt, durch protektionistische Maßnahmen oder sonstigen außenwirtschaftlichen Flankenschutz die Importkonkurrenz zu reduzieren. Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, daß die Forderung der Gewerkschaften nach einer Verlängerung des W T A nicht global als protektionistisch zu verstehen sei, daß aber andererseits das W T A exemplarisch die Hilflosigkeit der Gewerkschaften gegenüber sich weltweit verändernden Produktionsbedingungen ausdrücke. Die Forderung der Textilgewerkschaften, Arbeitsplatzinteressen ihrer Mitglieder zu verteidigen, muß als legitim angesehen werden. Diesbezüglich wurde darauf hingewiesen, daß Nichtexistenz eines internationalen Abkommens eine Fülle nationaler Protektionen zur Folge habe. Von einem Teilnehmer kam der Einwand, daß gerade die Gewerkschaft TextilBekleidung durch ihre sozialpartnerschaftliche Politik nicht habe verhindern können, daß annähernd 300 000 Arbeitsplätze i n der Textilund Bekleidungsindustrie vernichtet wurden. Diesem Argument wurde entgegengehalten, daß sich der Gewerkschaft Textil-Bekleidung i n

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ihren Branchen keine Gelegenheit bot, ζ. B. über Arbeitszeitverkürzung mit Erfolg Arbeitsplätze zu erhalten. A u f dem letzten Kongreß der Internationalen Textil-Bekleidungsund Lederarbeitnehmer-Vereinigung (ITBLAV) i m Oktober 1980 i n Wien ist das W T A von den betroffenen Gewerkschaften aus den Entwicklungsländern intensiv diskutiert worden, wobei keine prinzipellen Einwände gegen eine Beschränkung der Importzuwächse vorgetragen wurden. Hingegen ist eine Aufnahme einer Sozialklausel i n das WTA, die sicherstellen soll, daß i n den textilexportierenden Entwicklungsländern die Mindestarbeitsbedingungen (Lohn, Arbeitszeit, Gewerkschaftsrechte) des Internationalen Arbeitsamtes eingehalten werden, bei den Gewerkschaften aus den Entwicklungsländern nicht unumstritten. Einige Gewerkschaften sehen darin eine „imperialistische" Einmischung i n die Produktionsbedingungen ihrer Länder, andere eine Unterstützung ihrer Forderungen. A u f dem ITBLAV-Kongreß wurde auch noch keine Lösung gefunden, wie die Einhaltung einer möglichen Sozialklausel kontrolliert werden kann. I n der Arbeitsgruppe wurde die Festlegung von Sozialklauseln i n internationalen Handelsabkommen zwar als wichtig angesehen, doch sollten diese i n ihrer Wirkung nicht überschätzt werden. Denn i n der Praxis werde gerade i n den Entwicklungsländern Afrikas und Lateinamerikas, die Mitglieder des Internationalen Arbeitsamts sind und dessen Verträge ratifiziert haben, tagtäglich gegen diese Normen verstoßen. Ein Teilnehmer betonte, daß die Gewerkschaften sich nicht auf die bloße Forderung nach Sozialklauseln beschränken dürfen. Vielmehr müßten gewerkschaftliche Aktionsmittel gefunden werden, damit internationale Abkommen eingehalten werden. Als aktuelle Beispiele führte er den Boykott gegen Coca-Cola und den amerikanischen Textilkonzern J. P. Stevens an, wo durch direkte gewerkschaftliche Aktionsmittel gewerkschaftliche Forderungen durchgesetzt werden konnten. Dem wurde entgegengehalten, daß Boykottaktionen sicher gewerkschaftliche A k tionsmittel seien, u m i m Einzelfall gewerkschaftliche Forderungen durchzusetzen, daß sie für die Problematik des W T A jedoch wenig hergäben. I n der weiteren Diskussion wurde deutlich, daß die Gewerkschaften aus den Industrieländern verstärkt den Aufbau von Gewerkschaften i n den Entwicklungsländern fördern sollten. Dazu sei es unerläßlich, daß die materielle Hilfe zum Aufbau starker Gewerkschaften i n Entwicklungsländern seitens der Gewerkschaften aus Industrieländern wesentlich ertiçht werden müßte. Werner Olle führte zur Erhär-

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tung dieser Forderung einige Beispiele an. So wurde beim letzten Kongreß der I T B L A V festgestellt, daß 85 Mitgliedsorganisationen nicht i n der Lage sind, finanzielle Abgaben an das Internationale Berufssekretariat zu zahlen. Entsprechend gering ist die technische und personelle Ausstattung der Regionalbüros der I T B L A V , m i t jeweils einem Vertreter i n Malaysia und i n Hongkong. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten einer Organisierung von Arbeitnehmern, dazu führte er zwei Beispiele an: I n der Textilgewerkschaft i n Hongkong — einem wichtigen Exportland — sind etwa 3 800 Arbeitnehmer organisiert, dies entspricht etwa 2 % der Gesamtbeschäftigtenzahl. I n der Textilindustrie Indiens mit über 1 Mio. Beschäftigten sind zwar 5 0 - 6 0 % der Lohnabhängigen organisiert, doch umfaßt die gesamte Textilindustrie nach Schätzungen etwa 6 - 7 Mio. Beschäftigte, die vorwiegend i n Heimarbeit tätig sind und sich somit jeglicher gewerkschaftlichen Organisierung entziehen. Als weiteres Problem wurde die Differenzierung nach Richtungsgewerkschaften i n den Entwicklungsländern benannt, die den unterschiedlichen internationalen Gewerkschaftsbünden (Internationaler Bund Freier Gewerkschaften [ I B F G ] , Weltgewerkschaftsbund [WBG], Weltverband der Arbeitnehmer [ W V A ] ) angehören. Ein Teilnehmer vertrat die Auffassung, daß gerade für die europäischen Gewerkschaften i m Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) die Chance bestehe, eine Neuorientierung zu finden, die nicht die Differenzierung nach Richtungsgewerkschaften i n die Entwicklungsländer überträgt, u m somit eine wie bisher praktizierte selektive Solidarität zu verhindern. I n der Diskussion wurde ersichtlich, daß die Lösung der Beschäftigungsprobleme i n der Textilindustrie nicht nur durch den Abschluß eines Welttextilabkommens erfolgen kann, sondern daß auch die nationale gewerkschaftliche Tarifpolitik aufgefordert ist, einen Beitrag zur Lösung der Beschäftigungsprobleme zu leisten. I n der Arbeitsgruppe wurde die Arbeitszeitverkürzung als Hauptinstrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angesehen, des weiteren müßten verstärkt gewerkschaftliche Lösungen bei Einführung neuer Technologien gefunden werden. Da das W T A nicht die erhoffte entwicklungspolitische Steuerungsfunktion ausüben kann, wäre es nach Meinung einiger Arbeitsgruppenmitglieder angebracht, wenn die Gewerkschaften i m Rahmen ihrer Möglichkeiten auch Einfluß auf die öffentliche Entwicklungshilfe nehmen würden. I m Zusammenhang m i t den anhaltenden weltweiten krisenhaften Strukturveränderungen i n anderen Branchen (ζ. B. der Automobilindustrie) waren die Teilnehmer der Auffassung, daß die Vereinbarung ähnlicher Welthandelsabkommen für andere Branchen nicht ausge-

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schlossen sei. Sie waren sich jedoch darin einig, daß solche A b kommen nur dann eine positive W i r k u n g entfalten können, wenn die beschäftigungspolitische Steuerungsfunktion für die Industrieländer eindeutig m i t der entwicklungspolitischen Steuerungsfunktion für die Entwicklungsländer verknüpft wird. Die Verwirklichung entsprechender Forderungen stellt hohe Anforderungen an die internationale Gewerkschaftspolitik und erfordert eine kritische Refiektion ihrer bisherigen Praxis. Den damit zusammenhängenden Fragen der Gewerkschaftseinheit auch über politisch-weltanschauliche Gräben hinweg wandte sich die Diskussion i m Anschluß an das Referat von Roger Briesch zu. Die Feststellung von Roger Briesch, daß eine wesentliche Voraussetzung für eine größere Effizienz des Europäischen Gewerkschaftsbundes die Bereitschaft sei, weitere repräsentative Gewerkschaftsbünde aufzunehmen, und daß nur dann, wenn auf diese Weise die gesamte Dynam i k der europäischen Gewerkschaften zum Tragen käme, die europäischen Unternehmer an den Gesprächstisch gezwungen und Tarifverträge und Rahmenabkommen erfolgreich ausgehandelt werden könnten, führte zwangsläufig zu der Frage, wie sich die CFDT zu Aufnahme der CGT i n den EGB stelle, nachdem unbestrittenermaßen die CGT die repräsentativste Gewerkschaftsorganisation i n Frankreich ist. Hierzu meinte Briesch, daß die CFDT Europa nicht i n erster Linie als einen Markt betrachte. Die CFDT arbeite vielmehr darauf hin, daß Europa zu einer politischen Union werde, i n der die Arbeitnehmer ihre Interessen v o l l zur Geltung bringen könnten. Europa müsse eine gemeinsame A n t w o r t geben auf alle gegenwärtigen Probleme. Es müßten gemeinsame Lösungen für die innereuropäischen Probleme gefunden werden, und Europa müsse durch eine gemeinsame Außenpolitik zum Abbau der Aufteilung der Welt i n zwei Blöcke und somit zur Entspannung und Friedenssicherung beitragen. Die Anliegen der Dritten Welt fänden i n einer zweigeteilten Welt kein Gehör, und nur ein geeintes Europa könne den M i t t l e r spielen und einen Interessenausgleich bewirken. Die Ablehnung der Aufnahme der CGT zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei eine politische Entscheidung. Die CGT habe durch eine A r t Wende ihrer Politik seit 1978/79 bewiesen, daß sie stark nationalistisch und europafeindlich geprägt sei. I n ihren außenpolitischen Stellungnahmen folge sie von Afghanistan bis Polen der Linie der KPF. Gewerkschaften der europäischen Nachbarländer — und vor allem der DGB — würden i n unqualifizierter Weise angegriffen. Unter solchen Voraussetzungen sei die Aufnahme der CGT i n den EGB für die CFDT „momentan nicht möglich". Allerdings hoffe die

Diskussion

CFDT auf eine Änderung der Positionen der CGT, die sie von ihrer Mitgliederstruktur her nicht als eine kommunistische Gewerkschaft betrachte. Sollte die Führung der CGT durch den Druck der Basis zu einer politischen Kurskorrektur gezwungen werden, so müßte natürlich auch die CFDT ihre Position gegenüber der CGT neu überdenken. Diese Argumentation von Roger Briesch wurde weitgehend akzeptiert. Einige Diskussionsteilnehmer meldeten jedoch Bedenken an und meinten, daß Briesch eine unzulässige Vereinfachung vorgenommen habe. Die Aufzeichnung einer einfachen Verbindungslinie CGT—KPF— K r e m l entspreche nicht mehr den heutigen Realitäten. U m die keineswegs unreflektierte Haltung der CFDT unter Beweis zu stellen, unterstrich Roger Briesch nochmals, daß die CFDT sich bis 1979 für die Aufnahme der CGT eingesetzt hätte und daß dem eine Aktionseinheit über mehrere Jahre vorausgegangen sei. Diese Aktionseinheit habe sich auf die CGT beschränkt, da die Force Ouvrière zum einen i n der Privatwirtschaft nicht aktiv sei und zum anderen nicht bereit gewesen sei, i n irgendeiner Form gemeinsame Sache mit der CGT zu machen. Nach den verlorenen Parlamentswahlen von 1978 sei diese Aktionseinheit auf Grund der Konfrontationspolitik der CGT, die auch hier wiederum der K P F gefolgt sei, gescheitert. E i n unabdingbares K r i t e r i u m für weitere Aufnahmen i n den EGB sei dessen Konsensfähigkeit. Briesch erinnerte daran, daß die CGT noch immer Mitglied des WGB sei, der WGB aber als Ausdruck der sowjetischen Außenpolitik betrachtet werden müsse. Die UdSSR aber sei ebenso wie die USA an einer europäischen Einigung nicht interessiert.

IV. Abschließendes Podium

Perspektiven gemeinsamen Handelns in Westeuropa Teilnehmer des Podiums: Georg Benz, Vorstand I G Metall, Frankfurt a. M. Hughues Blassel, CFDT, Paris Richard Heller, Betriebsratsvorsitzender, Adam Opel AG, Rüsselsheim Günter Köpke, EGI, Brüssel Werner Olle, PIGEP, Berlin Ernst Piehl, EGB, Brüssel Peter Seideneck, Leiter des Abgeordnetenbüros Heinz Oskar Vetter beim Europa-Parlament Leitung: Gerhard Leminsky, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Berichterstattung: Werner Oesterheld Die Abschlußdiskussion stand unter der zentralen Fragestellung: Probleme gewerkschaftlicher Betriebspolitik und Möglichkeiten internationaler Kooperation der Gewerkschaften. Für den Verlauf der Diskussion wurde vom Diskussionsleiter eine Zweiteilung vorgeschlagen: I m ersten Teil der Diskussion sollten noch einmal aktuelle Entwicklungstendenzen nationaler Betriebspolitik i n den einzelnen Ländern und die internationale Kooperation der Gewerkschaften deutlicher als bisher miteinander verknüpft werden. I. Teil: Probleme nationaler

gewerkschaftlicher

Betriebspolitik

1. Die ersten drei Redner, Hughues Blassel, Georg Benz und Richard Heller, gingen i n ihren Beiträgen zunächst auf die veränderten Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Betriebspolitik ein. Die Folgen der nunmehr seit über sechs Jahren anhaltenden weltweiten Wirtschaftskrise engten die Handlungsspielräume für die Gewerkschaften auf betrieblicher wie nationaler Ebene immer stärker ein. I m Zuge der ökonomischen Krise und der dadurch verminderten Verteilungsspielräume seien die Gewerkschaften insgesamt m i t einer

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Perspektiven gemeinsamen Handelns i n Westeuropa

restriktiven Lohnpolitik seitens der Unternehmer konfrontiert. Überkapazitäten, neue Technologien und Rationalisierungsinvestitionen führten zu einer Zunahme quantitativer und qualitativer Beschäftigungsrisiken. Die Reorganisation der Weltwirtschaft durch die Kapitalseite führe zu einem gegenseitigen Ausspielen der nationalen Regierungen wie auch der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sähen sich einem verstärkten Widerstand der Unternehmer gegen tarifliche Forderungen gegenüber und müßten Angriffe auf die erkämpften Rechte der Lohnabhängigen abwehren. Zu einer zentralen Funktion der Gewerkschaften i n der Krise werde demnach die Verteidigung des sozialen Besitzstandes. Staatliche Politik auch von arbeitnehmerfreundlichen Regierungen sei durch eine „erschreckende Abnahme staatlicher Reformbereitschaft" (Georg Benz) gekennzeichnet. Notwendig sei jedoch eine staatliche Konjunktur- und Beschäftigungspolitik. 2. Als zweiter Themenbereich war schon von Hughues Blassel das Problem der Verrechtlichung angesprochen worden; i m Vergleich zur Bundesrepublik sei i n Frankreich die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit wenig ausgeprägt. Er konkretisierte dies am Beispiel eines betrieblichen Konfliktes, der das „System der Nichtverhandlung" i n Frankreich veranschaulichte. Zu einem späteren Zeitpunkt der Diskussion erwähnte er, daß auch die Verhandlungen, die zwischen Gewerkschaften und Unternehmern national oder regional auf Branchenebene stattfänden, nicht so verrechtlicht seien wie i n der Bundesrepublik. Vor allem i n Großunternehmen, i n denen die Gewerkschaften stark seien, könnten allerdings bestimmte Rechte durchgesetzt werden, die denen der deutschen Betriebsräte entsprächen. Weiterhin schilderte er kurz die nichtverreditlichten Durchsetzungsformen gewerkschaftlicher Forderungen i n Frankreich. Zunächst legten die Gewerkschaften ein M i n i m u m an gemeinsamen Zielsetzungen fest, die dann über dezentrale Kämpfe i n den Unternehmen durchgesetzt würden. A u f der anderen Seite gehe es darum, den Zusammenhang der Forderungen z.B. bei nationalen oder regionalen Branchenverhandlungen, vermittelt über Verhandlungsstrukturen, festzuhalten. Georg Benz sprach das Verrechtlichungsthema zunächst i m Zusammenhang m i t dem gescheiterten Kampf u m die paritätische Mitbestimmung i n der Nachkriegszeit an. I n Abgrenzung von einem kritischen Gebrauch des Begriffs „Ordnungsfaktor" für die westdeutschen Gewerkschaften hob er die positive Seite der Verrechtlichung hervor, das heißt die rechtliche Fixierung von Arbeitnehmerrechten i n Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. I n diesem Sinne des „Festhaltens

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an Geschriebenem" übernehme die Gewerkschaft durchaus die Funktion eines Ordnungsfaktors i n der Gesellschaft. Der Begriff sei dabei abzugrenzen von dem eines Ordnungsfaktors für die bestehende Gesellschaft. Als gewerkschaftliche Strategie — zumindest der I G Metall — für die Betriebsratsarbeit bezeichnete er zugleich die kämpferische Ausnutzung aller rechtlichen Möglichkeiten. Dabei solle langfristig geltendes Recht i m gewerkschaftlichen Sinne verändert werden. Darüber hinaus gehe es u m die gegen die juristischen Definitionen der Unternehmer gerichtete interessenspezifische Ausfüllung der rechtlichen Bestimmungen, für die noch keine Rechtsprechung vorliege. Als Beispiel für eine solche Konfrontation zwischen gewerkschaftlicher und unternehmerischer A u f fassung erwähnte Benz die Definition und die Interessenvertretungsrechte der leitenden Angestellten, wobei die Gewerkschaften sich m i t ihrer Auffassung beim Bundesarbeitsgericht nicht durchsetzen konnten. I n den Diskussionsbeiträgen zum Problem der Verrechtlichung wurde zunächst von dem Betriebsratsmitglied der Hoesch-Hüttenwerke AG, Hans-Otto Wolf, die verbreitete Praxis von Betriebsräten kritisiert, auf die extensive Auslegung der durch das Betriebsverfassungsgesetz oder die Montanmitbestimmung garantierten Rechte zu verzichten. Detlev Albers warnte vor zu großer Selbstzufriedenheit mit dem rechtlichen Instrumentarium i n der Bundesrepublik. Er betonte, daß j a niemand vorgeschlagen habe, ein ausländisches Gewerkschaftsmodell zu „importieren". Es sei aber wichtig, die Stärken anderer Gewerkschaftstraditionen zu begreifen und sie als Anregung zum Nachdenken über unsere gewerkschaftliche Krisenantwort zu sehen. Gegebene Positionen für den Rechtsfortschritt auszunutzen, sei notwendig — man müsse aber mitbedenken, ob nicht bestimmte rechtliche Instrumente die Anstöße zum Selbsthandeln i m Betrieb eher behindern. Die tariflichen Regeln i n anderen Ländern seien zwar lückenhaft, sie böten aber Chancen zum direkten Handeln, deren Ergebnisse über Kompromisse, wie sie bei uns erzielt werden, hinausgehen können. 3. Zum dritten Thema — dualistische Struktur der betrieblichen Interessenvertretung — wurde zunächst von Georg Benz und von Richard Heller — vor allem für den Organisationsbereich der I G Metall — die Einbindung der Betriebsräte i n die Gewerkschaft betont. Betriebsrat und Vertrauenskörper seien eine Einheit, die rechtliche Trennung sei als praktisch bedeutungslos anzusehen. Richard Heller wies auf eine Betriebsvereinbarung bei Opel Rüsselsheim hin, die Elemente des Lohnrahmentarifvertrages I I von BadenWürttemberg enthält und m i t der der Tabu-Katalog der Unternehmer 20 Tagung Dortmund 1981

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auf betrieblicher Ebene durchbrochen wurde. Der Abschluß dieser Betriebsvereinbarung sei auf die Zusammenarbeit zwischen Vertrauenskörper und Betriebsrat zurückzuführen. Als Besonderheit der Bundesrepublik nannte Georg Benz allerdings die zum Teil starke Position der Betriebsräte von Großbetrieben oder multinationalen Konzernen i n den Gewerkschaften. I n diesem Zusammenhang wandte er sich gegen den Vorwurf, daß durch die Betriebsräte generell eine sozialpartnerschaftliche Tendenz i n den Gewerkschaften gefördert werde. Ebenso wies er die These eines neuen Korporativismus, der die Gewerkschaften nur als Säule des Bestehenden sehen w i l l , zurück. I n der Diskussion bezeichnete es Klaus Koopmann als ein Mißverständnis, die dualistische Struktur als einen unaufhebbaren Gegensatz zu verstehen. Betriebsräte und Vertrauensleute seien zwei parallele Stränge betrieblicher Interessenvertretung. Neben den positiven Beispielen, wie Richard Heller eines vorgetragen habe, gäbe es auch die Fälle der mangelhaften Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Vertrauenskörper. Koopmann wies i n diesem Zusammenhang auf die Entstehung der Konzeption der Vertrauensleutearbeit i n der I G Metall i n den fünfziger Jahren hin. Fritz Strothmann vom Vorstand der I G Metall habe damals die Forderung nach Kontrolle des Betriebsrats durch die Vertrauensleute aufgestellt. Von Richard Heller wurde die Erwähnung Strothmanns aufgegriffen: Auch er sehe die Vertrauensleute als Kontrolle des Betriebsrats i m gewerkschaftlichen Sinne. Abschließend kritisierte er die stattfindende Diskussion über die gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen, da er angesichts der Beschäftigungsprobleme eine Auseinandersetzung über gewerkschaftliche Zielsetzungen für dringlicher halte. Georg Benz sah zwischen Betriebsrat und Vertrauensleuten eher eine gegenseitige Kontrollfunktion. Er wies darauf hin, daß i n der innergewerkschaftlichen „Sprachregelung" der Ausdruck Kontrolle zu Recht i n Vergessenheit geraten sei. Entscheidend sei, daß die gewerkschaftlich organisierten Betriebsratsmitglieder auch gewerkschaftliche Vertrauensleute sind. M i t den neuen Richtlinien der I G Metall für die Vertrauensleute s.ei die Funktion der Vertrauensleute bestimmt und ihre indirekte Verbindung zur Satzung hergestellt. Hughues Blassel formulierte für die französische Situation einen zweifachen Dualismus: einmal den zwischen Verhandlungssystem und dezentralen Aktionen und zweitens den zwischen Betriebsausschüssen und Gewerkschaftssektionen i m Betrieb. Dabei stehe der Gewerkschaftssektion die Koordination der Aktionen zu.

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4. I n einem Diskussionsbeitrag von Andreas Resch wurde die Konzentration der Tagung auf die Themen Zentralisierung/Dezentralisierung, Verrechtlichung und dualistische Strukturierung der betrieblichen I n teressenvertretung kritisiert. Dagegen wurden als umfassenderer Diskussionsansatz die beiden „historischen Dimensionen" vorgeschlagen, die i n der Gewerkschaftsbewegung anzutreffen seien: zum einen die Gewerkschaften als Verband von Beschäftigten, von Arbeitsplatzbesitzern, deren Interessenvertretung betriebs- oder branchenbezogen die beschäftigten Arbeitnehmer schützt; zum anderen die Gewerkschaften als Garanten einer Klassenpolitik, die sich auf die Gesamtgesellschaft bezieht. (Nach Vetter: Schutz- und Gestaltungsfunktion der Gewerkschaften.) I m Hinblick auf die Diskussion über die Gewerkschaftsstruktur sei zu betonen, daß es i n Europa kein organisatorisches Modell gebe, welches das zwischen diesen beiden Dimensionen bestehende Spannungsverhältnis beseitigte. I m gleichen Beitrag wurde der internationale Vergleich von betrieblicher Gewerkschaftspolitik und Organisationsstrukturen m i t dem H i n weis auf den gewerkschaftlichen Pluralismus, der i n den meisten westeuropäischen Ländern herrscht, relativiert. Denn i n der Bundesrepublik bestimme die Existenz der Einheitsgewerkschaft die organisatorischen Probleme allgemein wie i m Betrieb. Die .in diesem Beitrag eingeführte Begrifflichkeit wurde zunächst von Georg Benz aufgegriffen. Er machte die Möglichkeit der Gewerkschaften, gesellschaftspolitisch wirksam zu werden, „Klassenpolitik" zu betreiben, von der allgemeinen politischen Situation abhängig. Er ging auf die verbreiteten Forderungen nach Konjunkturprogrammen an die Regierungen ein und verwies dann auf die weitergehende — sowohl i n den Niederlanden wie i n der Bundesrepublik artikulierte — Forderung nach der Einrichtung von Wirtschafts- und Sozialräten. Sie sollten beispielsweise i n der Berufsbildung tätig werden, also i n Bereichen, wo die Gewerkschaften bisher keinen Einfluß haben. Über diesen Weg sei es möglich, ein Stück Politik weiterzuentwickeln. 5. I m Vorgriff auf den zweiten Teil der Diskussion wies Richard Heller auf einige Schwierigkeiten der internationalen Kooperation zwischen Gewerkschaftern hin. Dabei warnte er davor, zur Lösung organisatorischer Schwierigkeiten Modelle gewerkschaftlicher Betriebspolitik aus anderen Ländern übernehmen zu wollen. Ein zentraler Bereich der internationalen Koordination müsse auf jeden Fall die Auseinandersetzung m i t dem Beschäftigungsproblem sein. Wenn hier die Gegenmaßnahmen i m nationalen Horizont verblieben, würden die Beschäftigungsschwierigkeiten nur von einem ins andere Land verlagert, da die industriellen Überkapazitäten, wie zur Zeit am Beispiel 20·

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der Stahlindustrie sehr deutlich werde, branchenweit international vorhanden seien. Heller verlangte eine Kontrollmöglichkeit für die Verwendung der Subventionen zur Arbeitsplatzbeschaffung, damit die nationalen Subventionen für die Erhaltung von krisenbetroffenen Betrieben bzw. für die Rationalisierung nicht mehr konkurrenzfähiger Betriebe nicht i m Endeffekt die Vernichtung von Arbeitsplätzen — wenn auch vielleicht i n einem anderen Land — bewirken. Gegen dieses Dilemma müsse von den Gewerkschaften i m europäischen Rahmen Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt werden, obwohl es bereits zweifelhaft sei, daß selbst sofortige Arbeitszeitverkürzungen die Auswirkungen der Rationalisierung noch begrenzen könnten. II. Teil: Probleme und Perspektiven

europäischer Gewerkschaftspolitik

Die vier Redner Günter Köpke, Ernst Piehl, Werner Olle und Peter Seideneck gingen i n ihren Beiträgen auf Probleme und Perspektiven für eine internationale Kooperation der Gewerkschaften, vor allem auf europäischer Ebene, ein. Diese Beiträge werden hier i n der Reihenfolge dokumentiert, i n der sie auch bei der Abschlußveranstaltung vorgetragen wurden. 1. Als erster verdeutlichte Günter Köpke am Beispiel der Mikroelektronik, wie die internationale Gewerkschaftspolitik direkt i n die betriebliche Praxis hineinreicht, sie beeinflußt oder zumindest beeinflussen kann: „Die Einführung der Mikroelektronik i n zahlreichen Industriezweigen und i m Dienstleistungsbereich w i r d die Beschäftigungsentwicklung nachhaltig beeinflussen und zugleich zu Änderungen am Arbeitsplatz führen. Dies ist ein Problem, das keine Ländergrenzen kennt und nahezu i n allen Ländern fast gleichzeitig auf uns zukommt. Die Gewerkschaften sind aufgerufen, hierzu Antworten zu finden, und zwar gemeinsame Antworten i m Rahmen des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) und nach Möglichkeit darüber hinaus. Es gibt zwei denkbare Strategien, und die Gewerkschaften i n Europa haben sich für die zweite Alternative entschieden. Die erste Strategie wäre, kategorisch die Einführung neuer Technologien zu verhindern, also etwa i n Form einer modernen Maschinenstürmerei. W i r wissen aus historischer Erfahrung, daß diese Einstellung nicht tragfähig ist. Deshalb haben w i r uns i m Rahmen des EGB, aber auch i m Rahmen des Gewerkschaftsrates der OECD, der die japanischen und amerikanischen Gewerkschaften m i t einschließt, für die zweite Strategie entschieden: neue Technologien anzunehmen, aber deren Einführung nur unter

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strikten Bedingungen zuzulassen, d. h. unter Kontrolle durch die Belegschaften und Arbeitnehmer selbst. Bei dieser Strategie müssen i n allen Ländern von den Betriebs- oder Fabrikräten, oder wie immer die vergleichbaren Institutionen heißen, von vornherein zwei Grundsätze i m Auge behalten werden, nämlich erstens muß vor jeder Einführung neuer Technik verlangt werden, daß über die Bedingungen und Auswirkungen verhandelt wird. Sehr oft werden Technologien einseitig von den Unternehmern als neue Produktionsstruktur eingeführt, und dann w i r d nachträglich erst über die Folgen verhandelt, u m das Schlimmste zu verhindern. W i r müssen uns i m europäischen Rahmen darüber klar werden, wie w i r hier vorgehen. Und der zweite Grundsatz ist, vor Verhandlungen braucht man genauere Informationen, und dazu müssen entsprechende Mechanismen noch aufgebaut werden. Die Erfahrung der nordischen Gewerkschaften ist uns i n dieser Hinsicht vielleicht etwas behilflich, ohne daß ich dies hier als »Exportartikel 4 anpreisen möchte. Denn i n Norwegen haben bereits 1975 die Gewerkschaften und die Arbeitgeber ein Rahmenabkommen über die Bedingungen der Einführung neuer Technologien abgeschlossen. I n diesem Rahmenabkommen ist u. a. der Grundsatz verankert, daß kein Unternehmen i n Norwegen von sich aus diese Technologie einführen kann, wenn nicht i m Betrieb zwischen beiden Seiten zuvor verhandelt worden ist. Und die schwedischen Gewerkschaften sind auf eine andere Idee gekommen. Da diese neuen Technologien sehr kompliziert sind und ihre technische Wirkungsweise häufig nicht i n vollem Umfang verstanden wird, haben sie gefordert, daß — ich nenne es einmal so — spezielle gewerkschaftliche Vertrauensleute benannt werden, die sich ausschließlich m i t diesen Fragen beschäftigen. Ich nenne diese Beispiele nur, u m zu verdeutlichen, daß angesichts der Schwierigkeiten, diese Probleme i n den Betrieben zu lösen, über angemessene gewerkschaftliche Lösungen noch sehr scharf nachgedacht werden muß. U m die Bedeutung gemeinsamer gewerkschaftlicher Strategien i n diesem Bereich zu ermessen, müssen w i r uns das Ausmaß der vor uns liegenden Arbeitslosigkeit klar machen. Wenn man bis 1985 i n Westeuropa insgesamt nur eine als 2 °/oige Arbeitslosigkeit definierte »Vollbeschäftigung 4 erreichen wollte (einige Gewerkschaften würden diese Definition nicht akzeptieren), dann müssen selbst zur Erreichung dieses bescheidenen Ziels nach unseren Berechnungen 16 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen werden, d. h. ohne die ohnehin erforderlichen Ersatzarbeitsplätze. Und wenn man sich nun die Frage stellt, wo diese A r beitsplätze geschaffen werden können, dann sieht das B i l d sehr düster aus: i n der Landwirtschaft w i r d die Abwanderung eher noch zunehmen; i m industriellen Bereich gibt es für Arbeitsplatzzuwächse nur noch sehr

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beschränkte Möglichkeiten; und auch die Entwicklung i m tertiären Sektor ist angesichts der gegenwärtigen Kürzungen der öffentlichen Haushalte eher pessimistisch zu beurteilen. Und wenn i n dieser Situation dann noch der breite Schub der Einführung neuer Technologien hinzukommt, dann kann man sich das ganze Ausmaß der Katastrophe vorstellen. Und deswegen ist es so wichtig, daß w i r von klaren gemeinsamen Grundsätzen ausgehen, u m uns vor dieser Welle zu rüsten und ihr m i t entsprechenden gewerkschaftlichen M i t t e l n entgegenzuwirken." 2. Bezugnehmend auf den Verlauf der Tagung stellte Ernst Piehl i n seinem Beitrag die Notwendigkeit einer verstärkten Information über das, was sich i n den Gewerkschaften anderer Länder vollzieht, heraus. Viel mehr als i n der Vergangenheit sollte über die verschiedenen Formen und ihre Verbindungen, über die verschiedenen Aktionsvorschläge und die jeweiligen Inhalte der gewerkschaftlichen Politik informiert werden. I n seinen Ausführungen verdeutlichte Ernst Piehl, was der Europäische Gewerkschaftsbund gegenwärtig leisten kann, u m dieses Defizit zu beheben: „Die Informationsfunktion ist die erste Hauptaufgabe, die der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) täglich leisten muß. Bislang geschieht dies noch i n Form recht bescheidener Informationsbulletins; i n Form von vergleichenden Studien i n Zusammenarbeit m i t dem Europäischen Gewerkschaftsinstitut; und i n Form von Pressearbeit. Hier wäre anzumerken, daß es sehr wichtig wäre, daß die nationale Gewerkschaftspresse diese Informationen i n größerem Umfang aufnimmt als bisher. Diese Informationsarbeit dient gleichzeitig der Vorbereitung der Entscheidungsfindung, die i m internationalen Rahmen allerdings ungleich schwieriger ist als innerhalb der einzelnen Länder. I m internationalen Bereich sind w i r m i t dem Problem erheblicher nationaler Unterschiede konfrontiert, die bis heute fortwirken. Dennoch gibt es einige Bereiche, i n denen es zumindest zu einem Minimalkonsens gekommen ist. Und die lange Liste von Organisationen, die die Mitgliedschaft i m EGB beantragt haben, zeigt, daß der EGB i n den sieben Jahren seines Bestehens nicht ganz ohne Erfolg gearbeitet hat. Die zweite Hauptaufgabe des EGB besteht darin, die gemeinsamen Positionen möglichst konkret umzusetzen und i n den Prozeß der europäischen Integration einzubringen, sie auch kämpferisch gegenüber den EG-Institutionen zu vertreten. Dieser Prozeß der europäischen Integration greift i n vielfältigen Formen immer mehr i n die Rechte der Arbeitnehmer i n den einzelnen Ländern ein, und die europäische Gewerkschaftsbewegung muß sich diesem Problem stellen. Hierzu w i l l ich ein Beispiel nennen: es gibt aktuell — nach jahrelangen Differenzen i n den Brüsseler Organen — den Vorschlag zur

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Erweiterung der Informations- und Konsultationsrechte -der Arbeitnehmer i n Großkonzernen, namentlich i n multinationalen Konzernen. Wenn dieser Vorschlag Gesetzeskraft erlangt, haben die Gewerkschaften i n allen europäischen Ländern die Möglichkeit, auf dem Wege einer obligatorischen Informationspflicht der Unternehmen Kenntnis über deren Investitionsvorhaben zu erlangen, auch über grenzüberschreitende Investitionen. Bislang endet die Informationspfiicht an den nationalen Grenzen. Als letzte Hauptaufgabe stellt sich für den EGB das noch schwierigere Feld, direkte Aktionen auf europäischer Ebene anzuregen und deren Durchführung nach Möglichkeit zu koordinieren. Hierzu ist der EGB natürlich auf Unterstützung angewiesen. Der EGB kann nur soviel leisten, wie seine 33 Mitgliedsorganisationen bereit sind, mitzutragen, d. h. ein Verbund zwischen nationaler A k t i o n und europäischer Koordinierung stattfindet. Ich w i l l m i t der Information abschließen, daß der Vorstand des EGB i n der letzten Woche eine dritte Kampagne gegen die Arbeitslosigkeit i n Europa beschlossen hat. Diese Kampagne soll i n verschiedenen Formen durchgeführt werden: ζ. B. über zentrale Kundgebungen i n den europäischen Hauptstädten; über dezentrale Betriebsversammlungen; über Manifestationen i n bestimmten Regionen, insbesondere i n den Grenzregionen." 3. Werner Olle ging i n seinem Beitrag auf die Schlüsselstellung der nationalen Gewerkschaften ein, die diese für eine internationale Gewerkschaftspolitik haben. „Auch heute stellt die internationale Gewerkschaftskooperation ein notwendiges Element zur Erkämpfung und Absicherung gewerkschaftlicher Positionen i m internationalen Rahmen dar. Die jüngsten (erfolgreichen) Arbeitskämpfe m i t internationaler Dimension — wie ζ. B. bei Coca Cola i n Guatemala und J. P. Stevens i n den USA, i n denen es jeweils u m die Anerkennung grundlegender gewerkschaftlicher Rechte ging — haben diese Notwendigkeit erneut unterstrichen. Auch i n der gegenwärtig so drängenden Frage der Arbeitszeitverkürzung scheint m i r die internationale Kooperation und Koordination der Gewerkschaften zwingend: Keiner nationalen Gewerkschaft w i r d es gelingen, bereits erreichte Erfolge i n der Arbeitszeitverkürzung dauerhaft zu sichern, wenn diese nicht von analogen Entwicklungsprozessen i n anderen Ländern begleitet werden. Weisen derartige Beispiele der internationalen Gewerkschaftsarbeit eine nicht zu unterschätzende Unterstützungsfunktion für den Handlungsspielraum der nationalen Gewerkschaften zu, so läßt sich umgekehrt zeigen, daß die internationale Arbeit ihrerseits der tatkräftigen

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Unterstützung durch die nationalen Mitgliedsgewerkschaften bedarf. Die Vorstellung, internationale Gewerkschaftsarbeit könnte von den internationalen Sekretariaten i n Brüssel oder Genf getragen werden, geht an der Realität vorbei. Nach wie vor kommt den nationalen Organisationen eine Schlüsselstellung dabei zu, Impulse zur internationalen Kooperation i n die gewerkschaftliche Praxis umzusetzen, der internationalen Arbeit ein tragfähiges und dauerhaftes Fundament zu schaffen. Wenn w i r hier über Perspektiven der internationalen Gewerkschaftskooperation sprechen, muß auch über deren Defizite gesprochen werden. Defizite, die meines Erachtens gerade i n dieser Rolle der nationalen Organisationen als Träger der internationalen Gewerkschaftsarbeit anzusiedeln sind. I n zumindest viererlei Hinsicht scheinen m i r derartige Defizite unübersehbar, aber nicht unüberwindbar: — Internationale Gewerkschaftskooperation setzt die vorurteilsfreie Informiertheit der Mitglieder über gewerkschaftliche Entwicklungstendenzen i n anderen Ländern voraus. Hierzu sollten die nationalen Organisationen i n ihrer Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit weit stärker beitragen, als dies gegenwärtig geschieht. U m es zu betonen, es geht i n der Bildungsarbeit nicht u m eine separate »Spielwiese1 für Internationales, sondern darum, daß sich gerade jener Bereich der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, i n dessen Mittelpunkt die betrieblichen und tarifpolitischen Probleme stehen (also die Bildungsarbeit der Einzelgewerkschaften), sich den internationalen Fragen und Vergleichen öffnet und diese i n die »normale 4 Bildungsarbeit integriert. — Internationale Gewerkschaftskooperation setzt die Bereitschaft der nationalen Organisationen voraus, hierfür angemessene materielle Voraussetzungen zu schaffen. Die Mittel, die i n zahlreichen nationalen Organisationen für die internationale Gewerkschaftsarbeit zur Verfügung gestellt werden, müssen als vergleichsweise bescheiden bezeichnet werden. Bescheiden zumindest angesichts der Probleme, vor die sich heute die Gewerkschaftsbewegung i n vielen Teilen der Welt gestellt sieht. — Den nationalen Organisationen kommt ferner eine Schlüsselrolle dabei zu, das vielleicht entscheidendste Defizit der internationalen Arbeit weiter zu verringern: ihre mangelnde Erfahrbarkeit durch die Mitglieder. Hierfür sind zwei Ansatzpunkte gegeben: zum einen darin, bestehende Strukturen wie etwa die gewerkschaftlichen WeltkQnzernausschüsse durchlässiger zu gestalten, sie den

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Betriebsräten und Vertrauensleuten der verschiedenen Konzernunternehmen zu öffnen; zum anderen darin, auf allen Ebenen der gewerkschaftlichen Organisation die unmittelbaren Kontakte und Erfahrungsaustausche m i t ausländischen Gewerkschaften zu erleichtern und zu unterstützen. Ich möchte hier ganz offen aussprechen, daß ich es für ein Signal i n die falsche Richtung halte, wenn eine so große und bedeutende Organisation wie die I G Metall i n der Entschließung 30 des letzten Gewerkschaftstages formuliert, daß Kontakte zu ausländischen Gewerkschaften ,ausschließlich über den Vorstand der I G Metall' zu erfolgen hätten. Der internationalen Arbeit förderlicher wäre es meines Erachtens gewesen, wenn zusätzlich die Bezirksverwaltungen und Verwaltungsstellen ausdrücklich aufgefordert worden wären, alles i m Bereich ihrer Möglichkeiten Liegende zu tun, u m »mitgliedernahe' internationale Gewerkschaftskontakte aufzubauen und zu erhalten. — Den nationalen Organisationen kommt schließlich auch bei der Verarbeitung und Verallgemeinerung -praktischer Erfahrungen eine Schlüsselrolle zu. Ich möchte dies an einem Beispiel erläutern: 1972 ist es i m Akzo-Konzern zu einer viel beachteten und erfolgreichen Solidarisierung zwischen dem niederländischen Werk Breda und und dem deutschen Werk Wuppertal gekommen. Gleichzeitig aber auch zu einer Desolidarisierung zwischen den verschiedenen deutschen Werken, da diese unterschiedlich von der drohenden Stillegung betroffen waren. Gegenwärtig sind die Beschäftigten dieses Konzerns von einer erneuten Stillegungswelle bedroht, ohne daß erkennbar wäre, i n welcher Richtung die früheren unterschiedlichen Erfahrungen wirken. Nur eine solche erfahrungsorientierte Verarbeitung und innerorganisatorische Verallgemeinerung betrieblicher Konfliktsituationen w i r d uns letztlich gewerkschaftspolitisch tragfähige Auskünfte darüber geben, wie »internationale gewerkschaftliche Solidarität' entsteht und an welchen Hindernissen sie sich immer wieder bricht." 4. Peter Seideneck sprach i n seinen Ausführungen vorrangig die Existenz richtungsgewerkschaftlicher Barrieren bei der internationalen Zusammenarbeit der Gewerkschaften an. Die Überwindung der richtungsgewerkschaftlichen Barrieren ist als ein mühsamer historischer Prozeß zu sehen. „Das ganze Dilemma der Praxis internationaler Gewerkschaftsarbeit w i r d bewußt, wenn man den Gesamtverlauf dieser Tagung betrachtet. Dies ist gar nicht kritisch gemeint, sondern bezieht sich auf einen

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charakteristischenn Sachverhalt, auf den man i n der Beschäftigung mit Fragen internationaler Gewerkschaftspolitik immer stößt. Es ist ja kein Zufall, daß es während dieser Tagung eigentlich keine eindeutige A n t w o r t auf die Frage gab, wo die gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten der europäischen Gewerkschaften liegen. W i r haben uns stattdessen zunächst einmal damit begnügen müssen, Erfahrungen auszutauschen, was ich für äußerst wichtig halte. Dies ist i m übrigen auch eine zentrale Funktion der europäischen Gewerkschaftszusammenschlüsse auf Branchenebene und des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Eine ganze Reihe von Problemen spielt sich dabei leider auf einer sehr abstrakten Ebene ab. Und dazu gehört — und diese Frage möchte ich aufgreifen — auch die Frage der organisationspolitischen Zusammensetzung des EGB. Zunächst einmal: Dieser 1973 gegründete Europäische Gewerkschaftsbund ist sehr jung. A l l e i n seine Gründung war ein historischer Schritt, denn es war eine Ablösung von der (richtungsgewerkschaftlich orientierten) ,Mutter 4 Internationaler Bund freier Gewerkschaften (IBFG). Diesen EGB könnte man als eine Organisation vom Typ Einheitsgewerkschaft i n dem Sinne bezeichnen, daß der EGB durch seine Zusammensetzung klar macht, daß es i n Westeuropa nicht zwei oder drei unterschiedliche Interessenvertretungen geben kann, die gegeneinander arbeiten. Aber dieser EGB ist auch Reflex der nationalen Realitäten i n der Gewerkschaftspolitik. Das heißt, er spiegelt auch gewerkschaftspolitische Situationen der Länder wider, i n denen es keine gewerkschaftliche Einheit gibt. Schließlich gibt es auch einen Zusammenhang zwischen dem Prozeß i n Richtung einer gewerkschaftlichen Einheit (im nationalen Rahmen) und der organisationspolitischen Erweiterung des EGB. Diese Prozesse kann man nicht voneinander trennen. So ist z.B. die Aufnahme der italienischen CGIL 1974 dadurch entscheidend erleichtert worden, daß es i n Italien eine Entwicklung h i n zur gewerkschaftlichen Einheit gab, und für die Föderation der drei italienischen Dachverbände die Aufnahme der CGIL eine essentielle Forderung war. Eine solche Situation finden w i r i n Frankreich gegenwärtig nicht vor. Ich b i n aber davon überzeugt, daß es auch i n Frankreich einen, wenn auch i m Augenblick nur sehr schwer erkennbaren Prozeß h i n zu mehr gewerkschaftlicher Zusammenarbeit geben wird. Und eine solche Zusammenarbeit hätte auch die Herstellung gewerkschaftspolitischer Einheit zur Perspektive. Dies steht nicht i m Widerspruch zu den derzeit verschärften Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen französischen Gewerkschaften. Ich glaube, daß es sich hierbei lediglich u m eine Etappe i n der Entwicklung handelt, die möglicherweise ähnlich

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wie i n Italien zu mehr gewerkschaftlicher Zusammenarbeit führen wird. Aber wenn man heute die Frage der Aufnahme der CGT i n den EGB diskutiert, so darf man von der gegenwärtigen gewerkschaftspolitischen Situation i n Frankreich nicht einfach abstrahieren. Nun gibt es i n dieser Frage zwei Denkrichtungen. Die eine sagt, man solle die CGT i n den EGB aufnehmen. Dann könne man einen Beitrag dazu leisten, daß die drei französischen Dachverbände zwangsweise zu mehr Zusammenarbeit kommen. Die andere sagt, die CGT befinde sich gegenwärtig i n einer Phase einer rekonservativen Tendenz. Die Aufnahme der CGT i n den EGB, der aus historischen Gründen eine noch sehr fragile Struktur hat, würde daher dessen Handlungsfähigkeit belasten. Dies ist auch meine ganz persönliche Auffassung. I m übrigen muß man auch darauf verweisen, daß die CGT ihren Aufnahmeantrag sehr spät gestellt hat. W i r diskutieren zwar schon seit 5 Jahren darüber, aber der Aufnahmeantrag wurde von der CGT erst i m Frühjahr 1979 gestellt, einige Monate vor dem 3. EGB-Kongreß i n München. Die CGT-Aufnahme ist natürlich nicht die zentrale Frage der Tätigkeit des EGB, und auch nicht die einzige und zentrale Aufnahmefrage. Es gibt noch eine Reihe anderer Aufnahmeanträge, die sehr wichtig sind wie ζ. B. der Aufnahmeantrag der spanischen Arbeiterkommissionen. Der EGB w i r d noch i m Frühsommer 1981 über den vorliegenden Aufnahmeantrag entscheiden bzw. eine Lösung unterhalb der A u f nahme finden, die keine Ablehnung bedeutet. Ich kann versichern, daß der Aufnahmeantrag der spanischen Arbeiterkommissionen seitens des EGB mit außerordentlicher Sensibilität diskutiert wird. Ich hoffe, daß diese Diskussion zu einer klugen Lösung führt, die für alle Seiten befriedigend ist. Denn das Handlungsprinzip i m heutigen EGB heißt Konsens. I n zentralen Fragen nach Mehrheitsentscheidungen zu verfahren, wäre eine Belastungsprobe, die den EGB gegenwärtig noch überfordern würde. Es scheint m i r notwendig, daß w i r i n dieser Frage der Aufnahmeanträge ehrlich miteinander diskutieren. Der Kern des EGB besteht aus Organisationen, die aus dem I B F G kommen. Dieser Hintergrund der internationalen Gewerkschaftsgeschichte w i r k t bis heute fort. Es ist also nicht leicht, dem Europäischen Gewerkschaftsbund einen organisationspolitischen Rahmen zu geben, der innerhalb weniger Jahre sich all des Ballastes entledigt, der über 20 - 25 Jahre des kalten Krieges aufgetürmt worden ist. Man muß diese Probleme daher m i t sehr viel Geduld angehen, sie als Prozeß betrachten." I n der noch verbleibenden Zeit gingen zwei Diskussionsredner insbesondere auf die Dringlichkeit einer verbesserten und direkten Information über die internationale Gewerkschaftsarbeit ein. Heribert Kohl

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berichtete von einem Gewerkschaftstreffen i m Metallbereich i n Turin, das i h m bestätigte, wie groß die Bereitschaft seitens aller italienischen Gewerkschaftsrichtungen war, für mehr direkten Kontakt und Erfahrungsaustausch auf Branchen- und Betriebsebene einzutreten. Eli Marx bestätigte auch für die britische Gewerkschaftsbewegung, daß die mangelnde Durchlässigkeit von Informationen ein entscheidendes Problem sei: „Die Weitervermittlung von Informationen geht nicht sehr weit. Sie erreicht nicht die regionalen oder betrieblichen Organisationen. Aber ohne eine solche Informationsstruktur können w i r auch keine grenzüberschreitenden Aktionen erwarten." Eine lobenswerte Ausnahme seien Kontakte zwischen britischen und deutschen Ford- und Opel-Werken; Kontakte, die allerdings häufig als „außergewerkschaftlich" angesehen werden, weil sie über die vorhandene Struktur der internationalen Arbeit hinausgehen. Insgesamt wurde bedauert, daß erst zum Ende der Tagung diese für die praktische Arbeit so wichtigen Probleme angesprochen wurden.

Referenten, Diskussionsleiter und Diskussionsberichterstatter der 16. Internatioalen Tagung der Sozialakademie Dortmund Sophie G. Alf, 1RES (Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut der CGIL), Rom Günter

Bechtle,

I n s t i t u t für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF), München/APRES, Rom Georg Benz, Vorstand I G Metall, F r a n k f u r t a. M . Reimar

Birkwald,

Vorstand I G Metall, F r a n k f u r t a. M. Hughues

Blassel,

Confédération Française Démocratique du T r a v a i l (CFDT), Paris Manfred Bobke , Wirtschafte- u n d Sozialwissenschaftliches I n s t i t u t des DGB (WSI), Düsseldorf Wolf gang Böhm, Sozialakademie D o r t m u n d Roger Briesch, Confédération Française Démocratique d u T r a v a i l (CFDT), Paris Ludwig Bußmann, Sozialakademie D o r t m u n d Wolf gang Däubler, Universität Bremen Günther R. Degen, Landesinstitut für Curriculumentwicklung, Lehrerfortbildung u n d Weiterbildung, Neuß a. Rh. Lutz Dieckerhoff, Vorstand I G Metall, F r a n k f u r t a. M . Rainer Erd, I n s t i t u t für Sozialforschung, F r a n k f u r t a. M . Tom Etty, Federatie Nederlandse Vakbeweging (FNV), Amsterdam Birgit

Geissler

Universität Bremen Stig Gustafsson, Tjänstemännens Centraiorganisation (TCO), Stockholm

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Referenten, Diskussionsleiter u n d Diskussionsberichterstatter

Horst Hart, Universität Göteborg Richard

Heller,

Betriebsratsvorsitzender A d a m Opel A G , Rüsselsheim Marion F.

Hellmann,

Projektgruppe Internationale Gewerkschaftspolitik (PIGEP), B e r l i n Peter

Jansen,

Paris/Freie Universität B e r l i n Karl

Koch,

Universität v o n Surrey Günter

Köpke,

Europäisches Gewerkschaftsinstitut (EGI), Brüssel Klaus

Koopmann,

Universität Bremen Peter

Kühne,

Sozialakademie D o r t m u n d Hans-Detlev

Küller,

DGB-Bundesvorstand, Düsseldorf Wolf gang Lecher, Wirtschafts- u n d Sozialwissenschaftliches I n s t i t u t des D G B (WSI), Düsseldorf Claus Leggewie, Universität Göttingen Gerhard Leminsky, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Helmut Martens, Landesinstitut Sozialforschungsstelle, D o r t m u n d Eli Marx, Transport and General Workers U n i o n (TGWU), London Heinz

Mathiessen,

DGB-Bundesvorstand, Düsseldorf Werner

Oesterheld,

Projektgruppe Internationale Gewerkschaftspolitik (PIGEP), B e r l i n Antonio

Ojeda-Aviles,

Universität Sevilla Werner Olle, Projektgruppe Internationale Gewerkschaftspolitik (PIGEP), B e r l i n Marcello Pedrazzoli, Universität Bologna Ernst Piehl, EGB, Brüssel

Referenten, Diskussionsleiter u n d Diskussionsberichterstatter Hans Pornschlegel, Sozialakademie D o r t m u n d Bob Reinalda, Universität Nijmegen Bettina

Runge,

Sozialakademie D o r t m u n d Helmut

Schauer,

Soziologisches Forschungsinstitut (SOFI), Göttingen Roland Schneider, EGB, Brüssel/Wirtschafts- u n d Sozial wissenschaftliches I n s t i t u t des DGB (WSI), Düsseldorf Peter Seideneck, Leiter des Abgeordnetenbüros Heinz Oskar Vetter beim Europa-Parlament Enrico

Taliani,

Universität Pisa Rainer Volz, Universität Bremen Perygrin Warneke, Sozialakademie D o r t m u n d Hans H. Wohlgemuth, DGB-Bundesvorstand, Düsseldorf Rainer

Zoll,

Universität Bremen