Das gewerkschaftliche Streikmonopol: Der Streik zwischen Verfassung und Völkerrecht [1 ed.] 9783428555277, 9783428155279

Die Arbeit befasst sich mit der Zulässigkeit des nicht gewerkschaftlichen Streiks (»Wilder Streik«) in Deutschland. Sie

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Das gewerkschaftliche Streikmonopol: Der Streik zwischen Verfassung und Völkerrecht [1 ed.]
 9783428555277, 9783428155279

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Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 353

Das gewerkschaftliche Streikmonopol Der Streik zwischen Verfassung und Völkerrecht

Von

Hubertus Reinbach

Duncker & Humblot · Berlin

HUBERTUS REINBACH

Das gewerkschaftliche Streikmonopol

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Matthias Jacobs, Hamburg Prof. Dr. Rüdiger Krause, Göttingen Prof. Dr. Sebastian Krebber, Freiburg Prof. Dr. Thomas Lobinger, Heidelberg Prof. Dr. Markus Stoffels, Heidelberg Prof. Dr. Raimund Waltermann, Bonn

Band 353

Das gewerkschaftliche Streikmonopol Der Streik zwischen Verfassung und Völkerrecht

Von

Hubertus Reinbach

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Die Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 0582-0227 ISBN 978-3-428-15527-9 (Print) ISBN 978-3-428-55527-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85527-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit wurde am 14. Februar 2018 vom Promotionsausschuss der Bucerius Law School, Hochschule für Rechtswissenschaft, Hamburg als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 16. Mai 2018 statt. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur sind bis September 2018 berücksichtigt. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. ­Matthias Jacobs, der bei mir als Erster die Begeisterung für das Arbeitsrecht geweckt hat und ohne den diese Arbeit nicht entstanden wäre. Er war mir in schwierigen Phasen immer der richtige Ansprechpartner und ermöglichte mir den nötigen Freiraum, die Wissenschaft mit meinen sportlichen Zielen zu verknüpfen. Einen besseren Doktorvater hätte ich mir nicht wünschen können. Herrn Prof. Dr. Mehrdad Payandeh möchte ich für das unheimlich zügige Zweitgutachten danken. Dem Arbeitskreis Wirtschaft und Recht im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft danke ich für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung dieser Arbeit. Während der gesamten Bearbeitungsphase haben mich viele Freunde auf unterschiedliche Art und Weise unterstützt. Stellvertretend danke ich Frau Lara Herbertz und Herrn Julian Pöhler für die kritische Reflexion meiner Thesen, viele Gespräche und die wertvolle Hilfe bei der Korrektur der Arbeit. Ein besonderer Dank gebührt schließlich meiner Familie. Sie hat sich der umfangreichen Lektüre gewidmet und hat mich stets auf dem Weg zum Gelingen der Arbeit bedingungslos unterstützt. Insbesondere möchte ich meinem Vater Dr. Dirk Reinbach, meiner Mutter Dr. Elke Franziska Reinbach und Frau Tina Stadlmayer danken, die das Werk aus der nichtjuristischen Brille kritisch begutachtet haben und mir wertvolle Tipps gegeben haben. Ich widme diese Arbeit meinem Großvater Herrn Horst Marquardt, der stets ein besonderes Vorbild für mich war. München, Oktober 2018

Hubertus Reinbach

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht

Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Gang der Untersuchung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Teil

Grundlagen der Untersuchung 25

1. Kapitel: Streik als Untersuchungsgegenstand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Kapitel: Streik in Deutschland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Kapitel: Nichtgewerkschaftlicher Streik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4. Kapitel: Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Teil Völkerrecht 62 1. Kapitel: Überblick zum Völkerrecht  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Kapitel: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. Kapitel: Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4. Kapitel: Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Teil Grundgesetz 148 1. Kapitel: Verortung des Streiks im Grundgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Kapitel: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3. Kapitel: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4. Kapitel: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5. Kapitel: Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

8

Inhaltsübersicht 4. Teil



Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 263

1. Kapitel: Verfassungsrechtliche Bewertung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2. Kapitel: Einfluss des Völkerrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 3. Kapitel: Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 5. Teil

Konsequenzen und Folgeüberlegungen 344

1. Kapitel: Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik?  . . . . . . . . . 344 2. Kapitel: Regeln für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 3. Kapitel: Allgemeine Überlegungen zum Arbeitskampfrecht  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 4. Kapitel: Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Zusammenfassung der Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Stichwortverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Gang der Untersuchung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

1. Teil

Grundlagen der Untersuchung 25 1. Kapitel



Streik als Untersuchungsgegenstand 25

A. Arbeitskampf als rechtlicher Begriff und soziales Phänomen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I.

Rechtlicher Begriff des Arbeitskampfes  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

II.

Arbeitskampf als soziales Phänomen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

B. Begriff des Streiks  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 C. Begriff des „wilden Streiks“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Kapitel

Streik in Deutschland 33

A. Historische Entwicklung des Streiks  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Einführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Mittelalter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 III. Industrialisierung und Kaiserreich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Weimarer Zeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 V.

Bundesrepublik Deutschland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

B. Bewertung des Streiks durch das Bundesarbeitsgericht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Kapitel

Nichtgewerkschaftlicher Streik 45

A. Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das Bundesarbeitsgericht  .. . . . . 46 I.

Gewerkschaftsbegriff in Deutschland  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

II.

Deliktsrechtliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks  .. . . . . . . 49

Inhaltsverzeichnis

10

III. Arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks  . . . . . 51 B. Möglichkeiten der Streikträgerschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 C. Soziale Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks und Rechtsvergleichung  . 56 4. Kapitel Ergebnisse 60

2. Teil Völkerrecht 62 1. Kapitel

Überblick zum Völkerrecht 63

A. Streikrechtliche Quellen im Völkerrecht  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 B. Bedeutung völkerrechtlicher Verträge im nationalen Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 I.

Innerstaatliche Geltung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

II.

Unmittelbare Anwendbarkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

III. Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 C. Auslegung völkerrechtlicher Verträge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Kapitel

Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht 72

A. Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 I. Schutzbereich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

II.

1. Wortlaut  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Systematische Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Teleologische Auslegung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4. Spruchpraxis des Europäischen Komitees für soziale Rechte und des Ministerkomitees  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Beschränkungsmöglichkeit nach Art. 31 Abs. 1 Europäische Sozialcharta  85

1. Einschränkung durch Richterrecht?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Rechtfertigung der Einschränkung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 III. Stellung des Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta in der deutschen Rechts­ ordnung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Unmittelbare Anwendbarkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Mittelbare Anwendbarkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 B. Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Inhaltsverzeichnis

11

I. Schutzbereich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

II.

1. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte  . 97 2. Prognose zum nichtgewerkschaftlichen Streik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Beschränkungsmöglichkeiten nach Art. 11 Abs. 2 und Art. 14 Europäische Menschenrechtskonvention  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

III. Stellung des Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention in der deutschen Rechtsordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 C. UN-Menschenrechtspakte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I.

Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 lit. d Internationaler Pakt über wirtschaft­liche, soziale und kulturelle Rechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

II. Beschränkungsmöglichkeiten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 III. Stellung des Art. 8 Abs. 1 lit. d Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in der deutschen Rechtsordnung  . . . . . . . . . . . . 125 D. ILO-Übereinkommen Nr. 87  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 I.

Schutzbereich des Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

II. Beschränkungsmöglichkeiten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 III. Stellung des ILO-Übereinkommens Nr. 87 in der deutschen Rechtsordnung  136 3. Kapitel

Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht 137

A. Schutzbereich des Art. 28 Europäische Grundrechtecharta  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 I.

Auswirkungen des Zusatzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

II.

Eigenständige Gewährleistung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

III. Suspendierendes Streikrecht?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 B. Beschränkungsmöglichkeiten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4. Kapitel Ergebnisse 146

3. Teil Grundgesetz 148 1. Kapitel

Verortung des Streiks im Grundgesetz 148

A. Verortung in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 B. Verortung außerhalb von Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 C. Zwischenergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Inhaltsverzeichnis

12

2. Kapitel

Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick 152

A. Personeller Schutzbereich der Koalitionsfreiheit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 I.

„Jedermann-Grundrecht“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

II. Doppelgrundrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 III. Koalitionsbegriff .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Begriff der Vereinigung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2. Bedeutung des Koalitionszwecks  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 B. Subjektiv-rechtliche Dimension: Koalitionsfreiheit als Abwehrrecht  . . . . . . . . . . . . . 163 I.

Abstrakte Einordnung der Grundrechte als Abwehrrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . 163

II.

Abwehrrechtlicher Inhalt der Koalitionsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Schutz der Bildungsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Schutz der Betätigungsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a) Wortlaut .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Systematische Auslegung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Historisch-genetische Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 d) Teleologische Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 e) Ergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

C. Objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 D. Zwischenergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Kapitel

Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension 176

A. Streik als Element der Betätigungsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 I.

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

II.

1. Vom Kernbereich zu einem weiten Grundrechtsverständnis  .. . . . . . . . . 178 2. Der Streik in der Rechtsprechung des BVerfG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und Ansichten in der Literatur  186 1. Koalitionszweck als gemeinsamer Nenner aller Ansichten  . . . . . . . . . . . 187 2. Enge Tatbestandstheorie: Weitere Voraussetzungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Herrschende Meinung in der Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 aa) Wortlautbezogene Argumentation und teleologische Erwägungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 bb) Funktionsbezogene Argumentation mit Tarifautonomie im Zentrum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 cc) Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . 198 dd) Tatbestandlicher Ausgleich widerstreitender Grundrechte  . . . 199

Inhaltsverzeichnis

13

ee) Einfachrechtliche Argumentation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Weite Tatbestandstheorie: keine weiteren Voraussetzungen  . . . . . . . . . . 200 a) Tarifvertrag nicht alleiniges Mittel der Koalitionseinigung  . . . . . . . . 201 b) Arbeitskampf als Mittel zur Verfolgung des Koalitionszwecks  . . . . 202 c) Historische Argumentation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 d) Abwehrrechtlicher Ansatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 e) Trennung zwischen natürlicher und normativer Freiheit  . . . . . . . . . . . 204 III. Stellungnahme: Umfassender Schutz des Streiks  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Wortlaut  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Systematische Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 a) Koalitionsfreiheit und andere Normen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 b) Allgemeine Grundrechtssystematik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3. Historisch-genetische Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4. Teleologische Auslegung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 IV. Einfluss des Völkerrechts?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 V. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 B. Streik als natürliche und normative Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 I. Einordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

II.

1. Natürliche Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Normative Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 a) Keine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . 228 b) Unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG  . . . . . . . . . . 229 c) Zivilrechtliche Generalklauseln als Einfallstore für eine Suspendierungswirkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 d) Vergleich mit Erklärungsmodellen zum tariflichen Normsetzungsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 e) Zusammenfassung zur normativen Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3. Auswirkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 4. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Abwehrrechtlicher Schutz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Natürliche Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Normative Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

C. Zwischenergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4. Kapitel

Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension 245

A. Streik als Einrichtungsgarantie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 B. Streik als Bezugspunkt von Verfahrens- und Organisationsgarantien  . . . . . . . . . . . . . 250

Inhaltsverzeichnis

14

C. Streik als Bezugspunkt der Schutzpflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 I.

Grundrechtliche Schutzpflicht im Allgemeinen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

II.

Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

D. Einfluss des Völkerrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 E. Zwischenergebnis  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5. Kapitel Ergebnisse 261

4. Teil

Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 263



Verfassungsrechtliche Bewertung 264

1. Kapitel A. Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum nichtgewerkschaftlichen Streik: Eingriff oder Ausgestaltung?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 I.

Begriffliche Einführung zu den Kategorien Eingriff und Ausgestaltung  .. 265

II.

Eingriff und Ausgestaltung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

III. Eingriff und Ausgestaltung in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 IV. Ansichten in der Literatur zu Eingriff und Ausgestaltung  . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

V.

Stimmen gegen eine Unterscheidung von Eingriff und Ausgestaltung  273 Unterscheidung nach Intensität  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Unterscheidung nach subjektivem Kriterium  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Unterscheidung nach „Ob“ und „Wie“  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Unterscheidung nach Hemmung grundrechtlicher Prinzipien  . . . . . . . . 279 Unterscheidung nach Erforderlichkeit einer Grundrechtsabwägung  .. 280 Ausgestaltung bei normativem Verhalten und als Koordinierungsmittel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 8. Ausgestaltung bei normativer Freiheit und Eingriff bei natürlicher Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 9. Eingriff bei Aktivierung des Abwehrrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Abschließende Stellungnahme: Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung anhand des Abwehrrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

VI. Abschließende Einordnung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum nichtgewerkschaftlichen Streik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 1. Nichtgewerkschaftlicher Streik und Deliktsrecht: Grundrechtseingriff  287 2. Nichtgewerkschaftlicher Streik und Arbeitsvertrag  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Inhaltsverzeichnis

15

a) Suspendierungswirkung: Grundrechtsausgestaltung  . . . . . . . . . . . . . . . 291 b) Arbeitsrechtliche Sanktionsmittel: Möglichkeit einer Grundrechtsbeeinträchtigung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 B. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum nichtgewerkschaftlichen Streik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 I.

II.

Abstrakte Darstellung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 GG  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1. Grundrechtseingriffe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 a) Eingriffsrechtfertigung im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 GG  . . . . . . . . . 298 b) Insbesondere: Vorbehalt des Gesetzes und Wesentlichkeitstheorie  . 299 c) Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. Grundrechtsausgestaltung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 a) Grundrechtsausgestaltung im Normalfall  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 b) Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 3. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Übertragung auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum nicht­ gewerkschaftlichen Streik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 1.

Deliktsrechtliche Bewertung: Verfassungswidriger Grundrechtseingriff  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 a) Legitimer Zweck  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 b) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 c) Erforderlichkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 d) Angemessenheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 e) Zwischenergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 2. Suspendierungswirkung: Verfassungskonforme Grundrechtsaus­gestaltung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 a) Ausgestaltung aus Perspektive des Streikenden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 b) Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 2. Kapitel



Einfluss des Völkerrechts 337

A. Deliktsrechtliche Bewertung: Völkerrechtswidriger Grundrechtseingriff  . . . . . . . . . 337 B. Suspendierungswirkung: Vorbehalt des Gesetzes vor Völkerrecht?  .. . . . . . . . . . . . . . 338 C. Arbeitsrechtliche Sanktionsmittel: Berücksichtigungspflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 3. Kapitel Ergebnisse 341

16

Inhaltsverzeichnis 5. Teil



Konsequenzen und Folgeüberlegungen 344



Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik? 344

1. Kapitel A. Anordnung durch das Bundesarbeitsgericht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 B. Anordnung durch den Gesetzgeber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 2. Kapitel

Regeln für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht 351

A. Nichtgewerkschaftliches Streikrecht und Friedenspflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 B. Formale Regeln eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 3. Kapitel

Allgemeine Überlegungen zum Arbeitskampfrecht 354 4. Kapitel

Ergebnisse 356

Zusammenfassung der Ergebnisse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Stichwortverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

a.A. andere Ansicht AcP Archiv für die civilistische Praxis AöR Archiv für öffentliches Recht AP Arbeitsrechtliche Praxis AR Blattei ES Arbeitsrecht Blattei ES ArbG Arbeitsgericht Art. Artikel AuR Arbeit und Recht BAG Bundesarbeitsgericht BB Der Betriebsberater Beil. Beilage BetrVG Betriebsverfassungsgesetz BGB Bürgerliches Gesetzbuch BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerwG Bundesverwaltungsgericht CEACR Sachverständigenausschuss der ILO CFA Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der ILO DB Der Betrieb DöV Die öffentliche Verwaltung DVBl. Deutsche Verwaltungsblätter EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EKSR Europäisches Komitee für soziale Rechte EMRK Europäische Menschenrechtskonvention ESC Europäische Sozialcharta EuGH Europäischer Gerichtshof EuR Europarecht EuZA Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EzA Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht Fn. Fußnote FS Festschrift GG Grundgesetz GMH Gewerkschaftliche Monatshefte GS Großer Senat h.M. herrschende Meinung IGH Internationaler Gerichtshof IJCL International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations ILO International Labour Organization

18

Abkürzungsverzeichnis

IPbpR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IPwskR Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft KuR Kirche und Recht, Zeitschrift für die kirchliche und staatliche Praxis LAG Landesarbeitsgericht NJW Neue Juristische Wochenschrift NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA-RR Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Rechtsprechungs-Report RdA Recht der Arbeit RG Reichsgericht Rn. Randnummer S. Satz SR Soziales Recht TVG Tarifvertragsgesetz WVRK Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZESAR Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht ZG Zeitschrift für Gesetzgebung ZJS Zeitschrift für das Juristische Studium ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZTR Zeitschrift für Tarifrecht

Einleitung Einleitung Einleitung

In Deutschland existiert kein Gesetz zum Arbeitskampf. Daher sind die rechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Streiks ausschließlich durch Gerichtsentscheidungen entwickelt worden. Bereits 1955 befand das Bundesarbeitsgericht, dass ein Streik in bestimmten Grenzen erlaubt sein müsse und ein sozialadäquates Mittel sein könne.1 Das Gericht stellte fest, dass der durch eine Gewerkschaft organisierte Streik legitim sei und zu einer Suspendierung der Hauptpflichten der streikenden Arbeitnehmer führe. Noch in der Weimarer Republik verletzte der Streik generell die Hauptpflichten des Arbeitnehmer, so dass diese entweder vor dem Streik ihr Arbeitsverhältnis kündigen mussten oder arbeitsrechtliche Konsequenzen wie Kündigungen oder Schadensersatzforderungen des Arbeitgebers zu befürchten hatten. Anstatt diese Weiterentwicklung des Streiks am Grundgesetz oder an einem einfachen Gesetz festzumachen, soll sich das Bundesarbeitsgericht unter Führung seines Präsidenten Nipperdey zunächst an sozialethischen Maßstäben orientiert haben.2 Diese hatte Nipperdey selbst im Rahmen einer zuvor von ihm veröffentlichen „Lehre der Sozialadäquanz“ aufgestellt.3 Zu den später durch das Bundesarbeitsgericht entwickelten Kriterien gehört insbesondere, dass nur ein gewerkschaftlicher Streik legitim ist. Der nichtgewerkschaftliche Streik sei hingegen rechtswidrig und führe zu einer deliktsrechtlichen Schadensersatzhaftung der Arbeitnehmer nach § 823 Abs. 1 BGB und unter Umständen zur verhaltensbedingten Kündigung der Arbeitnehmer.4 Demnach bedürfen Arbeitnehmer einer Gewerkschaft, um rechtmäßig streiken zu können. Diese Einordnung des Streiks als Gewerkschaftsmonopol wird bis heute – trotz zwischenzeitlicher Zuordnung des Streiks zu Art. 9 Abs. 3 GG – mehrheitlich durch die Rechtsprechung und die Wissenschaft vertreten. Die praktische Relevanz des nichtgewerkschaftlichen Streiks zeigt jedoch ein Streik von über 760 Mitarbeitern des Bremer Mercedes Werks in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 2014. Dieser nichtgewerkschaftliche Streik wurde da1 

BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 287; Dieterich, in: FS Jaeger, S. 101 f.; Kittner, in: FS Jaeger, S. 504. 3  Nipperdey, Gutachten Zeitungsstreik, S. 41 ff. 4  Siehe nur BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 886; BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236. 2 Vgl.

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Einleitung

durch ausgelöst, dass die zuständige Gewerkschaft IG Metall einen geplanten Arbeitskampf nicht unterstützen wollte. Das Ziel der streikenden Arbeitnehmer war unter anderem, die Auslagerung von 140 bestehenden Logistikarbeitsplätzen an Fremdfirmen zu verhindern und die zukünftige Vergabe von Leiharbeitsplätzen zu reduzieren.5 Mehrere Arbeitnehmer erhielten infolge des Streiks Abmahnungen, gegen die über 30 Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht Bremen Klage einlegten (Aktenzeichen: 6 Ca 6166/15). Das Arbeitsgericht wies die Klage am 16. 2. 2016 insbesondere mit der Begründung ab, die streikende Arbeitnehmergruppe habe keine „ernsthafte Verhandlung“ mit Mercedes geführt.6 Die dagegen eingelegte Berufung wies das Bremer Landesarbeitsgericht am 9. 3. 2017 (2 Sa 67/16) zurück, da Mercedes in der Zwischenzeit die Abmahnung aus der Personalakte entfernt hatte und sich daher der ursprüngliche Klagegrund erledigt hatte. In seiner Pressemitteilung wies das Landesarbeitsgericht Bremen allerdings ausdrücklich darauf hin, dass mit dem Urteil keine Entscheidung über die Vereinbarkeit des durch Richterrecht geprägten deutschen Arbeitskampfrechts mit völkerrechtlichen Vorgaben verbunden sei.7 Damit ließ das Gericht die Tür zu einer Überprüfung des streikrechtlichen Gewerkschaftsmonopols ausdrücklich offen. Laut dem Vorsitzenden Richter des Landesarbeitsgerichts Bremen ist das Gericht nur aus prozessualen Gründen nicht in der Lage gewesen, über diese „sicherlich hoch spannende Frage“ zu entscheiden.8 Geht man von dem durch das Bundesverfassungsgericht bestätigten verfassungsrechtlichen Schutz des Streiks durch Art. 9 Abs. 3 GG aus,9 verwundert eine Einschränkung des Streikrechts auf Gewerkschaften tatsächlich, da das Grundrecht allgemein Arbeitnehmerkoalitionen schützt und nicht nur Gewerkschaften. Der Koalitionsbegriff ist anerkanntermaßen weiter als der Gewerkschaftsbegriff. Nach der im Folgenden zu entwickelnden Auffassung kann der Koalitionsbegriff unter bestimmten Voraussetzungen sogar erfüllt sein, wenn sich Arbeitnehmer „ad-hoc“ zu einem gemeinsamen Zweck zusammenschließen. 5 Siehe dazu die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Bremen unter http://www.ar beitsgericht.bremen.de/sixcms/media.php/13/Pressemitteilung_16_02_2016.pdf, Abruf am 31. 5. 2016. 6 Siehe dazu die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Bremen unter http://www. arbeitsgericht.bremen.de/sixcms/media.php/13/Pressemitteilung_16_02_2016.pdf, Abruf am 31. 5. 2016; aus der Presse: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ mercedes-streik-gericht-weist-klage-gegen-abmahnungen-ab/12971880.html, Abruf am 31. 5. 2016. 7 Siehe dazu die Pressemitteilung unter http://www.landesarbeitsgericht.bremen.de/ sixcms/media.php/13/Pressemitteilung%20vom%2009.pdf, Abruf am 10. 3. 2017. 8  So die Wiedergabe der Urteilsbegründung auf http://www.lto.de/recht/nachrichten/n/ lag-bremen-2sa6716-streik-verbandsfrei-streikaufruf-mercedes/, Abruf am 10. 3. 2017. 9  Erstmals BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810 (Arbeitskampf); BVerfG, Beschl. v. 02. 03. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380 (Streik).

Einleitung

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Zusätzlich wird der Einfluss des Völkerrechts auf das deutsche Streikrecht immer größer und es ist zu fragen, ob das Gewerkschaftsmonopol auch vor diesem Hintergrund bestehen kann. Das Ministerkomitee des Europarats und das Europäische Komitee für soziale Rechte haben die deutsche Rechtslage bereits mehrfach kritisiert und mit Verweis auf den weiten Schutz des Streiks durch die Europäische Sozialcharta gefordert, den zwingenden Tarifbezug und die Bindung des Streiks an Gewerkschaften aufzuheben.10 Unter diesem Einfluss hat das Bundesarbeitsgericht zumindest in zwei Urteilen angedeutet, dass das Verständnis vom Streik als rein tarifvertragliches Hilfsinstrument einer „erneuten Überprüfung“11 bedürfen könnte. In einem anderen Bereich des Streikrechts hat das Völkerrecht zudem bereits eine tiefgreifende Diskussion zum nationalen Recht hervorgerufen. So war das Bundesverwaltungsgericht – anders als das nachfolgende Bundesverfassungsgericht – der Ansicht, dass das deutsche Verbot von Beamtenstreiks nicht mit der Gewerkschaftsfreiheit aus Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sei und der deutsche Gesetzgeber die entgegenstehenden nationalen Regelungen modifizieren müsse.12 Diese unterschiedlichen Einflüsse erfordern eine neue dogmatische Herleitung des streikrechtlichen Schutzes in Deutschland und die Analyse, ob die zwingende Bindung des Streiks an Gewerkschaften zulässig ist. Dabei muss beiden – den verfassungsrechtlichen und den völkerrechtlichen Vorgaben – zu größtmöglicher Wirksamkeit verholfen werden. Insbesondere dürfen die schutzwürdigen Interessen der Arbeitgeber als Vertrags- und Verhandlungspartner der Arbeitnehmerseite dabei nicht unberücksichtigt bleiben. Insgesamt soll diese Arbeit ein dogmatisches Modell für den Streik entwickeln, das ihn „widerspruchsfrei und in den Folgen stimmig in die Wert- und Gestaltungsmaximen der geltenden nationalen Ordnung und ihrem supranationalen Rechts- und Entfaltungsraum einfügt“13.

10  Siehe zur Kritik des Ministerkomitees Recommendation No R Chs (98) 2 on the application of the European Social Charter by Germany during the period 1993 – 94 (13th supervision cycle – part IV); zur Kritik des EKSR Conclusions XV-1 (2001), Germany, Article 6 – 4: „As an ordinary group of workers cannot readily form a union fulfilling ­these criteria for the purpose of a strike, the Committee maintains that the situation is not in conformity with Article 6 para. 4 as regards the right to call a strike.“ 11  BAG, Urt. v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 740; ähnlich BAG, Urt. v. 24. 4. 2007, 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987, 994: „Im Streitfall bedarf es keiner Erörterung der Frage, ob diese Beschränkung mit den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus völkerrechtlichen Verträgen, etwa aus Teil II Art. 6 Nr. 4 der Europäischen Sozialcharta zu vereinbaren ist.“; vgl. zu Demonstrationsstreiks ohne Bezug zu Tarifverträgen BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057. 12 BVerwG, Urt. v. 27. 2. 2014, 2 C 1/13, NZA 2014, 616, 620 f.; a.A. im Ergebnis ­BVerfG, Urt. v. 12. 6. 2018, 2 BvR 1738/12 u.a., NJW 2018, 2695, 2707 in Rn. 172 ff. 13  So die Idealvorstellung einer Arbeitskampfdogmatik von Picker, ZfA 2010, 586, 631.

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Einleitung

Die Arbeit geht von der Arbeitshypothese aus, dass ein generelles Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks in Deutschland unzulässig ist. Das Bundesarbeitsgericht verstößt mit seiner gegenteiligen Auffassung gegen Völkerrecht und gegen das Grundgesetz. Der Untersuchungsgegenstand der Arbeit wird in zweifacher Hinsicht begrenzt: Zum einen soll sich die Untersuchung nur auf einen Streik im nationalen Kontext beziehen und nicht auf grenzüberschreitende Arbeitsniederlegungen oder Streiks europäischer Beamter.14 Zum anderen wird nur die rechtliche Beziehung zwischen dem einzelnen Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber Gegenstand der Untersuchung sein, während das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern durch den Fokus auf nichtgewerkschaftliche Streiks nicht näher betrachtet wird.

14  Siehe dazu beispielsweise: Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 353 ff.; Skouris, RdA-Beil. 2009, 25, 27 ff.; Zwanziger, RdA-Beil. 2009, 10.

Gang der Untersuchung Gang der Untersuchung Gang der Untersuchung

Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, wovon der 1. Teil grundlegende Erläuterungen zu den Untersuchungsgegenständen liefern soll. Der späteren Untersuchung werden zuerst Definitionen vorangestellt, damit der Leser im weiteren Verlauf über ein präzises Verständnis der verwendeten Begriffe verfügt. Zudem wird der Streik aus historischer Sicht dargestellt, wobei am Ende auf die aktuell geltende Rechtslage des Streiks in Deutschland genauer eingegangen wird. Abschließend wird das in Deutschland geltende Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks näher erläutert, da es den Bezugspunkt der nachfolgenden Analyse darstellt. In diesem Zusammenhang werden Bedeutung und Ursachen des nichtgewerkschaftlichen Streiks erläutert und ein rechtsvergleichender Überblick gegeben. Der anschließende 2. Teil erörtert, in welchem Umfang der nichtgewerkschaftliche Streik im Völkerrecht geschützt ist. Dazu wird auf die jeweiligen Schutzbereiche sowie auf die Einschränkungsmöglichkeiten eingegangen. Zudem wird erläutert, welche Stellung und welchen Einfluss die jeweilige Norm im deutschen Recht hat. Abschließend wird in einem kurzen Überblick auf das Unionsrecht eingegangen, das mit der Grundrechtecharta ebenfalls eine Gewährleistung des Streiks enthält. Der 3. Teil hat den Streik in der deutschen Verfassung zum Gegenstand und arbeitet dessen grundrechtlichen Schutz heraus. Dazu wird der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) analysiert und insbesondere geprüft, ob der nichtgewerkschaftliche Streik umfasst ist. Neben der abwehrrechtlichen Dimension des Art. 9 Abs. 3 GG wird ausführlich auf die objektiv-rechtliche Dimension des Grundrechts eingegangen und erläutert, welchen Einfluss diese auf den Streik als Koalitionsbetätigung hat. Die völkerrechtlichen Einflüsse werden an den relevanten Stellen berücksichtigt. Im 4. Teil wird die Rechtsprechung des BAG zum nichtgewerkschaftlichen Streik einer ausführlichen verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen. Dabei wird insbesondere erörtert, ob es sich um einen Grundrechtseingriff oder um eine Grundrechtsausgestaltung handelt. Auch hier werden die völkerrechtlichen Einflüsse berücksichtigt. Der abschließende 5. Teil behandelt Konsequenzen und Folgeüberlegungen, die sich aus den vorhergehenden Ergebnissen der Arbeit ergeben. Dazu gehört insbesondere die Frage, wie der Gesetzgeber und das Bundesarbeitsgericht den nichtgewerkschaftlichen Streik in Zukunft behandeln müssen und wer dazu die

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Gang der Untersuchung

rechtsstaatliche Kompetenz besitzt. Abgerundet wird das Bild durch eigene Vorschläge, welche Einschränkungen des nichtgewerkschaftlichen Streiks vorgenommen werden können, um den Arbeitgeber vor unverhältnismäßigen Schäden zu schützen.

1. Teil

Grundlagen der Untersuchung 1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

Bevor die drei Ebenen Völkerrecht, Verfassung und Rechtsprechung analysiert werden, soll zunächst eine allgemeine Darstellung des Streiks erfolgen. Dazu erfolgen eine begriffliche Einordnung und eine Einführung in die historische Entwicklung des Streiks in der Bundesrepublik Deutschland. Im Anschluss wird das Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks in Deutschland dargestellt, bevor diese Bewertung in den danach folgenden Teilen der Arbeit aus unterschiedlicher Perspektive hinterfragt wird. 1. Kapitel

Streik als Untersuchungsgegenstand 1. Kap.: Streik als Untersuchungsgegenstand

Bevor im 3. Kapitel konkret auf den nichtgewerkschaftlichen Streik eingegangen wird, erfolgt im Folgenden zunächst eine begriffliche Annäherung an den Arbeitskampf und den Streik. Bereits die Begriffsbildung kann über die zulässige Reichweite eines Streiks entscheiden, indem bestimmte Sachverhalte a priori ausgeklammert werden können.1 Dadurch entsteht ein nicht nur theoretisches Bedürfnis, grundlegende Untersuchungsgegenstände begrifflich einzuordnen.

A.  Arbeitskampf als rechtlicher Begriff und soziales Phänomen Der Arbeitskampf ist dem Streik und den anderen einzelnen arbeitsrechtlichen Kampfmitteln übergeordnet.2 Um sich dem Streik als primären Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit zu nähern, ist daher zuerst auf den Arbeitskampf einzugehen. Er soll im Folgenden aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden – als rechtlicher Begriff und als soziales Phänomen.

1 Vgl.

Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 73. den einzelnen Kampfmitteln des Arbeitskampfes Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 95; zum Arbeitskampfrecht als Rahmen der tatsächlichen Austragung Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 3. 2  Zu

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

I.  Rechtlicher Begriff des Arbeitskampfes Eine allgemeine Definition des Arbeitskampfes hat der Gesetzgeber nicht geschaffen.3 Es existieren zwar vereinzelt gesetzliche Erwähnungen, doch regeln diese nicht die begrifflichen oder rechtlichen Voraussetzungen eines Arbeitskampfes.4 Die Rechtsprechung spricht zwar den Arbeitskampf an, hat ihn aber bisher nicht eindeutig definieren können.5 In der Literatur werden Definitionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten vertreten.6 Überwiegend wird heute ein weites Begriffsverständnis vertreten.7 Dies bedeutet im Grundsatz, dass der Arbeitskampf eine Störung des Arbeitslebens durch die Arbeitsparteien mittels kollektiver Kampfmittel ist, um zur Erreichung eines Ziels Druck auf den Vertragspartner auszuüben.8 Früher wurde zusätzlich gefordert, dass ein Arbeitskampf auf bestimmte Ziele wie beispielsweise eine kollektivvertragliche Regelung gerichtet sein müsse.9 Ein solches Verständnis, das bereits auf Definitionsebene bestimmte Ziele aussortiert, verhindert jedoch eine Auseinandersetzung mit den möglichen Zielen eines Arbeitskampfes auf Ebene der rechtlichen Bewertung.10 Das weite Begriffsverständnis der herrschenden Meinung ist daher vorzugswürdig. Als Oberbegriff umfasst der Arbeitskampf insbesondere die beiden Arbeitskampfmittel Streik und Aussperrung.11 3  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 94; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 1. 4  Beispielsweise in Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG, § 146 SGB III oder § 25 KSchG, dazu näher: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 25; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 5. 5 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 73: „In der zweiten Entscheidung des Großen Senats zum Arbeitskampf findet sich lediglich die Aussage, Arbeitskämpfe seien notwendig, um Interessenkonflikte über arbeits- und Wirtschaftsbedingungen austragen zu können.“, siehe dazu BAG GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, NJW 1971, 1668, 1669. 6  Zu Definitionsansätzen in der Literatur mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 73 ff.; Gooren, Tarifbezug, S. 43 ff. 7  Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 2; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 3. 8  Vgl. zum Arbeitskampfbegriff: Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 94; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 8, Rn. 2 ff.; Koch, in: Arbeitsrecht von A - Z, Arbeitskampf; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 2; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 3; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 6. 9  Hueck/Nipperdey, Lehrbuch Arbeitsrecht, Bd. II/2, S. 870. 10 Vgl. Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 3; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 77; Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 106; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 6; ausführlich Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 815 ff. 11  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 95; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 152.

1. Kap.: Streik als Untersuchungsgegenstand

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II.  Arbeitskampf als soziales Phänomen Abhängige Arbeitsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unterliegen unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen. Vor allem bezüglich der Begründung und der Höhe von Lohnansprüchen sind Konflikte zwischen den beiden Parteien vorprogrammiert.12 Die Arbeitgeberseite befindet sich dabei zumeist in einer stärkeren Position, da sie über die Arbeitsplätze und die Verwendung ihres Gewinns eigenständig verfügen kann. Der einzelne Arbeitnehmer hingegen ist zur Existenzsicherung auf den Arbeitslohn angewiesen.13 Insbesondere der Beginn des Industriezeitalters in der Mitte des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass die antagonistischen Interessengegensätze regelmäßig in Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitsparteien mündeten.14 Als Reaktion auf die strukturell ungleiche Verhandlungslage begannen die Arbeitnehmer, sich in Gruppen zusammenzuschließen. Gebündelt verfügten sie über eine bessere Verhandlungsposition und machten ihre Rechte und ihre Interessen gegenüber dem Arbeitgeber als Kollektiv geltend.15 Mit dem Bedürfnis, eine Einigung zu erzielen oder überhaupt Verhandlungsbereitschaft der Gegenseite hervorzurufen, entstand in diesem Zusammenhang das Phänomen gegenseitiger Druckausübung. Ursächlich dafür ist, dass kein rechtlicher Anspruch gegen die andere Partei existiert, eine neue Vereinbarung abzuschließen.16 Vorübergehende Arbeitsniederlegung oder die Einstellung der Entgeltzahlung wurden daher zu Mitteln der Konfliktparteien, eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen. Dieser vom Staat unabhängige „sozialpolitische Reformimpuls“17 wird als Arbeitskampf bezeichnet.18 Er ist daher nicht nur ein juristisches Instrument, sondern zugleich ein „soziales Phänomen“19, das insbe12 

Rüthers, NZA 2010, 6 f.; Bruhn, Tariffähigkeit, S. 72. Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 3; vgl. zum „Schutzbedarf“ Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 18. 14  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 16; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 195, Rn. 1, der jedoch auch darauf hinweist, dass es bereits im „Altertum und auch im Mittelalter“ Arbeitskonflikte gab; vgl. Ziebarth, ArbR Aktuell 2015, 122, 123, der darauf hinweist, dass der Streik bereits über dreitausend Jahre alt ist; allgemein zu Ursachen für Arbeitskonflikte: Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 8, Rn. 1. 15  Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 67; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 16; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 3; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 43. 16  Siehe nur hinsichtlich des Tarifvertrags Fischer, NZA 2015, 1303. 17  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 98. 18  Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 1 f.; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 8, Rn. 1; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 309; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 1 f.; Ziebarth, ArbR Aktuell 2015, 122, 123; Rose, Streikrecht nichtorganisierter Arbeitnehmer, S. 51 f. 19  Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 1; Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 181. 13  von

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

sondere den Arbeitnehmern hilft, ihre Arbeitsbedingungen fair aushandeln zu können.20 Dementsprechend gilt der Arbeitskampf auch als eine der Ursachen für die Entstehung des Tarifwesens.21

B.  Begriff des Streiks Der Streik ist innerhalb des Arbeitskampfes das wichtigste Kampfmittel der Arbeitnehmer.22 Er ist durch eine gemeinsame und planmäßige Niederlegung der Arbeit durch mehrere Arbeitnehmer gekennzeichnet mit der die vorübergehende Weigerung einhergeht, die vertraglich geschuldete Arbeit zu erbringen.23 Das Ziel eines Streiks ist die Ausübung von Druck auf den Arbeitgeber oder Dritte, um einen bisher nicht existierenden Zustand herbeizuführen.24 Dieses Ziel kann betrieblicher, tarifvertraglicher, abstrakt wirtschaftlicher oder auch politischer Natur sein. Der Inhalt des Zieles ist jedoch nicht Teil der Streikdefinition.25 Es hat nur Einfluss auf die spätere Beurteilung, ob es sich um einen rechtmäßigen oder rechtswidrigen Streik handelt.26 Der Streik ist zudem ein „Kollektiv-Kampfmittel“27, das der Mitwirkung mehrerer Arbeitnehmer bedarf. Die Arbeitsniederlegung eines einzelnen Arbeitnehmers ist begrifflich kein Streik. Der Streik 20  Ziebarth, ArbR Aktuell 2015, 122, 123; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 1. 21  Gooren, Tarifbezug, S. 96; Höfling, in: FS Friauf, S. 386; Ehrmann, NZA 1991, 1: „Der Arbeitskampf war historisch also nicht Ausfluß und Mittel der Tarifautonomie, sondern als Teil des über die Betriebe und das Arbeitsleben hinausreichenden Klassenkampfes das wohl wertvollste Instrument der sich formierenden Arbeiterklasse zur Erringung der Koalitionsfreiheit und zur Wahrung und Förderung ihrer sonstigen Rechte.“ 22  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 8, Rn. 11; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 314; vgl. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 94, 161; Kortstock, in: Nipperdey Lexikon Arbeitsrecht, Arbeitskampf. 23  Vgl. zum Streikbegriff: Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 8, Rn. 11; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 322; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 161; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 985; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 5; Koch, in: Arbeitsrecht von A - Z, Streik; Rüthers, JZ 1970, 625. 24 Vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 1: „Dabei geht es beim Arbeitskampf um die aus der jeweiligen Sicht optimale zukünftige Gestaltung in Abänderung der bestehenden Regelung, also nicht um die Durchsetzung rechtlich geregelter Inhalte; vgl. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 161. 25  Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 106; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 988; Rüthers, JZ 1970, 625; Neumann-Duesberg, BB 1963, 1442, 1443; Reuss, Juristen-Jahrbuch 1963/64, 163, 166; anders dagegen Bruhn, Tariffähigkeit, S. 143, der als Ziel des Streiks den Abschluss eines Tarifvertrags angibt. 26  Siehe dazu die Ausführungen im 1. Teil, 2. Kapitel, B., „Bewertung des Streiks durch das Bundesarbeitsgericht“. 27  Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 512; vgl. Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 70.

1. Kap.: Streik als Untersuchungsgegenstand

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steht unter kollektivem Vorbehalt.28 Welche rechtlichen Voraussetzungen dieses Kollektiv in Deutschland und im Völkerrecht erfüllen muss, wird im Rahmen dieser Arbeit erörtert.29 Eine Erläuterung muss in diesem Zusammenhang zum Begriff des „individuellen Streikrechts“ erfolgen.30 Dieses bedeutet nicht, dass der Streik individuell durch eine Person ausgeübt werden kann.31 Es besagt vielmehr, dass sich nicht nur das hinter dem Streik stehende Kollektiv auf das Streikrecht berufen kann, sondern auch der einzelne Teilnehmer.32 Ein Streik erfordert trotzdem immer die Arbeitsniederlegung durch ein Kollektiv. Entscheidend ist daher die Frage, welche Qualität das streikende Kollektiv erfüllen muss. Muss es sich um eine Gewerkschaft handeln? Kann das Kollektiv eine nichtgewerkschaftliche Koalition sein oder kann es auch nur als loser Zusammenschluss verbunden sein? Dies hängt von der jeweiligen Streikgewährleistung ab, die in dieser Arbeit für das Völkerrecht und das deutsche Recht ermittelt wird. Die Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks hängt daher nicht von der Frage ab, ob die jeweilige Rechtsordnung ein „individuelles Streikrecht“ garantiert.33 Für die folgende Untersuchung ist außerdem die Unterscheidung zwischen den Begriffen Streikfreiheit und Streikrecht relevant. Teilweise werden die Begriffe nicht unterschieden, so dass nicht eindeutig ist, worauf sich die Ausfüh-

28  Bruhn, Tariffähigkeit, S. 87; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 64 f.; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 34; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 166; vgl.: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 164; Konzen, AcP 1977, 473, 507; Raab, in: FS Otto, S. 413; Richardi, NZA 2014, 1233, 1236; Rudkowski, Streik in der Daseinsvorsorge, S. 13; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 30 f.; Picker, ZfA 2010, 586, 624 ff.; Reichold, ZTR 2012, 315, 318. 29  Siehe zum Völkerrecht den 2. Teil dieser Arbeit und zu Deutschland insbesondere den 3. Teil, 2. Kapitel, A., III „Koalitionsbegriff“. 30  Teilweise wird das individuelle Streikrecht auch als subjektives Streikrecht bezeichnet: Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 31 ff.; vgl. Birk/Konzen/Löwisch/ Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 64 f. 31  Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 64 f.; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 33 f.; Linsenmaier, RdA 2015, 369, 375; Rebhahn, NZA 2001, 763, 768; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 162; Zachert, NZA-Beil. 2006, 61, 66; zu Frankreich Le Friant, NZA-Beil. 2006, 75 f., wo das in der Verfassung verankerte individuelle Streikrecht grundsätzlich gemeinsam („kollektiv“) ausgeübt wird. 32 Insbesondere im Verhältnis zum Arbeitgeber: Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 34; Raab, in: FS Otto, S. 408; vgl. Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 7. 33  So jedoch Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 25; wohl auch Hilje, Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen, S. 164.

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

rungen beziehen.34 Beide Begriffe sind jedoch zu trennen.35 Die Streikfreiheit wird im abwehrrechtlichen Verhältnis des Bürgers zum Staat relevant.36 Das Abwehrrecht schützt den Grundrechtsträger davor, dass der Staat in ein bestimmtes Verhalten des Bürgers eingreift. In diesem Sinne verhindert die Streikfreiheit, dass der Staat kollektive Arbeitsniederlegung von Arbeitnehmern verbietet oder auf sonstige Weise beeinträchtigt. Insbesondere kann der Staat den Streik nicht ohne besondere Rechtfertigung strafrechtlich sanktionieren.37 Dasselbe muss für die staatliche Zuordnung des Streiks zum pönalisierenden Deliktsrecht gelten.38 Für den dort relevanten Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB ist eine umfassende Güter- und Interessenabwägung erforderlich, da es sich beim eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb um ein Rahmenrecht handelt. In der Abwägung muss der grundrechtliche Schutz des Streiks – die Streikfreiheit – berücksichtigt werden.39

34  So beispielsweise zum Streik Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 108 und zum Arbeitskampf Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 150. 35  Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 166 ff.; Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 165; ebenfalls bereits in Hinblick auf den nichtgewerkschaftlichen Streik ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 2. 36 Siehe Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 167, der auf die Freiheit vor staatlichen Ein- und Übergriffen hinweist; vgl. Witter, Europarechtliche Aspekte, S. 6 f.; vgl. Ramm, AuR 1971, 65, 76; vgl. den Vorschlag von Thoma im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates zu Art. 9 GG, dokumentiert bei Matz, JöR 1951, 116, 120; vgl. Zwanziger, RdA-Beil. 2009, 10, 11, der die Schutzfunktion der „Arbeitskampffreiheit“ betont; vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 61 f.; vgl. ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 2: „[…] zweckmäßig, wenn die allgemeine Zulassung von Streiks in der ersten Ebene als ,Streikfreiheit‘ und die Privilegierung des Streiks in der zweiten Ebene als ,Streikrecht‘ bezeichnet werden.“ 37  Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 19, Rn. 2; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 17.; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 166; vgl. zur Streikfreiheit in England Krause, in: FS Deutsch, S. 796. 38 Vgl. Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 166, für den die Streikfreiheit vor zivilrechtlichen Beschränkungen schützt; vgl. ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 2.; anders hingegen Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 19, Rn. 7, die die staatliche Ausgestaltung des Deliktsrecht an die Wirkungen eines „subjektiv-privaten Streikrechts“ bindet; ähnlich BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883 und Krause, in: FS Deutsch, S. 796. Verkannt wird jedoch, dass es für die Güterabwägung im Rahmen des deliktsrechtlichen § 823 Abs. 1 BGB nicht auf ein zivilrechtliches Streikrecht ankommt, sondern auf die Frage, ob ein Verhalten grundrechtlich im Sinne eines Freiheitsrechts geschützt ist. Für das Deliktsrecht ist somit die Streikfreiheit maßgeblich. 39  Siehe zum Einfluss der Streikfreiheit auf die erforderliche Güterabwägung im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, A., VI., 1. „Nichtgewerkschaftlicher Streik und Deliktsrecht: Grundrechtseingriff“.

1. Kap.: Streik als Untersuchungsgegenstand

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Das Streikrecht wird hingegen dort relevant, wo der Arbeitsvertrag dem Streik dadurch Grenzen setzt, dass er die Arbeitsleistung anordnet.40 Das Streikrecht verleiht den Streikenden in diesem Zusammenhang zivilrechtliche Befugnisse und geht über die grundrechtliche Abwehr staatlicher Einmischung hinaus. Als besondere Befugnis suspendiert das Streikrecht vorübergehend die vertragliche Pflicht zur Arbeitserbringung.41 Das Streikrecht ist in dieser Arbeit nur Gegenstand der Ausführungen, wenn besondere Auswirkungen des Streiks auf das Zivilrecht im „Bürger-Bürger-Verhältnis“42 analysiert werden. Im Gegenzug ist für das grundrechtliche Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat die Streikfreiheit relevant. Ist in dieser Arbeit allgemein vom Streik die Rede, ist damit in erster Linie die Streikfreiheit als Konsequenz eines grundrechtlichen Schutzes gemeint. Soweit sich die Ausführungen dagegen auf ein Streikrecht beziehen, geht damit die arbeitsvertragliche Zulässigkeit des Streiks einher. Letztlich ist vom Streik die Ausübung eines gesetzlichen Zurückbehaltungsrechtes abzugrenzen, welches im Falle einer kollektiven Ausübung mehrerer Arbeitnehmer einem Streik sehr ähnlich sein kann.43 Die Arbeitnehmer legen zwar ihre Arbeit ebenfalls nieder, doch ist dieses Verhalten nicht wie beim Streik zukunftsgerichtet. Es ist mit der „Geltendmachung einer bestehenden individualrechtlichen Position“44 vielmehr eine Reaktion auf eine Pflichtverletzung des Arbeitgebers dar. Dies kann beispielsweise ein nicht gezahlter Arbeitslohn für 40  Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 167; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 62; Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 19, Rn. 2; Krause, in: FS Deutsch, S. 795 f.; Witter, Europarechtliche Aspekte, S. 7; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 135; Ramm, AuR 1971, 65, 73 ff.; Bruhn, Tariffähigkeit, S. 145 f.; vgl. Richardi, NZA 2014, 1233, 1236: „Das Streikrecht ist deshalb zivilrechtsdogmatisch ein Gestaltungsrecht […].“; siehe ebenfalls die Erklärung des Abgeordneten Zinn (SPD) im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates zum Streikrecht, dokumentiert bei Matz, JöR 1951, 116, 118. 41  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 17: „[…] Hinwendung von der bloßen Streikfreiheit zu einem ,echten‘ Streikrecht. Während erstere nur dafür sorgt, dass der Streik strafrechtlich sanktionsfrei bleibt, wird der Streikende mit einem Streikrecht auch arbeitsvertraglich geschützt – nämlich durch Suspendierung der arbeitsvertraglichen Pflichten.“; Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 165 f.; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 167; Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 19, Rn. 2 ff.; Krause, in: FS Deutsch, S. 795 f; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 70; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 7; Witter, Europarechtliche Aspekte, S. 7 f.; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 2. 42 Siehe zur grundrechtsbezogenen Differenzierung zwischen „Staat-Bürger-Beziehung“ (Herrschaftsverhältnis) und „Bürger-Bürger-Verhältnis“ (Gleichordnungsverhältnis) Klein, NJW 1989, 1633 f. 43 Dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1092 ff.; Kittner, Arbeitskampf, S. 11; Grunsky, JuS 1967, 60, 64; zu einem Grenzfall zwischen beiden Kategorien BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, NJW 1964, 883. 44  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, NJW 1964, 883, 884.

1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

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den letzten Monat sein. Den Arbeitnehmern kann eine Einrede gemäß § 273 Abs. 1 BGB zustehen, so dass dadurch der Anspruch des Arbeitgebers auf Leistungserbringung nicht durchsetzbar ist. Da es sich im Gegensatz zum Streik um ein individuelles Einzelrecht des Arbeitnehmers handelt, muss jeder Arbeitnehmer die Einrede gemäß § 273 BGB oder § 320 BGB erheben.45

C.  Begriff des „wilden Streiks“ Der Begriff „wilder Streik“ ist eine gebräuchliche Bezeichnung für einen Streik, der nicht von einer Gewerkschaft getragen wird.46 Die Formulierung „wilder Streik“ beschreibt diese Streikform jedoch nicht objektiv, sondern greift durch die negative Bedeutung des Adjektivs „wild“ einer fundierten rechtlichen Analyse vorweg.47 Abschließende Bewertungen, denen ein rechtliches Urteil zu entnehmen ist, sollten nicht Teil eines rechtlichen Begriffes sein.48 Ansonsten besteht die Gefahr, dass aus der begrifflichen Bezeichnung auf die Rechtmäßigkeit der Handlung geschlossen wird. Daher sollte anstelle der Bezeichnung „wilder Streik“ der Begriff nichtgewerkschaftlicher Streik verwendet werden.49 In dieser Arbeit wird der Begriff „wilder Streik“ daher nur verwendet, wenn auf Ausführungen anderer Autoren Bezug genommen wird. Im Übrigen ist ein nichtgewerkschaftlicher Streik nicht grundsätzlich „wild“. Es sind nicht nur spontane „ad-hoc Koalition“ oder lose Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern, die als Träger eines nichtgewerkschaftlichen Streiks infrage kommen.50 Auch Koalitionen, die mangels Tariffähigkeit noch nicht den Gewerkschaftsstatus erreicht haben, können über den „ad-hoc Moment“ hinaus existieren 45 

BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, NJW 1964, 883, 884. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1085; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 242; Weitnauer, DB 1970, 1639; Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321 f.; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 115; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 205; Konzen, ZfA 1970, 159 f.; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 13; BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, NJW 1964, 883, 884: „Es handelte sich also um einen sogenannten wilden Streik, nämlich um einen Streik, der nicht von der Gewerkschaft ausging und von ihr auch nicht übernommen wurde.“; verkürzt hingegen Wienbracke, NZV 2018, 307, der den Begriff auf eine spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals reduziert. 47 Ähnlich Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 239; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 13; Zachert, AuR 2001, 401, in Fn. 5: „Begrifflichkeit ist abwertend“; Reuss, Juristen-Jahrbuch 1963/64, 163, 173. 48 Vgl. Reuss, Juristen-Jahrbuch 1963/64, 163, 173; Weitnauer, DB 1970, 1639; Jeschke, Der europäische Streik, S. 182: „Der Streikbegriff ist zu unterscheiden von der Rechtmäßigkeit des Streiks.“; vgl. zum Arbeitskampf Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 1. 49  Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 13; Seifert, EuZA 2013, 205, 214; vgl. Berg, in: BKS, AKR, Rn. 201; Ramm, AuR 1971, 65, Fn. 1. 50  Siehe die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III., 2. „Vereinigungsbegriff“. 46 Siehe

2. Kap.: Streik in Deutschland

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und zu einem Streikträger werden. Die Annahme, dass der nichtgewerkschaftliche Streik generell ungeordnet abliefe und immer „wild“ sei, ist daher eine nicht nachweisbare Verallgemeinerung.51 Der nichtgewerkschaftliche Streik umfasst begrifflich alle Arbeitsniederlegungen durch mehrere Arbeitnehmer ohne gewerkschaftliche Führung.52 Die rechtliche Form, wie die Arbeitnehmer organisiert sind – ob als nichtgewerkschaftliche Koalition oder als loser Zusammenschluss – ist zumindest für den Begriff des nichtgewerkschaftlichen Streiks irrelevant. Von der begrifflichen Einordnung ist allerdings die Frage der Rechtmäßigkeit zu trennen. In dieser Arbeit wird daher der Frage nachgegangen, welche Qualität das nichtgewerkschaftliche Arbeitnehmerkollektiv besitzen muss, um nach Völkerrecht und deutschem Arbeits- und Verfassungsrecht rechtmäßig streiken zu können.53 2. Kapitel

Streik in Deutschland 2. Kap.: Streik in Deutschland

Im 2. Kapitel soll die historische sowie die rechtliche Entwicklung des Streiks in Deutschland dargestellt werden. Dazu wird unter A. ein Überblick über die historische Entwicklung des Streiks insbesondere von der industriellen Revolution über die Weimarer Republik bis heute gegeben. Anschließend wird unter B. die allgemeine Rechtsprechungsentwicklung des BAG zum Streik in einem kurzen Überblick erläutert. Angesichts eines bisher fehlenden Arbeitskampfgesetzes in Deutschland beruht das nationale Arbeitskampfrecht auf Kriterien, die das BAG entwickelt hat.

A.  Historische Entwicklung des Streiks Eine Bearbeitung, die sich primär mit der rechtlichen Bewertung des Streiks befasst, setzt das Wissen um tatsächliche Beweggründe der Arbeitnehmer voraus, ihre Arbeit im Kollektiv niederzulegen.54 Daher widmen sich die folgenden Ausführungen in einem kurzen Überblick der historischen Entwicklung des Streiks 51  Weitnauer, DB 1970, 1639, der trotzdem den Begriff „wilder Streik“ verwendet: „Nicht ist mit dem Beiwort ,wild‘ gemeint, daß ein solcher Streik auch in seinen Formen unbedingt wild sein müsse.“ 52  Siehe zum kollektiven Verständnis des Streiks den 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“. 53  Siehe zum Völkerrecht den 2. Teil mit den jeweiligen Darstellungen der einzelnen völkerrechtlichen Quellen des Streiks und zum deutschen Recht insbesondere den 3. Teil, 2. Kapitel, A., III „Koalitionsbegriff“. 54 Ähnlich Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 29; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 1; vgl. Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 1.

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

und des kollektiven Zusammenschlusses von Arbeitnehmern. Auf diese kann im Übrigen an späterer Stelle im Rahmen juristischer Auslegungsmethodik zurückgegriffen werden.55 Auf manche Abschnitte wird in der folgenden Darstellung allerdings verzichtet, da diese entweder keine Neuerungen oder nur Rückschritte für den Streik brachten.56 Der Schutz des Streiks in der Bundesrepublik Deutschland und seine Entwicklung werden in diesem historischen Rahmen ebenfalls nur kurz dargestellt, da beide Aspekte an vielen anderen Stellen dieser Arbeit noch ausführlicher erläutert werden. I.  Einführung Die ältesten verfügbaren historischen Belege beziehen sich auf die kollektive Arbeitsniederlegung der thebanischen Nekropolenarbeiter im alten Ägypten im Jahr 1155 v. Chr.57 Die Nekropolenarbeiter waren Staatsbedienstete des Pharao Ramses III. und bauten sogenannte Totenstädte („Nekropolen“), die Teil des ägyptischen Totenkults waren. Für ihre Handwerkstätigkeiten erhielten die Nekropolenarbeiter monatliche Lebensmittellieferungen. Nachdem diese über einen längeren Zeitraum ausblieben, legten die Arbeiter gemeinsam ihre Arbeit nieder und versuchten dadurch, einen größeren Druck auf ihren Arbeitgeber auszuüben. Nach heutigem Verständnis handelte es sich bei dieser Arbeitsniederlegung allerdings nicht um einen Streik, sondern um die kollektive Zurückbehaltung der Arbeitsleistung, da die Nekropolenarbeiter ihren bestehenden Anspruch auf Lebensmittelieferungen durchsetzen wollten.58 Trotzdem lässt sich bereits an diesem Beispiel verdeutlichen, dass Arbeitnehmer durch gemeinsam organisiertes Handeln einen größeren Druck auf den Arbeitgeber entfalten können als durch die Arbeitseinstellung eines Einzelnen.59

55  Siehe z.B. zu Art. 9 Abs. 3 GG den 3. Teil, 3. Kapitel, A., III., 3. „Historisch-genetische Auslegung“. 56  So beispielsweise die Zeit des Nationalsozialismus. Siehe für eine umfassende Darstellung der historischen Entwicklung des Arbeitskampfes insbesondere Kittner, Arbeitskampf, S. 1 ff. 57  Dazu ausführlich Kittner, Arbeitskampf, S. 10 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 30. 58  So auch Kittner, Arbeitskampf, S. 11; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 30. Siehe zur Unterscheidung zwischen Streik und kollektivem Zurückbehaltungsrecht die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“, wonach das Ziel eines Streiks die Vereinbarung neuer Ansprüche und nicht die Durchsetzung bestehender Ansprüche ist. 59  Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 7; vgl. zum 19. Jahrhundert Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 31.

2. Kap.: Streik in Deutschland

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Darüber hinaus hat der Arbeitskampf häufig das Ziel, verbesserte Arbeitsbedingungen durch eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber festzuhalten.60 Dieser Vereinbarung steht jedoch die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers entgegen, aufgrund derer der Arbeitgeber die Vereinbarung günstigerer Arbeitsbedingungen grundsätzlich ablehnen kann.61 Aufgrund dieser Erkenntnis legten Arbeitnehmer schon seit dem Mittelalter, aber insbesondere mit Beginn der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, ihre Arbeit nieder, um Verhandlungen mit dem Arbeitgeber zu erzwingen.62 Das Überangebot an Arbeitskräften, vereinfachte Produktionsmethoden und die damit einhergehende Austauschbarkeit der Arbeitnehmer vergrößerten den Gegensatz zwischen ihnen und den Arbeitgebern währende der industriellen Revolution noch mehr.63 Dadurch verschlechterte sich wiederum das Verhandlungspotenzial der Arbeitnehmer, so dass das Bewusstsein reifte, dass nur ein gemeinsames Auftreten die Arbeitsbedingungen verbessern könne.64 II.  Mittelalter Erste Zusammenschlüsse von Arbeitern gab es in Deutschland bereits im Mittelalter. In den Zünften waren Meister und Gesellen eines bestimmten Berufsstands gemeinsam organisiert.65 Zwar gewährleisteten die Zünfte gewisse Mindestarbeitsbedingungen, jedoch befanden sich die Gesellen als Arbeitnehmer mit den Meistern als Arbeitgeber in derselben Organisation.66 Dem Einfluss der Meister versuchten die Gesellen durch die Gründung von Gesellenbünden zu entgehen. Die Gründung eines Gesellenbundes in Berlin ist bereits für das Jahr 1331 dokumentiert.67 Die erste historisch belegte von Gesellen gemeinsam durchgeführte Arbeitsniederlegung erfolgte im Breslauer Gürtlerhandwerk im Jahr 1329. Bei dieser vereinbarten die Gesellen, für ein Jahr bei keinem Meister des Gürt60  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 31, der zugleich die Abwehr von Verschlechterungen hervorhebt. 61 Vgl. Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 193, Rn. 1 f. 62  Zum Streik während des Mittelalters: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 32 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 8 ff.; zum Streik während der Industriellen Revolution: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 39 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 12 ff. 63  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 31; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 85. 64  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 31; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 10 f. 65  Kittner, Arbeitskampf, S. 18 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 32. 66  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 32; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 79 f.; Kittner, Arbeitskampf, S. 19 zu den Arbeitsbedingungen und S. 20 ff. zu den Zünften als gemeinsame Organisation und Gründen für die Abspaltung der Gesellen. 67  Siehe dazu Kittner, Arbeitskampf, S. 19; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 32.

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

lerhandwerks ihre Tätigkeiten zu erbringen.68 Auch die Webergesellen in Speyer im Jahr 1351 waren in einem Gesellenbund organisiert. Durch ihre Arbeitsniederlegung erreichten die Webergesellen unter anderem eine Verständigung mit den Meistern über einen Mindestlohn.69 Im Ergebnis waren die Gesellenbünde als Organisationen ein Auslöser dafür, dass der Streik bereits im Mittelalter zu einer der wichtigsten kollektiven Betätigungen wurde.70 Wie Kittner aufzeigt, können die Gesellenbünde trotz gewisser Unterschiede als Vorläufer der heutigen Gewerkschaften gelten.71 Allerdings weist er auch darauf hin, dass die Quellen nicht belegen, dass die Arbeitskämpfe stets durch die Gesellenbünde organisiert wurden.72 Sicherer ist hingegen, dass sich die Meister und die Obrigkeit gegen das Aufkommen der Gesellenbünde wandten. Die Meister schlossen sich zu Meisterverbänden zusammen und beschlossen beispielsweise, dass streikenden Gesellen keine Arbeit angeboten werden sollte.73 Daneben wurden auf städtischer, territorialstaatlicher und Reichsebene zahlreiche Verbote erlassen, sich in Vereinigungen zusammenzuschließen und die Arbeit niederzulegen.74 Allerdings waren die städtischen Verbote zu Anfang regional unterschiedlich, so dass die flexiblen Gesellen durch Abwanderung in andere Städte weiterhin Druck ausüben konnten.75 Begünstigt durch den „Reichsdeputationshauptbeschluss“ vom 25. 02. 1803, 68  Kittner, Arbeitskampf, S. 17, der an anderer Stelle darauf hinweist, dass unklar ist, ob die Gesellen sich zu einer dauerhaften Vereinigung zusammenschlossen (S. 19); Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 33. 69  Kittner, Arbeitskampf, S. 25. 70 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 36; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 9; vgl. Schneider, in: Theorie und Praxis des Streiks, S. 37; siehe auch Reith/Grießinger/ Eggers, Streikbewegungen deutscher Handwerksgesellen, S. 6 f., die anhand tatsächlicher Beispiele herausarbeiten, dass die Arbeitsniederlegungen der Gesellen nicht nur spontan-emotionale Ausbrüche waren, sondern teilweise sehr strategisch geplant waren (siehe S. 16 ff. zur Vorbereitung der Gesellenstreiks durch organisierte Treffen in Herbergen, die sogar eine richtige Beschlussfassung mit Anträgen umfassten). 71  Kittner, Arbeitskampf, S. 30 ff., der diese hinsichtlich ihrer Aufgaben als „gewerkschaftliche Interessenvertretung“ bezeichnet (S. 20); vorsichtiger Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 25 f. 72  Kittner, Arbeitskampf, S. 23 f.; siehe auch Streikbeispiel 13 bei Reith/Grießinger/ Eggers, Streikbewegungen deutscher Handwerksgesellen, S. 62, wo anstatt der „Gesellenschaft“ nur neun Gesellen einer Kupferschmiede die Arbeit niederlegten (ebenso Streikbeispiel 41, S. 82, Akteure sind 21 Schiffzimmerer eines Betriebes). 73  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 34 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 81; vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 52 f. 74 Ausführlich Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 36 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 81 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 10; Kittner, Arbeitskampf, S. 53 ff. 75  Siehe zu den Vorteilen des Städtewechsels Kittner, Arbeitskampf, S. 26 f. und 44 f.; zum kollektiven Auszug als Kampfmittel Reith/Grießinger/Eggers, Streikbewegungen deutscher Handwerksgesellen, S. 22 ff.

2. Kap.: Streik in Deutschland

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der die Autonomie vieler Reichsstädte auflöste, konnten sich letztlich die Verbote auf Territorialebene durchsetzen. Dies führte zum Zusammenbruch der Gesellenbünde in Deutschland, von denen zwar einzelne bis in das 19. Jahrhundert im Untergrund tätig waren, aber keine offenen Arbeitskämpfe mehr führten.76 III.  Industrialisierung und Kaiserreich Mit dem Beginn der industriellen Produktion trat zu den Handwerksgesellen als verhältnismäßig kleiner Gruppe von Dienstnehmern die schnell wachsende Anzahl an industriellen Arbeitern. Damit wurde die auf einem freien Arbeitsvertrag beruhende Lohnarbeit zur Massenerscheinung.77 Mit der Integration neuer Arbeitnehmer in den freien Arbeitsmarkt gingen allerdings auch viele negative Aspekte der Industrialisierung einher. Dazu zählen ein Überangebot an Arbeitskräften, Niedriglöhne, gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen und weitere soziale Missstände.78 Als Reaktion auf diese Zustände schlossen sich die Arbeitnehmer zusammen und griffen ebenso zum Streik als Druckmittel. Allerdings wurden Koalitionen und Streiks zu Anfang der Industrialisierung relativ schnell verboten. So stellte die Preußische Gewerbeordnung von 1845 Verabredungen von Streiks und die Bildung von Vereinigungen ohne polizeiliche Anmeldung unter Strafe.79 Die Folge war, dass es, wie während des schlesischen Weberaufstandes, häufiger zu spontanen und nichtorganisierten Aufständen kam.80 Zeitweise führte die Revolution von 1848/49 zwar kurzfristig zu einer Liberalisierung des Vereinigungsrechts, doch wurden die Koalitionsverbote nach dem Scheitern der Revolution 1854 erneuert und von nahezu allen deutschen Einzelstaaten übernommen.81 Trotz des Verbots kam es in der Folge wiederholt zu spontanen und unorganisierten Streiks der Arbeitnehmer.82 Der wachsende Druck der Arbeitnehmer durch Arbeitskämpfe führte zusammen mit einer zunehmend sozialer ausgerichteten Politik zur Aufhebung der Koalitions- und Arbeitskampfverbote durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bunds von 76 

Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 39; Kittner, Arbeitskampf, S. 127 f. Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 2, Rn. 1; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 39; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 10 f. 78 Ausführlich Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 84 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 10 f. 79  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 40 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 90. 80  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 2, Rn. 3; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 41. 81  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 2, Rn. 4; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 41 f. 82  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 2, Rn. 5; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 42. 77 

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

1869 (§ 152 Abs. 1 GewO83), die nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 als reichsrechtliche Gewerbeordnung galt.84 Die Aufhebung der Koalitionsverbote führte zur Gründung vieler Gewerkschaften.85 Allerdings gaben in einigen Fällen erst nichtgewerkschaftliche Arbeitsniederlegungen den Anstoß zur Gründung neuer Arbeitnehmervereinigungen.86 Ein Beispiel hierfür ist 1872 die Gründung des „Allgemeinen Deutschen Formerbundes“ in Hamburg, der auf einen spontanen nichtgewerkschaftlichen Streik von Hamburger Formern (Hersteller von Gussformen) zurückzuführen ist, der nach 19 Wochen zur Durchsetzung aller Forderungen führte.87 Rechtlich gesehen galt für Arbeitnehmer ab 1871 die Streikfreiheit.88 Damit waren Streiks zwar nicht mehr verboten, doch blieb der Arbeitsvertrag wirksam, so dass die Arbeitnehmer vor einem Streik kündigen mussten, um arbeitsvertragliche Sanktionen des Arbeitsgebers zu vermeiden.89 Die Rechtsprechung des Reichsgerichts erkannte zwar die grundsätzliche Legalität des Arbeitskampfes an, aber stufte manche Arbeitskämpfe als sittenwidrig im Sinne des § 826 BGB ein.90 Arbeitskämpfe fanden bis zum Ende des Kaiserreichs in Form von gewerkschaftlichen wie auch nichtgewerkschaftlichen Arbeits­ 83 „Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, werden aufgehoben. Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder Klage noch Einrede statt.“ 84  Dazu ausführlicher Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 42 ff.; ebenso Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 2, Rn. 7; vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 92 f. 85  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 2, Rn. 8; ausführlich zur Gewerkschaftsentwicklung Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 94 ff., der darauf hinweist, dass diese Entwicklung schon Anfang der 1860er Jahre begann; zu dieser früheren Phase Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 353 f. 86  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 47; ausführlich zum „Streik als ‚schöpferische Urgewalt‘“ Schneider, in: Theorie und Praxis des Streiks, S. 37 ff.; vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 95 und 104. 87  Siehe dazu Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 49, Fn. 163: „Es kann beobachtet werden, dass oftmals der Wille, sich zur gemeinsamen Interessenvertretung dauerhaft zu organisieren, von spontan ausbrechenden und unorganisiert verlaufenden Arbeitsniederlegungen ausging.“; ausführlich Schneider, in: Theorie und Praxis des Streiks, S. 41 ff. 88  Siehe zur Unterscheidung zwischen Streikfreiheit und Streikrecht die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“. 89  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 48; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 12; Kittner, Arbeitskampf, S. 294; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 60 f. 90  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 3, Rn. 5; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 49 f. mit Ausführungen zu weiteren rechtlichen Einschränkungsmöglichkeiten; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 13.

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niederlegungen statt.91 Beide Formen wurden als rechtlich zulässig angesehen.92 Dies zeigt auch eine Statistik des deutschen Reichs, die den Streik unabhängig von einer gewerkschaftlichen Mitwirkung als gemeinsame Arbeitseinstellung mehrerer gewerblicher Arbeitnehmer zum Zwecke der Durchsetzung bestimmter Forderungen beim Arbeitgeber definierte.93 Der Einfluss der Gewerkschaften führte allerdings auch zu streiklosen Bewegungen, da Gewerkschaften vermehrt versuchten, Konflikte mit den Arbeitgebern ohne Arbeitskämpfe auszutragen.94 Zeitgleich entstanden die ersten Tarifverträge, die zunächst zwischen den Arbeitgebern und den ad-hoc gewählten Streikleitungen und später zunehmend mit den Gewerkschaften geschlossen wurden.95 Mangels Tarifvertragsgesetz wurden Tarifverträge bis 1918 auf Grundlage des allgemeinen Zivilrechts geschlossen.96 IV.  Weimarer Zeit Nach dem 1. Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs wurde die Rolle der Gewerkschaften gestärkt. So wurden verbliebene Restriktionen wie der § 153 GewO97 aufgehoben,98 den die Gerichte in der Kaiserzeit zu strafrechtlichen Beschränkung gewerkschaftlicher Tätigkeit herangezogen hatten.99 Zu den gesetzlichen Erneuerungen gehört insbesondere die Tarifvertragsordnung von 1918, die erstmals das Tarifvertragsrecht regelte und die Stellung der Gewerk91  Siehe zu den nichtgewerkschaftlichen Streiks dieser Zeit Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 3, Rn. 14. 92  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 3, Rn. 2; Kittner, Arbeitskampf, S. 293; Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 356; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 199. 93  Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 290, S. 1, zitiert nach Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 56. 94  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 3, Rn. 11; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 55; Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 358 f. 95  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 102 f.; vgl. Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 359. 96  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 103; zur Tarifvertragspraxis Kittner, Arbeitskampf, S. 370 ff. 97 „Wer Andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzung oder durch Verrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) Teil zu nehmen, oder ihnen Folge zu leisten, oder Andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt.“ 98 Siehe dazu Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 56 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 14; Kittner, Arbeitskampf, S. 394. 99 Dazu Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 3, Rn. 4 und § 2, Rn. 7; Kittner, Arbeitskampf, S. 294 ff.

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

schaften in diesem System sicherte.100 Ebenfalls wurde 1920 das Betriebsrätegesetz erlassen, das die betriebliche Mitbestimmung einführte.101 Neben diesen gesetzlichen Verbesserungen ist das sogenannte „Stinnes-Legien Abkommen“ zu erwähnen, mit dem die Gewerkschaften 1918 unmittelbar mit Industrievertretern eine Arbeitsgemeinschaft vereinbarten.102 Zwar hielt das Abkommen nur bis 1924, doch gilt es als das „erste Beispiel einer partnerschaftlichen Lösung“103 und seine Inhalte wirkten darüber hinaus fort und wurden teilweise gesetzlich verankert.104 Inhaltlich gewährleistete das Abkommen die Koalitionsfreiheit, die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft, weitreichende Arbeitnehmerrechte wie den 8-Stunden Tag und den Tarifvertrag als zentrales Einigungsmittel. Im Gegenzug wurde stillschweigend die Stellung der Arbeitgeber als Eigentümer der Produktionsmittel anerkannt – eine Zusicherung, die angesichts der damaligen sozialistischen Einflüsse sehr wertvoll war.105 Für den Streik bestand mit der Streikfreiheit im Prinzip die Rechtslage der Kaiserzeit fort. In Art. 159 der Weimarer Reichsverfassung (WRV)106 vom 11. 08. 1919 wurde zwar eine Vereinigungsfreiheit verfassungsrechtlich verankert und Art. 165 Abs. 1 WRV107 gewährleistete sogar die Möglichkeit, Kollektivvereinbarungen abzuschließen.108 Der Streik war allerdings weiterhin nur als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit anerkannt. Man entschied sich ausdrücklich 100  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 58; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 115. 101 Ausführlich Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 120 ff.; Kittner, Arbeitskampf, S. 414 ff. 102  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 58; ausführlich Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 114 f.; Kittner, Arbeitskampf, S. 399 ff.; Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 363 f. 103  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 115. 104  Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 364. 105 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 114; Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 363 f.; siehe zum Einfluss der sozialistischen Arbeiterräte zu Beginn der Weimarer Republik Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 4, Rn. 1 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 57. 106 „Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig.“ 107 „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen […]. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.“ 108  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 4, Rn. 5, der darauf hinweist, dass es sich mangels Streikrecht nicht um eine Koalitionsfreiheit handelte; ähnlich Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 59; für eine „Koalitionsfreiheit“ hingegen Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 116.

2. Kap.: Streik in Deutschland

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dagegen, eine Streikgarantie in die Verfassung aufzunehmen.109 Ein rechtmäßiger Streik setzte daher voraus, dass zuvor das Arbeitsverhältnis durch den Arbeitnehmer gekündigt wurde.110 Dies galt für den gewerkschaftlichen wie den nichtgewerkschaftlichen Streik gleichermaßen. Ein Streik führte generell nicht zur Suspendierung der vertraglichen Pflichten.111 Auch waren nichtgewerkschaftliche Streiks während der Weimarer Republik nicht strafrechtlich oder deliktsrechtlich verboten.112 Fehlte es daher an einer vorherigen Kündigung durch den Streikenden, konnte der Arbeitgeber unter Wahrung aller weiteren Voraussetzungen kündigen oder vertraglichen Schadensersatz fordern. Darüber hinaus konnte er bei Sittenwidrigkeit gemäß § 826 BGB Schadensersatz geltend machen.113 Trotz dieser rechtlichen Schwierigkeiten gehörten Streiks in der Weimarer Republik zur Praxis des Wirtschaftslebens. Insbesondere in den Krisenzeiten stieg die Anzahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage bis auf 20 Millionen, im Jahr 1924 sogar auf 36 Millionen.114 Neben gewerkschaftlichen Streiks gab es in dieser Phase auch „eine Fülle wilder Streiks“115. V.  Bundesrepublik Deutschland Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Ausarbeitung des Grundgesetzes bestand die erneute Möglichkeit, den Streik explizit zu regeln. 109  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 4, Rn. 5; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 15; vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 431 f.; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 195, Rn. 2. 110  Gumnior, Sympathiestreik, S. 43; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 15; Kittner, Arbeitskampf, S. 432; Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 841. 111  Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 841; vgl. Ramm, AuR 1964, 353; siehe Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 199, der allerdings nachweist, dass es in der rechtswissenschaftlichen Diskussion der Weimarer Republik bereits einen „Privilegierungsgedanken“ hinsichtlich der arbeitsvertraglichen Zulässigkeit des gewerkschaftlichen Streiks gab. „Es handelte sich aber insgesamt betrachtet mehr um tastende Versuche, nicht um eine festgefügte Mindermeinung.“ (S. 203). 112  Ehrmann, NZA 1991, 1, 2; Ramm, AuR 1964, 353; Ramm, AuR 1971, 65, 68; Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 841; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 208: „Die Verbindung der Privilegierung des gewerkschaftlichen Streiks mit einem Verbot des wilden Streiks ist eine erst im Anschluß an den Beschluß des Großen Senats einsetzende Entwicklung […].“ 113  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 4, Rn. 11 ff.; Gumnior, Sympathiestreik, S. 44; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 15; Kittner, Arbeitskampf, S. 433 ff.; Ramm, AuR 1971, 97, 105. 114  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 59 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 16. 115  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1088, Fn. 139; vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 205 f.

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

Zwar soll man sich im Parlamentarischen Rat grundsätzlich einig gewesen sein, dass der Streik garantiert und geschützt werden müsse, doch war eine Einigung über die exakten Rechtmäßigkeitsgrenzen nicht möglich. Daher wurde darauf verzichtet, bestimmte Handlungsformen wie den Streik ausdrücklich in Art. 9 Abs. 3 GG zu erwähnen.116 Da jedoch auch der Gesetzgeber bis heute keine einfachrechtlichen Regelungen zum Arbeitskampf erlassen hat, war es bislang Aufgabe der Rechtsprechung, streikrechtliche Streitigkeiten zu entscheiden und dazu die „recht offene“117 Verfassungsvorschrift des Art. 9 Abs. 3 GG auszulegen.118 Mittlerweile vertreten das BVerfG und das BAG in ständiger Rechtsprechung, dass Art. 9 Abs. 3 GG den Arbeitskampf grundrechtlich schütze.119

B.  Bewertung des Streiks durch das Bundesarbeitsgericht Der streikbezogenen Rechtsprechung des BAG liegt in ihren Anfängen ein sehr restriktives Verständnis zugrunde. Als charakteristisch gilt die Aussage, dass der Streik und die Aussperrung „im Allgemeinen unerwünscht [sind], da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen“120. Dennoch erkannte das Gericht frühzeitig an, dass der Streik in bestimmten Grenzen erlaubt sein müsse und ein sozialadäquates Mittel sei.121 Zu den „beiden für die Arbeitskampfproblematik schlechthin grundlegenden Fragen“122, wann der Streik mit dem Arbeitsvertrag vereinbar ist und wann er zu einem deliktischen Schadensersatzanspruch führt, nahm das BAG im Vergleich zur Rechtslage in der Weimarer Republik eine neue Position ein. Es erkannte an, dass die bisher erforderliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses „das Schwert des Streikes stumpf [mache]“123. Daher wies der Große Senat des BAG einem ta116  Siehe ausführlich zu der Diskussion im Parlamentarischen Rat zum Grundgesetz die Ausführungen im 3. Teil, 1. Kapitel, A. „Verortung in Art. 9 Abs. 3 GG“. 117  Zachert, NZA-Beil. 2006, 61. 118 Siehe dazu im Überblick Kittner, Arbeitskampf, S. 607 ff.; Ricken, in: Münch­ HdbArbR II, § 195, Rn. 4. 119  Erstmals BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810 (Arbeitskampf); BVerfG, Beschl. v. 02. 03. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380 (Streik); BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1644: „Heute besteht Einigkeit darüber, dass das Streikrecht einen notwendigen Bestandteil der freiheitlichen Kampfund Ausgleichsordnung darstellt, die durch Art. 9 III GG im Kern gewährleistet ist.“; aus der neueren Rechtsprechung vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494; BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 611/11, NZA 2013, 437, 442 f. 120  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. 121  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. 122  Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 840.

2. Kap.: Streik in Deutschland

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rifbezogenen und gewerkschaftsgetragenen Streik erstmalig mit Beschluss vom 28. 01. 1955 eine zivilrechtliche Suspendierungswirkung zu.124 Diese suspendiert vorübergehend die arbeitsvertragliche Hauptpflicht, so dass der Arbeitnehmer nicht gegen den Arbeitsvertrag verstößt.125 Dementsprechend entfallen für diese Streikform die Möglichkeit einer Kündigung des Arbeitnehmers wegen Nichterbringung der Arbeitsleistung und ein vertraglicher Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers. Darüber hinaus kam es zu einer Veränderung der bisher geltenden deliktsrechtlichen Bewertung von Streiks.126 Das BAG befand, dass ein Streik generell das durch § 823 Abs. 1 BGB geschützte „Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ verletze. Allerdings legte das Gericht fest, dass dieser Eingriff im Falle eines tarifbezogenen und gewerkschaftsgetragenen Streiks gerechtfertigt sei.127 123

Dogmatisch begründete der Große Senat des BAG die Suspendierung der arbeitsvertraglichen Hauptpflicht indem er die individuelle-zivilrechtliche Bewertung mit der kollektiven Bewertung des Arbeitskampfes gleichsetzte („Kollektive Einheitstheorie“128): „Der Arbeitskampf als einheitliches Geschehen darf nicht kollektivrechtlich anders behandelt werden als individualrechtlich. […] Beim Streik handelt nicht der einzelne, sondern es handeln die Streikenden als Gruppe. […] Die rechtliche Bewertung muß dieser Wirklichkeit des Streiks entsprechen. Die streikweise Arbeitsniederlegung darf daher nicht individualrechtlich gesehen werden, sie ist im kollektiven Zusammenhang zu betrachten, in dem sie steht. […] Sind Streik und Streikbeteiligung in diesem Sinne ausschließlich kollektivrechtliche Größen, so scheidet die Charakterisierung der Streikbeteiligung als Verletzung des Einzelarbeitsvertrages und damit als vertragswidrig und rechtswidrig dann aus, wenn der Streik als Kollektivakt rechtmäßig ist.“129 123 

BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884. BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. Siehe zum Sachverhalt dieser Entscheidung Kittner, Arbeitskampf, S. 610 f. 125 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 17: „Entscheidendes Ergebnis dieses BAG-Beschlusses ist die Hinwendung von der bloßen Streikfreiheit zu einem ,echten‘ Streikrecht. Während erstere nur dafür sorgt, dass der Streik strafrechtlich sanktionsfrei bleibt, wird der Streikende mit einem Streikrecht auch zivilrechtlich geschützt – nämlich durch Suspendierung der arbeitsvertraglichen Pflichten.“; Richardi/ Fischinger, in: Staudinger (2016), § 611 BGB, Rn. 1127 und Rn. 1148. 126  Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 322; Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2016), § 611 BGB, Rn. 1129. 127  BAG, Urt. v. 4. 5. 1955, 1 AZR 493/54, NJW 1955, 1373. 128 Grundlegend zur „Kollektiven Einheitstheorie“ Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 163 ff.; siehe ebenfalls die kritischen Erläuterungen von Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2016), § 611 BGB, Rn. 1128 f.; Konzen, AcP 1977, 473, 479 ff.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 7 ff. (Darstellung) und 19 ff. (Kritik). 129  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883 f. 124 

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

In verschiedenen nachfolgenden Urteilen arbeitete das BAG heraus, wann der Streik als Kollektivakt rechtmäßig ist.130 Geprägt wurde diese Entwicklung vor allem durch Nipperdey, den ersten Präsidenten des BAG, der bereits 1953 in einem Gutachten zum Zeitungsstreik für den „sozialadäquaten Streik“ bestimmte Kriterien aufgestellt hatte.131 Zu den durch das BAG entwickelten Kriterien zählen insbesondere, dass der Streik einen Tarifvertrag als Regelungsziel haben muss (Tarifbezug), von einer Gewerkschaft organisiert und geführt sein muss (Gewerkschaftsmonopol), vor Beginn des Streik mildere Mittel erfolglos ausgeschöpft werden müssen („Ultima Ratio Prinzip“), der Streik tarifvertragliche Friedenspflichten nicht verletzen darf und die Kampfparität wahren muss.132 In seinem zweiten Urteil zum Arbeitskampf ergänzte der Große Senat 1971 die Kriterien vor allem durch das Verhältnismäßigkeitsgebot, das die Sozialadäquanz als bisherigen zentralen Maßstab ablöste.133 Es entspricht den Kriterien „Gewerkschaftsmonopol“ und „Tarifbezug“, dass das BAG für nichtgewerkschaftliche und nichttarifbezogene Streiks weder die suspendierende Wirkung noch die deliktsrechtliche Rechtfertigung angeordnet hat.134 Vielmehr hat das Gericht für beide Streikformen die rechtlichen Rahmenbedingungen im Vergleich zur Weimarer Republik sogar verschärft, indem es bestimmte, dass ihr Eingriff in das „Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ nicht gerechtfertigt sei und beide generell einen deliktischen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB zur Folge haben.135 Dadurch verschlechterte sich aus Sicht beider Streikformen die Rechtslage gegenüber der 130 Eine chronologische Zusammenfassung der Rechtsprechungsentwicklung des streikrechtlichen Tarifbezugs und des Gewerkschaftsmonopols findet sich im 3. Teil, 3. Kapitel, A., II., 2., a) „Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts“. 131  Nipperdey, Gutachten Zeitungsstreik, S. 41 ff.; zu dessen Kriterien und seinem Einfluss auf das BAG: Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 199 ff.; Kittner, Arbeitskampf, S. 605 ff.; Richardi, in: FS Säcker, S. 289 f. 132  Siehe ausführlich zu den Kriterien jeweils mit Verweisen zu den entsprechenden Urteilen: Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2016), § 611 BGB, Rn. 1135 ff.; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 200, Rn. 1 ff.; zum Arbeitskampf: Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 112 ff.; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 29 ff. 133  BAG GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, NJW 1971, 1668; dazu Richardi, in: FS Säcker, S. 290; kritisch Kittner, Arbeitskampf, S. 611 ff. 134  Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 844. 135  BAG, Urt. v. 4. 5. 1955, 1 AZR 493/54, NJW 1955, 1373: „Ein Streik, der Ziele verfolgt, die von der Rechtsordnung […] mißbilligt werden, ist jedoch rechtswidrig. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn um Ziele gestreikt wird, die dem geltenden Tarifvertragsrecht widersprechen.“ Die deliktsrechtliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks („wilder Streik“) erfolgte erst 1963, BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, NJW 1964, 883, 886. Siehe dazu ausführlich den 1. Teil, 3. Kapitel, A. „Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks in Deutschland“.

3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

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Weimarer Republik, in der deliktische Schadensersatzansprüche nur bei Sittenwidrigkeit nach Maßgabe des § 826 BGB angenommen wurden.136 Auf der anderen Seite hat das BAG den Streik generell durch das arbeitsvertragliche und das deliktsrechtliche Privileg des gewerkschaftlichen und tarifbezogenen Streiks im Vergleich zu allen historischen Vorstufen wirkungsvoller und rechtssicherer gemacht.137 Tarifverhandlungen stellen sich daher grundsätzlich nicht mehr als „kollektives Betteln“138 dar. Zur Rechtsprechungsentwicklung ist allerdings abschließend anzumerken, dass sich das BAG lange Zeit nicht auf eine verfassungsrechtliche Begründung stützte.139 Erst 1980, in einem Urteil zur Abwehraussperrung, stellte es beiläufig fest, dass Art. 9 Abs. 3 GG den Streik als Koalitionsbetätigung schütze.140 Das BVerfG bestätigte den verfassungsrechtlichen Schutz eines gewerkschaftlichen Streiks durch Art. 9 Abs. 3 GG erstmals in einem Beschluss aus dem Jahr 1993.141 3. Kapitel

Nichtgewerkschaftlicher Streik 3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

In diesem Kapitel wird der nichtgewerkschaftliche Streik genauer erläutert. Dazu wird zuerst unter A. das in Deutschland geltende Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks dargestellt. Da dieses auf der Rechtsprechung des BAG beruht, werden die maßgeblichen Urteile des Gerichts aufgeführt. Unter B. werden im Anschluss Alternativen zu einem gewerkschaftlichen Streikmonopol aufgezeigt und erläutert, welche Möglichkeiten der Streikträgerschaft denkbar sind. 136  So auch ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 1; ähnlicher Hinweis auf Verschlechterung der Rechtslage durch Ramm, AuR 1971, 97, 103 f. 137 Vgl. Kittner, Arbeitskampf, S. 607 („erhöhte Planungssicherheit“) und S. 627 ff. („planungssicheres Recht“). 138  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643 f.: „Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik [sind] im Allgemeinen nicht mehr als kollektives Betteln“. 139 Vgl. Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 287: „Die […] Entscheidungen des Großen Senats hatten sich nicht viel mit Verfassungsrecht aufgehalten.“; ähnlich Dieterich, in: FS Jaeger, S. 101 f.; Kittner, in: FS Jaeger, S. 504; Konzen, AcP 1977, 473, 480; Löwisch/ Hartje, RdA 1970, 321, 327; Richardi, in: FS Säcker, S. 288 ff.; Schwegler, GMH 1972, 299, 304. 140  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1644: „Heute besteht Einigkeit darüber, daß das Streikrecht einen notwendigen Bestandteil der freiheitlichen Kampf- und Ausgleichsordnung darstellt, die durch Art. 9 III GG im Kern gewährleistet ist.“ 141  BVerfG, Beschl. v. 02. 03. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; kurz zuvor hatte das BVerfG bereits den Schutz des Arbeitskampfes durch die Koalitionsfreiheit bestätigt: BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810.

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

Abschließend wird unter C. die Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks erläutert. Dazu wird einerseits auf Ursachen und Auslöser für nichtgewerkschaftliche Streiks eingegangen und andererseits auf Länder hingewiesen, in denen er zulässig ist.

A.  Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das Bundesarbeitsgericht Wie sich im 2. Kapitel gezeigt hat, ist das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks vergleichsweise jung. Noch in der Weimarer Republik wurden gewerkschaftliche und nichtgewerkschaftliche Streiks rechtlich gleichbehandelt. Das BAG hat seine rechtliche Bewertung neu bestimmt. Dies betrifft in erster Linie seine deliktsrechtliche Einordnung mit der Maßgabe, dass der nichtgewerkschaftliche Streik generell ein rechtswidriger Eingriff in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb sei. Darüber hinaus ist seine arbeitsvertragliche Bewertung zu erläutern. Der nichtgewerkschaftliche Streik wird als rechtswidrig eingestuft und besitzt im Gegensatz zum gewerkschaftlichen Streik keine zivilrechtliche Suspendierungswirkung. Aus historischer Sicht ist diese fehlende Wirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik zwar nicht neu, doch hat das BAG für den gewerkschaftlichen Streik die Suspendierungswirkung neu eingeführt. Letzterer wird dadurch gegenüber dem nichtgewerkschaftlichen Streik privilegiert. Die für diese Entwicklung relevanten Urteile werden im Folgenden dargestellt. Zu Beginn wird kurz der deutsche Gewerkschaftsbegriff erläutert, um im Vergleich zum Völkerrecht zu zeigen, dass es sich hierbei um eine Koalition mit speziellen Anforderungen handelt. I.  Gewerkschaftsbegriff in Deutschland Bei der Analyse des gewerkschaftlichen Streikmonopols ist in Abgrenzung zu anderen Arbeitnehmerzusammenschlüssen zu bestimmen, was in Deutschland eine Gewerkschaft ausmacht. Welche Voraussetzungen muss ein Arbeitnehmerzusammenschluss erfüllen, um als Gewerkschaft anerkannt zu werden? Für das gewerkschaftliche Streikmonopol ist der Gewerkschaftsbegriff des § 2 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) maßgeblich.142 Wie im Anschluss unter 142  Auf den Gewerkschaftsbegriff anderer Rechtsgebiete wird im Übrigen nicht eingegangen, da das BAG von einem „einheitlichen Gewerkschaftsbegriff“ ausgeht, der in allen arbeitsrechtlichen Gesetzen dieselben Anforderungen besitzt: so seit BAG, Beschl. v. 6. 7. 1956, 1 AZB 18/55, NJW 1956, 1332; jüngst bestätigt zum Betriebsverfassungsrecht BAG, Beschl. v. 19. 9. 2006, 1 ABR 53/05, NZA 2007, 518; zur Kritik am einheitlichen Gewerkschaftsbegriff siehe: Franzen, in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 16; ausführlich Rieble, RdA 2008, 35 ff.

3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

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II. erläutert wird, basiert das Gewerkschaftsmonopol unter anderem auf der Annahme des BAG, dass nur tarifvertragsbezogene Streiks rechtmäßig seien. Da gemäß § 2 Abs. 1 TVG nur Gewerkschaften als Tarifvertragspartei auf Arbeitnehmerseite in Frage kommen, sollen auch nur diese befugt sein, einen Streik zu führen.143 Für Gewerkschaften im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG ist in Deutschland anerkannt, dass diese tariffähig sein müssen und dazu spezielle Kriterien erfüllen müssen.144 Diese gehen über die Anforderungen des Koalitionsbegriffes des Art. 9 Abs. 3 GG hinaus.145 Dadurch werden Gewerkschaften von nichttariffähigen Koalitionen abgegrenzt. Während nichttariffähige Koalitionen zwar ebenfalls vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst sind, ist es nach der Rechtsprechung des BAG nur Gewerkschaften erlaubt, Tarifverträge nach dem TVG abzuschließen und zu streiken.146 Welche zusätzlichen Voraussetzungen muss eine Koalition erfüllen, um tariffähig zu sein und als Gewerkschaft anerkannt zu werden? Bereits 1956 bestimmte das BAG, dass der Gewerkschaftsbegriff im Arbeitsrecht einheitlich zu bestimmen sei und die Tariffähigkeit voraussetzt. Letztere erfordere von einer Koalition, dass sie die Herbeiführung von Tarifverträgen und die Regelung von Arbeitsbedingungen zu ihren Aufgaben zählt, somit tarifwillig ist.147 In späteren Urteilen präzisierte das BAG die Anforderungen an die Tariffähigkeit und unterstrich vor allem die besondere Fähigkeit, in Tarifverhandlungen einen „wirkungsvollen Druck und Gegendruck“148 ausüben zu können. Als Oberbegriff für diese Durchsetzungskraft entwickelt das BAG das Kriterium der „sozialen Mächtigkeit“.149 Die „soziale Mächtigkeit“ als Voraussetzung einer Gewerkschaft ist im 143  Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 493; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 32; vgl. zum Arbeitskampf: Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 123; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 200, Rn. 15. 144  So bereits BAG, Beschl. v. 6. 7. 1956, 1 AZB 18/55, NJW 1956, 1332; Franzen, in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 7. 145  Vgl. jüngst BAG, Beschl. v. 22. 5. 2012, 1 ABR 11/11, NZA 2012, 1176, 1178; ähnlich bereits: Beschl. v. 15. 3. 1977, 1 ABR 16/75, NJW 1977, 1551, Nr. 6 der Entscheidungssätze: „Eine Deckungsgleichheit von Koalitionsfreiheit und Zuerkennung der Tariffähigkeit ist abzulehnen.“; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 16; Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 14. Siehe zu den Voraussetzungen des Koalitionsbegriffs die Erläuterungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 146 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 111 f.; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 496. 147  BAG, Beschl. v. 6. 7. 1956, 1 AZB 18/55, NJW 1956, 1332; siehe zur Tarifwilligkeit: Franzen, in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 8 ff.; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 69, Rn. 11. 148  BAG, Beschl. v. 9. 7. 1968, 1 ABR 2/67, NJW 1986, 2160. 149  BAG, Beschl. v. 15. 3. 1977, 1 ABR 16/75, NJW 1977, 1551, Nr. 5 der Entscheidungssätze: „Um Druck und Gegendruck ausüben zu können, muß eine Koalition für die ihr gestellten Aufgaben ‚tauglich‘, d.h. sie muß so mächtig und leistungsfähig sein, daß der

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

Einzelfall anhand verschiedener Kriterien zu bestimmen. Zu diesen gehören unter anderem die Mitgliederzahl der Koalition, der nach Ansicht des BAG eine entscheidende Bedeutung zukommt.150 Ebenfalls wird indiziell auf die Anzahl bereits erfolgter Tarifabschlüsse zurückgegriffen. Im Falle junger Arbeitnehmerkoalitionen belegt die Anzahl abgeschlossener Tarifverträge allerdings die Tariffähigkeit nicht, wenn keine Angaben zur Mitgliederanzahl gemacht werden.151 Nur beispielhaft soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass das BAG bei Koali­ tionen mit über 14.000 Mitgliedern die Gewerkschaftseigenschaft aufgrund mangelnder Mitgliederanzahl und Mitgliederstruktur abgelehnt hat.152 Das ­BVerfG hat es grundsätzlich gebilligt, dass das BAG mit der Tariffähigkeit besondere Anforderungen an Gewerkschaften stellt und dadurch zwischen Gewerkschaften und ebenfalls durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten nichttariffähigen Koalitionen differenziert.153 Abschließend ist zu konstatieren, dass Arbeitnehmerkoalitionen in Deutschland strenge Voraussetzungen erfüllen müssen, um als Gewerkschaften anerkannt zu werden. Dies soll an dieser Stelle nicht bewertet werden, sondern dient nur als Basis der folgenden Analyse des gewerkschaftlichen Streikmonopols. Wie im 2. Teil am Beispiel von Art. 11 EMRK allerdings noch gezeigt wird, ist der deutsche Gewerkschaftsbegriff aufgrund der erläuterten Kriterien wesentlich strenger als der Gewerkschaftsbegriff im Völkerrecht. Dies wird in Bezug auf Gegenspieler sich veranlaßt sieht, auf Verhandlungen über den Abschluß einer tariflichen Regelung der Arbeitsbedingungen einzugehen und zum Abschluß eines Tarifvertrags zu kommen. Mächtig und leistungsfähig ist eine Koalition nur, wenn sie Autorität gegenüber ihrem Gegenspieler und gegenüber ihren Mitgliedern besitzt.“; bestätigt durch: BAG, Beschl. v. 28. 3. 2006, 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, 1115 ff.; BAG, Beschl. v. 5. 10. 2010, 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, 302 ff.; siehe zur sozialen Mächtigkeit: Franzen, in: ErfK, § 2 TVG, Rn. 11 ff.; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 69, Rn. 13; Ulber, RdA 2011, 353, 356 ff.; ablehnend Bruhn, Tariffähigkeit, S. 189 ff. 150  BAG, Beschl. v. 5. 10. 2010, 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, 303; zustimmend Ulber, RdA 2011, 353, 357. 151  BAG, Beschl. v. 5. 10. 2010, 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, 304. 152  BAG, Beschl. v. 14. 3. 1978, 1 ABR 2/76, AP Nr. 30 zu § 2 TVG, dazu IV. der Entscheidungsgründe. Andererseits wurde beispielsweise die Unabhängige Flugbegleiter Organisation e.V. (UFO) mit 6467 Mitgliedern zum 31. 03. 2002 durch das BAG als Gewerkschaft eingeordnet: BAG, Beschl. v. 14. 12. 2004, 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697. 153  So ausdrücklich zur „Durchsetzungskraft“ BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1981, 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815, 816: „Demgemäß ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Rechtsprechung die Tariffähigkeit von gewissen Mindestvoraussetzungen abhängig macht. Dazu gehört eine Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler, die sicherstellt, daß dieser wenigstens Verhandlungsangebote nicht übersehen kann.“; ähnlich bereits BVerfG, Urt. v. 6. 5. 1964, 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267, 1268 f., das allerdings in diesem Urteil rügte, dass Tariffähigkeit einen Arbeitskampfwillen der Koalition voraussetze. Ein solches Verständnis sei verfassungswidrig.

3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

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die völkerrechtliche Vereinbarkeit des streikrechtlichen Gewerkschaftsmonopols zu berücksichtigen sein. Im Zusammenhang mit dem Völkerrecht ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass das Europäische Komitee für soziale Rechte (EKSR) als eines der Überwachungsgremien der Europäischen Sozialcharta (ESC) im Rahmen seiner Kritik am streikrechtlichen Gewerkschaftsmonopol darauf hingewiesen hat, dass der deutsche Gewerkschaftsbegriff zu strenge Voraussetzungen besäße. Eine einfache Gewerkschaftsgründung sei in Deutschland aufgrund der hohen Anforderungen des § 2 Abs. 1 TVG nicht möglich.154 Die erforderliche Tariffähigkeit setze insbesondere mit der Mächtigkeit so hohe Voraussetzungen, dass ein rascher Zusammenschluss zu Streikzwecken nicht möglich sei.155 Aus Sicht des EKSR ist das deutsche Gewerkschaftsmonopol daher nicht mit der ESC vereinbar.156 Das BAG hat das Merkmal der „sozialen Mächtigkeit“ am Maßstab der ESC überprüft und darin – allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Streikmonopol – keine Verletzung völkerrechtlicher Vorgaben gesehen.157 II.  Deliktsrechtliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks Bereits 1955 hat das BAG den nichttarifbezogenen Streik als rechtswidrig eingestuft und an diesen eine deliktsrechtliche Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB geknüpft.158 Diese im Vergleich zur Weimarer Republik strengere rechtliche Bewertung übertrug das BAG erst mit einem Urteil vom 20. 12. 1963 ausdrücklich auch auf den nichtgewerkschaftlichen Streik. In diesem Urteil stellte das BAG fest, dass der nichtgewerkschaftliche Streik generell eine rechtswidrige Verletzung 154  Conclusions XV-1 (2001), Germany, Article 6 – 4: „As an ordinary group of workers cannot readily form a union fulfilling these criteria for the purpose of a strike, the Committee maintains that the situation is not in conformity with Article 6 para. 4 as regards the right to call a strike.“ 155 Zustimmend Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 152; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 29. 156  Die Kritik hat das EKSR in Conclusions XIX-3 (2010), Germany, Article 6 – 4 und in den zuletzt erschienenen Conclusions XX-1 (2014), Germany, Article 6 – 4 bestätigt. Siehe zur Spruchpraxis des EKSR Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 126 f. 157  BAG, Beschl. v. 28. 3. 2006, 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, 1117: „Das Erfordernis der Mächtigkeit verstößt auch nicht gegen die – vom Senat zu beachtende […] – Europäische Sozialcharta (ESC). Diese enthält keine Regelungen über die Anforderungen, die an die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft zu stellen sind.“ 158  BAG, Urt. v. 4. 5. 1955, 1 AZR 493/54, NJW 1955, 1373: „Ein Streik, der Ziele verfolgt, die von der Rechtsordnung […] mißbilligt werden, ist jedoch rechtswidrig. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn um Ziele gestreikt wird, die dem geltenden Tarifvertragsrecht widersprechen.“; kritische Würdigung des Urteils bei Richardi, in: FS Säcker, S. 288 ff.

1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

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des durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten „Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“ sei.159 Das Gericht wies allerdings darauf hin, dass „ein gesetzliches Verbot wilder Streiks nirgends ausdrücklich ausgesprochen ist“160. Somit handelt es sich bei dem Verbot nicht um eine bloße Gesetzeswidergabe. Vielmehr leitete das BAG sein Ergebnis durch Auslegung des „Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetriebs“ her, das ein sogenanntes Rahmenrecht ist. Hierbei stützte sich das Gericht allerdings nicht auf eine verfassungsrechtliche Argumentation, da das BAG den grundrechtlichen Schutz des Streiks erst in einem späteren Urteil aus dem Jahr 1980 anerkannte.161 Grundlage des Urteils waren vor allem ordnungspolitische Erwägungen: „Der Große Senat des BAG hat bereits betont, daß Arbeitskämpfe im allgemeinen unerwünscht sind (BAGE 1, 300 = NJW 55, 882). Zur Begründung hat er u.a. auf die mit ihnen zwangsläufig verbundenen volkswirtschaftlichen Schäden hingewiesen. Daraus ergibt sich – und das ist die vor allem entscheidende und schon für sich allein durchschlagende Erwägung gegenüber einer rechtlichen Anerkennung oder auch nur Tolerierung des wilden Streiks –, daß die Zulassung von Arbeitskämpfen nur in einem bestimmten Rahmen verantwortet werden kann. Dabei ist es wichtig, beim Ausbruch eines Streiks zu Kontrollzwecken Stellen einzuschalten, die wegen ihrer Stellung im Arbeitsleben, ihrer Bedeutung in wirtschaftlicher Hinsicht und ihrem Wissen auf dem Gebiet des Arbeitskampfrechts die Gewähr dafür bieten, daß nur in wirklich begründeten Fällen gestreikt wird und daß im Falle eines Streiks die im Allgemeininteresse erforderlichen Kampfregeln eingehalten werden. Als solche Stellen kommen auf der Arbeitnehmerseite bei ihrer gesellschaftlichen Stellung nur die Gewerkschaften in Frage. […] Das Mittel des Streiks ist eine scharfe Waffe. Das verbietet es, das Streikrecht Personen oder Gruppen anzuvertrauen, bei denen nicht die Gewähr dafür besteht, daß sie nur in dem vertretbaren Umfang davon Gebrauch machen werden. Eine solche Gewähr ist bei den einzelnen Arbeitnehmern, den Mitgliedern der Belegschaften als solchen oder nichtgewerkschaftlichen Gruppen von Arbeitnehmern nicht gegeben.“162

In einem späteren Urteil zum nichtgewerkschaftlichen Streik musste sich das BAG – nach der zwischenzeitlichen Anerkennung des Streiks als Betätigungsform des Art. 9 Abs. 3 GG – mit verfassungsrechtlichen Erwägungen auseinandersetzen.163 Dabei stütze es sich in erster Linie auf den Tarifbezug als zentrales Rechtmäßigkeitskriterium des Streiks. Da nur Gewerkschaften im Stande seien, Tarifverträge abzuschließen sei nur der gewerkschaftliche Streik durch 159 

BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 886. BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885. 161  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643 f. 162  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885, Hervorhebungen durch den Verfasser. 163  BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883. 160 

3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

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Art. 9 Abs. 3 GG geschützt, so dass nichtgewerkschaftliche Streiks einen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB zur Folge hätten: „Eine rechtliche Regelung über die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen ist bis jetzt nur dem die Tarifautonomie des Art. 9 III 1 GG konkretisierenden geltenden Tarifrecht zu entnehmen (eingehend Senat, NZA 1988, 887); Arbeitskämpfe sind also als Kampfmittel nur in einem Tarifkonflikt zugelassen, sie müssen zum Ausgleich sonst nicht lösbarer Interessenkonflikte bei Tarifverhandlungen möglich sein. […] Die Bekl. können sich schon deshalb nicht auf Art. 9 III GG berufen, weil es sich vorliegend um einen nichtorganisierten Streik handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG (Senat, BAGE 15, 174 = AP Art. 9 GG - Arbeitskampf – Nr. 32; BAGE 22, 162 = AP Art. 9 GG - Arbeitskampf – Nr. 41 und BAGE 30, 50 = AP Art. 9 GG - Arbeitskampf – Nr. 58) findet der nichtorganisierte Streik keine Stütze in Art. 9 III GG und ist rechtswidrig.“164

Damit beruht die deliktsrechtliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG einerseits auf einer speziellen Ordnungsfunktion der Gewerkschaften und andererseits auf einem laut BAG in Art. 9 Abs. 3 GG angelegten Tarifbezug des Streiks.165 Durch die generelle deliktsrechtliche Schadensersatzhaftung hat das BAG nichtgewerkschaftliche Streiks quasi verboten und dadurch nicht nur ein Gewerkschaftsprivileg, sondern ein gewerkschaftliches Streikmonopol geschaffen.166 III.  Arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks Nachdem der Große Senat des BAG dem gewerkschaftlichen Streik bereits mit Beschluss167 vom 28. 01. 1955 eine zivilrechtliche Suspendierungswirkung zuerkannt hatte, äußerte es sich zum nichtgewerkschaftlichen Streik erst sehr viel später. 1963 machte das BAG im Urteil zur deliktsrechtlichen Einordnung an einer Stelle kurze Ausführungen zu dessen Auswirkungen auf die arbeitsvertraglichen Pflichten: „Jeder Streik ist eine einseitige Suspendierung der durch den Arbeitsvertrag übernommenen Arbeitspflicht. Das führt ebenfalls zwingend dazu, die Fälle, in denen eine sol164  BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883, Hervorhebungen durch den Verfasser. 165 Die deliktsrechtliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG wird im 4. Teil, 1. Kapitel, A., VI., 1. „Nichtgewerkschaftlicher Streik und Deliktsrecht: Grundrechtseingriff“ verfassungsrechtlich eingeordnet und im 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 1. „Deliktsrechtliche Bewertung: Verfassungswidriger Grundrechtseingriff“ einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsprüfung unterzogen. 166 Anschaulich Konzen, ZfA 1970, 159, 163; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 30 f.; Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 325; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 32. 167  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883; dazu Kittner, Arbeitskampf, S. 610 f.

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

che Suspendierung als gerechtfertigt gilt, einzuengen und vorsichtig abzugrenzen. […] Denn die Rechtfertigung der einseitigen Suspendierung vertraglicher Pflichten ist gegenüber dem Gebot der Befolgung dieser Pflichten die Ausnahme. Dies rechtfertigt eine in den in B II 3 b genannten Verfassungsvorschriften und Gesetzesbestimmungen auch zum Ausdruck gekommene Einengung des Kreises derjenigen, die einen Streik führen dürfen.“168

Diese Ausführungen deuten zwar darauf hin, dass der nichtgewerkschaftliche Streik aus Sicht des BAG keine Suspendierungswirkung besitzt, doch sind sie bei genauerer Betrachtung widersprüchlich. Auf der einen Seite meint das BAG, dass „jeder Streik“ die arbeitsvertraglichen Pflichten suspendiere, und auf der anderen Seite betont es, dass die Suspendierung einer besonderen Rechtfertigung bedürfe. Eine „besondere Rechtfertigung“ deutet eher auf eine Ausnahme als auf eine generelle Regel hin, nach der „jeder Streik“ suspendiere. Wie an späterer Stelle noch erläutert wird, besitzt der Streik im Ausgangspunkt als eine natürliche Freiheit keine suspendierende Wirkung, sondern erhält diese nur in Einzelfällen aufgrund staatlicher Anordnung („normative Freiheit“).169 Eine eindeutige Aussage zur arbeitsvertraglichen Unzulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks kann dem Urteil noch nicht entnommen werden, da es primär um deliktsrechtliche Ansprüche des Arbeitgebers nach § 823 Abs. 1 BGB ging. Eindeutig hat sich das BAG zu den arbeitsvertraglichen Auswirkungen eines nichtgewerkschaftlichen Streiks erstmals im Jahr 1969 geäußert.170 In dem Urteil musste das Gericht die Zulässigkeit einer außerordentlichen Kündigung einer Arbeitnehmerin prüfen, die während eines nichtgewerkschaftlichen Streiks als Protest gegen die Kündigung der Betriebsratsvorsitzenden trotz wiederholter Aufforderung ihre Arbeit nicht wiederaufgenommen hatte („beharrliche Arbeitsverweigerung“).171 Das BAG hielt die Kündigung für rechtmäßig, da es sich um einen nichtgewerkschaftlichen Streik gehandelt habe, der auf Grundlage seiner bisherigen Rechtsprechung rechtswidrig sei: 168  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885 f., Hervorhebungen durch den Verfasser. 169  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B. „Streik als natürliche und normative Freiheit“. 170  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486. 171 Siehe zum Langtext des Urteils mit ausführlicher Sachverhaltsbeschreibung die Wiedergabe des Urteils bei juris: BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68: Daraus ergibt sich, dass sich die Arbeitnehmerin aus Solidarität mit den bereits streikenden Arbeitskollegen dem Streik angeschlossen hatte (Rn. 4) und gegen die Entlassung der Betriebsratsvorsitzenden protestieren wollte (Rn. 2). Persönliche Nachteile der Arbeitnehmerin, die ihr zugunsten eine grundrechtliche Schutzpflicht des BAG im konkreten Fall hätten begründen können, sind nicht ersichtlich. Siehe zum Zusammenhang zwischen grundrechtlicher Schutzpflicht und Streikrecht den 3. Teil, 4. Kapitel, C., II „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“.

3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

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„Ohne Rechtsirrtum hat das LAG weiter angenommen, daß bei einem rechtswidrigen Streik der Arbeitgeber berechtigt ist, dem streikenden Arbeitnehmer, falls ein wichtiger Grund vorliegt, zu kündigen. Das folgt daraus, daß das an sich unabdingbare gesetzliche Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grunde, wie es u.a. in § 626 BGB zum Ausdruck kommt, nach der Rechtsprechung des BAG lediglich für den Fall des rechtmäßigen gewerkschaftlichen Streiks [aufgrund der Suspendierungswirkung, Anmerkung des Verfassers] eingeschränkt ist (BAGE 1, 291 [308] = NJW 55, 882 = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf).“172

Die Begründung für die Ablehnung der Suspendierungswirkung fällt in dem Urteil vom 21. 10. 1969 somit sehr knapp aus. Sie beruht lediglich auf einem einfachen Verweis auf das Urteil des Großen Senats vom 21. 10. 1955, dass nur der gewerkschaftliche Streik die Arbeitspflicht suspendiere. In einem späteren Urteil vom 14. 02. 1978 fällt die Begründung hingegen ausführlicher aus.173 In diesem Fall hatten Arbeitnehmer ihre Arbeit nichtgewerkschaftlich als „ad-hoc Koalition“ niedergelegt, um gegen zuvor durch den Arbeitgeber ausgesprochene betriebsbedingte Massenkündigungen zu protestieren und diesen zur Rücknahme der Kündigungen zu veranlassen. Der Kläger hatte als Reaktion auf den nichtgewerkschaftlichen Streik erneut eine verhaltensbedingte Kündigung erhalten, die das BAG im vorliegenden Urteil für rechtmäßig erachtete. Eine grundrechtliche Schutzpflicht des BAG zugunsten des Klägers ist auch in diesem konkreten Fall nicht anzunehmen, da sich der Streik auf eine Rechtsfrage bezog, deren Prüfung – wie auch das BAG im vorliegenden Fall ausführte – dem Kündigungsschutzverfahren vor den Arbeitsgerichten obliegt.174 Sein Urteil begründete das BAG im Übrigen wie folgt: „Die Gewerkschaft hat aber die Arbeitsniederlegung zu keinem Zeitpunkt offiziell als einen von ihr geführten Arbeitskampf übernommen. Damit handelte es sich im Sinne der Rechtsprechung des Senats um eine sogenannte ,wilde‘, nicht gewerkschaftliche, sondern von einer sogenannten ad-hoc-Koalition durchgeführte Arbeitsniederlegung, die schon als solche rechtswidrig ist (vgl. BAGE 15, 174 =NJW 1964, 883 = AP Art. 9 GG - Arbeitskampf – Nr. 32; BAGE 22, 162 = NJW 1970, 486 = AP Art. 9 GG - Arbeitskampf – Nr. 41; BAG, NJW 1977,918 = AP Art. 9 GG - Arbeitskampf – Nr. 51). An dieser Rechtsprechung des Großen Senats und des erkennenden Senats wird trotz gelegentlicher Kritik festgehalten. Mag nach Art. 9 III GG auch ein nur vorübergehender Zusammenschluß einer Anzahl von Arbeitnehmern eines Betriebes zur Erreichung eines einmaligen Zieles geschützt sein (vgl. BAG, AP Art. 9 GG - Arbeitskampf – Nr. 37 unter 4 der Gründe), so befreit doch eine Arbeitsniederlegung einer solchermaßen zusammengeschlossenen Arbeitnehmergruppe nicht von der Einhaltung der ar172 

BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486. BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236. 174 Ebenso Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 118; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 39. 173 

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

beitsvertraglichen Pflichten. Ein derartiger Arbeitskampf ist nicht privilegiert, sondern nur der Arbeitskampf, der zur Durchsetzung tariflich regelbarer Ziele von einer Gewerkschaft geführt wird, die tariffähig, weil in der Lage ist, auf ihre Gegenseite jeweils einen fühlbaren Druck und Gegendruck auszuüben und auch nach innen mit Autorität aufzutreten. Der Staat kann nur solche Koalitionen als tariffähig anerkennen, die diese ihre Aufgabe sinnvoll erfüllen können; Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit sind nicht deckungsgleich, wie der Senat im Beschluß vom 15. 3. 1977 (NJW 1977, 1551 L = [demnächst] AP Art. 9 GG Nr. 24, auch zur Veröffentlichung in der Amtl. Slg. bestimmt) näher ausgeführt hat. Die Arbeitsniederlegung der Arbeitnehmerschaft der Bekl. und insbesondere auch der Kl. hat also nicht zur Suspendierung der Arbeitsverhältnisse mit der Folge geführt, daß die arbeitsvertraglichen Pflichten der Kl. etwa entfallen wären. Sie haben vielmehr ohne Rechtsgrund die Arbeit verweigert.“175

Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass die Suspendierungswirkung ein besonderes Privileg ist. Das BAG unterstreicht, dass dieses mit der staatlichen Anerkennung der Tariffähigkeit zusammenhängt und dadurch mit dem vom BAG entwickelten „Tarifbezug“ des Streiks verknüpft ist.176 Die Suspendierungswirkung scheint daher aus Sicht des BAG von einem staatlichen Akt abzuhängen und dem Streik nicht automatisch inhärent zu sein.177 Im Übrigen ist für die spätere Untersuchung festzuhalten, dass das BAG in beiden relevanten Urteilen keine Situationen zu beurteilen hatte, in denen die Kläger ein besonderes Schutzbedürfnis hatten und das BAG zu ihrem grundrechtlichen Schutz hätte tätig werden müssen. 175  BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237 f., Hervorhebung durch den Verfasser. Siehe zur fehlenden Suspendierungswirkung des „rechtswidrigen Streiks“ bereits BAG GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, GS 1/68, NJW 1971, 1668, 1671: „Der rechtswidrige Streik ist Arbeitsvertragsbruch, der gegenüber dem streikenden Arbeitnehmer zur ordentlichen oder auch zur außerordentlichen Kündigung führen kann […].“ Die Zulässigkeit des Streiks einer „ad-hoc-Koalition“ hatte das BAG zuvor mangels Entscheidungserheblichkeit noch offengelassen: BAG, Urt. v. 17. 12. 1976, 1 AZR 772/75, NJW 1977, 918: „Das LAG hat die außerordentliche Kündigung des Kl. vom 19. 3. 1974 für wirksam angesehen, weil der Kl. sich an einem Streik beteiligt habe, der rechtswidrig gewesen sei, weil keine Gewerkschaft ihn organisiert habe. Sogenannte ,ad-hoc-Koalitionen‘, d.h. spontan gebildete Gruppen von Arbeitnehmern könnten nicht legitime Träger eines Arbeitskampfes sein. Es bedarf hier keines näheren Eingehens auf die vom angefochtenen Urteil angeschnittenen Probleme eines sogenannten wilden Streiks.“; kritisch zu diesem Urteil Richardi, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 52, Anmerkung. 176 Ähnlich Konzen, ZfA 1970, 159, 179; kritisch hingegen zum Zusammenhang zwischen Gewerkschaftsprivileg und Tarifbezug: Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 182 f., für den beide Bereiche nicht „identisch“ sind, da der Gesetzgeber beides unabhängig voneinander regeln könnte; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 149 f. 177  Siehe dazu ausführlich den 3. Teil, 3. Kapitel, B. „Streik als natürliche und normative Freiheit“. Die arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG wird im 4. Teil, 1. Kapitel, A., VI., 2., a) „Suspendierungswirkung: Grundrechtsausgestaltung“ verfassungsrechtlich eingeordnet und im 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 2. „Suspendierungswirkung: Verfassungskonforme Grundrechtsausgestaltung“ einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen.

3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

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B.  Möglichkeiten der Streikträgerschaft Zum weiteren Grundlagenverständnis gehört die Frage, welche unterschiedlichen Möglichkeiten der Streikträgerschaft theoretisch existieren. Neben dem vom BAG verfolgten Modell einer Bindung des Streiks an eine tariffähige Gewerkschaft, kann der Streik als Kollektivakt ebenfalls aus einer nichttariffähigen Koalition oder aus einem losen Kollektiv mehrerer Arbeitnehmer bestehen. Damit existieren drei verschiedene Modelle, die für einen Streik in Betracht kommen. Das erste Modell, dass die Rechtmäßigkeit des Streiks an die Führung durch Gewerkschaften bindet, existiert neben Deutschland beispielsweise auch in Schweden, Dänemark und Irland.178 Allerdings ist immer zu berücksichtigen, dass in einzelnen Ländern die Anforderungen des Gewerkschaftsbegriffs unterschiedlich sind. So kann in Schweden beispielsweise eine Gruppe von Arbeitnehmer „leicht und rasch eine Gewerkschaft gründen“179. Eine derartige Gewerkschaft fällt daher aus deutscher Sicht eher unter den weiteren Koalitionsbegriff und nicht unter den Gewerkschaftsbegriff, so dass es sich im Einzelfall nach deutschen Maßstäben technisch letztlich doch um einen Streik einer nichtgewerkschaftlichen Koalition handeln kann. Das zweite Modell, das die hinter dem Streik stehenden Arbeitnehmer als Koalition zusammenfasst, entspricht den Anforderungen des Koalitionsbegriffes der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG. Wie an späterer Stelle ausführlich erläutert wird, ist der Koalitionsbegriff in Deutschland weiter als der Gewerkschaftsbegriff. Er umfasst nach hier vertretener Auffassung auch „ad-hoc Koalitionen“, die zwar gewisse koalitionsrechtliche Anforderungen erfüllen müssen, aber aus Anlass eines Streiks gegründet werden können und nicht über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben müssen.180 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nicht nur „ad-hoc Koalitionen“ unter den Koalitionsbegriff fallen, sondern 178  Rebhahn, NZA 2001, 763, 768; auch der sogenannte „Professorenentwurf“ eines Arbeitskampfgesetzes beruht auf der Bindung an Gewerkschaften Birk/Konzen/Löwisch/ Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 66 f.: zwar seien die Arbeitnehmer Träger des Streikrechts, doch binden die Autoren ihr Recht an die Zustimmung der Gewerkschaft. Im Ergebnis ist die Gewerkschaft daher Streikträger. Etwas Anderes gilt für das verbandsfreie Streikrecht, welches die Autoren ebenfalls vorschlagen (S. 95 ff.). 179  Rebhahn, NZA 2001, 763, 768. Ähnliches gilt im Übrigen für den Gewerkschaftsbegriff im Völkerrecht (Art. 11 Abs. 1 EMRK) wie im 2. Teil „Völkerrecht“ dieser Arbeit gezeigt wird. 180  Siehe zu den Voraussetzungen des Koalitionsbegriffs die Erläuterungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“; zu Koalitionen als Streikträger: Dumke, Streikrecht ESC, S. 228 und S. 294; Zachert, AuR 2001, 401, 404; zur „ad-hoc Koalition“ als Streikträger: BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 228 und S. 294; Rieble, RdA 2005, 200, 209 (speziell zu „ad-hoc Koalitionen“ S. 206); Zachert, AuR 2001, 401, 404.

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

auch nichttariffähige Koalitionen, die über einen längeren Zeitraum existieren. Daher kommen diese theoretisch auch als Streikträger der Fallgruppe „Koalition“ in Betracht. Im dritten Modell stellen die hinter dem Streik stehenden Arbeitnehmer nur einen losen Zusammenschluss dar, der nicht die Anforderungen des Koalitionsbegriffes erfüllt. Diese Form des Streiks ist beispielsweise in Frankreich und Italien zulässig und wird auch als romanisches Streikmodell bezeichnet.181 Es zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass der Streik ein Individualrecht ist und an das streikende Kollektiv keine besonderen Anforderungen gestellt werden. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass auch das romanische Modell in jedem Fall ein Arbeitnehmerkollektiv erfordert, da es sich ansonsten nicht um einen Streik handelt.182 Der Streik ist begrifflich ein Kollektivakt.183

C.  Soziale Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks und Rechtsvergleichung Der 1. Teil dieser Arbeit soll mit Ausführungen zur praktischen Relevanz des nichtgewerkschaftlichen Streiks, seinen Ursachen und seiner Einordnung in anderen Ländern abgeschlossen werden. Zwar liegt der Fokus dieser Arbeit auf der rechtlichen Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks in Deutschland, doch müssen sozialwissenschaftliche Erwägungen an vielen Stellen berücksichtigt werden. Im Übrigen kann die rechtsvergleichende Betrachtung der späteren Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Völkerrecht dienen. Wie bereits im historischen Kapitel dieser Arbeit (1. Teil, 2. Kapitel) dargestellt wurde, gab es nichtgewerkschaftliche Streiks bereits in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik. Auch der beschriebene Wandel in ihrer rechtlichen Bewertung durch das BAG hat nicht dazu geführt, dass sie gänzlich aus dem Arbeitskampfgeschehen verschwunden sind. Kittner weist allerdings darauf hin, dass ihre Bedeutung in Deutschland heute vergleichsweise gering ist. So handele es sich nur um ein „Phänomen der Metallindustrie“, das nur bis 1980 praktisch relevant gewesen sei.184 Zu den bedeutendsten nichtgewerkschaftlichen Streiks 181 Siehe dazu Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 38; Rebhahn, NZA 2001, 763, 768 f.; Rudolf, in: Nomos Kommentar GrCh, Art. 28, Rn. 28; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 24; Zachert, NZA 2001, 1041, 1045. 182  Vgl. zur ESC Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 149 f.; Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 38; Rebhahn, NZA 2001, 763, 768 f. 183  Siehe dazu bereits die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“. 184  Kittner, Arbeitskampf, S. 684, nach dessen Ausführungen nichtgewerkschaftliche Streiks bis 1980 zu 75 % in der Metallindustrie stattfanden. Dort machten sie insgesamt etwa 10 % aller Streikaktivitäten bis 1980 aus. Seiter weist für den Zeitraum zwischen 1951 und 1958 einen nichtgewerkschaftlichen Anteil von 4,5 % an der Gesamtdauer der

3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

57

dieser Zeit gehörten die sogenannten „Septemberstreiks“ von 1969, während der etwa 140.000 Arbeitnehmer aus 69 verschiedenen Betrieben ihre Arbeit ohne Unterstützung der Gewerkschaften niederlegten.185 Neben der Metallindustrie handelte es sich dabei um die Textilindustrie, den Kohlebergbau und den öffentlich Dienst. Der Anlass war, dass insbesondere die IG Metall mit der Industrie aufgrund einer empfindlichen Rezession Tarifverträge mit geringen Lohnsteigerungen und langen Laufzeiten vereinbart hatte. Nachdem sich die wirtschaftliche Lage jedoch kurzfristig erholt hatte und die Lebenshaltungskosten sprunghaft gestiegen waren, forderten die Arbeitnehmer Nachschläge, die sie aufgrund der an die Friedenspflicht gebundenen Gewerkschaft nicht mit deren Hilfe „erstreiken“ konnten.186 Aber auch nach 1980 sind nichtgewerkschaftliche Streiks zu verzeichnen. So legten beispielsweise die Arbeitnehmer von Mercedes-Benz (2004 im Stuttgarter Werk) und die Arbeitnehmer von Opel (2004 im Bochumer Werk) ihre Arbeit ohne Gewerkschaft nieder.187 Im Dezember 2014 wurde ein nichtgewerkschaftlicher Streik im Bremer Mercedes-Werk dadurch ausgelöst, dass die dort zuständige Gewerkschaft IG Metall den Streik von über 760 Mitarbeitern nicht unterstützen wollte. Das Ziel der Arbeitnehmer war unter anderem, die Auslagerung von 140 bestehenden Logistikarbeitsplätzen an Fremdfirmen zu verhindern und die zukünftige Vergabe von Leiharbeitsplätzen zu reduzieren.188 Mehrere Arbeitnehmer erhielten von ihrem Arbeitgeber infolge des nichtgewerkschaftlichen Streiks Abmahnungen, gegen die über 30 Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht Bremen Klage einlegten (Aktenzeichen: 6 Ca 6166/15). Dabei beriefen sich die Kläger insbesondere auf Art. 6 Nr. 4 ESC, der im 2. Teil dieser Arbeit eingehend untersucht durch Streiks insgesamt entfallenen Arbeitstage nach. In der Zeit zwischen 1964 und 1969 kam es laut der bei Seiter wiedergegebenen Statistik von Kalbitz (Tabelle 2) zu einem Anteil nichtgewerkschaftlicher Streiks an der Gesamtzahl der Streiks in Deutschland von 83,3 %. In diesen Jahren war ein erheblicher Anstieg der nichtgewerkschaftlichen Streiks zu verzeichnen (Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 214 ff.). 185  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 16; Kittner, Arbeitskampf, S. 684, zu dem ebenfalls wichtigen Jahr 1973 auf S. 686; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 214, Fn. 148. 186  Kittner, Arbeitskampf, S. 684. 187 Siehe zum Konflikt bei Mercedes und Opel insbesondere Rieble, RdA 2005, 200 f.; zum Streik bei Opel siehe http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ unmut-beim-autobauer-wilder-streik-im-bochumer-opel-werk/8769778.html, Abruf am 31. 05. 2016. 188 Siehe dazu die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Bremen unter http://www. arbeitsgericht.bremen.de/sixcms/media.php/13/Pressemitteilung_16_02_2016.pdf, Abruf am 31. 5. 2016 und aus der Presse: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-135322498. html, Abruf am 31.  05.  2016; http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ mercedes-streik-gericht-weist-klage-gegen-abmahnungen-ab/12971880.html, Abruf am 31. 5. 2016.

1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

58

wird. Das Arbeitsgericht Bremen wies die Klage am 16. 2. 2016 insbesondere mit der Begründung ab, die streikende Arbeitnehmergruppe habe keine „ernsthaften Verhandlung“ mit Mercedes geführt. Aus diesem Grund könne auch nicht Art. 6 Nr. 4 ESC zur Legitimation des Streiks herangezogen werden.189 Welche Ursachen lassen sich für nichtgewerkschaftliche Streik benennen? Nach Kittner existieren drei Gruppen nichtgewerkschaftlicher Streiks: Einerseits handelt es sich um Streiks zur Unterstützung gewerkschaftlicher Verhandlungen während einer laufenden Friedenspflicht, darüber hinaus um spontane Streiks zur Geltendmachung übertariflicher Forderungen und letztlich um Versuche, Werksschließungen durch den Arbeitgeber zu verhindern.190 Diese drei Gruppen vereint, dass die Gewerkschaft in diesen Situationen nach bisheriger Rechtslage die Streiks gar nicht organisieren dürfte und sich sogar schadensersatzpflichtig machen würde. So verbietet einerseits die Friedenspflicht während ihrer Laufzeit weitere Arbeitsniederlegungen und andererseits ist es Gewerkschaften grundsätzlich nicht möglich, unternehmerische Entscheidungen durch Streiks zu verhindern.191 Über diese drei Gruppen hinaus gibt es allerdings noch weitere Situationen, in denen nichtgewerkschaftliche Streiks relevant werden können. So weist Reuss darauf hin, dass sich organisationspolitische Interessen der Gewerkschaften und die Interessen der Arbeitnehmer in Einzelfällen unterscheiden können.192 Auch der sogenannte „Professorenentwurf“ eines Arbeitskampfgesetzes schlägt für vier bestimmte Situationen ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht vor. Dabei 189 Siehe

dazu die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Bremen unter http://www. arbeitsgericht.bremen.de/sixcms/media.php/13/Pressemitteilung_16_02_2016.pdf, Abruf am 31. 5. 2016; aus der Presse: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ mercedes-streik-gericht-weist-klage-gegen-abmahnungen-ab/12971880.html, Abruf am 31. 5. 2016. Das Landesarbeitsgericht Bremen hat am 9. 3. 2017 (2 Sa 67/16) die Berufung der betroffenen Arbeitnehmer zurückgewiesen, da Mercedes in der Zwischenzeit die Abmahnung aus der Personalakte entfernt hatte. Daher habe sich der ursprüngliche Klagegrund erledigt und die Feststellungsanträge seien unzulässig gewesen. Allerdings sei damit eine Entscheidung über die Vereinbarkeit des durch Richterrecht geprägten deutschen Arbeitskampfrechts mit völkerrechtlichen Vorgaben wie der Europäischen Sozialcharta ausdrücklich nicht verbunden (siehe dazu die Pressemitteilung unter http://www.landesarbeitsgericht.bremen.de/sixcms/media.php/13/Pressemitteilung%20vom%2009.pdf, Abruf am 10. 3. 2017). 190  Kittner, Arbeitskampf, S. 683. 191  Zur Friedenspflicht Kittner, BB 1974, 1488, 1491; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 124 f.; Rieble, RdA 2005, 200, 202; zur unternehmerischen Entscheidung: Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 35; differenzierend hingegen Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 116. 192  Reuss, AuR 1965, 97, 100; Reuss, Juristen-Jahrbuch 1963/64, 163, 173; ähnlich Däubler, ZfA 1973, 201, 219; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 366 f.; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 e.

3. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik

59

soll es um Situationen gehen, „in denen die Tarifautonomie im konkreten Fall versagt“193. Dabei geht es nach § 34 des Gesetzesentwurfs um die Fälle, dass (1.) für die Vertretung der betreffenden Arbeitnehmer eine tariffähige Gewerkschaft fehlt, (2.) in einem Betrieb keine Gewerkschaft vertreten ist, (3.) die zuständige Gewerkschaft die Aufnahme von Verhandlungen um einen Firmentarifvertrag abgelehnt hat oder (4.) eine an sich zuständige Gewerkschaft wegen Interessenkollision ausscheidet.194 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der nichtgewerkschaftliche Streik nur zulässig sein soll, wenn eine tarifliche Regelung oder eine Betriebsvereinbarung fehlen.195 Neben diesen Fallgruppen wird verschiedentlich vorgebracht, dass ein Bedürfnis für nichtgewerkschaftliche Streiks dort besteht, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedrig ist.196 Dem kann zwar entgegnet werden, dass gerade ein Gewerkschaftsmonopol ein Anreiz wäre, Gewerkschaften beizutreten. Nichtsdestotrotz erfordert ein Gewerkschaftsmonopol einflussreiche Gewerkschaften, damit Arbeitnehmerinteressen wirksam vertreten werden. Bepler weist letztlich darauf hin, dass sich Arbeitgeber zunehmend tarifvertraglichen Bindungen entziehen. In Situationen dieser sogenannten Tarifflucht bestehe für einen Schutz vor nichtgewerkschaftlichen Streiks kein Anlass, da sich die Arbeitgeber ebenfalls nicht im Rahmen des tarifvertraglichen Ordnungssystems bewegen würden.197 Im weltweiten Vergleich und vor allem in Europa gibt es eine Reihe von Ländern, in denen nichtgewerkschaftliche Streiks zulässig sind. So werden beispielsweise in Italien, Frankreich und Spanien keine besonderen Voraussetzungen an das streikende Kollektiv gestellt. Nicht nur Gewerkschaften können in diesen Ländern rechtmäßig streiken.198 Dasselbe gilt beispielsweise auch in den

193 

Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 97. Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 96. 195  Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 96. 196  Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458 f.; ähnlich Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 151, die einen Leerlauf des Streikrechts in den Staaten prognostiziert, in denen ein geringer Organisationsgrad herrscht; Bepler, in: FS Wißmann, S. 110 f. zum Mitgliederverlust und zum Verlust der gewerkschaftlichen Regelungsmacht als Rechtfertigung für nichtgewerkschaftliche Streiks; Waltermann, EuZA 2015, 15, 27 zum Niedriglohnsektor, in dem es keine Gewerkschaft geben könnte, die den Streik organisiert; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 e. 197  Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 21. 198  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 63; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 25; Rebhahn, NZA 2001, 763, 768 f.; Waas, in: Strike: Comparative View, S. 14; zu Frankreich: Kessler, in: Strike: Comparative View, S. 208; Le Friant, NZA-Beil. 2006, 75, 76; zu Italien: Pascucci, in: Strike: Comparative View, S. 335; zu Spanien: Nogueira Guastavino, in: Strike: Comparative View, S. 510. 194 

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1. Teil: Grundlagen der Untersuchung

Niederlanden199, Norwegen 200, Österreich201, Südafrika202, Ungarn 203 und Uruguay204. Teilweise sind nichtgewerkschaftliche Streiks nicht generell verboten, aber nur in bestimmten Situationen zugelassen. Dies gilt beispielsweise für Israel, wo nichtgewerkschaftliche Streiks zulässig sind, wenn in einem Betrieb kein Kollektivvertrag existiert und keine Gewerkschaft vertreten ist.205 Auch in Portugal sind nichtgewerkschaftliche Streiks nur zulässig, wenn keine zuständige Gewerkschaft existiert.206 In anderen Ländern wie beispielsweise Chile können neben Gewerkschaften auch nichtgewerkschaftliche Arbeitnehmervereinigungen Kollektivverträge abschließen und streiken, wenn sie in einer geordneten Art und Weise verhandeln können und gewisse Verbandsbedingungen erfüllen.207 Teilweise müssen vor nichtgewerkschaftlichen Streiks betriebliche Abstimmungen durchgeführt werden. Dies gilt beispielsweise für Spanien und Portugal.208 In Griechenland wiederum dürfen zwar nur Gewerkschaften streiken, doch umfasst der dortige Gewerkschaftsbegriff auch nichtrepräsentative Gewerkschaften auf Unternehmensebene.209 Aus deutscher Sicht würde es sich dabei um einen nichtgewerkschaftlichen Streik handeln. 4. Kapitel

Ergebnisse 4. Kap.: Ergebnisse

Der 1. Teil dieser Arbeit hat gezeigt, dass es wichtig ist, von einheitlichen Definitionen auszugehen. Insbesondere wird für diese Arbeit die Unterscheidung zwischen den Begriffen Streikfreiheit und Streikrecht wichtig sein. Auf ihre unterschiedlichen Auswirkungen wird an verschiedenen Stellen zurückgegriffen 199  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 63; Houwerzijl/Roozendaal, in: Strike: Comparative View, S. 416; Rebhahn, NZA 2001, 763, 769. 200  Evju, Arbeidsrett 2008, 79, 86 f. 201  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 63; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 189 f.; Rebhahn, NZA 2001, 763, 769. 202  Waas, in: Strike: Comparative View, S. 14; Du Toit, in: Strike: Comparative View, S. 479. 203  Waas, in: Strike: Comparative View, S. 14; Katjár/Kun, in: Strike: Comparative View, S. 288. 204  Waas, in: Strike: Comparative View, S. 14; Brignoni, in: Strike: Comparative View, S. 590. 205  Waas, in: Strike: Comparative View, S. 16. 206  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 63, Fn. 53. 207  Waas, in: Strike: Comparative View, S. 16. 208  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 63; Rebhahn, NZA 2001, 763, 769. 209  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 63 f.

4. Kap.: Ergebnisse

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werden. Für die Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks wird es darauf ankommen, welche Anforderungen das deutsche Arbeitskampfrecht und das Völkerrecht an das streikende Arbeitnehmerkollektiv stellen. Ein Streik ist in jedem Fall ein kollektives Kampfmittel, so dass immer ein Arbeitnehmerkollektiv vorliegt. Ob dieses Kollektiv gewerkschaftlichen Maßstäben genügen muss, wird im Verlauf dieser Arbeit erörtert. Die historische Betrachtung des Streiks hat gezeigt, dass es Streiks bereits im Mittelalter gab. Gewerkschaften als Streikorganisatoren wurden erst während der Industrialisierung relevant, wobei nichtgewerkschaftliche Streiks ebenfalls üblich waren. Bis in die Weimarer Republik wurden gewerkschaftliche und nichtgewerkschaftliche Streiks rechtlich gleichbehandelt. Seit Beginn des Kaiserreichs waren sie weder verboten, noch führten sie zur Suspendierung des Arbeitsvertrags. In beiden Fällen mussten die Arbeitnehmer ihren Arbeitsvertrag kündigen, um durch die Arbeitsniederlegung nicht gegen arbeitsvertragliche Pflichten zu verstoßen. Das BAG führte 1955 mit der Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks eine neue Kategorie ein. Aus der bisher geltenden Streikfreiheit wurde ein zivilrechtliches Streikrecht. Für den nichtgewerkschaftlichen Streik verschlechterte das BAG hingegen die rechtliche Bewertung, indem es anordnete, dass dieser eine rechtswidrige Verletzung des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs sei und damit zu einer Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 1 BGB führe. Zudem ordnete das BAG die zivilrechtliche Suspendierungswirkung nur für den gewerkschaftlichen Streik an, so dass nichtgewerkschaftlich streikende Arbeitnehmer weiterhin gegen ihren Arbeitsvertrag verstoßen, wenn sie nicht zuvor kündigen. Ansonsten müssen sie mit der Kündigung oder vertraglichen Schadensersatzforderungen des Arbeitgebers rechnen. Im Ergebnis hat das BAG damit ein gewerkschaftliches Streikmonopol etabliert. Trotz des Verbots haben Arbeitnehmer in Deutschland seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis heute in verschiedenen Fällen ihre Arbeit ohne gewerkschaftliche Organisation niedergelegt. Dafür gibt es verschiedene nachweisbare Ursachen. Im Übrigen hat ein rechtsvergleichender Überblick gezeigt, dass in anderen Ländern nichtgewerkschaftliche Streiks zulässig sind. Somit ist es zumindest erklärungsbedürftig, warum das BAG angesichts plausibler Gründe für nichtgewerkschaftliche Streiks und der Zulässigkeit dieser Streikform in anderen Ländern ein strenges gewerkschaftliches Streikmonopol errichtet hat und aufrechterhält.

2. Teil

Völkerrecht 2. Teil: Völkerrecht

Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht ist in Deutschland lange Zeit kontrovers diskutiert wurden. Dabei standen sich mit dem Monismus und dem Dualismus zwei verschiedene Schulen gegenüber.1 Für den Monismus sind das Völkerrecht und das nationale Recht Bestandteile eines einheitlichen Rechtssystems, bei dem das Völkerrecht eine Vorrangstellung gegenüber dem nationalen Recht einnimmt. Demgegenüber besagt der Dualismus, dass beide Rechtsgebiete voneinander unabhängig und als unterschiedliche Rechtsquellen gleichrangig sind.2 Mittlerweile haben sich die beiden Schulen angenähert und in Deutschland wird überwiegend ein vermittelndes Verständnis beider Konzepte vertreten. Unterschiedliche Rechtsfolgen lassen sich nicht mehr herleiten.3 Dieser Kompromiss kann auch an Normen des Grundgesetzes festgemacht werden4: Auf der einen Seite zeigen Art. 25 GG und Art. 59 Abs. 2 GG, dass sich das Grundgesetz dem Völkerrecht zwar öffnet, aber klare nationale Grenzen bestimmt.5 Das Völkerrecht steht nicht über, sondern unter dem Grundgesetz.6 Auf der anderen Seite zeugen die Präambel des Grundgesetzes oder die Art. 1 Abs. 2, 24, 25 und 26 GG von der Völkerrechtsfreundlichkeit des deutschen Rechts.7 Im Prinzip bestehen Einfallstore des Völkerrechts überall dort, wo nicht der Selbstbestand des nationalen Verfassungsrechts und seiner Grundprinzipien angetastet wird.8 1  Siehe dazu im Überblick Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 14 ff.; Hofmann, Jura 2013, 326 f.; ausführlich mit weiterführenden Quellen Pfeffer, Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, S. 82 ff. 2  Hofmann, Jura 2013, 326, 327; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 14. 3  Siehe dazu Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 15. 4 Vgl. Hofmann, Jura 2013, 326, 327: „Für welche Konzeption sich der Parlamentarische Rat entschlossen hat, lässt sich den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht eindeutig entnehmen.“ 5  Dazu anschaulich Talmon, JZ 2013, 12, 15 ff.; ebenfalls Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 16. 6 Vgl. zum Völkergewohnheitsrecht Talmon, JZ 2013, 12, 15; zu völkerrechtlichen Verträgen Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 168 f. 7  Siehe insbesondere BVerfG, Urt. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408; Weiß, EuZA 2010, 457, 462; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 179; Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 26; ausführliche Darstellung durch Hofmann, Jura 2013, 326, 329 ff. 8 Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 176.

1. Kap.: Überblick zum Völkerrecht

63

Um diesem Verhältnis Rechnung zu tragen, werden im vorliegenden 2. Teil die völkerrechtlichen Vorgaben zum nichtgewerkschaftlichen Streik ermittelt und im späteren 3. Teil Auslegungsspielräume und Einfallstore für völkerrechtliche Wertungen im deutschen Verfassungsrecht ermittelt. Der 2. Teil gliedert sich in einen Überblick zum Völkerrecht, der die streik­ relevanten völkerrechtlichen Verträge benennt und wichtige Grundprinzipien des Völkerrechts erläutert (1. Kapitel). Im Anschluss werden die einzelnen völkerrechtlichen Verträge hinsichtlich des Schutzes des nichtgewerkschaftlichen Streiks untersucht (2. Kapitel). Im Rahmen eines Exkurses werden am Ende des 2. Teils (3. Kapitel) darüber hinaus unionsrechtliche Vorgaben zum Streik dargestellt. Das Unionsrecht ist nach überwiegender Auffassung nicht Teil des Völkerrechts, sondern nimmt eine „Sonderstellung“9 ein. Da die vorliegende Arbeit nur den Streik im nationalen Kontext ohne Grenzüberschreitung zum Gegenstand hat, sind unionsrechtliche Vorgaben nicht unmittelbar maßgeblich.10 Allerdings können sie unter Umständen bei der Auslegung anderer Verträge als Auslegungshilfsmittel herangezogen werden. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei der Auslegung der EMRK neben der ESC ebenfalls die Europäische Grundrechtecharta (GrCh) als Argumentationshilfe herangezogen.11 Vor allem aus diesem Grund ist es sinnvoll, das Unionsrecht hinsichtlich des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Überblick darzustellen. 1. Kapitel

Überblick zum Völkerrecht 1. Kap.: Überblick zum Völkerrecht

Der folgende Kapitel legt die Grundlagen für die Untersuchung des Einflusses völkerrechtlicher Vorgaben auf den nichtgewerkschaftlichen Streik in Deutschland. Dazu werden die verschiedenen völkerrechtlichen Verträge überblicksartig dargestellt, aus denen sich Vorgaben für die innerstaatliche Gewährleistung des Streiks ergeben können (A.). Im Anschluss wird erläutert, welche Stellung völkerrechtliche Verträge im innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutsch9 

Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 6; siehe zum Unterschied zwischen Völker- und Unionsrecht auch: Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 355 ff.; BVerfG, Beschl. v. 18. 10. 1967, 1 BvR 248/63, 216/67, NJW 1968, 348, 349. 10  Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) findet gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh nur bei der Durchführung von Unionsrecht Anwendung, welches grundsätzlich für einen nationalen Arbeitskampf nicht gilt (Art. 153 Abs. 5 AEUV). Siehe dazu Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 109; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 130; Kerwer, EuZA 2008, 335, 353; Waltermann, EuZA 2015, 15, 20. 11 EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1431. Siehe dazu Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 63 ff.; Lörcher, AuR 2011, 88 ff.; kritische Analyse durch Seifert, KritV 2009, 357, 359 ff.

2. Teil: Völkerrecht

64

land einnehmen können und welche Folgen dies für den Rechtsanwender hat (B.). Abgeschlossen wird der Überblick mit einer Erläuterung zu den Auslegungsmethoden völkerrechtlicher Verträge (C.).

A.  Streikrechtliche Quellen im Völkerrecht Der Streik wird in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen teilweise ausdrücklich erwähnt (Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 8 UN-Sozialpakt) oder er wird aus den Bestimmungen zur Vereinigungsfreiheit hergeleitet (Art. 11 EMRK; Art. 3 ILO Übereinkommen Nr. 87).12 Im Unionsrecht existiert mit Art. 28 GrCh ebenfalls eine ausdrückliche Streikgarantie. Vereinzelt wird sogar vertreten, dass der Streik Teil des Völkergewohnheitsrechts ist, welches neben völkerrechtlichen Verträgen eine weitere völkerrechtliche Quelle ist.13 Hiergegen spricht jedoch, dass Völkergewohnheitsrecht eine einheitliche universelle Handhabung eines Rechtsinstituts voraussetzt.14 Rechtsvergleichende Analysen ergeben jedoch für die Zulässigkeit des Streiks gravierende Unterschiede in der nationalen Handhabung.15 Diese reichen von den zulässigen Zielen über die Beteiligten bis hin zu formellen Voraussetzungen wie beispielsweise dem Erfordernis einer Ankündigungsfrist. Daher lassen sich konkrete Vorgaben für den Streik nicht dem Völkergewohnheitsrecht, sondern nur den genannten völkerrechtlichen Verträgen entnehmen. Durch deren Unterzeichnung und Ratifizierung hat sich die Bundesrepublik Deutschland zur Gewährleistung des Streiks verpflichtet.16 Welchen Umfang diese Gewährleistung besitzt und wie sie sich auf das deutsche Recht auswirkt, wird in den folgenden Abschnitten erläutert. Die Verträge sind von unterschiedlichen internationalen Organisationen erarbeitet worden, aber häufig inhaltlich miteinander verknüpft. So nimmt beispielsweise Art. 6 Nr. 4 ESC für andere Vertragswerke eine Vorbildfunktion ein. Durch die ESC wurde zum ersten Mal auf internationaler Ebene das Streikrecht ausdrücklich anerkannt.17 Insbesondere Art. 28 GrCh baut auf den Bestimmungen 12 

Siehe für eine Übersicht zum Arbeitskampf im Völkerrecht: Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 105 ff.; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 20 ff.; Deinert/ Kittner, in: FS Lörcher, S. 295 ff. 13 Siehe Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 16. 14 Vgl. Neubeck, Die Europäische Sozialcharta, S. 160; Talmon, JZ 2013, 12, der den Nachweis einer sich in der Staatenpraxis manifestierenden Rechtsüberzeugung fordert; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 25 GG, Rn. 36. 15  Siehe für einen europaweiten Vergleich Jeschke, Der europäische Streik, S. 77 ff. und für eine weitere Staaten einschließende Analyse: Rebhahn, NZA 2001, 763, 768 ff.; Rebhahn, IJCL, 107 ff.; Waas, in: Strike: Comparative View, S. 1 ff. 16 Vgl. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 105. 17  Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 20.

1. Kap.: Überblick zum Völkerrecht

65

des Art. 6 Nr. 4 ESC und der anderen Quellen auf.18 Zudem werden die Vertragswerke dadurch verknüpft, dass der EGMR bei der Auslegung des Art. 11 EMRK andere völkerrechtliche Verträge heranzieht, um den Umfang des Streikrechts der EMRK festzulegen.19 Mitunter wird die Rechtsprechung des EGMR daher auch als „Einfallstor“20 der anderen völkerrechtlichen Verträge und ihrer Auslegung durch die dazugehörigen Ausschüsse bezeichnet.

B.  Bedeutung völkerrechtlicher Verträge im nationalen Recht Begrifflich wird unter einem völkerrechtlichen Vertrag eine Einigung zwischen Völkerrechtssubjekten über bestimmte Rechtsfolgen verstanden.21 Subjekte des Völkerrechts sind insbesondere Staaten. Inhaltlich können sich Staaten auf bestimmte Austauschpflichten oder wie bei den vorliegenden Vertragswerken auf allgemeine Regeln und Prinzipien verständigen.22 Die Frage, wie sich völkerrechtliche Verträge auf die innerstaatliche Rechtsordnung auswirken, ist nicht nur allgemein von Bedeutung, sondern speziell für die rechtliche Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks in Deutschland relevant. Zu unterscheiden ist zwischen der innerstaatlichen Geltung eines völkerrechtlichen Vertrages und der unmittelbaren Anwendbarkeit seiner Bestimmungen.23 Die innerstaatliche Geltung des Vertrages stellt die Grundlage der Verknüpfung von Völkerrecht und nationalem Recht dar.24 Besitzt ein Vertrag innerstaatliche Geltung ist er Teil der nationalen Rechtsordnung und muss nach seinem Inhalt von den zuständigen staatlichen Organen, zu denen auch Gerichte gehören, bei der Rechtsanwendung berücksichtigt werden.25 Hingegen geht die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Vertragsbestimmungen über die innerstaatliche Geltung hinaus. Sie führt dazu, dass eine Bestimmung unmittel-

18  Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 26; Rudolf, in: Nomos Kommentar GrCh, Art. 28, Rn. 2. 19  Richtungsweisend EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423. Siehe dazu ausführlicher den 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., „Schutzbereich“. 20 Ausführlich Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 257 ff.; zustimmend Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 105. 21  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 2; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 86. 22  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 2 f. 23  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 4; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 151 f. und 165 f.; Zuleeg, ZaöRV 1975, 341, 344 ff.; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 323. 24 Vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 151. 25 Vgl. Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 12.

2. Teil: Völkerrecht

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bare Konsequenzen für einzelne Rechtsverhältnisse entfaltet und sich ein Bürger gegenüber anderen Bürgen auf die Bestimmung berufen kann.26 I.  Innerstaatliche Geltung Die wichtigste Norm für die innerstaatliche Geltung völkerrechtlicher Verträge im deutschen Recht ist Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. Alle Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen demnach der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaft in der Form eines Bundesgesetzes. Dies bedeutet, dass die innerstaatliche Geltung eines völkerrechtlichen Vertrages durch ein parlamentarisches Zustimmungsgesetz im Range einfachen Rechts begründet wird.27 Der dem Zustimmungsgesetz vorgelagerte Vertragsschluss zwischen der Bundesrepublik und dem Vertragspartner führt noch nicht zu einer innerstaatlichen Geltung. Nicht eindeutig geklärt ist bisher, ob das Zustimmungsgesetz zu einer umfassenden Transformation führt oder nur ein Vollzugsbefehl ist.28 Im ersten Fall entsteht parallel zum völkerrechtlichen Vertrag ein nationales Spiegelbild mit demselben Inhalt. Im zweiten Fall ordnet das Zustimmungsgesetz inhaltlich nur die Geltung des völkerrechtlichen Vertrages im innerstaatlichen Recht an.29 II.  Unmittelbare Anwendbarkeit Von entscheidender Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist die Frage, ob die völkerrechtlichen Quellen des Streiks neben ihrer innerstaatlichen Geltung in Deutschland unmittelbar anwendbar sind. Dann würden sich aus den völkerrechtlichen Bestimmungen Rechtsfolgen für den Einzelfall ableiten lassen und der Einzelne könnte sich in einem Verfahren vor deutschen Gerichten unmittelbar auf die völkerrechtlichen Bestimmungen berufen.30 Für die unmittelbare Anwendbarkeit einer völkerrechtlichen Bestimmung muss der völkerrechtliche Vertrag zunächst innerstaatliche Geltung durch ein 26 Vgl.

Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 151. Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1296 f.; Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 7; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 163; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 12; vgl. Hofmann, Jura 2013, 326, 332 f.; hierzu kritisch Payandeh, NJW 2016, 1279, 1280. 28  Für eine Transformation: Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 10; für einen Vollzugsbefehl: Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 164 f.; allgemein dazu Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 200 ff. 29  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 10 f.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 163 ff. 30 Vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 151. 27  BVerfG,

1. Kap.: Überblick zum Völkerrecht

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Zustimmungsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG besitzen.31 Darüber hinaus setzt die unmittelbare Anwendbarkeit einer völkerrechtlichen Bestimmung voraus, dass sie anwendungswillig und anwendungsfähig ist.32 Eine Bestimmung ist anwendungswillig, wenn die Vertragsparteien ihre innerstaatliche Anwendung nicht ausgeschlossen haben.33 Anwendungsfähig ist die Bestimmung, wenn sie geeignet ist, unmittelbar von den nationalen Organen angewendet zu werden. Dazu muss sie so bestimmt sein, dass sie keiner weiteren Ausführungsakte im nationalen Recht bedarf.34 Die unmittelbare Anwendbarkeit einer völkerrechtlichen Bestimmung ist durch Auslegung der materiellen Regelung zu bestimmen.35 Sind die betreffenden Bestimmungen hingegen zu unbestimmt oder nicht anwendungswillig ist eine unmittelbare Anwendbarkeit abzulehnen. Mangelt es dem völkerrechtlichen Vertrag an unmittelbar anwendbaren Bestimmungen, kann er dennoch im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung Bedeutung für die Auslegung und Fortbildung des nationalen Rechts durch die Gerichte erlangen.36 III.  Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung Der Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung ergibt sich aus der Zusammenschau verschiedener Bestimmungen des Grundgesetzes (u.a. Präambel, Art. 1 Abs. 2, 24, 25 und 26 GG) und strahlt auf die gesamte Rechtsordnung aus.37 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist das innerstaatliche Recht „nach 31  Schwartmann, Private im Wirtschaftsvölkerrecht, S. 29; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 323. 32  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 204; Dumke, Streikrecht ESC, S. 156. 33 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 204. 34  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 5; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 166; Zuleeg, ZaöRV 1975, 341, 349 ff.; Talmon, JZ 2013, 12, 13; Schwartmann, Private im Wirtschaftsvölkerrecht, S. 30 f. 35  Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 166; Schwartmann, Private im Wirtschaftsvölkerrecht, S. 30. 36  Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 12; Leinemann, BB 1993, 2519; Vogel, BB 2004, Nr. 48, Die erste Seite; vgl. die allgemein geltenden Aussagen des B ­ VerfG, Urt. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408; siehe konkret zum Streikrecht in der ESC die Ausführungen des BAG, Urt. v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 739. 37  Ausführlich jüngst BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1299; BVerfG, Urt. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408; Weiß, EuZA 2010, 457, 462; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 179; Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 26; ausführliche Darstellung durch Hofmann, Jura 2013, 326, 329 ff.; grundlegend zum „Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit“ Payandeh, JöR 2009, 465, 468 ff., der diesen als eigenständiges ungeschriebenes Verfassungsprinzip einordnet (S. 483) und ihm als „eigenständige normative Dimension“ den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung entnimmt (S. 485 f.).

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2. Teil: Völkerrecht

Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht“38. Unter mehreren Auslegungsvarianten ist diejenige zu wählen, die den Vorgaben aus völkerrechtlichen Verträgen am besten entspricht.39 Die völkerrechtsfreundliche Auslegung ist durch deutsche Gerichte beispielsweise bei der Ausfüllung von zivilrechtlichen Generalklauseln anzuwenden.40 Dasselbe gilt aber auch für Fälle richterlicher Rechtsfortbildung des innerstaatlichen Rechts.41 Allerdings gilt der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung nicht absolut.42 Er führt insbesondere nicht zur „Selbstaufgabe der Verfassung“43. Das BVerfG hat unter anderem im „Görgülü Beschluss“44 verschiedene Grenzen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung herausgearbeitet. Zwar bezieht sich das Gericht in dieser richtungsweisenden Entscheidung auf den Einfluss der EMRK, doch werden die Ausführungen als allgemeingültige Feststellung der Grenzen völkerrechtsfreundlicher Auslegung verstanden.45 Zunächst sind inhaltliche Grenzen der innerstaatlichen Rechtsordnung zu berücksichtigen. Nur wenn eine methodengerechte Auslegung die Berücksichtigung des Völkerrechts zulässt, ist auf das Völkerrecht abzustellen.46 Dazu führt das BVerfG aus:

38  BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1300: „Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit dient nach der Rechtsprechung des BVerfG [..] als Auslegungshilfe für die Grundrechte und die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verfassung sowie das einfache Recht.“; BVerfG, Urt. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408. 39  BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1300: „In der Kammerrechtsprechung ist dies dahingehend konkretisiert worden, dass im Rahmen geltender methodischer Grundsätze von mehreren möglichen Auslegungen eines Gesetzes grundsätzlich eine völkerrechtsfreundliche zu wählen ist.“; vgl. Dumke, Streikrecht ESC, S. 193 f.; Hofmann, Jura 2013, 326, 330. 40  Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 179. 41  Leinemann, BB 1993, 2519; zum Streikrecht Dumke, Streikrecht ESC, S. 203 ff.; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 239 f.; Seiter, RdA 1986, 165, 173. 42 BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1300; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 230; vgl. Sauer, ZaöRV 2005, 35, 54. 43  So anschaulich Talmon, JZ 2013, 12, 15; vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 16; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 292; Hofmann, Jura 2013, 326, 333; Gooren, Tarifbezug, S. 237. 44  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407 („Görgülü“). 45  Deinert, Arbeitskampfmittelfreiheit, S. 74; zur ESC: Gooren, Tarifbezug, S. 238; Dumke, Streikrecht ESC, S. 197. So jüngst wohl auch BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1300.

1. Kap.: Überblick zum Völkerrecht

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„Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs etwa wegen einer geänderten Tatsachenbasis gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich auch gegen Grundrechte Dritter verstößt.“47 46

Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung setzt damit einen Auslegungsspielraum voraus, der den Einfluss völkerrechtlicher Vorgaben zulässt. Soweit das innerstaatliche Recht klare inhaltliche Grenzen aufweist, können diese nicht durch anderslautende völkerrechtliche Vorgaben beseitigt werden. Das innerstaatliche Recht und das Völkerrecht stehen dann in einem Konflikt, der durch eine Gesetzesanpassung zugunsten des Völkerrechts aufgelöst werden muss.48 Dies hat zuletzt das BVerwG in seinem Urteil zum Beamtenstreik und dem Einfluss des Art. 11 Abs.1 EMRK auf das deutsche Arbeitskampfrecht bekräftigt: Bevor deutsche Gerichte die streikrechtlichen Vorgaben der EMRK umsetzen können, müsse der deutsche Gesetzgeber handeln, da die hergebrachten Grundsätze des Beamtentums aus Art. 33 Abs. 5 GG eine Auslegungsgrenze für nationale Gerichte und richterliche Rechtsfortbildung seien.49 Darüber hinaus können dem Einfluss des Völkerrechts tragende Verfassungsprinzipien entgegenstehen.50 Zu den tragenden Verfassungsprinzipien zählen jedenfalls alle Grundsätze, die von der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG 46 

BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3411; vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1300; vgl. BVerwG, Urt. v. 27. 2. 2014, 2 C 1/13, NZA 2014, 616, 620, das auf die Wortlautgrenze und den gesetzgeberischen Willen hinweist; ausführlich Dumke, Streikrecht ESC, S. 193 f.; Hofmann, Jura 2013, 326, 330; Seiter, RdA 1986, 165, 173; Rieble, RdA 2005, 200, 204, für eine Beachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen, „[…] soweit nicht vorrangige Normen des Grundgesetzes oder einfachen Rechts im Wege stehen; Gumnior, Sympathiestreik, S. 92 f.; Greiner, Rechtsfragen, S. 477 f.; Bepler, in: FS Wißmann, S. 107; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 292; Seifert, EuZA 2013, 205, 217; Gooren, Tarifbezug, S. 231. 47  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3411. 48  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 26; vgl. zur EMRK Schubert, AöR 2012, 92, 114. 49  BVerwG, Urt. v. 27. 2. 2014, 2 C 1/13, NZA 2014, 616, 620 f.; anders nur im Ergebnis BVerfG, Urt. v. 12. 6. 2018, 2 BvR 1738/12 u.a., NJW 2018, 2695, nach dessen Ansicht bereits keine Koventionswidrigkeit vorgelegen habe (Rn. 172 ff.). 50  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408: „Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist.“; vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1300 f.; zustimmend: Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 292; Dumke, Streikrecht ESC, S. 194; Gooren, Tarifbezug, S. 237; vgl. Hofmann, Jura 2013, 326, 333; Payandeh, JöR 2009, 465, 498, der ansonsten die Herstellung praktischer Konkordanz bei der Kollision mit Verfassungsprinzipien anregt (S. 497).

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2. Teil: Völkerrecht

geschützt werden.51 Dies sind neben Art. 1 GG insbesondere die Strukturprinzipien des Art. 20 GG. Dazu gehören gemäß Art. 20 Abs. 3 GG das Rechtsstaats­ prinzip und der darin enthaltene Vorbehalt des Gesetzes. Dieser schreibt für Grundrechtseingriffe eine gesetzliche Grundlage vor.52 Der Vorbehalt des Gesetzes kann daher einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung entgegenstehen.53 Wie im Verlauf dieser Arbeit noch dargestellt wird, ist der Vorbehalt des Gesetzes insbesondere bei der normativen Ausgestaltung des Streikrechts durch das BAG zu berücksichtigen und begrenzt die Pflicht des Gerichts zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung.54 Letztlich darf die Übertragung der völkerrechtlichen Vorgabe nicht zu einer Verringerung des grundgesetzlichen Schutzes führen.55 Dies betrifft insbesondere mehrpolige Rechtsverhältnisse zwischen zwei Bürgern.56 Dies liegt daran, dass ein Mehr an Freiheit für den einen immer mit einem Weniger an Freiheit für den anderen einhergeht. Daher dürfen Gerichte die völkerrechtlichen Vorgaben nicht schematisch übertragen, sondern müssen den Einfluss auf die Grundrechte des Dritten berücksichtigen.57

C.  Auslegung völkerrechtlicher Verträge Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge zwischen Staaten richtet sich nach den Art. 31, 32, 33 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVRK).58 Die darin geregelten Auslegungsgrundsätze finden als Kodifikati51  Gooren, Tarifbezug, S. 237; Sauer, ZaöRV 2005, 35, 53 f.; Payandeh, JöR 2009, 465, 498. 52 Zur Eingriffsverwaltung Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 111; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 282; Dreier, in: Dreier, Vorbemerkung, Rn. 102; siehe jüngst zur rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG als Grenze einer konventionsfreundlichen Rechtsfortbildung durch Gerichte BAG, Urt. v. 20. 10. 2015, 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 303. 53  Dieterich, in: FS Jaeger, S. 109 und S. 105; vgl. am Beispiel des Völkergewohnheitsrechts: Talmon, JZ 2013, 12, 17 f.; Zimmermann, ZRP 2012, 116, 118; vgl. zum Rechtsstaatsgebot Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 27; vgl. zur grundgesetzlichen Ordnung als Grenze völkerrechtsfreundlicher Auslegung Hofmann, Jura 2013, 326, 333. 54  Siehe dazu die Ausführungen zum Vorbehalt des Gesetzes und zur Wesentlichkeitstheorie im 5. Teil, 1. Kapitel, A. „Anordnung durch das Bundesarbeitsgericht“. 55  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408. 56 BVerfG, Urt. v. 4.  5. 2011, 2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931, 1936; jüngst BAG, Urt. v. 20. 10. 2015, 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 301; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 106; Gooren, Tarifbezug, S. 234 ff.; Nußberger, RdA 2012, 270, 276; kritisch Buchholtz, NJW 2016, 1034, 1038. 57  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3410. 58 Dazu Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 107 ff.; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 6; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 124.

1. Kap.: Überblick zum Völkerrecht

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on eines bereits zuvor bestehenden Völkergewohnheitsrecht auch auf Verträge Anwendung, die vor der WVRK in Kraft getreten sind.59 Maßgeblicher Bezugspunkt der Auslegung sind gemäß Art. 33 WVRK die authentischen Vertragssprachen, die sich der jeweiligen Sprachenklausel entnehmen lassen.60 Dieselben Vorschriften gelten grundsätzlich auch für die Auslegung völkerrechtlicher Vorgaben aus innerstaatlicher Sicht.61 Dies wird insbesondere relevant für völkerrechtsfreundliche Auslegung von innerstaatlichen Normen und der in deutsches Recht transformierten Vorschriften. Nach Art. 31 Abs. 1 WVRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Grundlegende Bedeutung kommt daher dem Wortsinn zu. Dessen Ermittlung ist wiederum am Vertragszweck (Telos) und am Zusammenhang (Systematik) auszurichten.62 Ebenfalls sind gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK einschlägige völkerrechtliche Grundsätze zu berücksichtigen, wodurch unter bestimmten Umständen auch andere völkerrechtliche Verträge Einfluss auf die Auslegung haben können.63 Darüber hinaus kann gemäß Art. 32 WVRK bei Unklarheiten subsidiär auf die vorbereitenden Arbeiten zum Vertrag, die travaux préparatoires, und sonstige Umstände des Vertragsschlusses zurückgegriffen werden (historisch-genetische Auslegung).64 Neben der Auslegung nach den Vorgaben der WVRK ist zu berücksichtigen, dass in manchen Fällen besondere Gerichte oder Ausschüsse über die Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Verträge wachen.65 Ist dies der Fall, stellt sich die Frage ob diese Organe das Recht zur authentischen Interpretation besitzen und eine bestimmte Auslegung vorschreiben können, an die sich die Anwender zu halten haben. Das BVerfG hat zumindest für Urteile des EGMR festgestellt, dass diese innerstaatliche Geltung besitzen – auch wenn die Bundesrepublik nicht Teil des Rechtsstreits ist.66 Grundsätzlich ist jedoch zu sagen, dass eine Interpre59 

Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 7. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 109. 61  Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 170. 62  Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 108; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 125 f. 63  Seifert, EuZA 2013, 205, 209; ausführlich Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 275 ff.; vgl. Weiß, EuZA 2010, 457, 467. 64  Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 109; Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 18; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 127; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 61 f. 65  Siehe zu einer Übersicht Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 294 f. 66  BVerfG, Urt. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407; siehe dazu ausführlich Sauer, ZaöRV 2005, 35; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 293 ff.; Hofmann, Jura 2013, 326, 331 f. 60 

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2. Teil: Völkerrecht

tationshoheit völkerrechtlicher Organe nur anzunehmen ist, wenn sich die Vertragsstaaten darauf geeinigt haben und diese Einigung innerstaatliche Geltung erfahren hat.67 2. Kapitel

Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht 2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

Im Folgenden wird untersucht, ob der nichtgewerkschaftliche Streik von den genannten völkerrechtlichen Verträgen umfasst wird. Ergänzend wird bestimmt, ob der Streik nur als Streikfreiheit oder auch als zivilrechtlich-suspendierendes Streikrecht durch die Verträge geschützt wird.68 Dazu wird einerseits der Schutzbereich jedes einzelnen Vertragswerks ermittelt und andererseits erörtert, ob nach dem jeweiligen Vertrag eine Beschränkung des Schutzbereichs auf ein Gewerkschaftsmonopol zulässig ist. Abschließend wird für jedes Vertragswerk die Stellung im deutschen Recht definiert. Neben der innerstaatlichen Geltung kommt es dabei insbesondere auf die unmittelbare Anwendbarkeit der jeweiligen Norm an.

A.  Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta Der Streik wird ausdrücklich durch Art. 6 Nr. 4 ESC geschützt.69 Danach erkennen die Vertragsparteien das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts an.70 Die ESC ist ein multilateraler Vertrag, der am 18. Oktober 1961 neben der Bundesrepublik Deutschland von 14 weiteren Mitgliedsstaaten des Europarats unterzeichnet wurde.71 Am 19. September 1964 transformierte der Bundestag den Vertrag durch ein Zustim67  Neubeck, Die Europäische Sozialcharta, S. 190; vgl. am Beispiel des EKSR Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 132 ff.; vgl. Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 395. 68  Siehe zur Unterscheidung zwischen Streikfreiheit und Streikrecht die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“ und damit zusammenhängend die Auswirkungen einer Differenzierung zwischen natürlicher und normativer Freiheit im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 3. „Auswirkungen“. 69 Von Harris/Darcy wird Art. 6 Nr. 4 ESC daher auch als „landmark“ im internationalen Arbeitsrecht bezeichnet: Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 104. Siehe ausführlich zum Streikrecht der Europäischen Sozialcharta: Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 77 ff; Dumke, Streikrecht ESC, S. 71 ff. 70 Die deutsche Übersetzung kann über http://www.coe.int/en/web/conventions/ full-list/-/conventions/rms/090000168006b748 abgerufen werden (Abruf am 18. 6. 2016). 71  Mittlerweile ist die ESC von 27 Staaten ratifiziert worden und von fünf weiteren Staaten nur unterzeichnet worden. Eine aktuelle Übersicht zum Ratifikationsstand ist

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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mungsgesetz in innerstaatliches Recht.72 In Kraft trat die Europäische Sozialcharta am 26. Februar 1965.73 Aufgrund ihrer sozialen Grundrechte gilt die ESC als „soziales Gegenstück“74 der EMKR, die primär klassisch-bürgerliche Freiheitsrechte beinhaltet.75 Mittlerweile existieren neben einem Zusatzprotokoll von 1988, zwei Änderungsprotokolle von 1991 und 1995 und eine revidierte Fassung der ESC (RESC) von 1996. Sie enthalten neben weiteren sozialen Rechten einen veränderten Überwachungsmodus. Allerdings sind diese Vertragsänderungen bisher nicht durch Deutschland ratifiziert worden und besitzen daher keine innerstaatliche Geltung.76 Darüber hinaus haben die Änderungen für die vorliegende Untersuchung keine Relevanz, da sich durch sie inhaltlich keine Änderungen des Streikrechts aus Art. 6 Nr. 4 ESC ergeben haben.77 Maßgeblicher Untersuchungsgegenstand ist daher Art. 6 Nr. 4 ESC. Seine Auslegung bestimmt sich im Falle von Auslegungsschwierigkeiten gemäß Art. 38 ESC nach der englischen und der französischen Sprachfassung. Die Zulässigkeit von Einschränkungen des Streikrechts nach Art. 6 Nr. 4 ESC bestimmt sich nach Art. 31 Abs. 1 ESC, der einen Schrankenvorbehalt beinhaltet.78 Überwacht wird die Ausführung der ESC durch ein Berichtsverfahren (Art. 21 bis Art. 29 ESC).79 Nach diesem sind die Vertragsparteien verpflichtet, in bestimmten Abständen Berichte über die innerstaatliche Umsetzung der ESC an den Generalsekretär des Europarats zu übermitteln (Art. 21 ESC). Dieser leitet die Berichte an das EKSR weiter, das die Berichte rechtlich überprüft und mittels Schlussfolgerungen („conclusions“) Stellung zu der jeweiligen Umsetzung bezieht (Art. 25 ESC).80 Die Schlussfolgerungen besitzen allerdings keine völkerrechtlichen Konsequenzen, so dass sie als unverbindliche Sanktion bezeichnet werden.81 Die Schlussfolgerungen werden anschließend dem Regierungsausschuss überstellt, der das Ministerkomitee des Europarats einschalten kann (Art. 27 ESC). Dieses unter http://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/035/signatures einsehbar (Abruf am 18. 6. 2016). 72  BGBl. II 1964, Nr. 43 vom 23. 09. 1964, S. 1261. 73  BGBl. II 1965, Nr. 31 vom 21. 08. 1965, S. 1122. 74  Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 20. 75  Gooren, Tarifbezug, S. 174; vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 81 f.: „Freiheitsrechte und politische Rechte“. 76 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 77 und S. 134. 77  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 77 f. 78  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 93 und im Einzelnen zu den Voraussetzungen des Art. 31 Abs. 1 ESC S. 166 ff. 79  Dazu ausführlich Däubler, AuR 1998, 144; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 94 ff. 80 Die conclusions sind über http://hudoc.esc.coe.int/eng# abrufbar. 81  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 96.

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kann bei einer Zweidrittelmehrheit eine individuelle Empfehlung („recommendations“) an den jeweiligen Staat erlassen, damit dieser mit geeigneten Maßnahmen die Mängel beseitigt (Art. 29 ESC).82 Die Empfehlung ist das stärkste Sanktionsmittel, das die ESC besitzt. Allerdings besitzt auch sie keine völkerrechtlichen Konsequenzen zur Durchsetzung, so dass das Überwachungsverfahren der ESC teilweise als ein „stumpfes Schwert“ bezeichnet wird.83 In der Literatur ist allerdings umstritten, ob sich die Auslegung der Sozialcharta zwingend nach der Spruchpraxis des EKSR oder des Ministerkomitees zu richten hat.84 Ein derartiges Recht zur authentischen Interpretation hätte zur Folge, dass nationale Gerichte der Auslegung durch die Überwachungsorgane der ESC folgen müssten.85 Der überwiegenden Auffassung, die eine authentische Interpretationshoheit beider Organe ablehnt, ist zu folgen. Für das EKSR folgt dies insbesondere daraus, dass ihm erst durch das Turiner Änderungsprotokoll von 1991 eine Interpretationszuständigkeit eingeräumt wurde und die Bundesrepublik dieses bisher nicht ratifiziert hat. Damit besitzt die Änderung keine innerstaatliche Geltung in Deutschland.86 Gegen eine Interpretationshoheit des Ministerkomitees spricht im Übrigen ein Vergleich mit der EMRK, bei der die Vertragsparteien für Entscheidungen des EGMR gemäß Art. 46 EMRK einen innerstaatlichen Befolgungszwang vereinbart haben.87 Für die ESC fehlt es an einer derartigen Regelung. Allerdings müssen die Schlussfolgerungen des EKSR und die Empfehlungen des Ministerkomitees aufgrund der völkerrechtsfreundlichen Ausrichtung des deutschen Rechts berücksichtigt und Abweichungen mittels der Auslegungsmethoden begründet werden.88 Zu weit geht hingegen die Forderung 82 Die

recommendations sind über http://hudoc.esc.coe.int/eng# abrufbar. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 97; vgl. Nußberger, RdA 2012, 270, 271 „zahnloser Tiger“; optimistischer Dumke, Streikrecht ESC, S. 45 f. 84  Gegen ein Recht zur authentischen Interpretation: ausführlich Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 131 ff.; Däubler, AuR 1998, 144, 147 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 58 f.; Bepler, in: FS Wißmann, S. 106 f.; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 294 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 371; Franzen, EuZA 2010, 453, 454; Kerwer, EuZA 2008, 335, 351; Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 395; Neubeck, Die Europäische Sozialcharta, S. 193 ff.; Rieble, RdA 2005, 200, 204; Seiter, RdA 1986, 165, 173; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 383 und 388; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/ Seiter, Gesetzentwurf, S. 95. Für ein Recht zur authentischen Interpretation: Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 27 f.; bezüglich des EKSR Schlachter, RdA 2011, 341, 346; wohl auch Schubert/Wolter, AuR 2013, 24, 26. 85  Däubler, AuR 1998, 144, 147. 86  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 134. 87  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 135; Däubler, AuR 1998, 144, 147. 88 Vgl. Dumke, Streikrecht ESC, S. 58 f.; Bepler, in: FS Wißmann, S. 107; Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 395; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 294 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 371; Franzen, EuZA 2010, 453, 454; Neubeck, Die Europäische 83 

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von Däubler, dass nur bei einem triftigen Grund, an den „relativ hohe Anforderungen“89 zu stellen seien, eine abweichende Auslegung durch nationale Gerichte möglich ist. Das BAG bezieht sich in jüngeren Urteilen ebenfalls auf die Auslegung der Kontrollorgane.90 Dadurch zeigt es, dass deren Interpretation zumindest eine Orientierungswirkung für das Gericht besitzt.91 I.  Schutzbereich Mit Rückgriff auf die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden und unter Berücksichtigung der Auslegung des EKSR und des Ministerkomitees wird nachfolgend das Streikrecht des Art. 6 Nr. 4 ESC analysiert. Im Fokus steht dabei die Frage, ob der Schutzbereich eine Gewerkschaftsbindung beinhaltet oder ob das Streikrecht gewerkschaftsunabhängig ausgeübt werden kann. Für die Auslegung werden der Wortlaut, die Systematik und der Zweck der Norm analysiert. Zusätzlich werden bei Unklarheiten die Travaux Préparatoires der ESC unterstützend herangezogen.92 In diesem Zusammenhang ist einleitend darauf hinzuweisen, dass sich die Vertragsparteien der ESC darauf geeinigt haben, ein Streikrecht in Art. 6 Nr. 4 ESC zu installieren. Dieses suspendiert für die Dauer der Arbeitsniederlegung die arbeitsvertragliche Hauptpflicht des Arbeitnehmers und verhindert dadurch Sanktionen des Arbeitgebers.93 Im Gegensatz zum Begriff Streikfreiheit besitzt das Sozialcharta, S. 207 f.; a.A.: Kerwer, EuZA 2008, 335, 351, der sich für ein Widerspruchsrecht ausspricht; ebenfalls ablehnend Rieble, RdA 2005, 200, 204. 89  Däubler, AuR 1998, 144, 148; ähnlich Hayen/Ebert, AuR 2008, 19, 25, die den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten durch die Spruchpraxis des EKSR als „stark eingegrenzt“ bezeichnen. 90  Beispielsweise bezieht es sich im Urteil zum Sympathiestreik auf die Ansicht des EKSR und des Ministerkomitees, dass sich der ESC kein Tarifbezug des Streiks entnehmen lasse: BAG, Urteil vom 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1058 f. In einem anderen Urteil bezieht es sich auch auf die Ansicht des EKSR und des Ministerkomitees, dass ein Gewerkschaftsmonopol unzulässig sei: BAG, Urt. v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 740. 91  Ähnliche Bewertung durch Grabosch, Kritische Justiz 2013, 30, 35. 92  Siehe zur Auslegung den 2. Teil, 1. Kapitel, C. „Auslegung völkerrechtlicher Verträge“. 93 Treffend Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 189 f.: „[Eine andere] Ansicht tut [..] schon dem Wortlaut Gewalt an.“; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 134 ff.; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 64; ausführlich Ramm, AuR 1971, 65, 73 f.; Evju, European Labour Law Journal 2011, 196, 216 f.; Schlachter, SR 2013, 77, 89; vgl. Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 26; vgl. Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 472; vgl. Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 237 f.; vorsichtiger Dumke, Streikrecht ESC, S. 351 f.; a.A.: Rieble, RdA 2005, 200, 206; Bepler, in: FS Wißmann, S. 113 in Bezug auf den nichtgewerkschaftlichen Streik.

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Streikrecht nicht nur einen Schutz gegenüber staatlichen Verboten, sondern auch das zivilrechtliche Privileg, den Arbeitsvertrag vorübergehend zu suspendieren.94 Auch das EKSR ist der Ansicht, dass Art. 6 Nr. 4 ESC den streikenden Arbeitnehmer grundsätzlich vor einer Kündigung durch den Arbeitgeber schütze.95 Daher sind die Vertragsstaaten völkerrechtlich verpflichtet, das innerstaatliche Vertragsrecht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern so auszugestalten, dass der Streik eine Suspendierungswirkung besitzt. Art. 6 Nr. 4 ESC ist im Prinzip so konzipiert, dass die Norm aus sich heraus eine Form unmittelbarer Drittwirkung besitzt, da das Streikrecht zwischen Privaten Anwendung finden soll und nicht nur als Abwehrrecht gegenüber dem Staat fungiert.96 Davon zu trennen ist die später zu beantwortende Frage, ob Art. 6 Nr. 4 ESC so beschaffen ist, dass die Norm unmittelbar im deutschen Recht anwendbar ist.97 Nur bei einer unmittelbaren Anwendbarkeit kann sich der Bürger vor deutschen Gerichten direkt auf das Streikrecht der ESC stützen, ohne dass der Staat die Norm zuerst in das deutschen Recht umsetzen müsste.98 1.  Wortlaut Für die Auslegung sind in erster Linie die englische und die französische Fassung maßgeblich. Dies ergibt sich aus Art. 38 ESC, der die offizielle Vertragssprache regelt. Nach der englischen Sprachfassung des Art. 6 Nr. 4 ESC ist für das Streikrecht folgende Passage relevant: „With a view to ensuring the effective exercise of the right to bargain collectively, the Contracting Parties […] recognise (4) the right of workers and employers to collective action in cases of conflicts of interest, including the right to strike, subject to obligations that might arise out of collective agreements previously entered into.“99

Das „right to strike“ (Streikrecht) ist demnach eine „collective action“ (kollektive Handlung). Diese wiederum wird als „right of workers and employers“ 94  Siehe zur Unterscheidung zwischen Streikfreiheit und Streikrecht die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“. 95  Conclusions I (26/02/1965 - 31/12/1967), Statement of interpretation, Article 6 – 4. 96 Vgl. Köster, Völkerrechtliche Verantwortlichkeit, S. 99, der den Bürger als Verpflichteten der ESC neben dem Staat zumindest nicht ausschließt. Siehe zur Drittwirkungsproblematik des Art. 9 Abs. 3 GG die späteren Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2., a) „Keine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte“ und 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2., b) „Unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG“. 97  Vgl. die terminologische Klarstellung von Förster, Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 20. 98  Siehe dazu noch die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, A., III, 1. „Unmittelbare Anwendbarkeit“. 99  Abzurufen über http://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/ rms/090000168006b642 (Abruf am 18. 6. 2016), Hervorhebungen durch den Verfasser.

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bezeichnet (Recht der Arbeiter und Arbeitgeber). In der französischen Fassung wird das „droit de grève“ (Streikrecht) als Bestandteil der „actions collectives“ (kollektive Handlungen) ebenfalls den „travailleurs“ (Arbeitern) zugeordnet.100 Nach beiden Sprachfassungen haben sich die Vertragsparteien demnach verpflichtet, den Streik als ein Kollektivrecht der Arbeitnehmer anzuerkennen und nicht als ein Recht der Gewerkschaften. Dieses Ergebnis wird durch die Travaux Préparatoires zu Art. 6 Nr. 4 ESC bestätigt. In den vorbereitenden Verhandlungen reichten die Vorschläge zum Streikrechtsträger ebenfalls nur von „everyone“, über „every worker“ bis schließlich zu „workers“ und setzten keine Gewerkschaft voraus.101 Ausdrückliche Begrenzungen erfährt das Streikrecht hingegen durch die wörtliche Aufzählung zweier besonderer Funktionen. Zum einen ist das Streikrecht auf „conflicts of interest“ (Interessenkonflikte) ausgerichtet. Damit werden Konflikte um Rechtsfragen ausgeklammert.102 Für Rechtsfragen sind nationale Gerichte zuständig. Das Streikrecht der ESC kann somit nur im Rahmen arbeitsplatzbezogener Interessenkonflikte eingesetzt werden. Zum anderen wird das Streikrecht durch die Überschrift und den Einleitungssatz des Art. 6 ESC begrenzt, der den gesamten Maßnahmen der Bestimmung als Ziel die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen voranstellt („With a view to ensuring the effective exercise of the right to bargain collectively“). Dadurch macht der Vertragstext deutlich, dass der Streik mit kollektiven Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und dem Arbeitgeber im Zusammenhang stehen muss.103 Ein Streik der ohne Verhandlungen als reiner Protest ergeht, wird nicht durch Art. 6 Nr. 4 ESC geschützt.104 Dasselbe gilt für einen politischen Streik für Themen, auf die der Arbeitgeber keinen Einfluss nehmen kann.105 100  Abzurufen über http://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/ rms/090000168006b6af (Abruf am 18. 6. 2016). 101  Siehe dazu die Nachweise bei Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 151 und Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 123 f. 102  Evju, European Labour Law Journal 2011, 196, 204; Schlachter, SR 2013, 77, 88; Picker, ZfA 2010, 586, 622; Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 448 f. 103 So auch das ArbG Bremen, das in einem Urteil zu einem nichtgewerkschaftlichen Streik bei Mercedes in Bremen die Voraussetzungen des Art. 6 Nr. 4 ESC nicht erfüllt sah, da die Streikenden keine „ersthafte Verhandlung“ mit dem Arbeitgeber geführt hätten (http://www.arbeitsgericht.bremen.de/sixcms/media.php/13/Pressemitteilung _16_02_2016.pdf). 104  Dumke, Streikrecht ESC, S. 122 und 295; vgl. Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 82 f. 105  Schlachter, SR 2013, 77, 88; Rieble, RdA 2005, 200, 205; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 227; kritisch Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 451.

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Die deutsche Übersetzung steht mit den beiden authentischen Vertragssprachen im Einklang. Nach ihr erkennen die Vertragsparteien zur „wirksamen Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen“ das „Recht der Arbeitnehmer […] auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts“106 an. Art. 6 Nr. 4 ESC ordnet den Streik keiner Gewerkschaft oder anderen speziellen Arbeitnehmerorganisation zu. Auch stellt der Einleitungssatz des Art. 6 ESC keinen zwingenden Zusammenhang zu Gewerkschaften her.107 Nichtgewerkschaftliche Arbeitnehmerkoalitionen können ebenfalls Arbeitsbedingungen kollektiv verhandeln.108 Dazu bedarf es nicht des Rückgriffes auf einen Tarifvertrag, der gemäß § 2 Abs. 1 TVG nur von Gewerkschaften abgeschlossen werden kann. Art. 6 Nr. 4 ESC ist so offen formuliert, dass die Kollektivverhandlungen auch in einer nichttariflichen Einigung münden können.109 Somit zwingt der Wortlaut nicht zu der Annahme, dass der Streik durch eine Gewerkschaft organisiert werden muss.110 Vielmehr wird das Streikrecht den Arbeitnehmern zugeordnet, ohne dass die Norm eine ausdrückliche Vorgabe enthält, wie die streikenden Arbeitnehmer im Kollektiv verbunden sein müssen.111 106  Abzurufen über http://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/ rms/090000168006b748 (Abruf am 18. 6. 2016). 107  So jedoch Weitnauer, DB 1970, 1639, 1641, der Kollektivverhandlungen mit dem Abschluss von Tarifverträgen gleichsetzt und darin die Gewerkschaftsbindung begründet sieht; ähnlich noch BAG, Urt. v. 5. 3. 1985, 1 AZR 468/83, NZA 1985, 505, 507: „Das Streikrecht steht demjenigen zu, der das Recht auf Kollektivverhandlungen geltend machen will […]. Die ESC sieht damit den Arbeitskampf im Dienste der Tarifautonomie; Arbeitskämpfe sind nur zum Ausgleich tariflicher Interessenkonflikte erforderlich.“. Mittlerweile besitzt das BAG jedoch zumindest Zweifel an dieser Auslegung: BAG, Urt. v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 739. 108  Anhand eines praktischen Beispiels ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 33; Evju, European Labour Law Journal 2011, 196, 214; vgl. Dumke, Streikrecht ESC, S. 104. 109 Ausführlich Gooren, Tarifbezug, S. 182 ff.; Bepler, in: FS Wißmann, S. 107 f.; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 325; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 33; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 194; Schubert/Wolter, AuR 2013, 24, 26; Schlachter, SR 2013, 77, 88; vgl. Hayen/Ebert, AuR 2008, 19, 24. 110 So auch Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 66; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 150; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 371; Dumke, Streikrecht ESC, S. 107 ff.; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 33; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 120 f.; Ramm, AuR 1971, 65, 72 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 27; ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353; vgl. Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 324; vgl. Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396. Auch das EKSR hat in früheren Empfehlungen auf den Wortlaut verwiesen und eine Gewerkschaftsbindung abgelehnt: Conclusions XIII-4 (1996), Germany. A.A.: Weitnauer, DB 1970, 1639, 1641, der das Recht auf Kollektivverhandlungen fälschlicherweise mit Tarifverträgen gleichsetzt. 111 Siehe Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 325, wonach ein „irgendwie organisierte[s] Kollektiv“ genügt.

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Allerdings ist zu beachten, dass ein Arbeitnehmer das Streikrecht nicht alleine ausüben kann. Zu dieser Annahme kann die häufig vertretene Interpretation des Art. 6 Nr. 4 ESC als Individualstreikrecht verleiten.112 Art. 6 Nr. 4 ESC ordnet den Streik jedoch den kollektiven Maßnahmen („collective action“) unter. Für eine kollektive Maßnahme bedarf es mehrerer Arbeitnehmer, so dass Art. 6 Nr. 4 ESC nur die Arbeitsniederlegung mehrerer Arbeitnehmer schützt.113 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Bestimmung nur das Kollektiv schützt. Die Hervorhebung der „Arbeitnehmer“ anstelle einer Vereinigung zeigt, dass sich auch der am Streik beteiligte einzelne Arbeitnehmer auf das Streikrecht berufen kann und Träger des Rechts ist.114 Am besten wird diese Konstellation durch die Bezeichnung „Individualgrundrecht unter kollektiven Vorbehalt“115 erfasst. Diesbezüglich ist allerdings zu klären, welche Voraussetzungen der kollektive Vorbehalt besitzt. Wann handelt es sich um ein Arbeitnehmerkollektiv im Sinne des Art. 6 Nr. 4 ESC? Der Wortlaut enthält dazu keine konkreten Vorgaben. Alleine die Überschrift und der Einleitungssatz des Art. 6 ESC mit der Ausrichtung des Streikrechts auf Kollektivverhandlungen bringen zum Ausdruck, dass das streikende Arbeitnehmerkollektiv fähig und willig sein muss, Verhandlungen zu führen.116 Daher besitzt die Forderung, dass das Kollektiv einen Sprecher benennt, der mit dem Arbeitgeber im Namen der Streikenden Verhandlungen führen kann, eine Berechtigung.117 Darüber hinaus bedarf es einer organisierten Willensbildung und eines gewissen Zusammenhalts des Kollektivs, der einen Zerfall der Gruppe für den Zeitraum der Kollektivverhandlungen verhindert. Eines dauerhaften Zusammenschlusses bedarf es allerdings nicht. Daher kann auch ein „ad-hoc“ Zusammenschluss dem Arbeitgeber als Verhandlungspartner 112  Siehe beispielsweise Melot de Beauregard, NZA-RR 2010, 453, 456 für ein „Streikrecht als individuelles Menschenrecht“; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 324: „individuelle, dem einzelnen Arbeitnehmer zustehende Rechtsposition“; Picker, ZfA 2010, 586, 624: „Individualrecht“. 113  So auch Dumke, Streikrecht ESC, S. 112; Rieble, RdA 2005, 200, 206; Witter, Europarechtliche Aspekte, S. 51. 114  Witter, Europarechtliche Aspekte, S. 50 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 100 f. 115  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 166. 116  Dumke, Streikrecht ESC, S. 106 und 121 f.; Picker, ZfA 2010, 586, 623; vgl. Hilje, Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen, S. 164, der allerdings „wilde Streiks“ ablehnt und nicht berücksichtigt, dass unter diesen Begriff auch Streiks nichtgewerkschaftlicher „Interessenvertretungen“ fallen. 117  So zu Art. 6 Nr. 4 ESC das ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353 f.; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 122 in Fn. 399; vgl. allgemein zu Arbeitnehmerkoalitionen Rieble, RdA 2005, 200, 206; auch der Professorenentwurf eines deutschen Arbeitskampfgesetzes fordert für ein verbandsfreies Streikrecht die Einsetzung einer Streikleitung zur Verhandlungsführung mit dem Arbeitgeber Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 98.

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dienen, wenn ein Sprecher benannt wird und der Zusammenschluss für die Zeit der Verhandlungen und des Streiks Bestand hat.118 2.  Systematische Auslegung Die bisher gefundenen Ergebnisse lassen sich durch systematische Argumente untermauern. In Art. 6 Nr. 2 ESC wird anders als in Art. 6 Nr. 4 ESC ausdrücklich von Arbeitnehmerorganisationen („workers‘ organisations“) gesprochen.119 Dabei geht es um die Verpflichtung der Vertragsstaaten, Verfahren für freiwillige Verhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen zu fördern. Diese haben das Ziel, Beschäftigungsbedingungen in Gesamtarbeitsverträgen zu regeln. Eine systematische Auslegung muss den Unterschied zwischen Nr. 2 und Nr. 4 berücksichtigen.120 Das in Nr. 4 geregelte Streikrecht ist keiner Arbeitnehmerorganisation, sondern allgemein den Arbeitnehmern zugeordnet. Eine Gewerkschaftsbindung des Streiks steht dieser systematische Vergleich entgegen. Dumke zieht darüber hinaus einen überzeugenden systematischen Vergleich zwischen Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK heran. In der EMRK seien ausdrücklich Gewerkschaften als Rechtsträger genannt. Da die ESC zeitlich nach der EMRK entstanden ist und als deren wirtschaftliches und soziales Pendant gelte, würde der weitere Wortlaut des Art. 6 Nr. 4 ESC gegen eine Gewerkschaftsbindung sprechen.121 Teilweise wird für eine Gewerkschaftsbindung angeführt, dass das Streikrecht gemäß Art. 6 Nr. 4 Hs. 2 ESC unter dem Vorbehalt geltender Verpflichtungen aus Gesamtarbeitsverträgen steht.122 Dies würde allerdings voraussetzen, dass mit Gesamtarbeitsverträgen besondere Verträge gemeint sind, die nur von Gewerkschaften abgeschlossen werden können.123 In Deutschland wären das die nach dem TVG zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden abzuschließen118  Dumke, Streikrecht ESC, S. 104 ff.; ähnlich Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 152: „grundsätzliche organisatorische Verfestigung“. 119 „[…] the Contracting Parties undertake: […] 2. to promote, where necessary and appropriate, machinery for voluntary negotiations between employers or employers’ organisations and workers’ organisations […].“ 120  Dumke, Streikrecht ESC, S. 101 f.; Witter, Europarechtliche Aspekte, S. 50; Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396; Bepler, in: FS Wißmann, S. 108; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 121 f. 121  Dumke, Streikrecht ESC, S. 110 f. 122  Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 194; Tomandl, Streik und Aussperrung, S. 100, der allerdings zugibt, dass seine Argumentation „nicht so zwingend“ sei; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I., 3., b) der Gründe. 123  So auch das kritische Verständnis von Dumke, Streikrecht ESC, S. 107 f.; ähnlich Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 80 in Fn. 3.

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den Tarifverträge. Neben Tarifverträgen existieren jedoch im deutschen Recht auch andere Formen von Kollektivverträgen, für die es keiner Gewerkschaft bedarf.124 Dies ist beispielsweise ein normaler schuldrechtlicher Vertrag, der sich nach den Vorschriften des BGB regelt.125 Wird dieser zwischen einem rechtsfähigen Arbeitnehmerkollektiv und einem Arbeitgeberverband abgeschlossen, spricht nichts dagegen, ihn ebenfalls als Gesamtarbeitsvertrag zu bezeichnen. Dafür sprechen auch die englische und französische Fassung, in denen von „collective agreements“ und „conventions collectives“ die Rede ist.126 Nimmt man hingegen an, dass nur Gewerkschaften Gesamtarbeitsverträge abschließen könnten, ließe sich daraus dennoch keine exklusive Bindung des Streikrechts an Gewerkschaften ableiten.127 Auch nichtgewerkschaftliche Streiks könnte man an bestehende gewerkschaftliche Tarifverträge binden.128 Dann wären nichtgewerkschaftliche Streiks verboten, wenn in einem Betrieb bestimmte Themen bereits durch einen Tarifvertrag geregelt sind. Überzeugender ist allerdings die Interpretation, dass der Vorbehalt nur für Arbeitnehmer gelten soll, die gewerkschaftlich organisiert sind und auf die der bestehende Tarifvertrag Anwendung findet.129 Nicht an den Kollektivvertrag gebundene Arbeitnehmer steht das Streikrecht weiterhin zu. Der Vorbehalt des Art. 6 Nr. 4 Hs. 2 ESC führt nicht zu einem Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks. Ein weiteres systematisches Argument für eine Gewerkschaftsbindung wird an Art. 5 ESC festgemacht. Dieser beinhaltet die allgemeine Koalitionsfreiheit und gewährleistet das Recht der Arbeitnehmer, Organisationen zu gründen („local, national or international organisations“). Diese Organisationen werden von manchen Gegnern des nichtgewerkschaftlichen Streiks mit Gewerkschaften gleichgesetzt und ein zwingender Zusammenhang mit Art. 6 Nr. 4 ESC befürwortet.130 Dagegen 124 Zu Möglichkeiten nichttariflicher Kollektivvereinbarungen siehe Zachert, NZA 2006, 10. 125 Siehe Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 114; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 14 f.; Rieble, RdA 2005, 200, 207. 126  So auch Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 149; Dumke, Streikrecht ESC, S. 108. 127 Ebenfalls kritisch Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 121 in Fn. 395; Ramm, AuR 1971, 65, 72 in Fn. 71; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 28. 128  So beispielsweise Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 138. 129 Vgl. Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 106: „Nevertheless, any such obligations can only affect the right to take collective action of those workers subject to the collective agreement […].“ 130  Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 195; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 79 f.; vgl. Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 93, die in Art. 5 ESC die Definition einer Gewerkschaft (trade union“ hineinlesen, jedoch bezüglich Art. 6 Nr. 4 ESC ein Gewerkschaftsmonopol ablehnen (S. 109).

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spricht einerseits die ausdrückliche Differenzierung in Art. 6 ESC zwischen Arbeitnehmerorganisationen in Nr. 2 und Arbeitern in Nr. 4.131 Art. 6 Nr. 4 ESC ist im Übrigen unabhängig von Art. 5 ESC. Dies ergibt sich aus den Travaux P ­ réparatoires der ESC, wonach die Vertragsparteien bewusst eine inhaltliche und systematische Trennung der Schutzbereiche von Art. 5 und Art. 6 ESC beabsichtigt haben.132 Sähe man dies anders, wäre trotzdem nicht nachvollziehbar, warum Art. 5 ESC überhaupt ausschließlich Gewerkschaften umfassen sollte.133 Dagegen spricht auch die Rechtspraxis in Deutschland zu Arbeitnehmerkoalitionen, wo ein weiter Koalitionsbegriff verwendet wird, der nicht nur tariffähige Gewerkschaften umfasst.134 3.  Teleologische Auslegung Art. 6 ESC bezweckt ausdrücklich die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen. Zu diesem Zweck erkennen die Vertragsstaaten das Streikrecht explizit an. Im Mittelpunkt der Norm steht die Wirksamkeit der Kollektivverhandlungen. Das Streikrecht unterliegt damit auch diesem Wirksamkeitspostulat und ist dementsprechend auszulegen. Würde man das Streikrecht an Gewerkschaften binden, würde den Arbeitnehmern eine zusätzliche Hürde geschaffen, von ihrem Streikrecht Gebrauch zu machen. Zudem wären die Arbeitnehmer von der gewerkschaftlichen Führung abhängig. Taktische und strategische Überlegungen könnten Gewerkschaften davon abhalten, zu einem Streik aufzurufen, obwohl einzelne Arbeitnehmer streiken wollen. Wirksamer ist daher ein unmittelbares Recht der Arbeitnehmer, die Arbeit niederzulegen.135 Für ein weites Verständnis und gegen eine Gewerkschaftsbindung kann im Übrigen sprechen, dass in vielen Vertragsstaaten der ESC der nichtgewerkschaftliche Streik zulässig ist.136 Daher ist es nicht überzeugend, dass die Staaten mit 131  Witter, Europarechtliche Aspekte, S. 50; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ ESC, S. 122; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 150 f. 132  Siehe dazu Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 150; vgl. Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 97. 133  Eitel, Repräsentative und nicht repräsentative Gewerkschaften, S. 132; ebenfalls Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 12, der jedoch trotzdem den nichtgewerkschaftlichen Streik aus Art. 6 Nr. 4 ESC ausklammert, da diesem u.a. ein Mindestmaß an innerer Organisation fehle (S. 79 f.). 134  Siehe zum Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG den 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 135  Dumke, Streikrecht ESC, S. 108 f.; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 151; vgl. Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 124; a.A. Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 459, die für effektive Kollektivverhandlungen eine große und starke Arbeitnehmerorganisation als Voraussetzung ansieht. 136  Siehe für Beispiele die Aufzählung im 1. Teil, 3. Kapitel, C. „Soziale Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks und Rechtsvergleichung“.

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Art. 6 Nr. 4 ESC ein schwächeres Schutzniveau installieren wollten und den nichtgewerkschaftlichen Streik aus der Bestimmung ausklammern wollten.137 Allerdings ist der Zweck des Art. 6 ESC insofern einschränkend zu berücksichtigen, dass das streikende Arbeitnehmerkollektiv in der Lage sein muss, Verhandlungen mit dem Arbeitgeber zu führen.138 Dazu bedarf es eines Mindestmaßes an organisatorischer Verfestigung, organisierter Willensbildung und eines Verhandlungsführers, der mit dem Arbeitgeber im Namen der Arbeitgeber die Kollektivverhandlungen führt.139 Ein ad-hoc Zusammenschluss kann unter diesen Voraussetzungen auch als Verhandlungspartner fungieren.140 Das streikende Kollektiv entspricht damit wohl dem deutschen Koalitionsbegriff.141 4.  Spruchpraxis des Europäischen Komitees für soziale Rechte und des Ministerkomitees Dem EKSR und dem Ministerkomitee kommt zwar nach der hier vertretenen Auffassung kein Recht zur authentischen Interpretation des Art. 6 Nr. 4 ESC zu, doch sind die Aussagen im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts zu berücksichtigen.142 Wie legen beide Organe den Art. 6 Nr. 4 ESC hinsichtlich eines Gewerkschaftsmonopols aus?143 Das EKSR hat früher mit Verweis auf den Wortlaut der Bestimmung das Verbot von nichtgewerkschaftlichen Streiks in Deutschland gerügt. Es wies da137 

So auch das ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353; vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 151 f.; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 131; a.A. Seiter, RdA 1986, 165, 173, da die Vertragsstaaten hinsichtlich des Streikrechts nur einen „groben Rahmen“ hätten vereinbaren wollen. 138  Dumke, Streikrecht ESC, S. 106 und 121 f.; Picker, ZfA 2010, 586, 623. 139  So zu Art. 6 Nr. 4 ESC das ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353 f.; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 122 in Fn. 399; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 79; vgl. allgemein zu Arbeitnehmerkoalitionen Rieble, RdA 2005, 200, 206; auch der Professorenentwurf eines deutschen Arbeitskampfgesetzes fordert für ein verbandsfreies Streikrecht die Einsetzung einer Streikleitung zur Verhandlungsführung mit dem Arbeitgeber Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 98. 140  So auch Dumke, Streikrecht ESC, S. 104 ff.; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 152. 141  Siehe zum Koalitionsbegriff die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 142  Siehe zur fehlenden Interpretationshoheit des EKSR und des Ministerkomitees bei gleichzeitiger Berücksichtigung durch den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung bereits die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, A., „Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta“. 143  Die jeweilige Spruchpraxis kann über http://hudoc.esc.coe.int/eng# abgerufen werden.

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raufhin, dass der Wortlaut des Art. 6 Nr. 4 ESC das Streikrecht den „workers“ zuweise. Ein Monopol der Gewerkschaften, einen Streik auszurufen, sei mit Art. 6 Nr. 4 ESC nicht vereinbar.144 Seit 2001 fällt die Kritik allerdings etwas modifiziert aus.145 Danach könne ein Vertragsstaat den Streik unter bestimmten Umständen an ein Gewerkschaftsmonopol binden. Allerdings sei dies nur möglich, wenn die innerstaatlichen Voraussetzungen einer Gewerkschaftsgründung so niedrig sind, dass die Arbeitnehmer an einem Streik nicht unnötig gehindert werden: „During the current supervision cycle, the Committee has re-examined its case law on this point and maintains in principle that an ordinary group of workers without any legal status must be given the right to strike. It has decided, however, that reserving the right to call a strike for trade unions may be compatible with the Charter if workers may easily, and without undue requirements or formalities, form a trade union for the purpose of a strike (see Conclusions XV-1 p. 566 – Sweden).“146

Eine einfache Gewerkschaftsgründung ist nach Ansicht des EKSR in Deutschland jedoch aufgrund der hohen Anforderungen des § 2 Abs. 1 TVG nicht möglich.147 Die nach der Rechtsprechung des BAG erforderliche Tariffähigkeit einer Gewerkschaft setze mit der Mächtigkeit so hohe Voraussetzungen, dass ein rascher Zusammenschluss zu Streikzwecken nicht möglich sei.148 Daher ist das deutsche Gewerkschaftsmonopol aus Sicht des EKSR weiterhin nicht mit der ESC vereinbar.149 Auf der anderen Seite wäre das EKSR wohl mit einer Bindung des Streiks an nichttariffähige Arbeitnehmerkoalitionen einverstanden, für die die besonderen Anforderungen der Tariffähigkeit nicht gelten.150 Das Ministerkomitee hat das deutsche Gewerkschaftsmonopol bisher einmal gerügt. In einer individuellen Empfehlung im Jahr 1998 widmete es sich der Umsetzung des Art. 6 Nr. 4 ESC in Deutschland und forderte die Bundesrepublik 144 

Conclusions XIII-4 (1996), Germany, Article 6 – 4. zu dieser Entwicklung Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 454 f.; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 229 f. 146  Conclusions XV-1 (2001), Germany, Article 6 – 4.; siehe auch Conclusions (2004), Sweden, Article 6 – 4. 147  Conclusions XV-1 (2001), Germany, Article 6 – 4: „As an ordinary group of workers cannot readily form a union fulfilling these criteria for the purpose of a strike, the Committee maintains that the situation is not in conformity with Article 6 para. 4 as regards the right to call a strike.“ 148 Zustimmend Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 152; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 29. 149  Die Kritik hat das EKSR in Conclusions XIX-3 (2010), Germany, Article 6 – 4 und in den zuletzt erschienenen Conclusions XX-1 (2014), Germany, Article 6 – 4 bestätigt. Siehe zur Spruchpraxis Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 126 f. 150  Siehe zu den unterschiedlichen Anforderungen des Koalitions- und Gewerkschaftsbegriffs die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III., 1. „Begriff der Vereinigung“. 145  Siehe

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auf, neben der Tarifbezogenheit des Streiks insbesondere die Bindung des Streikrechts an Gewerkschaften zu überdenken.151 Damit erging gegenüber Deutschland die „härteste Sanktion“152 der Überwachungsmechanismen der ESC. 5.  Ergebnis Die Auslegung des Art. 6 Nr. 4 ESC hat ergeben, dass die Bestimmung nicht nur den gewerkschaftlichen, sondern auch den nichtgewerkschaftlichen Streik einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition schützt. Dies deckt sich mit der Auffassung des EKSR und des Ministerkomitees. Dabei ist zu beachten, dass der nichtgewerkschaftliche Streik nur in den Anwendungsbereich des Art. 6 Nr. 4 ESC fällt, wenn er im Zusammenhang mit kollektiven Verhandlungen steht. Daher muss der Streik durch ein Arbeitnehmerkollektiv erfolgen, das fähig und willig ist, Verhandlungen mit dem Arbeitgeber durchzuführen. Voraussetzungen hierfür sind ein Mindestmaß an organisatorischer Verfestigung, eine organisierte Willensbildung und ein Verhandlungsführer für die Dauer der Kollektivverhandlungen. Das Kollektiv entspricht dem deutschen Koalitionsbegriff und umfasst daher neben Gewerkschaften auch nichttariffähige Arbeitnehmerkoalitionen.153 II.  Beschränkungsmöglichkeit nach Art. 31 Abs. 1 Europäische Sozialcharta Der Umfang der völkerrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 Nr. 4 ESC erschließt sich nicht alleine aus der Bestimmung des Schutzbereiches der Norm. Dies ist auf Art. 31 Abs. 1 ESC zurückzuführen, der unter den dort genannten Voraussetzungen eine Beschränkung der Garantien der ESC durch die Vertragsstaaten zulässt.154 Gemäß dem Anhang zu Teil II der ESC ist Art. 31 Abs. 1 ESC ausdrücklich auf Art. 6 Nr. 4 ESC anwendbar. Die Bindung des Streikrechts an Gewerkschaften durch das BAG stellt eine Beschränkung des Schutzbereiches des Art. 6 Nr. 4 ESC dar. Manche Autoren befürworten das bisher in Deutschland geltende Verbot nichtgewerkschaft-

151  Recommendation No R Chs (98) 2 on the application of the European Social Charter by Germany during the period 1993 – 94 (13th supervision cycle – part IV). Eine deutsche Übersetzung findet sich in AuR 1998, 156. 152  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 130; siehe zur Empfehlung des Ministerkomitees auch: Däubler, AuR 1998, 144; Zachert, AuR 2001, 401, 404. 153  Siehe zum Koalitionsbegriff die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 154  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S.  93 und im Einzelnen zu den Voraussetzungen des Art. 31 Abs. 1 ESC S. 166 ff.; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 105.

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licher Streiks mit einem schlichten Verweis auf Art. 31 Abs. 1 ESC zu.155 Die Norm erfordert jedoch eine präzisere Auseinandersetzung, da sie Einschränkungen nur unter bestimmten Voraussetzungen gestattet. Nach Vorgabe des Art. 31 Abs. 1 ESC ist eine Beschränkung des Art. 6 Nr. 4 ESC nur zulässig, wenn diese gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer oder zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Sicherheit des Staates, der Volksgesundheit und der Sittlichkeit notwendig ist. Für das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks ist demnach zum einen zu klären, ob das Richterrecht des BAG als gesetzlich vorgeschriebene Einschränkung anzusehen ist. Zum anderen ist zu prüfen, ob das Verbot notwendig ist, wozu im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Abwägung vorzunehmen ist.156 Legitimes Ziel der Einschränkung dürfen dabei nur die in Art. 31 Abs. 1 ESC aufgezählten Rechtsgüter sein. 1.  Einschränkung durch Richterrecht? Art. 31 Abs. 1 ESC verlangt, dass Einschränkungen durch Gesetz vorgeschrieben sind. Richterrecht stellt jedoch nach überwiegender Auffassung in Literatur und Rechtsprechung keine Gesetzgebung dar, da es keine vergleichbaren Rechtsbindungen für nachfolgende Urteile erzeugt.157 Daher könnte man argumentieren, dass das Richterrecht des BAG nicht mit Art. 31 Abs. 1 ESC vereinbar ist.158 Gegen ein so enges Verständnis ist allerdings einzuwenden, dass Art. 31 Abs. 1 ESC auch für Vertragsparteien gilt, deren Recht auf richterlichem case law beruht. Ein enges formell-gesetzliches Verständnis des Art. 31 Abs. 1 ESC kann daher nicht im Sinne der Vertragsparteien gewesen sein.159 Ihnen ging es nicht darum, die Vertragsstaaten dazu zu zwingen, ihr Arbeitskampfrecht per parlamentarischer Gesetzgebung zu kodifizieren.160 Daher können Einschränkungen auf Grundlage von Art. 31 Abs. 1 ESC auch durch Richterrecht erfolgen.161 155 Beispielsweise Weitnauer, DB 1970, 1639, 1641 und Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 324. 156  Vgl. zur Abwägung im Rahmen des Art. 31 Abs. 1 ESC in Bezug auf das kirchliche Streikverbot: BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 611/11, NZA 2013, 437, 446; ausführlich Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 177 ff.; Schlachter, SR 2013, 77, 89. 157 BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991, 1 AZR 396/06, NZA 1991, 809, 810; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 168. 158  So beispielsweise Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 325; Ramm, AuR 1971, 65, 72; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 86. 159 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 169 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 130. 160  Dumke, Streikrecht ESC, S. 129 f.; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 114.

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2.  Rechtfertigung der Einschränkung Als legitimes Ziel einer Beschränkung des Streikrechts auf gewerkschaftliche Streiks kommen die Rechte und Freiheiten anderer in Betracht.162 Darunter fällt insbesondere die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers. Die Zahl potenzieller Arbeitskämpfe sinkt durch eine Beschränkung der Streikorganisatoren, da es nicht mehr zu einem Nebeneinander von gewerkschaftlichen und nichtgewerkschaftlichen Streiks kommen kann.163 Teilweise wird auch vermutetet, dass Arbeitskämpfe durch die gewerkschaftliche Führung friedlicher ablaufen.164 Darüber hinaus kann die Gewerkschaftsbindung der Stärkung der Tarifautonomie dienen, die als tragendes Prinzip des deutschen Arbeitsrechts Teil der öffentlichen Ordnung ist.165 Wenn nichtgewerkschaftliche Streiks zu bereits tariflich geregelten Themen möglich wären, könnte dies zu einer Schwächung der Tarifautonomie und der Gewerkschaften führen.166 Das Vertrauen des Arbeitgebers in bestehende Tarifverträge würde schwinden, da er mit weiteren Streiks im Betrieb rechnen müsste. Dadurch würde die Ordnungs- und Befriedungsfunktion des Tarifvertrags gestört. Daher lassen sich Gründe finden, die den in Art. 31 Abs. 1 ESC genannten Fallgruppen zugeordnet werden können. 161

Allerdings erlaubt Art. 31 Abs. 1 ESC nur notwendige Beschränkungen. Pauschale Verbote, die über dieses Maß hinausgehen, sind unzulässig.167 Daher ist auch ein pauschales Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks unzulässig.168 Die 161  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 170; Dumke, Streikrecht ESC, S. 131; Evju, European Labour Law Journal 2011, 196, 200 in Fn. 18; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 114; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 43; vgl. Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 197, Rn. 5; Schlachter, SR 2013, 77, 88. 162  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 175; Dumke, Streikrecht ESC, S. 293 ff. 163  Dumke, Streikrecht ESC, S. 293. 164  Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 459. 165 Vgl. zum Tarifbezug Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 174 f. 166  Dumke, Streikrecht ESC, S. 293; Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458 f. 167  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 177 ff.; Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 232: „reasonable extent“; vgl. zum Beamtenstreik Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 112; Hayen/ Ebert, AuR 2008, 19, 25: „strenges Proportionalitäts-Kriterium“. 168  So auch Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 180 f.; Kohte/ Doll, ZESAR 2003, 393, 396; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 133 f.; ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 29; zumindest Bedenken besitzt Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 24; a.A. Hilje, Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen, S. 165.

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Risiken, die mit einem nichtgewerkschaftlichen Streik verbunden sind, erfordern kein generelles Verbot dieser Streikform. Vielmehr sind Situationen denkbar, in denen ein nichtgewerkschaftlicher Streik die einzige Form ist, effektive Kollektivverhandlungen mit dem Arbeitgeber zu erreichen.169 Andererseits können punktuelle Beschränkungen des nichtgewerkschaftlichen Streiks notwendig sein, um den Arbeitgeber, Dritte oder die Tarifautonomie zu schützen.170 Eine Option, um die Ordnungs- und Befriedungsfunktion des Tarifvertrags zu erhalten, wäre beispielsweise eine Friedenspflicht für alle Arbeitnehmer eines Betriebs bei Vorliegen einer tariflichen Regelung.171 Außerdem sind punktuelle Verbote des nichtgewerkschaftlichen Streiks zumindest in Situationen verhältnismäßig sein, in denen ein gewerkschaftlicher Streik ein gleichwertiges Mittel ist, ein Verhandlungsgewicht mit dem Arbeitgeber zu erzeugen. Als Alternative zur Aufgabe des pauschalen Verbots nichtgewerkschaftlicher Streiks kommt entsprechend der modifizierten Kritik des EKSR in Frage, die innerstaatlichen Anforderungen an eine Gewerkschaftsgründung generell abzusenken.172 Das EKSR hält eine Gewerkschaftsbindung des Streiks für zulässig, wenn Arbeitnehmer eine Gewerkschaft in Hinblick auf einen Streik ohne „undue requirements or formalities“173 gründen können. Bisher müssen deutsche Gewerkschaften jedoch die strengen Voraussetzungen der Tariffähigkeit erfüllen und dazu insbesondere sozial mächtig sein.174 Daher ist das pauschale Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks solange nicht in Einklang mit Art. 31 Abs. 1 ESC zu bringen, wie die strengen Voraussetzungen des TVG an Gewerkschaften nicht geändert werden.175 169  Siehe dazu den 1. Teil, 3. Kapitel, C. „Soziale Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks und Rechtsvergleichung“. Aus der Literatur: Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458 f., die dort ein Bedürfnis sieht, wo Gewerkschaften schwach organisiert sind; ähnlich Bepler, in: FS Wißmann, S. 110 f.; Waltermann, EuZA 2015, 15, 27; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 97, die den nichtgewerkschaftlichen Streik in Situationen zulassen, in denen die Tarifautonomie versagt. Siehe weiterführend zu diesen speziellen Situationen die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 170  Siehe zu Vorschlägen für mögliche Einschränkungen des nichtgewerkschaftlichen Streikrechts die Ausführungen im 5. Teil, 2. Kapitel „Regeln für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht“. 171  So der Vorschlag von Bepler, in: FS Wißmann, S. 112. 172  Conclusions XV-1 (2001), Germany, Article 6 – 4.; dazu auch Evju, European Labour Law Journal 2011, 196, 215; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 230; Schlachter, SR 2013, 77, 88 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 29. 173  Conclusions XV-1 (2001), Germany, Article 6 – 4. 174  Siehe im Einzelnen zu den Voraussetzungen der Tariffähigkeit die Ausführungen im 1. Teil, 3. Kapitel, A., I. „Gewerkschaftsbegriff in Deutschland“. 175 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 152; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 29; so in Hinblick auf die gesetzliche Regulierung durch

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III.  Stellung des Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta in der deutschen Rechtsordnung Die ESC ist am 19. September 1964 durch ein Zustimmungsgesetz des Bundestags in innerstaatliches Recht überführt worden.176 Dadurch entfaltet Art. 6 Nr. 4 ESC jedenfalls innerstaatliche Geltung und besitzt den Rang eines einfachen Bundesgesetzes.177 Ob die einzelnen Bestimmungen der ESC jedoch in Deutschland unmittelbar anwendbar sind, muss für jede ihrer Bestimmungen individuell geprüft werden. Für das Streikrecht aus Art. 6 Nr. 4 ESC ist dies umstritten.178 1.  Unmittelbare Anwendbarkeit Wie bereits erläutert, setzt die unmittelbare Anwendbarkeit einer völkerrechtlichen Bestimmung voraus, dass sie anwendungsfähig und anwendungswillig ist.179 Für die Anwendungsfähigkeit ist erforderlich, dass eine Norm keiner weiteren Umsetzungsakte im nationalen Recht bedarf, um von den staatlichen Organen angewendet zu werden.180 Das Streikrecht ist jedoch kein absolutes Recht.181 Es das Tarifeinheitsgesetz und das Mindestlohngesetz auch jüngst LAG Hamburg, Beschl. v. 04. 05. 2016, 5 TaBV 8/15, BeckRS 2016, 69929, Rn. 97 ff.; ebenfalls Zweifel besitzt Klein, in: Gagel SGB III 2018, Vorbem. vor § 160, Rn. 22. 176  BGBl. II 1964, Nr. 43 vom 23. 09. 1964, S. 1261. 177  Siehe nur Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 323; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 203; Zuleeg, ZaöRV 1975, 341, 348. 178 Gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit: Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 219; Schansker, Beschränkung des Streikrechts, S. 75 ff.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 190; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 369; Franzen, EuZA 2010, 453, 454; Gooren, Tarifbezug, S. 196; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 105; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 69 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 137; Seiter, RdA 1986, 165, 173; Schubert, in: EUArbR, ESC, Rn. 26; Vogel, BB 2004, Nr. 48, Die erste Seite; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 122 f.; wohl auch Bepler, in: FS Wißmann, S. 106, der jedoch terminologisch ungenau von „Geltung“ spricht; allgemein zur ESC Leinemann, BB 1993, 2519; für eine unmittelbare Anwendbarkeit: Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 22 ff.; Neubeck, Die Europäische Sozialcharta, S. 180; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 324; Mayer/Raasch, Internationales Recht der Arbeit, S. 217 f.; Ramm, AuR 1971, 65, 72. 179  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 204; Dumke, Streikrecht ESC, S. 155. 180  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 5; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 166; Zuleeg, ZaöRV 1975, 341, 349 ff.; Talmon, JZ 2013, 12, 13; Schwartmann, Private im Wirtschaftsvölkerrecht, S. 30 f. 181  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 117; Rieble, RdA 2005, 200, 205; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 232.

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2. Teil: Völkerrecht

bedarf der Koordinierung und Einpassung durch den Gesetzgeber.182 Dies ist auf die erheblichen rechtlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen eines Streiks zurückzuführen. Zum einen ist der Streik darauf ausgerichtet, wirtschaftlichen Druck auf den Arbeitgeber zu erzeugen. Zum anderen greift er mit der zeitweiligen Suspendierung des Arbeitsvertrages in den durch Art. 14 GG geschützten Anspruch des Arbeitgebers auf Arbeitsleistung ein.183 Darüber hinaus kann ein Streik auch zu erheblichen Beeinträchtigungen Dritter führen. Daher ist der effektive Umfang des Streikrechts immer unter Berücksichtigung gegenläufiger Grundrechte des Arbeitgebers und Dritter zu bestimmen. Art. 6 Nr. 4 ESC ist jedoch so allgemein formuliert, dass keine Rückschlüsse auf die Grenzen des Streikrechts möglich sind.184 Die Grundrechte des Arbeitgebers und betroffener Dritter lässt Art. 6 Nr. 4 ESC unberücksichtigt. Daher kann die Norm nicht unmittelbar von innerstaatlichen Organen angewendet werden. Sie bedarf eines rechtlichen Rahmens, der die Voraussetzungen und Grenzen des Streikrechts bestimmt. Somit sind weitere staatliche Umsetzungsschritte im nationalen Recht erforderlich, so dass die Bestimmung nicht anwendungsfähig ist.185 Dies zeigt sich auch an der detaillierten streikbezogenen Rechtsprechung des BAG, das angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers die gesamten Regeln des Arbeitskampfrechts aufstellen musste.186 Das aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitete Streikrecht ist ebenfalls nicht aus sich heraus anwendungsfähig, sondern nur unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechte des Arbeitgebers und Dritter. Darüber hinaus wird vertreten, dass Art. 6 Nr. 4 ESC nicht anwendungswillig sei. Die Vertragsparteien hätten sich ausdrücklich darauf geeinigt, dass die gesamte Sozialcharta nicht unmittelbar anwendbar sein solle. Dieser allgemeine Anwendungsvorbehalt lasse sich Abs. 1 des Anhangs zu Teil III ESC ent182  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 211; Bogg, in: Viking, Laval and Beyond, S. 54: „Some care is needed, therefore, in developing appropriate regulatory frameworks for the exercise of the right.“ 183  Siehe dazu die späteren Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“. 184  Schansker, Beschränkung des Streikrechts, S. 76; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 71; vgl. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 83. 185  So auch Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 214; Schansker, Beschränkung des Streikrechts, S. 75 f.; vgl. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 83; a.A.: Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 24; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 324; Dumke, Streikrecht ESC, S. 157 ff.; in den Niederlanden wird Art. 6 Nr. 4 ESC seit einem Urteil des höchsten niederländischen Gerichts „Hoge Raad“ unmittelbar angewandt (Hoge Raad, Urt. v. 30. 5. 1986 - 12698 - Nederlandse Jurisprudentie (NJ) 1986, 688), siehe dazu Rebhahn, NZA 2001, 763, 768; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 24). 186 Vgl. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 111; ebenso Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 28.

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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nehmen, der gemäß Art. 38 ESC Bestandteil der Sozialcharta ist.187 Nach ihm enthält die Sozialcharta rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters, deren Überwachung nach dem Berichtsverfahren der Art. 21 bis 29 ESC erfolgen soll.188 Der Anhang bezieht sich jedoch auf Teil III und nicht auf Teil II. Zu Teil III gehört ausschließlich Art. 20 ESC, der verschiedene Verpflichtungen der Vertragsstaaten enthält. Dazu gehört unter anderem die Verpflichtung der Vertragsstaaten, mindestens 10 Artikel des Teil II für sich als bindend anzusehen (Art. 20 Abs. 1 lit. c ESC). Welchen Rechtscharakter die Artikel des Teil II hingegen haben, lässt sich daher dem Anhang zu Teil III nicht entnehmen.189 Dies kann nur durch Auslegung derselben festgestellt werden.190 So fällt hinsichtlich des Wortlauts von Art. 6 Nr. 4 ESC insbesondere auf, dass sich die Mitgliedsstaaten nicht verpflichten, das Streikrecht umzusetzen, sondern es ausdrücklich anerkennen. Daraus könnte man schließen, das Streikrecht sei keine bloße Verpflichtung, sondern unmittelbar anwendbar.191 Trotz dieser Bedenken wird größtenteils angenommen, der Anhang zu Teil III würde für die gesamte Charta gelten.192 Dafür sprechen zumindest die vorbereitenden Arbeiten (Travaux Préparatoires) des Anhangs zu Teil III, wonach die Vertragsstaaten mit ihm verhindern wollten, dass dem Einzelnen ein Klagerecht bezüglich der gesamten Sozialcharta zusteht.193 Damit widersprechen sich die objektive Auslegung und die Entstehungsgeschichte des Anhangs zu Teil III. Ein klares Ergebnis ergibt die Auslegung 187  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 212; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 368 f.; Bepler, in: FS Wißmann, S. 106; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I., 3., b) der Gründe; Gooren, Tarifbezug, S. 194 ff.; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 83; ­Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 69 f.; Zuleeg, ZaöRV 1975, 341, 356 f., der jedoch für Art. 6 Nr. 4 ESC eine Ausnahme macht. 188  Der Anhang kann über https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/ DisplayDCTMContent?documentId=090000168006b660 abgerufen werden (Abruf am 18. 6. 2016). 189  Dumke, Streikrecht ESC, S. 171 f.; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 113. 190 Vgl. Zuleeg, ZaöRV 1975, 341, 358 f., der speziell für Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 18 Nr. 4 ESC wegen des Wortes „anerkennen“ eine unmittelbare Anwendbarkeit begründet sieht und den Vorbehalt des Anhangs zu Teil III für die Bestimmung ausklammert. 191  Zuleeg, ZaöRV 1975, 341, 359; Neubeck, Die Europäische Sozialcharta, S. 175 und 180; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 22; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 323; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 64; Dumke, Streikrecht ESC, S. 159 ff.; kritisch mit Verweis auf die Bedeutung im Duden: Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 208. 192  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 212; Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 395. 193 Ausführlich Dumke, Streikrecht ESC, S. 169 ff.; Gooren, Tarifbezug, S. 196; Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 395.

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des Anhangs zu Teil III damit nicht und lässt einen eindeutigen Schluss auf den Rechtscharakter von Art. 6 Nr. 4 ESC nicht zu.194 Befürworter einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 6 Nr. 4 ESC verweisen insbesondere auf den Anhang des Art. 6 Nr. 4 ESC, der gemäß Art. 38 ESC Bestandteil der ESC ist.195 Darin haben die Vertragsparteien vereinbart, dass darüber Einverständnis bestehe, dass jede Vertragspartei für sich die Ausübung des Streikrechts durch Gesetz regeln kann, vorausgesetzt, daß jede weitere Einschränkung dieses Rechtes auf Grund des Artikels 31 gerechtfertigt werden kann. Es wird vertreten, dass diese Vereinbarung nur Sinn ergeben würde, wenn Art. 6 Nr. 4 ESC für sich genommen einen unmittelbar anwendbaren Inhalt hätte. Müsse die Norm hingegen sowieso mittels weiterer Umsetzungsakte innerstaatlich anwendbar gemacht werden, wäre die Vereinbarung überflüssig.196 Gegen diese Bewertung spricht allerdings die Entstehungsgeschichte der Vereinbarung. Sie stellt nur ein deklaratorisches Bekenntnis der Vertragsstaaten dar, dass die Vertragsstaaten berechtigt sein sollten, bei der innerstaatlichen Umsetzung des Streikrechts Beschränkungen vorzunehmen.197 Man wollte ausdrücklich vermeiden, dass Art. 31 Abs. 1 ESC später die Anwendbarkeit auf Art. 6 Nr. 4 ESC abgesprochen werden würde.198 Somit ergibt sich auch diesbezüglich aus den Travaux Préparatoires, dass das Streikrecht des Art. 6 Nr. 4 ESC nicht unmittelbar anwendbar sein sollte. Mangels einer eindeutigen objektiven Auslegung des Art. 6 Nr. 4 ESC ist aufgrund der subsidiär zu berücksichtigenden Travaux Préparatoires die Anwendungswilligkeit des Art. 6 Nr. 4 ESC abzulehnen.199 2.  Mittelbare Anwendbarkeit Im Ergebnis ist Art. 6 Nr. 4 ESC nicht unmittelbar anwendbar. Trotzdem besitzt die Bestimmung Auswirkungen für innerstaatliche Organe. Sie sind durch den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung verpflichtet, die Vorga-

194 

Dumke, Streikrecht ESC, S. 172 f.; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 112. 195  Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 323 f.; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 23; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 41. 196  Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 324. 197  Siehe dazu Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 122 f. und 211; Dumke, Streikrecht ESC, S. 163; Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 106 Rn. 553; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 85; vgl. Paukner, Streikrecht ent­ sandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 111. 198 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 123. 199  So auch das Ergebnis von Dumke, Streikrecht ESC, S. 190 f.; ähnlich Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 112 ff.

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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ben des Art. 6 Nr. 4 ESC möglichst umzusetzen.200 Häufig wird dies als „mittelbare Anwendbarkeit des Art. 6 Nr. 4 ESC“201 bezeichnet. Insbesondere gilt diese Vorgabe für das BAG und seine durch Richterrecht entwickelten Regeln zum Arbeitskampf.202 Das Gericht geht selbst von diesem Einfluss aus und hat mehrfach bestätigt, dass: „der Richter, der die bestehenden gesetzlichen Lücken [des Arbeitskampfrechts] anhand von Wertentscheidungen des Gesetzgebers ausfüllen muß, [..] sich an die Regeln halten [muss], die der Gesetzgeber als für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich akzeptiert hat. Er darf völkerrechtliche Verpflichtungen nicht verletzen. Will der Richter das Streikrecht begrenzen, darf er nur solche Grundsätze aufstellen, die nach Art. 31 I ESC zulässig sind.“203

Das BAG bezieht sich dabei auch auf die Spruchpraxis des EKSR und des Ministerkomitees.204 Bezüglich der restriktiven Rechtsprechung, dass der Streik tarifvertragsbezogen sein muss, hat das BAG zumindest eine Überprüfung in Aussicht gestellt. Dazu hat es auch darauf hingewiesen, dass das Gewerkschaftsmonopol nach Ansicht des EKSR und des Ministerkomitees nicht zulässig sei.205 Mangels Entscheidungserheblichkeit konnte das Gericht diese Prüfung bisher jedoch dahinstehen lassen.206

B.  Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention Art. 11 EMRK schützt im Gegensatz zu Art. 6 Nr. 4 ESC das Streikrecht nicht ausdrücklich. Die Bestimmung umfasst neben der der Versammlungsfreiheit die 200  Franzen, EuZA 2010, 453, 454; Dumke, Streikrecht ESC, S. 197; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 115; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 28; Weiß, in: Jahrbuch Menschenrechte 2003, S. 309 f.; vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 371; vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 176; vgl. Bepler, in: FS Wißmann, S. 106 f.; vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 137 ff. 201  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 220; Gooren, Tarifbezug, S. 196 ff.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 191 ff. 202  Gooren, Tarifbezug, S. 196 f.; ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353; vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 137 ff.; allgemein zum Richterrecht Leinemann, BB 1993, 2519. 203  BAG, Urt. v. 12. 09. 1984, 1 AZR 342/83, NZA 1984, 393, 398, Anmerkungen durch Verfasser; bestätigt durch: BAG, Urt. v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 739; BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1058 f; BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 611/11, NZA 2013, 437, 446. 204 BAG, Urt. v. 10.  12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 739; BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1058 f. 205  BAG, Urt. v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 739. 206 Dazu Bepler, in: FS Wißmann, S. 109 f., der als Ursache für seltene Fälle die wirtschaftlichen Nachteile eines nichtgewerkschaftlichen Streiks für die Arbeitnehmer benennt.

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2. Teil: Völkerrecht

Vereinigungsfreiheit. Letztere garantiert jeder Person das Recht, sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.207 Diese „Gewerkschaftsfreiheit“208 gilt als ein Spezialfall der Vereinigungsfreiheit.209 Ihr Umfang muss durch eine den Wortlaut ergänzende Auslegung ermittelt werden. Diese Aufgabe kommt in erster Linie dem EGMR zu, der gemäß Art. 32 EMRK für die Auslegung der Konvention zuständig ist. Urteile des Gerichtshofs besitzen für die an einem Rechtsstreit beteiligte Parteien gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK absolute Verbindlichkeit.210 Für alle anderen Vertragsparteien der EMRK besitzt die Normauslegung des EGMR eine besondere Orientierungswirkung.211 Die Konventionsrechte sind in der Gestalt zu lesen, wie sie sich durch die Rechtsprechung des EGMR entwickelt haben.212 Zwar kann ein nicht beteiligter Staat in einem später gegen ihn gerichteten Verfahren ein anderes Auslegungsergebnis vertreten, doch kommt der ständigen Rechtsprechung des EGMR eine normative Leitfunktion zu.213 Die Prüfung, ob der nichtgewerkschaftliche Streik durch Art. 11 EMRK geschützt wird, orientiert sich daher an der Rechtsprechung des EGMR. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der neben der Bundesrepublik Deutschland von 11 weiteren Mitgliedsstaaten des Europarats am 4. November 1950 unterzeichnet wurde und am 3. September 1953 allgemein in Kraft trat.214 207 Die deutsche Übersetzung kann über http://www.coe.int/en/web/conventions/ full-list/-/conventions/rms/0900001680063764 abgerufen werden (Abruf am 18. 6. 2016). 208  So der EGMR v. 6. 2. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström/Schweden), EuGRZ 1976, 68, Rn. 34. 209  So der EGMR v. 6. 2. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström/Schweden), EuGRZ 1976, 68, Rn. 34; hierzu näher Daiber, in: HK EMRK, Art. 11, Rn. 9 ff. 210  Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: HK EMRK, Art. 46, Rn. 14. 211  Polakiewicz/Kessler, NVwZ 2012, 841, 843; vgl. Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: HK EMRK, Art. 46, Rn. 15 ff.; siehe auch BVerwG, Urt. v. 27. 2. 2014, 2 C 1/13, NZA 2014, 616, 619, das den EGMR als authentischen Interpreten der EMRK bezeichnet. 212 Anschaulich Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: HK EMRK, Art. 46, Rn. 16: „In der Rechtsprechung spiegelt sich der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention […] wider.“; Payandeh/Sauer, Jura 2012, 289, 295: „[…] Urteile des Gerichtshof [enthalten] inhaltliche Konkretisierungen und Fortbildungen der für sich genommen relativ offenen Konventionsgewährleistungen [..].“ 213  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 311 ff.; Gooren, Tarifbezug, S. 229 f.; Rebhahn, AcP 2010, 489, 491; Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: HK EMRK, Art. 46, Rn. 17; Polakiewicz/Kessler, NVwZ 2012, 841, 843; von Steinau-Steinrück/Sura, NZA 2014, 580, 581; Schweizer, in: HGR VI/1, § 138, Rn. 85: „Der Gehalt der zu sichernden EMRK-Garantien kann in seinem vollen Umfang nicht mehr ohne Zuhilfenahme der EGMR-Rechtsprechung verstanden werden.“; zur Wirkung auf nationale Gerichte Jacobs/ Schmidt, EuZA 2016, 82, 92. 214 BGBl. 1954 II, Nr. 1 vom 19.  01. 1954, S. 14. Siehe zur Entstehungsgeschichte Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: HK EMRK, Einleitung, Rn. 1 ff.

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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Der Zweck der EMRK ist, die Inhalte der durch die Vereinten Nationen verabschiedeten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ auf regionaler Ebene zu installieren und ein Schutzsystem mit effizienten Kontrollmechanismen zu schaffen.215 Sie enthält primär klassisch-bürgerliche Freiheitsrechte, während die Europäische Sozialcharta als ihr „soziales Gegenstück“216 soziale Grundrechte beinhaltet.217 Aktuell haben 47 Staaten die EMRK unterzeichnet und ratifiziert.218 Deutschland hat die EMRK am 7. August 1952 durch ein Zustimmungsgesetz in innerstaatliches Recht transformiert.219 Seitdem wurde die EMRK mehrfach inhaltlich geändert.220 Insbesondere das seit dem 1. November 1998 geltende 11. Zusatzprotokoll zur EMRK hat mit einem geänderten Überwachungssystem die EMRK grundlegend reformiert und dadurch vereinfacht.221 Seitdem ist der EGMR das alleinige Überwachungsorgan und als ständiges Gericht unmittelbar für Individualbeschwerden von Bürgern zuständig.222 I.  Schutzbereich Das Streikrecht ist in Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht ausdrücklich verankert. Hinsichtlich des nichtgewerkschaftlichen Streiks muss daher neben den völkerrechtlichen Auslegungsmethoden insbesondere auf die bisherige Rechtsprechung des EGMR zurückgegriffen werden.223 Allerdings hatte der Gerichtshof bislang keinen Fall zu entscheiden, der einen nichtgewerkschaftlichen Streik konkret betraf.224 Nichtsdestotrotz könnten Rückschlüsse aus den bisherigen Feststellungen des Gerichtshofs zum Streikrecht gezogen werden. 215 

Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: HK EMRK, Einleitung, Rn. 6. Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 20; vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 277: „Schwesterkonvention“. 217  Gooren, Tarifbezug, S. 174; vgl. zur EMRK Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 81 f.: „Freiheitsrechte und politische Rechte“. 218  Eine aktuelle Übersicht zum Ratifikationsstand ist über http://www.coe.int/en/web/ conventions/full-list/-/conventions/treaty/005/signatures abrufbar (Abruf am 18. 6. 2016). 219  BGBl. 1952 II, Nr. 14 vom 22. 08. 1952, S. 685. 220  Siehe zur inhaltlichen Entwicklung Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: HK EMRK, Einleitung, Rn. 7 ff. 221 Siehe dazu die daraufhin erfolgte Neufassung des Transformationsgesetzes in BGBl. 2002 II, Nr. 18 vom 27. 05. 2002, S. 1054. 222  Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: HK EMRK, Einleitung, Rn. 9. 223 Alle Urteile des EGMR lassen sich über seine Datenbank http://hudoc.echr.coe. int abrufen. Darüber hinaus sind einige Urteile, wie im Folgenden gesondert vermerkt, in deutschen Zeitschriften übersetzt abgedruckt. 224  Seifert, EuZA 2013, 205, 214; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 300: „Eine explizite Aussage zur Zulässigkeit des wilden Streiks trifft der EGMR nicht.“ 216 

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2. Teil: Völkerrecht

Bevor konkret auf die Rechtsprechung des EGMR zum Streik eingegangen wird, stellt sich die Frage, welche Wirkung die Grundrechte der EMRK für das Privatrechtsverhältnis (Bürger – Bürger) haben und ob die EMRK überhaupt ein Streikrecht oder nur eine Streikfreiheit gewährt.225 Zwar verwendet der EGMR regelmäßig den Begriff Streikrecht,226 doch besitzt dieser nicht dieselbe Bedeutung, wie sie beispielsweise in Art. 6 Nr. 4 ESC vorgesehen ist. Art. 6 Nr. 4 ESC beinhaltet nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen, sondern auch ein zivilrechtliches Streikrecht, das durch eine Suspendierungswirkung die Arbeitspflicht vorübergehend aufhebt.227 Dagegen sind die Menschenrechte der EMKR als Abwehrrechte gegenüber dem Staat konzipiert und verpflichten nur den Staat und nicht die Bürger untereinander.228 Zum Schutz vor arbeitsvertraglichen Konsequenzen kann sich ein streikender Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber daher nicht unmittelbar auf Art. 11 Abs. 1 EMRK berufen. Dazu wäre eine horizontale oder unmittelbare Wirkung des Streiks für das Zivilrecht erforderlich.229 Diese ist jedoch wegen der ausschließlichen Verpflichtung der Vertragsstaaten nicht qua natura in der EMRK angelegt. Natürlich könnte man einwenden, dass der EGMR in seinen Urteilen von einem Streikrecht spricht, wodurch eine arbeitsvertragliche Wirkung impliziert wird. Die gesamte EMRK beinhaltet jedoch ihrem Namen nach Rechte, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Rechte unmittelbar die Bürger untereinander verpflichten. Daher ist die Verwendung des Begriffes Streikrecht durch den EGMR ausnahmsweise nicht arbeitsvertraglich zu verstehen. Eine Wirkung der Menschenrechte für das Privatrechtsverhältnis kann der EGMR allerdings über einen Kunstgriff herbeiführen. In bestimmten Fällen hat der Gerichtshof anerkannt, dass die EMRK positive Schutzpflichten beinhaltet, aufgrund derer die Vertragsstaaten gehalten sind, den wirksamen Schutz der Bestimmungen der EMRK auch im Privatrechtsverhältnis zu gewährleis225  Zur notwendigen Unterscheidung zwischen dem Begriff Streikrecht und Streikfreiheit siehe den 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“. 226  Siehe nur EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/ Türkei), NZA 2010, 1423, 1424, Rn. 24. 227  Siehe zur arbeitsvertraglichen Wirkung des Streikrechts des Art. 6 Nr. 4 ESC die einleitenden Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, A., I. „Schutzbereich“. 228  Zu Art. 11 Abs. 1 EMRK: Marauhn, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4, Rn. 85; Ickenroth, Beamtenstreikverbot, S. 38, Fn. 14; allgemein zur EMRK: Ehlers, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2, Rn. 58; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 120 ff.; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 45 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 42; Seifert, EuZW 2011, 696, 699. 229 Vgl. Seifert, EuZW 2011, 696, 702, der unterstreicht, dass das Streikrecht auf Horizontalwirkung angelegt ist; dies berücksichtigt beispielsweise Brameshuber, EuZA 2016, 46, 53 nicht, die für eine arbeitsvertragliche Wirkung plädiert.

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ten.230 In der Rechtssache „Wilson, National Union of Journalists u.a./Vereinigtes Königsreich“ führte der Gerichtshof aus, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht nur abwehrrechtlichen Schutz gegen staatliche Eingriffe biete, sondern zugleich „positive obligations“ beinhalte, die die Vertragsstaaten zu einer bestimmten Ausgestaltung des Rechts zwischen Privaten veranlassen könnten.231 Die „positive obligations“ sind daher mit der objektiv-rechtlichen Dimension der deutschen Grundrechte und insbesondere mit der staatlichen Schutzpflicht vergleichbar.232 Wie an späterer Stelle noch dargestellt wird, führen die Schutzpflichten des GG ebenfalls dazu, dass der Staat unter Umständen verpflichtet ist, dem Streik arbeitsvertraglich eine suspendierende Wirkung zuzuerkennen.233 Wenn Art. 11 Abs. 1 EMRK den nichtgewerkschaftlichen Streik umfasst, könnte der Bundesrepublik Deutschland daher die „positive Verpflichtung“ auferlegt werden, den nichtgewerkschaftlichen Streik im Privatrechtsverhältnis für zulässig zu erklären.234 1.  Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Lange Zeit behandelte der EGMR das Streikrecht sehr zurückhaltend, obwohl er Arbeitsniederlegungen schon früh als wichtiges Mittel gewerkschaftlicher Interessenwahrung ansah.235 In der Rechtssache „Nationale Belgische Polizeigewerkschaft/Belgien“ hatte der Gerichtshof den Grundsatz verankert, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK nur das Recht einer Gewerkschaft schütze, zum Schutze 230  Ehlers, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2, Rn. 31; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 124 ff.; Krieger, ZaöRV 2014, 187 ff.; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: HK EMRK, Einleitung, Rn. 30; Nußberger, RdA 2012, 270, 271 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 31; Seifert, EuZW 2011, 696, 698 ff.; Schweizer, in: HGR VI/1, § 138, Rn.78; vgl. zu Schutzpflichten als Bestandteil der „positive obligations“ des Art. 11 EMRK Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 224 ff. 231  EGMR v. 2. 7. 2002 - 30668/96 (Wilson, National Union of Journalists u.a./Vereinigtes Königsreich), Rn. 41 und 48; ähnlich bereits EGMR v. 25. 4. 1996 - 15573/89 (Gustafsson/Schweden), Rn. 45. Siehe zum Streikrecht im „private employment sector“ und der darauf bezogenen „positive obligation“ die aufschlussreichen Erläuterungen in „Concurring Opinion of Judge Pinto de Albuquerque“ in EGMR v. 27. 11. 2014 - 36701/09 (Hrvatski liječnički sindikat v. Croatia), BeckRS 2015, 80123, Rn. 10. 232 So auch Krieger, ZaöRV 2014, 187, 189; kritisch Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 32. 233  Siehe dazu die späteren Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflichten in Bezug auf den Streik“. 234  Siehe für eine diesbezügliche Prognose die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, B., III. „Stellung des Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention in der deutschen Rechtsordnung“. 235  Siehe EGMR v. 6. 2. 1976 - 5589/72 (Schmidt und Dahlström/Schweden), EGMR-E 1, 172, 175, Rn. 36: „[…] die Gewährleistung des Streikrechts ist zweifellos eines der bedeutendsten dieser Mittel […].“

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ihrer Mitglieder gehört zu werden. Welche gewerkschaftlichen Betätigungen zu diesem Zweck geschützt werden müssten, liege im Ermessensspielraum des Vertragsstaats.236 Ein Schutz bestimmter gewerkschaftlicher Rechte käme nur in Betracht, wenn diese für die Gewerkschaft unabdingbar seien und keine alternativen Mittel verfügbar seien.237 Diesem engen Schutzbereichsverständnis lag unter anderem die Annahme zugrunde, dass für Gewerkschaftsrechte primär andere Vertragswerke wie die Europäische Sozialcharta zuständig wären.238 Mit der Gewährleistung des Streikrechts musste sich der EGMR erstmals im Jahr 1976 in der Rechtssache „Schmidt und Dahlström/Schweden“ auseinandersetzen. Er befand, dass das Streikrecht nicht das einzige Mittel gewerkschaftlicher Interessendurchsetzung sei. Daher lehnte er einen grundsätzlichen Schutz des Streikrechts durch Art. 11 Abs. 1 EMRK ab und unterstrich, dass es durch innerstaatliches Recht geregelt werden könne.239 Trotz der Billigung eines staatlichen Ermessensspielraums kann das Urteil allerdings so verstanden werden, dass der EGMR ein absolutes Verbot des Streiks bereits für unvereinbar mit der EMRK betrachtete.240 Erstmals bezeichnete der Gerichtshof im Jahr 2002 in der Rechtssache „UNISON/Vereinigtes Königreich“ ein Streikverbot als Eingriff in Art. 11 Abs. 1 EMRK. Für dieses lagen jedoch nach Ansicht des Gerichtshofs die Voraussetzungen einer Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK vor.241 Zudem betonte der EGMR erneut, dass es neben dem Streik alternative gewerkschaftliche Betätigungen gebe und das Streikrecht daher nicht generell durch die Konvention geschützt werde.242 Grundlegendere Ausführungen zum Streikrecht machte der EGMR in der Rechtssache „Wilson, National Union of Journalists u.a./Vereinigtes Königsreich“ in der der Gerichtshof die Bedeutung des Arbeitskampfes als Bestandteil gewerkschaftlicher Kollektivverhandlungen hervorhob.243 Zudem führte der Gerichtshof aus, dass die EMRK nicht nur abwehrrechtlichen Schutz gegen staatliche Eingriffe biete, sondern zugleich „positive obligations“ beinhal236  EGMR v. 27. 10. 1975 - 4464/70 (Nationale Belgische Polizeigewerkschaft/Belgien), EGMR-E 1, 158, Rn. 39. 237  EGMR v. 27. 10. 1975 - 4464/70 (Nationale Belgische Polizeigewerkschaft/Belgien), EGMR-E 1, 158, Rn. 38; dazu Ickenroth, Beamtenstreikverbot, S. 40, der eine Parallele zur alten Kernbereichslehre des BVerfG zieht; Gooren, Tarifbezug, S. 202 f. 238  Vgl. EGMR v. 27. 10. 1975 - 4464/70 (Nationale Belgische Polizeigewerkschaft/Belgien), EGMR-E 1, 158, 160, Rn. 38; vgl.: Ickenroth, Beamtenstreikverbot, S. 41 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 203; Schlachter, RdA 2011, 341, 344. 239  EGMR v. 6. 2. 1976 - 5589/72 (Schmidt und Dahlström/Schweden), EGMR-E 1, 172, 175, Rn. 36. 240  Gooren, Tarifbezug, S. 203; vgl. Ickenroth, Beamtenstreikverbot, S. 43 f. 241  EGMR v. 10. 01. 2002 - 53574/99 (UNISON/Vereinigtes Königreich). 242  EGMR v. 10. 01. 2002 - 53574/99 (UNISON/Vereinigtes Königreich). 243  EGMR v. 2. 7. 2002 - 30668/96 (Wilson, National Union of Journalists u.a./Vereinigtes Königsreich), Rn. 46.

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te, die die Vertragsstaaten zu einer bestimmten Ausgestaltung des Rechts zwischen Privaten veranlassen könnten.244 Allerdings unterstrich der Gerichtshof wie zuvor den weiten Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten in Bezug auf den Schutz gewerkschaftlicher Betätigungen und blieb bei seiner bisherigen Linie, dass die Konvention keinen Schutz festgelegter Betätigungen beinhalte.245 Diese zurückhaltende Rechtsprechung änderte sich erst mit zwei grundlegenden Urteilen der Großen Kammer des EGMR in den Jahren 2008 und 2009.246 Zuerst stufte die Große Kammer in der Rechtssache „Demir und Baykara/Türkei“ das Recht auf Kollektivverhandlungen als wesentlichen Bestandteil des Art. 11 Abs. 1 EMRK ein und festigte damit den Schutz gewerkschaftlicher Betätigungen.247 Danach erkannte die Große Kammer in der Rechtssache „Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei“ auch das Streikrecht als festen Bestandteil des Art. 11 Abs. 1 EMRK an.248 Zwar bezeichnete der Gerichtshof das Streikrecht nicht als wesentlichen Bestandteil des Art. 11 Abs. 1 EMRK, sondern nur als wichtig für den Schutz gewerkschaftlicher Interessen.249 Dies hatte allerdings keine negativen Folgen für den Schutzbereich. Im Vergleich zu früheren Urteilen relativierte der EGMR dessen Umfang nicht durch die Aussage, dass es alternative gewerkschaftliche Betätigungen gäbe, sondern erkannte einen grundsätzlichen prima-facie Schutz durch Art. 11 Abs. 1 EMRK an.250 In einem späteren Urteil zum Arbeitskampf in der Rechtssache „RMT/Vereinigtes Königreich“ wiederholte der EGMR, dass das Streikrecht auf Grundlage seiner jüngsten 244  EGMR

v. 2. 7. 2002 - 30668/96 (Wilson, National Union of Journalists u.a./Vereinigtes Königsreich), Rn. 41 und 48. 245  EGMR v. 2. 7. 2002 - 30668/96 (Wilson, National Union of Journalists u.a./Vereinigtes Königsreich), Rn. 42 und 44 f.: „Article 11 does not, however, secure any particular treatment of trade unions or their members and leaves each State a free choice of the means to be used to secure the right to be heard.“ 246  Gooren, Tarifbezug, S. 206; Schlachter, RdA 2011, 341, 342. 247 EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 - 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425. 248  EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423. 249  EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423, 1424, Rn. 24; dazu Veldmann, Utrecht Law Review 2013, 104, 112; vgl. Dorssemont, in: European Convention on Human Rights and the Employment Relation, S. 333; weitergehend Velyvyte, Human Rights Law Review 2015, 73, 74, die das Streikrecht als „essential“ einstuft; ebenso Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2, 14 f. 250  Schubert, AöR 2012, 92, 102 f.; vgl. Schlachter, RdA 2011, 341, 345; vgl. Jacobs/ Schmidt, EuZA 2016, 82, 85 f.; vgl. Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 325; vgl. Patett, Arbeitskampfrecht und Art. 12 GG, S. 195; vgl. „Concurring Opinion of Judge Pinto de Albuquerque“ in EGMR v. 27. 11. 2014 - 36701/09 (Hrvatski liječnički sindikat v. Croatia), BeckRS 2015, 80123, Rn. 10; a.A. Marauhn, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4, Rn. 89.

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Rechtsprechung eindeutig durch Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützt werde. Dieser Schutz bestehe unabhängig von der Frage, ob der Arbeitskampf ein essentieller Bestandteil des Art. 11 EMRK sei.251 Zudem lässt sich den letzten Urteilen entnehmen, dass sich nicht nur Gewerkschaften auf das Streikrecht berufen können, sondern auch der einzelne Streikteilnehmer.252 Das Streikrecht der EMRK bietet daher nicht nur einen kollektiven, sondern auch eine individuellen Schutz.253 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Arbeitsniederlegung eines einzelnen Arbeitnehmers ein Streik ist. Der Streik bleibt ein kollektives Arbeitskampfmittel.254 Schränken die Vertragsstaaten das Streikrecht ein, ist die Zulässigkeit dieses Eingriffs an Art. 11 Abs. 2 EMRK zu messen.255 Im Vergleich zu früheren Urteilen des EGMR bestimmt sich der Schutz nicht mehr abhängig davon, ob das Streikrecht unabdingbar ist und ob die Gewerkschaft alternative Mittel besitzt. Damit ist festzuhalten, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK das Streikrecht auf erster Ebene umfassend schützt. Einschränkungen sind allerdings möglich und werden an Art. 11 Abs. 2 EMRK gemessen.256 Hinsichtlich der vorliegenden Untersuchung ist zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof das Recht auf Kollektivverhandlungen sowie das Streikrecht ausdrücklich an die „Gewerkschaftsfreiheit“ und nicht an die allgemeine Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 Abs. 1 EMRK knüpft.257 Daher wird teilweise vertreten, 251  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1748 f., Rn. 84 „Ganz allgemein illustrieren die genannten Fälle, dass Arbeitskampfmaßnahmen eindeutig durch Art. 11 EMRK geschützt werden. Daher muss nicht entschieden werden, ob sie jetzt als wesentlicher Bestandteil der Garantien des Art. 11 EMRK anzuerkennen sind.“ Siehe ausdrücklich zum Streik jüngst EGMR v. 2. 10. 2014 - 48408/12 (Tymoshenko/Ukraine), Rn. 78: „[…] strike action is clearly protected by Article 11 […]“, siehe dazu Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82 ff. 252  EGMR v. 27. 3. 2007, 6615/03 (Karaçay/Türkei), Rn. 28; vgl. zu einem Aktionstag: EGMR v. 13. 7. 2010, 33322/07 (Çeriki/Türkei), Rn. 15; EGMR v. 15. 12. 2009, 30946/04 (Kaya und Seyhan/Türkei), Rn. 24. 253  Schubert, AöR 2012, 92, 99; Seifert, KritV 2009, 357, 361; Veldmann, Utrecht Law Review 2013, 104, 112; Dorssemont, in: European Convention on Human Rights and the Employment Relation, S. 345. 254  Siehe dazu die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B „Begriff des Streiks“. 255  Vgl. EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1747 f., Rn. 77 f. 256  Vgl. zu dieser Bestandsaufnahme Velyvyte, Human Rights Law Review 2015, 73, 79; vgl. „Concurring Opinion of Judge Pinto de Albuquerque“ in EGMR v. 27. 11. 2014 - 36701/09 (Hrvatski liječnički sindikat v. Croatia), BeckRS 2015, 80123, Rn. 8 ff.; vgl. zuletzt EGMR v. 21. 4. 2015 - 45829/09 (Junta Rectora/Spanien), Rn. 28 ff. 257  Siehe EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 - 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1431, Rn. 154: „[…] wesentliches Element des in Art. 11 EMRK garantierten Rechts […], ,mit anderen eine Gewerkschaft zu gründen und Mitglied einer Gewerkschaft zu werden, um seine Interessen zu schützen.‘; EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423, 1424 Rn. 24: ,Die

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dass bisher keine Anknüpfungsmöglichkeit in der Rechtsprechung des EGMR für einen konventionsrechtlichen Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks existiere.258 Andere hingegen interpretieren die Rechtsprechung des EGMR als allgemeine Beurteilung der Vereinigungsfreiheit und befürworten einen Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks.259 Der ersten Ansicht ist zuzugeben, dass sich bisher alle Urteile des EGMR zu Streiks auf gewerkschaftliche Arbeitsniederlegungen bezogen haben. Den Schutz des Streikrechts hat der EGMR größtenteils an die „Gewerkschaftsfreiheit“ des Art. 11 Abs. 1 EMRK geknüpft.260 Nur selten, wie zum Beispiel in der Rechtssache „UNISON/Vereinigtes Königreich“, hielt er ein Streikverbot für eine Einschränkung des „freedom of association“ und bezog sich damit auf die gesamte Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK.261 Allerdings verdient die Handhabung des Begriffes „Gewerkschaft“ durch den EGMR näherer Betrachtung. Ist dieser mit dem deutschen Gewerkschaftsbegriff gleichzusetzen? In der Rechtssache „Demir und Baykara/Türkei“ unterschied der Gerichtshof zwischen repräsentativen und nichtrepräsentativen Gewerkschaften. Er unterstrich, dass es den Vertragsstaaten erlaubt sei, ihr nationales System so zu organisieren, dass sie repräsentativen Gewerkschaften einen speziellen Status gewähren.262 Damit stimmt der Gewerkschaftsbegriff des EGMR nicht mit der deutschen Definition übereinstimmt. In Deutschland sind Gewerkschaften zwingend repräsentative Vereinigungen, da der Gewerkschaftsbegriff im deutschen Recht mit tariffähigen Arbeitnehmerkoalitionen gleichgesetzt wird.263 Um Bf. war im Sinne dieser Grundsätze unmittelbar von den Auswirkungen des umstrittenen Runderlasses betroffen und kann deswegen geltend machen, Opfer eines Eingriffs in ihre Gewerkschaftsfreiheit zu sein‘“. 258 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 300. 259  Dorssemont, in: European Convention on Human Rights and the Employment Relation, S. 346. 260  Siehe insbesondere EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423, 1424, Rn. 24 (in der französischen Fassung des Urteils „liberté syndicale“ genannt); einen Zusammenhang zwischen Gewerkschaften und Streikrecht bereits andeutend EGMR v. 6. 2. 1976 - 5589/72 (Schmidt und Dahlström/ Schweden), EGMR-E 1, 172, 175, Rn. 36. 261  EGMR v. 10. 01. 2002 - 53574/99 (UNISON/Vereinigtes Königreich); ebenso später in EGMR v. 27. 03. 2007 - 6615/03 (Karaçay/Türkei), Rn. 28. 262  EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 - 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1431, Rn. 154: „Dabei versteht sich, dass die Staaten frei bleiben, ihr Rechtssystem so zu organisieren, dass sie repräsentativen Gewerkschaften möglicherweise eine besondere Rechtsstellung gewähren.“ In der englischen Originalfassung heißt es: „[…] it being understood that States remain free to organise their system so as, if appropriate, to grant special status to representative trade unions.“; siehe auch EGMR v. 6. 2. 1976 - 5614/72 (Schwedischer Lokomotivführerverband/Schweden), EGMR-E 1, 165, 169 f., Rn. 44 – 48. 263 BAG, Beschl. v. 19. 9. 2006, 1 ABR 53/05, NZA 2007, 518 520; BAG, ­ Beschl. v. 22. 5. 2012, 1 ABR 11/11, NZA 2012, 1176, 1178; Hamacher/van Laak, in: Münchener

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tariffähig zu sein, müssen die Koalitionen sozial mächtig sein.264 Dadurch gibt es ausschließlich repräsentative Gewerkschaften in Deutschland. Ist eine Arbeitnehmervereinigung hingegen nicht repräsentativ, handelt es sich zwar um eine Koalition im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG, aber nicht um eine Gewerkschaft.265 Der Gewerkschaftsbegriff der EMRK ist somit weiter als der deutsche Gewerkschaftsbegriff, da der EGMR soziale Mächtigkeit oder Repräsentativität nicht voraussetzt.266 Das Verständnis des EGMR entspricht im Übrigen dem weiten Gewerkschaftsverständnis des EKSR zu Art. 6 Nr. 4 ESC, das in Bezug auf das deutsche Streikrecht geringere Gründungshürden für Gewerkschaften fordert.267 Daher umfasst die Rechtsprechung des EGMR auch Arbeitnehmerkoalitionen, die nach deutschem Verständnis keine Gewerkschaften sind. Folgt daraus jedoch ein Streikrecht nichtgewerkschaftlicher Koalitionen? Bisher hat sich der Gerichtshof nicht explizit zum deutschen Gewerkschaftsmonopol und dem Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks geäußert. Die Voraussetzungen, die der EGMR an einen streikfähigen Zusammenschluss von Arbeitnehmern stellen würde, lassen sich nur prognostizieren. Es besteht allerdings aufgrund des weiteren Gewerkschaftsbegriff die Möglichkeit, dass der Streik einer nichtrepräsentativen Arbeitnehmerkoalition vom BAG als nichtgewerkschaftlicher Streik und vom EGMR als gewerkschaftlicher Streik angesehen werden würde.268 Dies hätte Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 16; Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 14. Siehe zum Gewerkschaftsbegriff ausführlich den 1. Teil, 3. Kapitel, A., I. „Gewerkschaftsbegriff in Deutschland“. 264  Siehe nur Waas, in: BeckOK ArbR, § 2 TVG, Rn. 22; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 66. 265  Siehe zu nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalitionen BAG, Beschl. v. 19. 9. 2006, 1 ABR 53/05, NZA 2007, 518 520 ff.; BAG, Beschl. v. 22. 5. 2012, 1 ABR 11/11, NZA 2012, 1176, 1178; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 16; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 66; Friedrich, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, § 2 TVG, Rn. 7 ff.; Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 14 ff. 266 Ebenso Eitel, Repräsentative und nicht repräsentative Gewerkschaften, S. 130; Giere, Soziale Mächtigkeit, S. 176; Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 27; Schubert, in: EUArbR, Art. 11 EMRK, Rn. 11; vgl. Ickenroth, Beamtenstreikverbot, S. 38: „Der konventionsrechtliche Gewerkschaftsbegriff umfasst alle Zusammenschlüsse und Verbände abhängig Beschäftigter zur Vertretung ihrer Interessen aus dem Beschäftigungsverhältnis.“. 267  Conclusions XV-1 (2001), Germany, Article 6 – 4. Siehe dazu die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, A., I., 4. „Spruchpraxis des Europäischen Komitees für soziale Rechte und des Ministerkomitees“. 268 Ähnlich Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 27 in Bezug auf nichtgewerkschaftliche Vereinigungen des „Dritten Weges“; ebenso Reichold, ZTR 2012, 315, 319; dies berücksichtigt Schubert, in: EUArbR, Art. 11 EMRK, Rn. 14 nicht, die die Gewährleistung des „wilden Streiks“ ablehnt, da sie fälschlicherweise davon ausgeht, dieser basiere nur auf einem individuellen Streikrecht des einzelnen Arbeitnehmers. Auch der nichtgewerkschaftliche Streik muss jedoch von einem Kollektiv organisiert sein, das je-

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zur Folge, dass dieser Streik vom Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK erfasst wäre. Konkrete Einzelheiten lassen sich der Rechtsprechung des EGMR jedoch bisher nicht entnehmen. Daher ist beispielsweise unklar, ob auch streikende „adhoc Koalitionen“ unter den Gewerkschaftsbegriff des Art. 11 Abs. 1 EMRK fallen. Ein sicherer Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks ergibt sich damit nicht aus der bisherigen Rechtsprechung des EGMR. Allerdings können anhand der bisherigen Äußerungen und Auslegungstechniken bestimmte Prognosen für zukünftige Urteile aufgestellt werden. Diese sollen im nächsten Kapitel erörtert werden. 2.  Prognose zum nichtgewerkschaftlichen Streik Die jüngste Rechtsprechung des EGMR zum Streikrecht hat teilweise zu der Prognose geführt, dass der Gerichtshof zukünftig auch den nichtgewerkschaftlichen Streik dem Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK zuordnen könnte.269 Dazu wird insbesondere auf die seit „Demir und Baykara/Türkei“ angewandte Auslegungsmethode des EGMR verwiesen.270 Dort stützte sich die Große Kammer des EGMR in erheblichem Maße auf andere internationale Menschenrechtsverträge und ihre Spruchkörper, um den Umfang des Schutzbereiches des Art. 11 Abs. 1 EMRK zu bestimmen: „Wenn der Gerichtshof die Bedeutung des Wortlauts und der Begriffe in den Konventionsvorschriften bestimmt, muss er auch die Grundsätze in anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen berücksichtigen, ihre Auslegung durch die zuständigen Institutionen und die Praxis der europäischen Staaten, die ihre gemeinsamen Werte deutlich macht.“271

Auf diesem Wege gelangte der EGMR erstmals dazu, Tarifverhandlungen aufgrund ihres völkerrechtlichen Schutzes als wesentlichen Bestandteil der Gewerkschaftsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK anzuerkennen. Dieselbe Methode wandte der Gerichtshof auch in den nachfolgenden Urteilen zum Streikrecht doch nicht die Anforderungen einer Gewerkschaft erfüllen muss (vgl. dazu die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., II., „Doppelgrundrecht“). 269 Ausführlich Seifert, EuZA 2013, 205, 214 f.; Seifert, KritV 2009, 357, 369; Franzen, in: Streik im Dritten Weg?, S. 19 f.; siehe auch Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 27 f., der eine derartige Entwicklung jedoch nicht begrüßt; wohl auch Brameshuber, EuZA 2016, 46, 52; vorsichtiger Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 106; kritisch Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 300, die allerdings auf S. 375 und S. 457 eine positivere Prognose fällt; unklar Schubert, in: EUArbR, Art. 11 EMRK, Rn. 14, die den „wilden Streik“ ablehnt, aber den Streik einer „ad-hoc Koalition“ befürwortet. Ein „wilder Streik“ umfasst jedoch unter der besseren Bezeichnung „nichtgewerkschaftlicher Streik“ den Streik einer „ad-hoc Koalition“ (vgl. dazu den 1. Teil, 1. Kapitel, C. „Begriff des wilden Streiks“). 270  Seifert, EuZA 2013, 205, 214 f.; ähnlich zuvor Seifert, KritV 2009, 357, 369. 271 EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 - 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1428, Rn. 85 f.

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an.272 So führte die Große Kammer in der Rechtssache „Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei“ aus, dass das Streikrecht von den Kontrollorganen der International Labour Organisation (ILO) als untrennbarer Bestandteil der Vereinigungsfreiheit des ILO Übereinkommen Nr. 87 anerkannt sei und ebenfalls durch die Europäische Sozialcharta gewährleistet werde. Auf dieser Grundlage legte die Große Kammer den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK so aus, dass das türkische Streikverbot einen Eingriff in Art. 11 EMRK darstellte.273 Der Schutzbereich umfasst daher in Übereinstimmung mit den genannten völkerrechtlichen Verträgen eine Garantie des gewerkschaftlichen Streikrechts.274 Der EGMR begründet seine Auslegungsmethode mit einem Verständnis der EMRK als „living instrument“, die neuen Entwicklungen im nationalen und internationalen Recht Rechnung zu tragen habe.275 Rechtsdogmatisch ist der Auslegungsmethode des EGMR in weiten Teilen zuzustimmen. Sie lässt sich in erster Linie auf Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK stützen, wonach neben dem Wortlaut und dem Zusammenhang der Bestimmung jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz für die Auslegung zu berücksichtigen ist.276 Daher ist es zulässig, dass der EGMR auf andere völkerrechtliche Quellen der Koalitionsfreiheit zurückgreift, um mit deren Hilfe den Schutz des Streikrechts durch Art. 11 Abs. 1 EMRK zu bestimmen. Allerdings ist an der Methode kritisiert worden, dass sich der Gerichtshof insbesondere mit Art. 6 ESC auf eine völkerrechtliche Bestimmung stützte, die durch die Türkei als verfahrensbeteiligten Vertragsstaat nicht ratifiziert worden war. Damit sei die Türkei konventionsrechtlich an Grundsätze gebunden worden, die sie mangels Ratifizierung gerade vermeiden wollte.277 Diese Kritik ist zumindest in Bezug auf die Vorgaben des Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK nachvollziehbar. Hinsichtlich einer Überprüfung des gewerkschaftlichen Streikmonopols in Deutschland, wäre ein Rekurs des EGMR 272  Vgl. EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423, 1424, Rn. 24; ebenso EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1747, Rn. 76. 273  EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423, 1424, Rn. 24; siehe dazu die Anmerkungen von Seifert, KritV 2009, 357, 361 f. und Schubert, AöR 2012, 92, 102 f. 274  Schubert, AöR 2012, 92, 103; Gooren, Tarifbezug, S. 209; Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2, 15. 275 EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 - 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1430, Rn. 146; dazu: Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 14 ff.; Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 63 ff. 276  Siehe dazu Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 276; Seifert, KritV 2009, 357, 362. 277 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 277 ff.; Jacobs/ Schmidt, EuZA 2016, 82, 86; Seifert, KritV 2009, 357, 366; vgl. zu „Demir und Baykara/Türkei“ Schubert, AöR 2012, 92, 100 f.; zustimmend hingegen Schlachter, RdA 2011, 341, 346 f.

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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auf Art. 6 Nr. 4 ESC jedoch zulässig, da die Bestimmung in Deutschland innerstaatliche Geltung besitzt.278 Daher soll an dieser Stelle eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Rückgriff auf nichtratifizierte Verträge unterbleiben.279 Weitere Kritik brachte dem EGMR jedoch auch die Bezugnahme auf die Spruchpraxis von Sachverständigenausschüssen ein.280 Der Gerichtshof bezog sich in „Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei“ bezüglich der Streikgarantie des ILO Übereinkommens Nr. 87 auf die dementsprechende Auslegungspraxis der Kontrollorgane der ILO.281 Ebenso hat sich der EGMR bereits auf die Spruchpraxis des EKSR zur Sozialcharta bezogen, um den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK zu bestimmen.282 An diesem Vorgehen wird kritisiert, dass die genannten Kontrollorgane kein Recht zur authentischen Interpretation der jeweiligen Bestimmungen besäßen.283 Dieser Kritik ist zuzugeben, dass der Spruchpraxis der Organe tatsächlich keine rechtsverbindliche Aussage für die Auslegung der jeweiligen Bestimmung zukommt.284 Eine unreflektierte Übernahme der jeweiligen Spruchpraxis würde dieser Unverbindlichkeit nicht gerecht werden. Allerdings kommt den Kontroll­ organen eine besondere Autorität zu.285 Ihre Aussagen sollte der EGMR zumin278  Siehe dazu ausführlich den 2. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Stellung des Art. 6 Nr. 4 ESC in der deutschen Rechtsordnung“. 279 Ausführlich Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 277 ff.; Seifert, KritV 2009, 357, 366; Schubert, AöR 2012, 92, 100 f.; Schlachter, RdA 2011, 341, 346 f., die der Methode des EGMR zustimmt. In diesem Zusammenhang ist nur darauf hinzuweisen, dass der EGMR den Rückgriff auf nicht ratifizierte Verträge als Auslegungsmethode betrachtet, die außerhalb der klassischen Auslegungsmethoden und somit wohl auch Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK anzusiedeln ist. Es handele sich dabei um die Suche nach einem „gemeinsamen internationalen Standard“, den der Gerichtshof zu beachten habe (siehe EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 - 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1428, Rn. 76 ff.). 280  Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 13; Seifert, KritV 2009, 357, 363 ff.; vgl. zum Rückgriff auf die Spruchpraxis des EKSR Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 279 ff. 281  EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423, 1424, Rn. 24. 282  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1747, Rn. 76. 283  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 280; Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82, 86; Seifert, KritV 2009, 357, 364 f. 284  Siehe zum EKSR die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, A. „Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta“ und zu den Kontrollorganen der ILO die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, D. „ILO-Übereinkommen Nr. 87“; a.A.: Schlachter, RdA 2011, 341, 346, die ein Recht zur authentischen Interpretation des EKSR befürwortet und für die Kontrollorgane der ILO eine faktische Interpretationshoheit annimmt. 285  Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 65; zu den Kontrollorganen der ILO Seifert, KritV 2009, 357, 365. Siehe zur Bedeutung der Spruchpraxis zur ESC bereits ausführlicher den 2. Teil, 2. Kapitel, A. „Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta“.

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dest bei der Auslegung der jeweiligen Bestimmungen beachten und darf sie nicht unberücksichtigt lassen. Zudem hat sich hinsichtlich des nichtgewerkschaftlichen Streiks gezeigt, dass zumindest die Spruchpraxis des EKSR zu Art. 6 Nr. 4 ESC mit dem Ergebnis einer methodengerechten Auslegung übereinstimmt.286 Im Übrigen scheint der EGMR die berechtigte Kritik an einem pauschalen Verweis auf die Spruchpraxis der Kontrollorgane mittlerweile aufgenommen zu haben.287 In der Rechtssache „RMT/Vereinigtes Königsreich“ erachtete der Gerichtshof trotz einer entgegenstehenden Spruchpraxis der Kontrollorgane der ILO und der ESC das Verbot eines Sympathiestreiks im Vereinigten Königsreich im konkreten Fall für zulässig: „Diese Feststellung der Großen Kammer gibt die Unterschiede bei der Prüfung durch den Gerichtshof und der durch die Kontrollorgane der ILO und der Europäischen Sozialcharta wieder. Die spezialisierten internationalen Kontrollorgane haben einen anderen Standpunkt, wie sich an den allgemeineren Begriffen zeigt, die bei der Prüfung des Verbots von Sympathiestreiks verwendet wurden. Im Gegensatz dazu ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, staatliches Recht abstrakt zu prüfen, sondern zu entscheiden, ob die Art, in der es die Bf. betroffen hat, ihre Rechte nach Art. 11 EMRK verletzt hat. […] Der Gerichtshof prüft nur den ihm zur Entscheidung vorgelegten Sachverhalt. Daher sind die negativen Beurteilungen durch die Kontrollorgane der ILO und der Europäischen Sozialcharta nicht so überzeugend, dass sie bestimmen könnten, ob das Verbot des Sympathiestreiks unter Umständen wie denen im vorliegenden Fall im Rahmen der zulässigen Möglichkeiten verblieben ist, die den staatlichen Behörden nach Art. 11 EMRK zur Verfügung stehen.“288

Diese Ausführungen beziehen sich zwar nicht auf den Umfang des Schutzbereichs der Gewerkschaftsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK, sondern auf die Zulässigkeit einer konkreten Einschränkung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK. Sie zeigen trotzdem, dass der EGMR die allgemeingültige Spruchpraxis der Überwachungsorgane mittlerweile differenziert im individuellen Kontext des beteiligten Staates betrachtet. Den Schutzbereich bestimmte der EGMR allerdings auch in diesem Urteil in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis der Überwachungsorgane der ILO und der ESC und ordnete den Sympathiestreik als Bestandteil des Art. 11 Abs. 1 EMRK ein.289 Dabei hatte er es sogar als irrelevant erachtet, ob der Sympathiestreik eine wesentliche oder unwesentliche Gewerkschaftsbetätigung

286 

Siehe dazu die Zusammenfassung im 2. Teil, 2. Kapitel, A., I., 5. „Ergebnis“. Ähnlich positive Bewertung des „RMT Urteils“ durch Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 65 f. 288  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1751, Rn. 98. 289  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1747, Rn. 76 f. 287 

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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wäre.290 Somit ist davon auszugehen, dass der EGMR den Schutzbereich grundsätzlich weit in Übereinstimmung mit sonstigem Völkerrecht und der korrespondierenden Spruchpraxis der Überwachungsorgane auslegt. Erst auf zweiter Stufe, bei der Prüfung zulässiger Einschränkungen, berücksichtigt er konkrete nationale Besonderheiten und kommt dabei auch zu Abweichungen von der Spruchpraxis der Überwachungsorgane. Der bisherigen Kritik an seiner Auslegungsmethode hat der EGMR daher in gewissem Umfang Rechnung getragen. Welche Schlüsse lassen sich auf dieser Grundlage für das deutsche Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks ziehen? Wie würde der EGMR entscheiden, wenn er diese Einschränkung konkret zu beurteilen hätte? Ausgehend von der Behandlung des Sympathiestreiks in der Rechtssache „RMT/Vereinigtes Königreich“ spricht vieles dafür, dass der EGMR auch im Falle eines in Deutschland als nichtgewerkschaftlichen Streik bezeichneten Arbeitskampfes den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK für eröffnet ansehen würde. Der nichtgewerkschaftliche Streik wird wie auch der Sympathiestreik „eindeutig von der ILO in ihrem Übereinkommen Nr. 87 und von der Europäischen Sozialcharta von 1961 als Teil der Koalitionsfreiheit anerkannt und geschützt“291, so dass daher ein Gleichlauf der Schutzbereiche anzunehmen ist. Gegen diese Prognose könnte man allerdings zwei Einwände erheben. Zum einen bezieht sich der EGMR bei der Auslegung des Art. 11 Abs. 1 EMRK regelmäßig auf die „Gewerkschaftsfreiheit“ und ein nichtgewerkschaftlicher Streik ist gerade nicht von einer Gewerkschaft organisiert.292 Wie jedoch bereits erläutert, ist der Gewerkschaftsbegriff in Art. 11 Abs. 1 EMRK sehr viel weiter als in Deutschland und umfasst auch nichtrepräsentative Koalitionen, die nach deutschem Verständnis keine Gewerkschaften sind.293 Daher kann ein in Deutschland als nichtgewerkschaftlich bezeichneter Streik für den EGMR trotzdem gewerk-

290  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1747, Rn. 77: „Es mag sehr wohl sein, dass Sympathiestreiks eher ein Neben- denn ein Hauptaspekt der Koalitionsfreiheit sind […].“ 291  So der Verweis des EGMR auf den Schutz des Sympathiestreiks im Völkerrecht in EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1747, Rn. 76. Ein Hinweis auf die Spruchpraxis des EKSR zur Unzulässigkeit einer exzessiven Gewerkschaftsbindung des Streiks findet sich jüngst auch in der „Concurring Opinion of Judge Pinto de Albuquerque“ in EGMR v. 27. 11. 2014 - 36701/09 (Hrvatski liječnički sindikat v. Croatia), BeckRS 2015, 80123, Rn. 4. Siehe zum Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch die Europäische Sozialcharta und das ILO Übereinkommen Nr. 87 die jeweiligen Kapitele im 2. Teil „Völkerrecht“. 292  So anscheinend der Einwand von Dumke, Streikrecht ESC, S. 110 f. im Rahmen eines Vergleichs zwischen ESC und EMRK. 293  Siehe dazu die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, B., I. „Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“.

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schaftlich sein und dadurch in den Schutzbereich der Gewerkschaftsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK fallen. Zum anderen könnte eine Aussage des EGMR in der Rechtssache „Demir und Baykara/Türkei“ so interpretiert werden, dass die Vertragsstaaten generell repräsentative Gewerkschaften besser behandeln dürften als nichtrepräsentative Gewerkschaften. Im Zusammenhang mit dem Recht, Tarifverhandlungen zu führen, bemerkte der Gerichtshof etwas beiläufig, dass „die Staaten frei bleiben, ihr Rechtssystem so zu organisieren, dass sie repräsentativen Gewerkschaften möglicherweise eine besondere Rechtsstellung gewähren“.294 Daraus könnte man schließen, dass der EGMR ein gewerkschaftliches Streikmonopol und das Verbot von Streiks nichtrepräsentativer Gewerkschaften billigen könnte und diesbezüglich überhaupt keine Betroffenheit des Schutzbereichs annehmen könnte. Gegen dieses Verständnis sprechen jedoch zwei Aspekte: einerseits spricht der EGMR nur von einer „besonderen Rechtsstellung“ und damit von einem Privileg. Ein Privileg ist schwächer als ein Monopol, welches allerdings entstehen würde, wenn nichtrepräsentative Gewerkschaften einen Streik generell nicht organisieren dürfen. Zudem liegt es nahe, dass sich der EGMR mit seiner Aussage auf eine Einschränkung bezieht, deren konkrete Zulässigkeit sich anhand der Vorgaben des Art. 11 Abs. 2 EMRK bemisst.295 Es würde wenig Sinn ergeben, wenn der Gerichtshof auf der einen Seite davon ausgeht, dass nichtrepräsentative Gewerkschaften von Art. 11 Abs. 1 EMRK umfasst sind, und auf der anderen Seite eine bevorzugte Behandlung repräsentativer Gewerkschaften generell und unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK zulassen würde. Im Ergebnis würde ein derartiges Verständnis darauf hinauslaufen, dass nichtrepräsentative Gewerkschaften nicht durch die Gewerkschaftsfreiheit der EMRK geschützt wären. Damit kann aus der Aussage des EGMR nicht geschlossen werden, dass Streiks nichtrepräsentativer Gewerkschaften nicht in den Schutzbereich fallen. Einiges spricht im Ergebnis dafür, dass ein aus deutscher Sicht nichtgewerkschaftlicher Streik einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des EGMR vom Schutzbereich des 294 EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 - 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1431, Rn. 154. 295  Wohl auch Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82, 93, die im Zusammenhang mit dem Tarifeinheitsgesetz zu Recht Verhältnismäßigkeitserwägungen anstellen; anders hingegen Däubler, Gutachten Tarifeinheit, S. 41, der der Ansicht ist, dass die Zuerkennung eines speziellen Status für repräsentative Gewerkschaften unabhängig von Absatz 2 vorgenommen werden könne; ebenso Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 45, die auf das Urteil EGMR v. 6. 2. 1976 - 5614/72 (Schwedischer Lokomotivführerverband/Schweden), EGMR-E 1, 165 verweisen. Sie berücksichtigen jedoch nicht, dass der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK gar nicht beeinträchtigt war, da dieser nicht die Pflicht beinhaltet, einen Tarifvertrag abzuschließen. Die vorgenommene Differenzierung war aus diesem Grund nicht an Absatz 2 zu messen.

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Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützt ist.296 Genaue Vorgaben der EMKR für die Rechtsprechung des BAG sind dadurch allerdings noch nicht bestimmt. Zu berücksichtigen ist über den Schutzbereich hinaus der bereits angesprochene Art. 11 Abs. 2 EMRK, der die Zulässigkeit von Beschränkungen des Schutzbereichs durch die Vertragsstaaten regelt. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bei Differenzierungen zwischen repräsentativen und nichtrepräsentativen Gewerkschaften neben Art. 11 EMRK zusätzlich das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK geprüft hat.297 Art. 14 EMRK besitzt keine eigenständige Bedeutung, sondern ist immer in Verbindung mit dem Schutzbereich eines Grundrechts zu sehen.298 Auf Art. 11 Abs. 2 EMRK und Art. 14 EMRK ist im Folgenden einzugehen. II.  Beschränkungsmöglichkeiten nach Art. 11 Abs. 2 und Art. 14 Europäische Menschenrechtskonvention Das deutsche Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks könnte aufgrund von Art. 11 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein. Dazu müsste die Einschränkung einerseits gesetzlich vorgesehen sein und andererseits in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sein. Art. 11 Abs. 2 EMRK ähnelt dem bereits dargestellten Art. 31 Abs. 1 ESC und fordert neben einer gesetzlichen Grundlage die Verfolgung eines legitimen Zwecks und mit der Notwendigkeit die Einhaltung eines Proportionalitätskriteriums. In Übereinstimmung mit Art. 31 Abs. 1 ESC legt der EGMR das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage grundsätzlich weit aus und akzeptiert jegliche materiell-rechtliche Grundlage einschließlich Richterrecht.299 Dadurch wird be296  So auch Seifert, EuZA 2013, 205, 214 f.; Seifert, KritV 2009, 357, 369; Franzen, in: Streik im Dritten Weg?, S. 19 f.; siehe auch Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 27 f., der eine derartige Entwicklung jedoch nicht begrüßt; vorsichtiger Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 106; kritisch Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 300, die allerdings auf S. 375 und S. 457 eine positivere Prognose fällt; unklar Schubert, in: EUArbR, Art. 11 EMRK, Rn. 14, die den „wilden Streik“ ablehnt, aber den Streik einer „ad-hoc Koalition“ befürwortet. Ein „wilder Streik“ umfasst jedoch unter der besseren Bezeichnung „nichtgewerkschaftlicher Streik“ den Streik einer „ad-hoc Koalition“ (vgl. dazu den 1. Teil, 1. Kapitel, C. „Begriff des wilden Streiks“). 297  EGMR v. 6. 2. 1976 - 5614/72 (Schwedischer Lokomotivführerverband/Schweden), EGMR-E 1, 165, 169 ff., Rn. 44 - 48. 298  Meyer-Ladewig/Lehner, in: HK EMRK, Art 14, Rn. 5. 299  Siehe zu Art. 9 Abs. 2 EMRK: EGMR Große Kammer v. 10. 11. 2005 - 44774/98 (Leyla Sahin/Türkei), NVwZ 2006, 1389, 1390 f., Rn. 88: „Gesetzlich“ erfasst Gesetze und Richterrecht […].; dazu Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82, 93; vgl. zu einer behördlichen

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rücksichtigt, dass in manchen Vertragsstaaten das nationale Recht überwiegend auf Richterrecht beruht.300 Somit basiert das durch das BAG richterrechtlich entwickelte Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks auf einer gesetzlichen Grundlage im Sinne des Art. 11 Abs. 2 EMRK.301 Das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks muss darüber hinaus einem der in Art. 11 Abs. 2 EMRK aufgezählten Ziele dienen. Eine strafrechtliche Relevanz nichtgewerkschaftlicher Streiks ist nur in besonderen Fällen denkbar, so dass dieses Ziel im Rahmen dieser allgemeinen Untersuchung nicht weiter vertieft wird. Allgemeinere Bedeutung besitzen hingegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung und die Rechte und Freiheiten anderer. Das deutsche Gewerkschaftsmonopol dient einerseits dem Schutz der Tarifautonomie, die man als sozialpolitisches Befriedungssystem als Teil der öffentlichen Ordnung einordnen kann.302 Andererseits wird der Arbeitgeber vor unkontrollierten Arbeitskämpfen geschützt. Ob dessen wirtschaftliche Interessen allerdings legitimes Ziel einer Streikbeschränkung sein können, ließ der EGMR zuletzt in der Rechtssache „RMT/Vereinigtes Königsreich“ offen. Der Kläger hatte vorgebracht, dass es unlogisch sei, „das Streikrecht wegen seiner Auswirkungen auf den Arbeitgeber einzuschränken“303, da es gerade das Ziel des Streiks sei, Druck auf den Arbeitgeber auszuüben. Dieser Darstellung widersprach der EGMR nicht ausdrücklich, sondern behalf sich angesichts des zu beurteilenden Sympathiestreiks mit dem Hinweis, dass dieser zumindest die Grundrechte Dritter beeinträchtigen würde.304 Zwar hat der Kläger Recht, dass ein Streik Druck auf den Arbeitgeber entfalten soll und ihn gerade in seiner wirtschaftlichen Freiheit beeinträchtigen soll,305 doch kann die Beeinträchtigung nicht unbegrenzt sein. Der EGMR hat an anderer Stelle zu Recht darauf hingewiesen, dass das Streikrecht nicht absolut sei.306 In der Rechtssache „UNISON/Vereinigtes Königreich“ akzeptierte der Gerichtshof in diesem Sinne, dass die Rechte des Arbeitgebers als legitimes Ziel einer Beschränkung des Streikrechts in Betracht kämen.307 Somit Maßnahme: EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423, 1424, Rn. 26. 300  Gooren, Tarifbezug, S. 223. 301  Vgl. zum ebenfalls durch das BAG entwickelten Tarifbezug des Streiks Gooren, Tarifbezug, S. 223. 302  Siehe dazu bereits die vergleichbaren Ausführungen zu Art. 31 Abs. 1 ESC im 2. Teil, 2. Kapitel, A., II., 2. „Rechtfertigung der Einschränkung“. 303  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1748, Rn. 80. 304  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1748, Rn. 82. 305  Siehe dazu zustimmend Veldmann, Utrecht Law Review 2013, 104, 114. 306  EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423, 1424, Rn. 32. 307  EGMR v. 10. 01. 2002 - 53574/99 (UNISON/Vereinigtes Königreich).

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verfolgt das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks legitime Ziele im Sinne des Art. 11 Abs. 2 EMRK. Daher bleibt zu klären, ob das Verbot auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Eine Einschränkung ist für den EGMR notwendig, wenn sie einem „dringenden sozialen Bedürfnis“ entspricht („pressing social need“).308 Es handelt sich bei diesem Prüfungspunkt im Grundsatz um eine normale Verhältnismäßigkeitsprüfung, die die konkrete Beeinträchtigung in ihrem Einzelfall betrifft.309 Hier ergeben sich im Vergleich zu Art. 31 Abs. 1 ESC Besonderheiten, die auf die Rechtsprechung des EGMR zurückzuführen sind. Je nach Fallgestaltung gewährt der EMRK den Vertragsstaaten einen unterschiedlich weiten Ermessensspielraum beim Ausgleich der betroffenen Interessen: „Wenn die gesetzliche Einschränkung auf den Kernbereich gewerkschaftlicher Tätigkeit zielt, ist dem Gesetzgeber ein geringerer Ermessensspielraum zuzuerkennen und mehr ist dann erforderlich, die Verhältnismäßigkeit des darin liegenden Eingriffs in die Ausübung der Koalitionsfreiheit im Allgemeininteresse zu begründen. Andererseits, wenn nicht der Kernbereich, sondern ein zweitrangiger oder Nebenaspekt gewerkschaftlicher Aktivität berührt ist, ist der Ermessensspielraum grösser und der Eingriff ist seinem Wesen nach eher verhältnismäßig, soweit es um die Folgen für die Ausübung der Gewerkschaftsfreiheit geht.“310

Den staatlichen Ermessensspielraum bezeichnet der EGMR als „margin of appreciation“.311 In der Rechtssache „RMT/Vereinigtes Königsreich“ zählt der Gerichtshof am Beispiel des Sympathiestreiks auf, welche Faktoren für die Bestimmung des konkreten Beurteilungsspielraums erforderlich sind. Ein enger Beurteilungsspielraum sei anzunehmen, wenn es sich um einen sehr weitreichenden Eingriff in die Vereinigungsfreiheit handelt, der in den Kernbereich hineinreicht. Als Beispiel nennt der EGMR die Auflösung einer Gewerkschaft. Neben der Art und Reichweite der Einschränkung seien zudem das mit der Einschränkung verfolgte Ziel und in diesem Zusammenhang auch das Maß an internationaler Überzeugung zu berücksichtigen.312 Wenn nach diesen Maßstäben ein zweitran308  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1748, Rn. 83. 309  Der EGMR unterstreicht, dass er bei seiner Prüfung im Gegensatz zur Prüfung der Kontrollorgane der ILO und der ESC das staatliche Recht nicht abstrakt überprüft, sondern beurteilt, ob die situationsbezogene Beeinträchtigung des Beschwerdeführers mit Art. 11 Abs. 2 EMRK in Einklang zu bringen ist: EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/ Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1751, Rn. 98. 310  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1749, Rn. 87. 311  Siehe dazu ausführlich: Gooren, Tarifbezug, S. 224 ff.; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 305 ff.; Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82, 88 f. 312  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1749, Rn. 86; siehe zur Einschränkung des Beurteilungsspielraums im Falle eines gemein-

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giger oder ein Nebenaspekt gewerkschaftlicher Aktivität betroffen ist, besitzt der Staat einen weiteren Beurteilungsspielraum.313 Den Sympathiestreik ordnete der EGMR im konkreten Fall als sekundäre Arbeitskampfmaßnahme ein, die nicht dem Kernbereich der Gewerkschaftstätigkeit zuzuordnen sei. Der Hauptarbeitskampf der Gewerkschaft gegenüber dem unmittelbaren Arbeitgeber sei zulässig gewesen. Daher habe dem Vereinigten Königreich ein weiterer Ermessenspielraum bei der Beschränkung des konkreten Sympathiestreiks zugestanden, so dass sich die Einschränkung als verhältnismäßig erwies.314 Diese Vorgaben lassen sich auch auf den nichtgewerkschaftlichen Streik anwenden. Für die Ermittlung des staatlichen Beurteilungsspielraums ist relevant, welche Bedeutung dem nichtgewerkschaftlichen Streik in der konkreten Situation zukommt. Im Normalfall steht den Arbeitnehmern in Deutschland die Möglichkeit offen, mithilfe einer Gewerkschaft zu streiken (gewerkschaftlicher Streik). Wenn in dem konkreten Fall ein gewerkschaftlicher Streik zur Verfügung stehen würde, wäre der nichtgewerkschaftliche Streik als sekundäre Kampfmaßnahme einzuordnen. Primär können die Arbeitnehmer ihr Ziel durch die in Deutschland übliche Form des gewerkschaftlichen Streiks verfolgen. Da es auch an einem gemeinsamen europäischen Standard hinsichtlich des nichtgewerkschaftlichen Streiks fehlt, ist der Ermessensspielraum des Mitgliedsstaates in diesen Fällen weiter.315 Handelt es sich jedoch um Situationen, in denen der gewerkschaftliche Streik den Arbeitnehmern als Druckmittel nicht zur Verfügung steht, käme dem nichtgewerkschaftlichen Streik primäre Relevanz zu. In derartigen Situationen wäre der nichtgewerkschaftliche Streik als Bestandteil des Kernbereichs des Art. 11 Abs. 1 EMRK anzusehen. Wie beispielsweise im sogenannten Professorenentwurf eines Arbeitskampfgesetzes angenommen wird, kann sich ein besonderes Bedürfnis für den nichtgewerkschaftlichen Streik in Momenten ergeben, in denen die Tarifautonomie im konkreten Fall versagt.316 Hätte der EGMR das Versamen europäischen Standards Krieger, ZaöRV 2014, 187, 204 ff.; zum Kernbereich siehe Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82, 89 f. 313  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1749, Rn. 87. 314  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1749, Rn. 88 und 104. 315  Wie bereits dargestellt, gibt es viele europäische Staaten, in denen die Zulässigkeit eines Streiks an die Organisation durch Gewerkschaften gebunden ist (1. Teil, 3. Kapitel, C. „Soziale Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks und Rechtsvergleichung“). Siehe im Übrigen zur Bedeutung eines europäischen Standards Rebhahn, AcP 2010, 489. 504 f. 316  Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 97. Siehe zu weiteren Situationen, in denen ein Bedürfnis für nichtgewerkschaftliche Streiks besteht: Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458 f., die dort ein Bedürfnis sieht, wo Gewerkschaften schwach organisiert sind; Bepler, in: FS Wißmann, S. 110 f.; Waltermann,

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bot des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Rahmen einer derartigen Situation zu beurteilen, müsste er nach seinen Maßstäben einen engen staatlichen Beurteilungsspielraum annehmen. Aufgrund des völligen Zurücktretens des Streikrechts wäre das Verbot unverhältnismäßig und der EGMR könnte zu einer Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland kommen. Funktioniert hingegen das System des gewerkschaftlichen Streiks im zu entscheidenden Fall, hätte die Bundesrepublik Deutschland einen weiteren Beurteilungsspielraum. In Übereinstimmung mit dem Urteil des EGMR in der Rechtssache „RMT/Vereinigtes Königreich“ wäre es dann möglich, dass der EGMR das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks trotz seiner Gewährleistung durch die Kontrollausschüsse der Europäischen Sozialcharta und der ILO billigen könnte. Gestützt wird dieses Ergebnis durch den bereits wiedergegebenen Hinweis des EGMR in der Rechtssache „Demir und Baykara/Türkei“, wonach die Staaten frei bleiben, ihr Rechtssystem so zu organisieren, dass sie repräsentativen Gewerkschaften möglicherweise eine besondere Rechtsstellung gewähren“.317 Grundsätzlich ist daher die besondere Stellung, die den Gewerkschaften im deutschen Streikrecht zukommt, eine für den EGMR nachvollziehbare nationale Entscheidung. Nur in Ausnahmefällen, in denen ein besonderes Bedürfnis für den nichtgewerkschaftlichen Streik einer einfachen Arbeitnehmerkoalition („nichtrepräsentative Gewerkschaft“) besteht, ist das deutsche Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks eine unverhältnismäßige Einschränkung gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK. Abschließend ist auf Art. 14 EMRK hinzuweisen, dessen Diskriminierungsverbot der EGMR in der Rechtssache „Schwedischer Lokomotivführerverband/ Schweden“ überprüft hat. Das „Staatliche Büro für Tarifverhandlungen“ hatte mit der nichtrepräsentativen Gewerkschaft „Schwedischer Lokomotivführerverband“ keinen Tarifvertrag abschließen wollen.318 Art. 14 EMRK besitzt keine eigenständige Bedeutung, sondern ergänzt andere materielle Vorschriften wie Art. 11 EMRK.319 Fraglich ist, ob das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks eine Diskriminierung ist und trotz Rechtfertigung durch Art. 11 Abs. 2 EMRK unzulässig wäre. Die vorliegende Rechtssache unterscheidet sich allerdings von einem Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks, da dem „Schwedischen Lokomotiv­führerverband“ weder das Recht Tarifverträge abzuschließen noch die TariffäEuZA 2015, 15, 27. Siehe im Übrigen ausführlich zu diesen speziellen Situationen die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 317 EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 - 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1431, Rn. 154. 318  EGMR v. 6. 2. 1976 - 5614/72 (Schwedischer Lokomotivführerverband/Schweden), EGMR-E 1, 165, 169 ff., Rn. 44 - 48. 319  Siehe zu Art. 14 EMRK ausführlich Meyer-Ladewig/Lehner, in: HK EMRK, Art 14, Rn. 5.

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higkeit aberkannt worden war.320 Vielmehr ging es um die Frage, ob das „Staatliche Büro für Tarifverhandlungen“ gezwungen war, mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag abzuschließen. Da jedoch Art. 11 EMRK wie auch das deutsche Recht keinen Vertragszwang enthalten,321 lehnte der Gerichtshof einen Eingriff in Art. 11 EMRK ab und prüfte im Anschluss, ob das „Staatliche Büro für Tarifverhandlungen“ die Gewerkschaft diskriminierend behandelt hätte. Die Ungleichbehandlung erachtete der Gerichtshof jedoch als gerechtfertigt an, da die „Zentralisierung des schwedischen Gewerkschaftswesens“ und die damit einhergehende Limitierung der Vertragspartner rechtmäßige Ziele seien.322 Überträgt man diese Bewertung auf das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks dürfte kein Verstoß gegen Art. 14 EMRK vorliegen, da das streikrechtliche Gewerkschaftsmonopol mit der Reduzierung arbeitskampffähiger Parteien und dem Schutz der Tarifautonomie sachlichen und vernünftigen Zwecken dient. Der Gerichtshof gewährt dem jeweiligen Staat im Rahmen des Art. 14 EMRK einen Beurteilungsspielraum, dessen Grenzen insbesondere bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik weit seien.323 Das Gewerkschaftsmonopol überschreitet diese Grenzen nicht. III.  Stellung des Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention in der deutschen Rechtsordnung Die EMRK ist am 7. August 1952 durch ein Zustimmungsgesetz des Bundestags in innerstaatliches Recht überführt worden.324 Dadurch besitzt die EMRK den Rang eines einfachen Bundesgesetzes und entfaltet seit ihrem Inkrafttreten am 3. September 1953 innerstaatliche Geltung.325 Darüber hinaus sollen alle Bestimmungen der EMRK unmittelbar anwendbar sein. Damit können sich die Bürger anders als bei der ESC vor deutschen Gerichten unmittelbar auf die Bestimmungen der EMRK berufen.326 Dies gilt auch für die Vereinigungs- und die 320  EGMR v. 6. 2. 1976 - 5614/72 (Schwedischer Lokomotivführerverband/Schweden), EGMR-E 1, 165, 167, Rn. 38. 321 Zu beidem Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, § 1, Rn. 1491 ff.; siehe auch BAG, Urt. v. 14. 2. 1989, 1 AZR 142/88, NZA 1989, 601, 603 f. 322  EGMR v. 6. 2. 1976 - 5614/72 (Schwedischer Lokomotivführerverband/Schweden), EGMR-E 1, 165, 170, Rn. 46 f. 323 Vgl. EGMR v. 6.  2.  1976 - 5614/72 (Schwedischer Lokomotivführerverband/ Schweden), EGMR-E 1, 165, 170, Rn. 47; Meyer-Ladewig/Lehner, in: HK EMRK, Art 14, Rn. 11 f. 324  BGBl. 1952 II, Nr. 14 vom 22. 08. 1952, S. 685. 325  BGBl. 1954 II, Nr. 1 vom 19. 01. 1954, S. 14; dazu Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: HK EMRK, Einleitung, Rn. 18. 326  Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: HK EMRK, Einleitung, Rn. 18; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 302; Ehlers, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2, Rn. 133.

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Gewerkschaftsfreiheit des Art. 11 EMRK, die durch den EGMR präzisiert worden sind und dadurch die notwendige Bestimmtheit erlangten.327 Allerdings stellen die Bestimmungen der EMRK Abwehrrechte gegenüber dem Staat dar und besitzen keine unmittelbare Drittwirkung für das privatrechtliche Verhältnis der Bürger untereinander. Die EMRK verpflichtet nur den Staat und nicht den Bürger.328 Wie bereits in den einleitenden Worten zum Schutzbereich des Art. 11 EMRK dargestellt, beinhaltet die Norm mangels unmittelbarer Drittwirkung kein originär-zivilrechtliches Streikrecht, dass zu einer Suspendierung des Arbeitsvertrags führt.329 Allerdings könnte der EGMR der Bundesrepublik Deutschland die „positive obligation“ auferlegen, das Privatrechtsverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber so auszugestalten, dass der Streikende vor arbeitsvertraglichen Konsequenzen geschützt wäre.330 Der deutsche Gesetzgeber könnte in Umsetzung dieser Pflicht anordnen, dass der nichtgewerkschaftliche Streik einer einfachen Arbeitnehmerkoalition das Arbeitsverhältnis für die Dauer des Streiks suspendiert. Dadurch würde der Streikende ein zivilrechtliches Streikrecht erhalten.331 Für eine positive Verpflichtung muss der EGMR jedoch den staatlichen Ermessensspielraum („margin of appreciation“) berücksichtigen.332 Angesichts der Möglichkeit, den nichtgewerkschaftlichen Streik gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK zu beschränken, dürfte der EGMR eine „positive Verpflichtung“ ausschließlich für die speziellen Ausnahmefälle aussprechen, in denen der Staat diese Streikform nicht ein327 

Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 242, in Fn. 153. Zu Art. 11 Abs. 1 EMRK: Marauhn, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4, Rn. 85; Ickenroth, Beamtenstreikverbot, S. 38, in Fn. 14; allgemein zur EMRK: Ehlers, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2, Rn. 58; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 120 ff.; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 45 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 42. 329  Siehe dazu die einleitenden Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, B., I. „Schutzbereich“. 330  Siehe zu „positive obligations“ in der Rechtsprechung des EGMR: Ehlers, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2, Rn. 31; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 124 ff.; ausführlich Krieger, ZaöRV 2014, 187 ff.; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: HK EMRK, Einleitung, Rn. 30; Nußberger, RdA 2012, 270, 271 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 31. Siehe zum Streikrecht im „private employment sector“ die Erläuterungen in „Concurring Opinion of Judge Pinto de Albuquerque“ in EGMR v. 27. 11. 2014 - 36701/09 (Hrvatski liječnički sindikat v. Croatia), BeckRS 2015, 80123, Rn. 10. 331  Siehe zur arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung als normative Freiheit des Streiks im deutschen Recht die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2. „Normative Freiheit“. 332 Vgl. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 168 ff.; Schweizer, in: HGR VI/1, § 138, Rn. 78: „Auch hier obliegt dem Staat lediglich das ,résultat de fait‘; wie er den nötigen Schutz im einzelnen herbeiführt, ist ihm überlassen.“ 328 

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schränken darf.333 Zudem sollten auch die Interessen des Gegenübers im Privatrechtsverhältnis, in diesem Fall des Arbeitgebers, berücksichtigt werden.334 Die vorstehenden Ausführungen stellen allerdings eine reine Prognose dar, da „gesicherte Ableitungen selten möglich [sind], bevor der EGMR entschieden hat“335. Zuverlässigere Maßstäbe ergeben sich nur, wenn ein gemeinsamer europäischer Standard existiert, der für den positiven Gewährleistungsgehalt des jeweiligen Grundrechts als Richtschnur gelten kann.336 Der nichtgewerkschaftliche Streik wird jedoch nicht in allen europäischen Staaten gleichmäßig gewährleistet.337 Zudem sind die Staaten grundsätzlich frei in der Wahl der Mittel und müssen die positive Verpflichtung nicht zwingend durch zivilrechtliche Mittel gewährleisten.338 Daher kann nicht mit absoluter Sicherheit vorhergesagt werden, dass der EGMR eine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik einer einfachen Arbeitnehmerkoalition anordnen würde. Im Übrigen gilt für die Gewährleistungen der EMRK und der dazugehörigen Rechtsprechung des EGMR der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung.339 Nach der Rechtsprechung des BVerfG gilt der Grundsatz, dass deutsche Fachgerichte bei der Auslegung des deutschen Rechts die Vorgaben der EMRK und des EGMR berücksichtigen müssen. Diese Pflicht findet dort ihre Grenzen, wo eine Auslegung oder Rechtsfortbildung nicht mehr methodengerecht möglich ist. Ist diese Grenze erreicht, muss der deutsche Gesetzgeber tätig werden.340 In diesem Sinne hat das BVerwG hinsichtlich des durch Art. 11 EMRK geschützten Beamtenstreiks entschieden, dass der deutsche Gesetzgeber handeln muss, bevor die Gerichte die Vorgaben aus der EMRK umsetzen können, da die hergebrach-

333  In dieser Arbeit wird die Ansicht vertreten, dass der nichtgewerkschaftliche Streik gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK eingeschränkt werden kann, wenn ein besonderes Bedürfnis für den nichtgewerkschaftlichen Streik besteht: 2. Teil, 2. Kapitel, B., II. „Beschränkung nach Art. 11 Abs. 2 und Art. 14 Europäische Menschenrechtskonvention“. 334  Darauf weist Rebhahn, AcP 2010, 489, 546 hin, der zu Recht die Bedeutung der Privatautonomie beim Einfluss der EMRK Grundrechte auf das nationale Privatrecht hervorhebt und vor Verkürzungen des Grundrechtsschutz des Vertragspartners warnt. 335  Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 33; ebenso Rebhahn, AcP 2010, 489, 493. 336  Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 33; Rebhahn, AcP 2010, 489. 493. 337  Vielmehr gibt es viele europäische Staaten in denen die Zulässigkeit eines Streiks an die Organisation durch Gewerkschaften gebunden ist (1. Teil, 3. Kapitel, C. „Soziale Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks und Rechtsvergleichung“). 338  Seifert, EuZW 2011, 696, 699; Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 40. 339  Wegweisend dazu die Görgülü-Entscheidung des BVerfG, Urt. v. 14. 10. 2004, NJW 2004, 3407 und die Entscheidung zur Sicherungsverwahrung in BVerfG, Urt. v. 4. 5. 2011, NJW 2011, 1931; dazu Payandeh/Sauer, Jura 2012, 289, 295. 340 Dazu Schubert, in: EUArbR, Art. 1 EMRK, Rn. 100 ff.; Weiß, EuZA 2010, 457, 465 ff.

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ten Grundsätze des Beamtentums eine Auslegungsgrenze für nationale Gerichte seien.341

C.  UN-Menschenrechtspakte Zu den UN-Menschenrechtspakten zählen der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR/UN-Sozialpakt) und der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte (IPbpR/UN-Zivilpakt). Beide multilateralen Verträge entstanden während des 1946 begonnenen Prozesses der Ausarbeitung eines Menschenrechtsvertrages durch die Vereinten Nationen.342 Da es unter den Mitgliedsstaaten Unstimmigkeiten hinsichtlich der aufzunehmenden Menschenrechte gab, entschloss man sich, zwei Verträge mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu entwerfen.343 Diese Vorgehensweise ähnelt dem Verhältnis der EMRK zur ESC, die ebenfalls einerseits bürgerlich-politische und andererseits wirtschaftlich-soziale Grundrechte beinhalten.344 Das Streikrecht wird ausdrücklich in Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR erwähnt. Danach haben sich die Vertragsstaaten des UN-Sozialpakts verpflichtet, das Streikrecht, soweit es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird, zu gewährleisten. Der UN-Sozialpakt ist ein multilateraler Vertrag, der am 19. Dezember 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland den Vertrag am 9. Oktober 1968 unterzeichnet hatte, erließ der Bundestag am 23. November 1973 das entsprechende Zustimmungsgesetz.345 Der Vertrag trat am 3. Januar 1976 in Kraft.346 Der UN-Zivilpakt wurde ebenfalls am 19. Dezember 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedet, von der Bundesrepublik Deutschland am 9. 341 BVerwG, Urt. v. 27. 2. 2014, 2 C 1/13, NZA 2014, 616; anders nur im Ergebnis ­ VerfG, Urt. v. 12. 6. 2018, 2 BvR 1738/12 u.a., NJW 2018, 2695, nach dessen Ansicht B bereits keine Koventionswidrigkeit vorgelegen habe (Rn. 172 ff.). 342  Siehe zur Entstehungsgeschichte beider Menschenrechtspakte die zusammenfassenden Erläuterungen des Generalsekretariats in UN Generalversammlung v. 1. 7. 1955, Annotations on the text of the draft International Covenants on Human Rights, A/2929 (abzurufen über http://www.un.org/en/ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016). 343  Gooren, Tarifbezug, S. 157 f.; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 224; UN Generalversammlung v. 1. 7. 1955, Annotations on the text of the draft International Covenants on Human Rights, A/2929, S. 22 ff. (abzurufen über http://www.un.org/en/ga/documents/ symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016). 344  Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 55; vgl. zum Verhältnis EMRK/ ESC: Gooren, Tarifbezug, S. 174; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 81 f. 345  BGBl. II 1973, Nr. 62 vom 28. 11. 1973, S. 1569. 346  BGBl. II 1976, Nr. 17 vom 26. 3. 1976, S. 428.

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Oktober 1968 unterzeichnet und durch ein Zustimmungsgesetz des Bundestags am 15. November 1973 in innerstaatliches Recht transformiert.347 Er trat am 23. März 1976 in Kraft.348 Im Gegensatz zum UN-Sozialpakt umfasst der UNZivilpakt jedoch keine ausdrückliche Garantie des Streikrechts. Allerdings beinhaltet Art. 22 Abs. 1 IPbpR das Recht von jedermann, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten. Es stellt sich daher die Frage, ob diese Gewerkschaftsfreiheit das Streikrecht implizit umfasst. Einerseits wird aus systematischen Gründen vertreten, dass Art. 22 Abs. 1 ­IPbpR das Streikrecht nicht gewährleiste, da das Streikrecht ausdrücklich in den UN-Sozialpakt als Parallelwerk aufgenommen wurde.349 Diese Auffassung hat der für die Kontrolle des IPbpR zuständige UN-Menschenrechtsausschuss in der Rechtssache „Alberta Union/Kanada“ ausdrücklich geteilt.350 Mittlerweile hat der Ausschuss jedoch seine Ansicht geändert und betrachtet nationale Streikrechtseinschränkungen unter Umständen als eine Verletzung des Art. 22 Abs. 1 IPbpR.351 Allerdings sprechen der systematische Vergleich und die Entwicklungsgeschichte der beiden Menschenrechtspakte gegen das Verständnis des UN-Menschenrechtsauschusses. So muss berücksichtigt werden, dass die UN-Generalsversammlung dem Streikrecht eine eigene Bestimmung zugewiesen hat. Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR kommt hinsichtlich des Umfangs und der Beschränkungsmöglichkeit des Streikrechts eine Spezialität zu, die nicht durch die Bestimmung eines Parallelwerks ohne einen ausdrücklichen Hinweis unterlaufen werden sollte. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Streik grundsätzlich aus teleologischen Gründen Bestandteil der Koalitionsfreiheit sein kann.352 Der Umfang seiner Gewährleistung in den UN-Menschenrechtspakten hat sich allerdings nach dem spezielleren Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR zu richten, 347 

BGBl. II 1973, Nr. 60 vom 20. 11. 1973, S. 1533. BGBl. II 1976, Nr. 35 vom 8. 7. 1976, S. 1068. 349  Gooren, Tarifbezug, S. 158 f.; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 119; Jeschke, Der europäische Streik, S. 76; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 372; a.A.: Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 226 ff.; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 64; Nowak, CCPR-Kommentar, S. 418 f.; Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR Commentary, S. 593; Joseph/Schultz/Castan, ICCPR Commentary, S. 438 f. 350  UN-Menschenrechtsausschuss v. 18. 7. 1986, Mitteilung Nr. 118/1982, abgedruckt in NJW 1987, 3065. 351  Siehe zum Verbot des Beamtenstreiks: UN-Menschenrechtsausschuss v. 8. 11. 1996, concluding observations (Germany), CCPR/C/79/Add.73, Rn. 18 (abzurufen über http:// tbinternet.ohchr.org/_layouts/TreatyBodyExternal/TBSearch.aspx, Abruf am 5. 7. 2016): „The Committee is concerned that there is an absolute ban on strikes by public servants who are not exercising authority in the name of the State and are not engaged in essential services, which may violate article 22 of the Covenant.“; siehe zur weiteren Spruchpraxis des UN-Menschenrechtsausschuss Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 64. 352  Siehe zur entsprechenden Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG die späteren Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, A., III., 4. „Teleologische Auslegung“. 348 

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der ebenfalls die Gewerkschaftsfreiheit regelt.353 Für dieses Ergebnis spricht im Übrigen die Entstehungsgeschichte des Art. 22 Abs. 1 IPbpR, in dessen Beratungen das Streikrecht nicht als Bestandteil des Schutzbereiches erörtert wurde. Hingegen wurden zu Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR entsprechende Anträge gemacht und später angenommen.354 Nowak hingegen ist anderer Ansicht und weist darauf hin, dass die Delegierten im Rahmen des Art. 22 Abs. 2 S. 2 IPbpR an die Einschränkung des Streikrechts von Militär- und Polizeiangehörigen gedacht hätten.355 Wie sich jedoch aus den Erläuterungen des Generalsekretariats ergibt, erfolgte der Hinweis nur als Beispiel, wann eine Beschränkung von Rechten von Militär- und Polizeiangehörigen sinnvoll wäre. Der Äußerung kann nicht entnommen werden, dass der Streik vom Schutzbereich des Art. 22 Abs. 1 IPbpR umfasst sein sollte.356 Vielmehr ergibt sich aus den Erläuterungen des Generalsekretariats die auch hier geäußerte Befürchtung, dass zwei unterschiedliche Beschränkungsmöglichkeiten entstehen würden, wenn man die Gewerkschaftsfreiheit in beiden Menschenrechtspakten verankere.357 Gegenstand der folgenden Analyse des nichtgewerkschaftlichen Streiks in den UN-Menschenrechtspakten ist daher nur Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR. Für die Auslegung des Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR ist einerseits auf die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden sowie die Spruchpraxis des Ausschusses für wirtschaftliche, 353 Ebenso Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 372; a.A. Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 227 f., der beiden Menschenrechtspakten jeweils ein Streikrecht mit einem eigenständigen Gewährleistungsumfang entnimmt; ebenso Saul/Kinley/ Mowbray, ICESCR Commentary, S. 593; Joseph/Schultz/Castan, ICCPR Commentary, S. 438 f. 354  Beyerlin, in: Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, S. 1172; Gooren, Tarifbezug, S. 159; UN-Menschenrechtsausschuss v. 18. 7. 1986, Mitteilung Nr. 118/1982, abgedruckt in NJW 1987, 3065; vgl. dazu die Erläuterungen des Generalsekretariats in UN Generalversammlung v. 1. 7. 1955, Annotations on the text of the draft International Covenants on Human Rights, A/2929, S. 160 f. zu Art. 21 IPbpR und S. 307 zu Art. 8 IPwskR (abzurufen über http://www.un.org/en/ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016). 355  Nowak, CCPR-Kommentar, S. 418 f.; zustimmend Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR Commentary, S. 593. 356 Vgl. UN Generalversammlung v. 1. 7. 1955, Annotations on the text of the draft International Covenants on Human Rights, A/2929, S. 162 (abzurufen über http://www. un.org/en/ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016). 357  UN Generalversammlung v. 1. 7. 1955, Annotations on the text of the draft International Covenants on Human Rights, A/2929, S. 161 (abzurufen über http://www.un.org/en/ ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016): „It was recalled that trade-union rights were dealt with in article 8 of the draft Covenant on Economic, Social and Cultural Rights; if trade-union rights were also mentioned in the draft Covenant on Civil and Political Rights, the right to form and to join trade unions would be subject to two different sets of limitations, i.e., the general limitations clause in article 4 of the draft Covenant on Economic, Social and Cultural Rights and the limitations clause contained in paragraph 2 of article 21.“

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soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpaktausschuss) zurückzugreifen. Der UN-Sozialpaktausschuss wurde im Jahr 1985 durch den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen als Unterorgan eingesetzt und prüft seit dem Jahr 1987 die gemäß Art. 16 ff. IPwskR vorzulegenden Staatenberichte über die innerstaatliche Umsetzung des Sozialpakts. Er fasst seine Ergebnisse in abschließenden Bemerkungen („concluding observations“) zusammen und veröffentlicht darüber hinaus allgemeine Erklärungen zu den einzelnen Bestimmungen („general comments“).358 Die Spruchpraxis des UN-Sozialpaktausschusses gilt als völkerrechtlich nicht verbindlich.359 Allerdings kommt der Interpretation der einzelnen Bestimmungen durch den UN-Sozialpaktausschuss eine Orientierungswirkung zu. Das BVerwG betrachtet die Spruchpraxis als Interpretationshilfe, die das Verständnis der vertraglichen Rechtsbegriffe prägt.360 Der Spruchpraxis des UNSozialpaktausschuss kommt daher dieselbe Wirkung zu, wie der des EKSR und des Ministerkomitees zu den Bestimmungen der ESC.361 Gerichte haben sich mit der Spruchpraxis ernsthaft auseinanderzusetzen und dürfen nicht ohne Begründung von ihr abweichen.362 I.  Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 lit. d Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Die Vertragsstaaten haben sich gemäß Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR verpflichtet, das Streikrecht, soweit es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird, zu gewährleisten. Aus dieser Formulierung wird geschlussfolgert, dass die Bestimmung keine eigenständigen Vorgaben für den 358  Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR Commentary, S. 4 f.; Sepúlveda, Obligations under the ICESCR, S. 33 ff. 359  Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 233; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 122 f.; Riedel/Söllner, JZ 2006, 270, 270 und 276; Sepúlveda, Obligations under the ICESCR, S. 88; ausdrücklich auch BVerwG, Urt. v. 29. 4. 2009, 6 C 16/08, NVwZ 2009, 1562, 1568; hinsichtlich der general comments Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR Commentary, S. 5; allgemein zu den UN Human Rights Treaty Bodies O’Flaherty, Human Rights Law Review 2006, 27, 35 ff. 360  BVerwG, Urt. v. 29. 4. 2009, 6 C 16/08, NVwZ 2009, 1562, 1568. 361  So auch Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 233. Siehe zur Spruchpraxis des EKSR und des Ministerkomitees den 2. Teil, 2. Kapitel, A. „Art. 6 Nr. 4 Europäische Sozialcharta“. 362  Riedel/Söllner, JZ 2006, 270, bezeichnen die general comments als „Wegweiser“ und „Interpretationshilfe“ und messen ihnen ein „beachtliches rechtliches Gewicht“ zu. Die concluding observations beinhalten mit ihrer Orientierungswirkung für nationale Gerichte eine „weit reichende tatsächliche Wirkung“ (S. 276); vgl. O‘Flaherty, Human Rights Law Review 2006, 27, 36, der die concluding observations als „notable authority“ bezeichnet; strenger Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 233, der Abweichungen nur bei einem „triftigen Grund“ für zulässig erachtet.

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Umfang des Streikrechts beinhalte, sondern nur ein absolutes Streikverbot verbiete.363 Ebenso kommt ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zu der Feststellung, das Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR keinen eigenen Maßstab für die Gewährung des Streikrechts beinhalte. Es sei ausreichend, dass die innerstaatliche Ordnung überhaupt ein Streikrecht kennt.364 Gooren hingegen stuft den innerstaatlichen Vorbehalt als einfachen Gesetzesvorbehalt ein, der dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt aus Art. 4 IPwskR vorgehe.365 Diese Bewertung scheint dogmatisch schlüssiger, da sie sich an der Abgrenzung zwischen Schutzbereich und Eingriffsbefugnis orientiert. Fraglich ist daher zunächst, welchen Inhalt der Schutzbereich besitzt. Vor der Annahme des Vorschlags Boliviens, Perus und Uruguays, das Streikrecht in Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR zu verankern, haben die Vertragsparteien keine besonderen inhaltlichen Grenzen des Streikrechts diskutiert.366 Dementsprechend enthält der Wortlaut der Norm keine schutzbereichsimmanenten Grenzen und ist daher prinzipiell weit auszulegen.367 Den Inhalt des Streikrechts hat der UN-Sozialausschuss durch seine Spruchpraxis konkretisiert.368 In den concluding observations zu Tunesien aus dem Jahr 1999 kritisierte er, dass die dortige Bindung des Streikrechts an die einzige im Land existierende Gewerkschaft eine Einschränkung des Streikrechts und der Vereinigungsfreiheit darstelle.369 Auf diese 363  Maeßen, EuGH und deutsches Arbeitskampfrecht, S. 46; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 121; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 120; wohl auch Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 58; vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 184. 364  Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestag, Streik und Koalitionsfreiheit als soziale Menschenrechte, S. 6. 365  Gooren, Tarifbezug, S. 161; ebenso Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 228; ­Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 100; vgl. Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 172. 366 Vgl. UN Generalversammlung (Third Committee) v. 9.  2. 1957, A/3525, S. 22, Rn. 66 ff. (abzurufen über http://www.un.org/en/ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016): Es erfolgte nur der Hinweis, dass das Streikrecht nicht absolut sei und für die Grenzen die nationalen Bestimmungen maßgeblich seien (S. 23, Rn. 68); ähnlich Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 99. 367  Ebenso hinsichtlich der Beschränkung auf bestimmte Streikziele Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 230; Hayen/Ebert, AuR 2008, 19, 23; wohl auch Jeschke, Der europäische Streik, S. 77, die eine Beschränkung des Streikgegenstands ablehnt; a.A. Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 120, die Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR als bloße „Grundgarantie“ interpretiert, deren Beschränkung wiederum weiten nationalstaatlichen Spielräumen unterliege. 368  Siehe dazu Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 66 ff.; Saul/Kinley/ Mowbray, ICESCR Commentary, S. 578 ff. 369 UN-Sozialausschuss v. 15.  5. 1999, concluding observations (Tunisia), E/C.12/1/ Add.36, Rn. 15 (abzurufen über http://www.un.org/en/ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016): „In particular, the Committee draws attention to the regulations requiring

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Entscheidung weist Novitz hin, die einen Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks in internationalen Normen zur Vereinigungsfreiheit nachweist.370 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass das Streikrecht in Art. 8 Abs. 1 lit. ­d ­IPwskR im systematischen Zusammenhang mit Gewerkschaften genannt wird.371 ­Sproedt und Beyerlin, die aus diesem Grund den Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR ablehnen,372 berücksichtigen jedoch nicht den maßgeblichen Gewerkschaftsbegriff des Art. 8 IPwskR. Aus den Travaux Préparatoires zu Art. 8 IPwskR ergibt sich, dass der Gewerkschaftsbegriff wie bei Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht nur mächtige und repräsentative Gewerkschaften umfasst, sondern Vereinigungen von Arbeitnehmern im Allgemeinen.373 Dies entspricht auch dem Begriffsverständnis zu Art. 22 Abs. 1 IPbpR, der die Gewerkschaftsfreiheit im UN-Zivilpakt regelt. Unter Gewerkschaften werden hier Zusammenschlüsse abhängig Beschäftigter zur Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen verstanden.374 Damit setzt der Gewerkschaftsbegriff des Art. 8 ­IPwskR keine besonderen Kriterien wie die Mächtigkeit voraus und ist somit weiter als in Deutschland.375 Das Streikrecht des Art. 8 Abs. 1 lit. d ­IPwskR steht auch Koalitionen zu, die nach deutschem Verständnis keine Gewerkschaften sind. Ein aus deutscher Sicht nichtgewerkschaftlicher Streik wird somit vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR umfasst, wenn er von einer Arbeit-

that all strikes be authorized by UGTT (Union générale tunisienne de travail), which severely curtails the rights to strike and to freedom of association.“ 370  Novitz, International and European protection of the right to strike, S. 277 f. 371  Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 191; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 101 ; Beyerlin, in: Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, S. 1165. 372  Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 101; Beyerlin, in: Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, S. 1166. 373  UN Generalversammlung (Third Committee) v. 9. 2. 1957, A/3525, S. 26, Rn. 73 (abzurufen über http://www.un.org/en/ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016): „During the discussion in the Committee the English term ,trade unions‘ and the Russian and Chinese equivalents were understood to refer to workers’ organizations only […].“; a.A. Eitel, Repräsentative und nicht repräsentative Gewerkschaften, S. 118; Beyerlin, in: Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, S. 1163; auch das BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1981, 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815, 817 berücksichtigt nicht, dass Art. 8 Abs. 1 IPwskR einen eigenen Gewerkschaftsbegriff beinhaltet. In seinem Beschluss zur Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition hatte es festgestellt, dass in Art. 8 Abs. 1lit. a IPwskR „Tariffähigkeit und Gewerkschaftseigenschaft nicht geregelt“ sind. 374  Nowak, CCPR-Kommentar, S. 416. 375 Siehe zu den Voraussetzungen des deutschen Gewerkschaftsbegriffs: BAG, Beschl. v. 19. 9. 2006, 1 ABR 53/05, NZA 2007, 518 520; BAG, Beschl. v. 22. 5. 2012, 1 ABR 11/11, NZA 2012, 1176, 1178; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 16; Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 14. Siehe dazu ausführlich den 1. Teil, 3. Kapitel, A., I. „Gewerkschaftsbegriff in Deutschland“.

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nehmervereinigung geführt wird.376 Das deutsche Gewerkschaftsmonopol muss somit als Beschränkung des Streikrechts anhand des einfachen Gesetzesvorbehalts aus Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR überprüft werden. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR wie Art. 6 Nr. 4 ESC ein privatrechtliches Streikrecht beinhaltet.377 Es fungiert nicht nur als Abwehrrecht gegenüber dem Staat, sondern auch im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber und suspendiert für die Dauer des Streiks die vertragliche Arbeitspflicht.378 Dieses Verständnis teilt auch der UN-Sozialausschuss: „The Committee considers that failure to incorporate the right to strike into domestic law constitutes a breach of article 8 of the Covenant. The Committee considers that the common law approach recognizing only the freedom to strike, and the concept that strike action constitutes a fundamental breach of contract justifying dismissal, is not consistent with protection of the right to strike. […] Employees participating in a lawful strike should not ipso facto be regarded as having committed a breach of an employment contract.“379

II.  Beschränkungsmöglichkeiten Das Streikrecht des Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR unterliegt aufgrund der Formulierung „in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung“ einem einfachen Gesetzesvorbehalt.380 Die innerstaatliche Rechtsordnung kann die Ausübung des Streikrechts an Bedingungen knüpfen, die im nationalen Ermessen stehen.381 Dadurch lässt Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR nationale Besonderheiten zu.382 Unzulässig wäre nur ein absolutes Verbot des Streikrechts durch die in376 Vgl. Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR Commentary, S. 578, die für den „wild-cat strike“ auf die Spruchpraxis zum ILO Übereinkommen Nr. 87 verweisen und offensichtlich davon ausgehen, dass der Streik sogar gänzlich unabhängig von einer Arbeitnehmervereinigung stattfinden könne. Ein solches Verständnis geht zu weit, da es nicht den systematischen Zusammenhang mit der „Gewerkschaftsfreiheit“ des Art. 8 IPwskR berücksichtigt. 377 Ausführlich Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 166 ff.; Saul/Kinley/ Mowbray, ICESCR Commentary, S. 579; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 228 f. 378  Siehe zur Bedeutung des zivilrechtlichen Streikrechts in Abgrenzung zu einer bloßen Streikfreiheit die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“. 379 UN-Sozialausschuss v. 12. 12. 1997, concluding observations (United Kingdom), E/C.12/1/Add.19, Rn. 11 (abzurufen über http://www.un.org/en/ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016). 380  Gooren, Tarifbezug, S. 161; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 100; Beyerlin, in: Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, S. 1168. 381  Greiner, Rechtsfragen, S. 177; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 172 f. 382  So in Bezug auf den Tarifbezug des Streikrechts in Deutschland Gooren, Tarifbezug, S. 217.

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nerstaatliche Rechtsordnung.383 Die Bindung des Streikrechts an Gewerkschaften stellt jedoch kein absolutes Verbot dar, so dass das deutsche Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks mit Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR vereinbar ist.384 Im Übrigen genügt das deutsche Richterrecht wie auch im Rahmen des Art. 31 Abs. 1 ESC und Art. 11 Abs. 2 EMRK dem einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR, da für die Beschränkung des Streikrechts kein Gesetz im formellen Sinne erforderlich ist.385 In der Literatur wird teilweise vertreten, dass der einfache Gesetzesvorbehalt aus Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen gelesen werden muss und dadurch strengere Voraussetzungen erhält. Sproedt verweist auf Art. 4 IPwskR, der den einfachen Gesetzesvorbehalt aus Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR modifiziere.386 Saul/Kinley/Mowbray ziehen ergänzend die Grundsätze zum ILO Übereinkommen Nr. 87 heran und begründen dies mit Art. 8 Abs. 3 IPwskR.387 Gegen diese Modifizierungen spricht jedoch aus systematischer Sicht, dass die anderen Gewährleistungen des Art. 8 IPwskR ebenfalls eigene Einschränkungsmöglichkeiten besitzen. So kann die allgemeine gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 lit. c IPwskR nur solchen Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer erforderlich sind. Da diese Formulierung in Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR fehlt und stattdessen ausdrücklich auf die innerstaatliche Rechtsordnung Bezug genommen wird, ist alleine der einfache Gesetzesvorbehalt maßgeblich.388 Darüber hinaus wollten die Vertragsparteien den nationalen Rechtsordnungen bei der Ausgestaltung des Streiks einen ausreichenden Spielraum belassen, so dass man sich 383  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 373; Gooren, Tarifbezug, S. 161; Maeßen, EuGH und deutsches Arbeitskampfrecht, S. 46; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 172; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestag, Streik und Koa­ litionsfreiheit als soziale Menschenrechte, S. 6; vgl. Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 120; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 58, der allerdings auch auf die darüberhinausgehende Spruchpraxis des UN-Sozialausschusses hinweist. 384 Ebenso Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR Commentary, S. 582, der dazu auf die Spruchpraxis zu ILO Übereinkommen Nr. 87 verweist. 385  Dazu ausführlich Gooren, Tarifbezug, S. 162 ff., der zu Recht darauf hinweist, dass das auf Richterrecht beruhende angelsächsische common law dem Gesetzesvorbehalt nicht genügen würde, wenn man für Einschränkungen ein formelles Parlamentsgesetz fordere. Dies sei entspreche nicht dem Sinn und Zweck des Vorbehalts. 386  Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 100; ebenso Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 230. 387  Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR Commentary, S. 601 f. und in der Anwendung S. 581 f. 388  Ebenfalls für den einfachen Gesetzesvorbehalts als lex specialis Gooren, Tarifbezug, S. 161; Beyerlin, in: Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, S. 1168.

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als Kompromiss auf den einfachen Gesetzesvorbehalt einigte.389 Über diesen hinausgehende Voraussetzungen sind daher abzulehnen. Art. 8 Abs. 1 lit. c ­IPwskR steht dem Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks als zulässige Einschränkung somit nicht entgegen. III.  Stellung des Art. 8 Abs. 1 lit. d Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in der deutschen Rechtsordnung Durch das Zustimmungsgesetz des Bundestags zum IPwskR vom 23. November 1973 besitzt der Vertrag entsprechend Art. 59 Abs. 2 GG den Rang eines einfachen Bundesgesetzes.390 Seit dem Inkrafttreten des IPwskR am 3. Januar 1976 entfaltet der Vertrag innerstaatliche Geltung in Deutschland.391 Trotz der innerstaatlichen Geltung wird überwiegend angenommen, dass Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR nicht unmittelbar anwendbar sei, so dass sich der einzelne Bürger nicht vor innerstaatlichen Gerichten auf die Norm berufen kann.392 Zwar ist der UN-Sozialausschuss der Ansicht, dass das Streikrecht „self-execut­ ing“ also unmittelbar anwendbar wäre,393 doch spricht gegen diese sehr pauschale Annahme die fehlende Anwendungsfähigkeit der Norm. Anwendungsfähig ist eine Bestimmung, wenn sie geeignet ist, unmittelbar von den nationalen Organen angewendet zu werden. Dazu muss sie so bestimmt sein, dass sie keiner weiteren Ausführungsakte im nationalen Recht bedarf.394 Wie bereits im Rahmen des Art. 6 Nr. 4 ESC ausführlich dargelegt, bedarf das Streikrecht eines rechtlichen Rahmens, um in Hinblick auf entgegenstehende Rechte des Arbeitgebers und 389 

Gooren, Tarifbezug, S. 161. BGBl. II 1973, Nr. 62 vom 28. 11. 1973, S. 1569. 391 BGBl. II 1976, Nr. 17 vom 26. 3. 1976, S. 428; zur innerstaatlichen Geltung des ­IPwskR siehe nur Buschmann, in: FS Kempen, S. 268; BVerwG, Urt. v. 29. 4. 2009, 6 C 16/08, NVwZ 2009, 1562, 1567. 392  Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 184; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 370; Seiter, RdA 1981, 65, 70; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 105; allgemein zum IPwskR Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 122; a.A. Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 232; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 57; Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR Commentary, S. 578., 277. 393  UN-Sozialausschuss v. 7. 12. 1987, concluding observations (Switzerland), E/C.12/1/ Add.30, Rn. 10; siehe generell zu Art. 8 IPwskR: UN-Sozialausschuss, 14. 12. 1990, General Comment No. 3 (1990), The nature of States parties obligations (Art. 2. para. 1 of the Covenant), E/1991/23 oder E/C.12/1990/8, Annex III, S. 84, Rn. 5 (beide Dokumente abzurufen über http://www.un.org/en/ga/documents/symbol.shtml, Abruf am 5. 7. 2016). 394  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 5; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 166; Zuleeg, ZaöRV 1975, 341, 349 ff.; Talmon, JZ 2013, 12, 13; Schwartmann, Private im Wirtschaftsvölkerrecht, S. 30 f. 390 

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Dritter von innerstaatlichen Organen angewendet werden zu können.395 Diesen Rahmen gibt Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR noch weniger vor, als der auf Kollektivverhandlungen und Interessenkonflikte bezogene Art. 6 Nr. 4 ESC.396 Daher ist auch Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR nicht unmittelbar anwendbar. Die Vorgaben des Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR sind jedoch wie die des Art. 6 Nr. 4 ESC im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts durch den Staat zu berücksichtigen.397

D.  ILO-Übereinkommen Nr. 87 Das ILO-Übereinkommen Nr. 87 über Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes (ILO-Übereinkommen Nr. 87) gehört zum Recht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und damit zum UN-Recht. Die ILO ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen auf dem Gebiet des Arbeitsund Sozialrechts, die am 11. April 1919 durch den Versailler Vertrag begründet wurde. Ihre verfassungsmäßige Aufgabe besteht in der Verbesserung der Arbeitsund Lebensbedingungen und der Schaffung sozialer Gerechtigkeit zur Sicherung des Weltfriedens.398 Die beiden Hauptorgane der ILO, die Internationale Arbeitskonferenz und der Verwaltungsrat, sind dreigliedrig aufgebaut und setzen sich aus Regierungsvertretern, einer Gruppe von Arbeitnehmervertretern und einer Gruppe von Arbeitgebervertretern zusammen. Die Internationale Arbeitskonferenz ist das höchste Organ der ILO und tritt einmal jährlich zusammen, um Rechtsakte und das Budget der ILO zu beschließen. Daneben existieren noch der Verwaltungsrat als Exekutivorgan und das Internationale Arbeitsamt als Sekretariat der ILO.399 Das ILO-Übereinkommen Nr. 87 enthält zwar keine ausdrückliche Gewährleistung des Streiks oder des Streikrechts, doch gilt das Übereinkommen als eine der wichtigsten völkerrechtlichen Quellen für die Gewährleistung des Arbeits395  Vgl. dazu die ausführlichere Darstellung zu Art. 6 Nr. 4 ESC im 2. Teil, 2. Kapitel, A., III., 1. „Unmittelbare Anwendbarkeit“. Siehe im Übrigen zu den Voraussetzungen der Anwendungsfähigkeit die Ausführungen des BVerwG, Urt. v. 29. 4. 2009, 6 C 16/08, NVwZ 2009, 1562, 1567 in Bezug auf den IPwskR. 396  So auch Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 105 f.; a.A. Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 232. 397  Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 184; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 370; Seiter, RdA 1981, 65, 70; allgemein zum IPwskR Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 122; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestag, Streik und Koalitionsfreiheit als soziale Menschenrechte, S. 9. 398  Siehe dazu die Präambel der ILO-Verfassung in BGBl. II 1957, Nr. 10 vom 3. 6. 1957, S. 317. 399  Zur Struktur der ILO: Böhmert, Das Recht der ILO, S. 44 ff.; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 695 f.

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kampfes.400 Die Internationale Arbeitskonferenz nahm das Übereinkommen am 9. Juli 1948 an, woraufhin der Bundestag am 20. Dezember 1956 das entsprechende Zustimmungsgesetz erließ.401 Der Vertrag trat für die Bundesrepublik Deutschland am 20. März 1958 in Kraft.402 Die Anwendung der ILO-Übereinkommen wird durch verschiedene Kon­ trollgremien überwacht. Die Gewährleistung des Streikrechts basiert mangels ausdrücklicher Verankerung im ILO-Übereinkommen Nr. 87 auf der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses (CEACR) und dem Ausschuss für Vereinigungsfreiheit (CFA).403 Zu beachten ist allerdings, dass der Spruchpraxis der Überwachungsgremien nach überwiegender Auffassung keine bindende Wirkung zukommt, da es ihnen am Recht zur authentischen Interpretation fehlt.404 Dieses kommt gemäß Art. 37 Abs. 1 der ILO-Verfassung ausschließlich dem Internationalen Gerichtshof (IGH) zu,405 der sich jedoch bisher zur Gewährleistung des Streikrechts in ILO-Übereinkommen Nr. 87 nicht geäußert hat. Aufgrund des Grundsatzes der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts haben sich jedoch der deutsche Gesetzgeber wie auch das BAG bei der Auslegung und Fortbildung des deutschen Arbeitskampfrechts mit den Aussagen der Überwachungsgremien inhaltlich auseinanderzusetzen.406 Zu weit gehen jedoch Forderungen, die ein Abweichen nur bei triftigen Gründen 400  Siehe nur Gooren, Tarifbezug, S. 166; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 27. Vereinzelt wird angenommen, dass das Streikrecht neben Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 auch durch Art. 4 ILO-Übereinkommen Nr. 98 implizit gewährleistet wird ( Schneider, Arbeitskampf und ILO Nr. 87 und Nr. 98, S. 116 ff.). Diese Gewährleistung geht aber inhaltlich nicht über die des Übereinkommens Nr. 87 hinaus, so dass der Fokus dieser Arbeit auf dem ILO-Übereinkommen Nr. 87 liegt (so auch Gooren, Tarifbezug, S. 166, Fn. 697 m. w. N.). 401  BGBl. II 1956, Nr. 37 vom 29. 12. 1956, S. 2072. 402  BGBl. II 1958, Nr. 10 vom 31. 5. 1958, S. 113. 403  Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 46; Novitz, International and European protection of the right to strike, S. 273. 404  Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 28; Böhmert, Das Recht der ILO, S. 87 und S. 91; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 295; Gooren, Tarifbezug, S. 168 ff.; Gumnior, Sympathiestreik, S. 83; Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 11; International Labour Office, Background document for the Tripartite Meeting, S. 19, Rn. 55; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 107; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 362; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 197, Rn. 23; Seifert, EuZA 2013, 205, 209; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 32; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 208 zum CEACR; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 137; a.A. Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 51. 405  Gooren, Tarifbezug, S. 169; Gumnior, Sympathiestreik, S. 83; Seifert, EuZA 2013, 205, 209; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 137. 406  Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 295; Gumnior, Sympathiestreik, S. 83 f.; a.A. Gooren, Tarifbezug, S. 171, Rn. 719.

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erlauben.407 Die innerstaatliche Auslegung des ILO-Übereinkommen Nr. 87 hat vielmehr entsprechend der Auslegungsgrundsätze der Art. 31 ff. WVRK zu erfolgen.408 Diskutiert wird diesbezüglich, ob die Spruchpraxis der Überwachungsgremien zum Streikrecht den Status einer „späteren Übung“ erreicht hat und daher gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK bei der Auslegung verbindlich berücksichtigt werden muss.409 Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK erfordert jedoch einen übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien und nicht der Überwachungsgremien. Die Aussagen der Überwachungsgremien sind nicht mit dem Willen der Vertragsstaaten gleichzusetzen.410 Darüber hinaus ist auch eine stillschweigende Duldungserklärung der Vertragsstaaten abzulehnen, da diese eine nichtexistierende Widerspruchspflicht der Vertragsstaaten voraussetzen würde.411 Die Untätigkeit der Vertragsstaaten lässt sich vielmehr mit der rechtlichen Unverbindlichkeit der Spruchpraxis erklären, so dass keine rechtliche Veranlassung für die Vertragsstaaten bestand, Widerspruch gegen die Spruchpraxis zu erheben.412 Im Übrigen zeigt die unterschiedliche Handhabung des Streikrechts in den Vertragsstaaten, die überhaupt erst Anlass für die Kritik durch die Überwachungsgremien gibt, dass kein übereinstimmender Wille der Vertragsstaaten hinsichtlich des Umfangs des Streikrechts besteht.413 Die Spruchpraxis der Überwachungsgremien zum Umfang des Streikrechts stellt daher keine verbindliche Vorgabe für die Auslegung gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK dar, sondern ist nur im Rahmen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts zu berücksichtigen. 407  So jedoch Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 295; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 54. 408 International Labour Office, Background document for the Tripartite Meeting, S. 18, Rn. 54; Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 17; vgl. Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 140 f.; allgemein zur Auslegung von ILO-Übereinkommen Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 206 f. Siehe ausführlicher zu den Auslegungsgrundsätzen der WVRK den 2. Teil, 1. Abschnitt, C. „Auslegung völkerrechtlicher Verträge“. 409 Dafür: Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 52; Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 23; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 137 ff., jedoch nur in Bezug auf die grundsätzliche Garantie des Streikrechts durch ILO-Übereinkommen Nr. 87; dagegen: Gooren, Tarifbezug, S. 169 ff.; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 362 f.; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 727. 410  Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 362; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 138. 411  Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 363; a.A. Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 138 ff., in Bezug auf die grundsätzliche Garantie des Streikrechts durch ILO-Übereinkommen Nr. 87. 412  Gooren, Tarifbezug, S. 170. 413  Gooren, Tarifbezug, S. 170 f.; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 728; ein anderes Ergebnis zur grundsätzlichen Garantie des Streikrechts durch ILO-Übereinkommen Nr. 87 vertreten mit plausibler Argumentation Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 138 ff.

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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I.  Schutzbereich des Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 Zwischen der Gruppe der Arbeitnehmervertreter und der Gruppe der Arbeitgebervertreter in der ILO ist umstritten, ob das ILO-Übereinkommen Nr. 87 das Streikrecht überhaupt gewährleistet.414 Bevor auf den Umfang des Streikrechts in Hinblick auf den nichtgewerkschaftlichen Streik eingegangen werden kann, muss daher anhand einer methodengerechten Auslegung geprüft werden, ob das Streikrecht überhaupt in Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 verankert ist.415 Nach Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 haben die Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber das Recht, sich Satzungen und Geschäftsordnungen zu geben, ihre Vertreter frei zu wählen, ihre Geschäftsführung und Tätigkeit zu regeln und ihr Programm aufzustellen. Das Streikrecht ist als Betätigungsform somit nicht ausdrücklich aufgeführt. Allerdings wird das Recht der Arbeitnehmer­organisationen genannt, ihre Tätigkeiten zu regeln. Damit enthält der Wortlaut zumindest einen Hinweis darauf, dass nicht nur Fragen der inneren Organisation geschützt sind, sondern auch nach außen wirksame Betätigungen.416 Der Wortlaut spricht daher jedenfalls nicht gegen die Gewährleistung des Streikrechts. Positive Argumente für die generelle Gewährleistung des Streikrechts durch Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 lassen sich vor allem unter teleologischen und systematischen Gesichtspunkten finden. Die durch Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 gewährleistete Vereinigungsfreiheit wäre aus Sicht der Arbeitnehmer sinnlos, wenn die Bestimmung keine Mittel gewährleisten würde, mit denen ein Verhandlungsgleichgewicht erzeugt werden kann. Als ultima ratio kommt dafür nur der Streik infrage, ohne den Kollektivverhandlungen aus Sicht der Arbeitnehmer zum „kollektiven Betteln“417 verkommen würden.418 Dieses teleologische Argument findet sich auch in der

414  Zur Entwicklung des Streits: Bellace, International Labour Review 2014, 29 ff.; Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 1 ff.; Hofmann, Streik(recht) in der ILO, S. 1 ff.; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130 ff. 415 Zu den methodischen Vorgaben für die Auslegung Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 16 f.; International Labour Office, Background document for the Tripartite Meet­ing, S. 18 ff., Rn. 54 ff. 416  Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 7 f.; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 140; vorsichtig Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 214, der im Ergebnis einen Schutz des Streikrechtsdurch Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 ablehnt (S. 214 ff.); nur für den Schutz der „organisatorischen (Binnen-)Struktur“ Gooren, Tarifbezug, S. 171 f.). 417  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980 1, AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643, allerdings in Bezug auf Tarifverhandlungen. 418  Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 23 f.; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 140; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 171, der allerdings im Ergebnis einen Schutz des Streikrechts durch Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 ablehnt.

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2. Teil: Völkerrecht

entsprechenden Spruchpraxis der beiden Überwachungsgremien der ILO.419 Darüber hinaus spricht der systematische Vergleich mit anderen Normen der ILO dafür, dass der Streik ein wesentliches Instrument der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen ist. Derartige Hinweise machen nur Sinn, wenn der Streik durch das ILO-Recht geschützt wird.420 Beispielsweise wird der Streik als Betätigungsform in Art. 1 lit. d ILO-Übereinkommen Nr. 105 genannt, wonach eine Bestrafung für die Teilnahme an Streiks in Form von Zwangsarbeit verboten ist.421 Abschließend kann einem Schutz des Streikrechts durch Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 auch nicht die Entstehungsgeschichte der Bestimmung entgegengehalten werden.422 Auch wenn es Hinweise auf den Willen einiger Vertragsparteien gibt, ein Streikrecht nicht zu gewährleisten,423 sind die Travaux Préparatoires nur subsidiär bei Unklarheiten der anderen Auslegungsmethoden heranzuziehen.424 Teleologische und systematische Argumente sprechen jedoch eindeutig für den Schutz des Streikrechts durch Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87, so dass die – sowieso nicht eindeutigen – Travaux Préparatoires dem nicht entgegenstehen können.425 Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 gewährleistet somit grundsätzlich das Streikrecht. Dieses schützt die Arbeitnehmer im Übrigen auch vor arbeitsrechtlichen Sanktionen,426 was sich am ehesten durch eine arbeitsvertragliche Suspendie419  Committee of Experts (CEACR), General Survey 2012, S. 46, Rn. 117; Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 2006, S. 109, Rn. 520 ff. 420  Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 140 f.; a.A. Gooren, Tarifbezug, S. 172 f. 421  Siehe dazu und zu weiteren Hinweisen auf das Streikrecht in ILO-Dokumenten Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 133 f.; Gernigon/Odero/Guido, ILO Principles, S. 7 f.; Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 7, Fn. 35. 422  So jedoch Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 728 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 173; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 215 f. 423 Siehe Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 728 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 173; Zweifel an dieser Interpretation besitzen hingegen mit beachtlichen Argumenten Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 20 ff., die darauf hinweisen, dass die Ablehnung vornehmlich den Beamtenstreik betraf; ebenso kritisch Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 141; vgl. dazu International Labour Office, Background document for the Tripartite Meeting, S. 4 f., Rn. 4 ff. 424  Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 22; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 141; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 109; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 127; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 61 f. 425  Siehe allerdings Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 22, die auf Art. 5 WVRK hinweisen, wonach einschlägige Vorschriften einer internationalen Organisation unangetastet bleiben. Dazu soll die Praxis der ILO gehören, den Travaux Préparatoires bei der Auslegung einen größeren Stellenwert einzuräumen (so auch International Labour Office, Background document for the Tripartite Meeting, S. 20, Rn. 58). 426  Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 2006, S. 134, Rn. 661 ff.; Gernigon/Odero/Guido, ILO Principles, S. 37 f.; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 142, die es zu Wahl stellen, ob der Schutz durch einen Suspensiveffekt oder einen Wiedereinstellungsanspruch erzeugt wird.

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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rungswirkung erreichen lässt und dem hier verwendeten Begriff Streikrecht entspricht.427 Welche Bedeutung besitzt diese Auslegung für den nichtgewerkschaftlichen Streik? Dazu sind der Gewährleistungsumfang des Streiks und seine Einschränkungsmöglichkeiten herauszuarbeiten. Die Überwachungsgremien haben zum Streikrecht eine detaillierte Spruchpraxis entwickelt, der insgesamt ein sehr weites Verständnis zugrunde liegt und die wenig Einschränkungen zulässt.428 Wie bereits gesagt, kommt der Spruchpraxis allerdings keine bindende Wirkung für die Auslegung zu. Der Umfang und die Grenzen des Streikrechts können nur im Rahmen einer methodengerechten Auslegung ermittelt werden, denen die Auslegungsgrundsätze der Art. 31 ff. WVRK zugrunde zu legen sind.429 Daran haben sich neben den Überwachungsgremien auch die beiden zerstrittenen Gruppen der Arbeitnehmer- und der Arbeitgebervertreter zu halten. Im Anschluss wird zum Vergleich dennoch die Spruchpraxis dargestellt. Zugegebenermaßen ist in Hinblick auf den nichtgewerkschaftlichen Streik ein eindeutiges Ergebnis schwierig, da Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 das Streikrecht nicht ausdrücklich erwähnt und der Wortlaut somit wenig Auskunft über die Grenzen des Streikrechts geben kann. Damit kommt teleologischen und systematischen Argumenten eine besondere Bedeutung zu. Zumindest kann jedoch festgehalten werden, dass Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 nicht von Gewerkschaften spricht, sondern allgemein von Organisationen der Arbeitnehmer („workers’ organisations“). Art. 10 ILO-Übereinkommen Nr. 87 definiert Organisationen als jede Organisation von Arbeitnehmern, die die Förderung und den Schutz der Interessen der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber zum Ziele hat. Damit umfasst Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 zumindest alle Vereinigungen, denen Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsfreiheit gewährt.430 Dies sind neben Gewerkschaften auch einfache Koalitionen, die nach deutschem Recht nicht ta427  Siehe zur Unterscheidung der Begriffe Streikrecht und Streikfreiheit die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“. 428  Eine Übersicht zur Spruchpraxis findet sich bei Gernigon/Odero/Guido, ILO Principles, S. 11 ff.; Servais, The Canadian Labour and Employment Law Journal 2010, 147 ff. 429  Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 16 f.; International Labour Office, Background document for the Tripartite Meeting, S. 18 ff., 54 ff.; vgl. Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 140 ff.; allgemein zur Auslegung von ILO-Übereinkommen Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 206 f., der kritisch darauf hinweist, dass der CEACR hinsichtlich des Streikrechts die Art. 31 ff. WVRK „weitgehend unberücksichtigt gelassen hat“ (S. 213). Siehe im Übrigen dazu ausführlich den 2. Teil, 1. Kapitel, C „Auslegung völkerrechtlicher Verträge“. 430  Groh, in: NK Vereinsgesetz, § 16, Rn. 1; vgl. Roth, in: Sicherheitsrecht des Bundes, § 16 VereinsG, Rn. 9; siehe ebenfalls Giere, Soziale Mächtigkeit, S. 174, nach deren Ausführungen ebenfalls nichtmächtige Arbeitnehmerkoalitionen unter den persönlichen Anwendungsbereich fallen.

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2. Teil: Völkerrecht

riffähig sind.431 Der personelle Schutzbereich des Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 versperrt daher jedenfalls die Auslegung, dass auch Streiks nichttariffähiger Koa­litionen geschützt sind, nicht.432 Hingegen dürfte eine bloße Ansammlung von Streikenden, die nichts weiter als die gleichzeitige Arbeitsniederlegung vereint, keine Organisation im Sinne des Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 sein. Dazu sollte es wie bei Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 9 Abs. 3 GG einer gewissen Stabilität und einer organisierten Willensbildung bedürfen.433 Aufgrund der hauptsächlich teleologischen Herleitung des Streikrechts aus Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 sollte der Gewährleistungsumfang nur zweckorientiert entwickelt werden. Ein Streikrecht, das nicht dem Zweck dient oder nicht zur Zweckerreichung erforderlich ist, sollte nicht mittels teleologischer Interpretation in die Norm hineingelesen werden.434 Zudem sollte berücksichtigt werden, dass das ILO-Übereinkommen Nr. 87 keine ausdrückliche Beschränkungsmöglichkeit für das Streikrecht vorsieht. Daher sollte der Schutzbereich nicht wie bei der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG weit ausgelegt werden,435 sondern es sollten bereits bei der Herleitung des Streikrechts entgegenstehende Rechte des Arbeitgebers und Dritter berücksichtigt werden.436 Darüber hinaus können gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK andere völkerrechtliche Quellen der Koalitionsfreiheit Einfluss auf den Umfang der Gewährleistung haben, wenn sie in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbar sind.437 Auf dieser Grundlage müsste man zu dem Ergebnis kommen, dass ein Streik nach Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 nicht nur Arbeitnehmerorganisationen zusteht, die nach deutscher Rechtslage als Gewerkschaften anzusehen sind und alle Merkmale der Tariffähigkeit erfüllen, sondern auch nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalitionen. Dies entspricht dem Schutzbereich des Art. 6 Nr. 4 ESC, der zumindest aus deutscher Sicht hinsichtlich Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 zu berücksichtigen ist. Nichtgewerkschaftliche Streiks, die von einer Arbeitnehmer431 

Siehe dazu ausführlich den 3. Teil, 2. Kapitel, A., III, 1. „Begriff der Vereinigung“. Diese Differenzierung berücksichtigt Schneider, Arbeitskampf und ILO Nr. 87 und Nr. 98, S. 96 hingegen nicht. 433  Siehe zur ESC die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, A., I. „Schutzbereich“ und zum Grundgesetz den 3. Teil, 2. Kapitel, A., III., 1. „Begriff der Vereinigung“. 434 Ähnlich Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 142, die auf den „funktionalen Kern“ des Streikrechts abstellen und inhaltlich die Regeln geschützt sehen, die unabdingbar sind, um vom Streikrecht Gebrauch zu machen. 435  Siehe dazu den 3. Teil, 3. Kapitel, A., III., 2., b) „Allgemeine Grundrechtssystematik“. 436 Vgl. Hofmann/Schuster, Right to Strike, S. 8 zur Spruchpraxis des CEACR; vgl. Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 145, die einen nationalen Gestaltungraum zur Einpassung des Streikrechts in die jeweilige Rechtsordnung fordern. 437 Siehe dazu Seifert, EuZA 2013, 205, 209; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 275 ff.; Weiß, EuZA 2010, 457, 467. 432 

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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koalition im Sinne des Art. 10 ILO-Übereinkommen Nr. 87 organisiert werden, können erforderlich sein, um ein Verhandlungsgleichgewicht zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgebern zu schaffen. Zwar ist es aus teleologischen Gründen nicht erforderlich, einen nichtgewerkschaftlichen Streik generell zuzulassen, doch sollte er in notwendigen Situationen geschützt sein, in denen ein besonderes Bedürfnis für diese Streikform besteht. Wie beispielsweise der Professorenentwurf annimmt, kann sich dieses Bedürfnis in Momenten ergeben, in denen keine Gewerkschaft zuständig ist oder die zuständige Gewerkschaft die Arbeitnehmer nicht unterstützt.438 Abschließend ist zu prüfen, ob die hier vorgenommene Auslegung mit der Spruchpraxis der Überwachungsgremien übereinstimmt. Zumindest der CFA besitzt hinsichtlich der Zulässigkeit von „wild-cat strikes“ („wilde Streiks“) eine unklare Linie. Einerseits hat er festgestellt, dass es mit dem ILO-Übereinkommen Nr. 87 vereinbar sei, dass das Recht zum Streikaufruf an Gewerkschaften („trade union organizations“) gebunden wird.439 An anderer Stelle betont der Ausschuss jedoch, dass das Verbot von „wild-cat strikes“ nur zu rechtfertigen sei, wenn der Streik nicht mehr friedlich ablaufe.440 Beide Aussagen schließen sich gegenseitig aus. Bindet man das Recht zum Streikaufruf an Gewerkschaften, sind nichtgewerkschaftliche Streiks unabhängig von ihrer Friedlichkeit unzulässig. Die Aussage, die das Verbot von „wild-cat strikes“ grundsätzlich ablehnt, wird erst seit 1996 im „Digest of decisions and principles“ aufgeführt.441 In der vorhergehenden Auflage von 1985 befindet sich in der entsprechenden Passage noch kein Hin438 

Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 97. Siehe zu weiteren Situationen, in denen ein Bedürfnis für nichtgewerkschaftliche Streiks besteht: Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458 f., die dort ein Bedürfnis sieht, wo Gewerkschaften schwach organisiert sind; Bepler, in: FS Wißmann, S. 110 f.; Waltermann, EuZA 2015, 15, 27. Siehe im Übrigen ausführlich zu diesen speziellen Situationen die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 439  Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 2006, S. 110, Rn. 524: „It does not appear that making the right to call a strike the sole preserve of trade union organizations is incompatible with the standards of Convention No. 87.“; ebenso bereits Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 1996, S. 101, Rn. 477; Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 1985, S. 73, Rn. 361. 440  Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 2006, S. 113, Rn. 545: „Regarding various types of strike action denied to workers (wildcat strikes, tools-down, go-slow, working to rule and sit-down strikes), the Committee considers that these restrictions may be justified only if the strike ceases to be peaceful.“; ebenso bereits Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 1996, S. 105, Rn. 497. 441  Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 1996, S. 105, Rn. 497.

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2. Teil: Völkerrecht

weis zur Zulässigkeit von „wild-cat strikes“.442 Die Bindung des Streikaufrufs an Gewerkschaften akzeptiert das CFA hingegen bereits seit 1985.443 Daher könnte man argumentieren, dass der zeitlich später erfolgte Hinweis zur Zulässigkeit von „wild-cat strikes“ als Trend zur Befürwortung des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das CFA auszulegen ist.444 Dementsprechend stufte das CFA die Kündigung von Arbeitnehmern nach einem nichtgewerkschaftlichen Streik auch als Verstoß gegen die Vereinigungsfreiheit ein.445 Eine eindeutige Aussage zur Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks kann der Spruchpraxis des CFA aufgrund seiner Widersprüchlichkeit allerdings nicht entnommen werden. Der CEACR ist der Auffassung, dass das Streikrecht allen Arbeitnehmerorganisationen zustehe. Dazu zählt es neben „trade unions“ (Gewerkschaften) auch deren „federations“ und „confederations“.446 Das CEACR betont in diesem Zusammenhang pauschal, dass die Überwachungsgremien der ILO das Verbot von „wildcat strikes“ akzeptierten, und spiegelt damit die soeben dargestellte Spruchpraxis des CFA nicht vollständig wieder. Es stellt sich darüber hinaus aus deutscher Sicht die Frage, welche Anforderungen das CEACR an den Gewerkschaftsbegriff stellt. Stellt man auf den für Arbeitnehmervereinigungen maßgeblichen Art. 10 ILO-Übereinkommen Nr. 87 ab, sieht der Wortlaut eine Differenzierung nach der Mächtigkeit der Koalition nicht vor.447 Damit übereinstimmend versteht das CEACR unter dem Begriff „trade unions“ repräsentative und nichtrepräsentative Gewerkschaften („most representative trade unions“ und „minority trade unions“).448 Der Gewerkschaftsbegriff des ILO-Übereinkommen Nr. 87 umfasst daher auch Arbeitnehmerorganisationen, die nicht sozial mächtig sind. Damit schützt das Übereinkommen nach Ansicht des CEACR auch Streiks von einfa442  Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 1985, S. 74, Rn. 367. 443  Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 1985, S. 73, Rn. 361. 444  So vermutlich Novitz, International and European protection of the right to strike, S. 277 f., die die Entwicklung der Spruchpraxis des CFA zum nichtgewerkschaftlichen Streik darstellt. 445  Committee of Freedom of Association (CFA), 294th Report, S. 100, Rn. 343: „[…] the Committee considers that the dismissal of the seven trade union officials in ques­ tion even though the strike was not decided by a trade union executive representing more than the majority of workers – a requirement which is not indispensable according to the principles formulated by this Committee – was contrary to the principles of freedom of association […].“; siehe dazu Novitz, International and European protection of the right to strike, S. 277 f. 446  Committee of Experts (CEACR), General Survey 2012, S. 50, Rn. 122. 447 Dazu Eitel, Repräsentative und nicht repräsentative Gewerkschaften, S. 123. 448  Dazu ausführlich Committee of Experts (CEACR), General Survey 2012, S. 92, Rn. 224 ff.

2. Kap.: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht

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chen Arbeitnehmerorganisationen. Davon ist allerdings der „wildcat strike“ abzugrenzen, der aus Sicht des CEACR verboten werden kann. Damit scheint das CEACR somit Fälle zu meinen, in denen eine bloße Ansammlung von Arbeitnehmern die Arbeit niederlegt, wenn diese noch nicht einmal in einer „minority trade union“ organisiert sind. Lässt man den Widerspruch in der Spruchpraxis des CFA unberücksichtigt, fordern die Überwachungsgremien der ILO im Ergebnis eine weitreichendere Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks als die methodengerechte Auslegung des Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 ergibt. Damit kann der Spruchpraxis ein valides Argument entgegengesetzt werden, weshalb die Vorgaben der Überwachungsgremien nicht umfassend berücksichtigt werden müssen. Wo hingegen ein besonderes Bedürfnis für einen Streik einer nichtgewerkschaftlichen Arbeitnehmerorganisation (dies entspricht in Deutschland einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition) besteht, gewährleistet Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 auch für diese Streikform einen entsprechenden völkerrechtlichen Schutz.449 II.  Beschränkungsmöglichkeiten Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 beinhaltet keine ausdrückliche Ermächtigung, den Gewährleistungsumfang zu begrenzen. Die Überwachungsgremien haben allerdings die Regel entwickelt, dass Einschränkungen des Streikrechts in Ausnahmesituationen für einen begrenzten Zeitraum zulässig sind. Darüber hinaus darf das Streikrecht von Militär- und Polizeiangehörigen, von bestimmten Beamtengruppen und in Bereichen der Daseinsvorsorge („essential services“) eingeschränkt werden.450 Darüberhinausgehende Einschränkungsmöglichkeiten lässt das ILO-Übereinkommen Nr. 87 nicht zu. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Schutzbereich des Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 bereits eine ihm immanente Gewährleistung des nichtgewerkschaftlichen Streiks auf notwendige Situationen beinhaltet.

449 Mit Blick auf die Spruchpraxis der Überwachungsgremien zustimmend Seifert, EuZA 2013, 205, 214 f. („internationaler Konsens“); Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 69; a.A. Schneider, Arbeitskampf und ILO Nr. 87 und Nr. 98, S. 96 f., der allerdings nicht den Unterschied zwischen einfachen Koalitionen und Gewerkschaften berücksichtigt. 450  Committee of Experts (CEACR), General Survey 2012, S. 51 f., Rn. 127; Committee of Freedom of Association (CFA), Digest of decisions and principles 2006, S. 117 ff., Rn. 570 ff.; siehe dazu Servais, The Canadian Labour and Employment Law Journal 2010, 147, 152 ff.

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2. Teil: Völkerrecht

III.  Stellung des ILO-Übereinkommens Nr. 87 in der deutschen Rechtsordnung Durch das Zustimmungsgesetz des Bundestags zum ILO-Übereinkommen Nr. 87 vom 20. Dezember 1956 besitzt der Vertrag entsprechend Art. 59 Abs.2 GG den Rang eines einfachen Bundesgesetzes.451 Seit seinem Inkrafttreten am 20. März 1958 entfaltet er innerstaatliche Geltung in Deutschland.452 Die Streikrechtsgewährleistung aus Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 ist allerdings nicht unmittelbar anwendbar.453 Der Gewährleistung fehlt es wie den anderen völkerrechtlichen Quellen des Streikrechts an der ausreichenden Bestimmtheit und damit an der Anwendungsfähigkeit. Wie bereits ausgeführt, bedarf das Streikrecht eines rechtlichen Rahmens, um in Hinblick auf entgegenstehende Rechte des Arbeitgebers und Dritter von innerstaatlichen Organen angewendet werden zu können.454 Bei Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 kommt noch verstärkend hinzu, dass die Bestimmung überhaupt keine ausdrückliche Gewährleistung des Streikrechts beinhaltet. Die dazu ergangene Spruchpraxis der Überwachungsgremien ist nicht verbindlich, so dass sie nicht dazu führt, dass das Streikrecht anwendungsfähig ist.455 Daher kann sich der einzelne Bürger nicht vor deutschen Gerichten auf die Bestimmung berufen. Die Vorgaben des Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 sind jedoch im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts durch den deutschen Gesetzgeber und die deutschen Gerichte zu berücksichtigen.456 Dementsprechend hat sich beispielsweise das BAG in seinem Urteil zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen – zugegebenermaßen etwas pauschal – auf das ILO-Übereinkommen Nr. 87 bezogen.457 451 

BGBl. II 1956, Nr. 37 vom 29. 12. 1956, S. 2072. BGBl. II 1958, Nr. 10 vom 31. 5. 1958, S. 113. 453  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 372; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 107; allgemein zu den Übereinkommen der ILO: Leinemann, BB 1993, 2519; Linck, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 5, Rn. 3; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 154, Rn. 29; a.A. Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 220. 454  Vgl. dazu die ausführlichere Darstellung zu Art. 6 Nr. 4 ESC im 2. Teil, 2. Kapitel, A., III., 1. „Unmittelbare Anwendbarkeit“. Siehe im Übrigen zu den Voraussetzungen der Anwendungsfähigkeit die Ausführungen des BVerwG zum IPwskR: ­BVerwG, Urt. v. 29. 4. 2009, 6 C 16/08, NVwZ 2009, 1562, 1567. 455  So auch Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 107. 456  Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 17 ff. und 54; vgl. Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 145. 457 BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 179/11, NZA 2013, 448, 466. Das Gericht geht dabei jedoch im Einklang mit dem BVerfG davon aus, dass das ILO-Übereinkommen Nr. 87 die Koalitionsfreiheit nur in ganz allgemeiner Form gewährleiste und nicht über die Grundsätze hinausgehe, die ohnehin durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich abgesichert sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1981, 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815, 817). 452 

3. Kap.: Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht

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3. Kapitel

Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht 3. Kap.: Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht

Im folgenden Kapitel soll ein Überblick zur Gewährleistung des Streiks in Art. 28 GrCh erfolgen.458 Die Norm ist für den vorliegend zu untersuchenden nichtgewerkschaftlichen Streik im nationalen Kontext nicht unmittelbar maßgeblich, so dass nur an dieser Stelle auf das Unionsrecht eingegangen wird. Dies ist auf den sich nach Art. 51 Abs. 1 GrCh zu bestimmenden Anwendungsbereich der Grundrechtecharta zurückzuführen. Die Norm kann jedoch mittelbar relevant werden, wenn sich beispielsweise der EGMR bei der Bestimmung des Schutzbereiches des Art. 11 Abs. 1 EMRK auf die Gewährleistung in Art. 28 GrCh stützt.459 So hat der EGMR bei der Auslegung der EMRK neben der ESC ebenfalls die GrCh bereits als Argumentationshilfe herangezogen.460 Daher soll auch das vom Völkerrecht zu unterscheidende Unionsrecht in Bezug auf Art. 28 GrCh dargestellt werden.461 Der für den Anwendungsbereich des Art. 28 GrCh relevante Art. 51 Abs. 1 GrCh bestimmt, dass die Grundrechtecharta nur bei der Durchführung von Unionsrecht anzuwenden ist.462 Unmittelbar streikregulierendes Unionsrecht kann es nicht geben, da die EU gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV keine Kompetenz zur Regelung des Streikrechts besitzt.463 Es gibt nur zwei Situationen, in denen der Art. 28 GrCh unmittelbar relevant wird.464 Einerseits sind dies grenzüberschreitende Arbeitskämpfe, in denen der Streik mit unionsrechtlichen Grundfreiheiten 458 Siehe zur Rechtsprechung des EuGH zum Streik an anderer Stelle: Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 377 ff.; Maeßen, EuGH und deutsches Arbeitskampfrecht, S. 3 ff.; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 64 ff.; Zwanziger, DB 2008, 294 ff. 459  Siehe dazu bereits die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, B., I., 2. „Prognose zum nichtgewerkschaftlichen Streik“. 460  EGMR Große Kammer v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara/Türkei), NZA 2010, 1425, 1431. Siehe dazu Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 63 ff.; Lörcher, AuR 2011, 88 ff.; kritische Analyse durch Seifert, KritV 2009, 357, 359 ff. 461 Zum Unterschied zwischen Völker- und Unionsrecht: Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 6; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 355 ff.; BVerfG, Beschl. v. 18. 10. 1967, 1 BvR 248/63, 216/67, NJW 1968, 348, 349. 462  Siehe dazu Grzeszick, NZA 2013, 1377, 1381; Kirchhof, EuR 2014, 267, 270 ff.; Jarass, EuR 2013, 29, 37 ff.; Jarass, in: Jarass GrCh, Art. 28, Rn. 3; Rudolf, in: Nomos Kommentar GrCh, Art. 28, Rn. 27; Buschmann, in: FS Kempen, S. 264. 463  Siehe dazu Franzen, EuZA 2010, 453 f., der die Bedeutung der GrCh für das nationale Arbeitskampfrecht daher als „gering“ einstuft; ähnlich Seifert, EuZA 2013, 205, 211; Kerwer, EuZA 2008, 335, 353. 464  Diesen widmen sich andere wissenschaftliche Arbeiten: Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 364 ff.; Skouris, RdA-Beil. 2009, 25, 27 ff.; Zwanziger, RdA-Beil. 2009, 10.

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2. Teil: Völkerrecht

kollidieren kann.465 Andererseits findet Art. 28 GrCh unmittelbar Anwendung auf das Streikrecht von Unionsbeamten.466 Dadurch sind rein nationale Arbeitskämpfe, die ausschließlicher Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind, vom Geltungsbereich der GrCh ausgenommen.467

A.  Schutzbereich des Art. 28 Europäische Grundrechtecharta Nach Art. 28 GrCh haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen [..] nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen. Damit enthält die Norm eine ausdrückliche Gewährleistung des Streiks als kollektive Maßnahme der Arbeitnehmer. I.  Auswirkungen des Zusatzes Es ist umstritten, ob Art. 28 GrCh eigenständige Vorgaben für den Streik enthält. Dies liegt unter anderem an dem Zusatz, dass die Rechte des Art. 28 GrCh nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ergriffen werden können. Zu diesem Zusatz werden verschiedene Interpretationen vertreten.468 Manche sind der Auffassung, dass der Norm aufgrund dieses „Vorbehalts“ kein eigenständiger Inhalt zukomme, sondern sich dieser ausschließlich nach dem nationalen Gewährleistungsumfang bemesse.469 Andere wie465 So in EuGH v. 11.  12. 2007 - C-438/05 (Viking), NZA 2008, 124; EuGH v. 18. 12. 2007 - C-341/05 (Laval), NZA 2008, 159; dazu Zwanziger, DB 2008, 294; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 368 ff.; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 109 f.; Jarass, EuR 2013, 29, 30 f.; Buschmann, in: FS Kempen, S. 263 ff.; Kerwer, EuZA 2008, 335, 353; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 26; vgl. Veldmann, Utrecht Law Review 2013, 104, 113. 466  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 374 und S. 445; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 109. 467  Gooren, Tarifbezug, S. 270; Patett, Arbeitskampfrecht und Art. 12 GG, S. 202; Grzeszick, NZA 2013, 1377, 1381; Waltermann, EuZA 2015, 15, 20; ebenso zum Streik in kirchlichen Einrichtungen jüngst BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 179/11, NZA 2013, 448, 464 f. 468  Übersicht zum Streitstand bei Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 112 ff. 469  Für eine Auslegung nach nationalem Streikrecht: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 364 ff.; Franzen, EuZA 2010, 453; Gooren, Tarifbezug, S. 270; Krebber, in: Callies/Ruffert, EU-GRCharta Art. 28, Rn. 3 f.; Mair, Arbeitskampf und Arbeitsvertrag, S. 172; Rebhahn, in: GS Heinze, S. 654 f.; Thüsing/Traut, RdA 2012, 65, 67 und 69; Waltermann, EuZA 2015, 15, 21 f.

3. Kap.: Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht

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derum befürworten einen eigenständigen Gewährleistungsumfang der Norm und sehen in dem Zusatz zum Teil nur einen Hinweis auf die in Art. 52 Abs. 1 GrCh geregelte Einschränkbarkeit des Art. 28 GrCh.470 Die erste Ansicht lässt wichtige Details der Charta unberücksichtigt. So bestimmt Art. 52 Abs. 3 GrCh, dass soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Damit kann der Gewährleistungsgehalt des Art. 28 GrCh nicht hinter der Bedeutung und Tragweite des hier bereits erörterten Art. 11 Abs. 1 EMRK zurückbleiben. Das durch die Große Kammer des EGMR in der Rechtssache „Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei“471 anerkannte Streikrecht wird daher auch durch Art. 28 GrCh gewährleistet.472 Dagegen spricht auch nicht, dass die Erläuterungen zur „Entsprechungsklausel“ des Art. 52 Abs. 3 GrCh den Art. 11 Abs. 1 EMRK nur im Zusammenhang mit Art. 12 GrCh aufführen. Einerseits handelt es sich ausdrücklich um eine nichtabschließende Aufzählung („The list of rights which may at the present stage […] be regarded as corresponding to rights in the ECHR within the meaning of the present paragraph is given hereafter.“473) und andererseits verweisen die Erläuterungen zu Art. 28 GrCh sogar auf die Rechtsprechung des EGMR zu Kollektivmaßnahmen.474 Daneben existiert mit Art. 52 Abs. 1 GrCh eine Norm, die spezielle Vorgaben für die Einschränkungen der Charta-Rechte macht. Diese wäre bezüglich 470 Für einen eigenständigen Inhalt: Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 370 ff.; Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 60 f.; Rudolf, in: Nomos Kommentar GrCh, Art. 28, Rn. 2; Jarass, in: Jarass GrCh, Art. 28, Rn. 6 ff.; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 124 ff.; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 22; Seifert, EuZA 2013, 205, 206; Zachert, NZA 2001, 1041, 1045; Zwanziger, RdA-Beil. 2009, 10, 17. 471  EGMR Große Kammer v. 21. 4. 2009 - 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei), NZA 2010, 1423. 472  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 374 ff.; Fütterer, EuZA 2011, 505, 515; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 22; Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 26, 44; a.A. Gooren, Tarifbezug, S. 270; Thüsing/Traut, RdA 2012, 65, 68 f., die meinen, dass der EGMR nicht gefordert habe, dass auf Ebene der Union ein Streikrecht existieren muss. Allerdings ist es nicht der EGMR, sondern gerade Art. 52 Abs. 3 GrCh, der durch den EGMR festgestellte Rechte auf Unionsebene befördert. 473  Official Journal of the European Union, Explanations relating to the Charter of Fundamental Rights, (2007/C 303/02), abzurufen über die Datenbank der EU: http:// eur-lex.europa.eu, Abruf am 5. 7. 2016. 474 Ebenso Brameshuber, EuZA 2016, 46, 51 f.; Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 62 f.; Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 13; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 138; a.A. Krebber, in: Callies/Ruffert, EU-GRCharta Art. 27, Rn. 10; Gooren, Tarifbezug, S. 268 ff.

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2. Teil: Völkerrecht

des Streiks überflüssig, wenn sich der Schutzbereich des Art. 28 GrCh bereits auf Grundlage des Vorbehalts nach nationalem Recht bemessen würde.475 Im Übrigen entspricht das System einer prinzipiellen Streikgewährleistung und einer an Voraussetzungen geknüpften Beschränkungsmöglichkeit dem System des Art. 6 ESC, der dem Art. 28 GrCh als Vorbild zugrunde liegt.476 Daher sollte der Zusatz nur als Hinweis verstanden werden, dass sich weitere Modalitäten und Grenzen der Gewährleistungen des Art. 28 GrCh nach mitgliedsstaatlichem Recht im Rahmen der Vorgaben des Art. 52 Abs. 1 GrCh bestimmen.477 II.  Eigenständige Gewährleistung Auf erster Ebene bestimmt sich der Umfang der Streikgewährleistung daher unabhängig von mitgliedsstaatlichem Recht und ist durch eine methodengerechte Auslegung zu ermitteln. Dabei sind insbesondere die Vorgaben des Art. 11 EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR als Mindestgehalt zu berücksichtigen (Art. 52 Abs. 3 GrCh).478 Für die Auslegung sind darüber hinaus gemäß Art. 52 Abs. 7 GrCh die Erläuterungen zur GrCh relevant. Letztere wurden als Anleitung für die Auslegung der Charta verfasst und sind bei der Anwendung heranzuziehen.479 Wie soeben erwähnt, basiert Art. 28 GrCh nach Maßgabe seiner Erläuterungen auf Art. 6 ESC. Dessen Streikgewährleistung ist daher ebenfalls für die Auslegung maßgeblich.480 475 

So auch Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 44. zum Bezug zu Art. 6 ESC die Erläuterungen zu Art. 28 GrCh in ­Official Journal of the European Union, Explanations relating to the Charter of Fundamental Rights, (2007/C 303/02), abzurufen über die Datenbank der EU: http://eur-lex.europa.eu, Abruf am 5. 7. 2016; ebenso Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 8; Rudolf, in: Nomos Kommentar GrCh, Art. 28, Rn. 2. 477  So auch Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 54; ähnlich Jarass, in: Jarass GrCh, Art. 28, Rn. 85. 478  Brameshuber, EuZA 2016, 46, 52 f.; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 374 ff.; Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 13 f.; Rödl/ Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 62 ff.; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 9; siehe zur Inkorporation der Rechtsprechung des EGMR die Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 GrCh in Official Journal of the European Union, Explanations relating to the Charter of Fundamental Rights, (2007/C 303/02), abzurufen über die Datenbank der EU: http:// eur-lex.europa.eu, Abruf am 5. 7. 2016; a.A. Krebber, in: Callies/Ruffert, EU-GRCharta Art. 28, Rn. 10. 479  Official Journal of the European Union, Explanations relating to the Charter of Fundamental Rights, (2007/C 303/02), abzurufen über die Datenbank der EU: http://eur-lex. europa.eu, Abruf am 5. 7. 2016. Bezüglich der Streikgewährleistung in Art. 28 GrCh beinhalten diese jedoch nur die Hinweise, dass der EGMR kollektive Maßnahmen im Rahmen von Art. 11 EMRK anerkannt habe, dass Art. 28 GrCh unter anderem auf Art. 6 ESC beruhe und dass das nationale Recht weitere Modalitäten und Grenzen des Streiks bestimmt. 480  Fütterer, EuZA 2011, 505, 515; Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 21. 476  Siehe

3. Kap.: Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht

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Nach dem Wortlaut können die Arbeitnehmer und ihre Organisationen bei Interessenkonflikten zur Verteidigung ihrer Interessen zum Streik greifen. Damit setzt der Streik einen Interessenkonflikt voraus. Ein Streik als Reaktion auf einen Konflikt um Rechtsfragen ist damit nicht zulässig.481 Ebenfalls sind nicht allgemeine Interessen gemeint, sondern die Interessen, die die Arbeitnehmer im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses betreffen. Rein politische Streiks ohne Bezug zum Arbeitsverhältnis werden damit nicht geschützt.482 Fraglich ist, ob der Interessenkonflikt im Zusammenhang mit der Verhandlung über einen Tarifvertrag entstanden sein muss. Darauf könnte der enge Zusammenhang in Art. 28 GrCh zwischen kollektiven Maßnahmen („collective ­action“) und dem Recht, Tarifverträge auszuhandeln und zu schließen („right to negotiate and conclude collective agreements“), hindeuten. In der Überschrift werden allerdings nicht nur Tarifverträge erwähnt, sondern allgemein Kollektivverhandlungen („collective bargaining“). Zudem umfasst der für die Auslegung maßgebliche englische Begriff „collective agreements“ nicht nur Tarifverträge nach dem deutschen Tarifvertragsgesetz (TVG), sondern alle Formen von Kollektivverträgen.483 Dazu gehören auch rein schuldrechtliche Verträge, die durch nichtgewerkschaftliche Koalitionen abgeschlossen werden können. Daher schützt Art. 28 GrCh nicht nur den tarifbezogenen Streik im Sinne des TVG.484 Es wird allgemein der Streik zur Unterstützung von Kollektivverhandlungen mit dem Arbeitgeber gewährleistet.485 Abzulehnen ist eine Deutung, die den Streik gänzlich unabhängig von Kollektivverhandlungen sieht.486 Sie widerspricht einerseits der historischen Funktion von Streiks als Druckmittel in Kollektivverhandlungen 481  Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 39; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 165; differenziert Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 22. 482  Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 44; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 167 f.; ebenfalls ablehnend Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 109. 483  Rudolf, in: Nomos Kommentar GrCh, Art. 28, Rn. 22; Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 53. 484  Rudolf, in: Nomos Kommentar GrCh, Art. 28, Rn. 28; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 43; Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 23; Zachert, NZA 2001, 1041, 1045. 485  Ebenfalls für einen Zusammenhang zwischen Streik und Kollektivverhandlungen Rebhahn, in: GS Heinze, S. 653 f.; siehe auch Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 162, der unterstreicht, dass Arbeitskampfmittel das bewusste und gewollte Unterdrucksetzens des „Verhandlungspartner“ zur Folge haben. 486 So Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 40 und 43 (vorsichtiger jedoch in Rn. 25); vgl. Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 71, der dort im Gegensatz zu seiner Aussage auf S. 162 einen Zusammenhang mit Verhandlungen ablehnt, aber unter kollektiven Verhandlungen fälschlicherweise nur Tarifverträge versteht und darüber hinaus Art. 6 Nr. 4 ESC anders als hier auslegt.

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2. Teil: Völkerrecht

und insbesondere dem Art. 6 Nr. 4 ESC, der nach den Erläuterungen zur GrCh dem Art. 28 GrCh zugrunde liegt.487 Für die vorliegende Untersuchung ist insbesondere entscheidend, wer Träger des Streiks nach Art. 28 GrCh sein kann. Da neben den Arbeitnehmerorganisationen ausdrücklich auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genannt werden, kommen diese auch als Träger eines Streiks in Betracht. Allerdings weist Art. 28 GrCh darauf hin, dass es sich beim Streik um ein kollektives Kampfmittel handelt, so dass nur die Arbeitsniederlegung durch ein Arbeitnehmer-Kollektiv geschützt ist.488 Daher ist zu klären, welche Qualität das streikende Kollektiv erfüllen muss. Wie soeben festgestellt wurde, ist der Streik im Rahmen des Art. 28 GrCh den Kollektivverhandlungen untergeordnet. Im Rahmen des Art. 6 Nr. 4 ESC, der dem Art. 28 GrCh zugrunde liegt, wurden bereits verschiedene Anforderungen an das streikende Kollektiv ermittelt.489 Es muss in erster Linie fähig sein, Verhandlungen mit dem Arbeitgeber zu führen.490 Dazu bedarf das Kollektiv eines Mindestmaßes an organisatorischer Verfestigung, organisierter Willensbildung und eines Verhandlungsführers, der mit dem Arbeitgeber im Namen der Arbeitgeber die Kollektivverhandlungen führt.491 Dieselben Anforderungen sind auch für den kollektiven Streik von Arbeitnehmer im Rahmen des Art. 28 GrCh zu fordern.492 Das streikende Kollektiv entspricht damit dem später noch zu erläuternden deutschen Koalitionsbegriff, dessen Anforderungen allerdings in dieser Arbeit großzügig verstanden werden.493

487 

laut“.

Siehe zu Art. 6 Nr. 4 ESC die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1. „Wort-

488  So auch Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 42; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 162. 489  Siehe dazu insbesondere die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, A., I., 1. „Wortlaut“. 490  Dumke, Streikrecht ESC, S. 106 und 121 f.; Picker, ZfA 2010, 586, 623. 491  So zu Art. 6 Nr. 4 ESC das ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353 f.; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 122 in Fn. 399; vgl. Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 79; vgl. allgemein zu Arbeitnehmerkoalitionen Rieble, RdA 2005, 200, 206; auch der Professorenentwurf eines deutschen Arbeitskampfgesetzes fordert für ein verbandsfreies Streikrecht die Einsetzung einer Streikleitung zur Verhandlungsführung mit dem Arbeitgeber Birk/Konzen/Löwisch/ Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 98. 492  A.A. wohl Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 38, der nur eine gemeinsam handelnde Arbeitnehmergruppe fordert; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 24 f., die allerdings für den Abschluss von Kollektivverträgen ein „mehr oder weniger festen Zusammenschluss von Arbeitnehmern“ fordert. 493  Siehe zum Koalitionsbegriff die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“.

3. Kap.: Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht

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Damit steht fest, dass Träger eines Streiks nach Art. 28 GrCh nicht nur tariffähige Gewerkschaften sein können, sondern auch Arbeitnehmer in Form einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalitionen. Das deutsche Gewerkschaftsmonopol erweist sich als Eingriff in Art. 28 GrCh.494 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 28 GrCh neben den streikenden Arbeitnehmern auf der kollektiven Ebene auch deren jeweilige Organisationen schützt. Diese können sich ebenfalls auf die Gewährleistung des Streiks berufen. Der Begriff Arbeitnehmerorganisation ist weiter zu verstehen als der deutsche Gewerkschaftsbegriff,495 so dass sich auch der kollektiven Ebene keine Bindung des Streiks an tariffähige Gewerkschaften entnehmen lässt. III.  Suspendierendes Streikrecht? Abschließend ist zu klären, ob der Streik nach Art. 28 GrCh eine suspendierende Wirkung für den Arbeitsvertrag besitzt und damit ein Streikrecht ist. Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh richtet sich Art. 28 GrCh nur an Organe und Einrichtungen der Union und an die Mitgliedsstaaten. Damit besitzt Art. 28 GrCh genauso wenig wie Art. 11 EMRK eine unmittelbare Drittwirkung für das Privatrechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.496 Daher führt die Norm grundsätzlich nicht zur Suspendierung des Arbeitsverhältnisses während der Dauer des Streiks. Im Ergebnis beinhaltet Art. 28 GrCh damit nur eine Streikfreiheit und kein zivilrechtliches Streikrecht.497 Allerdings könnte eine Schutz494 Ebenso Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 38, der zu Recht auch auf Art. 6 Nr. 4 ESC hinweist; vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 375; Maeßen, EuGH und deutsches Arbeitskampfrecht, S. 35 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 25; Zachert, NZA 2001, 1041, 1045. 495  Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 53; vgl. Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 20, für die die Anforderungen der Tariffähigkeit in Deutschland rechtfertigungsbedürftige Eingriffe sind; ähnlich Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 37; noch liberaler Krebber, in: Callies/Ruffert, EU-GRCharta Art. 28, Rn. 5, der allerdings ansonsten einen eigenständigen Gewährleistungsgehalt ablehnt; restriktiver hinsichtlich einer erforderlichen „Überbetrieblichkeit“ hingegen Rudolf, in: Nomos Kommentar GrCh, Art. 28, Rn. 21; a.A. Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 156 ff., der diese mit repräsentativen Gewerkschaften gleichsetzt. 496  Patett, Arbeitskampfrecht und Art. 12 GG, S. 202 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 3; allgemein zu den Grundrechten der GrCh Kingreen, in: Callies/Ruffert, EU-GRCharta Art. 51, Rn. 18; a.A. Gooren, Tarifbezug, S. 259. 497  Wohl auch Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 4; für eine Arbeitskampffreiheit Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 72 f.; a.A. Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 20; offenlassend Rebhahn, in: GS Heinze, S. 653; den Unterschied zwischen Streikrecht und Streikfreiheit berücksichtigt Patett, Arbeitskampfrecht und Art. 12 GG, S. 203 hingegen nicht. Siehe zum Unterschied zwischen Streikrecht und Streikfreiheit die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“.

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2. Teil: Völkerrecht

pflicht der Grundrechtsadressaten ein Eingreifen zugunsten der Arbeitnehmer erfordern, um den Streik tatsächlich verwirklichen zu können.498

B.  Beschränkungsmöglichkeiten Nach Art. 52 Abs. 1 GrCh bestimmt sich, inwieweit die in der Charta anerkannten Rechte eingeschränkt werden dürfen. Zum einen muss die Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein und bedarf damit einer gesetzlichen Grundlage. Für diese genügt jedoch nach überwiegender Ansicht Richterrecht.499 Darüber hinaus muss die Einschränkung den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten dienen. Dabei ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren. Zudem müssen gemäß Art. 52 Abs. 3 GrCh die Voraussetzungen berücksichtigt werden, die sich in den entsprechenden Artikeln der EMRK für die Beschränkung von Grundrechten finden.500 Damit sind bei der Einschränkung des Art. 28 GrCh als Mindestvoraussetzungen die Vorgaben des Art. 11 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen.501 Auch im Rahmen der Beschränkungsmöglichkeiten wird diskutiert, wie der zuvor schon angesprochene Zusatz des Art. 28 GrCh zu berücksichtigen ist. Teilweise wird vertreten, dass der Verweis auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zu einer vereinfachten Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 52 Abs. 1 GrCh führe, bei dessen Beurteilung die Mitgliedsstaaten einen erheblichen Spielraum hätten.502 Andere wiederum werten den Zusatz als eigenständige Schranke des Art. 28 GrCh, die entweder parallel oder 498  Darauf weist Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 4 hin; ebenfalls Patett, Arbeitskampfrecht und Art. 12 GG, S. 203; vgl. zum leistungsrechtlichen Gehalt des Art. 28 GrCh Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 73 ff.; allgemein zu Art. 28 GrCh Jarass, in: Jarass GrCh, Art. 28, Rn. 4; allgemein zur fehlenden Drittwirkung der GrCh und der Lösung über die Schutzpflicht Kingreen, in: Callies/Ruffert, EU-GRCharta Art. 51, Rn. 18 und 23 ff.; siehe auch Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 71 ff., die staatliches Handeln einer „Förderpflicht“ zuordnen (speziell S. 74 ff.). 499  Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 56; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 372. 500  Siehe dazu die Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 GrCh Official Journal of the European Union, Explanations relating to the Charter of Fundamental Rights, (2007/C 303/02), abzurufen über die Datenbank der EU: http://eur-lex.europa.eu, Abruf am 5. 7. 2016; ebenso Brameshuber, EuZA 2016, 46, 59 f.; Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 12; Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 99 f.; Kingreen, in: Callies/Ruffert, EU-GRCharta Art. 52, Rn. 38. 501  Siehe dazu die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel, B., II. „Beschränkung nach Art. 11 Abs. 2 und Art. 14 Europäische Menschenrechtskonvention“. 502  Jarass, in: Jarass GrCh, Art. 28, Rn. 16 und zu Art. 52, Rn. 85; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 54.

3. Kap.: Exkurs: Nichtgewerkschaftlicher Streik im Unionsrecht

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anstelle des Art. 52 Abs. 1 GrCh herangezogen werden könne und nicht an dessen Voraussetzungen gebunden sei.503 Letztlich wird auch vertreten, dass dem Zusatz gar keine eigene Bedeutung für die Einschränkbarkeit zukomme und dafür ausschließlich Art. 52 Abs. 1 GrCh maßgeblich sei.504 Insbesondere der Zusatz Gepflogenheiten zeigt, dass die Charta Rücksicht auf einzelstaatliche Besonderheiten nimmt. Dieser Grundsatz wird auch nochmals ausdrücklich in Art. 52 Abs. 6 GrCh wiederholt. Diesem lässt sich am ehesten mit einem staatlichen Ermessensspielraum Rechnung tragen, der den Mitgliedsstaaten bei der Beschränkung des Art. 28 GrCh das Privileg eröffnet, landesspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen. Dies entspricht im Übrigen auch der bereits dargestellten Rechtsprechung des EGMR, der den Vertragsstaaten bei Beschränkungen nach Art. 11 Abs. 2 EMRK unter bestimmten Umständen einen Ermessensspielraum („margin of appreciation“) einräumt.505 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Art. 52 Abs. 1 GrCh ist daher bei Beschränkungen mit der Maßgabe anzuwenden, dass den Mitgliedsstaaten im Grundsatz ein weiter Ermessensspielraum zusteht.506 Im Übrigen ist das Modell einer doppelten Schranke abzulehnen, da es den Art. 52 Abs. 1 GrCh mit seinen speziell normierten Voraussetzungen obsolet machen würde. Für die Einschränkbarkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Rahmen des Art. 52 Abs. 1 GrCh kann daher ein Gleichlauf mit Art. 11 Abs. 2 EMRK angenommen werden. Der nichtgewerkschaftliche Streik kann insoweit eingeschränkt werden, wie den Arbeitnehmern die tatsächliche Möglichkeit eröffnet ist, als Verhandlungsdruckmittel den gewerkschaftlichen Streik zu nutzen. Nur in Situationen, in denen ein besonderes Bedürfnis für den nichtgewerkschaftlichen Streik besteht, kann dieser weder nach Art. 11 Abs. 2 EMRK noch nach Art. 52 Abs. 1 GrCh verboten werden.507 503  Maeßen, EuGH und deutsches Arbeitskampfrecht, S. 32 f.; Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 129 ff., der Art. 52 Abs. 1 GrCh als Schranke des Art. 28 GrCh ablehnt (S. 125 ff.). 504  Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 56 f.; wohl auch Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte, S. 107 f., die den Sinn des Zusatzes in der Akzentuierung der Ausgestaltungsbedürftigkeit des Art. 28 GrCh sehen (S. 61). 505  EGMR v. 8. 4. 2014 - 31045/10 (RMT/Vereinigtes Königsreich), NJOZ 2015, 1744, 1749, Rn. 87; siehe dazu ausführlich: Gooren, Tarifbezug, S. 224 ff.; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 305 ff. 506 Ebenso Jarass, in: Jarass GrCh, Art. 28, Rn. 16 und zu Art. 52, Rn. 85; Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 54; zustimmend Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 695; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 266. 507  Siehe zu Situationen, in denen ein Bedürfnis für nichtgewerkschaftliche Streiks besteht: Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 97; Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458 f., die dort ein Bedürfnis sieht, wo Gewerkschaften schwach organisiert sind; Bepler, in: FS Wißmann, S. 110 f.; Waltermann, EuZA 2015,

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2. Teil: Völkerrecht

4. Kapitel

Ergebnisse 4. Kap.: Ergebnisse

Die Auswertung der vier für den Streik relevanten Quellen des Völkerrechts und des Art. 28 GrCh hat ergeben, dass das generelle Gewerkschaftsmonopol in Deutschland nicht mit diesen im Einklang steht. Ein generelles Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks ist mit Art. 6 Nr. 4 ESC, Art. 11 Abs. 1 EMRK, Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 und Art. 28 GrCh und ihren entsprechenden Einschränkungsvorbehalten nicht vereinbar. Alle Bestimmungen setzen jedoch voraus, dass die streikenden Arbeitnehmer nicht als loser Zusammenschluss, sondern zumindest in einer verhandlungsfähigen nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition organisiert sind. Bei Art. 11 Abs. 1 EMRK gebietet dies der Gewerkschaftsbegriff, bei Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 28 GrCh die Verhandlungsfähigkeit des Kollektivs und bei Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 der Organisationsbegriff. Das streikende Kollektiv entspricht damit dem Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG, dessen Anforderungen allerdings in dieser Arbeit großzügig verstanden werden.508 Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR lässt hingegen aufgrund seines weiten Einschränkungsvorbehalts ein generelles Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks zu. Partielle Verbote des nichtgewerkschaftlichen Streiks sind möglich. Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 schützt den nichtgewerkschaftlichen Streik nur in notwendigen Situationen und fordert keine generelle Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks. Bei Art. 6 Nr. 4 ESC, Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 28 GrCh ist zu berücksichtigen, dass diese den nichtgewerkschaftlichen Streik auf Ebene des Schutzbereiches generell schützen. Einschränkungen sind nach Art. 31 Abs. 1 ESC, Art. 11 Abs. 2 EMRK und Art. 52 Abs. 1 GrCh grundsätzlich nur zugunsten bestimmter Ziele und im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig. Diese Vorgaben müsste der Staat bei partiellen Verboten des nichtgewerkschaftlichen Streiks berücksichtigen. Auf dieser Grundlage wären partielle Verbote dort zulässig, wo der gewerkschaftliche Streik für Arbeitnehmer zur Verfügung steht und ein wirkungsvolles Mittel ist, ein Verhandlungsgewicht mit dem Arbeitgeber zu erzielen. Für das vertragliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist festzuhalten, dass Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 ein suspendierendes Streikrecht enthalten. Dadurch wird die vertragliche Hauptpflicht zur Arbeitserbringung für die Dauer des Streiks suspendiert. Bei Art. 6 Nr. 4 ESC 15, 27. Siehe im Übrigen ausführlicher zu diesen speziellen Situationen die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 508  Siehe zum Koalitionsbegriff die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“.

4. Kap.: Ergebnisse

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besteht dieses auf Schutzbereichsebene generell und bei Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 nur in notwendigen Situationen. Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 28 GrCh beinhalten hingegen nur eine Streikfreiheit und richten sich ausschließlich an den Staat. Die Normen besitzen keine unmittelbare Drittwirkung für das Privatrecht. Allerdings könnte der EGMR in notwendigen Situationen, in denen der gewerkschaftliche Streik für Arbeitnehmer unzugänglich oder wirkungslos ist, die Verpflichtung eines Staates feststellen („positive obligation“), für den nichtgewerkschaftlichen Streik die Suspendierungswirkung anzuordnen. Ähnliches ist auch bei Art. 28 GrCh denkbar. Art. 6 Nr. 4 ESC, Art. 11 Abs. 1 EMRK, Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 und Art. 8 Abs. 1 lit. d IPwskR besitzen innerstaatliche Geltung in Deutschland. Allerdings ist keine der Normen wegen ihrer Unbestimmtheit anwendungsfähig und damit unmittelbar anwendbar. Daher können sich Bürger nicht vor nationalen Gerichten auf die völkerrechtlichen Gewährleistungen des Streiks berufen. Der deutsche Gesetzgeber und die deutschen Gerichte sind allerdings im Rahmen des Grundsatzes der völkerrechtsfreundlichen Auslegung an die Vorgaben des Völkerrechts gebunden. Dabei haben sie die entsprechende Spruchpraxis der Überwachungsgremien zu den jeweiligen völkerrechtlichen Normen zu berücksichtigen. Grundlage jeder Auslegung sind jedoch die Grundsätze, die sich aus den Art. 31, 32, 33 WVRK ergeben. Die Wirkung des Art. 28 GrCh ist wegen seines engen Anwendungsbereichs nicht unmittelbar auf einen rein nationalen Streik anzuwenden. Seine Vorgaben könnten allerdings durch den EGMR im Rahmen seiner Auslegung des Art. 11 Abs. 1 EMRK mittelbar relevant werden. Insgesamt kann der Prognose anderer Arbeiten zugestimmt werden, dass Vorgaben anderer völkerrechtlicher Verträge zum Streik durch die Rechtsprechung des EGMR rechtsverbindlicher werden und sich dadurch verstärkt auf das deutsche Arbeitskampfrecht auswirken können.509 Für den nichtgewerkschaftlichen Streik ist in erster Linie festzuhalten, dass das Völker- und Unionsrecht nicht fordert, dass gänzlich unorganisierte Streiks erlaubt sein müssen. Nichtgewerkschaftliche Streiks im Sinne eines chaotischen und einer nichtzusammenhängenden Mehrzahl an Arbeitnehmern werden durch das Völker- und Unionsrecht nicht geschützt. Auf der anderen Seite werden Streiks von Arbeitnehmerorganisationen geschützt, die nicht die in Deutschland für Gewerkschaften erforderliche soziale Mächtigkeit beziehungsweise Tariffähigkeit aufweisen.

509  So bereits ausführlich zu Art. 6 Nr. 4 ESC Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 456 f.; ebenfalls Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 294; vorsichtiger Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 106.

3. Teil

Grundgesetz 3. Teil: Grundgesetz

Im folgenden 3. Teil wird der Schutz des Streiks in der deutschen Verfassung herausgearbeitet. Das Grundgesetz ist neben dem Völkerrecht die primäre Erkenntnisquelle der streikrechtlichen Rechtsprechung des BAG. Wie bereits einleitend beschrieben, wird in dieser Arbeit von der These ausgegangen, dass der Streik in Deutschland nicht nur tariffähigen Gewerkschaften vorbehalten ist, sondern im Rahmen der Koalitionsfreiheit auch anderen Gruppen von Arbeitnehmern zusteht. Um diese These zu belegen, wird im Folgenden zuerst erläutert, warum die in Art. 9 Abs. 3 GG enthaltene Koalitionsfreiheit der grundrechtliche Anknüpfungspunkt des Streiks ist (1. Kapitel). Anschließend wird analysiert, wer Träger der Koalitionsfreiheit ist, und der sachliche Schutzbereich des Grundrechts im Überblick dargestellt (2. Kapitel). Darauf folgen eine umfassende Analyse des abwehrrechtlichen Schutzes des Streiks (3. Kapitel) und dessen Einbettung in die objektiv-rechtlichen Dimension der Koalitionsfreiheit (4. Kapitel) jeweils mit besonderem Fokus auf den nichtgewerkschaftlichen Streik. 1. Kapitel

Verortung des Streiks im Grundgesetz 1. Kap.: Verortung des Streiks im Grundgesetz

Anders als in der ESC ist eine wörtliche Garantie des Streiks oder des Arbeitskampfes in der deutschen Verfassung nicht enthalten.1 Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Schutz des Streiks nicht verfassungsrechtlich hergeleitet werden kann. Als wichtigstes Arbeitskampfmittel der Arbeitnehmer ist er jedenfalls dann ein Bestandteil des Art. 9 Abs. 3 GG, wenn die Koalitionsfreiheit den Arbeitskampf schützt.2

1  Anders beispielsweise in der spanischen, portugiesischen und griechischen Verfassung, dazu Rebhahn, NZA 2001, 763, 768 in Fn. 52. 2  Vgl. BVerfG, Beschl. v. 02. 03. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643, 1644.

1. Kap.: Verortung des Streiks im Grundgesetz

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A.  Verortung in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz In der Literatur werden der Arbeitskampf und der Streik heute fast ausnahmslos als Teile der Koalitionsfreiheit betrachtet und Art. 9 Abs. 3 GG zugeordnet.3 Das BVerfG und zuvor bereits das BAG haben diese grundrechtliche Einordnung bestätigt.4 Diese klare Zuordnung kann jedoch aus historischer Sicht verwundern. So sah der Verfassungsgeber von 1949 nach eingehenden Diskussionen von einer ausdrücklichen Aufnahme des Streiks in das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ab.5 Ein provisorischer Art. 12 in den Entwürfen des Grundsatzausschusses zum Grundgesetz (der heutige Art. 9 GG) hatte noch eine ausdrückliche Gewährleistung eines Streikrechts beinhaltet.6 Es wurde jedoch in der letzten Beratung durch den Hauptausschuss gestrichen, da man sich nicht über seine Grenzen einigen konnte und eine Aufnahme vielfältiger Kasuistik vermeiden wollte.7 Unter ande3  Zum Arbeitskampf: siehe nur Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 86; Gooren, Tarifbezug, S. 71; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 131; Jacobs, ZfA 2011, 71, 77; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 102; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 163; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 126 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 936: „Grundlage des Arbeitskampfrechts […] ist nach allgemeiner Überzeugung Art. 9 III“; Koch, in: Arbeitsrecht von A - Z, Arbeitskampf. Zum Streik: siehe nur Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 1 f.; Bepler, in: FS Wißmann, S. 99; Rüthers, ZRP 2015, 2, 4: „Dass auch die einzelnen Arbeitskampfmittel […] durch Art. 9 III GG geschützt sind, ist seit Jahrzehnten kaum noch streitig.“; Gross, GMH 1966, 559, 560; Epping, Grundrechte, S. 441; Blanke, NZA 1990, 209, 210; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 163; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 106. Gegen die Anknüpfung an Art. 9 Abs. 3 GG: Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 321 und Lenz, Freiheitsrechte, S. 262, die beide insgesamt einen Schutz der Koa­litionsbetätigungen durch Art. 9 Abs. 3 GG ablehnen. 4  Zum Arbeitskampf BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810; zum Streik BVerfG, Beschl. v. 02. 03. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1644: „Heute besteht Einigkeit darüber, dass das Streikrecht einen notwendigen Bestandteil der freiheitlichen Kampf- und Ausgleichsordnung darstellt, die durch Art. 9 III GG im Kern gewährleistet ist.“; aus der neueren Rechtsprechung vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494; BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 611/11, NZA 2013, 437, 442 f. 5  Dokumentiert bei Matz, JöR 1951, 116, 123; Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 166 f.; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 14. 6  Der vorläufige Art. 12 Abs. 4 lautete nach der ersten Billigung durch den Grundsatzausschuss: „Das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze anerkannt.“ Später einigte sich der Grundsatzausschuss auf die Formulierung: „Das Recht der gemeinschaftlichen Arbeitsniederlegung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wird anerkannt. Seine Ausübung wird durch Gesetz geregelt.“ (Nachweise bei Matz, JöR 1951, 116, 117; Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 167). 7  Matz, JöR 1951, 116, 123; Kittner, Arbeitskampf, S. 568; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 24; Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 167; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 14; Gross, GMH 1966, 559 f.; Ricken, in: Münch­HdbArbR II, § 195, Rn. 4.

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3. Teil: Grundgesetz

rem wird vermutet, dass dadurch ein Monopol der Gewerkschaften hinsichtlich des Streiks verhindert werden sollte.8 Der Grundsatz- und der Hauptausschuss waren sich jedoch mehrheitlich einig, dass die neue Koalitionsfreiheit im Gegensatz zur Weimarer Verfassung den Streik mitschützen solle.9 Die beschriebene Streichung des ausdrücklichen Streikrechts erfolgte auf Antrag des Abgeordneten Eberhard (SPD), der dadurch erreichen wollte, dass Beschränkungen des Streikrechts nicht auf Verfassungsebene, sondern nur auf Ebene des einfachen Rechts erfolgen würden.10 Zuvor hatte der Abgeordnete v. Mangoldt (CDU) noch ausdrücklich erklärt, dass man sich einig gewesen sei, dass die überkommenen Streikformen geschützt seien und nur der politische und der Beamtenstreik nicht zugelassen seien.11 Ein genereller Ausschluss des Streiks aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit ist daher aus historischer Sicht nicht anzunehmen.12 Für diese Auffassung spricht auch die im Jahr 1969 in Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG eingefügte „Notstandsklausel“.13 Sie lautet: „Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.“

8  Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 167; Konzen, ZfA 1970, 159, 170; a.A. Rüthers, Streik und Verfassung, S. 25; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 13 f., für die das geplante Streikrecht nur den gewerkschaftlichen Streik umfasste; ähnlich Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1088. Dies waren jedoch nur Einzelvorschläge, unter anderem der Gewerkschaften selbst (siehe Matz, JöR 1951, 116, 119 und 120). Der Grundsatzausschuss stimmte einem Gewerkschaftsmonopol nicht zu, sondern nur Formulierungen, die ein allgemeines Streikrecht enthielten (vgl.: Matz, JöR 1951, 116, 117 und 121 f.; Kittner, Arbeitskampf, S. 567 f.). 9  Vgl. insbesondere die Nachweise bei Matz, JöR 1951, 116, 122; ebenfalls Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 23 f.; Gross, GMH 1966, 559, 560; Säcker, BB 1971, 962; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 130 f.; Rüthers, Streik und Verfassung, S. 25. 10  Matz, JöR 1951, 116, 123. 11  Matz, JöR 1951, 116, 122. 12 So auch Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 24; Gross, GMH 1966, 559, 560; Scholz, in: HStR VIII, § 175, Rn. 17; Konzen, AcP 1977, 473, 493 f.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 130 f.; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 69 f.; Rüthers, Streik und Verfassung, S. 25 f.; vorsichtiger hingegen Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 14: „Die Bindung an diese Entscheidung verbietet es, dem Grundgesetz das Streikrecht im Wege der Verfassungsinterpretation unterzuschieben. Das schließt nicht aus, dass der Zweck der Koalitionsfreiheit in gewissen Umfang auch den verfassungsrechtlichen Schutz des Streiks gebietet.“ 13  Vgl. BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810.

1. Kap.: Verortung des Streiks im Grundgesetz

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Die Klausel führt nach überwiegender Auffassung nicht zu einer ausdrücklichen Garantie des Arbeitskampfes.14 Sie soll nur einen speziellen Schutz gegen Notstandmaßnahmen gewähren, die im Zuge der Notstandsgesetzgebung von 1969 möglich wurden.15 Sie kann aber als ein Hinweis darauf dienen, dass der grundrechtliche Schutz des Arbeitskampfes dem Art. 9 Abs. 3 GG zu entnehmen ist.16

B.  Verortung außerhalb von Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz Alternativ wird unter anderem vertreten, dass der Arbeitskampf durch die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlichen Schutz erfahren könne.17 Gegen die Zuordnung zu Art. 2 Abs. 1 GG spricht jedoch der verfassungsrechtliche Spezialitätsgrundsatz. In Fällen, in denen eine Zuordnung zu speziellen Grundrechten erfolgen kann, bedarf es der allgemeinen Handlungsfreiheit als „Auffanggrundrecht“ nicht.18 Die Koalitionsfreiheit stellt – vorausgesetzt sie beinhaltet auch einen Betätigungsschutz – ein speziell für die Koalitionsbetätigung geschaffenes Grundrecht dar und ist daher gegenüber Art. 2 Abs. 1 GG vorrangig.19 Der Arbeitskampf ist historisch nachweisbar eine der zentralen Betätigungsformen der Koalitionen,20 so dass er primär in Art. 9 Abs. 3 GG verortet werden muss. 14  BAG, Urt. v. 26. 04. 1988, 1 AZR 399/86, NZA 1988, 775; 777; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 13; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 150 f.; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 101; mit Bezug zur Aussperrung Konzen, AcP 1977, 473, 525; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 127; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 5; a.A. Wank, RdA 2009, 1, 3; Weitnauer, DB 1970, 1639, 1640, der Satz 3 eine Institutsgarantie für den gewerkschaftlichen Streik entnimmt. 15  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 13; Konzen, AcP 1977, 473, 525; Greiner, Rechtsfragen, S. 113; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 5. 16 Vgl. Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 151; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 101; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 13; Gooren, Tarifbezug, S. 55; Epping, Grundrechte, S. 441. 17 Vgl. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 321; Konzen, AcP 1977, 473, 521; Gross, GMH 1966, 559, 560, allerdings nur subsidiär zu Art. 9 Abs. 3 GG. 18  Siehe nur Lang, in: BeckOK GG, Art. 2 GG, Rn. 29; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 GG, Rn. 21. 19 BVerfG, Beschl. v. 30.  11. 1965, 2 BvR 54/62, NJW 1966, 491: „Der durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit geschützte Betätigungsbereich der Koalitionen kann nur nach der speziellen Vorschrift des Art. 9 Abs. 3 GG bestimmt werden; Art. 2 Abs. 1 GG muß hierfür außer Betracht bleiben.“; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 78; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 313; Gooren, Tarifbezug, S. 70 f.; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 45. 20  Richardi, in: FS Säcker, S. 287.

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3. Teil: Grundgesetz

C.  Zwischenergebnis Der Ausgangspunkt der folgenden verfassungsrechtlichen Untersuchung des Streiks ist somit die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG. Ihr ist der Streik zuzuordnen. Diese Auffassung ist heute fast unbestritten. Dagegen sind der Schutz­ umfang und die genaue Funktion des Streiks im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG bislang nicht eindeutig geklärt. Ein verfassungsrechtlicher Schutz des nichtgewerkschaftlichen und nichttarifbezogenen Streiks kann nur durch Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG bestimmt werden. Die dazu vertretenen Auffassungen werden im weiteren Verlauf dieses 3. Teils dargestellt und bewertet. 2. Kapitel

Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick 2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

Um die These vom Schutz des nichtgewerkschaftlichen und nichttarifbezogenen Streiks durch Art. 9 Abs. 3 GG belegen zu können, wird im Folgenden die Koalitionsfreiheit zunächst in ihren Grundzügen dargestellt. Angefangen beim personellen Schutzbereich (A.) wird anschließend der sachliche Gewährleistungsinhalt dargestellt. Dabei wird zwischen der subjektiv-rechtlichen Dimension (B.) und der objektiv-rechtlichen Dimension (C.) unterschieden.21 Auf der Grundlage dieser allgemeinen Einführung wird der Streik im folgenden 3. und 4. Kapitel in diese Struktur eingeordnet.

A.  Personeller Schutzbereich der Koalitionsfreiheit Der personelle Schutzbereich bestimmt darüber, wer durch die Koalitionsfreiheit geschützt wird. Nach dem Wortlaut gewährleistet Art. 9 Abs. 3 GG für Jedermann und für alle Berufe das Recht zur Bildung von Vereinigungen zur Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Drei Aspekte rücken damit in den Mittelpunkt: Erstens stellt sich die Frage, wer „Jedermann“ ist, zweitens, ob die sogenannten Koalitionen 22 (Vereinigungen zur Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen) ebenfalls direkt durch das Grundrecht geschützt werden und drittens, was die Voraussetzungen einer Koalition sind.

21 Siehe ausführlich zu dieser „unangezweifelten“ Zweidimensionalität der Grundrechte Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 52 ff.; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, S. 17; Epping, Grundrechte, S. 4 f. 22 Zu diesen Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 21; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 193.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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I.   „Jedermann-Grundrecht“ Die Aussage, dass die Koalitionsfreiheit für „Jedermann“ gilt, bedeutet, dass das Grundrecht keine bestimmten persönlichen Merkmale voraussetzt und sich auch Ausländer darauf berufen können.23 Als einzige Bedingung soll durch den Hinweis „alle Berufe“ ein Bezug des Grundrechtsträgers zu seiner beruflichen Sphäre bestehen, wenn er sich auf das Grundrecht beruft.24 Dies schließt insbesondere als wichtigste Gruppen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein.25 Das persönliche Kriterium „Jedermann“ stellt auf das Individuum als Grundrechtsträger ab und ist Anknüpfungspunkt der individuellen Dimension der Koalitionsfreiheit. Demgegenüber wird die kollektive Seite des Grundrechts weitaus kontroverser diskutiert als die individuelle Seite. Als Anknüpfungspunkt des Streits um die kollektive Dimension gilt die Frage, ob die Koalitionsfreiheit ein Doppelgrundrecht ist. II.  Doppelgrundrecht So ist umstritten, ob die Koalition als Zusammenschluss mehrerer Individuen überhaupt einen eigenständigen Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG erfährt. Dazu werden zwei Ansichten vertreten. Überwiegend wird in Rechtsprechung und Literatur angenommen, dass Art. 9 Abs. 3 GG neben dem Individuum auch die Koalition direkt schütze („Lehre vom Doppelgrundrecht“).26 Andere hingegen leiten den Schutz der Koalition über Art. 19 Abs. 3 GG her.27 23  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 27; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 67; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 3: „sog. Menschenrecht“ im Gegensatz zu Art. 9 Abs. 1 GG als „bloßes Bürgerrecht (Deutschenrecht)“. 24  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 27: „Gemeint sind Berufsangehörige, die ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gemeinsam wahren und fördern wollen.“; ­Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 3. 25  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 27 f.; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 28; ausführlich Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 178 ff.; BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809: „Die Koalitionsfreiheit gilt gem. Art. 9 III GG für jedermann und alle Berufe. Sie ist also, obwohl historisch vor allem den Arbeitnehmern vorenthalten und von diesen erstritten, nicht als Arbeitnehmer-Grundrecht ausgestaltet, sondern steht ebenso Arbeitgebern zu.“ 26  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 39: „Nach stRspr. des BVerfG und hM ist Art. 9 III ein Doppelgrundrecht. Geschützt ist nicht nur die Freiheit des Einzelnen, sondern darüber hinaus auch diejenige der Koalitionen selbst, also ihr Bestand, ihre organisatorische Ausgestaltung und ihre koalitionsspezifische Betätigung.“; Jacobs, Tarifeinheit, S. 415 f.; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 69; das BVerfG hat den Schutz der Koalition durch Art. 9 Abs. 3 GG bereits sehr früh bestätigt: BVerfG, Urt. v. 18. 11. 1954, 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881: „Die Auffassung, daß die Vereinigung selbst in den Schutz des Grundrechts der Koalitionsfreiheit mit einzubeziehen sei, trifft auch für das GG zu.“ 27  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 313; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 180 ff.; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 70 und 120; Scholz, ZfA 1990, 377, 381; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 23 ff.

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3. Teil: Grundgesetz

Für die Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks könnte sich an dieser Stelle eine Weichenstellung ergeben. Würde man annehmen, dass der Streik ausschließlich eine Betätigung von Koalitionen sei und würde man deren grundrechtlichen Schutz ausschließlich über Art. 19 Abs. 3 GG herleiten, wäre der Streik entsprechend der Vorgaben des Art. 19 Abs. 3 GG nur juristischen Personen zugänglich.28 Während Gewerkschaften von Art. 19 Abs. 3 GG umfasst sind,29 könnte zumindest bei sogenannten „ad-hoc Koalitionen“ zweifelhaft sein, ob diese als juristische Personen im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG einzuordnen sind.30 Wie jedoch im Rahmen der nachfolgenden Darstellung des Koalitionsbegriffs erläutert wird, wäre es verkürzt, eine nichtgewerkschaftliche Koalition nur auf das „ad-hoc“ Stadium zu reduzieren.31 Die Mitglieder der nichtgewerkschaftlichen Koalition können sich dazu entschließen, ihre Interessen über einen längeren Zeitraum zu bündeln und könnten sich dazu auch zu einer juristischen Person im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG zusammentun. Daher könnte – entgegen der Ausführungen von Engels32 – der nichtgewerkschaftliche aber koalitionsgeführte Streik theoretisch auch über Art. 19 Abs. 3 GG ein Bestandteil des Art. 9 Abs. 3 GG sein. Allerdings sprechen die besseren Argumente sowieso für die Lehre vom Doppelgrundrecht. So lässt sich insbesondere die ausdrückliche Nennung der Vereinigungen in Art. 9 Abs. 3 GG für die herrschende Meinung anführen, die einen Rückgriff auf Art. 19 Abs. 3 GG für nicht notwendig erachtet. Genauso wie bei anderen Grundrechten, wie beispielsweise der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 GG, wird die kollektive Ebene zum eigenständigen Inhalt des Grundrechts. Auch teleologische Argumente sprechen für einen direkten Schutz, da der Koalitionszweck, die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, in erster Linie durch die Betätigung des Kollektivs verwirklicht wird.33 Im Ergebnis ist der Rückgriff auf Art. 19 Abs. 3 GG nur ein „Umweg“34 und führt zu keiner Veränderung des persönlichen und sachlichen Schutzgehalts. Die Koalitionsfreiheit besitzt eine kollektive Dimension, so dass

28  Siehe zur Frage, ob der Streik ein Kollektivrecht oder ein Individualrecht mit kollektivem Vorbehalt ist, noch nachfolgende Ausführungen in diesem Gliederungspunkt. 29  Enders, in: BeckOK GG, Art. 19 GG, Rn. 35. 30 So zum „wilden Arbeitskampf“ Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253 f. 31  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, III., 1. „Begriff der Vereinigung“. 32  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 254. 33 Vgl. Jacobs, Tarifeinheit, S. 415 f.; vgl. Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 69, der auf den Arbeitskampf als kollektive Betätigung hinweist. 34  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 39.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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neben dem Individuum auch unmittelbar den Koalitionen ein grundrechtlicher Schutz zukommt. Die „Lehre vom Doppelgrundrecht“ führt dazu, dass der Streik überwiegend als Kollektivrecht betrachtet wird und dementsprechend ausschließlich aus der koalitionsgemäßen Betätigung hergeleitet wird.35 Daneben wird auch ein individualrechtliches Verständnis vertreten, dass den Streik zugleich als Individualrecht unter kollektivem Vorbehalt betrachtet und mit guter Begründung neben der kollektiven Betrachtung die Arbeitsniederlegung des einzelnen Arbeitnehmers berücksichtigt.36 Das BAG ordnet zumindest den Streikaufruf eines Gewerkschaftsmitglieds der individuellen Koalitionsfreiheit zu.37 Dies deutet darauf hin, dass der Arbeitskampf im Allgemeinen eine individualrechtliche Ebene besitzt.38 Auch in Anbetracht des individualrechtlichen Verständnisses des Streiks im Völkerrecht ist eine Einordnung als Individualrecht zu befürworten.39 Die Ausgangslage beider Ansichten ist jedoch dieselbe: Als kollektives Kampfmittel kann der Streik nie von einem einzelnen Arbeitnehmer allein ausgeübt werden.40 Eine ausführliche Auseinandersetzung kann daher unterbleiben. Für die Frage, ob der Streik gewerkschaftsgetragen sein muss, besitzt die Einordnung des Streiks als Kollektivrecht oder Individualrecht unter kollektiver Ausübung keine Auswirkung.41 In beiden Fällen bedarf es einer Koalition. Damit sind die Voraussetzun35  Vgl. dazu: Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 21; ausführlich Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 180 ff.; Jacobs, Tarifeinheit, S. 419 f.; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 29; Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 45; Rüthers, DB 1970, 2120, 2126 f.; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 118 f. 36  Bruhn, Tariffähigkeit, S. 87; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 34; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 166; vgl. Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, S. 71, § 4, Rn. 36 ff.; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 52; vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253; Konzen, AcP 1977, 473, 507; Raab, in: FS Otto, S. 413; Richardi, NZA 2014, 1233, 1236; Rudkowski, Streik in der Daseinsvorsorge, S. 13; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 30 f.; Picker, ZfA 2010, 586, 624 ff.; Reichold, ZTR 2012, 315, 318; ablehnend Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 106 ff. 37  BAG, Beschl. v. 15. 10. 2013, 1 ABR 31/12, NZA 2014, 319, 322. 38  So jedenfalls die Deutung von Linsenmaier, RdA 2015, 369, 375. 39  So auch Linsenmaier, RdA 2015, 369, 375. Siehe zum Völkerrecht die Ausführungen im 2. Teil, 2. Kapitel „Nichtgewerkschaftlicher Streik im Völkerrecht“. 40 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 6; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 34; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 70; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 31; vgl. Linsenmaier, RdA 2015, 369, 375; vgl. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 45; vgl. Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, S. 73, § 4, Rn. 41. 41 Ähnlich Evju, European Labour Law Journal 2011, 196, 213: „Which parties should be capable of calling a strike is, however, a completely different question“; anders Schansker, Beschränkung des Streikrechts, S. 62 f., die meint, dass „wilde“ Streiks wegen

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3. Teil: Grundgesetz

gen des Koalitionsbegriffes für diese Untersuchung relevanter. Daher wird dieser im nächsten Gliederungspunkt genauer analysiert und geprüft, ob das Gewerkschaftsmonopol und der Tarifbezug des Streiks dort verankert sind. III.  Koalitionsbegriff Nachdem festgestellt wurde, dass neben dem Individuum auch den Koalitionen grundrechtlicher Schutz zukommt, stellt sich im Folgenden die Frage, was eine Koalition im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG ausmacht. Eine positivrechtliche Definition der Koalition existiert nicht.42 Der Koalitionsbegriff lässt sich jedoch aus dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG herleiten.43 Es handelt sich um „Vereinigungen“ deren Zweck in der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ besteht. Im Folgenden ist daher einerseits zu ermitteln, welche Anforderungen an eine Vereinigung im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG zu stellen sind und welchen Inhalt der besondere Koalitionszweck besitzt. 1.  Begriff der Vereinigung Art. 9 Abs. 3 GG bezieht sich mit dem Begriff der Vereinigung auf die Vereinigung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 GG.44 Daher muss jede Koalition grundsätzlich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 GG erfüllen und darüber hinaus den Koalitionszweck verfolgen.45 Überwiegend werden die Kriterien für eine Vereinigung dem § 2 Abs. 1 Vereinsgesetz entnommen, der eine Legaldefinition für den Verein enthält.46 Danach bedarf es für einen Verein eines freiwilligen und für längere Zeit andauernden Zusammenschlusses natürlicher oder juristischer Personen zu einem gemeinsamen Zweck, wobei eine organisierte Willensbildung gesichert sein muss. Zwar ist diese Anknüpfung hilfreich, doch darf der verfassungsrechtliche Vereinigungsbegriff nicht ausschließlich durch das unterverfassungsrechtliche Vereinsgesetz determiniert werden. Genauso wie der Koalitionszweck eine gewisse zukunftsbezogene Offenheit beinhaltet, muss dies auch für des Gebots der kollektiven Geltendmachung unzulässig seien und dabei nicht berücksichtigt, dass hinter nichtgewerkschaftlichen Streiks ebenfalls ein Kollektiv steht. 42  Bruhn, Tariffähigkeit, S. 17. 43  Siehe dazu Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 73 ff.; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 21 ff. 44  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 55; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 22; Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 58. 45  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 55. 46  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 57; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 4; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 188, Rn. 12; Dumke, Streikrecht ESC, S. 222; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 81.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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den Vereinigungsbegriff angenommen werden.47 Zudem sollte die Koalitionsfreiheit nicht durch „überspannte Anforderungen ausgehöhlt werden“48. In erster Linie ist jedes einzelne Kriterium mit dem besonderen Koalitionszweck in Einklang zu bringen.49 Insbesondere für das zeitliche Kriterium ist zu berücksichtigen, dass an dieses keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind.50 Solange die Vereinigung ihrer besonderen Aufgabe auch dadurch gerecht werden kann, dass sie nur für einen begrenzten Zeitraum existiert, kann ihr die Koalitionseigenschaft nicht allein deshalb verwehrt werden.51 Wichtig ist nur, dass die Koalition eine gewisse Stabilität aufweist, um als Ansprechpartner für den Koalitionspartner oder Dritte zur Verfügung zu stehen.52 Das wichtige Kriterium der organisierten Willensbildung sorgt in diesem Zusammenhang für einen funktionierenden Gesamtwillen des Kollektivs. So wird eine bloße Ansammlung unterschiedlicher Meinungen verhindert und die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Vereinigung handlungsfähig ist.53 Im Zusammenhang mit der zeitlichen Komponente ist in Bezug auf den nichtgewerkschaftlichen Streik zu erwähnen, dass dessen rechtliche Bewertung teilweise ausschließlich von der Zulässigkeit der „ad-hoc Koalition“ abhängig ge47 

Rüthers, DB 1970, 2120, 2122; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 194. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 25; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 46. 49  Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 194: „Der verfassungsrechtliche Koalitionsbegriff ist funktional zu bestimmen; ihm ist gleichzeitig ein Maß an entwicklungspolitischer Offenheit zu eigen.“ 50  Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 45, in Fn. 152; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 27; Zachert, AuR 2001, 401, 404, in Rn. 45; vgl. Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 206; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 188, Rn. 13; vgl. Dumke, Streikrecht ESC, S. 223; das Erfordernis einer „Dauerorganisation“ vollständig ablehnend Reuss, AuR 1965, 97, 98. 51  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 57, wonach nur ein „Augenblicksverband“ nicht genügt, der nicht über die Gründungsversammlung hinaus besteht. Auch ad-hoc Koalitionen mit einem einmaligen Ziel sollen unter den Vereinigungsbegriff fallen; Rieble, RdA 2005, 200, 206; Weller, AuR 1967, 76, 80; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 22; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 27; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 86; Ramm, AuR 1964, 353, 361; a.A. Hamacher/ van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 6. 52  Rieble, RdA 2005, 200, 206; Dumke, Streikrecht ESC, S. 223; vgl. ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353, das zwar den nichtgewerkschaftlichen Streik anerkennt, aber einen Streiksprecher der Koalition fordert; für eine „verantwortliche Leitung“ Reuss, AuR 1965, 97, 99; vgl. Reichold, ZTR 2012, 315, 319. 53 Vgl. Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 58; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 86 mit Verweis auf Rn. 26; Dumke, Streikrecht ESC, S. 223 f. 48 

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3. Teil: Grundgesetz

macht wird. So berufen sich manche zum Nachweis der Rechtswidrigkeit des nichtgewerkschaftlichen oder „wilden“ Streiks auf eine angebliche Unzulässigkeit der „ad-hoc Koalition“.54 Dem ist jedoch zu entgegnen, dass ein nichtgewerkschaftlicher Streik nicht nur von einer „ad-hoc Koalition“ organisiert werden kann.55 Nichtgewerkschaftliche Koalitionen können über den ad-hoc Status hinaus bestehen und erst dann zu Streikmaßnahmen greifen. Daher lässt sich die Unzulässigkeit des „wilden Streiks“ nicht mit der bloßen Ablehnung der „ad-hoc Koalition“ begründen. Im Übrigen bestehen berechtigte Zweifel an der Ausgrenzung der „ad-hoc Koalition“ aus dem personellen Schutzbereich der Koalitionsfreiheit. Für sie gelten die zuvor gemachten Ausführungen. Sie ist eine Koalition im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG, wenn sie die beschriebene Stabilität aufweist und dadurch fähig ist, den Koalitionszweck zu verfolgen.56 Allerdings ist damit noch nicht der Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks nachgewiesen.57 Dafür muss im Verlauf dieser Arbeit noch der Nachweis erbracht werden, dass der (nichttarifbezogene) Streik eine geschützte Betätigung nichtgewerkschaftlicher Koalitionen ist.58 54 Siehe beispielsweise Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1088; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 242; vgl. Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 74: „praktische Bedeutung hat dies [die Zulässigkeit der ad-hoc Koalition, Anm. d. Verf.] u.a. für die rechtliche Beurteilung ,wilder‘ Streiks.“; Rüthers, DB 1970, 2120, 2127 f.; vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253 f., der den „wilden Arbeitskampf“ mit „ad-hoc Koalitionen“ gleichsetzt. 55  Ramm, AuR 1971, 65, 74; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 56 und Rn. 115, der zwar gegen den Schutz der „ad-hoc Koalition“, aber für den Schutz des „wilden, d.h. dem nicht gewerkschaftlich geführten Streik“ ist. 56  Für einen Schutz der „ad-hoc Koalition“: Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 45, in Fn. 152; Dumke, Streikrecht ESC, S. 228; Rieble, RdA 2005, 200, 206; Reuss, AuR 1965, 97, 98 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253; Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 117; Zachert, AuR 2001, 401, 404, insb. Rn. 45; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 20 f.; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 27; wohl auch Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 86; Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 59, in Fn. 231; Löwisch/ Rieble, in: TVG Kommentar, § 2 TVG, Rn. 56; Reichold, ZTR 2012, 315, 319; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 188, Rn. 13; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49; für den Schutz eines „vorübergehenden Zusammenschluß einer Anzahl von ArbN desselben Betriebes zum Erreichen eines einmaligen Zieles“ durch Art. 9 Abs. 3 GG auch BAG, Urt. v. 28. 4. 1966; 2 AZR 176/65; AP Nr. 37 Art. 9 Arbeitskampf, Blatt 462; vgl. Bruhn, Tariffähigkeit, S. 166 f.; gegen einen Schutz: Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 56, der „ad-hoc Koalitionen“ undifferenziert als grundsätzlich instabil bezeichnet; ähnlich auch die anderen Vertreter: Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 6; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 44; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 91; Kluth, in: Berliner Kommentar GG, Art. 9, Rn. 146. 57  Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 117; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 22. 58  Siehe dazu die spätere Untersuchung zur Reichweite des sachlichen Schutzbereiches im 3. Teil, 3. Abschnitt, A. „Streik als Element der Betätigungsfreiheit“.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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Über die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Vereinsgesetz hinaus setzt der Koa­ litionsbegriff mit der Gegnerfreiheit und der Gegnerunabhängigkeit zwei weitere Kriterien voraus. Beide werden aus dem Koalitionszweck hergeleitet und gebieten, dass eine Koalition von ihrem sozialen Gegenspieler personell und wirtschaftlich unabhängig ist.59 Nur so ist gewährleistet, dass die Koalitionen die Interessen ihre Mitglieder vertreten können und im Zusammenspiel mit dem Koalitionspartner ihrer Ordnungsfunktion gerecht werden.60 Mitunter wird die Gegnerunabhängigkeit durch das Kriterium der Überbetrieblichkeit ergänzt. Dementsprechend wird teilweise vertreten, dass eine Koalition betriebsübergreifend organisiert sein muss.61 Dieses Kriterium würde jedoch zum Ausschluss von Vereinigungen führen, die sich ausschließlich der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in einem einzelnen Betrieb widmen. Zudem würde es die Neugründung von Koalitionen erschweren. Daher ist dieses Kriterium abzulehnen.62 Weitere Kriterien sind an den Koalitionsbegriff nicht zu stellen.63 Vor allem sind die Kriterien der Tariffähigkeit oder sozialen Mächtigkeit nach allgemeiner Ansicht keine Voraussetzungen des Koalitionsbegriffes.64 Sie führen dazu, dass eine Koalition als Gewerkschaft einzustufen ist und gelten nur als Voraus-

59  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 60; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 12 f.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 208; Epping, Grundrechte, S. 440; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 16; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 77. 60 Vgl. Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 77. 61  Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 212; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 32; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 160; hingegen zu Recht nur als ein widerlegbares Indiz der Gegnerunabhängigkeit: Epping, Grundrechte, S. 440; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 78; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 60; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 14. 62  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 65; Bruhn, Tariffähigkeit, S. 177 ff.; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 188, Rn. 16 ff.; vgl. Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 60; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 25: „Überbetrieblichkeit ist […] allenfalls Indiztatsache […].“; differenzierend Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 46, Fn. 159; zur „Überbetrieblichkeit“ als Teil des Gewerkschaftsbegriff Stelling, NZA 1998, 920, 924 f. 63 Siehe Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 69. 64  Mit umfassender Darstellung Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 77 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 194; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 21; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 50; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 69; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 16; Reuss, AuR 1965, 97, 98; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 79 f.; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 46; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 31 f; Schönhöft/Klafki, NZA-RR 2012, 393 f.; BVerfG, Urt. v. 18. 11. 1954, 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881, 1882; BAG, Urt. v. 22. 5. 2012, 1 ABR 11/11, NZA 2012, 1176, 1178.

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3. Teil: Grundgesetz

setzungen für das unterverfassungsrechtliche TVG.65 Koalitionsbegriff und Gewerkschaftsbegriff sind zu trennen.66 Eine Gewerkschaft ist nur eine besondere Koalitionsform, die durch das TVG mit der besonderen Befugnis zum Abschluss normativ wirkender Tarifverträge ausgestattet ist. Der Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG ist hingegen weiter als der Gewerkschaftsbegriff und schützt daher auch die Betätigung nichttariffähiger Koalitionen.67 Somit spricht jedenfalls der personelle Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG gegen das streikrechtliche Gewerkschaftsmonopol.68 2.  Bedeutung des Koalitionszwecks Um durch die Koalitionsfreiheit geschützt zu werden, muss der Zweck einer Koalition in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen.69 Es handelt sich dabei um eine grundrechtsimmanente Beschränkung, die als negative Abgrenzung zu anderen inhaltlichen Bereichen wie allgemeinpolitischen Themen fungiert.70 Zudem grenzt der Koalitionszweck die spezielle Koalitionsfreiheit von der allgemeinen Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 GG ab.71 65 BAG, Beschl. v. 19.  9. 2006, 1 ABR 53/05, NZA 2007, 518 520; BAG, Beschl. v. 22. 5. 2012, 1 ABR 11/11, NZA 2012, 1176, 1178; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 16; Klumpp, in: Gewerkschaften im dritten Weg, S. 14. 66 Siehe nur Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 33; Epping, Grundrechte, S. 440; vgl. Däubler, AuR 1998, 144, 146; a.A. wohl Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 465, der beide Begriffe gleichsetzt. 67  BAG, Beschl. v. 22. 5. 2012, 1 ABR 11/11, NZA 2012, 1176, 1178: „Der Ast. ist eine Arbeitnehmervereinigung, die mangels Tariffähigkeit noch nicht die Anforderungen einer Gewerkschaft erfüllt. Auch als nicht tariffähige Koalition fällt er jedoch in den Schutzbereich des Art. 9 III GG.“; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 25; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 326 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 236; Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 210; Koch, in: Arbeitsrecht von A - Z, Koalitionsfreiheit; Schönhöft/Klafki, NZARR 2012, 393 f.; zum Arbeitskampf Gooren, Tarifbezug, S. 150; Paukner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 108; undifferenziert dagegen BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 611/1, NZA 2013, 437, 442 f., das im selben Zusammenhang einerseits von „Arbeitnehmerkoalitionen“ und andererseits von „Gewerkschaften“ spricht. 68 Vgl. Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 326 f.; Zachert, AuR 2001, 401, 404; Ramm, AuR 1964, 353, 361; Gooren, Tarifbezug, S. 150: „Er [der Arbeitskampf, Anm. d. Verf.] ist zwar nicht gewerkschafts-, wohl aber koalitionsgebunden.“; vgl. Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 210 f. 69  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 23; Dumke, Streikrecht ESC, S. 222; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 75. 70  Thüsing/Ricken, Jahrbuch Arbeitsrecht 2004, 113, 118; Gooren, Tarifbezug, S. 87. 71  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 219; vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 193; Gooren, Tarifbezug, S. 80.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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Der Begriff „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ verkörpert die Aufgabe der Koalitionen, arbeitsbezogene Konflikte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auszutragen und zu überwinden.72 Dadurch misst der Staat den Koalitionen eine besondere und unabhängige Ordnungsfunktion zu.73 Beide Seiten müssen dafür dieselbe Durchsetzungskraft besitzen. Das Verhandlungsgleichgewicht zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite ist daher einer der primären Inhalte der Koalitionsfreiheit.74 Die Koalitionsfreiheit zielt jedoch nicht nur auf einvernehmliche Regelung zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen ab.75 Der Koalitionszweck kann auch in Form politischer Interessendarstellung oder durch arbeitsgerichtliche Vertretung der Koalitionsmitglieder verfolgt werden, ohne dass mit diesen anerkannten Betätigungen eine Einigung der Koalitionspartner bezweckt wird.76 Auch das BVerfG vertritt diese Auffassung, indem es beispielsweise die Auslegung von Unterschriftenlisten als koalitionsspezifische Betätigung ansieht.77 Aus inhaltlicher Perspektive ist es wichtig, die Begriffe Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen kumulativ zu verstehen.78 Dementsprechend muss der Begriff der Wirtschaftsbedingungen auf den Bereich des Arbeitsverhältnisses reduziert werden.79 So sind beispielsweise unternehmensinterne Entscheidun72 

Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 194. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 193; Epping, Grundrechte, S. 440. 74  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 112; vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 183 und 287; Zwanziger, RdA-Beil. 2009, 10, 11 in Fn. 10; vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.6. 1991, BvR 779/85, NZA 1991. 809, 811, wonach zum unantastbaren Kernbereich der Koalitionsfreiheit „die Verhandlungsfähigkeit beider sozialer Gegenspieler gehöre“. 75  So auch Gooren, Tarifbezug, S. 92 ff., der richtigerweise unterstreicht, das Grundrecht sei nicht nur auf das Verhältnis der Koalitionspartner zueinander begrenzt; Löwisch/ Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 21. 76 Vgl. Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 57; Löwisch/Rieble, in: MünchHdb­ ArbR II, § 155, Rn. 27; mit Beispielen zu koalitionsspezifischen Betätigungen Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 189, Rn. 22 ff. 77  BVerfG, Beschl. v. 6. 2. 2007, 1 BvR 978/05, NZA 2007, 394, 395: „zu der geschützten Betätigungsfreiheit [gehört] auch das Recht, im gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die organisierten Gruppeninteressen gegenüber dem Staat und den politischen Parteien darzustellen und zu verfolgen.“ 78  Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 256; Gooren, Tarifbezug, S. 86 f.; Söllner, NZA 1996, 897, 898; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 10; Epping, Grundrechte, S. 440; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 188, Rn. 20; Thüsing/Ricken, Jahrbuch Arbeitsrecht 2004, 113, 118. 79  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 219 f.; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 10; Gooren, Tarifbezug, S. 87 f. und 91 f.; vgl. Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 47; Rieble, RdA 2005, 200, 204, der die Koalitionsfreiheit auf den Arbeitsvertrag reduzieren will: „Die Koalitionsfreiheit zielt auf die Kompensation der Regelungsschwäche des Arbeitsvertrags – aber nicht auf Beseitigung des die Privatautonomie beherrschenden Vertragsprinzips.“ 73 

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3. Teil: Grundgesetz

gen in dem Maße vom Koalitionszweck ausgenommen, wie sie sich nicht auf das Arbeitsverhältnis auswirken. Führen sie jedoch zum Wegfall von Arbeitsplätzen, ist der Koalitionszweck thematisch einschlägig. Der Koalitionszweck muss sich darüber hinaus neuen Entwicklungen anpassen können und ist daher offen formuliert.80 Eine „abschließende Katalogisierung der ,Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen‘ […] ist daher nicht möglich“81, sondern kann nur einzelfallbezogen erfolgen. Das Begriffspaar ist in einem weiten Sinne als „Gesamtheit der Bedingungen, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird“82, zu verstehen. Die genauen Grenzen sind umstritten, so dass die Bestimmung des Koalitionszwecks in Einzelfällen zum Streitpunkt werden kann.83 Für die Frage, ob ein Streik nur durch eine Gewerkschaft und nur zum Abschluss eines Tarifvertrages geführt werden darf, wird an späterer Stelle noch auf den Koalitionszweck zurückzukommen sein.84 3.  Zusammenfassung Neben dem Schutz des Individuums umfasst der personelle Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG insbesondere einen Schutz der Koalitionen. Das Grundrecht weist wie die Religionsfreiheit eine kollektive Schutzdimension auf. Anknüpfungspunkt für die kollektive Schutzdimension ist der Koalitionsbegriff, der sich nicht nur auf Gewerkschaften beschränkt. Auch nichttariffähige Arbeitnehmerkoalitionen werden durch die Koalitionsfreiheit geschützt. Auf welche Betätigungen sich der Schutz der Koalitionsfreiheit inhaltlich bezieht, wird im nächsten Absatz erläutert.

80  Gooren, Tarifbezug, S. 92; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 259; Thüsing/ Ricken, Jahrbuch Arbeitsrecht 2004, 113, 118. 81  Gooren, Tarifbezug, S. 88; Thüsing/Ricken, Jahrbuch Arbeitsrecht 2004, 113, 118. 82  Söllner, NZA 1996, 897, 898; vgl. Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 15. 83  Siehe dazu Gooren, Tarifbezug, S. 89 ff., der ebenfalls für ein weites Verständnis des Koalitionszwecks plädiert und gegen einen Ausgleich der Koalitionsfreiheit mit den eigenständigen Unternehmerinteressen nach Art. 12 Abs. 1 GG auf Schutzbereichsebene eintritt (S. 91); ähnlich Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 24; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 188, Rn. 21: „Klare Grenzziehungen sind angesichts der bestehenden Entwicklungsoffenheit kaum möglich.“; anders Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 24, der die fallbezogene Herstellung praktischer Konkordanz bereits auf Ebene des Koalitionszweckbegriffes fordert. 84  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, A. „Streik als Element der Betätigungsfreiheit“.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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B.  Subjektiv-rechtliche Dimension: Koalitionsfreiheit als Abwehrrecht Der Grundrechtsschutz für den Grundrechtsträger erstreckt sich auf einen bestimmten sachlichen Bereich. Sachlich bedeutet im Gegensatz zum personellen Gehalt nicht wer geschützt ist, sondern was geschützt ist. Unterteilt wird der Schutzumfang eines Grundrechts in die subjektiv-rechtliche und die objektiv-rechtliche Dimension.85 Die subjektiv-rechtliche Seite verkörpert neben wenigen direkten Leistungsansprüchen in erster Linie den abwehrrechtlichen Teil eines Grundrechtes und umfasst mit letzterem all das, was vor Eingriffen durch den Staat geschützt werden soll.86 Das Abwehrrecht ist „von Haus aus als subjektives Recht konzipiert“ und gewährt einen direkten einklagbaren Anspruch auf Unterlassung der staatlichen Einmischung.87 Die „Ausnahmeerscheinung“88 subjektiv-rechtlicher Leistungsansprüche gegen den Staat ist nach überwiegender Auffassung nur Teil einiger weniger Grundrechte und nicht der Koalitionsfreiheit zu entnehmen.89 Den Schwerpunkt der folgenden Betrachtung wird daher das Abwehrrecht bilden. Zuerst wird abstrakt die Funktion des grundrechtlichen Abwehrrechts dargestellt. Anschließend wird konkret in Bezug auf die Koalitionsfreiheit ermittelt, welche Bereiche das Grundrecht vor Eingriffen durch den Staat abwehrrechtlich schützt. I.  Abstrakte Einordnung der Grundrechte als Abwehrrechte Die Abwehrfunktion der Grundrechte, die Eingriffe des Staates in grundrechtlich geschützte Güter und Verhaltensweisen zu verhindern sucht, gilt als der primäre Inhalt der Grundrechte.90 Bei einer staatlichen Beeinträchtigung 85 Vgl. Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 52 ff.; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, S. 17; Epping, Grundrechte, S. 4 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 66; Dreier, Jura 1994, 505 ff.; siehe zur objektiv-rechtlichen Dimension der Koalitionsfreiheit die Ausführungen im nachfolgenden 3. Teil, 2. Kapitel, C. „Objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit“. 86  Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 55 f.: „insbesondere Abwehrrechte und in engen Grenzen Leistungsrechte“; zustimmend zum Abwehrrecht Dreier, Jura 1994, 505 f., der allerdings für originäre Leistungsrechte als Teil der subjektiv-rechtlichen Dimension „keine Basis“ sieht (dazu S. 508). 87  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 10. 88  Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 61. 89  Scholz, in: HStR VIII, § 175, Rn. 11; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 115; für ein enges Verständnis von Leistungsrechten nur bei ausdrücklich-positiven Entscheidungen; Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 62; ebenfalls für einen engen Anwendungsbereich in Bezug auf Ausnahmetatbestände Dreier, Jura 1994, 505, 507 f. 90  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 258; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 162; Epping, Grundrechte, S. 5.

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3. Teil: Grundgesetz

des sachlichen Schutzbereiches wird die sogenannte negatorische Funktion der Grundrechte gegenüber dem Staat ausgelöst.91 Dies bedeutet, dass eine staatliche Beeinträchtigung eine Rechtfertigungslast erzeugt und dem Grundrechtsträger einen Anspruch auf Unterlassung oder Beseitigung gewährt, falls der Eingriff nicht gerechtfertigt werden kann.92 Um eine Verletzung des Grundrechts zu vermeiden, muss sich der Staat bei der Beeinträchtigung des sachlichen Schutzbereiches im Rahmen der je nach Grundrecht unterschiedlich strengen Eingriffs­ ermächtigung bewegen (Grundrechtsvorbehalt) und den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.93 Die Grundrechte besitzen unterschiedliche Gewährleistungen. Daher variiert auch der Bezugspunkt des Abwehrrechts. Es schützt je nach Grundrecht bestimmte Zustände wie die körperliche Unversehrtheit, natürliche Betätigungen der Grundrechtsträger oder davon zu trennende rechtliche Einflussmöglichkeiten.94 Diese Differenzierung zwischen natürlichen und normativen Freiheiten betrifft eine im weiteren Verlauf dieser Arbeit wichtige Unterscheidung.95 Unter einer natürlichen Freiheit des Grundrechtsträgers werden grundrechtlich geschützte Handlungen verstanden, zu denen dieser von Natur aus fähig ist. Von staatlicher Seite bedarf es keiner gesetzlichen Regelungen, damit der Grundrechtsträger handeln kann.96 Natürliche Freiheiten werden durch das Abwehrrecht geschützt.97 Inwieweit dagegen normative Freiheiten abwehrrechtlich vor Eingriffen durch den Staat geschützt werden, ist noch nicht endgültig geklärt.98 Sie entstehen erst durch den Gesetzgeber, indem dieser durch ein Gesetz Verhal91 Siehe zu der diesbezüglich „nahezu einhelligen“ Dogmatik Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 74 ff. 92  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 2; Dreier, Jura 1994, 505, 506 f. 93  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 123; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 309 f. 94 Vgl. Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 57 f.; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 59 ff. 95 Dazu Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 64 ff.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 89 ff. und später im 3. Teil, 3. Kapitel, B. „Streik als natürliche und normative Freiheit“. 96  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 259; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 91 f.; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 64; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S.  163 f.; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 60, der jedoch begrifflich von sachgeprägten Gegenständen im Gegensatz zu rechtsgeprägten Gegenständen spricht. 97  Siehe nur Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 163; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 209 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 259 f.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 78. 98 Inwieweit normativen Freiheiten abwehrrechtlicher Schutz zukommt, wird im 3. Teil, 3. Kapitel, B., II. „Abwehrrechtlicher Schutz“ am Beispiel des Streiks genauer erläutert.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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tensmöglichkeiten konstituiert und so dem Grundrechtsträger bestimmte Handlungen ermöglicht, zu denen er nicht von Natur aus fähig ist.99 Die Unterscheidung beider Freiheitstypen kann am Beispiel der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und der Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) veranschaulicht werden. Die Meinungsfreiheit schützt eine natürliche Freiheit.100 Um eine Meinung zu artikulieren, bedarf der Grundrechtsträger keines staatlichen Gesetzes, da die Sprache dem Menschen angeboren ist. Das Eigentum ist hingegen eine normative Freiheit.101 Zwar existieren Gegenstände in natürlicher Form, doch werden sie erst durch eine gesetzliche Zuordnung zum Eigentum. Der Gesetzgeber muss definieren, was Eigentum ist und wie die natürlichen Gegenstände in das Eigentum des Grundrechtsträgers gelangen können.102 Wie der Streik in dieses System einzuordnen ist und ob er eine natürliche, normative oder zweigeteilte Freiheit ist, wird im späteren Verlauf dieser Arbeit analysiert.103 Zuerst werden im nachfolgenden Absatz alle Inhalte des sachlichen Schutzgehalts der Koalitionsfreiheit erläutert. Dies erleichtert eine spätere Zuordnung des Streiks zu diesen Kategorien und hilft, den abwehrrechtlichen Schutz­ umfang des Streiks bestimmen zu können. II.  Abwehrrechtlicher Inhalt der Koalitionsfreiheit Der abwehrrechtliche Inhalt eines Grundrechts wird durch seinen Schutzbereich vorgegeben.104 Dieser kann in manchen Fällen unmittelbar dem Wortlaut des jeweiligen Grundrechtes entnommen werden oder durch methodengerechte Auslegung des Grundrechtes ermittelt werden. Dazu wird das Grundrecht in einem systematischen, historischen und teleologischen Kontext untersucht. 1.  Schutz der Bildungsfreiheit Die Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG beinhaltet wörtlich das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Dieses Recht wird für jedermann und für alle Berufe gewährleistet und somit verfassungsrechtlich garantiert. Der Terminus „Gewähr99  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 259; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 61; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 64; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 89 f. 100  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 65; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 89. 101  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 69; vgl. Axer, in: BeckOK GG, Art. 14 GG, Rn. 7. 102  Axer, in: BeckOK GG, Art. 14 GG, Rn.7 f.; Schmidt, in: ErfK, Art. 14 GG, Rn. 2. 103  Siehe 3. Teil, 3. Kapitel, B. „Streik als natürliche und normative Freiheit“. 104 Vgl. Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 2 und 56 ff., der statt des Terminus „Schutzbereich“ den gleichwertigen Begriff „Schutzgut“ verwendet.

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3. Teil: Grundgesetz

leistung“ lässt sich auf den Begriff der Freiheit zurückführen und verkörpert die Unerwünschtheit staatlicher Beeinflussung.105 Die Koalitionsfreiheit stellt daher ein Freiheitsrecht dar.106 Aufgrund des klaren Wortlauts herrscht Einigkeit, dass die Bildung von Koa­ litionen abwehrrechtlich geschützt ist.107 Angesichts der bereits beschriebenen Doppelfunktion der Koalitionsfreiheit, neben einem individuellen auch einen kollektiven Schutz zu gewährleisten, werden der Einzelne sowie die Koalition selbst durch die Bildungsfreiheit geschützt.108 Umfasst sind neben der Gründung alle Tätigkeiten, die in den Bereich der Gründung fallen. Dies sind beispielsweise die Entscheidung über das „Ob“ der Gründung oder Gründungsmodalitäten wie die Organisations- und Rechtswahl.109 Über diesen engen Bereich hinaus werden alle Tätigkeiten geschützt, ohne die die Gründung wertlos wäre. Dazu zählen unter anderem das individuelle Beitritts- und Austrittsrecht sowie das Recht in der Koalition zu verbleiben.110 Denn es gilt zu berücksichtigen, dass „die Bildung der Vereinigung schon begrifflich nicht mit der Gründung endet“111. Die jederzeitige Möglichkeit der Koalitionsbildung mündet daher in einer ständigen Existenz, so dass die Bildungsfreiheit auch einen Bestandsschutz umfasst, auf den sich die Koalition berufen kann.112 Speziell in die kollektive Bildungsfreiheit fallen im Übrigen innere Rechte der Koalition wie die Organisation der Willensbildung und die Schaffung von Organisationsstrukturen.113 Wie bereits im Rahmen des Koalitionsbegriffes erläutert, wird die Koalitionsfreiheit allerdings durch den ausdrücklich genannten Koalitionszweck begrenzt.114 Die Bildungsfreiheit ist daher nur insoweit geschützt, wie die „Wah105 Vgl.

Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 62. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 14. 6. 1983, 2 BvR 488/80, NJW 1984, 1225; Höfling, in: FS Friauf, S. 378; Kittner, in: FS Jaeger, S. 492; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 73. 107  Siehe nur Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 9; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 66; BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809 f.; BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1056. 108  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., II. „Doppelgrundrecht“. 109  Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 134 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 152. 110  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 152; Jacobs, Tarif­ einheit, S. 412; BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1056. 111  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 152 f.; ebenfalls Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 134. 112  Jacobs, Tarifeinheit, S. 416 f.; ebenfalls BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1056. 113  Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 47 f.: „interne Betätigungsfreiheit“; Gooren, Tarifbezug, S. 62; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 134 f. 114  Thüsing/Ricken, Jahrbuch Arbeitsrecht 2004, 113, 118; vgl. Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 81. 106 

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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rung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ Zweck der zu bildenden Vereinigung ist.115 2.  Schutz der Betätigungsfreiheit Umstrittener ist die Frage, ob neben der Koalitionsbildung auch die externe Betätigung der Koalition und ihrer Mitglieder abwehrrechtlich geschützt ist. Dabei überwiegt die Ansicht, dass der Schutzbereich auf eine externe Betätigungsfreiheit der Koalition und ihrer Mitglieder zu erstrecken sei.116 Auch das BVerfG und das BAG vertreten diese Auffassung in ständiger Rechtsprechung.117 Trotzdem wird in der Literatur auch die These vertreten, dass nur die Freiheit der Koalitionsbildung durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet sei.118 Ein grundrechtlicher Schutz des Streiks kann sich nur ergeben, wenn auch die Betätigungsfreiheit geschützt ist. Es bedarf daher einer argumentativen Herleitung der Betätigungsfreiheit, welche die Argumente der Gegenseite entkräften kann. Dazu wird im Folgenden auf die klassischen juristischen Auslegungsmethoden des Wortlauts, der Systematik, der Entstehungsgeschichte und des Telos zurückgegriffen.119 Dem Wortlaut kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Seine Grenze (Wortlautgrenze) stellt gleichsam eine Auslegungsgrenze für die anderen Auslegungsmethoden dar.120 Einen besonderen Orientierungsmaßstab bildet im Übrigen die Auslegung des Grundrechts durch das BVerfG.121

115 

Siehe dazu den 3. Teil, 2. Kapitel, A., III., 2. „Bedeutung des Koalitionszwecks“. Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 189; Rn. 3 f. und 22; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 157, Rn. 27 ff.; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 29; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 21; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 67 ff.; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 73; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 81; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 43; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 153; Jacobs, Tarifeinheit, S. 418; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 56; Rüthers, ZRP 2015, 2, 4; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 137; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 25 f.; Epping, Grundrechte, S. 441; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 30 f. und 39; Friauf, RdA 1986, 188, 190; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 222 ff. 117  Siehe nur aus der neueren Rechtsprechung: BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493 f.; BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 611/11, NZA 2013, 437, 442. 118  Lenz, Freiheitsrechte, S. 262 f.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 317; ähnlich und vor allem gegen den Schutz des Streikrechts: Reuter, ZfA 1990, 535, 543 f. 119 Vgl. Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn.70; Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 45. 120  Siehe nur Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 296. 121  Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 71; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 212 und in Rn. 30. 116 

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3. Teil: Grundgesetz

a)  Wortlaut Zunächst ist festzuhalten, dass ausgehend vom Wortlaut in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG neben dem Verb „bilden“ das Verb „betätigen“ fehlt. Daher wird überwiegend vertreten, dass ein Schutz der Betätigungsfreiheit nicht direkt über den Wortlaut hergeleitet werden kann.122 Stattdessen wird größtenteils auf noch darzustellende teleologische Argumente zurückgegriffen. Allerdings bedarf es dieses Umweges nicht zwingend.123 Genauso gut kann bereits mit Blick auf den Wortlaut argumentiert werden, dass die „Wahrung und Förderung“ Handlungen sind, die neben dem „Bilden“ Gegenstand des Schutzbereiches sind und eines abwehrrechtlichen Schutzes vor staatlichen Eingriffen bedürfen. Zwar ist zuzugeben, dass sich das durch die Norm gewährleistete Recht konkret nur auf das Wort „Bilden“ bezieht. Diesem sollen aber mit der „Wahrung und Förderung“ zwei Tätigkeiten nachfolgen, deren Voraussetzung die Koalitionsbildung ist. Die durch das Wort „zur“ erfolgte Zwecksetzung kann als zeitliche Abfolge zu verstehen sein: Zuerst erfolgt die Bildung der Koalition und danach die „Wahrung und Förderung“ als geschützte Tätigkeiten.124 Zudem stellt das Wort „zur“ eine besondere Aufgabenzuweisung dar, deren Aufnahme in die Koalitionsfreiheit ohne ihren Schutz „paradox“125 wäre. Obwohl der Schluss vom Wortlaut auf die

122  Reuter, ZfA 1990, 535, 543; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 162 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 300; Lenz, Freiheitsrechte, S. 255 f.; Jacobs, Tarifeinheit, S. 412; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 25; Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 26; Epping, Grundrechte, S. 441. 123  So auch Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 126 f.; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 34; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S.  137; Bruhn, Tariffähigkeit, S. 76; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 101: „Der Ansatz zur Problemlösung steckt im Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 […].“; auch das BVerfG scheint einen Rückgriff auf den Wortlaut nicht absolut abzulehnen indem es zugunsten des Schutzes der Betätigungsfreiheit anführt: „[Die Koalitionsfreiheit] schützt vielmehr ebenso die Koalition selber in […] ihrer Betätigung, soweit diese gerade in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht. Das ist zwar im Gegensatz zur Weimarer Verfassung nicht ausdrücklich ausgesprochen, ergibt sich aber aus der Aufnahme des Vereinigungszwecks in den Schutzbereich des Grundrechts“, siehe BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810. 124 Dagegen Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 299, für den der Koalitionszweck ausschließlich als thematische Abgrenzung der Koalitionsfreiheit zur einfachen Vereinigungsfreiheit fungiert und so die unmittelbare Drittwirkung und die Erweiterung des Schutzes auf Ausländer in Art. 9 Abs. 3 GG rechtfertigt; ähnlich Lenz, Freiheitsrechte, S. 256, der jedoch zugesteht, dass der Wortlaut auf einen verfassungsrechtlichen Schutz der Betätigung hindeutet. Dieser könne jedoch auch aus „Art. 2 Abs. 1 GG oder anderen speziellen Grundrechten folgen“. 125  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 34; vgl. Schwarze, JuS 1994, 653, 655.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

169

Betätigungsfreiheit nicht eindeutig ist, steht der Wortlaut als Grenze einer methodengerechten Auslegung dem Schutz der Koalitionsbetätigung nicht entgegen.126 b)  Systematische Auslegung Burkiczak und Lenz führen gegen den Schutz der Betätigungsfreiheit unter anderem an, dass andere Grundrechte den abwehrrechtlichen Schutz der Koalitionsbetätigungen übernehmen könnten.127 Burkiczak verweist unter anderem auf das Zusammenspiel zwischen der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG und der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, nach dem Meinungen, die im Rahmen einer Versammlung geäußert werden, ausschließlich der Meinungsfreiheit zugeordnet werden.128 Das Beispiel lässt sich jedoch nicht übertragen, da mit Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gerade ein spezielles Grundrecht für den Schutz von Meinungen existiert. Für Koalitionsbetätigungen lässt sich ein spezielleres Grundrecht als die Koalitionsfreiheit jedoch nicht finden. So verwundert es nicht, dass Burkiczak und Lenz auf das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit zurückgreifen möchten.129 Diese ist allerdings als Auffanggrundrecht der absolute Gegensatz eines speziellen Grundrechtes und sollte nicht angewendet werden, falls speziellere Grundrechte Schutz versprechen.130 Vor allem durch die wörtliche Nennung des Koalitionszwecks wird deutlich, dass kein anderes Grundrecht die Koalitionen so speziell betrifft wie Art. 9 Abs. 3 GG.131 Ein Schutz der Koalitionsbetätigungen durch andere Grundrechte ist daher fernliegend. Ein weiteres Argument beider Autoren gegen den Schutz der Betätigungsfreiheit ist die unmittelbare Drittwirkung der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG. Die Drittwirkungsklausel stelle zusammen mit dem weiten subjektiven Schutzbereich für „Jedermann“ das besondere Privileg der Koaliti126 A.A. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 296 ff., der sich dazu auf einen historischen Vergleich mit dem Wortlaut des Art. 159 WRV und der damaligen Interpretation stützt. 127  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 314; Lenz, Freiheitsrechte, S. 256. 128  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 314. 129  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 320; Lenz, Freiheitsrechte, S. 256. 130 BVerfG, Beschl. v. 30. 11. 1965, 2 BvR 54/62, NJW 1966, 491: „Der durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit geschützte Betätigungsbereich der Koalitionen kann nur nach der speziellen Vorschrift des Art. 9 Abs. 3 GG bestimmt werden; Art. 2 Abs. 1 GG muß hierfür außer Betracht bleiben.“; Lang, in: BeckOK GG, Art. 2 GG, Rn. 29; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 GG, Rn. 21; speziell zu Art. 9 Abs. 3 GG siehe Gooren, Tarifbezug, S. 71 und S. 65. 131  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 34, in Fn. 7; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 71; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 73; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 104.

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3. Teil: Grundgesetz

onsfreiheit im Vergleich zur Vereinigungsfreiheit dar. Dadurch sei der Schutz der Koalitionsbetätigung zur Verhinderung eines Leerlaufs des Grundrechts nicht notwendig, da die Koalitionsfreiheit durch die beiden genannten Privilegien nicht leerliefe und einen eigenständigen Inhalt habe.132 Dagegen spricht jedoch ein systematisches Argument. Wenn sich die Koalitionsfreiheit nur in der Drittwirkungsklausel und dem Schutz für „Jedermann“ hätte erschöpfen sollen, hätte der Verfassungsgeber Art. 9 Abs. 3 GG nicht in mehrere Sätze aufteilen müssen. Art. 9 Abs. 1 S. 1 GG wäre dann eine Verfassungsbestimmung ohne sachlichen Schutzinhalt, da erst Satz 2 die unmittelbare Drittwirkung anordnet. Auch Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG deutet darauf hin, dass Betätigungen wie der Arbeitskampf durch Satz 1 umfasst werden.133 Die Drittwirkungsklausel wird von beiden Autoren auch noch in einer anderen Form als systematisches Argument gegen die Betätigungsfreiheit herangezogen.134 Bei einem Schutz der Betätigungsfreiheit würde die Drittwirkungsklausel zu einem paradoxen Ergebnis führen. So stellen auf den Koalitionspartner gerichtete Betätigungen wie der Streik eine Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit des Gegenübers dar. Eine solche Beeinträchtigung wäre jedoch nach der Drittwirkungsklausel unzulässig. Der eigentlich von den Vertretern der Betätigungsfreiheit bezweckte antagonistische Wettbewerb der Koalitionspartner sei daher bereits ein Verstoß gegen die Drittwirkungsklausel. Diese Paradoxie ist jedoch ein Scheinproblem, da überwiegend und zu Recht vertreten wird, dass sich die Drittwirkungsklausel nicht auf die Auseinandersetzungen zwischen den Koalitionen bezieht.135 Dadurch lässt sich die Betätigungsfreiheit mit der Drittwirkungsklausel vereinbaren. Eine an der Systematik der Grundrechte orientierte Auslegung muss entgegen der dargestellten Minderheitenansicht zu einem Schutz der Betätigungsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG kommen. Dafür spricht der systematische Vergleich mit der Vereinigungsfreiheit. Den Unterschied zwischen beiden Normen macht neben der unmittelbaren Drittwirkung und dem subjektiven Schutzbereich insbesondere die Aufnahme des Koalitionszwecks aus.136 Der Verfolgung dieses 132 

Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 299; Lenz, Freiheitsrechte, S. 256 f. 133  Gooren, Tarifbezug, S. 71; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 53; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 38; Epping, Grundrechte, S. 441. 134  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 301 ff.; Lenz, Freiheitsrechte, S. 257 f. 135  Grundlegend dazu Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263; vgl. zum „Scheinproblem“ Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 37. Siehe dazu weiterführend die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., 2., b) „Unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG“. 136  Zu den Unterschieden zwischen Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 66.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

171

Zweckes muss ein besonderer Schutz zukommen.137 Ein Indiz dafür ist insbesondere Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG, der dem Arbeitskampf als eine Form koalitionsspezifischer Betätigungen einen besonderen Schutz gegen Notstandsmaßnahmen zukommen lässt. Die Norm ergibt in systematischer Hinsicht nur Sinn, wenn ein grundsätzlicher Schutz koalitionsspezifischer Betätigungen bereits durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gewährleistet ist.138 c)  Historisch-genetische Auslegung Burkiczak und Lenz stützen ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Schutz der Koalitionsbetätigung insbesondere auf historische und genetische Überlegungen.139 Die Weimarer Verfassung, der Vorläufer des Grundgesetzes, beinhaltete mit Art. 159 WRV und Art. 165 Abs. 1 WRV zwei unterschiedliche Normen, die sich auf die Koalitionsfreiheit bezogen. Während Art. 159 WRV vom Wortlaut dem heutigen Art. 9 Abs. 3 GG ähnelt und nach damaligem Verständnis alleine die Bildung der Koalitionen gewährleistete,140 wurde die Betätigungsfreiheit und insbesondere die Tarifautonomie durch Art. 165 Abs. 1 WRV geschützt.141 Da Art. 165 Abs. 1 WRV im Gegensatz zu Art. 159 WRV jedoch nicht wörtlich in das Grundgesetz übernommen wurde, geht Burkiczak davon aus, dass der Verfassungsgeber die Betätigungsfreiheit der Koalitionen nicht besonders schützen wollte.142 Der Verfassungsgeber soll nach anderer Ansicht jedoch davon ausgegangen sein, dass die Tarifautonomie zum Bestandteil des neuen Art. 9 Abs. 3 GG gehören solle.143 Zumindest sollen keine Anhaltspunkte dafür existieren, dass das differenzierende Verständnis der WRV, welches Bildungs- und Betätigungsfreiheit auf zwei Normen aufteilte, auf Art. 9 Abs. 3 GG übertragen werden sollte.144 Dieterich vertritt dazu die Ansicht, dass der Verfassungsgeber das bestehende 137 Vgl. Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 55; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 39 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 71. 138  Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 53; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 38; vgl. speziell zum Arbeitskampf Gooren, Tarifbezug, S. 71; Epping, Grundrechte, S. 441. 139  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 307 ff.; Lenz, Freiheitsrechte, S. 260 ff. 140  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 40; Gooren, Tarifbezug, S. 56; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 311; Lenz, Freiheitsrechte, S. 261, in Fn. 280 m.w.N. 141  Dieterich, RdA 2002, 1, 8; Gooren, Tarifbezug, S. 56; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 233. Siehe zur Weimarer Reichsverfassung bereits die historischen Ausführungen im 1. Teil, 2. Kapitel, A., IV. „Weimarer Zeit“. 142  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 311 f. 143  Gooren, Tarifbezug, S. 56 f. 144  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 40.

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3. Teil: Grundgesetz

grundrechtliche Schutzniveau nicht reduzieren wollte und die fehlende Übernahme des Art. 165 Abs. 1 WRV in das Grundgesetz nicht als Absage an den Schutz der Tarifautonomie verstanden werden könne.145 Diese Auffassung kann durch einen Hinweis auf die spezielle Funktion des Art. 165 Abs. 1 WRV gestützt werden. Die Norm soll während der Weimarer Republik in erster Linie die Koalitionsbetätigung gegenüber den Kompetenzen der damals existierenden Räteorganisationen abgegrenzt haben. Da die Räteorganisationen jedoch nicht in das Grundgesetz übernommen wurden, bestand kein zwingendes Bedürfnis für eine Übernahme des Art. 165 Abs. 1 WRV.146 Zudem spricht die bereits dargestellte Diskussion im Parlamentarischen Rat zum Streik jedenfalls nicht gegen einen Schutz der Betätigungsfreiheit.147 Man war sich zwar nicht über die genauen Grenzen des Streikrechts einig, so dass man von der wörtlichen Aufnahme des Streiks in Art. 9 Abs. 3 GG absah, doch soll die Mehrheit – zumindest zu Anfang der Beratungen – ein grundsätzliches Bedürfnis für einen verfassungsrechtlichen Schutz des Streiks gesehen haben.148 Trotz dieser Hinweise lässt sich den historischen und genetischen Befunden ein klares Ergebnis zugunsten des Schutzes der Betätigungsfreiheit nicht entnehmen.149 Den anderen Auslegungsmethoden kommt daher eine verstärkte Bedeutung zu. Die Offenheit der Verfassung verbietet es im Übrigen, nur auf den subjektiven Willen des Verfassungsgebers abzustellen. Dadurch sollen insbesondere neue Entwicklungen und Bedürfnisse berücksichtigt werden können.150 d)  Teleologische Auslegung Die herrschende Meinung stützt sich in erster Linie auf teleologische Argumente, die an die wörtliche Aufnahme des Koalitionszwecks anknüpfen. Der Koalitionszweck – die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ – bestimme eine konkrete Zielsetzung, die nur erreicht werden könne, wenn die dazu notwendigen Tätigkeiten ebenfalls abwehrrechtlich geschützt sind.151 Ohne einen Schutz der Betätigungsfreiheit wird ein „Leerlauf“ der Koa­ 145 

Dieterich, RdA 2002, 1, 8; vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 223. Gooren, Tarifbezug, S. 56; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 52 f. 147  Siehe zur Diskussion im Parlamentarischen Rat die Ausführungen im 3. Teil, 1. Kapitel, A. „Verortung in Art. 9 Abs. 3 GG“. 148  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 130; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 54; Gooren, Tarifbezug, S. 58 zum Arbeitskampf. 149  So auch Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 41; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 209 f.; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 58 zum Arbeitskampf. 150 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 124 f. und 130 f. 151  Siehe nur Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 137; Gooren, Tarifbezug, S. 62 f.; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 209; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 197 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 153; 146 

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

173

litionsfreiheit befürchtet.152 Burkiczak versucht diesen „Leerlauf“ zu widerlegen, indem er für die Betätigungsfreiheit einen grundrechtlichen Schutz durch die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und andere Grundrechte annimmt und den Eigenwert von Art. 9 Abs. 3 GG ausschließlich in der unmittelbaren Drittwirkung und dem weiten persönlichen Schutzbereich sieht.153 Ein Ausweichen auf andere Grundrechte ist jedoch – wie bereits im Rahmen der systematischen Auslegung dargelegt – aufgrund des speziellen Koalitionsbezugs des Art. 9 Abs. 3 GG nicht nachvollziehbar.154 Eine noch radikalere Begründung wählt Lenz, der ein besonderes Schutzbedürfnis für Koalitionsbetätigungen ablehnt und für einen geringeren grundrechtlichen Schutz außerhalb der Koalitionsfreiheit plädiert.155 Er berücksichtigt jedoch nicht, dass einzelne Betätigungen wie die Werbung oder der Arbeitskampf genauso wichtig für die Attraktivität einer Koalition und ihren Bestand sein können.156 Wie die aktuelle Diskussion zum Tarifeinheitsgesetz zeigt, können insbesondere kleinere Koalitionen durch staatliche Beschränkungen staatlichen Eingriffen ausgesetzt sein. Ohne Betätigungsmöglichkeit würde das Existenzrecht von Koalitionen in Frage gestellt.157 Die Koalitionsfreiheit ist daher als ein umfassendes Freiheitsrecht zu betrachten.158 Die Funktion des Art. 9 Abs. 3 GG ausschließlich auf die unmittelbare Drittwirkung und einen vorbehaltlosen Schutz für „Jedermann“ zu reduzieren würde dem Jacobs, Tarifeinheit, S. 418; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 43; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 223; Bruhn, Tariffähigkeit, S. 77 f.; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 25 f.; Konzen, AcP 1977, 473, 494; Friauf, RdA 1986, 188, 190; Rose, Streikrecht nichtorganisierter Arbeitnehmer, S. 49 f., speziell zum Arbeitskampf; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 6. 152 Vgl. Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 56; vgl. Jacobs, Tarifeinheit, S. 412. 153  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 314. 154  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 42; auch BVerfG, Beschl. v. 30. 11. 1965, 2 BvR 54/62, NJW 1966, 491: „Der durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit geschützte Betätigungsbereich der Koalitionen kann nur nach der speziellen Vorschrift des Art. 9 Abs. 3 GG bestimmt werden; Art. 2 Abs. 1 GG muß hierfür außer Betracht bleiben.“ 155  Lenz, Freiheitsrechte, S. 260: „Angesichts dieser Bedrohungslage lässt sich das Bedürfnis nach einem besonderen, vorbehaltlosen Schutz von Koalitionsbildung- und bestand nachvollziehen. Anderes gilt hingegen für die weitergehende Betätigung der bestehenden Koalition. Hier ist die Koalition aus sich heraus stark und daher weniger auf grundrechtlichen Schutz angewiesen.“ 156  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 223; vgl. Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 42 f. 157  Vgl. ausführlich Ewer, NJW 2015, 2230 ff; Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1, 12 f. 158  BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 708: „Wie der Wortlaut des Art. 9 III GG und die geschichtliche Entwicklung zeigen, ist die Koalitionsfreiheit in erster Linie ein Freiheitsrecht.“; BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494; Höfling, in: FS Friauf, S. 378; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 73; Kittner, in: FS Jaeger, S. 492.

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3. Teil: Grundgesetz

Charakter als Freiheitsrecht nicht gerecht.159 Der Koalitionszweck stellt den Existenzgrund der Koalitionen dar, bis zu dessen Grenze sich die Koalitionen eines Schutzes vor staatlicher Beeinträchtigung sicher sein und sich entfalten können sollten. Daher spricht eine teleologische Auslegung der Koalitionsfreiheit für einen Schutz ihrer Betätigungen durch Art. 9 Abs. 3 GG. e)  Ergebnis Dem BVerfG kann zugestimmt werden, dass sich der Schutz der Koalitionsfreiheit auf die „Betätigungen erstreckt, sofern diese der Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen dienen“160. Eine Auslegung, die den Schutz des Grundrechts auf die Koalitionsbildung reduziert, verkürzt den gebotenen Inhalt der Koalitionsfreiheit zu Unrecht. Eine andere Frage ist jedoch, wie weit der Schutz reicht und ob die geschützte Betätigungsfreiheit den Streik umfassend abwehrrechtlich schützt. Die Bestimmung des Schutzumfangs entscheidet darüber, ob nur der gewerkschaftliche oder auch der nichtgewerkschaftliche Streik geschützt wird. Dies wird im später folgenden 3. Kapitel zu klären sein. Zuvor wird die objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit im Überblick dargestellt, um anschließend den Streik in die abwehrrechtliche und die objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit einordnen zu können.

C.  Objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit Neben der abwehrrechtlichen Funktion beinhaltet die Koalitionsfreiheit auch Handlungspflichten des Staates. Diese werden anders als das Abwehrrecht der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte zugeordnet.161 Anstelle eines Unterlassungsanspruchs des Grundrechtsträgers gegen den Staat beinhaltet diese Dimension „objektive Prinzipien“162, die den Staat zum Handeln verpflichten können. Ihr Ziel ist daher im Gegensatz zum Abwehrrecht nicht die Ausgrenzung oder ein Fernhalten staatlichen Einflusses. Die objektiv-rechtliche Dimension 159 Vgl. Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 212; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 73; a.A. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 299, ausschließlich „tatbestandliche Beschränkung“ und „Abgrenzung der Koalitionsfreiheit von der allgemeinen Vereinigungsfreiheit“; ebenfalls ablehnend Lenz, Freiheitsrechte, S. 259 f. 160  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493. 161  Dazu allgemein Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 70 ff.; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 41 ff.; zur Koalitionsfreiheit: Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 101 f.; Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 169 f.; speziell zum Arbeitskampf: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 263 ff. 162  Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 53.

2. Kap.: Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz im Überblick

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soll ein Handeln des Staates geradezu aktivieren, indem sie ihm bestimmte Aufgaben zum Schutz des Grundrechtsträgers zuteilt.163 Sie stellt eine verstärkende Ergänzung der subjektiv-rechtlichen Dimension dar.164 Dieser zusätzliche Schutz ist wichtig, da nach heutiger herrschender Meinung die Grundrechte unmittelbar nur gegenüber dem Staat geltend gemacht werden können. Private können sich grundsätzlich nicht untereinander direkt auf ein Grundrecht berufen.165 Im Zivilrecht können sie nur mittelbar durch die grundrechtliche Ausstrahlungswirkung auf die zivilrechtlichen Generalklauseln Wirkung entfalten (z.B. § 242 BGB). Diese sind so offen formuliert, dass sie eine Abwägung unterschiedlicher Interessen unter Einfluss der Grundrechte ermöglichen. Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Zivilrecht wurde durch das BVerfG im „Lüth Urteil“ herausgearbeitet, wodurch das Gericht maßgeblich den Einfluss der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte stärkte.166 Heute werden unter der objektiv-rechtlichen Dimension neben der Ausstrahlungswirkung weitere objektive Funktionen wie die grundrechtliche Schutzpflicht167, die Einrichtungsgarantien168 oder Organisations- und Verfahrensaufträge169 verstanden. Sie verpflichten den Staat, durch Normsetzung oder aktives Handeln zugunsten des Grundrechtsträgers tätig zu werden und den Normzweck zu verwirklichen. Bleibt der Staat untätig, ergeben sich nach überwiegender Meinung keine unmittelbaren Ansprüche des Bürgers gegen den Staat auf eine konkrete Handlung, sondern nur nach Maßgabe der staatlichen Einschätzungsprärogative.170 Inwieweit die Koalitionsfreiheit objektive Prinzipien oder Hand163  Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 49; vgl. Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 36. 164  Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 74, bezüglich der grundrechtlichen Einrichtungsgarantien. 165  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 164 ff., vgl. Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 15; Gornik, NZA 2012, 1399, 1401; Klein, NJW 1989, 1633, 1639 f.; vgl. Dieterich, RdA 2007, 110, 111; Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 63. Siehe dazu auch die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2., a) „Keine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte“. 166  BVerfG, Urt. vom 15. 1. 1958, 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257; dazu näher auch Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 83 ff.; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 43 und S. 58 f. 167  Vgl. dazu Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 86 ff.; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 47 ff.; Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 37: „[…] der zentrale Ansatz aller obj.-rechtl. Elemente der Grundrechte […]“. 168  Vgl. dazu Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 72 ff. 169  Vgl. dazu Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 94 ff; Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 43 ff. 170  Zu der diesbezüglichen Diskussion Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 99 ff.; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 74; Dreier, Jura 1994, 505, 513: „lediglich das ,Ob‘, nicht jedoch das ,Wie‘ [kann] als grundrechtsgeboten qualifiziert werden“; Epping, Grundrechte, S. 69.

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3. Teil: Grundgesetz

lungspflichten beinhaltet, lässt sich nicht verallgemeinern, sondern muss am Beispiel einer konkret durch die Koalitionsfreiheit geschützten Freiheit bestimmt werden. Daher werden die Auswirkungen der objektiv-rechtlichen Dimension später am Beispiel des Streiks konkret dargestellt.171

D.  Zwischenergebnis Die Koalitionsfreiheit ist ein Freiheitsrecht, das als Abwehrrecht dem Grundrechtsträger Schutz vor staatlichen Eingriffen gewährt. Abwehrrechtlich geschützt sind neben der Bildung der Koalitionen auch ihre interne und externe Betätigung. Die Grundrechtsträger sind einerseits natürliche Personen und aufgrund des „Doppelcharakters“ auch die Koalitionen selbst. Der Koalitionsbegriff ist weit zu verstehen und wird nur durch die besondere Zwecksetzung begrenzt. Jedenfalls ist er nicht auf Gewerkschaften begrenzt, so dass auch kleine betriebliche Arbeitnehmervereinigungen, die keine tarifvertragsrechtliche Mächtigkeit besitzen, Grundrechtsträger sind. Zudem müssen auch spontan entstehende Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern („ad-hoc Koalitionen“) als Koalitionen betrachtet werden, wenn sie eine demokratische und organisierte Willensbildung aufweisen, zur Kommunikation fähig sind und sich nicht nach einem Streik sofort auflösen. Das gewerkschaftliche Streikmonopol lässt sich aus dieser Perspektive jedenfalls nicht bestätigen. Neben der Funktion der Koalitionsfreiheit als Abwehrrecht beinhaltet Art. 9 Abs. 3 GG auch objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, die den Staat verpflichten, zum Schutz des Grundrechts und seiner Inhalte tätig zu werden. In den beiden folgenden Abschnitten wird der Streik zuerst aus abwehrrechtlicher Perspektive (Verhältnis Bürger/Staat) und danach aus objektiv-rechtlicher Perspektive analysiert (Verhältnis Bürger/Bürger). 3. Kapitel

Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension 3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

Nachdem allgemein der Schutz der Betätigungsfreiheit herausgearbeitet wurde (2. Kapitel), rückt im Folgenden der Streik in den Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Betrachtung. Sein verfassungsrechtlicher Schutz bestimmt am Ende über die Frage, ob die Zuordnung des Streiks zu den Gewerkschaften von der Verfassung vorgegeben ist. Wie bereits dargestellt wurde, ist der Koalitionsbegriff nicht mit dem Gewerkschaftsbegriff gleichzusetzen (1. Kapitel). Daher kann das streikrechtliche Gewerkschaftsmonopol nur ein Ergebnis der Anknüpfung 171 

3. Teil, 4. Kapitel „Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension“.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

177

des Streiks an die Betätigungsfreiheit sein. Die Koalitionsfreiheit wird im weiteren Verlauf auf eine diesbezügliche Vorgabe hin untersucht werden. Die folgende abwehrrechtliche Untersuchung des Streiks wird in zwei Teile unterteilt. Zunächst wird ermittelt, in welcher Funktion der Streik Bestandteil der Betätigungsfreiheit ist und welche Grenzen sich hieraus ergeben (A.). Insofern ist beispielsweise relevant, ob der Streik nur ein „Hilfsmittel“ der Tarifautonomie ist oder davon unabhängig zur Verfolgung des Koalitionszwecks eingesetzt werden kann. Im Anschluss wird die für das Abwehrrecht relevante Einordnung des Streiks in die Kategorien der natürlichen und der normativen Freiheit vorgenommen (B.).172 Dieser Einordnung folgend wird jeweils der abwehrrechtliche Schutz bestimmt. Auf dieser Grundlage kann im Ergebnis festgestellt werden, ob der Streik umfassend oder nur teilweise vor staatlicher Beeinträchtigung abwehrrechtlich geschützt ist. Bezogen auf die Ausgangsfrage würde ein umfassender Schutz bedeuten, dass auch der Streik nichtgewerkschaftlicher Koalitionen verfassungsrechtlich geschützt ist.

A.  Streik als Element der Betätigungsfreiheit Bezüglich der prinzipiellen Zuordnung des Streiks zur koalitionsspezifischen Betätigungsfreiheit herrscht heute weitgehende Einigkeit.173 Hingegen werden zu der anknüpfenden Frage, in welchem Umfang er der Betätigungsfreiheit zuzuordnen ist und welche Grenzen ihm durch die Koalitionsfreiheit gezogen werden, die unterschiedlichsten Ansichten vertreten.174 Der Begriff „Betätigungsfreiheit“ impliziert zwar, dass ein Bereich existiert, in dem sich koalitionsspezifische Betätigungen unabhängig entfalten können und einen Schutz vor willkürlicher staatlicher Begrenzung erfahren. Dieser Freiheitsbereich ist jedoch nicht zwingend unbegrenzt. Die Freiheit kann nur in einem festgelegten Rahmen bestehen. Aus grundrechtlicher Perspektive können Schutzbereichsbegrenzungen entweder klar durch den Wortlaut festgelegt sein oder sie können im Wege der Auslegung ermittelt werden.175 Als vom Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG vorgegebene Begrenzung kann jedenfalls der Koalitionszweck dienen (3. Teil, 3. Kapitel, A., II, 1.). 172  Siehe zu dieser Unterscheidung bereits die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, B., I „Abstrakte Einordnung der Grundrechte als Abwehrrechte“. 173 Vgl. allgemein zum Arbeitskampf Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 167; Richardi, NZA 2014, 1233, 1236: „Arbeitskampf als […] spezifisch koalitionsmäßige Betätigungsfreiheit anerkannt“; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 201. 174  Zutreffend daher Schwarze, JuS 1994, 653, 655, der die Bestimmung des Umfangs als „schwierigste Herausforderung, die Art. 9 III GG dem Verfassungsinterpreten stellt“ einordnet. 175  Kahl, Der Staat 2004, 167 f.

3. Teil: Grundgesetz

178

Darüber hinausgehende Begrenzungen müssen anhand des Wortlauts, der Systematik, des Telos sowie der Entstehungsgeschichte der Koalitionsfreiheit durch Auslegung ermittelt werden. Die überwiegende Ansicht der Literatur und der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung besitzt ein vergleichsweise enges Verständnis des Streiks und legt die Koalitionsfreiheit insoweit restriktiv aus. Sie betrachtet den Streik ausschließlich als Hilfsmittel der Tarifautonomie an und leitet daraus die dargestellten Voraussetzungen eines rechtmäßigen Streiks – wie die Bindung an Gewerkschaften – her (3. Teil, 3. Kapitel, A., II, 2.). Auf der anderen Seite wird von einer mittlerweile nicht ganz geringen Anzahl an Verfechtern ein weites Verständnis vertreten. Der Streik wird dabei nicht als ein bloßer „Annex der Tarif­autonomie“ gesehen, sondern erfährt eine gegenüber den anderen Koalitionsbetätigungen gleichwertigere Behandlung (3. Teil, 3. Kapitel, A., II, 3.). Bevor das enge und das weite Verständnis genauer dargestellt und kritisch analysiert werden, wird zuvor die Rechtsprechung des BVerfG zum Umfang der Betätigungsfreiheit dargestellt. Ihre Entwicklung könnte als Ausgangspunkt eines neuen Verständnisses zu Art. 9 Abs. 3 GG gesehen werden und lässt sich möglicherweise auf den Streik übertragen. I.  Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Zuerst wird hierzu das allgemeine Verständnis des BVerfG vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit dargestellt (1.) und im Anschluss wird seine Rechtsprechung speziell zum Streik und zu anderen Arbeitskampfmitteln erläutert (2.). 1.  Vom Kernbereich zu einem weiten Grundrechtsverständnis Das BVerfG hat sehr früh die Betätigungsfreiheit als Bestandteil der Koalitionsfreiheit akzeptiert und einen grundrechtlichen Schutz anerkannt. Am Beispiel normativ-wirkender Tarifverträge entschied es bereits 1954, dass die Koalitionsfreiheit „nicht nur den Zusammenschluss als solchen, sondern den Zusammenschluss zu einem bestimmten Gesamtzweck, nämlich zur einer aktiven Wahrnehmung der Arbeitgeber- (Arbeitnehmer-)Interessen“176 schütze. Daher müssten Koalitionen auch Einfluss nehmen können und dazu insbesondere Tarifverträge schließen können. Die staatliche Bereitstellung eines normativ-wirkenden Tarifvertragssystems sei durch einen „verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich“177 geschützt. Durch dieses Urteil verpflichtete das BVerfG den Staat allerdings zu einem Tätigwerden („staatlicherseits überhaupt 176 

BVerfG, Urt. v. 18. 11. 1954, 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881, 1882. Urt. v. 18. 11. 1954, 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881, 1882, Hervorhebung durch den Verfasser; zur Entwicklung der Kernbereichsrechtsprechung: Bayreuther, Tarifautonomie, S. 23 ff.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 153 ff., eingehend zu den Schwächen der Formel Höfling, in: FS Friauf, S. 379 ff. 177  BVerfG,

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

179

bereitzustellen“) und bezog sich damit nicht auf den Bereich, der vor einem staatlichen Eingriff geschützt ist. Seinen Ausgangspunkt nahm die sogenannte Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG somit nicht im abwehrrechtlichen Teil der Koalitionsfreiheit, sondern in der objektiv-rechtlichen Dimension, die ein Handeln des Staates gerade einfordert und seine Einflussnahme nicht abwehren will.178 Als Kernbereich definierte das BVerfG später die Koalitionsbetätigungen, „die für die Erhaltung und Sicherung ihrer Existenz als unerlässlich betrachtet werden müssen“179. In einem späteren Urteil des BVerfG wurde das Kernbereichskonzept dann auf Verhaltensweisen übertragen, zu denen die Koalitionen auch ohne staatliche Bereitstellung fähig sind. So erkannte das Gericht die gewerkschaftliche Mitgliederwerbung als einen Teil der Koalitionsbetätigung an.180 Die Mitgliederwerbung stellt allerdings im Gegensatz zum normativ-wirkenden Tarifvertragssystem grundsätzlich ein natürliches Verhalten dar, welches ohne staatliche Hilfe existiert.181 Das Gericht griff aber auch hier auf den Kernbereich zurück und stellte fest, dass die Mitgliederwerbung in einem Kernbereich vor staatliche Beeinträchtigungen geschützt sei.182 Damit bezog es sich nicht mehr nur auf die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension, sondern legte den Bereich fest, in den der Staat nicht ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung eingreifen darf. Der abwehrrechtliche Schutz der Betätigungsfreiheit wurde mit dem Kernbereich auf einen verkürzten Schutzbereich reduziert.183 Parallel zur Kernbereichskonzeption entwickelte das BVerfG die sogenannte „Abwägungsformel“, die für manche einem engen Schutzbereichsverständnis gegenüber zu stehen schien.184 So erläuterte das Gericht im Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des Mitbestimmungsgesetzes, dass die Koalitionsfreiheit über den Kernbereich hinaus keinen unbegrenzbaren Handlungsspielraum einräume. Allerdings dürfe der Gesetzgeber „dem Betätigungsrecht der Koalitionen nur solche Schranken [ziehen], die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind. Regelungen, die nicht in dieser Weise gerechtfertigt sind, tasten den durch Art. 9 III GG geschützten Kerngehalt der Koalitionsbetätigung 178  So auch die Einschätzung von Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 156 f.: „Mit der Abwehrfunktion […] hat all dies nicht zu tun.“ 179  BVerfG, Beschl. v. 26. 5. 1970, 2 BvR 664/65, NJW 1970, 1635. 180  BVerfG, Beschl. v. 30. 11. 1965, 2 BvR 54/62, NJW 1966, 491. 181 Vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 160. 182  BVerfG, Beschl. v. 30. 11. 1965, 2 BvR 54/62, NJW 1966, 491, 493; ebenso später BVerfG, Beschl. v. 26. 5. 1970, 2 BvR 664/65, NJW 1970, 1635: „Art. 9 Abs. 3 GG schützt nur einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung; das gilt auch für die Mitgliederwerbung.“ 183  So auch Höfling, in: FS Friauf, S. 382. 184  So beispielsweise Höfling, in: FS Friauf, S. 382 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 154.

180

3. Teil: Grundgesetz

an“185. Die dogmatische Einordnung dieser Aussage ist schwierig. Einerseits könnte man meinen, das BVerfG ginge doch von einer „umfassenden Betäti­ gungsgarantie“186 aus, da Eingriffe auch außerhalb des Kernbereiches einer Rechtfertigung bedürften. Andererseits könnte die „Abwägungsformel“ auch nur ein Hinweis darauf gewesen sein, dass das Gericht für den Kernbereich die übliche Eingriffsdogmatik (Schutzbereich-Eingriff-verfassungsrechtliche Rechtfertigung) anwenden wollte. Eine klare Antwort lässt sich letztendlich nicht geben. Angesichts dieser dogmatischen Unklarheiten und der Schutzbereichsbegrenzung auf unerlässliche Betätigungen zog die Kernbereichsrechtsprechung viel Kritik auf sich.187 Unter diesem Einfluss sah sich das BVerfG gezwungen, sein dogmatisches Verständnis der Koalitionsfreiheit zu erläutern. So bekannte sich das Gericht im Jahr 1995 in einem erneuten Urteil zur Mitgliederwerbung zu einem weiten Schutzbereichsverständnis: „Der Grundrechtsschutz erstreckt sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind. Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit unerläßlich ist, kann demgegenüber erst bei Einschränkungen dieser Freiheit Bedeutung erlangen. Insoweit gilt für Art. 9 III GG nichts anderes als für die übrigen Grundrechte der Koalitionsfreiheit. […] Das BVerfG wollte damit [mit der Kernbereichsformel, Anm. durch Verfasser] den Schutzbereich des Art. 9 III GG aber nicht von vornherein auf den Bereich des Unerläßlichen beschränken.“188

Zwar betonte das Gericht, dass es mit dem Urteil keine Rechtsprechungsänderung, sondern nur eine Klarstellung vornehmen wolle,189 doch erfuhr insbesondere das abwehrrechtliche Verständnis im Vergleich zu den früheren Aussagen eine Neuausrichtung. Insofern kann Bayreuther zugestimmt werden, der dem Beschluss zur Mitgliederwerbung eine unzweifelhafte Abkehr von der früheren Kernbereichsformel bescheinigt.190 Dem abwehrrechtlichen Schutz der Betätigungsfreiheit liegt daher heute ein weites Verständnis des BVerfG zu Grunde,191 dessen Umfang nur durch den Koalitionszweck begrenzt ist: 185 

709.

186 

BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532, 533/77, 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 699,

Höfling, in: FS Friauf, S. 382. Siehe dazu nur die Nachweise bei von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 145. 188  BVerfG, Beschl. v. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 382, Hervorhebung durch den Verfasser. 189  BVerfG, Beschl. v. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 382. 190  Bayreuther, Tarifautonomie, S. 23; ebenso u.a. Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 288 f.; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn., Rn. 57; a.A. Rudkowski, Streik in der Daseinsvorsorge, S. 11, die keine Veränderung für die rechtliche Bewertung der Tarifautonomie und des Arbeitskampfes erkennen will. 191  So die überwiegende Einschätzung: Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 57; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 289; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, 187 

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

181

„Der Schutz […] erstreckt sich vielmehr auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. […] In den Schutzbereich des Art. 9 III GG sind solche Betätigungen einbezogen, die dem Zweck der Koalitionen dienen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern.“192

Wie das Gericht in seinem „Flashmob-Beschluss“ hervorhob, erfolgt die Beschränkung durch die Koalitionsspezifizität „nicht nach der Art des von der Koalition gewählten Mittels, sondern nach dem von ihr damit verfolgten Ziel“193. Durch diese zielorientierte Formel können auch neue Betätigungen wie der Flash­ mob abwehrrechtlichen Schutz erlangen – auch wenn sie von ihrer Art her keine historischen Koalitionsmittel sind. 2.  Der Streik in der Rechtsprechung des BVerfG Lange hat das BVerfG den verfassungsrechtlichen Schutz des Streiks mangels Entscheidungserheblichkeit offenlassen können. Nur vereinzelt bezog sich das BVerfG auf den Arbeitskampf – ohne jedoch eine Anknüpfung an Art. 9 Abs. 3 GG vorzunehmen.194 1979 stellte es im Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des Mitbestimmungsgesetzes fest, dass die Koalitionsfreiheit „keine Garantie des Bestands des Tarifvertrags- und Arbeitskampfsystems in seiner konkreten gegenwärtigen Gestalt“195 enthalte. Mit dieser Aussage, ließ es einen prinzipiellen Schutz des Arbeitskampfes allerdings noch offen. Nachdem das BAG in seinem Urteil zur Abwehraussperrung im Jahr 1980 zum ersten Mal ausdrücklich den grundrechtlichen Schutz des Streiks durch die Koalitionsfreiheit bestätigt hatte,196 dauerte es noch einmal elf Jahre, bis das BVerfG Stellung S. 202; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 213, in Fn. 215; Henssler, ZfA 2010, 397, 409; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 141; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 63 f.; Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 110 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 78 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 43; Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263, 266; Neumann, RdA 2007, 71, 72; Wank, RdA 2009, 1, 3; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 106; vgl. auch weitere Urteile: BVerfG, Beschl. v. 6. 2. 2007, 1 BvR 978/05, NZA 2007, 394, 395, zu Unterschriftenlisten; BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493 f., zum Flashmob; a.A. wohl Otto, RdA 2010, 135, 139. 192  BVerfG, Beschl. v. 6. 2. 2007, 1 BvR 978/05, NZA 2007, 395; so auch BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493. 193  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494. 194  BVerfG, Urt. v. 6. 5. 1964, 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267: „Dabei geht es nicht um die Frage, ob die Verfassungsbestimmung das Recht zum Arbeitskampf gewährleistet […].“; BVerfG, Beschl. v. 19. 2. 1975, 1 BvR 418/71, NJW 1975, 968: „Es bedarf hier keines Eingehens auf die Frage, wie der Arbeitskampf im allgemeinen […] verfassungsrechtlich zu beurteilen sind.“ 195  BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 709. 196  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1644: „Heute besteht Einigkeit darüber, dass das Streikrecht einen notwendigen Bestandteil der freiheitlichen

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3. Teil: Grundgesetz

bezog. Zuerst bestätigte es allgemein den Schutz des Arbeitskampfes durch die Koalitionsfreiheit: „Zu den geschützten Mitteln zählen auch Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluß von Tarifverträgen gerichtet sind. Sie werden jedenfalls insoweit von der Koalitionsfreiheit erfaßt, als sie allgemein erforderlich sind, um eine funktionierende Tarif­ autonomie sicherzustellen.“197

Kurz darauf folgte schließlich die Zuordnung des Streiks zum Schutzbereich der Koalitionsfreiheit: „Zu den geschützten Mitteln zählen jedenfalls die Arbeitskampfmaßnahmen, die erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen. Ein solches Mittel ist auch der Streik.“198

Das Gericht bezog sich allerdings in diesem und in folgenden Urteilen in erster Linie auf den Streik, der auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet ist. Ob darüber hinaus der Streik ohne Tarifbezug eine koalitionsspezifische Betätigung sein kann, ließ das Gericht bisher offen.199 In den betreffenden Urteilen nutzte es häufig – wie in den Zitaten angedeutet – das Wort „jedenfalls“. Dies deutet darauf hin, dass dem BVerfG bewusst ist, dass neben dem tarifbezogenen Streik auch der Schutz eines Streiks denkbar ist, der nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet ist und trotzdem den Koalitionszweck verfolgt. Ob diesem auch ein abwehrrechtlicher Schutz durch die Koalitionsfreiheit zukommt, musste das Gericht jedoch bisher nicht beantworten. Diese Annahme wird auch durch eine Aussage des BVerfG im ersten Urteil zum Schutz des Streiks bestätigt. Danach habe das BVerfG in dem Urteil nicht feststellen müssen, ob die durch das Kampf- und Ausgleichsordnung darstellt, die durch Art. 9 III GG im Kern gewährleistet ist.“ 197  BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810, Hervorhebung durch den Verfasser. 198  BVerfG, Beschl. v. 02. 03. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380, Hervorhebung durch den Verfasser. 199  Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 85; Gumnior, Sympathiestreik, S. 47; Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 411, in Fn. 78; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 326; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 8; Däubler, AuR 1998, 144, 145; Dumke, Streikrecht ESC, S. 286; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 71; Kittner, in: FS Jaeger, S. 484; Zachert, AuR 2001, 401, 403; Wankel/Schoof, in: BKS, AKR, Rn. 21; Schubert/Wolter, AuR 2013, 24, 26, in Fn. 20; vgl. in einem älteren Urteil BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1645: „Das BVerfG hat diese Frage bisher bewusst offengelassen.“; a.A.: Otto, RdA 2010, 135, 138, der das BVerfG zitiert, aber das Wort „jedenfalls“ offensichtlich nicht berücksichtigt; Löwisch, DB 2015, 1102: Tarifbezug als vom „BAG und BVerfG entwickelten Grundsatz“; Reinartz/Olbertz, DB 2008, 814, 815; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 164, der in seinem Zitat der Aussperrungsentscheidung das Wort „jedenfalls“ kurzerhand auslässt (vgl. S. 162); Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 196, 2; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 18.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

183

BAG aufgestellten Grundsätze eines rechtmäßigen Streiks den grundrechtlichen Schutz des Streiks einschränken.200 Somit konnte es auch offenlassen, ob das Gebot eines zwingenden Tarifbezugs oder des streikrechtlichen Gewerkschaftsmonopols die Streikfreiheit einschränken. In Hinblick auf die im vorherigen Kapitel beschriebene Rechtsprechungsentwicklung des BVerfG ist interessant, wie sich die Urteile zum Arbeitskampf und Streik in den Kontext der Kernbereichsrechtsprechung einordnen lassen. So fällt auf, dass das Gericht bereits in seinem ersten Urteil zum verfassungsrechtlichen Schutz des Arbeitskampfs im Jahr 1991 die Kernbereichsformel nicht mehr erwähnte.201 Dies bestätigte das BVerfG in der später erfolgten Abkehr („Klarstellung“) von der Kernbereichsrechtsprechung im Beschluss zur Mitgliederwerbung von Gewerkschaften vom 14. 11. 1995, wonach das Gericht bereits im ersten Arbeitskampfurteil von einem „weitergehenden Schutzbereich ausgegangen“ sei und sich „nicht mehr auf die Kernbereichsformel gestützt“ habe.202 Allerdings begrenzte das BVerfG den Schutz des Arbeitskampf vor und zeitweise auch nach Abkehr von der Kernbereichsrechtsprechung auf Arbeitskampfmaßnahmen, die „erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen“203. Dieses Erforderlichkeitskriterium mochte zwar einen weiteren Spielraum als die Unerlässlichkeit bieten,204 doch wirkte es sich trotzdem begrenzend aus.205 Wie im voranstehenden Gliederungspunkt erläutert wurde, lässt die Abkehr von der Kernbereichsrechtsprechung eher auf ein freiheitliches Verständnis schließen, welches nur den Koalitionszweck als Begrenzung sieht. Dennoch wiederholte das BVerfG das Erforderlichkeitskriterium auch noch nach Abkehr von der Kernbereichsrechtsprechung im späteren Beschluss zum Streik gegen Außenseiterarbeitgeber von 10. 9. 2004.206 Dabei handelte es sich allerdings nur um eine formelhafte Wiederholung der früheren Urteile, während ein neuer Im200 

BVerfG, Beschl. v. 02. 03. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379. Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810; vgl. Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 7. 202  BVerfG, Beschl. v. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 382. 203  BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810, Hervorhebung durch den Verfasser; so auch noch BVerfG, Beschl. v. 02. 03. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; BVerfG, Urt. v. 04. 07. 1995, 1 BvF 2/86, NZA 1995, 754, 755. 204  So auch von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 139 f.; für eine Gleichwertigkeit der beiden Begriffe dagegen Schwarze, JuS 1994, 653, 655. 205 Vgl. Schwarze, JuS 1994, 653, 655, der das Kriterium der „Erforderlichkeit“ der Kernbereichsformel zuordnet; tendenziell anders von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 139 f., die bereits im Einsatz des Begriffes „Erforderlichkeit“ eine Distanzierung des BVerfG von einem restriktiven Verständnis des Schutzbereiches sieht. 206  BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2004, 1 BvR 1191/03, NZA 2004, 1338, 1339. 201  BVerfG,

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3. Teil: Grundgesetz

puls zu verzeichnen war.207 So nahm das Gericht erstmals im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf die Aussage auf, dass sich der „Schutz (…) auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen“208 erstrecke. Im „Flashmob-Beschluss“ vom 26. 3. 2014 wiederholte das Gericht diese Aussage und verzichtete vor allem darauf, seine Aussagen auf erforderliche Arbeitskampfmaßnahmen zu beschränken.209 Insbesondere hob es im Zusammenhang mit dem Streik ein freiheitsrechtliches Grundverständnis der Koalitionsfreiheit hervor: „Die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung der koalitionsspezifischen Zwecke für geeignet halten, überlässt Art. 9 III GG vielmehr grundsätzlich ihnen selbst. Dies folgt aus der Bedeutung des Art. 9 III GG als Freiheitsrecht der Koalitionen und aus der Staatsferne der Koalitionsfreiheit.“210

Daher lässt sich feststellen, dass die Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung tatsächlich Auswirkungen auf das verfassungsgerichtliche Verständnis des Arbeitskampf hat.211 Eine klare Aussage zur Weite des abwehrrechtlichen Streikschutzes lässt sich den Urteilen allerdings nicht entnehmen. So kann weder davon ausgegangen werden, dass ausschließlich der tarifbezogene Streik durch die Koalitionsfreiheit geschützt wird, noch kann den Aussagen des BVerfG eine Absage an den Tarifbezug entnommen werden. Letzteres ist jedoch eine Voraussetzung für den Schutz nichtgewerkschaftlicher Streiks, da nur Gewerkschaften Tarifverträge abschließen dürfen.212 Sollte der Streik ohne Tarifbezug durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt sein, wäre es aus verfassungsrechtlicher Sicht mög-

207  Ähnlich auch Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 132, die hervorhebt, dass das Urteil keine Abkehr von einem weiten Schutzbereichsverständnis ist und darauf hinweist, dass das Urteil als Nichtannahmebeschluss keine materielle Rechtskraft erzeuge; a.A. Hohenstatt/Schramm, NZA 2007, 1034, 1035. 208  BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2004, 1 BvR 1191/03, NZA 2004, 1338, 1339, Hervorhebung durch den Verfasser. 209  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493 f. 210  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494. 211  Ebenso BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1056; Greiner, Rechtsfragen, S. 110 f.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 131 ff.; vgl. Bertke, NJW 2014, 1852; Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 142; Wietfeld, Arbeitnehmeraußenseiter, S. 106; Zachert/Binkert, NZA 1998, 337, 341; Kittner, in: FS Jaeger, S. 492; vgl. Zachert, AuR 2001, 401, 404; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 7 f.; Melot de Beauregard, NZA-RR 2013, 617, 618; vgl. Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 326; vgl. zum Arbeitskampf Krause, in: Giesen/Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 66; einschränkend Litschen, NZA-RR 2015, 57, 58, in Fn. 30; a.A. Rudkowski, Streik in der Daseinsvorsorge, S. 11; Otto, RdA 2010, 135, 139; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 495; bezüglich des Tarifbezugs Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 344 f. 212  Vgl. zu diesem Zusammenhang Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 19.

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lich, dass der Streik von nichtgewerkschaftlichen Koalitionen geführt wird.213 Jedenfalls versperrt die bisherige Rechtsprechung des BVerfG ein derartiges Ergebnis nicht, da es die zwingende Tarifbindung des Streiks bisher nicht bestätigt hat.214 In diesem Zusammenhang ist jedoch eine jüngere Feststellung des BVerfG im „Flashmob-Beschluss“ erklärungsbedürftig. So bestätigte das Gericht die in der Vorinstanz durch das BAG aufgestellten Kriterien für die Zulässigkeit eines Flashmobs. Es billigte insbesondere, dass der „Flashmob als gewerkschaftlich getragene Arbeitskampfmaßnahme erkennbar sein (müsse)“ und dadurch zeige „dass es sich nicht um eine ‚wilde‘, nicht gewerkschaftlich getragene Aktion handelt“215. Zwar beziehen sich die aufgestellten Kriterien auf die Zulässigkeit des Flashmobs und nicht des Streiks, doch könnte man zur Annahme geneigt sein, dass das BVerfG dadurch implizit auch für den Arbeitskampf generell ein Gewerkschaftsmonopol akzeptieren würde. Hiergegen spricht jedoch der konkrete Kontext, der das BVerfG zu dieser Aussage veranlasst hat. So bezieht es sich insbesondere auf die Gefahr, dass durch die Beteiligung Dritter – jedoch nicht durch Koalitionsmitglieder – der Flashmob außer Kontrolle geraten könnte.216 Wenn 213  Siehe zu nichtgewerkschaftlichen Koalitionen als Träger der Koalitionsfreiheit bereits die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 214  So auch Zachert, AuR 2001, 401, 403 f., Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 8; Giesen/Kersten, NZA 2018, 1, 3; Kittner, in: FS Jaeger, S. 484. Auch das Urteil des BverfG zum Tarifeinheitsgesetz hat laut des Gerichts keine Auswirkungen auf den Arbeitskampf, BVerfG, Urt. v. 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u.a., NZA 2017, 915, 917 in Rn. 138; dazu ausführlich Steinau-Steinrück/Gooren, NZA 2017, 1149, 1150 f. Auch das Urteil des BVerfG zum Streikverbot für Beamte drüfte hieran nichts geändert haben. In diesem musste sich der 2. Senat des BVerfG jüngst mit dem Tarifbezug des Streiks auseinandersetzen. Das Gericht wies darauf hin, dass zumindest ein mittelbar auf Tarifverhandlungen Dritter gerichteter Streik vom Schutzbereich umfasst sei. Ob in anders gelagerten Fällen, in denen Beamte eigene nichttarifliche Regelungen „erstreiken“ wollten, der Schutzbereich eröffnet sei, ließ das Gericht offen, BVerfG, Urt. v. 12. 6. 2018, 2 BvR 1738/12 u.a., NJW 2018, 2695, 2701 f., Rn. 140. Der Verweis auf die Flashmob Entscheidung der 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG mit dem knappen Hinweis, entscheidend sei eine „gewerkschaftlich getragene, auf Tarifverhandlungen bezogene Aktionen“, sollte nicht als Entscheidung des BVerfG für einen zwingenden Tarifbezug und eine Gewerkschaftsbindung durch Art. 9 Abs. 3 GG gedeutet werden. Es fehlt hierzu einerseits an der erforderlichen Auseinandersetzung mit den Argumenten für einen weiten Schutzbereich sowie andererseits einem Bedürfnis im konkreten Fall, eine Entscheidung gegen das weite Verständnis treffen zu wollen. Dies zeigt der einleitende Satz der Randnummer 140, wonach „jedenfalls“ in den vorliegenden Fällen der Schutzbereich nicht durch Tarifbezogenheit und Tariffähigkeit beschränkbar sei. Wie die hier nachfolgenden Ausführungen zum Flashmob-Beschluss zeigen, hat die durch den 2. Senat zitierte 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG zudem keineswegs einen Tarifbezug und eine Gewerkschaftsbindung des Streiks als schutzbereichsimmanent festgestellt. Dies sollte auch dem 2. Senat nicht unterstellt werden. 215  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494. 216  Litschen, NZA-RR 2015, 57, 63; Bauer, ArbR Aktuell 2014, 233.

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es in diesem Zusammenhang von einer „wilden“ Aktion spricht, bezieht es sich vielmehr auf den Einfluss außenstehender Dritter, die nicht Teil der Koalition sind. Außerdem muss die Äußerung konkret im Kontext mit den unkontrollierbaren Auswirkungen eines Flashmobs gesehen werden, der sich graduell stark von einem Streik durch eine passive Arbeitsniederlegung unterscheidet.217 Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass das BVerfG durch die Billigung der Gewerkschaft als Trägerin des Flashmobs eine allgemeine subjektive Bedingung der Arbeitskampffreiheit hätte markieren wollen.218 Der Beschluss schließt es zumindest nicht aus, dass ein Streik durch eine nichtgewerkschaftliche Koalition geführt werden kann. Als Resümee muss der Aussage im „Flashmob-Beschluss“ eindeutig widersprochen werden, dass „die Maßstäbe zur Beurteilung von Arbeitskämpfen, die sich aus Art. 9 III GG ergeben, [..] geklärt [sind]“.219 Vor allem der Bereich des Arbeitskampfes, der sich nicht auf einen unmittelbaren Tarifvertrag bezieht, ist bisher nicht durch das BVerfG abwehrrechtlich eingeordnet worden. Die folgende Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansichten des Schrifttums und der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zum Umfang der Betätigungsfreiheit wird daher eine diesbezügliche Antwort geben müssen. II.  Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und Ansichten in der Literatur Mit der nicht eindeutigen verfassungsgerichtlichen Einordnung des Streiks in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit geht eine umstrittene Diskussion in der Rechtsprechung des BAG und in der Literatur einher. Diese lässt sich dogmatisch in ein enges und ein weites Grundrechtsverständnis unterteilen.220 Das BAG hat der Kritik aus Teilen der Literatur zumindest bereits Rechnung getragen, indem es angedeutet hat, dass Bedarf für eine Überprüfung seines eigenen, eher engen Verständnisses bestehe.221 Im Folgenden werden zuerst die unterschiedlichen Be217  So eindeutig Bertke, NJW 2014, 1852: „konkret auf den Flashmob bezogenen Aussage“. 218 Vgl. Bertke, NJW 2014, 1852: „der Beschluss des BVerfG [geht] nicht über seine frühere Rechtsprechung zum Arbeitskampfrecht hinaus“; unklar hingegen Krause, in: Giesen/Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 75 ff., der die Ausführungen des BVerfG einerseits nicht als Auseinandersetzung mit dem personellen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG deutet, aber andererseits der Ansicht ist, es würde dem Gericht auf „die gewerkschaftliche Führerschaft ankommen“. 219  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493. 220 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 203; Lübbe-Wolff, DB 1988, Beilage Nr. 9, 1, 2. 221  BAG, Urt. v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 740; offenlassend BAG, Urt. v. 24. 4. 2007, 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987, 994.

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gründungen eines engen und eines weiten Grundrechtsverständnisses dargestellt, um auf dieser Grundlage durch eine methodengerechte Auslegung den Schutz­ umfang des Streiks zu bestimmen. 1.  Koalitionszweck als gemeinsamer Nenner aller Ansichten Es stellt sich zunächst die Frage, ob die Verfolgung des Koalitionszwecks ein unstreitiges Kriterium ist und als Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung dienen kann.222 Der Koalitionszweck ist der primäre Grund für die Annahme, dass neben der Koalitionsbildung auch die Koalitionsbetätigung abwehrrechtlich geschützt sein muss.223 Darüber hinaus grenzt er durch die besondere Zwecksetzung die Koalitionsfreiheit von der allgemeinen Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 GG ab und nimmt dadurch eine „Maßstabsfunktion für den Umfang der garantierten Betätigung“224 ein. Betrachtet man den Streik als Teil dieser geschützten Betätigungsfreiheit, muss er sich ebenfalls dem Koalitionszweck unterordnen, so dass ein Streik zwingend auf die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ gerichtet sein muss. Das Schrifttum und die Rechtsprechung gehen dementsprechend davon aus, dass die Koalitionsfreiheit überhaupt nur Betätigungen abwehrrechtlich schützen kann, die den Koalitionszweck verfolgen.225 Der Koalitionszweck schließt es aus, dass ein allgemein-politischer Streik, der beispielsweise der militärischen Abrüstung oder dem Umweltschutz dient, einen Schutz durch die Koalitionsfreiheit erfährt.226 Alle folgenden Ansichten haben daher gemeinsam, dass nur solche Tätigkeiten für die Aufnahme in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit geeignet sind, die mit dem Koalitionszweck zusammenhängen. Erst in einem zweiten Schritt fallen die Ansichten auseinander und stellen bei einem engen Grundrechtsverständnis weitere Voraussetzungen auf.

222  Siehe zum Inhalt des Koalitionszweck bereits die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., I., 2. „Bedeutung des Koalitionszwecks“. 223  Siehe dazu bereits den 3. Teil, 2. Kapitel, B., II, 2. „Schutz der Betätigungsfreiheit“. 224  Schwarze, JuS 1994, 653, 655. 225  Zum Streik: Gumnior, Sympathiestreik, S. 95; Bruhn, Tariffähigkeit, S. 77 f.; allgemein zum Arbeitskampf: BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493; BAG, Urt. v. 22. 9. 2009, 1 AZR 972/08, NZA 2009, 1347, 1351; Krichel, NZA 1987, 297, 299; Greiner, NJW 2010, 2977, 2982; Greiner, Rechtsfragen, S. 118 f.; Friauf, RdA 1986, 188, 189; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 135; Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 209 f.; Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 415; Schwarze, JuS 1994, 653, 655 und 657; Rieble, BB 2008, 1506, 1508; allgemein zur Betätigungsfreiheit: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 227 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 79; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 64; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 209. 226  Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 113; Friauf, RdA 1986, 188, 189; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 69; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 316, m.w.N.

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2.  Enge Tatbestandstheorie: Weitere Voraussetzungen Grundrechtsdogmatische Ansätze, die im Wege der Auslegung versuchen, den Schutzbereich der Grundrechte durch zusätzliche Grenzen und Voraussetzungen zu verengen, können unter dem Begriff „Enge Tatbestandstheorien“ zusammengefasst werden.227 Bezüglich des Arbeitskampfes und des Streiks vertritt die herrschende Meinung ein enges Tatbestandsverständnis, indem sie zwar den Streik als Koalitionsmittel generell anerkennt, aber die Tarifautonomie in das Zentrum ihrer Argumentation einbezieht. Aus dieser Verknüpfung ergeben sich zusätzliche Grenzen für den abwehrrechtlichen Schutz des Streiks, auf deren dogmatische Begründung im Folgenden eingegangen wird. Unabhängig vom spezifischen Begründungsansatz scheint ein Beweggrund für ein enges Grundrechtsverständnis zu sein, dass mit der Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung eine „Entgrenzung“228 des Arbeitskampfes befürchtet wird. Teilweise wird sogar eine Annäherung der Betätigungsfreiheit an die allgemeine Handlungsfreiheit konstatiert.229 Derartige Wahrnehmungen haben zu verschiedenen Modellen geführt, die den Arbeitskampf bereits auf Schutzbereichsebene begrenzen. a)  Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Der streikbezogenen Rechtsprechung des BAG liegt zumindest in ihren Anfängen ein sehr restriktives Verständnis zugrunde. Als charakteristisch gilt die Aussage, dass der Streik und die Aussperrung „im allgemeinen unerwünscht [sind], da sie volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und den im Interesse der Gesamtheit liegenden sozialen Frieden beeinträchtigen“230. Dennoch erkannte das Gericht an, dass der Streik in bestimmten Grenzen erlaubt sein müsse und ein sozialadäquates Mittel sei.231 In seinen ersten Urteilen musste das BAG zu den arbeitsvertraglichen Auswirkungen des tarifbezogenen und gewerkschaftsgetragenen Streiks Stellung beziehen – ohne dass es sich dabei jedoch auf eine verfassungsrechtliche Argumentation stützte.232 Es stufte den tarifbezogenen und gewerkschaftsgetragenen Streik als legitim ein und wies diesem zuerst die Suspendierungswirkung zu233 und stellte ihn kurz darauf auch von der delikts227 Vgl. Kahl, Der Staat 2004, 167, 168; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 203; Lübbe-Wolff, DB 1988, Beilage Nr. 9, 1, 2. 228  Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 63; Otto, RdA 2010, 135, 139. 229  Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 63; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 150. 230  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. 231  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. 232 Vgl. Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 287; Dieterich, in: FS Jaeger, S. 101 f.; Kittner, in: FS Jaeger, S. 504; Schwegler, GMH 1972, 299, 304. 233  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882.

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rechtlichen Haftung frei234. Die arbeitsvertragliche Zulässigkeit des nichttarifbezogenen und nichtgewerkschaftlichen Streiks ließ der Große Senat des BAG in seinem ersten Urteil noch explizit offen.235 Nur kurze Zeit später stufte das Gericht allerdings den nichttarifbezogenen Streik als rechtswidrig ein und knüpfte an ihn die deliktsrechtliche Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB.236 Zur arbeitsvertraglichen Wirkung des nichttarifbezogenen Streiks äußerte sich das Gericht nicht explizit. Da das BAG den nichttarifbezogenen Streik jedoch als „sozial inadäquat“237 bezeichnete, ist im Zusammenhang mit dem vorhergehenden Urteil des Großen Senats darauf zu schließen, dass es dem nichttarifbezogenen Streik keine Suspendierungswirkung zuerkennen wollte.238 Insgesamt stützte sich das BAG bei diesen Urteilen mehr auf eine sozialethische Begründung als auf eine dogmatische Herleitung.239 Obwohl das Gericht für diese Urteile das Grundgesetz noch nicht als Ausgangspunkt wählte, ist bereits ersichtlich, dass die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie der Anknüpfungspunkt des streikrechtlichen Verständnisses des BAG ist. So führte das Gericht aus: „Es ist Aufgabe einer Gewerkschaft, zugunsten der Arbeitnehmer […] Arbeitsbedingungen auszuhandeln und sie notfalls im Wege des Streiks zu erkämpfen. Das Mittel der Verwirklichung dieser gewerkschaftlichen Aufgaben und Ziele ist in der gegebenen Rechtsordnung der Tarifvertrag, zu dessen Abschluß die Arbeitgeber notfalls durch Arbeitskampf, insbes. Streik, veranlaßt werden sollen.“240

Die Ausrichtung des Arbeitskampfes auf den Tarifvertrag bestätigte der Große Senat des BAG 1971 in seinem zweiten Urteil zum Arbeitskampf,241 wobei er

234 

BAG, Urt. v. 4. 5. 1955, 1 AZR 493/54, NJW 1955, 1373. GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883: „nur der gegen die Arbeitgeber gerichtete Streik um die tarifliche Regelung der Arbeitsbedingungen [ist, Anm. d. Verf.] zu untersuchen“; so auch das Verständnis von Richardi, in: FS Säcker, S. 288. 236  BAG, Urt. v. 4. 5. 1955, 1 AZR 493/54, NJW 1955, 1373: „Ein Streik, der Ziele verfolgt, die von der Rechtsordnung […] mißbilligt werden, ist jedoch rechtswidrig. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn um Ziele gestreikt wird, die dem geltenden Tarifvertragsrecht widersprechen.“; kritische Würdigung des Urteils bei Richardi, in: FS Säcker, S. 288 ff. 237  BAG, Urt. v. 4. 5. 1955, 1 AZR 493/54, NJW 1955, 1373. 238 Siehe zum Verhältnis zwischen Deliktsrecht und arbeitsvertraglicher Bindung Richardi, in: FS Säcker, S. 290. 239 Vgl. Richardi, in: FS Säcker, S. 288 ff.; ähnlich Bepler, in: FS Wißmann, S. 102; kritisch zur Sozialadäquanz Däubler, ZfA 1973, 201, 206 f. 240  BAG, Urt. v. 4. 5. 1955, NJW 1955, 1373, Hervorhebung durch den Verfasser. 241  BAG GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, NJW 1971, 1668, unter *: „Der Arbeitskampf dient der Erreichung bestimmter Kampfziele, regelmäßig dem Abschluß eines Tarifvertrages.“ 235  BAG

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wiederum ohne verfassungsrechtliche Anknüpfung des Streiks argumentierte.242 Erst 1980 bezog sich das Gericht ausdrücklich auf Art. 9 Abs. 3 GG und bestätigte, dass der Streik als Teil der Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet sei.243 Ob die Koalitionsfreiheit über den Bereich der Tarifautonomie hinaus den Arbeitskampf gewährleiste, ließ das Gericht mangels Entscheidungserheblichkeit ausdrücklich offen.244 Die zwingende Bindung des verfassungsrechtlich geschützten Streiks an den Tarifvertrag nahm das Gericht in einem eher unscheinbaren Urteil im Jahr 1984 vor: „Nach Art. 9 Abs. 3 GG haben die Arbeitnehmer ein Streikrecht. Doch dient das Streikrecht nur der Durchsetzung solcher Ziele und Forderungen, die Gegenstand eines TV sein können und sollen. Denn nur in diesen Fällen sind die Arbeitnehmer auf ihr Streikrecht angewiesen. Nur insoweit besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Tarifautonomie, TV und Arbeitskampf.“245

Seit diesem Urteil reduziert das BAG den verfassungsrechtlichen Arbeitskampf insgesamt ausschließlich auf seine „Hilfsfunktion“ für die Tarifautonomie und sieht ihn konsequenterweise auch dadurch begrenzt: „Die Funktion des Arbeitskampfes bestimmt die Grenzen seiner Zulässigkeit. Der Arbeitskampf ist wegen seiner Hilfsfunktion für die Tarifautonomie gewährleistet und zulässig. Er dient dem Ausgleich sonst nicht lösbarer tarifl. Interessenkonflikte. Er ist ein Hilfsinstrument zur Sicherung der Tarifautonomie. Deshalb darf er auch nur als Instrument zur Durchsetzung tarifl. Regelungen eingesetzt werden.“246

Da nur Gewerkschaften im Stande sind, Tarifverträge abzuschließen, wird nach Ansicht des BAG nur der gewerkschaftliche Streik durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt. Dies stellte das Gericht zum ersten Mal explizit fest, als es 1988 einem Arbeitgeber einen deliktsrechtlichen Anspruch auf Schadensersatz gegen die Teilnehmer eines nichtgewerkschaftlich organisierten Streiks zusprach.247 Zu demselben Ergebnis war das Gericht bereits in einem früheren Urteil gekommen, 242  Dieterich, in: FS Jaeger, S. 102: „Als der Große Senat des BAG im Jahr 1971 sein Arbeitskampfrecht einer Revision unterzog, wurde die Verfassung überhaupt nicht mehr erwähnt.“ 243  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643 f., (Abwehraussperrung): „Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik [sind, Anm. d. Verf.] im allgemeinen nicht mehr als kollektives Betteln“. 244  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1645: „Vor allem kann offen bleiben, inwieweit das Grundrecht der Koalitionsfreiheit über die Tarifautonomie hinaus auch eine bestimmte Kampfordnung verfassungsrechtlich gewährleistet.“; a.A. Zachert, NZA-Beil. 2006, 61, 62. 245  BAG, Beschl. v. 23. 10. 1984, 1 AZR 126/81, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 82. 246  BAG, Urt. v. 5. 3. 1985, 1 AZR 468/83, NZA 1985, 504, 507. 247  BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883: der „nichtorganisierte Streik [findet] keine Stütze in Art. 9 III GG und ist rechtswidrig.“

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ohne dabei jedoch auf Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG zu argumentieren.248 Ebenfalls stellte das Gericht fest, dass dem nichtgewerkschaftlichen Streik keine Suspendierungswirkung zukäme und der Arbeitgeber daher berechtigt sei, dem Streikenden zu kündigen.249 Der zwingende Tarifbezug ist selten ausführlich dogmatisch begründet worden. Neben der Kernbereichsformel, auf die sogleich einzugehen ist, stützte sich das BAG zur Begründung auf das Tarifvertragsgesetz (TVG). So rechtfertigte es das Verbot des „wilden“, nichtgewerkschaftlichen Streiks mit der Ausrichtung des TVG auf tariffähige Koalitionen.250 In diesem Urteil argumentierte das Gericht nicht verfassungsrechtlich, da es erst mit dem Aussperrungsurteil vom 10. 6. 1980 den Streik der Koalitionsfreiheit zuordnete. Dort stellte es dann richtigerweise fest, dass „weder im TVG noch in den verschiedenen tarifdispositiven Schutzgesetzen [..] vom Arbeitskampf ausdrücklich die Rede [ist]“251 und unterschied dadurch zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht. Diese Unterscheidung hielt das Gericht jedoch nicht aufrecht, da es in späteren Urteilen den verfassungsrechtlichen Schutz des Streiks anhand von „Art. 9 III GG i.V. mit § 2  TVG“252 zu bestimmen versuchte.253 Damit drückte das Gericht aus, dass es den Schutzbereich mithilfe des einfachgesetzlichen TVG bestimmt. In der jüngeren Rechtsprechung lässt sich der Verweis auf das TVG allerdings nicht mehr finden.254 So sieht sich das „Dogma des tariflich regelbaren Ziels“255 in der jüngeren Rechtsprechung neuen Einflüssen ausgesetzt. Vor der Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung durch das BVerfG am 14. 11. 1995 berief sich das BAG noch ausdrücklich auf das BVerfG. Es verwies auf dessen bereits erläuterte Reduzierung 248  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 886: „Ein solcher rechtswidriger Streik erfüllt den objektiven Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB.“ 249  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; ausführlich BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237; die Zulässigkeit des Streiks einer „ad-hoc-Koalition“ hatte das BAG zuvor mangels Entscheidungserheblichkeit noch offengelassen: BAG, Urt. v. 17. 12. 1976, 1 AZR 772/75, NJW 1977, 918; Andeutungen bereits in BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885 f. 250  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885. 251  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643. 252  BAG, Urt. v. 7. 06. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883. 253  Siehe ausdrücklich BAG, Urt. v. 5. 3. 1985, 1 AZR 468/83, NZA 1985, 504, 507: „Der Gesetzgeber hat den Arbeitskampf über die Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes bisher nur im Zusammenhang mit der Tarifautonomie geregelt. Er hat Streik und Aussperrung als Kampfmittel in einem Tarifkonflikt zugelassen.“ 254  Vielmehr hat das BAG klargestellt, der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG gehe „über den Bereich der Tarifautonomie hinaus und umfasst nicht nur Aktivitäten, die der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge dienen“ (BAG, Urt. v.  25. 1. 2005, 1 AZR 657/03, NZA 2005, 592, 593). 255  So die kritische Formulierung von Buschmann, in: FS Kempen, S. 256; ähnlich Fischer, NZA 2015, 1303.

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auf unerlässliche Betätigungen, um den zwingenden Tarifbezug des verfassungsrechtlichen Streiks dogmatisch zu rechtfertigen: „[Der Arbeitskampf] ist ein Hilfsinstrument zur Sicherung der Tarifautonomie. Deshalb darf er auch nur als Instrument zur Durchsetzung tariflicher Regelungen eingesetzt werden. […] Ein weitergehendes Streikrecht läßt sich Art. 9 III GG nicht entnehmen. Verfassungsrechtlich gewährleistet ist […] der Kernbereich der Koalitionsbetätigung, also das Recht, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung die in Art. 9 III GG genannten Zwecke zu verfolgen.“256

Der Streik galt für das BAG daher nur im Zusammenhang mit der Tarifautonomie als unerlässlich – für weitergehende Ziele mag er zwar hilfreich gewesen sein, doch nicht unerlässlich und Teil des Kernbereiches.257 Diese Argumentation wird seit Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung nicht mehr verwendet. Das BAG verweist nicht mehr auf einen Kernbereichsschutz, sondern korrigierte seine frühere Auffassung und hebt mittlerweile unter Verweis auf das BVerfG ausdrücklich hervor, dass „der Schutzbereich […] nicht von vornherein auf einen Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigungen beschränkt [sei], die für die Sicherung des Bestands der Koalitionen unerlässlich sind, er erstreckt sich vielmehr auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen.“258 Welche Auswirkungen hat dieses neue liberalere Verständnis auf den Tarifbezug des Streiks? Hat das BAG durch den Wegfall der Kernbereichsrechtsprechung auch die zwingende Bindung an den Tarifvertrag gelöst und sieht den Streik nunmehr nur durch die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen begrenzt? Diesen naheliegenden Schritt ist das BAG bisher nicht gegangen. Es hat allerdings erkannt, dass sein Verständnis vom Streik als Hilfsinstrument einer „erneuten Überprüfung“259 bedürfen könnte. In diesem Urteil bezog sich das BAG jedoch nicht ausdrücklich auf die Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung, sondern auf Art. 6 Nr. 4 ESC und eine völkerrechtliche Verpflichtung. Auch in einem späteren Urteil bezog sich das Gericht auf die Zu256  BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883; vgl. zuvor bereits BAG, Urt. v. 5. 3. 1985, 1 AZR 468/83, NZA 1985, 504, 507, (Sympathiestreik). 257  Vgl. zum Zusammenhang zwischen BAG Rechtsprechung und Kernbereichsrechtsprechung Dieterich, in: FS Jaeger, S. 103: „Das BAG ging von der Kernbereichsformel aus […].“ 258  BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 611/1, NZA 2013, 437, 442 zum Arbeitskampf in kirchlichen Einrichtungen; ebenso BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 179/11, NZA 2013, 448, 462; ähnlich zum Flashmob BAG, Urt. v. 22. 9. 2009, 1 AZR 972/08, NZA 2009, 1347, 1351; ebenfalls zur Rechtmäßigkeit des Unterstützungsstreiks BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1056. 259  BAG, Urt. v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 740, (Firmentarifvertrag): „Dabei mag die generalisierende Aussage, Arbeitskämpfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifvertraglich regelbarer Ziele zulässig, im Hinblick auf Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC einer erneuten Überprüfung bedürfen.“

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lässigkeit des Tarifbezugs und ließ ausdrücklich offen, ob der Tarifbezug mit der ESC vereinbar sei.260 Erst 2007, in einem neuen Urteil zur Zulässigkeit des Unterstützungsstreiks, ging das BAG im Zusammenhang mit der Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung auf das Verbot nichttarifbezogener Streiks ein. Es ließ die Auswirkungen jedoch mangels Entscheidungserheblichkeit offen: „Der Senat hat sich dem hiernach gebotenen [gemeint ist das Urteil des BVerfG zur Aufgabe der Kernbereichsformel, Anm. des Verfassers], alle koalitionsspezifischen Betätigungen umfassenden Verständnis des Schutzbereichs des Art. 9 III GG in ständiger Rechtsprechung angeschlossen. Die Frage, ob auch reine Demonstrationsstreiks, mit denen ohne Bezug auf einen um einen Tarifvertrag geführten Arbeitskampf lediglich Protest oder Sympathie – etwa für oder gegen Entscheidungen des Gesetzgebers – zum Ausdruck gebracht werden soll (vgl. zu einer gewerkschaftlichen, an den Landesgesetzgeber gerichteten Unterschriftenaktion BAG [25. 1. 2005], BAGE 113, 230 = NZA 2005, 592 = NJW 2005,1596; und BVerfG, NZA 2007, 394 = NJW 2007, 1672 L), zur gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit gehören, stellt sich vorliegend nicht.“261

In einer weiteren wichtigen Entscheidung, dem „Flashmob-Urteil“, deutet das BAG ein dogmatisch weites Verständnis des Arbeitskampfes an. Ein grundrechtlicher Schutz koalitionsspezifischer Mittel sei anzunehmen, wenn das Mittel allgemein der Durchsetzung eines koalitionsspezifischen Ziels diene – wie „insbesondere der Erzwingung eines Tarifvertrages“262. Der Schutz des Arbeitskampfes scheint daher nicht zwingend auf den Tarifvertrag begrenzt zu sein, da für das BAG parallel noch weitere koalitionsspezifische Ziele existieren.263 Dem BAG scheint somit bewusst zu sein, dass die Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung durch das BVerfG Auswirkungen auf das abwehrrechtliches Verständnis des Streiks und insbesondere den zwingenden Tarifbezug haben kann.264 Trotzdem hat es bisher keine Änderung vorgenommen und eine konkrete Auseinandersetzung vermieden. Erstaunlicherweise wird die Frage sogar in 260  BAG, Urt. v. 24. 4. 2007, 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987, 994, (Tarifsozialplan): „Im Streitfall bedarf es keiner Erörterung der Frage, ob diese Beschränkung mit den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus völkerrechtlichen Verträgen, etwa aus Teil II Art. 6 Nr. 4 der Europäischen Sozialcharta zu vereinbaren ist.“ 261  BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057. 262  BAG, Urt. v. 22. 9. 2009, AZR 972/08, NZA 2009, 1347, 1351, Hervorhebung durch den Verfasser. 263  Ähnlich auch die Interpretation von Giesen, in: Rieble/Junker/Giesen, Neues Arbeitskampfrecht?, S. 104. 264  Vgl. zu den anerkannten Auswirkungen auf den Schutzbereich: BAG, Urt. v. 28. 2. 2006, 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798, 800: „Im Lichte der neueren Rechtsprechung des BVerfG ist ein Zugangsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zum Zwecke der Mitgliederwerbung grundsätzlich gegeben“; ebenso BAG, Urt. v.  25. 1. 2005, 1 AZR 657/03, NZA 2005, 592, 593; BAG, Beschl. v. 20. 4. 1999, 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887, 891).

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3. Teil: Grundgesetz

jüngeren Entscheidungen nicht mehr thematisiert. Das Gericht ist vielmehr in der letzten Zeit zu seiner alten, sehr strikten Auffassung zurückgekehrt und deutet nicht mehr an, dass der Tarifbezug einer Überprüfung bedürfe: „Der Arbeitskampf ist deshalb funktional auf die Tarifautonomie bezogen und insoweit grundrechtlich geschützt […]. Ein Grundrecht auf Streik, losgelöst von seiner funktionalen Bezugnahme auf die Tarifautonomie, gewährleistet Art. 9 Abs. 3 GG nicht.“265

Ungeachtet der zwischenzeitlichen Zweifel am Tarifbezug muss aus aktueller Sicht festgehalten werden, dass das BAG trotz Aufgabe der Kernbereichsformel weiterhin an einem engen Streikverständnis festhält.266 Es reduziert den Schutzumfang des Art. 9 Abs. 3 GG auf den Streik als Hilfsfunktion für die Tarifautonomie und sieht ihn daher auf tarifvertragliche Ziele begrenzt und ausschließlich als gewerkschaftliches Koalitionsmittel. Ein zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nichttariflicher und nichtgewerkschaftlicher Streik wird nach Ansicht des BAG nicht durch die Koalitionsfreiheit geschützt. Mit den beiden jüngsten Urteilen zum Streik in der Kirche ist sogar eine restriktivere Tendenz erkennbar, da die „funktionale Bezugnahme“ besonders hervorgehoben wird. Kritisch muss bereits an dieser Stelle bemerkt werden, dass sich das BAG in diesen zwei Urteilen zur Begründung des Tarifbezugs auf Urteile des BVerfG bezieht. Wie jedoch bereits dargestellt wurde, kann dem BVerfG keine eindeutige Aussage in diese Richtung entnommen werden.267 b)  Herrschende Meinung in der Literatur Das Schrifttum schließt sich überwiegend der Einschätzung des BAG an und reduziert den verfassungsrechtlichen Schutz auf den tarifbezogenen Streik.268 265  BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 611/1, NZA 2013, 437, 442; ebenso die Parallelentscheidung BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 179/11, NZA 2013, 448, 462. 266 Vgl. Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 18. 267  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, A., I., 2. „Der Streik in der Rechtsprechung des BVerfG“, wonach sich das BVerfG nicht auf den Tarifbezug festgelegt hat. 268  Zum Streik: Henssler, ZfA 2010, 397, 410; Jacobs, Tarifeinheit, S. 420; Franzen/ Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 49 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 939; Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 827 ff.; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 168; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 163 f.; Krichel, NZA 1987, 297, 299; Reuter, ZfA 1990, 535, 544; Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 324; Säcker, BB 1971, 962, 963; Birk/ Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 17; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 493; Rudkowski, Streik in der Daseinsvorsorge, S. 12 f.; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 109; allg. zum Arbeitskampf: Litschen, NZA-RR 2015, 57, 58; Lembke, NZA 2014, 471, 472; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 173; Hohenstatt/Schramm, NZA 2007, 1034. 1035; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 127; Kluth, in: Berliner Kommentar

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Für die herrschende Ansicht sind der Arbeitskampf und der Streik nur mittelbar über die Tarifautonomie ein Bestandteil des Art. 9 Abs. 3 GG. Dementsprechend könne der Streik nicht dem Abschluss nichttariflicher Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern dienen,269 noch wird er als ein allgemein-zulässiges Mittel zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen angesehen.270 Er sei ausschließlich ein „Hilfswerkzeug“271 der Tarifautonomie, ein „Annex“272 und insofern auf tarifvertragliche Ziele begrenzt.273 Mit dieser Begrenzung des Streiks auf den Tarifvertrag geht auch der Ausschluss des „wilden“, nichtgewerkschaftlichen Streiks aus dem Schutzbereich einher. Die herrschende Ansicht im Schrifttum nimmt an, dass die Koalitionsfreiheit nur den gewerkschaftlich geführten Streik schütze, da nur Gewerkschaften Tarifverträge abschließen können.274 Teilweise spricht sich die Literatur ohne eine dogmatische Herleitung für das enge Schutzbereichsverständnis aus und verweist lediglich auf die Rechtspre-

GG, Art. 9, Rn. 219; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 217 f.; Konzen, AcP 1977, 473, 496; Melot de Beauregard, NZA-RR 2013, 617; Otto, RdA 2010, 135, 137; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 98 f.; Rieble, BB 2008, 1506, 1512; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 492; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 150; Raab, in: FS Otto, S. 408 ff., dessen Ausführungen sich jedoch schwerpunktmäßig auf den suspendierenden Arbeitskampf beziehen; Richardi, in: FS Säcker, S. 292, ebenfalls speziell zur suspendierenden Wirkung; Schwarze, JuS 1994, 653, 656 f., jedoch nicht bezogen auf den Arbeitskampf als „natürliche Betätigung“. 269  Vgl. allgemein zum Arbeitskampf Litschen, NZA-RR 2015, 57, 58. 270 Vgl. Otto, in: Rieble/Junker/Giesen, Neues Arbeitskampfrecht?, S. 25: „die Gewährleistung des Arbeitskampfs und erst recht die Wahl einzelner Kampfmittel [ist nicht, Anm. d. Verf.] auf die gleiche Stufe wie die Werbung um Mitglieder oder die Tarifautonomie zu stellen.“; ähnlich Lieb, NZA 1985, 265, 268. 271  Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 49; Litschen, NZA-RR 2015, 57, 58. 272  Otto, in: Rieble/Junker/Giesen, Neues Arbeitskampfrecht?, S. 25. 273 Vgl. Henssler, ZfA 2010, 397, 410: „kaskadenartige Herleitung des Streikrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG“. 274  Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 169; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1087 ff.; Konzen, AcP 1977, 473, 498; Konzen, in: 50 Jahre BAG, S. 531; Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 324; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 495; Reuter, ZfA 1990, 535, 553; Säcker, BB 1971, 962, 963; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 241, jedoch für das Recht der ad-hoc Koalition zur Arbeitsniederlegung mit vorheriger Kündigung (S. 245); Schwarze, JuS 1994, 653, 657; Franzen/Thüsing/ Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 50 in Fn. 186; Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 356; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 109; Greiner, Rechtsfragen, S. 120: „wilden Streiks kann allenfalls der schwächere Grundrechtsschutz durch Art. 2 I GG zukommen“; hingegen differenzierend hinsichtlich der „Träger des Arbeitskampfes“ Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 16.

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chung des BVerfG zum Arbeitskampf.275 Wie bereits dargelegt wurde, kann dem BVerfG jedoch keine eindeutige Aussage zum Streik entnommen werden und die Rechtsprechung nach Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung deutet eher auf ein weites Schutzbereichsverständnis hin.276 Allerdings werden in der Literatur auch eigenständige Erklärungsmodelle vertreten, die eine eigene Begründung für ein enges, auf tarifbezogene Streiks limitiertes Schutzbereichsverständnis enthalten. Diese Modelle werden im Folgenden dargestellt. aa) Wortlautbezogene Argumentation und teleologische Erwägungen Otto vertritt die Ansicht, dass der zwingende Tarifbezug das Ergebnis der teleologischen Herleitung der Betätigungsfreiheit sei. Er weist zunächst darauf hin, dass vom Wortlaut nur die Bildungsfreiheit gewährleistet sei. Aus teleologischen Gesichtspunkten müssten jedoch notwendige Betätigungen wie die Tarifautonomie mitgeschützt sein.277 Als notwendige Betätigung sei ebenfalls der tarifbezogene und nicht ein davon unabhängiger Arbeitskampf geschützt. Einen darüberhinausgehenden Schutz der Betätigungsfreiheit lehnt Otto ab.278 Er stützt sich vor allem auf die Aussperrungsentscheidung des BVerfG von 1991 und sieht darin – entgegen der hier vertretenen Interpretation 279 – den zwingenden Tarifbezug bestätigt.280 Die Begrenzung auf notwendige Betätigungen ähnelt der früheren Kernbereichsformel. Der Kritik an der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG schließt sich Otto insofern auch nicht an und vertritt die Auffassung, dass das „BVerfG die verfassungsrechtliche Anerkennung eines Kampfmittels nie davon abhängig gemacht [hat], dass sein Einsatz unerlässlich sein müsse.“281 275  Hohenstatt/Schramm, NZA 2007, 1034, 1035, die nur erforderliche Arbeitskampfmittel als geschützt ansehen und als Begründung auf das BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2004, 1 BvR 1191/03, NZA 2004, 1338, 1339 verweisen; genauso Reinartz/Olbertz, DB 2008, 814, 815: „Ausgangspunkt für die Definition des Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 3 GG sind die Vorgaben des BVerfG.“; ähnlich Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 200, Rn. 1 ff.; Richardi/ Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 827 ff. 276  Siehe zur arbeitskampfrechtlichen Rechtsprechung des BVerfG die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, A., I., 2. „Der Streik in der Rechtsprechung des BVerfG“. 277  Otto, in: Rieble/Junker/Giesen, Neues Arbeitskampfrecht?, S. 25; Otto, RdA 2010, 135, 137; vgl. Friauf, RdA 1986, 188, 190; vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 173 ff.; vgl. ausführlich zur Bildungsfreiheit als Ausgangspunkt einer abgestuften Betätigungsfreiheit Lieb, NZA 1985, 265, 268. 278  Otto, in: Rieble/Junker/Giesen, Neues Arbeitskampfrecht?, S. 25; ähnlich auch Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 154 ff. 279 Siehe zur streikbezogenen Rechtsprechung des BVerfG und insbesondere zu ­BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809 ff. die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, A., I., 2. „Der Streik in der Rechtsprechung des BVerfG“. 280  Otto, in: Rieble/Junker/Giesen, Neues Arbeitskampfrecht?, S. 27. 281  Otto, RdA 2010, 135, 139.

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Bei der Bestimmung des Schutzbereiches habe das Gericht sich immer an der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie orientiert. Nach seinem Verständnis habe das BVerfG die Kernbereichsrechtsprechung daher nicht aufgegeben, sondern nur eine Klarstellung getroffen.282 Sein enges Schutzbereichsverständnis verdeutlicht Otto, indem er klarstellt, dass auch nach dem Urteil des BVerfG von 1995 „nicht jede innerbetriebliche Werbung verfassungsrechtlichen Schutz genießt“283. Auch von anderen Autoren – vornehmlich des älteren Schrifttums – wird die alte Kernbereichsformel des BVerfG ausdrücklich als Begründung für eine Bindung des Streiks an die Tarifautonomie herangezogen.284 Da die Tarifautonomie in ihrem Kernbereich geschützt sei, müsse es auch einen „korrespondierenden Kernbereich der Verfassung für ein Arbeitskampfsystem geben“.285 Das darin enthaltene Recht zu streiken sei, da nur insoweit unerlässlich, funktional auf die Tarifautonomie begrenzt.286 bb) Funktionsbezogene Argumentation mit Tarifautonomie im Zentrum Eine andere Begründung wird neben anderen Autoren von Jacobs vertreten. Er stimmt zwar der Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung im Grundsatz zu und sieht damit im Ansatz auch ein weites Verständnis der Betätigungsfreiheit einhergehen.287 Allerdings befürchtet er, dass die durch das BAG und das BVerfG in den neueren Urteilen verwendete Formel, der „koalitionsspezifischen Betätigung“, zu weitgehend sei.288 Zum einen kritisiert er das BAG in seiner Annahme, dass die Koalitionen anhand des verfolgten Zieles subjektiv bestimmen könnten, ob ihre Betätigungen koalitionsspezifisch seien.289 Zum anderen sei der Begriff zu unbestimmt und würde dazu führen, dass „jedes Verhalten, das auch nur entfernt

282 

Otto, RdA 2010, 135, 139. Otto, RdA 2010, 135, 139. 284  Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 15 ff.; Krichel, NZA 1987, 297, 299; allg. zum Arbeitskampf: Konzen, AcP 1977, 473, 498; siehe aus der neueren Literatur Litschen, NZA-RR 2015, 57, 58 in Fn. 30: „Insoweit [bezüglich des zwingenden Tarifbezugs des Arbeitskampfes, Anm. d. Verf.] bleibt die Kernbereichslehre des BAG weiterhin gültig.“ 285  Konzen, AcP 1977, 473, 498. 286  Krichel, NZA 1987, 297, 299; vgl. Konzen, AcP 1977, 473, 497 f.; aus der neuen Literatur Schwarze, JuS 1994, 653, 657, der sich jedoch in erster Linie auf die Suspendierungsfunktion des Arbeitskampfes bezieht. 287  Jacobs, ZfA 2011, 71, 81; vgl. bereits zuvor für einen weiten Schutzbereich der Koalitionsfreiheit Jacobs, Tarifeinheit, S. 425 f. 288  Jacobs, ZfA 2011, 71, 82. 289  Jacobs, ZfA 2011, 71, 77 und 82, der für eine objektive Bestimmung der Koalitionsspezifizität nach Art des Kampfmittels plädiert. 283 

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3. Teil: Grundgesetz

etwas mit der Koalition zu tun [habe]“290 in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit falle. Im Ergebnis plädiert Jacobs für eine funktionsbezogene Interpretation koalitionsspezifischer Betätigungen. Die Tarifautonomie sei als Hauptfunktion der Koalitionsfreiheit der zentrale Bewertungsmaßstab: „Das Zentrum der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Koalitionsfreiheit ist die Tarifautonomie.“291 Für den Arbeitskampf bedeute dies, dass er der Tarifautonomie als dienendes Element untergeordnet sei. Ein Arbeitskampf, der andere Ziele verfolge, sei nicht koalitionsspezifisch und durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt, da die Tarifautonomie „zugleich eine Grenze des Arbeitskampfrechts“292 sei. Aufgrund der Bindung an den Tarifvertrag müsse der Arbeitskampf zudem vertragsrechtlich gedeutet werden, so dass der Arbeitskampf nur zwischen den tariffähigen Vertragsparteien stattfinden könne.293 Einen nichtgewerkschaftlichen Arbeitskampf lehnen Jacobs und andere Vertreter dieser Argumentation ab, da Tarifverträge nur von tarif­ fähigen Gewerkschaften geschlossen werden können.294 cc) Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit Ein weiterer Ansatz hebt ein generelles Bedürfnis zur Abgrenzung der Koalitionsfreiheit von der allgemeinen Handlungsfreiheit hervor. Falls die Betätigungsfreiheit nur mittels des Koalitionszwecks eine Begrenzung erfahre, würde die Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit verschwimmen.295 Dies sei vor dem Hintergrund der vorbehaltlosen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit zu verhindern, so dass weitere Kriterien die geschützten Betätigungen begrenzen müssten. So wird der abwehrrechtliche Schutz von Kemper nur für unerlässliche 290 

Jacobs, ZfA 2011, 71, 82. Jacobs, ZfA 2011, 71, 82 f.; so auch Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 14 ff.; pointiert Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 263: „Raison d’étre der Koalitionsfreiheit […] ist die Regelung der Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag“; vgl. Konzen, AcP 1977, 473, 496; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 217 f.; Säcker, BB 1971, 962, 963: die Regelungsmacht der Koalitionen sei nur auf den Tarifvertrag begrenzt; Lembke, NZA 2014, 471, 472: Art. 9 III garantiere, „Vereinigungen zum [..] Abschluss von Tarifverträgen zu bilden“. 292  Jacobs, ZfA 2011, 71, 83. Der Funktionszusammenhang wird auch durch zahlreiche andere Autoren hervorgehoben: Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 17; Jansen, Betriebliche Mitbestimmung im Arbeitskampf, S. 116 f., der das Arbeitskampfrecht als „armen Verwandten“ des Tarifrechts bezeichnet; Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 344 ff.; vgl. speziell zum Streik: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 939; Konzen, AcP 1977, 473, 496; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 101. 293  Jacobs, ZfA 2011, 71, 83 f.; ebenso Rieble, BB 2008, 1506, 1512; ähnlich Lembke, NZA 2014, 471, 472. 294 Vgl. Jacobs, ZfA 2011, 71, 83 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1087 f. 295  Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 122, 111; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 150; Rosenau, Koalitionsbetätigungsfreiheit, S. 63. 291 

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Koalitionsbetätigungen anerkannt, so dass ausschließlich erforderliche Arbeitskampfmaßnahmen geschützt seien.296 Dies rechtfertige den zwingenden Zusammenhang des Arbeitskampfes und des Streiks mit dem Tarifvertragssystem.297 dd) Tatbestandlicher Ausgleich widerstreitender Grundrechte Gellermann begründet die Bindung der Arbeitskampffreiheit an die Tarifautonomie mit einem besonderen „Konglomerat unterschiedlichster und miteinander konfligierender Interessen“298. Der Arbeitskampf berühre in besonderer Weise nicht nur die Rechte des Kampfgegners, sondern auch das Interesse der Allgemeinheit, von den Auswirkungen eines Arbeitskampfes verschont zu bleiben. Der dadurch erforderliche Ausgleich der verschiedenen Interessen müsse bereits auf Ebene des Tatbestandes erfolgen, da er wegen der Vorbehaltlosigkeit der Koalitionsfreiheit nicht auf Schrankenebene verortet werden könne. Den Anknüpfungspunkt stelle der Begriff der Arbeitskampffreiheit dar, der nur den legalen Arbeitskampf beinhalte und dadurch einen schonenden Ausgleich aller Interessen gewährleiste.299 Rechtlich anerkannt und damit legal ist für Gellermann nur der Arbeitskampf als „Freiheit zur kampfweisen Austragung von Tarifkonflikten“300. ee) Einfachrechtliche Argumentation Der Tarifvertrag wird letztlich von einer weiteren Ansicht in den Mittelpunkt gestellt. Ihr Ausgangspunkt ist mit dem TVG jedoch kein direktes Verfassungsrecht, sondern einfaches Recht. Henssler vertritt die Ansicht, dass der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit durch das TVG ausgestaltet sei und der Streik daher nur als Hilfsinstrument der Tarifautonomie gewährleistet sei.301 Seiner Argumentation ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob diese Begrenzung dem Schutzbereich immanent ist oder erst auf der nachfolgenden Eingriffsstufe anzusiedeln sei. Da sich Henssler jedoch auf die Herleitung des Streiks aus Art. 9 Abs. 3 GG bezieht, ist eine schutzbereichsimmanente Beschränkung naheliegender. Dies bedeutet, dass nach seiner Ansicht das TVG dazu führt, dass der Schutzbereich nur den tarifbezogenen Streik umfasse.302 Dieses Modell findet sich wie bereits gezeigt 296  Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 112; ähnlich von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 50 f., die für eine Begrenzung des Schutzbereiches auf notwendige Betätigungen und für die Parität erforderliche Kampfmittel eintritt. 297  Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 127 und 168. 298  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 174. 299  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 174. 300  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 173. 301  Henssler, ZfA 2010, 397, 410; ähnlich auch Greiner, Rechtsfragen, S. 113. 302  So auch die Einschätzung von Greiner, Rechtsfragen, S. 120 f.: „Die einfachrechtlichen Ausgestaltungen des Tarifvertragssystems schlagen angesichts der dienenden Funk-

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3. Teil: Grundgesetz

auch in der älteren Rechtsprechung des BAG wieder.303 Auch der nichtgewerkschaftliche Streik wird teilweise mit Verweis auf § 2 TVG abgelehnt.304 3.  Weite Tatbestandstheorie: keine weiteren Voraussetzungen Den engen Tatbestandstheorien steht dogmatisch das Modell eines weiten Schutzbereiches gegenüber. Einschränkungen eines Grundrechtes zum Schutze kollidierender Grundrechte erfolgen demnach erst auf der dem Schutzbereich nachfolgenden Schrankenebene.305 Dementsprechend werde der Streik vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfassend geschützt und sei nur durch den Koalitionszweck begrenzt. Insbesondere den Tarifbezug ordnet die weite Tatbestandstheorie der Schrankenebene zu. Auf Ebene des Schutzbereiches existiere diese Beschränkung nicht.306 Sie müsse daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.307 Auch eine schutzbereichsimmanente Bindung des Streiks an Gewerkschaften wird von vielen Vertretern einer weiten Tatbestandstheorie abgelehnt.308 tion des Arbeitskampfs auf den negatorischen Schutzbereich der Arbeitskampffreiheit durch.“ 303  Vgl. BAG, Urt. v. 7. 06. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883. 304  Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 95 f. 305  Allgemein zu den Merkmalen eines weiten Tatbestandsverständnis Kahl, Der Staat 2004, 167. 306 Zum Streik: Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 13, Rn. 5; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 316; Schubert/Wolter, AuR 2013, 24, 26; Wankel/Schoof, in: BKS, AKR, Rn. 22; Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 326; Kittner/Schiek, in: AKGG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 142; Gumnior, Sympathiestreik, S. 70; Ickenroth, Beamtenstreikverbot, S. 270; Ramm, AuR 1971, 97, 104; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 265; Kittner, in: FS Jaeger, S. 484; Zachert, AuR 2001, 401, 403 f.; Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 113. Allgemein zum Arbeitskampf: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253 ff.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 131 und 134 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 288 f.; Reuss, AuR 1965, 97, 99; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 111 ff.; Gooren, Tarifbezug, S. 99; Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 415; vgl. Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 70; Dieterich, in: FS Jaeger, S. 104; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 114; Schwegler, GMH 1972, 299, 304; wohl auch Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 29; Hufen, NZA 2014, 1237 f.; vgl. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 44; vgl. Rieble, RdA 2005, 200, 207 ff., allerdings nicht in Bezug auf den durch eine Suspendierung der Hauptpflichten privilegierten Streik; zumindest Zweifel besitzen Sunnus, AuR 2008, 1, 5 ff.; Buschmann, in: FS Kempen, S. 256 und Zachert, NZA-Beil. 2006, 61, 66. 307  Vgl. nur Gooren, Tarifbezug, S. 98: „nicht die Zulassung des Arbeitskampfes [ist] rechtfertigungsbedürftig, sondern vielmehr dessen Einschränkung“; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 111; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 303 ff.; Hufen, NZA 2014, 1237, 1238 f. 308 Zum Streik: Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 13, Rn. 5; Czycholl/ Frieling, ZESAR 2011, 322, 326 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 226 ff. und 294; Gooren, Tarifbezug, S. 305; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 115; Paukner, Streikrecht entsandter

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

201

Vereinzelt jedoch wird das Gewerkschaftsmonopol, wie in dieser Arbeit bereits widerlegt,309 durch ein zu enges Verständnis des Koalitionsbegriffes aufrechterhalten.310 Ein weites Tatbestandsverständnis wird durch unterschiedliche Argumente gestützt, die im Folgenden dargestellt werden. a)  Tarifvertrag nicht alleiniges Mittel der Koalitionseinigung Die meisten Vertreter führen für einen weiten Schutz des Streiks an, dass die Koalitionsfreiheit neben dem Tarifvertrag auch andere Möglichkeiten der Koalitionseinigung schütze, durch die der Koalitionszweck verfolgt werden kann. So wird insbesondere auf die Möglichkeit verwiesen, dass die Koalitionen auch schuldrechtliche Verträge schließen können, deren Wirksamkeit sich nicht nach dem TVG, sondern nach dem Vertragsrecht des BGB bestimmt.311 Auch der Arbeitsvertrag wird als Alternative zum Tarifvertrag genannt.312 Ein Streik könne auch der Durchsetzung dieser Vereinbarungen dienen. Eine Beschränkung des Streiks auf tarifvertragliche Ziele könne dem Schutzbereich aus diesem Grund nicht entnommen werden.313

ausländischer Arbeitnehmer, S. 108; Reuss, AuR 1965, 97, 99; Weller, AuR 1967, 76, 80; Berg, in: BKS, AKR, Rn. 203; Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 142; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 70; Reichold, ZTR 2012, 315, 319 im Zusammenhang mit einem kirchlichen Streikrecht; Waltermann, EuZA 2015, 15, 27; Zachert, AuR 2001, 401, 403 ff.; gegen ein „strenges gewerkschaftliches Streikmonopol“ Rieble, RdA 2005, 200, 204, der davon allerdings den durch eine Suspendierung der Hauptpflichten privilegierten Streik ausnimmt (siehe S. 209 f.); vgl. ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 1 ff. Zum Arbeitskampf: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 70; Dumke, Streikrecht ESC, S. 294. 309  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 310  Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 192 und 213; vorsichtiger Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 22. 311  Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 114; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 14 f.; ausführlich Rieble, RdA 2005, 200, 207; vgl. Reuss, AuR 1965, 97, 99 f.; vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 122 f. 312  Gumnior, Sympathiestreik, S. 71 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 98; Ramm, AuR 1971, 97, 104; Reuss, AuR 1965, 97, 99; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 123. 313  Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 16; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 316; allgemein zum Arbeitskampf: Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 114; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 256 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 285 ff.; Reuss, AuR 1965, 97, 99; vgl. Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 415, in Fn. 99; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 134 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 98; Gumnior, Sympathiestreik, S. 71 f.; Zachert, AuR 2001, 401, 403 f.; Dieterich, in: FS Jaeger, S. 104.

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3. Teil: Grundgesetz

b)  Arbeitskampf als Mittel zur Verfolgung des Koalitionszwecks Es wird ebenfalls vertreten, dass der Streik eine normale koalitionsspezifische Betätigung sei, deren Funktion nicht nur in der Erzwingung einer vertraglichen Einigung liege, sondern die allgemein ein Mittel zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sei. Demnach sei der Streik mit der Tarifautonomie auf derselben Ebene anzusiedeln und werde insoweit umfassend vom Schutzbereich erfasst, wie er den Koalitionszweck verfolge.314 Lerche unterstreicht, dass der Arbeitskampf „nicht nur unselbstständiges Hilfsinstitut im Vorraum einer Einigung der Sozialpartner (ist), sondern typischer Ausdruck des Interessengegensatzes selbst“.315 Schubert/Wolter betrachten es zudem als Widerspruch, dass das BAG mit der Anerkennung des Sympathiestreiks einen „nicht-tarifbezogenen Streik“ anerkenne, aber diese Wertung nicht konsequent mit der Abschaffung des Tarifbezugs umsetze.316 Hinsichtlich des nichtgewerkschaftlichen Streiks hält es Waltermann jedenfalls für realistisch, dass dieser nach Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG a priori umfasst sei und sein Verbot als Grundrechtseingriff der Rechtfertigungsprüfung unterzogen werden müsse.317 c)  Historische Argumentation Manche Autoren führen gegen den Tarifbezug an, dass das Tarifvertragswesen eine Errungenschaft des Arbeitskampfes sei, der länger als der Tarifvertrag als soziales Phänomen existiere.318 Daher sei historisch nicht zu belegen, dass der Arbeitskampf ausschließlich ein Element der Tarifautonomie sei.319 Zudem sei in den Beratungen zum Grundgesetz nur der politische Streik und der Beamtenstreik kontrovers diskutiert worden. Über eine zwingende Bindung des Streiks 314  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 257; Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 143; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 13, Rn. 6 mit einer Auflistung nicht-tariflicher Streikziele; Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 113; ähnlich Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 326; allgemein zum Arbeitskampf Gooren, Tarifbezug, S. 94 f. und 98; Dumke, Streikrecht ESC, S. 282 f.; wohl auch Hamacher/van Laak, in: Münchener Anwaltshandbuch ArbR, § 71, Rn. 29; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 43 f.; allgemein zu Betätigungsfreiheit Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 129. 315  Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 44. 316  Schubert/Wolter, AuR 2013, 24, 26. 317  Waltermann, EuZA 2015, 15, 27. 318  Gooren, Tarifbezug, S. 96; Höfling, in: FS Friauf, S. 386; Ehrmann, NZA 1991, 1. 319  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 257; Gooren, Tarifbezug, S. 96; Gumnior, Sympathiestreik, S. 95, der allerdings das Argument ablehnt, der Tarifvertrag habe sich aus dem Arbeitskampf entwickelt, S. 92; vgl. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 43 f.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

203

an den Tarifvertrag sei nicht gesprochen worden.320 Ebenfalls habe der Verfassungsgeber den gewerkschaftlichen Streik nicht privilegieren wollen.321 Das ArbG Berlin kritisiert das Gewerkschaftsmonopol darüber hinaus mit dem historischen Argument, dass eine zwingende verfassungsrechtliche Gewerkschaftsbindung zu einer Verschlechterung gegenüber der Rechtslage in der Weimarer Republik führe. Ein nichtgewerkschaftlicher Streik habe früher nur einen Bruch des Arbeitsvertrages bedeutet, während er heute neben dieser einzelvertragsrechtlichen Folge zusätzlich deliktsrechtlich sanktioniert sei. Dies sei auf ein grundsätzliches Rechtswidrigkeitsverdikt auf verfassungsrechtlicher wie auf einzelvertraglicher Ebene zurückzuführen.322 d)  Abwehrrechtlicher Ansatz Engels sieht im abwehrrechtlichen Charakter der Grundrechte die Begründung für ein weites Schutzbereichsverständnis. Der Schutzbereich müsse das entsprechende Sachthema umfassend abdecken, um einen lückenlosen Schutz vor ungerechtfertigter staatlicher Einmischung zu gewährleisten. Kollidierende Interessen anderer Grundrechtsträger dürften erst auf der Eingriffsebene berücksichtigt werden. Ein weiter Schutzbereich führe dazu, dass er nur einen potentiellen Grundrechtsschutz beinhalte und der effektive Schutz erst nach Abwägung mit den entgegenstehenden Interessen Dritter feststehe.323 Ein systematisches Abschichten der einzelnen Prüfungsschritte ermögliche ein „hohes Maß an Disziplinierung und Kontrollierbarkeit der Beschränkung grundrechtliche Tatbestände“ und beinhalte damit eine „freiheitssichernde Funktion“324. Zudem ermögliche die argumentative Beschränkung des weiten Schutzbereiches auf Ebene der Schranken eine Einzelfallgerechtigkeit, die im Falle genereller schutzbereichsimmanenter Verengungen nicht gegeben sei.325 Im Ergebnis umfasst der Schutzbereich für Engels nicht nur notwendige Betätigungen der Koalitionen, sondern prima facie alle Betätigungen, die auf den Koalitionszweck gerichtet sind.326 Ein Arbeitskampf könne daher einerseits für andere als tarifvertragliche Ziele geführt

320 

Wankel/Schoof, in: BKS, AKR, Rn. 22. Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 210; Konzen, ZfA 1970, 159, 170. 322  ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 1; ähnlicher Hinweis auf Verschlechterung der Rechtslage durch Ramm, AuR 1971, 97, 103 f. 323  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 247 f. 324  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 248. 325  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 249. 326  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 250. 321 

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3. Teil: Grundgesetz

werden und stehe andererseits allen Arten von Koalitionen zu, und nicht nur den Gewerkschaften.327 e)  Trennung zwischen natürlicher und normativer Freiheit Höfling hat als Antwort auf die Aufgabe der Kernbereichsformel versucht, die Bereichsdogmatik der Koalitionsfreiheit neu zu definieren.328 Den Kern seines schlüssigen Modells macht die Unterscheidung zwischen einer „natürlichen Freiheit“ und einer „kompetentiellen Wirkdimension“ aus.329 Ein alleiniger Kernbereichsschutz sei dort unzulässig, wo ein Grundrecht eine natürliche Freiheit schütze. Bezogen auf den Arbeitskampf bedeute dies, dass die tatbestandliche Beschränkung beispielsweise durch den zwingenden Tarifbezug dort unzulässig sei, wo der Arbeitskampf eine natürliche Freiheit sei.330 Im Gegensatz dazu sei eine andere Bewertung für die „kompetentielle Wirkdimension“ – insoweit auch „bedingt“331 für den Arbeitskampf – zulässig. Einschränkbar sei demnach der Bereich des Arbeitskampfes, der „unmittelbar rechtsgestaltende Wirkung“332 habe. In diesem Bereich sei eine einfachgesetzliche Ausgestaltung erforderlich, da die rechtsgestaltende Wirkung nicht qua natura eintrete. Der Bürger habe gegen den Staat einen Anspruch auf Schaffung der rechtsgestaltenden Wirkung – allerdings bedingt durch das Untermaßgebot nur in einem Kernbereich.333 Nach Höflings Modell kann für den Streik in Form einer natürlichen Freiheit keine zwingende Bindung an den Tarifvertrag auf Schutzbereichsebene existieren. Bezüglich der rechtsgestaltenden Wirkung sind die Annahme eines Kernbereichs und eine Bindung an den Tarifvertrag dagegen wohl möglich. Auch Engels leitet den umfassenden abwehrrechtlichen Schutz des Arbeitskampfes aus seiner Eigenschaft als natürliche Betätigung her.334 Dagegen seien die Wirkungen des Arbeitskampfes auf der Ebene des Zivilrechts – insbesondere die Suspendierung der Hauptleistungspflichten – nicht unmittelbar dem ab327  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 253 ff.; ähnlich Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 70. 328  Höfling, in: FS Friauf, S. 377 ff. und insbesondere S. 383 – S. 389; siehe ergänzend Höfling/Engels, ZG 2008, 250, 255 ff. 329 Vgl. Höfling, in: FS Friauf, S. 384. 330  Höfling, in: FS Friauf, S. 386: „[…] Prima facie-Schutz des Art. 9 III 1 GG [ist] nicht auf einen Kernbereich reduziert, sondern erstreckt sich auf alle Arbeitskampfmaßnahmen, welche auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zielen.“ 331  Höfling, in: FS Friauf, S. 384, gemeint ist damit ein „eingeschränktes Maß“, vgl. S. 386. 332  Höfling, in: FS Friauf, S. 385. 333  Höfling, in: FS Friauf, S. 385. 334  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 261 ff.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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wehrrechtlichen Schutzbereich zu entnehmen, sondern eine Folge der staatlichen Schutzpflicht.335 Die Beurteilung des abwehrrechtlichen Schutzes gegenüber dem Staat und die zivilrechtlichen Wirkungen infolge der Schutzpflicht seien zu trennen. So seien der Tarifbezug und das Gewerkschaftsmonopol dort nicht a priori angelegt, wo die abwehrrechtlich geschützte natürliche Freiheit betroffen sei. Die Einschränkungen des BAG lassen sich jedoch „richtigerweise“336 dort verorten, wo der Staat aufgrund einer grundrechtlichen Schutzpflicht die zivilrechtlichen Wirkungen des Arbeitskampfes bestimmen muss. Bertke zieht in Anlehnung an die Modelle von Höfling und Engels ebenfalls den Schluss, dass der Streik dort, wo er „naturgegeben“ ist, umfassend vom Schutzbereich geschützt sei und der Tarifbezug des Streiks ein rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff sei.337 Hingegen sei der Gesetzgeber für die Wirkung des Streiks im Privatrechtsverhältnis – beispielsweise in Form der Suspendierung der Hauptpflichten – nur durch das Untermaßverbot zum Handeln verpflichtet und besitze darüber hinaus einen weiten Gestaltungsspielraum.338 In diesem Bereich, der nicht dem Schutzbereich, sondern der Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers zuzuordnen sei,339 scheint aus Bertkes Sicht die Anordnung einen zwingenden Tarifbezugs möglich. Etwas vorsichtiger differenziert Scholz zwischen einer verfassungsrechtlichen Ebene und der zivilrechtlichen Wirkung. Er betont hinsichtlich des Streiks, dass dieser nicht auf ein allein tarifvertragsrechtlich legitimes Kampfziel gerichtet sein müsse. Die verfassungsrechtliche Arbeitskampffreiheit reiche aus Sicht des Art. 9 Abs. 3 GG im Prinzip weiter. Davon zu trennen sei allerdings der Bereich, in dem der Gesetzgeber Grenzen und Voraussetzungen in Bezug auf die Statthaftigkeit von Arbeitskämpfen festzulegen habe. Hier sei der Tarifbezug zulässig.340 Da er sich in diesem Zusammenhang insbesondere auf die „unterverfassungsrechtliche Konkretisierung“341 bezieht, ist zu vermuten, dass er damit die zivilrechtlichen Auswirkungen des Streiks meint, die der Gesetzgeber zu bestimmen hätte. Als unterverfassungsrechtliche Regeln ordnet auch Schwerdtfeger den Tarifbezug und das Gewerkschaftsmonopol ein.342 Diese seien Teil des staatlich ge335 

Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 278 f. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 279. 337  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 154 und S. 286 am Beispiel des Sympathiestreiks. 338  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 258 ff. und S. 288 f. am Beispiel des Sympathiestreiks. 339  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 201 ff. und S. 288, beide am Beispiel des Sympathiestreiks. 340  Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 316. 341  Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 167 und 281. 342  Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 31 f. 336 

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3. Teil: Grundgesetz

schaffenen Arbeitskampfrechts während der Streik auf Verfassungsebene als Teil der Arbeitskampffreiheit geschützt sei.343 Da der Tarifbezug und das Gewerkschaftsmonopol die Arbeitskampffreiheit nach Meinung Schwerdtfegers „eingrenzen“344, existieren diese Begrenzungen auf Verfassungsebene nicht. Die Suspendierung der Hauptpflichten folge „ausschließlich“345 aus dem unterverfassungsrechtlichen Arbeitskampfrecht, so dass bezüglich der zivilrechtlichen Wirkungen des Streiks der Tarifbezug und das Gewerkschaftsmonopol zu beachten seien. Den Ausführungen des Autors liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Verfassungsgarantie der Koalitionsfreiheit in drei Ebenen zu unterteilen sei: die individuelle Freiheit der Koalitionsbildung, die Freiheit der koalitionsspezifischen Betätigung und als dritte Ebene ein vom Staat bereitzustellendes System von zivilrechtlichen Normen, auf welches die Koalitionen in Ausübung ihrer Betätigungen zurückgreifen können.346 Soweit nicht „reine Realakte“347 und damit natürliche Freiheiten betroffen sind, könne die Koalitionsfreiheit nur mithilfe eines normativen Systems und bestimmter Rechtswirkungen ihre Wirkung entfalten. In diesem normativen Bereich beschränke der Staat den Arbeitskampf nicht negativ, sondern entfalte ihn positiv und übe damit seine Ausgestaltungskompetenz aus.348 Auch das ArbG Berlin hat sich in einem Urteil kritisch mit der verfassungsrechtlichen Bewertung des „wilden Streiks“ befasst und lehnt die generelle Verurteilung des BAG ab.349 Dazu beruft es sich wie Schwerdtfeger auf die Unterscheidung zwischen verfassungsrechtlicher „Streikfreiheit“ und einem einzelvertraglichen „Streikrecht“ sowie einer daraus folgenden zweistufigen Bewertung des Streiks.350 Die erste Ebene betreffe die kollektive Dimension und damit einhergehend die verfassungsrechtliche und deliktsrechtliche Bewertung und die zweite Ebene beziehe sich auf die einzelvertraglichen Auswirkungen des Streiks und damit die Frage, ob der jeweilige Streik eine Suspendierungswirkung besitze. Im Ergebnis lehnt das Gericht auf der ersten Ebene das Verbot des „wilden Streiks“ ab, aber bejaht auf der zweiten Ebene die Bindung des Suspendie343 

Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 30 f. Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 31. 345  Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 31. 346  Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 6. 347  Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 64. 348  Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 64 f.; mit Verweis auf Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 37 ff., der insbesondere auf S. 50 ff. den normativen Bereich des Arbeitskampfes darstellt. 349  ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 1. 350  ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 2. 344 

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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rungsprivilegs an die Gewerkschaften.351 Die Suspendierungswirkung sei bisher durch richterliche Rechtsschöpfung nur für den gewerkschaftlichen Streik statuiert worden.352 Zu erwähnen ist letztlich die Argumentation von Rieble. Er reduziert den Schutzbereich ebenfalls nicht auf einen tarifvertragsbezogenen Arbeitskampf. Dies stellt er am Beispiel der kollektiven Änderungskündigung durch Arbeitnehmer dar, die als Druckmittel für nicht-tarifvertragliche Einigungen eingesetzt werden könne. Der Tarifbezug und das Gewerkschaftsmonopol sollen nur für den wegen der Suspendierungswirkung privilegierten Streik gelten.353 Insofern bewertet er, wie die anderen Autoren, den Teil des Arbeitskampfes gesondert, der durch die Suspendierung zivilrechtliche Auswirkungen besitzt. Bezüglich des Streiks kommt in seinen Ausführungen jedoch nicht die Differenzierung der anderen Autoren zum Ausdruck, dass der Streik eine natürliche und mit der Suspendierung der Hauptpflichten eine rechtsgestaltende Dimension besitze.354 Rieble begutachtet den Streik ausschließlich als durch die Suspendierungswirkung „einfachrechtlich privilegierten Streik“355 und nicht als natürliche Handlung. III.  Stellungnahme: Umfassender Schutz des Streiks Die vorangegangene Darstellung hat ergeben, dass sich zahlreiche Argumente für und gegen einen dem Schutzbereich immanenten Tarifbezug und die damit zusammenhängende Bindung des Streiks an Gewerkschaften finden lassen. Für eine verfassungskonforme Bewertung sind die verschiedenen Argumente im Rahmen einer grundrechtlichen Auslegung zu erörtern.356 Es hilft nicht, eine enge oder weite Tatbestandstheorie generell abzulehnen.357 Für jedes Grundrecht muss individuell durch Auslegung geprüft werden, wie weit der Schutzbereich reicht.358 351  ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 a). 352  ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I  3 d). 353  Rieble, RdA 2005, 200, 209 ff. 354 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 150; vgl. zum Arbeitskampf Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 262 f. und 278; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 81 ff.; vgl. allgemein zur Koalitionsfreiheit Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 214 f. 355 Vgl. Rieble, RdA 2005, 200, 209. 356  Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 206 f.; vgl. Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 34. 357  Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 229: „Eine grundsätzliche Vorentscheidung für die ‚Enge‘ oder ‚Weite‘ grundrechtlicher Gewährleistungsgehalte gibt es im Grundgesetz nicht.“ 358 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 252.

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3. Teil: Grundgesetz

Wie bereits bei der Herleitung der allgemeinen Betätigungsfreiheit erläutert, wird dazu auf die klassischen Auslegungscanones des Wortlauts, der Systematik, der Entstehungsgeschichte und der Teleologie zurückgegriffen.359 1.  Wortlaut Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet wörtlich die Bildung von Koalitionen. Ausdrücklich genannt wird allerdings auch der Zweck der Koalitionsbildung, der einerseits eine begrenzende Funktion besitzt und andererseits signalisiert, dass die Förderung und die Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die Betätigungen der geschützten Koalitionen sein sollen.360 Ein Mittel, das von den Koalitionen zur Zweckverfolgung verwendet werden soll, wird nicht genannt. Vielmehr ist der Wortlaut offen formuliert.361 In diesem Sinne stehen den Koalitionen beispielsweise neben dem Tarifvertrag mit normalen zivilrechtlichen Verträgen andere Formen der Koalitionseinigung zur Verfügung, denen ein Streik ebenfalls dienen kann.362 Darüber hinaus kann dem Wortlaut nicht entnommen werden, dass die Förderung und Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zwingend durch eine Einigung der Koalitionspartner erfolgen muss.363 Dementsprechend betätigen sich Koalitionen auch in Form politischer Interessendarstellung oder durch arbeitsgerichtliche Vertretung ihrer Mitglieder, ohne 359 Vgl. Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn.70; Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 45. 360 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 126 f.; Löwer, in: von Münch/ Kunig, Art. 9, Rn. 101, der den Schutz der Koalitionsbetätigung mit dem Wortlaut begründet, aber fälschlicherweise den Arbeitskampf ausschließlich als Teil der Tarifautonomie gewährleistet sieht. Dabei widerspricht er seiner eigenen Darstellung, dass die „Wahrung und Förderung [..] nicht auf das Mittel des Tarifvertrages beschränkt [sei]“, siehe Rn. 90; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810: „[Art. 9 Abs. 3 GG] schützt vielmehr ebenso die Koalition selber in […] ihrer Betätigung, soweit diese gerade in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht. Das ist zwar im Gegensatz zur Weimarer Verfassung nicht ausdrücklich ausgesprochen, ergibt sich aber aus der Aufnahme des Vereinigungszwecks in den Schutzbereich des Grundrechts.“ 361 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 126; Kluth, in: Berliner Kommentar GG, Art. 9, Rn. 156; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 257; Dieterich, in: FS Jaeger, S. 104; Schwegler, GMH 1972, 299, 304; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 55; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 157, Rn. 60 f. 362 Zu unterschiedlichen Möglichkeiten einer Kollektivvereinbarung siehe Zachert, NZA 2006, 10. 363 Vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 95; zu eng dagegen Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 101, der die Begriffe „Wahrung und Förderung“ als eine Befugnis zur vertraglichen Regelung versteht und den Tarifvertrag zum Koalitionszweck erhebt, dem sich beispielsweise der Arbeitskampf als Koalitionsmittel unterzuordnen haben; ähnlich für die Bindung des Arbeitskampfes an eine Vereinbarung Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 210.

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dass mit diesen anerkannten Betätigungen eine Einigung der Koalitionspartner bezweckt wird.364 Auch das BVerfG vertritt diese Auffassung, indem es beispielsweise die Auslegung von Unterschriftenlisten als koalitionsspezifische Betätigung ansieht.365 Aufgrund des offenen Wortlauts kann der Streik als ein Mittel zur Förderung und Wahrung angesehen werden und steht insofern mit dem Tarifvertrag auf einer Stufe. Ebenfalls kann dem Wortlaut kein Kriterium der Unerlässlichkeit oder Erforderlichkeit entnommen werden.366 Vielmehr impliziert der Begriff Förderung ein positives Element, das anstatt eines engen auf einen weiten Umfang möglicher Mittel hindeutet. Eine Reduzierung des Schutzbereichs auf den Tarifvertrag als einziges Mittel der Förderung und Wahrung und subsidiäre Annexinstrumente kann dem Wortlaut nicht entnommen werden, so dass im Ergebnis der Streik nicht zwingend tarifbezogen sein muss.367 2.  Systematische Auslegung Systematisch argumentiert, wer zur Begründung des Tarifbezugs auf andere Normen im Umfeld der Koalitionsfreiheit oder einen speziellen Aufbau des Art. 9 Abs. 3 GG verweist. Zunächst wird auf die Stellung der Koalitionsfreiheit im Zusammenhang mit anderen Grundrechten und Normen Bezug genommen und anschließend der eigene Aufbau der Koalitionsfreiheit in systematischer Hinsicht analysiert. a)  Koalitionsfreiheit und andere Normen Verschiedene Vertreter der engen Tatbestandstheorie bedienen sich anderer Normen, um die enge Auslegung der Koalitionsfreiheit zu rechtfertigen. Zum einen wird Bezug auf die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1GG genommen.368 So wird argumentiert, dass sich die Koalitionsfreiheit der allgemeinen Handlungsfreiheit annähern würde, wenn die Betätigungsfreiheit neben 364  Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 57; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 189, Rn. 22 ff. mit Beispielen zu koalitionsspezifischer Betätigung. 365  BVerfG, Beschl. v. 6. 2. 2007, 1 BvR 978/05, NZA 2007, 394, 395: „zu der geschützten Betätigungsfreiheit [gehört] auch das Recht, im gesamten Bereich der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen die organisierten Gruppeninteressen gegenüber dem Staat und den politischen Parteien darzustellen und zu verfolgen.“ 366  Vgl. BVerfG, Beschl. v. 6. 2. 2007, 1 BvR 978/05, NZA 2007, 394, 395. 367  So im Ergebnis auch Gumnior, Sympathiestreik, S. 72 f.; allgemein zum Arbeitskampf Gooren, Tarifbezug, S. 95; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 255 f.; vgl. Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 244; allgemein zur Koalitionsbetätigung Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 126. 368  3. Teil, 3. Kapitel, A., II., 2., b), cc) „Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit“.

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dem Koalitionszweck keine weitere inhaltliche Begrenzung enthielte. Diese Argumentation berücksichtigt jedoch nicht, dass die allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht zwangsläufig Überschneidungen mit den speziellen Grundrechten besitzt. Die speziellen Grundrechte räumen bestimmten Verhaltensweisen im Vergleich zur allgemeinen Handlungsfreiheit nur einen stärkeren Schutz ein, indem diese spezielle Schrankenregelungen enthalten. Die Koalitionsfreiheit signalisiert gerade durch die Nennung des Koalitionszwecks ihre Spezialität und das besondere Schutzbedürfnis für koalitionsspezifische Betätigungen.369 Im Übrigen geht die allgemeine Handlungsfreiheit nicht umfänglich in der Koalitionsfreiheit auf, da der Koalitionszweck bereits Tätigkeiten ausschließt, die nicht der Förderung und Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen.370 Es bedarf daher keiner weiteren Kriterien, wie beispielsweise des Tarifbezugs, um eine klare Abgrenzung der Koalitionsfreiheit zur allgemeinen Handlungsfreiheit zu schaffen. Ebenfalls systematische Überlegungen weist die Auslegung der Koalitionsfreiheit am Maßstab des TVG auf.371 Eine derartige Herleitung missachtet jedoch die Normenhierarchie der deutschen Rechtsordnung, nach der das Grundgesetz an der Spitze steht. Das einfache Recht steht demnach unter den Bestimmungen des Grundgesetzes, so dass es für die Auslegung der Grundrechte keine Maßstäbe setzen kann.372 Zudem enthält das TVG an keiner Stelle einen ausdrücklichen Bezug zum Streik oder Arbeitskampf, so dass daher eine Vorgabewirkung des TVG für den verfassungsrechtlichen Streik fragwürdig ist.373 Die am TVG ausgerichtete Argumentation ist daher abzulehnen.374 Im Übrigen existieren einfachrechtliche Normen wie § 74 Abs. 2 S. 1, 2. Hs. Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) oder auch § 66 Abs. 2 S. 3 Bundespersonalver369 Vgl. Blanke, NZA 1990, 209: „Wäre das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ein typisches Vertrags- und Marktverhältnis wie alle sonstigen Austauschbeziehungen auch, so bedürfte es der verfassungsrechtlichen Garantie der Koalitionsfreiheit in Art. 9III GG nicht“; vgl. Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 112, der jedoch neben dem Koalitionszweck weitere Kriterien zur Begrenzung fordert (Rn. 122). 370  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 128 f.; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 79 f. 371  3. Teil, 3. Kapitel, A., II., 2., b), ee) „Einfachrechtliche Argumentation“. 372  Gooren, Tarifbezug, S. 97; Wankel/Schoof, in: BKS, AKR, Rn. 24. 373  So auch BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643: „Weder im Tarifvertragsgesetz noch in den verschiedenen tarifdispositiven Schutzgesetzen ist vom Arbeitskampf ausdrücklich die Rede.“. Trotzdem hat das Gericht später versucht, den Tarifbezug mithilfe des TVG zu begründen, siehe BAG, Urt. v. 5. 3. 1985, 1 AZR 468/83, NZA 1985, 504, 507; vgl. Seiter, RdA 1986, 165, 182, der die Aufnahme des Arbeitskampfes in das TVG fordert, um den Tarifbezug „auch in der Gesetzessystematik sinnfällig zum Ausdruck“ zu bringen. 374 Ebenfalls Gooren, Tarifbezug, S. 97; Gumnior, Sympathiestreik, S. 73 f.

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tretungsgesetz (BPersVG), die ausdrücklich nur den Arbeitskampf tariffähiger Parteien erwähnen. Daraus kann jedoch nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass auch im Rahmen der Koalitionsfreiheit nur der tarifbezogene Streik geschützt ist. Einerseits steht dem ebenfalls die Normenhierarchie entgegen und andererseits beziehen sich die Normen nur auf den Betriebsrat und die Personalvertretung, die als Organe keinen Arbeitskampf führen sollen. Damit soll der Betriebsfrieden gewahrt werden. Ein Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks geht damit nicht einher.375 b)  Allgemeine Grundrechtssystematik Eine systematische Analyse der Koalitionsfreiheit sollte sich auch dem dogmatischen Konzept vom grundrechtlichen Schutzbereich widmen. Durch die alte Kernbereichsformel schien das BVerfG lange Zeit ein enges abwehrrechtliches Tatbestandsverständnis zu verfolgen. Mit dem Urteil zur Mitgliederwerbung376 korrigierte es dieses und vertritt seitdem ein weites Verständnis.377 Während ein weites Tatbestandsverständnis einen weiten Schutzbereich zulässt und die Zulässigkeit negativer Einschränkungen im Rahmen der Grundrechtsschranken beurteilt, werden bei einem engen Tatbestandsverständnis viele Betätigungen gar nicht erst zugelassen.378 Ein weites Verständnis unterstützt daher die Abwehr ungerechtfertigter staatlicher Einmischung. Dagegen geht ein enges Tatbestandsverständnis konzeptionell von der staatlichen Gewährleistung bestimmter Betätigungen aus.379 Da den Staat nur eine begrenzte objektiv-rechtliche Pflicht trifft, bestimmte Handlungsmöglichkeiten durch normative Ausgestaltung zu schaffen, ist diesbezüglich ein engeres Verständnis angebracht.380 Aufgrund der doppelten Dimension der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte und objektiv-rechtli375  Gooren, Tarifbezug, S. 97; Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 248; Konzen, ZfA 1970, 159, 178; Säcker, BB 1971, 962, 963; vgl. zur Vorgängernorm § 49 Abs. 2 BetrVG a.F. Reuss, AuR 1965, 97, 99 f.; allgemeiner zum Arbeitskampf Rieble, RdA 2005, 200, 211; a.A. zum Tarifbezug Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 31. 376  BVerfG, Beschl. v. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 382. 377  So auch die Einschätzung von Jacobs, Tarifeinheit, S. 425 ff.; Krause, in: Giesen/ Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 67l. 378 Vgl. Kahl, Der Staat 2004, 167, 168 f. und 174 ff. 379  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 212 ff: „Nicht die Abwehr bestimmter Freiheitsbeeinträchtigungen, sondern die Durchsetzung aller vom Schutzzweck der Grundrechtsnormen umfassten Vorgaben des objektiven Verfassungsrechts wird damit zum Gegenstand der grundrechtlichen Freiheit.“, siehe S. 215; Kahl, Der Staat 2004, 167, 176. 380 Vgl. Jacobs, Tarifeinheit, S. 427 f., der einerseits abwehrrechtlich für einen weiten Schutzbereich plädiert und andererseits für die objektiv-rechtliche Ausgestaltungspflicht richtigerweise die Reduzierung auf einen Kernbereich aufrechterhält; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 220.

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che Handlungspflichten ist es im Ergebnis nicht erforderlich, dass das gesamte Grundrecht zwingend eng oder weit auszulegen ist.381 Vielmehr sollte bei Freiheitsrechten – wie der Koalitionsfreiheit382 – von einem weiten abwehrrechtlichen Schutzbereich ausgegangen werden (Verhältnis Bürger/Staat) und parallel ein enges Verständnis angewendet werden, wenn die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension betroffen ist (Verhältnis Bürger/Bürger).383 Würde man auch auf die abwehrrechtliche Ebene zwischen Bürger und Staat ein enges Verständnis anwenden, wäre der Staat der Argumentationslast der Schrankenebene entzogen. Es würde die Gefahr der Umgehung grundrechtlicher Schrankenvorgaben entstehen.384 Daher ist dem BVerfG zuzustimmen und für die abwehrrechtliche Funktion der Koalitionsfreiheit gegenüber dem Staat ein weites Verständnis zu verwenden, welches eine Reduzierung auf einen Kernbereich ablehnt.385 Der Tarifbezug des Streiks und das Gewerkschaftsmonopol führen zu einer Verengung des Schutzbereiches der Koalitionsfreiheit über das durch den Koalitionszweck vorgegebene Maß hinaus.386 Die Bindung des Streiks an den Tarifvertrag mag mit der engen Kernbereichsformel vereinbar gewesen sein, da nur unerlässliche Koalitionsbetätigungen dem abwehrrechtlichen Schutzbereich zu381 Vgl. Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 226 f., der terminologisch statt des Begriffes Schutzbereich den Begriff Gewährleistungsgehalt verwenden will, um zu verdeutlichen, dass Grundrechtsnormen nicht nur Freiheitsschutz vor dem Staat, sondern auch Freiheitsschutz durch den Staat gewähren. 382  BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 708: „Wie der Wortlaut des Art. 9 III GG und die geschichtliche Entwicklung zeigen, ist die Koalitionsfreiheit in erster Linie ein Freiheitsrecht.“; Höfling, in: FS Friauf, S. 378; Kittner, in: FS Jaeger, S. 492; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 73. 383 Vgl. Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 212 f. und 221; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 157; auch das BVerfG trennt zwischen den Ebenen Bürger – Staat und Bürger – Bürger: BVerfG vor, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810: „Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang eine Koalition dieses verfassungsrechtlich geschützte Mittel [gemeint ist die Aussperrung, Anm. d. Verf.] einsetzen darf, ist ebenso wie beim Streik keine Frage des Schutzbereichs, sondern der Ausgestaltung des Grundrechts durch die Rechtsordnung.“ 384  Lübbe-Wolff, DB 1988, Beilage Nr. 9, 1, 3; Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 411, in Fn. 78; Jacobs, Tarifeinheit, S. 425 f.: „Vorzugswürdig ist deshalb ein tendenziell weiter Schutzbereichsbegriff, der erst in einem zweiten Schritt mit Hilfe der Grundrechtsschranken eine Abwägung zwischen dem Grund für den verfassungsrechtlichen Grund und dem Gegenstand ermöglicht. […] Für die Koalitionsfreiheit folgt daraus, daß deren Schutzbereich grundsätzlich weit ist.“; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 157; Kahl, Der Staat 2004, 167, 189 ff; Höfling/Engels, ZG 2008, 250, 255. 385  Vgl. ausführlich Lübbe-Wolff, DB 1988, Beilage Nr. 9, 1, 2 f.; Jacobs, Tarifeinheit, S. 425 f.; Höfling, in: FS Friauf, S. 384; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 212 f.; Neumann, RdA 2007, 71. 386 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 256; zustimmend Waltermann, EuZA 2015, 15, 27.

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geordnet wurden.387 Die Kernbereichsformel ist in Art. 9 Abs. 3 GG jedoch nicht angelegt und verengt in unzulässiger Weise die Koalitionsfreiheit als Abwehrrecht.388 Eine Beschränkung des Streiks auf Tarifverträge oder Gewerkschaften kann daher nicht Teil des Schutzbereiches sein. Beide Kriterien müssen sich auf der Schrankenebene einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung stellen.389 Zwar stellt der umfassende Schutz des Streiks auf der Ebene des Schutzbereiches nur ein „prima facie gewährleistetes Recht“390 dar, da es im Rahmen der Eingriffsebene wieder entfallen kann. Der weite Schutz wirkt sich jedoch positiv aus, da der Staat auf der Schrankenebene mit einer Argumentationslast konfrontiert wird. Aus grundrechtsdogmatischer Sicht sollte zudem die durch Höfling und andere Autoren vorgenommene Differenzierung zwischen natürlicher und normativer Freiheit aufgegriffen werden.391 Sie berücksichtigt den tatsächlichen Unterschied beider Ebenen bei der Auslegung der Grundrechte.392 Natürliche Betätigungen sind nicht auf einen staatlichen Akt angewiesen, um existieren zu können. Dagegen werden normative Betätigungen durch staatlich-normative Anordnung erzeugt. In Bezug auf die Koalitionsfreiheit ist nach der Aufgabe der Kernbereichsformel insbesondere von einem umfassenden Schutz der natürlichen Koalitionsbetätigungen auszugehen.393 Dies hat das BVerfG mehrfach anhand natürlicher Betätigungen bestätigt. So hat es die Kernbereichsformel am Beispiel der natürlichen Mitgliederwerbung aufgegeben und hat diese Rechtsprechung unter anderem bezüglich der Auslegung von Unterschriftenlisten fortgeführt.394 Zu kritisieren ist in diesem Zusammenhang die Einschätzung von Löwisch/Rieble, dass die Koalitionsfreiheit in jeder Hinsicht der Ausgestaltung durch einfaches Recht bedürfe, damit die Koalitionen sich betätigen können.395 Hingegen beinhaltet das Grundrecht einerseits nichtnormative Betätigungen wie 387  So ausdrücklich früher Krichel, NZA 1987, 297, 299; aus dem jüngeren Schrifttum Litschen, NZA-RR 2015, 57, 58, in Rn. 30: „insoweit bleibt die Kernbereichslehre des BAG auch weiterhin gültig.“ 388  BVerfG, Beschl. v. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 382. 389  So auch zum nichtgewerkschaftlichen Streik Waltermann, EuZA 2015, 15, 27. 390  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 247; Krause, in: Giesen/Junker/ Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 69. 391  Vgl. nur Höfling, in: FS Friauf, S. 383 ff.; allgemeiner Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 214 ff. 392  Siehe zu dieser Differenzierung bereits den 3.Teil, 2. Kapitel, B., I. „Abstrakte Einordnung der Grundrechte als Abwehrrechte“. 393 Vgl. Ladeur, AöR 2006, 643, 645; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 213. 394  BVerfG, Urt. v. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381; BVerfG, Beschl. v. 6. 2. 2007, 1 BvR 978/05, NZA 2007, 394. 395  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 7; ebenfalls kritisch zu einer ausschließlich auf die Ausgestaltung abzielenden Interpretation der Koalitionsfreiheit Kahl, Der Staat 2004, 167, 175, in Fn. 46.

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die Mitgliederwerbung, koalitionszweckbezogene Meinungsäußerungen oder auch die Auslegung von Unterschriftenlisten. Andererseits schützt die Koalitionsfreiheit mit dem normativ wirkenden Tarifvertrag Betätigungen, die nicht natürlichen Ursprungs sind. Sie werden durch gesetzliche Anordnung ermöglicht. Für diese normativen Betätigungen kann es einen Schutz nur insoweit geben, wie der Staat diese zuvor geschaffen hat. Die Koalitionsfreiheit stellt daher ein gemischt natürlich-normatives Grundrecht dar.396 Normative Freiheiten können im Gegensatz zu natürlichen Freiheiten weiterhin ein Anwendungsbereich der Kernbereichsformel sein, wenn man annimmt, dass der Staat nur in einem reduzierten Maße zu Schaffung normativer Wirkungen verpflichtet sei.397 Im nachfolgenden Gliederungspunkt 3. Teil, 3. Kapitel, B. „Streik als natürliche und normative Freiheit“ wird aufgrund dieser systematischen Unterscheidung analysiert, ob der Streik einen natürlichen, normativen oder zweiseitigen Charakter besitzt. Falls der Streik eine natürliche Freiheit sein sollte, legt der Vergleich mit der umfassend geschützten Mitgliederwerbung einen umfassenden Schutz des Streiks nahe. Eine Reduzierung des Streiks auf tarifliche Ziele wäre dann mit der Aufgabe der Kernbereichsformel – zumindest in Bezug auf eine natürliche Betätigung – nicht vereinbar. 3.  Historisch-genetische Auslegung Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, ist der Schutz des Streiks in den Beratungen zum Grundgesetz intensiv diskutiert worden.398 Man war sich einig, dass der Streik ein Bestandteil der neuen Koalitionsfreiheit werden sollte.399 Allerdings verzichtete man auf eine wörtliche Aufnahme in Artikel 9 GG, da sich die Beteiligten im Hauptausschuss nicht auf die genauen Grenzen des Streiks einigen konnten und mit der Aufnahme jener Grenzen eine zu große Kasuistik im Grundgesetz befürchteten.400 Konzen meint sogar, dass der Verfassungsgeber ein

396  Epping, Grundrechte, S. 445: „teilweise normgeprägtes Grundrecht“; ausführlich Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 214 ff. 397 So Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 158 ff. Siehe zur staatlichen Pflicht eine normative Freiheit des Streiks zu konstituieren den 3. Teil, 4. Kapitel „Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension“. 398  Siehe dazu den 3. Teil, 1. Kapitel, A. „Verortung in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz“. 399 Siehe dazu die Nachweise zur Erarbeitung des Art. 9 GG bei Matz, JöR 1951, 116 ff.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 130 f.; Gross, GMH 1966, 559, 560; Säcker, BB 1971, 962; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 71; Rüthers, Streik und Verfassung, S. 25. 400  Zu den Beratungen des Hauptausschusses zum Streikrecht: Matz, JöR 1951, 116, 122 f..; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 130; Gross, GMH 1966, 559 f.; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 195, Rn. 4.

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streikrechtliches Gewerkschaftsmonopol vermeiden wollte.401 Dafür spricht, dass der Grundsatzausschuss in den Beratungen einen Vorschlag des Redaktionsausschusses nicht annahm, der ein verfassungsrechtliches Streikrecht ausschließlich den Gewerkschaften zuwies.402 Vielmehr einigte er sich auf die Formulierung: „Das Recht der gemeinschaftlichen Arbeitseinstellung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wird anerkannt. Seine Ausübung wird durch Gesetz geregelt.“403 Diese Formulierung wurde im Hauptausschuss vom Angeordneten Kaufmann (CDU) zu Recht als ein allgemeines Streikrecht bezeichnet.404 Der Abgeordnete v. Mangoldt (CDU) interpretierte die Formulierung als Schutz aller überkommenden Streikformen. Er bekräftigte, dass man sich einig gewesen sei, dass davon der politische Streik wie der Beamtenstreik nicht umfasst gewesen seien.405 Ein übereinstimmender Wille, neben dem politischen und dem Beamtenstreik auch den nichtgewerkschaftlichen oder den nichttariflichen Streik vom Streikrecht auszunehmen, lässt sich den Nachweisen zu den Verhandlungen im Hauptausschuss nicht entnehmen.406 Mit der Streichung des Streikrechts folgte der Hauptausschuss nach intensiver Debatte dem Antrag des Abgeordneten Eberhard (SPD) der dadurch erreichen wollte, dass Einschränkungen des Streikrechts nur auf einfachrechtlicher und nicht auf Verfassungsebene vorgenommen werden würden.407 Ob allerdings alle anderen Mitglieder des Hauptausschusses bei der Streichung des Absatzes ebenfalls dieses streikfreundliche Motiv verfolgten, lässt sich nicht eindeutig nachweisen. Aus historischer Sicht ist der Umfang des streikrechtlichen Schutzes schwer bestimmbar.408

401  Konzen, ZfA 1970, 159, 170: „Der Verfassungsgeber hat im Gegenteil die Aufnahme eines Streikrechts abgelehnt, weil er befürchtete, dem beantragten Streikrecht für die Gewerkschaften könne die Bedeutung eines Streikmonopols zukommen.“; Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 167; a.A. Rüthers, Streik und Verfassung, S. 25. 402  Der Vorschlag für einen provisorischen Art. 12 a Abs. 2 lautete: „Das Streikrecht wird anerkannt, wenn die Gewerkschaften den Streik erklären. Wer sich an einem gewerkschaftlichen, nicht tarifwidrigen Streik beteiligt, handelt nicht rechtswidrig. […].“, dokumentiert bei Matz, JöR 1951, 116, 119. 403 Siehe Matz, JöR 1951, 116, 121 f. 404 Siehe Matz, JöR 1951, 116, 123. 405 Siehe Matz, JöR 1951, 116, 122 f. 406  In den Verhandlungen gab es zwar Vorschläge, den „wilden Streik“ aus der Formulierung auszuklammern, doch wurden diese nicht durch den Hauptausschuss angenommen. Siehe zum Vorschlag des Abgeordneten Eberhard die Nachweise bei Matz, JöR 1951, 116, 120 f. 407  Siehe zu den Ausführungen des Abgeordneten Eberhard zu diesem Antrag Matz, JöR 1951, 116, 123. 408  Seiter, RdA 1986, 165, 184; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 209; a.A. Ehrmann, NZA 1991, 1, 2; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 69 f.

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Trotzdem lassen sich ein Tarifbezug des Streiks oder das Gewerkschaftsmonopol gleichermaßen nicht durch die Beratungen zum Grundgesetz nachweisen.409 Das BVerfG leitet den Schutz der Betätigungsfreiheit aus der historischen Entwicklung der Koalitionsbetätigungen ab, da es an einem eindeutigen Willen des Verfassungsgebers fehle.410 Nimmt man die Entwicklung als Maßstab einer historischen Auslegung, kann eine zwingende Bindung des Streiks an Tarifverträge und das Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks nicht nachgewiesen werden. Einerseits existierten Streiks bereits vor der Einführung verbindlicher Tarifverträge durch die Tarifvertragsverordnung 1918, so dass nichttarifbezogene Streiks üblich waren.411 Außerdem wurden die ersten Arbeitsniederlegungen der Handwerksgesellen im 19. Jahrhundert – die als Beginn der Koalitionsbewegung gesehen werden können412 – durch einfache Gesellenbünde und nicht durch überregionale und sozialmächtige Gewerkschaften organisiert.413 Die Arbeitnehmer „erkämpften“414 die Koalitionsfreiheit geradezu erst.415 Zudem waren nichttarifbezogene und nichtgewerkschaftliche Arbeitsniederlegungen auch später, während

409  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 130; Gooren, Tarifbezug, S. 96; Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 210 f.; Wankel/Schoof, in: BKS, AKR, Rn. 22: „Bei den Beratungen zum Grundgesetz 1949 waren allein der politische Streik und der Beamtenstreik umstritten. Zu keinem Zeitpunkt und an keiner Stelle war von einer Reduzierung des Streikrechts auf Tarifziele die Rede.“ 410  Siehe bspw. BVerfG, Urt. v. 18. 11. 1954, 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881, 1882, zur Tarifautonomie; BVerfG, Beschl. v. 30. 11. 1965, 2 BvR 54/62, NJW 1966, 491 f., Koalitionsbetätigung im Personalvertretungswesen. 411  Ehrmann, NZA 1991, 1: „Der Arbeitskampf war historisch also nicht Ausfluß und Mittel der Tarifautonomie, sondern als Teil des über die Betriebe und das Arbeitsleben hinausreichenden Klassenkampfes das wohl wertvollste Instrument der sich formierenden Arbeiterklasse zur Erringung der Koalitionsfreiheit und zur Wahrung und Förderung ihrer sonstigen Rechte.“; ebenfalls m.w.N Gooren, Tarifbezug, S. 96. Siehe zu weiteren Nachweisen die Ausführungen zur historischen Entwicklung im 1. Teil, 2. Kapitel, A. „Historischen Entwicklung des Streiks“. Siehe zu den Anfängen des Tarifvertrages: Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 69; Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 32 f. 412 Dazu Kittner, Arbeitskampf, S. 30 ff.; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 1 ff. 413 Vgl. Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 25 ff.; Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 108; vgl. Weitnauer, DB 1970, 1639, 1642. 414  Friauf, RdA 1986, 188, 190; vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1086; siehe zum „Streik als ‚schöpferische Urgewalt‘“ für Gewerkschaften Schneider, in: Theorie und Praxis des Streiks, S. 37 ff. 415  Das BAG verschließt sich dieser Argumentation ohne Begründung: „Den wilden Streik mit dem Hinweis darauf rechtfertigen zu wollen, daß der Arbeitskampf vor der Einrichtung des Tarifvertrages bereits aufgetreten sei und man sich die Institution des Tarifvertrages einmal als aufgehoben, denken müsse […], geht nicht an. Die Einrichtung des Tarifvertrages ist ein und zudem ein wesentlicher Bestandteil der Rechtsordnung.“ (BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885).

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der Weimarer Republik, nicht verboten.416 Der Streik erfuhr zwar bewusst keinen grundrechtlichen Schutz durch die Weimarer Reichsverfassung, doch war er als Streikfreiheit unter Beachtung der arbeitsvertraglichen Bindungen zulässig. Dies bedeutete, dass die Arbeitnehmer zuerst ihren Arbeitsvertrag kündigen mussten, um durch die Arbeitsniederlegung keinen Arbeitsvertragsbruch zu begehen. Eine Suspendierungswirkung wie heute gab es nicht. All dies galt gleichermaßen für den gewerkschaftlichen, nichtgewerkschaftlichen, tarifbezogenen und nichttarifbezogenen Streik. Ein deliktisches Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks wie es die herrschende Ansicht heute vertritt existierte nicht.417 Es gab nur die äußerste Grenze der Sittenwidrigkeit gemäß § 826 BGB, die jedoch nicht bereits durch den Bruch des Arbeitsvertrages überschritten wurde und für alle genannten Streikformen gleichermaßen galt.418 Die durch das BAG 1955419 „angeordnete“420 Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks wurde angesichts der bisherigen Gleichbehandlung des gewerkschaftlichen und nichtgewerkschaftlichen Streiks zu Recht von Säcker als „revolutionär“421 bezeichnet. Eine generelle Unzulässigkeit des nichttarifbezogenen oder nichtgewerkschaftlichen Streiks kann somit nicht aus der historischen Entwicklung des Streiks hergeleitet werden.422 Bestehende Rechte sollten durch das Grundgesetz verstärkt werden, so dass anzunehmen ist, dass ein bestehender Schutz übernommen wurde.423 Der Tarifbezug und das streikrechtliche Gewerkschaftsmonopol finden damit für das abwehrrechtliche Verhältnis Bürger/Staat aus historischer Perspektive keine Stütze.424 416 Siehe

ausführlicher zur Rechtslage des Streiks in der Weimarer Republik den 1. Teil, 2. Kapitel, A., IV. „Weimarer Zeit“. 417  Ramm, AuR 1971, 65, 68; Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 841; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 208: „Die Verbindung der Privilegierung des gewerkschaftlichen Streiks mit einem Verbot des wilden Streiks ist eine erst im Anschluß an den Beschluß des Großen Senats einsetzende Entwicklung […].“ 418  Gumnior, Sympathiestreik, S. 44; vgl. Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 867 f. 419  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. 420 Vgl. Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 70; Richardi, in: FS Säcker, S. 287. 421  Säcker, GMH 1972, 287, 294. 422  ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 1.: „[Durch das Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks] wird nämlich die Rechtsposition der Arbeitnehmer, die sich an einem nichtgewerkschaftl. Streik beteiligen, gegenüber dem früheren z.B. in der Weimarer Zeit geltenden Rechtszustand verschlechtert, was angesichts des grundgesetzl. Bekenntnisses zum Sozialstaat mindestens einer besonderen Legitimation bedürfte.“; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 69 f.; Ramm, AuR 1971, 97, 104. 423 Vgl. Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 45. 424  So im Ergebnis auch Buschmann, in: FS Kempen, S. 256; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 130 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 96; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39

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3. Teil: Grundgesetz

4.  Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegungsmethode ermittelt den Inhalt einer Norm nach deren Sinn und Zweck.425 Der Zweck der Koalitionsfreiheit wird in Art. 9 Abs. 3 GG ausdrücklich mit der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen genannt. Zwar garantiert das Grundrecht in erster Linie die Koalitionsbildung, doch erschöpft sich darin nicht der Sinn der Koalitionsfreiheit. Ohne den Schutz der Koalitionsbetätigung wäre jegliche Koalitionsbildung „sinnentleert“.426 Die Betätigungsfreiheit schützt den Bestand einer Koalition und verhilft der Koalitionsfreiheit zu größtmöglicher Effektivität, indem Arbeitnehmer und Arbeitgeber als möglichst gleichstarke Verhandlungspartner auf die Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen hinwirken.427 Die Ausübung von Druck durch Streiks ist – wie auch die historische Entwicklung zeigt – mitunter erforderlich, um faire Bedingungen zwischen den Sozialpartnern zu garantieren.428 Allerdings sind Tarifverträge nicht das einzige Mittel der Koalitionen, sich über diese Bedingungen zu einigen.429 Machtdisparitäten zwischen ArbeitCa 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 1; Gumnior, Sympathiestreik, S. 95; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 30 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 254 ff.; Ramm, AuR 1971, 97, 104: „[…] so bleibt doch die klare Feststellung, daß ein noch in der Weimarer Republik selbstverständlicher Freiheitsbereich aufgehoben wird, ohne eine gesetzgeberische Entscheidung, ohne die damit gegebene Möglichkeit zu einer öffentlichen Diskussion über die rechtspolitische Notwendigkeit zu einem solchen Schritt.“ 425  Rose, Streikrecht nichtorganisierter Arbeitnehmer, S. 46. 426  Rose, Streikrecht nichtorganisierter Arbeitnehmer, S. 49 f.; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 129; BVerfG, Urteil vom 6. 5. 1964, 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267: „Indes ist die Koalitionsfreiheit nur dann sinnvoll, wenn die Rechtsordnung der Koalitionen auch die Erreichung ihres in Art. 9 Abs. 3 GG bezeichneten Zweckes, nämlich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern, gewährleistet; das tut sie nur, wenn sie der Koalition das Recht gibt, diesen Zweck durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung zu verwirklichen.“ 427  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 129. 428  Vgl. dazu Gooren, Tarifbezug, S. 98; Rose, Streikrecht nichtorganisierter Arbeitnehmer, S. 52; Rieble, RdA 2005, 200, 204 f. 429 Vgl. mit Beispielen ausführlich Zachert, NZA 2006, 10; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 157, Rn. 60 ff.; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 16; Rieble, RdA 2005, 200, 207; Greiner, Rechtsfragen, S. 120; BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 709: „Art. 9 III GG läßt sich auch nicht dahin auslegen, daß er ein Tarifsystem als ausschließliche Form der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gewährleiste. Dies würde in Widerspruch zu dem Grundgedanken und der geschichtlichen Entwicklung der Koalitionsfreiheit treten, der für die Auslegung maßgebliche Bedeutung zukommt.“; BAG, Beschl. v. 28. 3. 2006, 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, 1115, wonach Koalitionen „mit einem Arbeitgeber oder mit einem Arbeitgeberverband schuldrechtliche Vereinbarungen, sog. Koalitionsvereinbarungen schließen“ können; a.A. wohl Lembke, NZA 2014, 471, 472, wonach Art. 9 Abs. 3 GG die Freiheit des Einzelnen sei, „Vereinigungen zum (autonomen) Abschluss von Tarifverträgen zu bilden

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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nehmer- und Arbeitgeberseite können auch bei anderen Formen der Koalitionseinigung auftreten. Vor allem steht der Abschluss von Tarifverträgen nach den Vorschriften des TVG nur Gewerkschaften zu, so dass einfache Koalitionen auf anderen Formen der Einigung sogar angewiesen sind. Um in diesen Bereichen ein Verhandlungsgleichgewicht garantieren zu können, damit die Koalitionen nicht auf „kollektives Betteln“430 angewiesen sind, muss ein Streik auch außerhalb des Tarifrechts möglich sein.431 Teleologische Gründe sprechen somit dafür, dass die Koalitionsfreiheit auch den nichttarifbezogenen Streik nichtgewerkschaftlicher Koalitionen schützt. Einzugehen ist jedoch auf der anderen Seite auf die teleologischen Argumente eines engen Tatbestandsverständnisses. So werden der Tarifbezug und das Gewerkschaftsmonopol mit dem Schutz des Sozialpartners und außenstehender Dritter begründet. Der Streik führe zu starken wirtschaftlichen Nachteilen beim Arbeitgeber und bei unbeteiligten Dritten. Sinn und Zweck der Koalitionsfreiheit erfordere, diese Auswirkungen auf ein Minimum zu reduzieren, so dass der Streik nur im Rahmen des Tarifrechts zulässig sein solle.432 Diese Argumentation berücksichtigt jedoch nicht, dass der Schutz des Sozialpartners und außenstehender Dritter nicht das Ziel der Koalitionsfreiheit ist. Zwar ist zuzugeben, dass ein auf Existenzvernichtung gerichteter Arbeitskampf offensichtlich außerhalb der Begriffe Förderung und Wahrung liegt und daher nicht zulässig sein kann. Die Erlangung eines Verhandlungsgleichgewichts und damit verbunden die Ausübung wirtschaftlichen Drucks ist jedoch eines der zentralen Anliegen der Koalitionsfreiheit.433 Zudem ist erneut auf Höflings Konzept hinzuweisen, nach welchem die natürliche und die normative Ebene des Streiks zu trennen sind.434 Wie noch zu zeigen ist, besitzt bisher nur der gewerkschaftliche und tarifbezogene Streik eine den Arbeitsvertrag suspendierende Wirkung (normative Ebene) während nur der abwehrrechtliche Schutz der natürlichen Arbeitsniederlegung (natürliche Ebene) auch den nichttarifbezogenen und nichtgewerkschaftlichen (Art. 9 III 1 GG).“ Damit bindet er den Streik konsequenterweise auch ausschließlich an Tarifverträge. 430  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980 1, AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643, allerdings in Bezug auf Tarifverhandlungen. 431 Vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 98; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 16; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 114; ähnlich i.E. Rieble, RdA 2005, 200, 207 ff., der für die Zulässigkeit der nichtgewerkschaftlichen Arbeitsniederlegung durch kollektive Kündigungen plädiert. 432  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 174. 433  Rieble, RdA 2005, 200, 204: „Art. 9 Abs. 3 GG [will] keine Zwangsherrschaft institutionalisieren, bei der die eine Seite sich durch Druckmittel zum Herrscher über die andere aufschwingt. […] Ziel ist vielmehr eine aus beider Parteien Sicht gleichberechtigte vertragliche Regelungsbeziehung.“ 434  Höfling, in: FS Friauf, S. 383 ff.

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3. Teil: Grundgesetz

Streik umfasst.435 Daher könnte der Arbeitgeber die Schäden, die ihm durch einen nichtgewerkschaftlichen und nichttarifbezogenen Streik entstehen, gegebenenfalls im Wege des vertraglichen Schadensersatzes ersetzt verlangen. Eines besonderen Schutzes des Koalitionspartners vor nichttarifbezogenen Streiks auf Ebene des Schutzbereiches bedarf es daher nicht. Im Übrigen entspricht der Ausgleich widerstreitender Interessen auf Ebene des Schutzbereiches nicht der üblichen Grundrechtsdogmatik. Die Begrenzungsnotwendigkeit des Streiks ist zwar angesichts kollidierender Interessen offensichtlich erforderlich – aber kein Spezifikum der Koalitionsfreiheit. Sie muss daher im Rahmen der Grundrechtsschranken erfolgen.436 Nur so kann auch gewährleistet werden, dass Begrenzungen der Koalitionsfreiheit durch Beachtung des Grundrechtsvorbehalts „gerechtfertigt“ erfolgen.437 Eine tarifbezogene Begrenzung des Schutzbereiches aus teleologischen Gründen ist daher nicht erforderlich – vielmehr entspricht ein umfassender Schutz des Streiks dem Sinn und Zweck der Koalitionsfreiheit.438 5.  Ergebnis Alle Auslegungsmethoden führen zu dem Ergebnis, dass der Streik auf der abwehrrechtlichen Ebene (Verhältnis Bürger/Staat) umfassend geschützt wird. Damit lässt sich eine Reduzierung des abwehrrechtlichen Schutzes auf tarifbezogene und gewerkschaftsgeführte Streiks nicht vereinbaren. Welche Auswirkungen dies auf das rechtliche Verhältnis zwischen den Koalitionspartnern hat (Verhältnis Bürger/Bürger), insbesondere die Auswirkungen des Streiks auf das Arbeitsverhältnis, muss nachfolgend noch genauer analysiert werden.439 Nach dem Konzept von Höfling ist die sich auf dieses Verhältnis beziehende „kom-

435  Siehe dazu die anschließenden Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B. „Streik als natürliche und normative Freiheit“. 436  Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 408 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 98. 437  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 229. 438 So im Ergebnis auch Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 129; zum Arbeitskampf: Gooren, Tarifbezug, S. 98; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 256 f.; ähnlich Rieble, RdA 2005, 200, 207 ff., der allerdings vorwiegend nicht den Terminus Streik verwendet, sondern die Zulässigkeit von Arbeitsniederlegungen durch ad-hoc Koalitionen in Verbindung mit der kollektiven Änderungskündigung fordert. Nicht ganz eindeutig ist, ob Rieble diese Betätigung richtigerweise als Streik ohne Suspendierungswirkung einordnet. Dafür spricht, dass er davon ausgeht, dass „ein strenges gewerkschaftliches Streikmonopol sich auch mit der Koalitionsfreiheit nicht verträgt“ (S. 204) und dass sich das Streikrecht aus der kollektiven Kündigung „entwickelt“ hat (S. 208). 439  Siehe zu den Auswirkungen des Streiks auf den Arbeitsvertrag den 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2. „Normative Freiheit“ und zur Schutzpflicht als Grundlage der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung den 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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petentielle Wirkdimension“440 (normative Freiheit) zu Recht von der natürlichen Freiheit zu trennen. IV.  Einfluss des Völkerrechts? Nachdem die isolierte Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG einen weiten Schutz des Streiks ergeben hat, stellt sich die Frage, welchen Einfluss das im 2. Teil der Arbeit dargestellte Völkerrecht auf die Auslegung des Grundgesetz hat. Wie bereits dargestellt, sind die untersuchten völkerrechtlichen Verträge nicht über dem Verfassungsrecht anzusiedeln.441 Ratifizierte völkerrechtliche Verträge besitzen den Rang eines einfachen Bundesgesetzes.442 Das Grundgesetz wird daher durch völkerrechtliche Verträge nicht verdrängt.443 Allerdings ist das Völkerrecht bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG zu berücksichtigen. Das BVerfG, das BAG und die Literatur gehen von einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes aus.444 Der Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung setzt jedoch einen Auslegungsspielraum voraus. Soweit ein auszulegendes Gesetz strikte Grenzen aufweist, können diese nicht durch anderslautende völkerrechtliche Bestimmungen beseitigt werden.445 Der 440 

Höfling, in: FS Friauf, S. 384. dazu die Ausführungen im 2. Teil, 1. Kapitel, B. „Bedeutung völkerrechtlicher Verträge im nationalen Recht“. 442  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 26; Hofmann, Jura 2013, 326, 328; Linck, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 5, Rn. 1; Gumnior, Sympathiestreik, S. 87, Greiner, Rechtsfragen, S. 176; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 199; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 15; siehe beispielsweise zum Streikrecht aus ILO Nr. 87: BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, 1 AZR 179/11, NZA 2013, 448, 465 f. 443  Jestaedt, in: HStR XII, § 264, Rn. 77; Greiner, Rechtsfragen, S. 176; Gumnior, Sympathiestreik, S. 87; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 199. 444 BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408 („Görgülü“); BAG, Urt. v. 12. 9. 1984, 1 AZR 342/83, NZA 1984, 393, 398, in dem das Gericht insbesondere das Streikrecht der ESC als Vorgabe für die deutsche Rechtsprechung anerkennt; ausführlich Hofmann, Jura 2013, 326, 329 ff.; Jestaedt, in: HStR XII, § 264, Rn. 81 ff.; Lörcher, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 17; Greiner, Rechtsfragen, S. 176; Weiß, EuZA 2010, 457, 462 f.; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 28; Gooren, Tarifbezug, S. 198; vgl. zum Einfluss der ESC auf das verfassungsrechtliche Verständnis des Streiks ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353; zum Einfluss der EMRK Schlachter, RdA 2011, 341, 347 f.; zum Einfluss von ESC und ILO Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 56 f. 445  BVerfG, Beschl. v. 14. 10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408 („Görgülü“): „Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes“; Hofmann, Jura 2013, 326, 330; Seiter, RdA 1986, 165, 173; Rieble, RdA 2005, 200, 204, für eine Beachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen, „[…] soweit nicht vorrangige Normen des Grundgesetzes oder einfachen Rechts im Wege stehen; vgl. Gumnior, Sympathiestreik, S. 92 f., der Auslegungsspiel441  Siehe

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3. Teil: Grundgesetz

Inhalt und die Grenzen des Grundgesetzes sind daher zunächst isoliert durch Auslegung der nationalen Norm zu bestimmen. Erst dann kann ein Gericht oder der Gesetzgeber im Falle eines gegebenen Spielraums eine völkerrechtsfreundliche Auslegung heranziehen. Unter den vorhandenen Auslegungsvarianten ist diejenige zu wählen, die dem Völkerrecht am nächsten steht.446 Der Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition durch Art. 6 Nr. 4 ESC, Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 muss somit bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG berücksichtigt werden.447 Wie dargestellt worden ist, enthält Art. 9 Abs. 3 GG schon bei isolierter Betrachtung keinen zwingenden Tarifbezug oder ein Gewerkschaftsmonopol,448 so dass das Völkerrecht im Rahmen dieses Auslegungsspielraums Berücksichtigung finden muss.449 Die Annahme eines Gewerkschaftsmonopols wäre somit gleichsam ein Verstoß gegen den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung.450 Der abwehrrechtliche Schutzgehalt des Streiks im Völkerrecht und im Grundgesetz entspricht sich daher (Verhältnis Bürger/Staat). Inwieweit das Völkerrecht darüber hinaus Auswirkungen auf das arbeitsvertragliche Verhältnis der Koalitionspartner besitzt (Verhältnis Bürger/ Bürger), wird im späteren Verlauf der Arbeit noch dargestellt.451 räume als Voraussetzung für die völkerrechtsfreundliche Auslegung bezeichnet; Greiner, Rechtsfragen, S. 477 f.; Bepler, in: FS Wißmann, S. 107; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 292; Seifert, EuZA 2013, 205, 217. 446  Hofmann, Jura 2013, 326, 330; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 292 f. 447  Siehe zur Gewährleistung des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Völkerrecht die Zusammenfassung im 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“. 448  Siehe dazu den 3. Teil, 3. Kapitel, III. „Stellungnahme: umfassender Schutz des Streiks“. 449  So auch Däubler, AuR 1998, 144, 147 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 304 f.; Pauk­ ner, Streikrecht entsandter ausländischer Arbeitnehmer, S. 108; zumindest bezüglich des Wortlauts der Koalitionsfreiheit Picker, ZfA 2010, 586, 599; dies berücksichtigt Konzen, in: 50 Jahre BAG, S. 531 hingegen nicht, der eine Bindung deutscher Gerichte an die Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats generell ablehnt und einen Einfluss der ESC auf das deutsche Streikrecht verneint; ebenfalls ablehnend Greiner, Rechtsfragen, S. 177, der einen Auslegungsspielraum im nationalen Recht zurückweist. 450 Ebenfalls Zachert, AuR 2001, 401, 404; Dumke, Streikrecht ESC, S. 368 f.; zum Tarifbezug: Gooren, Tarifbezug, S. 276; ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 354; Dieterich, in: FS Jaeger, S. 109; zum Gewerkschaftsmonopol: Seifert, EuZA 2013, 205, 214 ff.; Zweifel andeutend Bepler, in: FS Wißmann, S. 111; ebenfalls „gewisse Bedenken“ besitzt Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 24, der jedoch ansonsten bei rein nationaler Betrachtung für den Tarifbezug und das Gewerkschaftsmonopol eintritt (Rn. 21 und 30 ff.). 451  Siehe dazu den 3. Teil, 4. Kapitel, D. „Einfluss des Völkerrechts“. Siehe im Übrigen auch die Ausführungen zur Rolle des BAG bei der normativen Ausgestaltung des Streiks im 5. Teil, 1. Kapitel, A. „Anordnung durch das Bundesarbeitsgericht“.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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V.  Zusammenfassung Der Arbeitskampf und damit der Streik sind Teil der Betätigungsfreiheit, die abwehrrechtlich vor Eingriffen des Staates geschützt sind. Der Kritik an der Kernbereichsrechtsprechung ist dort zuzustimmen, wo sich der Kernbereich auf die Abwehrfunktion der Koalitionsfreiheit bezieht und den abwehrrechtlichen Schutz bestimmter Handlungen verkürzt. Der Koalitionsfreiheit wohnt mit der Orientierung am Koalitionszweck eine schutzbereichsimmanente Begrenzung inne, die dazu führt, dass nur koalitionsspezifische Betätigungen abwehrrechtliche geschützt sind. Darüber hinaus ist der Norm keine Begrenzung ihrer abwehrrechtlichen Dimension auf einen Kernbereich zu entnehmen. Der weite Schutzbereich der Koalitionsfreiheit schützt daher den nichtgewerkschaftlichen und den nichttarifbezogenen Streik vor Eingriffen durch den Staat. Dieses Ergebnis folgt auch aus der Berücksichtigung des Völkerrechts. Inwieweit der Streik als natürliche und normative Freiheit einzuordnen ist und welche Auswirkungen dies auf seinen abwehrrechtlichen Schutz hat, wird im Folgenden untersucht.

B.  Streik als natürliche und normative Freiheit Ausgehend von der Unterscheidung452 der abwehrrechtlichen Grundrechtsinhalte in natürliche und normative Freiheiten wird der Streik im Folgenden in dieses System eingeordnet (I.). Dabei gilt es im Anschluss zu klären, ob dem Streik gänzlich der umfassende abwehrrechtliche Schutz zukommt (II.). Das Ergebnis wird Grundlage für die im 4. Teil vorzunehmende Einordnung der Rechtsprechung zum Streik sein. Falls es Bereiche des Streiks gibt, die nicht abwehrrechtlich geschützt sind, könnte dem Staat diesbezüglich ein weiterer Handlungsspielraum als bei Eingriffen in das Abwehrrecht zukommen. I.  Einordnung Unter einer natürlichen Freiheit des Grundrechtsträgers werden durch das Grundrecht geschützte Handlungen verstanden, zu denen dieser von Natur aus fähig ist. Von staatlicher Seite bedarf es keiner gesetzlichen Regelungen, die die Voraussetzungen schaffen, damit der Grundrechtsträger handeln kann.453 Eine 452  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, B, I. „Abstrakte Einordnung der Grundrechte als Abwehrrechte“; vgl. weiterführend Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 60 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 259 f. 453  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 259; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 89; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 51, in Fn. 142; Krause, in: Giesen/ Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 51; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 60, der jedoch begrifflich von sachgeprägten Gegenständen im Gegensatz zu rechtsgeprägten Gegenständen spricht.

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3. Teil: Grundgesetz

normative Freiheit hingegen entsteht erst durch den Staat, indem dieser durch ein Gesetz Verhaltensmöglichkeiten konstituiert und so dem Grundrechtsträger bestimmte Handlungen ermöglicht, zu denen er nicht von Natur aus fähig ist.454 1.  Natürliche Freiheit Der Streik ist als Arbeitsniederlegung eine natürliche Handlung, bei der die Arbeitnehmer keiner gesetzlichen Normen bedürfen, um von diesem rein faktischen Verhalten Gebrauch zu machen.455 Wie bereits einleitend dargestellt wurde, ist der Streik ein „soziales Phänomen“456, das auch ohne staatliche Gewährleistung bereits vor Begründung des Grundgesetztes existierte.457 Der Streik kann sich ohne staatliche Hilfe in Form des bloßen Nichtarbeitens unter Verletzung der Arbeitspflicht als ein von Natur aus mögliches Verhalten entfalten.458 Historisch betrachtet konnte sich der Streik zudem oftmals gegen geltendes Recht durchsetzen.459 Dies spricht gegen die Annahme, dass er nur aufgrund einer rechtlichen Ausgestaltung existieren kann. Er ist als ein Handeln einzuordnen, welches qua Natur der Sache möglich ist. 454  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 259; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 61; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 64; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 89 f.; vgl. Krause, in: Giesen/Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 51. 455  Zum Streik: Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 422 in Fn. 136; Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 529; Konzen, AcP 1977, 473, 505:„Realakt“ ; zum Sympathiestreik Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 157; Bepler, in: FS Wißmann, S. 98; vgl. Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 2;. Vgl. zum Arbeitskampf: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 261 ff.; Höfling/Engels, ZG 2008, 250, 256 f.; Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 240; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 64; vgl. Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 196, Rn. 1; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 51; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 271; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 34; Greiner, Rechtsfragen, S. 119; Greiner, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 25 f.; Ramm, AuR 1964, 353, 361; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 150; a.A.: zum Arbeitskampf Hilje, Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen, S. 135 f. wegen einer angeblichen Angewiesenheit auf einen einfachgesetzlichen Rahmen; ebenso auch: Schwarze, JuS 1994, 653, 656 f.; Otto, RdA 2010, 135, 138; Picker, ZfA 2010, 586, 626; Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 342; zumindest im grundrechtlichen Kontext Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 170; wohl auch gegen die Einordnung als natürliche Freiheit Poscher, RdA 2017, 235. 456  Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 1; Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 181. 457  Siehe dazu bereits die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, A., II. „Arbeitskampf als soziales Phänomen“. 458  Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 2; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 157; Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 240; wohl auch Konzen, AcP 1977, 473, 505: „Realakt der Arbeitseinstellung“. 459  Höfling/Engels, NJW 2007, 3102, 3103.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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Unter anderem wendet sich Gellermann gegen diese „Naturwüchsigkeit“ des Arbeitskampfes und stützt sich dabei auf einen Vergleich mit der Eigentumsfreiheit gemäß Art. 14 GG. Obwohl der Gegenstand, auf den sich das Eigentum beziehe, auch in einer natürlichen Form existiere, werde er erst in seiner rechtlichen Klassifizierung grundrechtlich geschützt.460 Sein Vergleich geht jedoch fehl. Zwar ist ihm zuzustimmen, dass dem natürlichen Objekt bei Art. 14 GG kein grundrechtlicher Schutz zukommt, sondern erst der normativen Prägung durch den Gesetzgeber. Allerdings stellt der Streik statt eines Gegenstandes eine menschliche Handlung dar, deren Entfaltung durch die Einordnung als grundrechtliche Freiheit geschützt wird. Art. 14 GG schützt dagegen nur das normativ entwickelten Eigentumsrecht und nicht einen abstrakten Gegenstand. Die Betätigungsfreiheit schützt unabhängig von rechtlichen Wertungen auch tatsächliche Handlungen, wie Gellermann selbst am Beispiel der Mitgliederwerbung verdeutlicht.461 Daher wird die Koalitionsfreiheit in Bezug auf die koalitionsspezifischen Betätigungen auch zu Recht als Freiheitsrecht angesehen.462 Ebenfalls lehnt Schwarze eine Einordnung des Arbeitskampfes als „natürliche Betätigung“ ab, da er in die Rechtssphäre anderer eingreife und somit eines „gewährenden staatlichen Aktes“ bedürfe.463 Die Beeinträchtigung Dritter kann jedoch auch durch natürliche Handlungen erfolgen. Die tatsächliche Arbeitsniederlegung kann beispielsweise Arbeitsabläufe behindern, so dass nicht nur die rechtlichen Auswirkungen des Streiks auf das Arbeitsverhältnis Druck auf den Arbeitgeber entfalten. Eine andere Frage ist, ob der Arbeitskampf durch staatliche Regelungen reguliert werden muss, um Dritte zu schützen.464 Dadurch wird der Streik jedoch nicht zu einer normativen Freiheit, da er auch ohne die staatlichen Eingriffe möglich ist. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass der Streik eine natürliche Dimension besitzt und daher grundrechtsdogmatisch als natürliche Freiheit anzusehen ist.

460 

Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 170. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 160; zudem entsteht ein Widerspruch zu seinen Ausführungen zum Arbeitskampf als „soziales Phänomen“ welches bereits vor jeglicher rechtlicher Regelung bestand (S. 169); zu einer ähnlichen Kritik siehe Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 240 f. 462 BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 708; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 289; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 1 ff; Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 241. 463  Schwarze, JuS 1994, 653, 656 f.; ähnlich: Hilje, Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen, S. 135 f.; Otto, RdA 2010, 135, 138; Picker, ZfA 2010, 586, 626. 464 Vgl. Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 408 f. 461 

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3. Teil: Grundgesetz

2.  Normative Freiheit Der Streik kann jedoch auch eine normative Dimension besitzen. Seit dem Beschluss des Großen Senats des BAG vom 28. 01. 1955465 ist in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass der Streik unter bestimmten Voraussetzungen die Pflicht des Arbeitnehmers aus § 611 Abs. 1 BGB suspendiert, seine Arbeit gegenüber dem Arbeitgeber zu erbringen.466 Dadurch wird der durch die Niederlegung der Arbeit eintretende Bruch des Arbeitsvertrages verhindert.467 Der Streik wird so von einer bloßen natürlichen Betätigung zu einem normativen Gestaltungsrecht, welches Auswirkungen auf die privatrechtlichen Rechtsverhältnisse der Grundrechtsträger untereinander hat. Dementsprechend wird das suspendierende Streikrecht zivilrechtsdogmatisch auch als subjektiv-privates Gestaltungsrecht bezeichnet.468 Diese normative Dimension berücksichtigt Cornils nicht, wenn er feststellt, dass Arbeitskämpfe nicht „unmittelbar rechtsgestaltend sind“.469 Er lässt außer Betracht, dass ein Streik der Suspendierung der arbeitsvertraglichen Pflichten bedarf, um umfassend – auch arbeitsvertraglich – rechtmäßig zu sein. Richardi betont daher zu Recht, dass mit dem Arbeitskampf nicht „lediglich eine spezifisch koalitionsmäßige Betätigungsfreiheit anerkannt wird, sondern […] ein Eingriffsrecht“470 in die vertragliche Bindung. Demgegenüber wird teilweise angenommen, dass die Suspendierungswirkung des Streiks eine natürliche Eigenschaft ist, für die die Grundrechtsträger nicht auf 465 

BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884 f. BAG, Urt. v. 31. 05. 1988, 1 AZR 589/86, NJW 1989, 122: „Während eines rechtmäßigen Streiks werden zwar seit dem Beschluß des Großen Senats vom 28. 1. 1955 […] die Hauptpflichten der Parteien aus dem Arbeitsvertrag nur suspendiert.“; dazu Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 192; Boemke, ZfA 2009, 131, 135. 467  Siehe zu Bewertung des Streiks im Verhältnis zum Arbeitsvertrag durch das BAG die Ausführungen im 1. Teil, 2. Kapitel, B. „Bewertung des Streiks durch das Bundesarbeitsgericht“. 468 Grundlegend Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 182 ff.; Seiter, RdA 1986, 165, 181; zustimmend: Reichold, in: MüHdbArbR I, § 37, Rn. 31; Richardi, in: FS Säcker, S. 291; Konzen, AcP 1977, 473, 507; Krause, in: FS Deutsch, S. 795 f.; Raab, in: FS Otto, S. 413; ausführlich Picker, ZfA 2011, 443, 454 ff.; vgl. Schansker, Beschränkung des Streikrechts, S. 60: „Das Streikrecht ist daher ein privatrechtliches Mittel eigener Art.“; BAG, Urt. v. 31. 05. 1988, 1 AZR 589/86, NZA 1988, 886, welches Seiters Ausführungen bestätigt, dass die Suspendierung der Arbeitspflicht durch eine rechtsgeschäftliche Erklärung des Arbeitnehmers ausgelöst wird („einseitiges Rechtsgeschäft“). 469  Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 412 in Fn. 84: „unmittelbar rechtsgestaltend sind [Arbeitskämpfe] nicht“; ebenso eine normative Freiheit ablehnend Greiner, Rechtsfragen, S. 115 f., der dennoch auf „rechtsgestaltende Wirkungen“ des Arbeitskampfes hinweist. 470  Richardi, NZA 2014, 1233, 1236. 466 

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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die Mithilfe des Staates angewiesen sind.471 Folgt man dieser Ansicht, wäre der Beschluss des Großen Senats des BAG zur Suspendierungswirkung rein deklaratorisch und nicht konstitutiv.472 Auch das BAG schien kurzzeitig von einer natürlichen Freiheit auszugehen, da es in einem Urteil 1963 feststellte, dass „jeder Streik [..] eine einseitige Suspendierung der durch den Arbeitsvertrag übernommenen Arbeitspflicht [sei]“473. In späteren Urteilen erkannte es jedoch zu Recht an, dass nicht jeder Streik suspendierend wirke und die Suspendierungswirkung einer besonderen Privilegierung bedürfe. Insbesondere der nichtgewerkschaftliche Streik besitze keine Suspendierungswirkung.474 Überzeugender ist die Auffassung, dass die arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung eine normative Freiheit ist, die einer gesetzlichen oder ersatzweise richterrechtlichen Anordnung bedarf.475 Unter dieser Prämisse erfolgte 471  Ausdrücklich für eine natürliche Freiheit Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 271 mit Verweis auf Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG und dem bisherigen einheitlichen Verständnis des Streiks; für ein automatisches Zurücktreten zivilrechtlicher Bindungen: Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 112; für eine verfassungsrechtlich intendierte sowie angelegte Wirkung: Greiner, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 26 f.; Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 469 f. und S. 529 f.; Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 19, Rn. 7; vorsichtiger Däubler, Gutachten Tarifeinheit, S. 20, der die Möglichkeit einer Suspendierung „von Verfassungs wegen“ offen lässt; an anderer Stelle für einen gewohnheitsrechtlichen Charakter der Suspendierungswirkung: Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 51; unklar Greiner, Rechtsfragen, S. 115 f., der nicht darlegt, woher die rechtsgestaltende Wirkung kommt, wenn sie nicht eine normative Freiheit ist; ebenfalls unklar Gooren, Tarifbezug, S. 131 f. und S. 104 , der einerseits sagt, die Suspendierung sei seit der Entscheidung des BAG anerkannt (S. 131), aber andererseits eindeutig unterstreicht, dass die Suspendierungswirkung den Arbeitskampf nicht normativ konstituiere (S. 132). 472  So ausdrücklich Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 530. 473  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885 f. Einen ähnlichen Standpunkt scheint Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 166 f. zu vertreten, wenn er die Streikdefinition unmittelbar mit der suspendierenden Wirkung verknüpft. 474  Anschaulich BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237; ähnlich bereits BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486. 475 Ebenso Schwarze, JuS 1994, 653, 657: „[Es] bedarf eines gewährenden staatlichen Aktes, sie verlangt vom Staat (Gesetzgeber, hilfsweise Richter) ein aktives Tun“; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 115 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, S. 243, der von einer „besonderen rechtlichen Legitimation“ spricht; Richardi, in: FS Säcker, S. 295: Suspendierung „nicht verfassungsrechtlich geboten“; Richardi, NZA 2014, 1233, 1236: „rechtliche Macht [wird] verliehen“; Ramm, AuR 1964, 353, 358, in Fn. 50: Suspendierungswirkung sei „rechtliche Wertung“; Höfling, in: FS Friauf, S. 386; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 82; Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 207: „Rechtsfortbildung“; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 278, dessen Ausführungen auf S. 304 dem jedoch widersprechen. Dort nimmt er an, dass der Arbeitskampf „per definitionem ein privatrechtliches Übergriffsverhalten sei“, das abwehrrechtlich geschützt sei; Bepler, in: FS Wißmann, S. 102, für eine Privilegierung durch Rechtsfortbildung; Gellermann, Grundrechte in ein-

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3. Teil: Grundgesetz

die Anordnung der Suspendierungswirkung für den gewerkschaftlichen und tarifbezogenen Streik durch den Beschluss des Großen Senates des BAG vom 28. 01. 1955.476 Um die These vom Erfordernis einer staatlichen Anordnung belegen zu können, werden im Folgenden verschiedene Möglichkeiten einer natürlichen Suspendierungswirkung des Streiks erörtert. Für eine natürliche Rechtsfolge müsste der Streik automatisch und ohne weiteres staatliches Zutun ein vertragliches Eingriffsrecht sein. Dies würde zu einem automatischen Gleichlauf zwischen Verfassungsrecht und Zivilrecht führen. a)  Keine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte Der Bruch des Arbeitsvertrages könnte automatisch legitimiert sein, wenn die Grundrechte unmittelbare Anwendung im Zivilrecht finden. Dann müsste der umfassende abwehrrechtliche Schutz des Streiks im Verhältnis zum Staat auch auf das Privatrecht zu übertragen sein, so dass die Hauptpflichten der Streikenden zu ihrem Schutz automatisch suspendiert werden.477 Eine solche Unmittelbarkeit ist jedoch – abgesehen von Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG – abzulehnen. Es entspricht der herrschenden Meinung, dass Grundrechte unmittelbar nur gegenüber dem Staat geltend gemacht werden können.478 Dies ergibt sich insbesondere fachgesetzlichem Gewande, S. 172; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 94; Seiter, RdA 1986, 165, 184 f.; zur gesetzlichen Anerkennung suspendierender Kampfrechte Konzen, AcP 1977, 473, 503 ff.; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 64. 476  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884 f. Siehe dazu ähnliche Bewertungen: Otto, RdA 2010, 135, 146 bezeichnet das Urteil als Verfügung des BAG; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 148 und S. 170; Richardi, in: FS Säcker, S. 287: „Akt richterlicher Rechtsfortbildung“; so auch Bepler, in: FS Wißmann, S. 102; Neumann, in: FS Wiedemann, S. 370, für den der Beschluss richterrechtlich die Grundlagen legte; vgl. dazu die Bewertung des ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 d); vgl. Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 70, für den die verfassungsrechtliche Streikfreiheit mit der Entscheidung des BAG zum Streikrecht wurde; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 64; a.A. wohl Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 530: „Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die freilich dem Streik diese Rechtswirkung beimisst, zeichnet nur – aber insofern zutreffend und verfassungsrechtlich unbedingt geboten – die normative Vorgabe des Art. 9 Abs. 3 GG nach.“ 477  Davon scheint Dumke, Streikrecht ESC, S. 346 auszugehen, für den die Arbeitsniederlegung „aufgrund Art. 9 Abs. 3 GG gerechtfertigt [ist]“; ebenso Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 469 f., der von einer „verfassungsrechtlich intendierten sowie angelegten Rechtswirkung“ ausgeht, die „die privatrechtlichen Arbeitspflichten suspendiert“ (siehe dazu weitere Ausführungen auf S. 529 f.). 478  Siehe nur Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 15; Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 226 ff.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 164 ff.; Gornik, NZA 2012, 1399, 1401, Hermes, NJW 1990, 1764; Klein, NJW 1989, 1633, 1639 f.; mit Bezügen zur Rechtsprechung; Dieterich, RdA 2007, 110, 111: „Alle grundrechtlichen Vorgaben dürfen nicht mit zivilrechtlichen Generalklauseln verwechselt werden. Sie richten sich

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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aus Art. 1 Abs. 3 GG, der nur die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an die Grundrechte bindet.479 Eine unmittelbare Bindung der Grundrechtsträger an die Grundrechte würde diese zudem in ihrer Freiheit einschränken, untereinander privatautonome Bindungen einzugehen.480 Im Ergebnis ist heute anerkannt, dass Grundrechte nur mittelbar über zivilrechtliche Generalklauseln Einfluss auf das Privatrecht haben. Der Richter hat im Rahmen offener Rechtsbegriffe grundrechtliche Wertungen zu berücksichtigen und diese gegeneinander abzuwägen.481 b)  Unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG Für eine natürliche Freiheit könnte sprechen, dass der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG eine „unmittelbare Drittwirkung“482 zukommt. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG stellt eine ausdrücklich angeordnete Ausnahme zur fehlenden unmittelbaren Wirkung der Grundrechte im Privatrecht dar.483 Die Norm gewährt dem Recht auf Koalitionsbildung einen zwingenden Vorrang gegenüber Abreden oder Maßnahmen, die die Koalitionsbildung beschränken wollen. Dazu ordnet sie die Nichtigkeit derartiger Beschränkungen an. Würde sich die Norm auf die gesamte Betätigungsfreiheit beziehen, könnte dies Auswirkungen auf die arbeitsvertragliche Zulässigkeit des Streiks haben.484 So würden Arbeitsverträge, die im Streikfall weiterhin zur Arbeitserbringung verpflichten, möglichweise als nichtig zu betrachten sein. Denn die Arbeitspflicht schränkt das Recht zu streiken – als Recht zur natürlichen Niederlegung unmittelbar nur an den Staat […].“; Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 63; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 184. 479  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 164; Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 63; Dreier, in: Dreier, Vorbemerkung, Rn. 98; Pietzcker, in: FS Dürig, S. 347. 480  Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 63; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 168 f.; Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 227 f., für den jedoch vor allem die nicht-rechtfertigungsbedürftige Freiheit des Bürgers den Unterschied zum Staat ausmacht (S. 228 ff.). Eine unmittelbare Bindung Privater an Grundrechte würde die private Gesellschaft verstaatlichen (S. 231); Pietzcker, in: FS Dürig, S. 346. 481  Dreier, in: Dreier, Vorbemerkung, Rn. 98; vgl. Wendtland, in: BeckOK BGB, § 138 BGB, Rn. 17; vgl. Pietzcker, in: FS Dürig, S. 345; kritische Analyse von Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 232 ff. 482  Scholz, in: HStR VIII, § 175, Rn. 90; vgl. Starck, in: HStR XII, § 271, Rn. 64. 483  Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 15; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 164 ff. 484  Für die Suspendierungswirkung auf Grundlage von Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG: Heuschmid, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 20; wohl zustimmend Schubert, in: EUArbR, Art. 28 GRC, Rn. 4; siehe auch Dumke, Streikrecht ESC, S. 346, der auf Grundlage von Satz 2 das Verbot der Kündigung im Falle eines rechtmäßigen Streiks begründet; ähnlich Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 19, Rn. 7.

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3. Teil: Grundgesetz

der Arbeit – ein.485 Der Arbeitsvertrag wäre diesbezüglich aufgrund der Drittwirkungsklausel nichtig, so dass es keiner staatlichen Umsetzung der Suspendierung bedürfte. Die Drittwirkungsklausel bezieht sich jedoch ihrem Wortlaut nach nur auf die Bildung der Koalitionen und nicht auf ihre Betätigung.486 Dem kann freilich entgegnet werden, dass auch der Betätigungsschutz nicht ausdrücklich in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG genannt wird und der Schutz der Betätigung trotzdem anerkannt ist.487 Bezöge sich die Klausel allerdings insgesamt auf den Arbeitskampf als Koalitionsbetätigung, würde es zu einer ungewollten Kollision zwischen dem Streik mit ebenfalls geschützten Arbeitskampfmittel des Arbeitgebers kommen. Der Arbeitskampf beinhaltet nicht nur Angriffsmittel, sondern ebenso Verteidigungsmittel, die nach der Drittwirkungsklausel verboten sein müssten, da sie die Angriffsmittel des Arbeitnehmers beschränken. Ein derartiges Verständnis kann nicht gewünscht sein, da es nicht zu einem größeren Schutz der Koalitionsfreiheit führt, sondern die Koalitionen in ihrer Betätigung beschränkt. Der antagonistische Wettbewerb zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, der dem System der Koalitionsfreiheit zugrunde liegt, wäre nicht mehr möglich. Daher ist die Drittwirkungsklausel nach überwiegender Ansicht zumindest in Bezug auf den Arbeitskampf als Beschränkung der Koalitionsbetätigung nicht anzuwenden.488 485 

Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 186. Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263, 270, die sich eingehend – auch unter historischen Gesichtspunkten – mit der Wirkung der Drittwirkungsklausel befassen und im Ergebnis einen Schutz der Betätigungsfreiheit durch die Drittwirkungsklausel ablehnen; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 128. 487  Siehe zur Betätigungsfreiheit bereits den 3. Teil, 2. Kapitel, B., II., 3 „Schutz der Betätigungsfreiheit“. 488  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 162: „Art. 9 Abs. 3 S. 1 und S. 2 GG stünden in einem unauflöslichen Widerspruch zueinander“; Greiner, Rechtsfragen, S. 157; Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263, 268 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 333, in Fn. 3; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 106; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 89, in Bezug auf die Aussperrung; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 185 f.; Krichel, NZA 1986, 731, 734: „Allerdings findet Art. 9 III 2  GG keine Anwendung, wenn und soweit das Verhalten der Koalition nach Art. 9 III 1 GG geschützt ist“; vgl. Lenz, Freiheitsrechte, S. 257 f.; ebenso in Bezug auf den „rechtmäßigen Arbeitskampf“ BAG, Urt. v. 13. 07. 1993, 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135, 1137; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 44 f.; unklar Dieterich, RdA 2007, 110, 111: „unmittelbare Drittwirkung betrifft nur einen kleinen Sektor des Schutzbereichs“; Kluth, in: Berliner Kommentar GG, Art. 9, Rn. 273; Seiter, RdA 1986, 165, 184: „Die für die Koalitionsbildungsfreiheit geltende Drittwirkungsklausel […] [passt] ganz offensichtlich nicht für den Arbeitskampf als einer Koalitionsbetätigung.“; dagegen: Blanke, NZA 1990, 209, 210, der wegen Satz 2 die Aussperrung für unzulässig hält; Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 150; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 271; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 43 f., der jedoch in die Klausel ein „Abwägungsprogramm“ bezüglich anderer Grundrechte hineinliest; Gooren, Tarifbezug, S. 60, dessen Kritik jedoch zurückgewiesen werden muss, 486 Vgl.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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Allerdings kann die Drittwirkungsklausel auch für andere konkurrierende Schutzgehalte der Koalitionsfreiheit keinen Anwendungsbereich haben. So hat das BAG befunden, dass die unmittelbare Drittwirkung für den Konflikt zwischen der gewerkschaftlichen Mitgliederwerbung und dem Daseins- und Betätigungsrecht rivalisierender Gewerkschaften nicht gilt. Handele es sich um den Konflikt zwischen zwei durch die Koalitionsfreiheit geschützten Verhaltensweisen müsse ein Ausgleich der beiden Grundrechtspositionen im Wege praktischer Konkordanz erfolgen.489 Dies spricht dafür, dass Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG über den Arbeitskampf hinaus keine Wirkung für den internen Konflikt verschiedener Schutzinhalte der Koalitionsfreiheit entfaltet.490 Aber auch jenseits dieser internen Konflikte entfaltet die Drittwirkungsklausel kein absolutes Verbot von Beschränkungen der Betätigungsfreiheit. Teilweise wird sogar angenommen, dass die unmittelbare Wirkung der Koalitionsfreiheit generell nicht für Koalitionsbetätigungen, sondern nur für die Koalitionsbildung gilt.491 Diese Begrenzung steht aber im Widerspruch zur teleologisch hergeleiteten Annahme, dass die Koalitionsfreiheit auch Betätigungen schütze. Wenn die teleologische Erweiterung für Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gilt, muss sie grundsätzlich auch bei Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG Anwendung finden.492 Die Drittwirkungsklausel umfasst daher grundsätzlich auch den Schutz der Betätigungsfreiheit.493 Es sind jedoch viele Fälle denkbar, in denen die Koalitionsfreiheit mit anderen durch das GG geschützten Verhaltensweisen kollidiert. Würde man in diesen Fällen Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG generell anwenden, würden andere Grundrechte ohne Berücksichtigung ihres grundrechtlichen Schutzes eingeschränkt.494 Dadurch da eine isolierte Betrachtung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ohne Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nicht möglich ist. 489  BAG, Urt. v. 31. 5. 2005, 1 AZR 141/04, NZA 2005, 1182, 1184. 490  So auch Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 186. 491  Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263 ff., die im Rahmen der teleologischen Auslegung jedoch nur auf den internen Konflikt mit nach Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützten Betätigungen verweisen (S. 272). Dagegen wird nicht thematisiert, dass es Fälle gibt, in denen es zu keinem internen Konflikt kommt und eine Anwendung der Drittwirkungsklausel so nicht immer zu einer „Paradoxie“ führt; zustimmend Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 106; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 163. 492 A.A. Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263, 272. 493  Siehe BAG, Urt. v. 31. 5. 2005, 1 AZR 141/04, NZA 2005, 1182, 1184, das Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG grundsätzlich auch für Beschränkungen der Mitgliederwerbung anwendet; BAG, Urt. v. 28. 2. 2006, 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798, 801; Kemper, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 185; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 43; vgl. Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 88 ff. 494  Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 133, wonach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG eine Abwägung bzw. Einschränkung i.S. praktischer Konkordanz nicht zulasse; a.A. Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 44, für ein „zivilrechtliches Abwägungsprogramm“ im Rahmen der Drittwirkungsklausel.

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3. Teil: Grundgesetz

würde der Koalitionsfreiheit nicht nur ein absoluter Vorrang vor dem einfachen Recht, sondern auch vor anderen Grundrechten zukommen. Für die Beschränkung des Streiks durch den Arbeitsvertrag würde dies bedeuten, dass bei einer Anwendung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG die ebenfalls grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit der beiden Vertragsparteien generell eingeschränkt würde. Dies kann jedoch nicht von der Norm beabsichtigt sein.495 Hinzu kommt, dass der Arbeitnehmer sich durch den Arbeitsvertrag selbst in seiner privatrechtlichen Betätigung beschränkt. Diesem autonomen Verhalten sollte die Drittwirkungsklausel ebenfalls nicht entgegenstehen.496 Ansonsten würde die Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht zu einem freiheitsbeschränkenden Grundrecht, die dem Arbeitnehmer eigene privatrechtliche Entscheidungen verbieten würde. Zudem spricht gegen die Anwendung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, dass die Drittwirkungsklausel nur Abreden erfasst, die eine Einschränkung oder Behinderung „suchen“, und des Weiteren nur für Maßnahmen gilt, die gegen die Koalitionsfreiheit „gerichtet“ sind. Damit setzt die Drittwirkungsklausel eine subjektive Schädigungsabsicht voraus,497 die beim Abschluss des Arbeitsvertrags üblicherweise nicht vorliegt. In Fällen fehlender Schädigungsabsicht und eigenverantwortlicher Beschränkung durch den Grundrechtsträger sollte Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG daher keine Anwendung finden. Hingegen umfasst die Drittwirkungsklausel Beschränkungen durch Dritte, bei denen der Grundrechtsträger ohne Einflussmöglichkeit in seiner Koalitionsbetätigungsfreiheit begrenzt wird.498 Damit ordnet Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG für die Dauer des Streiks grundsätzlich keine automatische Suspendierung des Arbeitsvertrages und der Pflicht zur Arbeitserbringung an.499 495 Vgl.

Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 163. Linck, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 3, Rn. 3. 497  Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 187: „Der bloße Effekt einer tatsächlichen Einschränkung reicht nicht aus; diese tatsächliche Wirkung muss vom Handelnden gewollt sein.“; auch das BAG scheint nur auf gezielte Beeinträchtigungen abzustellen: BAG, Urt. v. 28. 2. 2006, 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798, 801; a.A. Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 88: „Erfasst wird jede objektiv vorliegende Beeinträchtigung (“einschränken„) […].“, Bauer berücksichtigt jedoch nicht, dass sich das Wort suchen auch auf einschränken bezieht und daher eine subjektive Komponente aufweist; ebenfalls für eine rein objektive Beeinträchtigung Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 108; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 131. 498  Vgl. BAG, Beschl. v. 20. 4. 1999, 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887, 891 f., in Bezug auf tarifwidrige betriebliche Einheitsregelungen; ebenso Greiner, Rechtsfragen, S. 157, für den die Klausel der Abwehr „systemfremder, von außen auf die Koalitionsfreiheit einwirkender Beeinträchtigungen“ dient. 499  So auch Ramm, AuR 1964, 353, 361; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 94; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 163 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 279. 496 Instruktiv

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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c)  Zivilrechtliche Generalklauseln als Einfallstore für eine Suspendierungswirkung Im Falle eines Streiks könnte die arbeitsvertragliche Hauptpflicht des Arbeitnehmers auch durch zivilrechtliche Generalklauseln automatisch suspendiert sein. Dafür kommen die Vertragsanpassung nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB, die Vertragsnichtigkeit infolge Sittenwidrigkeit gemäß § 138 BGB und das Leistungsverweigerungsrecht bei Unzumutbarkeit gemäß § 275 Abs. 3 BGB in Betracht. Alle Normen enthalten offene Rechtsbegriffe, die durch die Gerichte ausgelegt werden müssen. Diesbezüglich ist anerkannt, dass die Gerichte bei Ausfüllung dieser Begriffe grundrechtliche Wertungen berücksichtigen müssen.500 Dieses Gebot ist der Kern der herrschenden Lehre von der mittelbaren Wirkung der Grundrechte auf das Privatrecht.501 Zunächst ist anzumerken, dass keine der Normen dazu führt, dass die Suspendierungswirkung eine natürliche Freiheit ist. Bei den Generalklauseln handelt es sich um vom Gesetzgeber geschaffene Normen. Eine Suspendierung würde daher auf normativer Grundlage erfolgen und nicht in Form einer natürliche Freiheit des Streiks. Im Übrigen führt keine der drei Normen dazu, dass ein Gericht generell die Suspendierung der arbeitsvertraglichen Pflichten des Streikenden anordnen müsste. So setzt § 242 BGB eine Einzelfallabwägung voraus, in der das Gericht die Belange beider Vertragsparteien berücksichtigen muss.502 Im Grundsatz gilt die Regel, dass der einstimmig zwischen den Parteien ausgehandelte Vertrag auch für Gerichte bindend ist. Die Grundlage dieser Bindung ist die grundrechtlich geschützte Vertragsautonomie gemäß Art. 2 Abs. 1 GG.503 Eine Vertragsanpassung nach § 242 BGB hat dagegen nur zu erfolgen, wenn eine besondere Benachteiligung des Vertragspartners vorliegt und die grundrechtliche Schutzpflicht ein Eingreifen des Staates erfordert.504 Wie später noch erläutert wird, ist der Staat 500  BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993, 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 38: „Deshalb sind die Zivilgerichte von Verfassungs wegen verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln die Grundrechte als ‚Richtlinien‘ zu beachten.“; Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rn. 146; Sutschet, in: BeckOK BGB, § 242 BGB, Rn. 22; Gooren, Tarifbezug, S. 101; zu § 275 Abs. 3 BGB vgl. Preis, KuR 2011, 33, 38. 501  Dreier, in: Dreier, Vorbemerkung, Rn. 98; vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, S. 244 f.; vgl. Wendtland, in: BeckOK BGB, § 138 BGB, Rn. 17; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 100. 502 Vgl. Sutschet, in: BeckOK BGB, § 242 BGB, Rn. 18; Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rn. 144. 503 Vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rn. 456 ff.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 199. 504  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 199; vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger (2015), § 242 BGB, Rn. 459; vgl. zur Schutzpflicht der Rechtsprechung in Bezug auf Generalklauseln Schmidt, in: ErfK, Art. 2 GG, Rn. 27 ff.

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3. Teil: Grundgesetz

nur in einem Kernbereich verpflichtet, den Schutz eines Grundrechtsträgers im Zivilrecht zu gewährleisten.505 Für den Streik bedeutet dies, dass § 242 BGB zumindest nicht generell zu einer automatischen Suspendierung der Hauptpflicht des Arbeitnehmers führen kann, da neben Art. 9 Abs. 3 GG auch die Vertragsautonomie des Arbeitgebers im Rahmen der Einzelfallabwägung zu beachten ist.506 Zudem besitzt der Staat bei der Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflicht einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum und kann selbst entscheiden, wie er Schutz gewährt.507 Auch die anderen beiden Generalklausel führen nicht zu einer vorübergehenden Suspendierung der arbeitsvertraglichen Hauptpflicht des Streikenden: Der Anwendungsbereich des § 138 BGB ist enger als der des § 242 BGB.508 Die Norm erfordert einen Verstoß gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“509. Abgesehen von der notwendigen Einzelfallprüfung durch das Gericht, liegt es fern, den gesamten Arbeitsvertrag als sittenwidriges Geschäft einzuordnen. Die Pflicht zur Arbeitserbringung gehört zu den Hauptpflichten des Arbeitsvertrages und kann daher kein genereller Missbrauch der Privatautonomie sein.510 Das Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 3 BGB besteht darüber hinaus nur, wenn dem Arbeitnehmer seine Leistung unter Abwägung des seiner Leistung entgegenstehenden Hindernisses mit dem Leistungsinteresse des Arbeitgebers nicht zugemutet werden kann. Darunter fallen ausschließlich Ausnahmesituationen wie Pflichtenkollisionen oder besondere Gewissenskonflikte.511 Einer generellen Suspendierung der Arbeitspflicht durch Streiks auf Grundlage von § 275 Abs. 3 BGB steht das ebenfalls zu berücksichtigende Leistungsinteresse des Arbeitgebers entgegen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass weder das BAG noch die Literatur von der an dieser Stelle erörterten Möglichkeit ausgeht, dass der Streik auf Grundlage bestehender zivilrechtlicher Generalklauseln zu einer Suspendierung 505  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., I. „Grundrechtliche Schutzpflicht im Allgemeinen“. 506 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 199 zum Sympathiestreik. Darüber hinaus spricht generell gegen § 242 BGB als Grundlage der Suspendierungswirkung, dass mit § 275 Abs. 3 BGB ein Zurückbehaltungsrecht existiert, dessen Voraussetzungen umgangen werden würden: vgl. zu Duldungspflichten im privaten Nachbarrecht und einer Kritik an § 242 BGB Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 120 f. 507  Dazu ausführlich im 3. Teil, 4. Kapitel, C. „Streik als Bezugspunkt der Schutzpflicht“. 508  Wendtland, in: BeckOK BGB, § 138 BGB, Rn. 8. 509  Zum Begriff der „guten Sitten“ Wendtland, in: BeckOK BGB, § 138 BGB, Rn. 16. 510 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 194 zum Sympathiestreik. 511  Siehe zu § 275 Abs. 3 BGB: Preis, KuR 2011, 33, 51; Richardi, NZA 2002, 1004, 1007.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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des Arbeitsvertrags führt. Vielmehr wird angenommen, dass das suspendierende Streikrecht zivilrechtsdogmatisch ein Gestaltungsrecht ist.512 d)  Vergleich mit Erklärungsmodellen zum tariflichen Normsetzungsrecht Das Erfordernis einer staatlichen Umsetzung der Suspendierungswirkung kann möglicherweise durch die Rechtsnatur von Tarifverträgen gestützt werden. Hinsichtlich der zwingenden und unmittelbaren Wirkung eines Tarifvertrages wird überwiegend davon ausgegangen, dass diese keinen natürlichen Ursprung hat, sondern einfachgesetzlich auf § 4 TVG beruht.513 Demgegenüber wird bezüglich des Normsetzungsrechts der Gewerkschaften mehrheitlich vertreten, dass es diesen nicht durch staatliche Delegation verliehen wurde, sondern unmittelbarer Ausdruck der durch die Koalitionsfreiheit geschützten kollektiven Privatautonomie sei.514 Daher ist ein Versuch sinnvoll, die Theorien, die für ein originär bestehendes Normsetzungsrecht eintreten, auf die Suspendierungswirkung des Streiks zu übertragen. Es handelt sich dabei in erster Linie um die „Originärtheorie“, die „Integrationstheorie“ und die „Mandatarische Theorie“. Die „Originärtheorie“ würde bezogen auf den Streik davon ausgehen, dass dem Streik bereits vor der Schaffung des Grundgesetzes die suspendierende Wirkung zukam und die Verankerung in der Verfassung diesen Zustand nur festgeschrieben habe.515 Ein derartiges Verständnis würde aber verkennen, dass es vor dem Urteil des Großen Senates des BAG allgemeines Rechtsverständnis gewesen ist, dass ein Streik ohne vorherige Kündigung einen Bruch des Arbeitsvertrages bedeutete.516 Zudem würde die Originärtheorie ein Recht des Stärkeren außer512  Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2016), § 611 BGB, Rn. 1127; vgl. BAG, Urt. v. 31. 5. 1988, 1 AZR 589/86, NZA 1988, 886, das bestätigt, dass die Suspendierung der Arbeitspflicht durch eine rechtsgeschäftliche Erklärung des Arbeitnehmers ausgelöst wird („Suspendierungserklärung als einseitigem Rechtsgeschäft“). 513  Engels, RdA 2008, 331, 334; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 207, Rn. 3; vgl. Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 20 und 46: Kompetenz sei nicht natürlich erwachsen, sondern bedürfe eines staatlichen Geltungsbefehls; Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, § 1 TVG, Rn. 107: gesetzlicher „Geltungsbefehl“; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 70 f., die sich auf die „Delegationstheorie“ stützt; Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469, 472; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 164 f. m.w.N.; BAG, Urt. v. 27. 05. 2004, 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399, 1401: für die normative Wirkung von Tarifverträgen bedürfe es der staatlichen „Zuordnung“; a.A.: Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 130. 514  Siehe nur BAG, Urt. v. 27. 05. 2004, 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399, 1401; vgl. Waas, in: BeckOK ArbR, § 1 TVG, Rn. 10; vgl. Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 199, Rn. 3. 515 Vgl. Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 67 f. 516 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 278; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 116; Ehrmann, NZA 1991, 1, 2; Richardi, in: FS Säcker, S. 286.

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3. Teil: Grundgesetz

halb der Rechtsordnung akzeptieren, welches nicht mit einem rechtsstaatlichen Grundverständnis vereinbar ist.517 Nach der „Integrationstheorie“ würde Art. 9 Abs. 3 GG bereits eine automatische Suspendierung des Arbeitsvertrages enthalten.518 Dies würde bedeuten, dass den Grundrechtsträgern ohne staatliche Hilfe eine entsprechende rechtliche Kompetenz bereits innewohnen kann. Dann wäre jedoch das gesamte System der Institutsgarantien hinfällig, die von dem Verständnis ausgehen, dass der Staat in Bezug auf bestimmte Grundrechte die Pflicht hat, „kompetenzielle Freiheiten“ zu schaffen.519 Wie sich Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG jedoch entnehmen lässt, geht auch die Verfassung davon aus, dass einfachrechtliche Befugnisse und Rechte erst durch den Gesetzgeber geschaffen werden müssen. Die „Mandatarische Theorie“ geht von einem privatrechtlichen Ausgangspunkt aus und sieht in dem Beitritt der Koalitionsmitglieder zu einer Koalition eine privatautonome Entscheidung, sich der normativen Wirkung unterwerfen zu wollen. Aus diesem Grund werde das Normsetzungsrecht den Koalitionen nicht aufgrund einer staatlichen Delegation verliehen.520 Ihr folgt das BAG und die überwiegende Ansicht in der Literatur.521 Dieses Modell lässt sich jedoch bereits in seinem Ansatz nicht auf die suspendierende Wirkung des Streiks anwenden. Die Suspendierung beeinflusst nicht die Rechte der eigenen Koalitionsmitglieder, sondern ihre Pflichten gegenüber einem Dritten, dem Arbeitgeber. Abgesehen von seinen sonstigen Schwächen, die normative Wirkung von Tarifverträgen zu erklären,522 können sich die Koalitionsmitglieder nicht durch ihren Koalitionsbeitritt das Recht verschaffen, einen außenstehenden Dritten zu schädigen. Die Theorie kann nur dort anzuwenden sein, wo es um die Begrenzung eigener Rechte und somit die Ausübung eines privatautonomen Verhaltens geht. Somit lassen sich auch aus den Theorien zum tariflichen Normsetzungsrecht keine Argumente für die Suspendierungswirkung als vorstaatlich-natürliche Freiheit ziehen.

517 Vgl.

Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 115 f. Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 68, so zum Arbeitskampf wohl Gooren, Tarifbezug, S. 104. 519 Dazu von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 74 f. 520  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 68 f.; auch „Autonomietheorie“ oder „Theorie mitgliedschaftlicher Legitimation“ genannt, dazu Waas, in: BeckOK ArbR, § 1 TVG, Rn. 10 und Franzen, in: ErfK, § 1 TVG, Rn. 6. 521  BAG, Urt. v. 7. 7. 2010, 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, 1071 f.; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 199, Rn. 3 m.w.N.; vgl. Franzen, in: ErfK, § 1 TVG, Rn. 6. 522 Zu den Schwächen der mandatarischen (mitgliedschaftlichen) Theorie Franzen, in: ErfK, § 1 TVG, Rn. 6. 518 Vgl.

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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e)  Zusammenfassung zur normativen Freiheit Die arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung haftet dem Streik nicht von Natur aus an. Zudem existiert keine einfachrechtliche Norm, die eine generelle Suspendierungswirkung des Streiks anordnet oder im Sinne einer Generalklausel zu einer generellen Suspendierung der Arbeitspflicht im Falle von Streiks führt.523 Sie gilt für den gewerkschaftlichen Streik nur kraft richterrechtlicher Anordnung durch das Urteil des Großen Senats.524 Durch diese Rechtsfortbildung besitzt der gewerkschaftliche Streik neben der Arbeitsniederlegung als natürliche Freiheit mit der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung eine normative Freiheit und damit eine zweite Dimension.525 Die natürliche Arbeitsniederlegung stellt den eigenständigen Ausgangspunkt dar und die Suspendierungsfunktion eine verstärkende „einfachrechtliche Abstützung“.526 Der Streik ist somit eine partiell normative und natürliche Freiheit.527 Beide Ebenen müssen voneinander getrennt betrachtet werden und ihr jeweiliger Schutzumfang separat bestimmt werden. Ein umfassender verfassungsrechtlicher Schutz des Streiks als natürliche Arbeitsniederlegung gilt nicht automatisch im Zivilrecht und damit im Verhältnis 523 Vgl. Konzen, AcP 1977, 473, 493; wohl auch Schansker, Beschränkung des Streikrechts, S. 60: „privatrechtliches Mittel eigener Art“; zum Sympathiestreik Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 199 ff. 524  So auch die Bewertung des ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 d); vgl. allgemein zum Urteil des Großen Senats Ipsen, Richterrrecht, S. 83, der hervorhebt, dass das Urteil statt lückenfüllender Ergänzung eines bestehenden Gesetzes die Entwicklung eines normativen Lebensbereiches ist. Für ihn stellt das Urteil daher gesetzesvertretendes Richterrecht dar. 525 Vgl. Höfling, in: FS Friauf, S. 384 ff., der terminologisch zwischen der natürlichen Freiheit und der kompetentiellen Wirkdimension unterscheidet; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 150, den Streik in eine natürliche und eine rechtsgeprägte Freiheit einordnend; vgl. Ramm, AuR 1964, 353, 358, mit der Unterscheidung in Tatsache und rechtliche Wertung; vgl. Richardi, in: FS Säcker, S. 296; allgemeiner zur Koalitionsfreiheit Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 163 ff.; a.A. Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 412 in Fn. 84: „unmittelbar rechtsgestaltend sind [Arbeitskämpfe] nicht“; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 271, für eine einheitliche Betrachtung der öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Wirkungen des Streiks; ebenfalls ablehnend Greiner, Rechtsfragen, S. 115 f., obwohl er zugibt, dass der Arbeitskampf „rechtsgestaltende Wirkung“ besitzt. Woher diese stammen, wenn nicht aus einer normativen Freiheit, vermag er nicht zu erklären. 526  So die treffende Bezeichnung von Greiner, Rechtsfragen, S. 116, der allerdings die Einordnung des Streiks als normative Freiheit ablehnt (S. 115 f.). 527  Vgl. zum Arbeitskampf Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 292; Lerche, NJW 1987, 2465, 2470; Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 241 f.; allgemein zur Koalitionsfreiheit Epping, Grundrechte, S. 445 f.; diesem Befund steht die Darstellung von Krause gegenüber, der die „grundrechtstheoretischen“ Ansichten zum Arbeitskampf als entweder normgeprägtes oder natürliches Freiheitsmodell einordnet (Krause, in: Giesen/ Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 62 ff.).

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3. Teil: Grundgesetz

der Grundrechtsträger untereinander.528 Auch das BAG scheint diese Differenzierung mittlerweile zu berücksichtigen: „Der Umstand, dass Unterstützungsstreiks dem Schutzbereich des Art. 9 III GG unterfallen, bedeutet nicht, dass sie deshalb zulässig wären. Ihre Zulässigkeit richtet sich vielmehr nach der Ausgestaltung des Grundrechts durch die Rechtsordnung.“529 Auch für den nichtgewerkschaftlichen Streik muss die Unterscheidung in eine natürliche und eine normative Freiheit im weiteren Verlauf der Arbeit berücksichtigt werden. 3.  Auswirkungen Der vorliegende Befund einer natürlichen Freiheit des Streiks steht Ansichten entgegen, die die gesamte Koalitionsfreiheit auf eine normative Freiheit reduzieren wollen.530 Zwar ist diesen insoweit zuzustimmen, dass die Koalitionen durch normative Freiheiten mit wichtigen Beeinflussungsmöglichkeiten versehen werden, doch sind es die natürlichen Handlungen, durch deren Betätigung die Wirkung ausgelöst wird.531 Ihr Schutz gegenüber staatlichen Beschränkungen ist ebenso wichtig, da ansonsten mit Wegfall der Grundlage auch die „zentralen“ zivilrechtlichen Gestaltungswirkungen entfallen würden. Eine Analyse des Streiks, die ausschließlich die zivilrechtlichen Wirkungen in Augenschein nimmt, greift daher zu kurz. Trotzdem ist in Hinblick auf die normative Freiheit Löwisch zuzustimmen, der unterstreicht, dass es bei der rechtlichen Bewertung des Streiks in erster Linie um die privatrechtliche Frage geht, ob der Streik zu einem Bruch des Arbeitsvertrages führt.532 Im Verhältnis zwischen natürlicher und normativer Freiheit gilt allgemein: Ein umfassender verfassungsrechtlicher Schutz des Streiks betrifft jedenfalls die qua natura bestehende Arbeitsniederlegung als natürliche Freiheit. Ihr umfassender 528 Vgl. Bertke, NJW 2014, 1852, 1854; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 279; Maaß, ArbR Aktuell, 151, 152; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 106, der trotz verfassungsrechtlicher Anerkennung betont, dass der Arbeitskampf individualrechtlich grundsätzlich zu einer „Verletzung der arbeitsvertraglichen Leistungspflichten“ führe; vgl. zur Trennung zwischen Koalitionsfreiheit und zivilrechtlichem Haftungssystem Richardi, NZA 2014, 1233, 1236; a.A. Däubler, ZfA 1973, 201, der für den gesamten Arbeitskampf annimmt, dass er zivilrechtlich keinen Arbeitsvertragsbruch auslöse. 529  BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057, (Unterstützungsstreik); dieselbe Formulierung bei Hayen/Ebert, AuR 2008, 19, 20. 530  So beispielsweise Ladeur, AöR 2006, 643, 649 und 656. 531  Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 118: „natürliche Handlungen […] zur Ausübung einer normgeprägten Freiheit erforderlich“. 532  Löwisch, ZfA 1971, 319, 323; vgl. Richardi, NZA 2014, 1233, 1236: „Das Streikrecht ist deshalb zivilrechtsdogmatisch ein Gestaltungsrecht, durch das dem einzelnen Arbeitnehmer die rechtliche Macht verliehen ist, einseitig in die arbeitsvertraglichen Beziehungen ändernd einzugreifen und die Arbeitspflicht zeitweilig zu suspendieren.“

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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Schutz sorgt jedoch nicht dafür, dass der Streik als normative Freiheit im Zivilrecht denselben Umfang besitzt. Ein verfassungsrechtlicher Schutz wirkt sich nicht unmittelbar und automatisch im nachrangigen Zivilrecht aus.533 Die normative Freiheit des Streiks wird erst durch staatliches Handeln geschaffen. Ihr grundrechtlicher und arbeitsvertraglicher Schutz hängen dementsprechend davon ab, ob und inwieweit der Staat die normative Freiheit geschaffen hat. Wie allerdings noch zu zeigen ist, bestimmt die objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit, inwieweit der Staat verpflichtet ist, im Privatrecht aktiv zu werden und dem Arbeitskampf zu Wirkungskraft zu verhelfen.534 Welche Auswirkungen hat die Unterscheidung zwischen natürlicher und staatlich anzuordnender normativer Freiheit für den nichtgewerkschaftlichen Streik? Mangels gesetzlicher Regelungen, nach denen sich die arbeitsvertraglichen Auswirkungen des Streiks bestimmen, musste das BAG bisher die Rolle des Gesetzgebers übernehmen. Das Gericht hat durch richterrechtliche Anordnung einzig dem gewerkschaftsgetragenen und tarifbezogenen Streik eine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung zuerkannt.535 Dadurch hat das Gericht die abwehrrechtliche Streikfreiheit in ein begrenztes Streikrecht fortentwickelt.536 Begrenzt ist es insofern, da dem nichtgewerkschaftlichen und nichttarifbezogenen Streik bisher keine suspendierende Funktion oder andere zivilrechtliche Wirkungen zukommen. Bislang ist der nichtgewerkschaftliche Streik als Arbeitsniederlegung ausschließlich eine natürliche Freiheit, der keine normative Privilegierung zukommt.537

533 Ebenso Bertke, NJW 2014, 1852, 1854; Krause, in: Giesen/Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 53: „Umgekehrt bedeutet die verfassungsrechtliche Billigung der fachgerichtlichen Würdigung einer Kampfmaßnahme keine abschließende Stellungnahme zur einfachrechtlichen Zulässigkeit.“; Maaß, ArbR Aktuell, 151, 152; ebenfalls warnt vor einem Verschwimmen der Grenzen zwischen verfassungsrechtlichen Vorgaben und einfachem Recht Poscher, RdA 2017, 235, 236. 534  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel „Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension“. 535  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884 f.; ebenfalls betont BAG GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, NJW 1971, 1668 in den Leitsätzen die Suspendierungswirkung eines rechtmäßigen Streiks, der jedoch nicht den nichtgewerkschaftlichen Streik beinhaltet (siehe dazu S. 1671, wonach der „wilde Streik“ ein rechtswidriger Streik ist); vgl. BAG, Urt. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237 f. zum „wilden Streik“: „Ein derartiger Arbeitskampf ist nicht privilegiert […].“ 536  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 17; Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 70; vgl. ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 2. 537 Ausführlich Ramm, AuR 1964, 353, 360 ff.; ähnlich bereits Müller, RdA 1951, 247, 249; a.A. Däubler, ZfA 1973, 201, 220, der davon ausgeht, dass der Arbeitskampf insgesamt keinen Arbeitsvertragsbruch erzeugt (S. 201).

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3. Teil: Grundgesetz

4.  Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Streik in umfassender Hinsicht eine natürliche Freiheit ist und zugleich teilweise den Charakter einer normativen Freiheit besitzt. Der nichtgewerkschaftliche Streik existiert bislang nur als natürliche Freiheit, während der gewerkschaftliche Streik zusätzlich durch die Suspendierungswirkung eine normative Freiheit ist. Inwiefern diese Differenzierung in abwehrrechtlicher Hinsicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, wird im folgenden Kapitel dargestellt. II.  Abwehrrechtlicher Schutz Wie bereits festgestellt, ist der Streik ein Bestandteil der abwehrrechtlich geschützten Betätigungsfreiheit und erfährt daher grundsätzlich denselben grundrechtlichen Schutz wie andere Betätigungen. Aufgrund der Unterscheidung zwischen natürlicher und normativer Dimension ist jedoch hinsichtlich des abwehrrechtlichen Schutzes des Streiks eine differenzierte Betrachtung möglich. Daher wird im Folgenden untersucht, inwieweit der jeweiligen Dimension ein abwehrrechtlicher Schutz vor staatlichen Übergriffen zukommt.538 1.  Natürliche Freiheit Natürliche Freiheiten werden von der Rechtsordnung in ihrer Substanz bereits vorgefunden und durch die Grundrechte mit einem verfassungsrechtlichen Schutz versehen.539 Sie sind klassischer Inhalt des sachlichen Schutzbereiches eines Grundrechtes und Inhalt des Abwehrrechtes.540 Als typische Beispiele natürlicher Grundrechtsfreiheiten mit abwehrrechtlichem Schutz gelten das Grundrecht auf Leben und Gesundheit, die allgemeine Handlungsfreiheit oder auch die Glaubensund Versammlungsfreiheit. Davon ausgehend muss dem Streik in seiner natürlichen Form – dem „bloßen Nichtarbeiten“541 – ebenfalls abwehrrechtlicher Schutz zukommen.542 Dies gilt auch für die Arbeitsniederlegung nichtgewerkschaftlicher 538 

Siehe dazu Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 258 ff. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 259; Engels, RdA 2008, 331, 334. 540  Engels, RdA 2008, 331, 334; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 163; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 117 f.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 78; vgl. Krause, in: Giesen/Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 51. 541  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 157. 542  Zustimmend zum Streik: Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 150; Raab, in: FS Otto, S. 409; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 34; Greiner, Rechtsfragen, S. 119 f.; zustimmend allgemein zum Arbeitskampf: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 261 ff.; Greiner, Rechtsfragen, S. 110; Gooren, Tarifbezug, S. 131; vgl. Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 84 und 111; Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 411; zustimmend allgemein zu natürlichen Betätigungen der Koalitionen: Friese, Kollektive Koaliti539 

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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Koalitionen. In diesem Zusammenhang kann auch die Bezeichnung Streikfreiheit verwendet werden, die darauf hinweist, dass der Streik vor staatlichen Eingriffen geschützt ist und abgesehen von arbeitsvertraglichen Bindungen erlaubt ist.543 2.  Normative Freiheit Ob die rechtsgestaltende Wirkung des Streiks als normative Freiheit abwehrrechtlich geschützt ist, ist hingegen komplizierter. Schwierig dabei ist, dass normgeprägte Freiheiten einerseits die staatliche Normsetzung voraussetzen und andererseits des Schutzes vor einer erneuten staatlichen Beeinträchtigung bedürfen.544 Im Grundsatz kommt dem einfachen Recht kein abwehrrechtlicher Schutz zu, da es nur der Unterbau der Grundrechte ist. Das einfache Recht ist vom Verfassungsrecht zu trennen.545 Bestimmte Ausnahmen von diesem Grundsatz sind jedoch notwendig. Zu trennen ist zwischen dem Schutz der abstrakten normativen Regelung und dem Schutz konkreter und auf Grundlage der abstrakten Regelung erworbener Rechtspositionen.546 Hinsichtlich der abstrakten Regelung muss die Differenzierung zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht weitestgehend aufrechterhalten werden.547 Wo genau der abwehrrechtliche Schutz abstrakter Regelungen onsfreiheit, S. 212 f.; Schwarze, JuS 1994, 653, 656; ablehnend: Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 170, der jedoch vor allem den natürlichen Charakter des Arbeitskampfes bezweifelt. Gegen diese Argumentation siehe bereits die Ausführungen im Rahmen der Einordnung als natürliche Freiheit. 543  Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 17; vgl. Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 69 f.; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 2. 544 Dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 169; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 428 f.; Isensee, in: HStR IX, § 190, Rn. 167; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 82; Dieterich, RdA 2002, 1, 11: „Wie bei allen ,normgeprägten‘ Grundrechten hat er [der Staat, Anm. d. Verf.] die Mauer selbst zu errichten, die vor ihm schützen soll.“; anschaulich Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 138 ff.: „Der Staat wird […] zum Beschützer wie zum Feind der grundrechtlichen Gewährleistung“. 545  Isensee, in: HStR IX, § 190, Rn. 168; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 219; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 93; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 71 f.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 176; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 405 f.; vgl. Epping, Grundrechte, S. 217; vgl. BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 706: „Aus der Notwendigkeit einer Ausgestaltung kann nicht folgen, daß eine bestimmte bestehende Ausgestaltung Verfassungsrang erhielte.“ 546  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 219 f.; Engels, RdA 2008, 331, 334 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 66. 547 Dazu ausführlich Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 423 ff.

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3. Teil: Grundgesetz

beginnt, ist eine bisher noch nicht eindeutig geklärte Frage.548 Sie kann an dieser Stelle nicht ausführlich erörtert werden. Bezüglich des nichtgewerkschaftlichen Streiks ist sie zudem aufgrund seiner bisher fehlenden normativen Freiheit nicht relevant. Festzuhalten ist jedoch, dass abstrakten Regelungen zumindest ein abwehrrechtlicher Schutz zukommen sollte, wenn sie zum zwingenden Mindestbestand normativer Freiheit gehören, den die objektiv-rechtliche Dimension eines Grundrechtes einfordert.549 Der Mindestbestand ist den Vorgaben der verschiedenen Kategorien der objektiv-rechtlichen Dimension zu entnehmen. Dazu gehören die grundrechtlichen Einrichtungsgarantien, die grundrechtliche Schutzpflicht oder die Verfahrensfunktion der Grundrechte.550 Von diesem unabdingbaren Kernbereich an normativer Freiheit sind jedoch nichtnotwendige Normen abzugrenzen.551 Ihnen kommt kein abwehrrechtlicher Schutz zu, um die Grenze zwischen Grundrechten und einfachem Recht nicht zu verwischen. Grundsätzliches Einvernehmen herrscht dagegen darüber, dass alle vermögenswerten Rechtspositionen, die der Grundrechtsträger auf Grundlage einer normativen Freiheit erworben hat, abwehrrechtlich geschützt werden.552 Für ihren abwehrrechtlichen 548  Dazu jüngst Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 147 ff., mit einem Überblick zum Meinungsspektrum; ebenfalls Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 406 ff.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 122 ff. 549  Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469, 472 f.; vgl. Engels, RdA 2008, 331, 334 f.; vgl. Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 72; vgl. Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 20, für einen abwehrrechtlichen Eingriff, wenn der institutionelle Grundgehalt eines Grundrechts angetastet wird; ähnlich Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 221; vgl. Isensee, in: HStR IX, § 190, Rn. 85 ff und 168 f. Für einen abwehrrechtlichen Schutz aller einfachrechtliche Normen: Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 75 ff. Einen abwehrrechtlichen Schutz hingegen generell ablehnend: Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 179 ff.; ebenfalls kritisch Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 410 ff., der allerdings für den Auftragsgehalt der Institutsgarantien eine relative Bestandsgarantie annimmt und auch hinsichtlich anderer objektiver Grundrechtskomponenten einen Schutz gegen die gänzliche Abschaffung befürwortet (S. 424 f.); ebenso einen Schutz ablehnend Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 180, der für die „Umgestaltung“ normativer Freiheiten eigene Voraussetzungen aufstellt (S. 201 ff.). 550  Ausführliche Darstellung zum Kernbereich objektiver Grundrechtswirkungen Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 319 ff. Siehe zur Frage, welche Kategorie der objektiv-rechtlichen Dimension Vorgaben für die normative Freiheit des Streiks enthält, den 3. Teil, 4. Kapitel „Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension“. 551  Zu diesem Bereich ebenso ausführlich Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 328 ff., der die normative Ausgestaltung von Grundrechten mit Recht in einen „Ordnungskern“ und eine diesem „vorgelagerte Zone“ unterteilt (S. 318 f.). 552  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 69; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 220; Engels, RdA 2008, 331, 335; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 128 f.: „seit langem anerkannt“; Butzer, RdA 1994, 375, 381; Gellermann,

3. Kap.: Streik als Element der abwehrrechtlichen Dimension

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Schutz lässt sich insbesondere der Vertrauensschutz anführen.553 Keine abwehrrechtliche Funktion nimmt hingegen die Pflicht zur Erzeugung normgeprägter Freiheit ein. Sie entzieht dem Grundrechtsträger nichts, sondern gewährt ihm zusätzliche Mittel. Die Pflicht ist alleine Teil der objektiv-rechtlichen Dimension.554 Wenn der Staat ihr nicht entspricht, verletzt er eine Pflicht gegenüber dem Grundrechtsträger.555 Abwehrrechtliche Auswirkungen hat dies nicht, da der objektiv-rechtliche Gehalt des Grundrechts betroffen ist.556 Welche praktischen Auswirkungen haben diese theoretischen Vorgaben auf die normative Dimension des Streiks? Nur einer bereits bestehenden normativen Freiheit des Streiks kann ein abwehrrechtlicher Schutz zukommen.557 Wie bereits dargestellt wurde, hat nur der gewerkschaftliche Streik eine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung.558 Nur dieser Streikform hat das BAG als „Ersatzgesetzgeber“ eine normative Freiheit zuerkannt. Dem nichtgewerkschaftlichen Streik ist diese staatliche Privilegierung hingegen bisher nicht zugeordnet worden. Diese Streikform existiert daher bislang nur als natürliche Freiheit. Daher ist der nichtgewerkschaftliche Streik auch nur als natürliche Freiheit abwehrrechtlich geschützt und nicht, wie unter Umständen der gewerkschaftliche und tarifbezogene Streik, als normative Freiheit.559 Hinsichtlich des gewerkschaftlichen und tarifbezogenen Streiks muss die Trennung zwischen der abstrakten Regelung und den daraus erworbenen konGrundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 429 ff.; zu Art. 14 Abs. 1 GG Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 171; vgl. Söllner, NZA-Beil. 2000, 33, 36 zu Rechtspositionen der Tarifvertragsparteien. 553  Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 167 ff. 554  Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 218 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 291 ff.; Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 165. 555  Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 124; ähnlich Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 166; Epping, Grundrechte, S. 6 f.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 130. 556  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 170; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 259 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 166 und S. 368; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 130; vgl. Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 124; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 133, am Beispiel der Vertragsfreiheit; a.A.: Bayreuther, Tarifautonomie, S. 36 f., der die unterlassene Ausgestaltung als Eingriff in den Schutzbereich ansieht; ähnlich Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 223; zweideutig Engels, RdA 2008, 331, 333, der einerseits darauf hinweist, dass die Nichterfüllung oder defizitäre Erfüllung der Ausgestaltungspflicht kein Grundrechtseingriff ist. Dem widersprechend ordnet er jedoch die Erzeugung einfachgesetzlicher Normkomplexe teilweise dem Abwehrrecht zu (S. 334). 557 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 117 f. m.w.N. 558  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 3. „Auswirkungen“. 559  So auch die Einschätzung des ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 d).

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3. Teil: Grundgesetz

kreten Rechtspositionen beachtet werden. Der Suspendierungswirkung als abstrakt-normative Regel kommt ein abwehrrechtlicher Schutz zu, wenn ihre Einrichtung in einem Kernbereich durch die objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit zwingend erforderlich ist.560 Wie im nachfolgenden Kapitel noch ausgeführt wird, verpflichtet die grundrechtliche Schutzpflicht den Staat zur Schaffung der Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen und tarifbezogenen Streiks. Somit ist sie abwehrrechtlich vor erneuten Eingriffen durch den Staat geschützt. Bezüglich des Schutzes konkret erworbener Rechtspositionen gilt es, diese zuerst zu ermitteln. Welche konkreten Rechtspositionen werden durch die Suspendierung der arbeitsvertraglichen Pflichten erworben? Ansprüche auf Schadensersatz oder bestimmte aktive Handlungen des Vertragspartners entstehen durch die Suspendierung nicht. Mit der Suspendierung korrespondiert jedoch ein Schutz vor Kündigungen und schadensersatzrechtlichen Ansprüchen des Arbeitgebers. Insofern erwirbt der Arbeitnehmer Unterlassungsansprüche, die auch als konkrete Rechtspositionen anzusehen sind.561 Diesen kommt danach ein abwehrrechtlicher Schutz vor einem Verlust durch eine erneute Ausgestaltung zu.562 Dadurch werden Teilnehmer eines rechtmäßigen gewerkschaftlichen Streiks abwehrrechtlich davor geschützt, dass die einmal suspendierte Pflicht durch eine staatliche Umgestaltung der Suspendierungswirkung in eine nachträgliche Pflichtverletzung umschlägt. 3.  Zusammenfassung Dem Streik kommt in Bezug auf seine natürliche Dimension ein umfassender abwehrrechtlicher Schutz zu. Dies schließt auch den nichtgewerkschaftlichen Streik mit ein. Der Staat sieht sich einer Rechtfertigungslast ausgesetzt, wenn er die Arbeitsniederlegung der Arbeitnehmer als natürliche Handlung einschränken will. Hinsichtlich des Schutzes der Suspendierungswirkung als normative Freiheit, die bislang nur dem gewerkschaftlichen und tarifbezogenen Streik zugeordnet ist, muss differenziert werden. Konkrete Rechtspositionen, die den Arbeitnehmern durch die durch das BAG geschaffene Suspendierungswirkung des Streiks entstanden sind, werden abwehrrechtlich geschützt. Darunter ist insbesondere der Schutz vor rückwirkenden Kündigungen oder Schadensersatzforderungen der Arbeitgeber zu verstehen. In Bezug auf die Suspendierungswirkung als abstrakte Rechtsfolge wird die Abwehrfunktion ausgelöst, da die objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit diese spezielle Wirkung gebietet. Die Herlei-

560 Vgl. Schwarze, JuS 1994, 653, 657 f.; vgl. Konzen, AcP 1977, 473, 503; vgl. zur Vertragsfreiheit Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 219. 561  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 220. 562  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 220.

4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

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tung dieses Gebots durch die objektiv-rechtliche Dimension wird im folgenden Kapitel dargestellt.

C.  Zwischenergebnis Der Streik ist Teil der Betätigungsfreiheit und als natürliche Freiheit umfassend abwehrrechtlich vor Eingriffen durch den Staat geschützt. Der Schutzbereich umfasst auf dieser Ebene neben dem gewerkschaftlichen Streik auch den nichttarifbezogenen und den nichtgewerkschaftlichen Streik. Die Koalitionsfreiheit garantiert damit eine umfassende Streikfreiheit. Die arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung des Streiks, als normative Freiheit, existiert bisher nur für den gewerkschaftlichen und den tarifbezogenen Streik. Ein Streikrecht besteht somit nur in einem begrenzten Umfang. Die Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen und des tarifbezogenen Streiks ist vor Eingriffen durch den Staat abwehrrechtlich geschützt, da sie – wie im folgenden Kapitel dargestellt wird – erforderlich ist und durch die Schutzpflicht vom Staat gefordert wird. 4. Kapitel

Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension 4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte dient nicht wie die abwehrrechtliche Dimension der Abwehr staatlichen Handelns, sondern verpflichtet den Staat zu einem Handeln zugunsten des Grundrechts. Sie aktiviert staatliches Handeln, indem sie dem Staat bestimmte Aufgaben zum Schutz des Grundrechtsträgers auferlegt.563 Dazu gehört unter anderem, dass der Staat die Rechtsordnung so ausgestaltet, dass sich ein Grundrecht im Verhältnis der Bürger untereinander entfalten kann.564 Mangels der unmittelbaren Wirkung der Grundrechte im Verhältnis der Bürger untereinander, bedarf es der normativen Steuerung dieses Verhältnisses durch den Staat.565 Bezogen auf den Streik ist damit dessen normative Freiheit gemeint, die erst Teil des einfachen Rechts wird, wenn

563  Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 49; vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 265. 564  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 154; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 74; vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 277 ff. 565 Vgl. Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 16; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 164 ff.; Gornik, NZA 2012, 1399, 1401; Klein, NJW 1989, 1633, 1639 f.; vgl. Dieterich, RdA 2007, 110, 111; vgl. BAG, Urt. v. 28. 2. 2006, 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798, 801, zum betrieblichen Zugangsrecht der Gewerkschaften: „Ein betriebliches Zutrittsrecht betriebsfremder Gewerkschaftsbeauftragter zu Zwecken der Mitgliederwerbung ergibt sich nicht unmittelbar aus Art. 9 III GG.“

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3. Teil: Grundgesetz

der Staat eine entsprechende Wirkung anordnet.566 In Bezug auf den gewerkschaftlichen und den tarifbezogenen Streik ist dies durch die gerichtliche Anordnung der Suspendierungswirkung teilweise geschehen.567 Durch diesen Vorgang entsteht im Verhältnis zur abwehrrechtlichen Streikfreiheit ein zivilrechtlich wirkendes Streikrecht.568 Zu klären ist im Folgenden, ob und wann den Staat eine Pflicht zur Anordnung zivilrechtlicher Wirkungen des Streiks trifft und welchen Umfang diese Pflicht besitzt. In Bezug auf den Ursprung einer staatlichen Pflicht ist umstritten, welchem Element der objektiv-rechtlichen Dimension die Pflicht zu entnehmen ist. Während manche die Quelle offenlassen und nur die Notwendigkeit einer normativen Ausgestaltung unterstreichen,569 wird vertreten, dass Art. 9 Abs. 3 GG eine Einrichtungsgarantie enthalte (A.), die den Staat zur „Einrichtung“ eines rechtlichen Rahmens für den Streik verpflichte. Zudem wird vereinzelt auf eine grundrechtliche Verfahrensfunktion abgestellt (B.) In jüngster Zeit wird die rechtliche Ausgestaltung des Streiks vermehrt auf die grundrechtliche Schutzpflicht zurückgeführt (C.). Alle Möglichkeiten sollen im Folgenden dargestellt und bewertet werden. Bezüglich des Umfangs der Suspendierungswirkung muss festgehalten werden, dass der in dieser Arbeit bereits herausgearbeitete weite abwehrrechtliche Schutz des Streiks nur für das Verhältnis des Bürgers zum Staat nachgewiesen wurde. Derselbe Umfang kommt nicht automatisch im Verhältnis der Bürger untereinander zum Tragen.570 Dies wurde bereits anhand der Einordnung des Streiks als natürliches und normatives Koalitionsmittel verdeutlicht. Die Vertragsparteien haben sich vielmehr durch das rechtliche Mittel des Arbeitsvertrags freiwillig gebunden, so dass auch im Falle eines Streiks die Bindung des Arbeitnehmers an den Arbeitsvertrag grundsätzlich bestehen bleibt und nicht automatisch durch den abwehrrechtlichen Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG aufgehoben wird. 566 Vgl.

Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 107 f. BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884 f. Siehe dazu eingehender die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2. „Normative Freiheit“. 568 Vgl. Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 17; vgl. Richardi, NZA 2014, 1233, 1236. 569 Vgl. Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 7 und 75 ff.; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 218 ff.: „Die Aufgabe und Befugnis des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des grundrechtlichen Schutzbereiches folgt aus dem objektiven Gehalt des Art. 9 III 1 GG.“; Seiter, RdA 1986, 165, 170. 570  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 200; vgl. BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057: „Der Umstand, dass Unterstützungsstreiks dem Schutzbereich des Art. 9 III GG unterfallen, bedeutet nicht, dass sie deshalb stets zulässig wären. Ihre Zulässigkeit richtet sich vielmehr nach der Ausgestaltung des Grundrechts durch die Rechtsordnung.“ Siehe dazu bereits die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2., (5) „Zusammenfassung zur normativen Freiheit“. 567 

4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

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Die Bindung an den Arbeitsvertrag oder auch deren gerichtliche Bestätigung durch ein Urteil sind kein Eingriff durch den Staat.571

A.  Streik als Einrichtungsgarantie Einrichtungsgarantien gelten als die älteste Form objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte.572 Sie „garantieren“ dem Bürger in einem begrenzten Umfang die Schaffung eines Normkomplexes oder auch rechtlichen Rahmens durch den Staat und sorgen damit für die Entstehung normativer Grundrechtsfreiheit.573 Sobald der Staat die entsprechenden Normen geschaffen hat, beinhaltet die Einrichtungsgarantie einen abwehrrechtlichen Schutz vor einem Abbau des Normenkomplexes.574 Zu unterscheiden ist zwischen Institutsgarantien und institutionellen Garantien.575 Eine Institutsgarantie bezieht sich auf das Zivilrecht und die Bereitstellung normativer Handlungsmöglichkeiten der Bürger untereinander. Aus ihr folgen das rechtliche Können und eine kompetenzielle Freiheit des Bürgers.576 Ausfluss von Institutsgarantien sind anerkanntermaßen die zivilrechtlichen Normen des BGB zum Eigentum (Art. 14 GG) und zur Familie und Ehe (Art. 6 GG).577 Demgegenüber spricht man von institutionellen Garantien, wenn der Staat verpflichtet ist, bestimmte öffentlich-rechtliche Einrichtungen zu schaffen.578 In der Literatur und der Rechtsprechung werden zum Streik verschiedene Auffassungen vertreten. Teilweise wird pauschal von einer Einrichtungsgarantie der gesamten Koalitionsfreiheit ausgegangen und eine Differenzierung nach Institutsgarantien, institutionellen Garantien und den einzelnen Betätigungsformen unterlassen.579 Andere nehmen an, dass der Streik eine Institutsgarantie 571  Bertke, NJW 2014, 1852, 1854; Pietzcker, in: FS Dürig, S. 163 f.; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 161; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 303 f.; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 101; vgl. Klein, NJW 1989, 1633, 1639, der darstellt, warum menschliches Verhalten keine dem Staat zuzurechnende Eingriffsqualität besitzt; ähnlich Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 240 f. 572 Vgl. Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 72. 573  Von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 75; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 266; Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 78. 574 Vgl. Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 78; Isensee, in: HStR IX, § 190, Rn. 168 f. 575  Von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 75; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 267; Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 73. 576  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 266; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 75. 577  Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 73; Epping, Grundrechte, S. 212. 578  Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 73; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 266. 579 Siehe Lenz, Freiheitsrechte, S. 262; Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, S. 44; ähnlich Rüthers, DB 1970, 2120, 2127, der für den Arbeitskampf von einer Einrichtungsgarantie ausgeht, ohne weiter zu differenzieren; ähnlich Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 943: „Arbeitskampf als Institution geschützt“.

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3. Teil: Grundgesetz

sei.580 Auch die Einordnung als institutionelle Garantie wird befürwortet.581 Das BAG betrachtet den Arbeitskampf allgemein als Institution und geht damit wohl von einer Einrichtungsgarantie aus: „Der Arbeitskampf wird aber als Institution für die Tarifautonomie vorausgesetzt, weil sonst weder das Zustandekommen noch die inhaltliche Sachgerechtigkeit tariflicher Regelungen gewährleistet wären.“582 Das BVerfG hat sich nur in Bezug auf das Tarifvertragssystem für eine Einrichtungsgarantie ausgesprochen.583 Für arbeitskampfrechtliche Auswirkungen auf das Verhältnis der Bürger untereinander befürwortet es ein gerichtliches Tätigwerden infolge der „verfassungsrechtlichen Schutzpflicht“584. Dies deutet darauf hin, dass das BVerfG die Pflicht zur staatlichen Regulierung der normativen Wirkungen des Streiks eher der Schutzpflicht als einer Einrichtungsgarantie entnimmt.585 Eine institutionelle Garantie des Streiks kann jedenfalls nicht angenommen werden. Die normativen Wirkungen des Streiks betreffen ausschließlich das arbeitsvertragliche Verhältnis der Bürger untereinander, so dass es sich nicht um eine öffentlich-rechtliche Einrichtung handeln kann.586 Für den Streik kommt daher nur eine Institutsgarantie in Betracht. Das BVerfG nimmt für das Tarifvertragssystem und seine normativen Auswirkungen eine Institutsgarantie an und knüpft zur Begründung unter anderem an die historische Entwicklung des Tarifwesens an.587 Für den Streik ist eine normative Wirkung jedoch erst seit der Anordnung der Suspendierungswirkung durch das BAG anerkannt.588 Sie stellt eine richterrechtliche Schöpfung dar, die historisch nicht im deutschen Recht verankert war. Vor dem Urteil galt der Streik generell als Vertragsbruch, so dass ihm kein normativer Freiheitsbereich zugeordnet wurde.589 Einrichtungsgarantien setzen jedoch eine historisch gewachsene Normativität voraus, an die der 580 

Weitnauer, DB 1970, 1639, 1640. So zum Arbeitskampf: Wank, RdA 2009, 1, 3; Seiter, RdA 1986, 165, 184; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 43; Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, S. 71, § 4, Rn. 34; Bulla, in: FS Nipperdey 1955, S. 164. 582  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643. 583  Vgl. die Analyse durch von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 78. 584  BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779 – 85, NZA 1991, 809, 810. 585 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 201. 586 Ebenso zum Arbeitskampf: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 271; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 65; allgemein zu Art. 9 Abs. 3 GG Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 73. 587 BVerfG, Urt. v. 18 11.1954, 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881, 1882: „[…] mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit [ist] zugleich die Institution eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarifvertragssystems verfassungsrechtlich gewährleistet […].“ 588  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884 f. 589  Siehe dazu die Ausführungen im 1. Teil, 2. Kapitel, A. „Historische Entwicklung des Streiks“. 581 

4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

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Verfassungsgeber anknüpfen wollte.590 Ein solcher Anknüpfungspunkt existiert nur im Tarifrecht, welches schon in der Weimarer Republik anerkannt war, und nicht zum Streik.591 Gegen eine Institutsgarantie spricht im Übrigen, dass die anerkannten Institutsgarantien teilweise einen wörtlichen Hinweis auf die Notwendigkeit einer rechtlichen Gestaltung des Grundrechts beinhalten.592 So verpflichtet Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG den Staat wörtlich zur Schaffung eines rechtlichen Rahmens: „Inhalt und Schranken des Eigentums werden durch die Gesetze bestimmt.“ In Art. 9 Abs. 3 GG fehlt ein derartiger Hinweis. Darüber hinaus wird angenommen, dass Einrichtungsgarantien voraussetzen, dass der Grundrechtsgebrauch die normative Ausgestaltung durch den Staat zwingend erforderlich macht.593 Der Streik existiert jedoch als natürliche Freiheit auch ohne staatlich geschaffene Normen. Zwar verhilft ihm die Suspendierungswirkung zu größerer Durchschlagskraft, doch ist er nicht wie das Eigentum von seiner Natur aus von normativen Regelungen abhängig.594 Insgesamt ist daher anzunehmen, dass die Koalitionsfreiheit keine Einrichtungsgarantie für den Streik beinhaltet.595

590 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 26, am Beispiel des Art. 9 Abs. 1 GG: Von einer „Institutsgarantie könnte nur dann die Rede sein, wenn Art. 9 Abs. 1 den einfachen Gesetzgeber an einen überkommenen Kernbestand von Normen des (einfach-gesetzlichen) Vereins- und Gesellschaftsrechts hätte binden wollen.“; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 272 f.; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 79. 591  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 153: „Die zivilrechtliche Suspendierung der arbeitsvertraglichen Pflichten als staatlich gewährter Freiheitsbestandteil wiederum stellt keinen hergekommenden Bestandteil der Rechtsordnung dar, auf den die Verfassungsgarantie Bezug nehmen könnte.“; vgl. zum Arbeitskampf: von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 79. 592 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 272; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 79. 593  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 269 f.; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 64; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 73. 594  Vgl. zum Arbeitskampf: Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 64; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 84; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 276 f.; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 73; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 153. 595 So auch Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 153; allgemein zum Arbeitskampf: Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 173; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 63 ff.; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 84; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 274 ff.; Löwer, in: von Münch/ Kunig, Art. 9, Rn. 73; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 79; allgemein zur Koalitionsfreiheit: Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 102.

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3. Teil: Grundgesetz

B.  Streik als Bezugspunkt von Verfahrensund Organisationsgarantien Die Literatur greift zur Begründung einer staatlichen Pflicht, normative Regelungen für den Arbeitskampf zu schaffen, teilweise auf die grundrechtliche Verfahrens und Organisationsgarantie zurück.596 Sie verpflichtet den Staat zur Bereitstellung eines geeigneten normativen Verfahrens, falls Grundrechte ohne Verfahrensregeln nicht funktionieren.597 Ein Anwendungsbereich wird darüber hinaus teilweise angenommen, wenn kollidierende Verfassungsrechtspositionen zu einem Ausgleich gebracht werden müssen.598 Stern sieht insbesondere für die Koalitionsfreiheit das Bedürfnis, durch Organisations- und Verfahrensregelungen kollidierende Verfassungsrechtspositionen zum Ausgleich zu bringen.599 Für die normativen Wirkungen des Streiks lässt sich die Verfahrens- und Organisationsgarantie jedoch nicht zur Grundlage machen.600 Die Suspendierungswirkung stellt kein besonderes normatives Verfahren dar und wird für den Streik nicht zwingend benötigt. Der Streik kann – wie die Rechtslage in der Weimarer Republik beweist – auch ohne die normative Wirkung ein Mittel der Arbeitnehmer sein, Druck auf den Arbeitgeber auszuüben.601 Die normative Suspendierungswirkung stärkt die natürliche Freiheit der Arbeitsniederlegung und räumt den Arbeitgebern zusätzliches Druckpotenzial ein. Die Suspendierung ist zwar an bestimmte Kriterien geknüpft, doch stellen diese keine Verfahrensvoraussetzungen für den Streik dar, sondern vielmehr die Voraussetzungen für das besondere Privileg des suspendierenden Streiks. Eine Verfahrensregel ist demgegenüber die Friedenspflicht, die während der Laufzeit eines Tarifvertrages Arbeitskämpfe

596  Schwarze, JuS 1994, 653, 657, der insbesondere die normativen Wirkungen des Arbeitskampfes auf diese Funktion zurückführt; ebenso Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 37 f.; Konzen, in: 50 Jahre BAG, S. 529 f.; Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, S. 67, § 4, Rn. 23; für die Aufstellung „allgemein verbindlicher Verfahrensregeln“ für den Arbeitskampf auf Grundlage der Verfahrensgarantie von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 85. 597  von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 81; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 280. 598  von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 82; Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 97 f. 599  Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 98. 600 So auch zum Arbeitskampf Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 280, der insbesondere darauf hinweist, dass Verfahrensgarantien „staatsorientierten Charakter“ besitzen und für das Verhältnis zwischen Privaten nicht herangezogen werden sollten. Die Annahme von Verfahrensgarantien für den Privatrechtsbereich wird allerdings auch vertreten: von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 84 f., m.w.N. 601  Vgl. zum Arbeitskampf: Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 64; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 276 f.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 153.

4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

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verbietet.602 Als weitere Verfahrensregeln könnte der Staat eine Ankündigungspflicht für Streiks oder eine zwingende Schlichtung vor Streiks anordnen.

C.  Streik als Bezugspunkt der Schutzpflicht Die normativen Wirkungen des Streiks könnten auch auf Grundlage der grundrechtlichen Schutzpflicht anzuordnen sein. Die Literatur und die Rechtsprechung führen sie vermehrt als eine Grundlage der normativen Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit an.603 So verweist das BVerfG in seinem Aussperrungsbeschluss vom 26. 06. 1991 auf die grundrechtliche Schutzpflicht als Grundlage für gesetzliche Regelungen im Verhältnis der Arbeitskampfparteien.604 Darüber hinaus verpflichtet das BVerfG den Gesetzgeber, Maßnahmen zum Schutz der Koalitionsfreiheit zu treffen, wenn ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen nicht mehr möglich ist.605 I.  Grundrechtliche Schutzpflicht im Allgemeinen Die grundrechtliche Schutzpflicht gilt als Verkörperung der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte.606 Sie verpflichtet den Staat, mögliche Grundrechtsverletzungen durch andere Grundrechtsträger abzuwehren.607 Sie richtet 602 

Willemsen/Mehrens, NZA 2013, 1400, 1402. Streik: Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 201 f.; zum Arbeitskampf: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 277 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 216 f., der jedoch gleichzeitig vom „Arbeitskampf als Institution“ spricht (S. 943); Dieterich, RdA 2007, 110, 112; zur Tarifautonomie: Otto, RdA 2010, 135, 137: „Es entspricht der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht ein Tarifvertragsgesetz bereitzustellen.“; zum betrieblichen Zutrittsrecht der Koalitionen: BAG, Urt. v. 28. 2. 2006, 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798, 800: „Da eine gesetzliche Regelung fehlt, müssen die Gerichte auf Grund ihrer grundrechtlichen Schutzpflicht im Wege der Rechtsfortbildung eine entsprechende Ausgestaltung vornehmen.“; Richardi, AP GG Art. 9 Nr. 127, Anmerkung I. 2.; zur Koalitionsfreiheit: Dieterich, in: FS Jaeger, S. 104; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 58; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 102; Kempen, in: FS Gitter, S. 442 ff., der diese auf Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG zurückführt. 604  BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810. 605  BVerfG, Urt. v. 4. 7. 1995, 1BvF 2/86 u.a., NZA 1995, 754, 756. 606  Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 37: „der Gedanke der Schutzfunktion (erweist sich) als der zentrale Ansatz aller obj.-rechtl. Elemente der Grundrechte“; so auch BVerfG, Urt. v. 10. 1. 1995, 1 BvF 1/90, NZA 1995, 272, 275: „Die Freiheitsgrundrechte (…) schützen nicht nur vor Eingriffen der Staatsgewalt in eine dem Individuum verbürgte Freiheitssphäre. Vielmehr verpflichten sie den Staat auch, diese Freiheitssphäre zu schützen und zu sichern. In dieser Schutzpflicht entfaltet sich der objektive Gehalt des Grundrechts.“ 607 Dazu Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 37 ff.; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 85; Burkiczak, RdA 2007, 17, 18 f.; Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 86; Gornik, NZA 2012, 1399, 1400; ausführliche Darstellung durch Klein, NJW 1989, 1633, 1637. 603 Zum

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3. Teil: Grundgesetz

sich nicht nur an den Gesetzgeber, sondern auch an die Rechtsprechung und an die Exekutive.608 Im Gegensatz zum Abwehrrecht betrifft die Schutzpflicht grundsätzlich eine dreiseitige Konstellation. Der Staat greift in das Verhältnis zweier Grundrechtsträger ein.609 Während der Staat den einen der beiden schützen will, begrenzt er dadurch gleichzeitig die Freiheiten des anderen.610 Die grundrechtliche Schutzpflicht räumt dem Grundrechtsträger keinen unbegrenzten Anspruch auf staatliche Schutzgewährung gegenüber Dritten ein. Nur dort, wo eine Gefährdung vorliegt und Schutz unabdingbar ist, muss der Staat einschreiten. Als Maßstab für diese Gefahrenschwelle wird überwiegend auf das Untermaßverbot zurückgegriffen.611 Die Schutzpflicht entsteht danach erst dann, wenn das grundrechtlich gebotene Schutzminimum unterschritten wird.612 Dieses Minimum wird in Bezug auf die Koalitionsfreiheit mitunter auch noch als Kernbereich bezeichnet.613 Während dieser Begriff im abwehrrechtlichen Bereich 608 

Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 348; Hermes, NJW 1990, 1764, 1768, der jedoch zu Recht darauf hinweist, dass die Schutzpflicht „erst in zweiter Linie“ an die Rechtsprechung gerichtet ist und primär an den Gesetzgeber adressiert ist; Wahl/ Masing, JZ 1990, 553, 559: „Die Schutzpflicht trifft gemäß Art. 1 III GG alle Gewalten als unmittelbar geltende Verpflichtung […].“; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 95; vgl. BVerfG, Beschl. v. 6. 5. 1997, 1 BvR 409/90, NJW 1997, 1769, 1770. 609 Ausführlich zum „Dreiecksverhältnis“ in Schutzpflichtfällen Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 556 f.; Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 38; Burkiczak, RdA 2007, 17, 19; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 88; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 GG, Rn. 61: „Rechtsgebot zum Eingriff in Rechte Dritter zu Gunsten eines anderen Grundrechtsträgers“. 610  Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 556; Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 38; Burkiczak, RdA 2007, 17, 19 f.; Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 91. 611  Grundlegend BVerfG, Urt. v. 28. 5. 1993, 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92, NJW 1993, 1751, 1754: „Allerdings hat der Gesetzgeber das Untermaßverbot zu beachten; insofern unterliegt er der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Notwendig ist ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener Schutz; entscheidend ist, daß er als solcher wirksam ist.“; Gornik, NZA 2012, 1399, 1400; Dieterich, RdA 2002, 1, 11; Dieterich, RdA 2007, 110, 111; Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 245; Arnold/Wiese, NZA 2009, 716 718: „Für das Eingreifen einer grundrechtlichen Schutzpflicht ist jedoch notwendig, dass das Fehlen einer einfach-gesetzlichen Regelung das ,Untermaßverbot‘ verletzt und damit den rechtlich notwendigen Mindestschutz der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit nicht gewährleistet.“ 612  Gornik, NZA 2012, 1399, 1400; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 38. 613  Höfling, in: FS Friauf, S. 385, speziell zu den zivilrechtlichen Wirkungen des Arbeitskampfes; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 83 ff.; allgemein zur Koalitionsfreiheit: Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 157 ff.; Jacobs, Tarifeinheit, S. 427 f.; Dieterich, in: FS Jaeger, S. 103, in Fn. 18, allerdings gegen einen Einfluss auf das Arbeitskampfrecht; Boemke, AR Blattei ES 1650, Nr. 23, 1, 21 f.; vgl. Richardi, AP GG Art. 9 Nr. 127, Anmerkung I. 2.; a.A.: Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 226 f.; vgl. Dieterich, RdA 2007, 110, 112 f.; der Ausgestaltungs- und Schutzpflicht des Staates trennt

4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

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der Betätigungsfreiheit wie dargestellt keine Anwendung mehr finden sollte, besitzt er seine Berechtigung dagegen im Rahmen der notwendigen zivilrechtlichen Ausgestaltung der Koalitionsbetätigungen auf Grundlage der Schutzpflicht.614 Die Maßnahmen, deren sich der Staat in Ausübung der Schutzpflicht bedienen kann, sind unterschiedlich und variieren situationsbedingt.615 So kann er zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit zu strafrechtlichen Mitteln greifen.616 In Fällen vertraglicher Beziehungen kann er die rechtlichen Rahmenbedingungen zugunsten des Schutzbedürftigen verändern und damit das Zivilrecht beeinflussen.617 Normalerweise existieren verschiedene Handlungsmöglichkeiten, mit denen die Schutzpflicht erfüllt werden kann.618 Hinsichtlich der Auswahl der Maßnahmen wird grundsätzlich angenommen, dass der Staat einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum hat.619 Daher ist grundsätzlich ein Anspruch des Bürgers auf eine bestimmte Schutzform abzulehnen. Nur in Ausnahmefällen kommt es in Betracht, dass nur eine Form der Schutzgewährung existiert.

und für die Ausgestaltungspflicht zum Arbeitskampfrecht ein Schutzminimum ablehnt. Für die Anwendung des „Kernbereiches“ im Rahmen der Schutzpflicht spricht vor allem, dass das BVerfG die Kernbereichsformel in einem Urteil zur staatlichen Bereitstellung des Tarifvertragssystems entwickelt hat, BVerfG, Urt. v. 18. 11. 1954, 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881, 1882. Mit dem Kernbereich bezog es sich daher nicht auf das Abwehrrecht, sondern auf die objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit (vgl. dazu den 3. Teil, 3. Kapitel, A., I., 1. „Vom Kernbereich zu einem weiten Grundrechtsverständnis“). 614  So auch Höfling/Burkiczak, AP GG Art. 9 Nr. 142, Anmerkung I.; ähnlich Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 109. Dies kann auch den Ausführungen des BVerfG in seinem „Klarstellungsurteil“ von 1995 entnommen werden, wonach das Gericht mit der Kernbereichsformel die Grenze umschreibt, die bei der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit zu beachten ist, BVerfG, Beschl. v. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 382. 615  Burkiczak, RdA 2007, 17, 19: Der Gesetzgeber hat „hinsichtlich der Wahl der Mittel einen weiten Ermessensspielraum“; vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 277. 616  Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 89; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Rn. 86. 617  Schmidt, in: ErfK, Art. 2 GG, Rn. 63; Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 93; Klein, NJW 1989, 1633, 1640; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 GG, Rn. 61; vgl. BVerfG, 7. 2. 1990, 1 BvR 26/84, NZA 1990, 389; kritisch zum Einfluss der Schutzpflicht auf vertragliche Rechtsbeziehungen Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 245 ff., der jedoch nicht berücksichtigt, dass vertragliche Beziehungen bei Ungleichgewichten auch nicht selbstbestimmt sein können. 618  BVerfG, Beschl. v. 6. 5. 1997, 1 BvR 409/90, NJW 1997, 1769, 1770. 619  BVerfG, Beschl. v. 6. 5. 1997, 1 BvR 409/90, NJW 1997, 1769, 1770; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 221 f.; Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 558; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 87; Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 99; vgl. Klein, NJW 1989, 1633, 1638: „[…] der Schutzanspruch determiniert das Ziel, aber nicht den Weg, es sei denn, es gäbe nur einen.“; vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 GG, Rn. 61.

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3. Teil: Grundgesetz

II.  Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik Was bedeuten diese allgemeinen Ausführungen zur Schutzpflicht für den grundrechtlich geschützten Streik? In welchem Maße bedarf er eines staatlichen Schutzes und wie kann der Staat ihn schützen? Verpflichtet die Schutzpflicht den Staat zu einer bestimmten Handlung zugunsten des Streiks? Wie bereits dargestellt, führt der Streik als rein natürliche Freiheit (Arbeitsniederlegung) zum Verstoß des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitsvertrag, so dass er sich schadensersatzpflichtig macht und die Kündigung droht.620 Um diese negativen Folgen zu umgehen, müsste der Arbeitnehmer seinen Arbeitsvertrag unter Beachtung der Kündigungsfristen kündigen, bevor er die Arbeit niederlegt. In diesem Fall trägt er jedoch das Risiko, dass der Arbeitgeber ihn nicht wiedereinstellt und er seinen Arbeitsplatz endgültig verliert.621 Zudem verliert der Streik durch die Einhaltung der Kündigungsfristen seinen Überraschungseffekt.622 Der Arbeitnehmer muss sich daher durch einen Streik entweder selbst schädigen oder sich mit dem möglichen Arbeitsplatzverlust einem erheblichen Risiko aussetzen. Die grundrechtlich geschützte Betätigung des Streiks verliert durch die vertragliche Bindung nicht nur an Attraktivität, sondern setzt den Arbeitnehmer einer erheblichen Gefahr aus.623 Die Verfolgung des Koalitionszwecks durch den Streik ist erheblich erschwert. Diese vertragliche Beeinträchtigung und der Verlust jeglicher Druckfunktion des Streiks verletzen das Untermaßverbot, so dass der Staat aufgrund der aktivierten Schutzpflicht zugunsten der Streikenden eingreifen muss.624 Die für die Schutzpflicht erforderliche dreiseitige Konstellation aus dem Staat und zwei Grundrechtsträgern und die Beeinträchtigung einer grundrechtlich geschützten Betätigung liegen vor.

620  Siehe dazu bereits die Ausführungen zur Bedeutung der normativen Freiheit des Streiks als Ergänzung der natürlichen Freiheit im 3. Teil, 3. Kapitel, B, I., 2. „Normative Freiheit“. 621 Vgl. Gumnior, Sympathiestreik, S. 43 f.; Zachert, NZA-Beil. 2006, 61, 66. 622  Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 188; zur Änderungskündigung Rieble, RdA 2005, 200, 210. 623  Grundlegend zu den Nachteilen einer fehlenden arbeitsvertraglichen Suspendierung: BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 188 f.; Schansker, Beschränkung des Streikrechts, S. 61 f.; Gumnior, Sympathiestreik, S. 43. 624  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 278; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 264 f., speziell zur Anwendung der Schutzpflicht auf Sympathiestreiks; ähnlich Patett, Arbeitskampfrecht und Art. 12 GG, S. 203 im Rahmen des Art. 28 GrCh; ebenso Rebhahn, in: GS Heinze, S. 651; vgl. allgemeiner Konzen, ZfA 1970, 159, 179.

4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

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Das Mittel, das der Staat zum Schutz der Arbeitnehmer und des Streiks ergriffen hat, ist die durch „Richterrecht“625 entwickelte Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks im Vertragsrecht.626 Wie dargestellt wurde, ist die Suspendierungswirkung nicht auf alle durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Formen des Streiks anzuwenden.627 Der nichtgewerkschaftliche Streik besitzt trotz seines abwehrrechtlichen Schutzes keine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung, da sie ihm bisher weder durch den Gesetzgeber noch durch „Richterrecht“ verliehen wurde. Bisher hat die grundrechtliche Schutzpflicht den Staat nicht zu einer Ausweitung der Suspendierungswirkung auf den nichtgewerkschaftlichen Streik gezwungen.628 Die Schutzpflicht fordert nur, dass das notwendige Minimum an Schutz gewährleistet ist.629 Den Bezugspunkt für dieses dem Untermaßverbot entsprechende Minimum stellt der Normzweck des Art. 9 Abs. 3 GG dar.630 Dieser besteht darin, den Arbeitnehmern und Arbeitgebern einen wirkungsvollen Freiraum zu schaffen, um dort ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen zu können.631 Dazu bedarf es in Übereinstimmung mit dem BVerfG der Verhandlungsfähigkeit beider sozialer Gegenspieler, die nur durch ein ungefäh-

625  Siehe zur Einordnung des Beschlusses des Großen Senats (BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882) als staatliche Anordnung der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung den 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2., „Normative Freiheit“. 626 Vgl. Ramm, AuR 1964, 353, 358, in Fn. 50: „Diese Privilegierung ist die Suspensivwirkung.“; vgl. Seiter, RdA 1986, 165, 185: „Suspendierende Kampfrechte sind daher ein zentraler Bestandteil eines modernen Arbeitskampfrechts.“; vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 278; vgl. Rieble, RdA 2005, 200, 208. 627  Siehe dazu den 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 3. „Auswirkungen“. 628  So auch ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 e): „Angesichts der grundsätzl. vorhandenen Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erscheint eine generelle Gleichstellung des nichtgewerkschaftl. Streiks mit dem gewerkschaftl. Streik nicht notwendig.“ 629  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 303 f.; vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 348; vgl. Seiter, RdA 1986, 165, 184 f. Von der auf das Minimum begrenzten Schutzpflicht ist für normative Grundrechte die staatliche Ausgestaltungspflicht zu unterscheiden. Siehe zu dieser Differenzierung: Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 223; Dieterich, RdA 2007, 110, 112 f., der allerdings zu Unrecht dem BAG eine allgemeine Kompetenz zur Ausgestaltung zuweist (S. 113). 630  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 226 ff.; vgl. Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 225: „[…] das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber vielmehr, [den Koalitionen] solche Betätigungsmittel zur Verfügung zu stellen, die ihnen die Zweckverfolgung ohne besondere Belastungen und Hindernisse ermöglichen.“; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 186 und 189. 631  So in Bezug auf die Tarifautonomie BVerfG, Beschl. v. 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; dazu Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 146. Siehe im Übrigen zum Koalitionszweck die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III., 2. „Bedeutung des Koalitionszwecks“.

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3. Teil: Grundgesetz

res Kräftegleichgewicht gewährleistet werden kann.632 Der Streik muss daher so wirkungsvoll sein, dass sich die Verhandlungspartner überhaupt auf Augenhöhe begegnen können.633 Aus aktueller Sicht wahrt die Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks zumindest die Verhandlungsparität bei Tarifverhandlungen und die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.634 Sie hat den gewerkschaftlichen Streik zu einem effektiven Druckmittel gemacht. Dadurch besitzen Arbeitnehmer in Tarifverhandlungen grundsätzlich eine gleichwertige Verhandlungsposition. Jedenfalls Tarifverhandlungen kommen so nicht mehr einem „kollektiven Betteln“635 gleich. Im Vergleich zur Weimarer Republik hat der Streik an Durchschlagskraft gewonnen und stellt ein wirksames Mittel dar, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu verbessern.636 Eine Verletzung des Untermaßverbots ist daher aus aktueller Sicht grundsätzlich nicht anzunehmen.637 Eine andere Bewertung wäre hingegen angebracht, wenn der gewerkschaftliche Streik als Druckmittel oder die Tarifautonomie generell oder im Einzelfall versagen, so dass Arbeitnehmer auf alternative Koalitionen und Einigungsmittel angewiesen wären.638 Auf derartige Situationen nimmt insbesondere der sogenannte Professorenentwurf eines Arbeitskampfgesetzes Bezug. In § 34 haben die 632 Zur Verhandlungsfähigkeit als Teil des „unantastbaren Kernbereichs“ ­ BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 811; zum Kräftegleichgewicht als Element des „objektiven Gehalts“ der Koalitionsfreiheit BVerfG, Urteil vom 04. 07. 1995, 1 BvF 2/86 u.a., NZA 1995, 754, 756; vgl. Zwanziger, RdA-Beil. 2009, 10, 11, in Fn. 10; Krause, in: Giesen/Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 78 f.; Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 357. 633  Ähnlich die Bewertung des zivilrechtlichen Arbeitskampfrechts durch Picker, der sich zwar nicht am notwendigen Minimum der Schutzpflicht orientiert, aber den Arbeitskampf als zivilrechtliches Gestaltungsrecht zu Recht als „Hilfs- oder Notmaßnahme“ versteht, das zuzulassen ist, wenn „die konsensualen Regelungsmittel versagen“: Picker, ZfA 2011, 443, 457 ff. 634 Ähnlich Bepler, in: FS Wißmann, S. 111; vgl. Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 325; in Bezug auf den Sympathiestreik Hohenstatt/Schramm, NZA 2007, 1034, 1035. 635 So die plastische Bezeichnung von Tarifverhandlungen ohne suspendierendes Streikrecht durch das BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643, in Anlehnung an Professor Blanpain. 636 Vgl. Rieble, RdA 2005, 200, 209: „[Hinter gewerkschaftlichen Streiks] steckt enormes Druckpotential, mit dem verantwortungsbewusst umgegangen werden muss.“ 637  So auch Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, S. 122, § 6, Rn. 26. 638 Ähnlich Däubler, ZfA 1973, 201, 219; Reuss, Juristen-Jahrbuch 1963/64, 163, 173; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 366 f.; ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 e; zu Fällen fehlender gewerkschaftlicher Organisation: Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458 f.; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 151; Bepler, in: FS Wißmann, S. 110 f. zum Mitgliederverlust und zum Verlust der gewerkschaftlichen Regelungsmacht als Rechtfertigung für nichtgewerkschaftliche Streiks; Waltermann, EuZA 2015, 15, 27 zum Niedrig-

4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

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Verfasser ein „verbandsfreies Streikrecht“ aufgenommen, das in speziellen Ausnahmesituation die gewerkschaftliche Zustimmung zu einem Streik entbehrlich macht.639 Unter verbandsfrei scheinen die Verfasser das Fehlen einer Gewerkschaft zu verstehen. Dabei werden jedoch wie in dieser Arbeit gewisse rechtliche Mindestanforderungen an die Koalition gestellt, die den Streik als Kollektivrecht in diesen Situationen wahrnimmt.640 Die Autoren nehmen ein Versagen der Tarif­ autonomie in Fällen an, in denen eine zuständige Gewerkschaft nicht existiert, wenn die zuständige Gewerkschaft die Verhandlungen um einen Firmentarifvertrag ablehnt oder sich die Gewerkschaft in einem Interessenkonflikt befindet.641 Diese Fälle betreffen spezielle Ausnahmesituationen und besagen nicht, dass ein generelles Bedürfnis für eine Erweiterung der Suspendierungswirkung auf den nichtgewerkschaftlichen Streik besteht. Kommt es jedoch zu diesen oder vergleichbaren Situationen im konkreten Einzelfall, würden die Forderungen der Arbeitnehmer ein „kollektives Betteln“ sein. In diesem Moment wäre das Untermaßverbots verletzt und der Staat müsste seiner Schutzpflicht durch Schaffung der Suspendierungswirkung für den konkreten nichtgewerkschaftlichen Streik nachkommen. Ein Versagen der Tarifautonomie sollte allerdings nicht für Fälle angenommen werden, in denen eine Gewerkschaft aus legitimen Gründen den Streik nicht organisieren kann. Ist eine Gewerkschaft beispielsweise noch an die Friedenspflicht eines laufenden Tarifvertrags gebunden und kann den Streik deshalb nicht organisieren, liegt keine Verletzung des Untermaßverbots vor. Den Arbeitnehmern ist zuzumuten, bis zum Ablauf der Friedenspflicht mit der Durchsetzung ihrer neuen Forderungen zu warten. Dies ist gerade der Sinn der Friedenspflicht und würde ansonsten die Befriedungsfunktion der Tarifautonomie gefährden. Joost äußert sich darüber hinaus kritisch zu den Fällen, in denen eine tariffähige Gewerkschaft im Betrieb fehlt.642 Er ist der Ansicht, die Arbeitnehmer bedürften keines Schutzes durch ein verbandsfreies Streikrecht, da sie bewusst auf das Recht zur Koalitionsbildung verzichtet hätten. Er berücksichtigt jedoch nicht, dass es den Arbeitnehmern gerade nicht möglich ist, ohne große Schwierigkeiten eine tariffähige Arbeitnehmerkoalition (Gewerkschaft) zu gründen, die lohnsektor, in dem es keine Gewerkschaft geben könnte, die den Streik organisiert; zum Sympathiestreik Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 250. 639  Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 96 ff.; kritische Analyse durch Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 249 ff. 640  Parteien des verbandsfreien Streikrechts sind nach der Erläuterung „die Arbeitnehmer“, deren „kollektive Maßnahme“ durch die „kollektive Führung in Form einer Streikleitung“ organisiert wird: Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 97 f. Siehe zu den geringeren Voraussetzungen des Koalitionsbegriffs im Gegensatz zum Gewerkschaftsbegriff die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 641  Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 96. 642  Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 259 und im Fazit auf S. 262.

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3. Teil: Grundgesetz

den Streik nach bisheriger Rechtslage organisieren dürfte.643 Vielmehr könnten die Arbeitnehmer auf die fehlende Gewerkschaft mit der Gründung einer nichttariffähigen Koalition reagieren und würden dadurch gerade nicht „koalitionsenthaltsam“644 handeln. In diesem Fall handelt es sich bei einem nichtgewerkschaftlichen Streik ebenso um die Ausübung der Koalitionsfreiheit. In Fällen, in denen das gewerkschaftliche Streikrecht funktioniert und kein Versagen der Tarifautonomie anzunehmen ist, könnte der Staat im Rahmen seiner über die Schutzpflicht und den Kernbereich hinausgehenden staatlichen Ausgestaltungskompetenz eine generelle Erweiterung der Suspendierungswirkung vornehmen – die grundrechtliche Schutzpflicht verpflichtet ihn dazu jedoch nicht.645

D.  Einfluss des Völkerrechts Ein umfassender abwehrrechtlicher Schutz des Streiks durch Art. 9 Abs. 3 GG ist auch aufgrund des Einflusses des Völkerrechts vorzugswürdig.646 Das Grundgesetz ist völkerrechtsfreundlich auszulegen, so dass der völkerrechtliche Schutz des Streiks auf die abwehrrechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit zu übertragen ist und diese daher den nichtgewerkschaftlichen Streik umfasst. Fraglich ist jedoch auch, ob sich das Völkerrecht auf die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte auswirkt. Dies könnte dazu führen, dass der Staat, den nichtgewerkschaftlichen Streik ebenfalls mit einer Suspendierungswirkung ausstatten müsste. Eine Differenzierung zwischen dem gewerkschaftlichen und dem nichtgewerkschaftlichen Streik dürfte er in diesem Fall nur im Rahmen bestehender Beschränkungsvorbehalte im Völkerrecht vornehmen. Eine Übertragung der völkerrechtlichen Vorgaben auf die objektiv-rechtliche Dimension ist insoweit gegenüber der abwehrrechtlichen Dimension problematischer, da der Staat aktiv in die Grundrechte eines Dritten eingreift („Dreieckskonstellation“). Wenn er beispielsweise für den Streik eine arbeitsvertragliche 643 Siehe zu den Voraussetzungen der Tariffähigkeit die Ausführungen im 1. Teil, 3. Kapitel, A., I. „Gewerkschaftsbegriff in Deutschland“. 644  So die Bezeichnung von Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 259. 645  Siehe zu diesem Bereich der Ausgestaltung jüngst BVerfG, Beschl. v. 24. 2. 2015, 1 BvR 472/14, NJW 2015, 1506, 1509, insbesondere Rn. 46 und 52; hinsichtlich des Arbeitskampfes wohl auch BVerfG, Urteil v. 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86 (u.a.), NZA 1995, 754, 755 f. Aus der Literatur: Dieterich, RdA 2007, 110, 112 f.; Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 75; vgl. Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 134; vgl. Richardi, AP GG Art. 9 Nr. 127, Anmerkung I. 2. und II.; vgl. zu einer über den „Kernbereich“ hinausgehenden Ausgestaltung Schwarze, JuS 1994, 653, 658. Siehe zur über die Schutzpflicht hinausgehenden normativen Ausgestaltung noch den 5. Teil, 1. Kapitel, B. „Anordnung durch den Gesetzgeber“. 646  Siehe dazu den 3. Teil, 3. Kapitel, A., IV. „Einfluss des Völker- und Unionsrechts“.

4. Kap.: Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension

259

Suspendierungswirkung anordnet, würde er damit gleichzeitig in die durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 GG geschützte Vertragsautonomie des Arbeitgebers eingreifen.647 Dieser grundrechtliche Eingriff muss verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, so dass eine pauschale Übertragung einer völkerrechtlichen Vorgabe nicht möglich ist.648 Um den Dreieckskonstellationen gerecht werden zu können, kann auf die Beschränkungsklauseln der völkerrechtlichen Verträge zurückgegriffen werden. So kann der Staat beispielsweise gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK oder Art. 31 ESC unter bestimmten Bedingungen das Schutzniveau des Streiks begrenzen und kann so auf die Grundrechte Dritter Rücksicht nehmen. Grundsätzlich ist der Staat jedoch zur Umsetzung der völkerrechtlichen Vorgaben auch im Rahmen der objektiv-rechtlichen Dimension verpflichtet.649 In Bezug auf die arbeitsvertraglichen Wirkungen des Streiks (Streikrecht) muss der Staat daher die Vorgaben des Völkerrechts umsetzen.650 Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 gewährleisten für nichtgewerkschaftliche Streiks nichttariffähiger Arbeitnehmerkoalitionen eine Suspendierungswirkung. Bei Art. 11 Abs. 1 EMRK ist es zumindest denkbar, dass der EGMR in notwendigen Situationen eine entsprechende positive Verpflichtung ausspricht.651 Der Staat könnte bei der Umsetzung des Art. 6 Nr. 4 ESC die Grundrechte des Arbeitgebers und die Belange Dritter dadurch wahren, dass er in Übereinstimmung mit Art. 31 ESC Kriterien zu deren Schutz aufstellt.652 Bei den anderen beiden völkerrechtlichen Quellen ergibt sich dieses Problem insofern nicht, da die Suspendierungswirkung dort sowieso nur für notwendige Situationen gewährleistet wird.653 Es ist zu fragen, wer genau für den Staat die völkerrechtlichen Vorgaben umzu647  Siehe dazu ausführlich den 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“. 648 Vgl. Dieterich, in: FS Jaeger, S. 107 zum Ausgleich unterschiedlicher Grundrechtspositionen im Zivilrecht unter Einfluss der EMRK. 649  Vgl. zur Schutzpflicht Schlachter, RdA 2011, 341, 344: „Neben die abwehrrechtliche Dimension ist damit eine Schutzpflicht getreten.“; a.A. Greiner, Rechtsfragen, S. 176 f., der den Einfluss des Völkerrechts nur im Bereich des Schutzes natürlicher Freiheiten und nicht im Bereich der zivilrechtlichen Ausgestaltung sieht. 650  Dieterich, in: FS Jaeger, S. 109; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 134 ff.; vgl. zum Streikrecht in der Kirche Schubert/Wolter, AuR 2013, 24, 28; Kohte/ Doll, ZESAR 2003, 393 in Fn. 3; allgemein zum Arbeitskampf: Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 23; allgemein zur Ausgestaltung von Koalitionsbetätigungen Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 341. 651  Siehe zur Gewährleistung des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Völkerrecht den 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“. 652  Zu Art. 31 ESC: Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 268. 653 Siehe dazu ebenfalls den 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“, wonach der EGMR eine positive Verpflichtung nur in notwendigen Situationen anordnen würde und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 den nichtgewerkschaftlichen Streik inklusive Suspendierungswirkung sowieso nur in einem notwendigen Situationen schützt.

3. Teil: Grundgesetz

260

setzen hat. Dafür kommen in erster Linie der Gesetzgeber und subsidiär das BAG in Betracht. Wie der Gesetzgeber die bestehende Suspendierungswirkung des Streiks ausbauen kann, wird – jedoch nur in einem Überblick – an späterer Stelle erläutert.654 Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der arbeitskampfrechtlichen Rechtsprechung des BAG unter Beachtung verfassungs- und völkerrechtlicher Vorgaben. Die relevante Frage ist daher, ob das BAG die völkerrechtlichen Vorgaben in Bezug auf eine Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen, aber koalitionsgeführten Streiks beachten muss. Dazu wird genauer im 5. Teil, der eine auf die Zukunft gerichtete Prognose enthält, Stellung bezogen.655

E.  Zwischenergebnis Der Staat ist aufgrund der grundrechtlichen Schutzpflicht verpflichtet, den Streik in einem „Kernbereich“ mit einer arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung zu versehen. Durch die Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen und tarifbezogenen Streiks genügt der Staat dieser Pflicht. Zu einer generellen Übertragung der Suspendierungswirkung auf den nichtgewerkschaftlichen Streik ist der Staat nach derzeitiger Einschätzung nicht verpflichtet. Nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen Arbeitnehmern ein gewerkschaftlicher Streik als Druckmittel nicht zur Verfügung steht, kann die staatliche Schutzpflicht den Staat zur Anordnung einer Suspendierungswirkung zwingen. Solange sich eine Gewerkschaft allerdings aus legitimen Gründen weigert, einen Streik zu organisieren, besteht kein besonderes Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer. Dies gilt beispielsweise für die Friedenspflicht bei einem laufenden Tarifvertrag. Damit besitzt der „Kernbereich“ des BVerfG für die objektiv-rechtlichen Dimension weiterhin einen Anwendungsbereich. Bezogen auf den Streik bedeutet dies, dass der Staat bei der Schaffung der normativen Wirkung des Streiks infolge der Schutzpflicht eine Ausrichtung auf die Tarifautonomie festlegen kann. Allerdings kann der Einfluss des Völkerrechts dazu führen, dass der Staat eine generelle Suspendierungspflicht des nichtgewerkschaftlichen Streiks schaffen muss (siehe dazu den 5. Teil der Arbeit). Inwieweit das BAG diese Vorgaben in seiner Rechtsprechung berücksichtigen muss, wird im nachfolgenden 4. Teil der Arbeit dargestellt.

654 

Dazu im Überblick der 5. Teil, 2. Kapitel, B. „Anordnung durch den Gesetzgeber“. dazu die Ausführungen im 5. Teil, 2. Kapitel, A. „Anordnung durch das

655 Siehe

BAG“.

5. Kap.: Ergebnisse

261

5. Kapitel

Ergebnisse 5. Kap.: Ergebnisse

Der Streik als kollektives Kampfmittel wird durch die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet und ist ein Bestandteil der Betätigungsfreiheit. Koalitionen im Sinne des Grundrechts sind nicht nur Gewerkschaften. Der Koalitionsbegriff ist weiter und umfasst auch nichttariffähige Arbeitnehmerkoalitionen. Dazu gehören insbesondere auch ad-hoc Koalitionen, wenn diese über eine ausreichende organisierte Willensbildung verfügen und als Ansprechpartner für Dritte zur Verfügung stehen. Der personelle Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG lässt einen nichtgewerkschaftlichen Streik einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition zu. Als natürliche Freiheit wird der Streik umfassend abwehrrechtlich geschützt (Verhältnis Bürger/Staat). Der Schutzbereich umfasst auch den nichttarifbezogenen Streik und den nichtgewerkschaftlichen Streik einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition. Die Koalitionsfreiheit garantiert damit eine umfassende und weite Streikfreiheit. Ein weiter abwehrrechtlicher Schutz des Streiks führt nicht automatisch zu einem weiten zivilrechtlichen Schutz des Streiks. Die in der objektiv-rechtlichen Dimension enthaltene grundrechtliche Schutzpflicht verpflichtet den Staat, in einem Kernbereich einen normativen Schutz für den Streik zu gewährleisten (Verhältnis Bürger/Bürger). Durch die für den gewerkschaftlichen Streik angeordnete Suspendierungswirkung füllt das BAG den Kernbereich normativen Schutzes grundsätzlich aus und genügt der Schutzpflicht. Eine darüberhinausgehende generelle Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks existiert bisher nicht und wird durch die Schutzpflicht nicht gefordert. Nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen Arbeitnehmern ein gewerkschaftlicher Streik als Druckmittel nicht zur Verfügung steht, kann die staatliche Schutzpflicht den Staat dazu zwingen, zum Schutze der Arbeitnehmer eine Suspendierungswirkung dieser Streikform anzuordnen. Solange sich eine Gewerkschaft allerdings aus legitimen Gründen weigert, einen Streik zu organisieren, besteht kein besonderes Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer. Dies gilt beispielsweise für die Friedenspflicht bei einem laufenden Tarifvertrag. Die vorliegenden Ergebnisse zum verfassungsrechtlichen Schutz des Streiks stimmen mit dem „Ausblick“ des ehemaligen Vorsitzenden Richters am BAG Bepler zu einer zukünftigen Ausgestaltung des deutschen Arbeitskampfrechtes überein.656 Bepler schlägt vor, das Arbeitskampfrecht „zweistufig auszugestalten“ und zwischen „arbeitsvertraglich privilegierten tarifbezogenen Arbeitskämpfen“ und „tarifunabhängigen Arbeitskämpfen“ ohne deliktsrechtliche Rechtsfolgen zu 656 

Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 98.

262

3. Teil: Grundgesetz

differenzieren.657 Bei Letzteren müssten die Arbeitnehmer jedoch ihr Arbeitsverhältnis vor dem Arbeitskampf kündigen, um nicht gegen den Arbeitsvertrag zu verstoßen.658 Die bisherigen Erkenntnisse dieser Arbeit haben ergeben, dass dieser zweistufige Charakter für den Streik bereits der Rechtslage entspricht. Der gewerkschaftliche Streik ist arbeitsvertraglich privilegiert und der nichtgewerkschaftliche Streik führt ohne vorherige Kündigung zum Verstoß gegen den Arbeitsvertrag. Die deliktsrechtliche Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks wird noch im anschließenden 4. Teil der Arbeit analysiert. Somit ist der „Ausblick“ Beplers zumindest bezüglich der arbeitsvertraglichen Wirkungen des Streiks bereits Realität. Im abschließenden 5. Teil dieser Arbeit muss allerdings erörtert werden, ob dieses Ergebnis auch unter dem Einfluss des Völkerrechts Bestand haben kann, oder wie der Gesetzgeber oder subsidiär das BAG das deutsche Arbeitskampfsystem anpassen müssen.

657 Siehe ausführlich zur deliktsrechtlichen Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG den 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 1. „Deliktsrechtliche Bewertung: Verfassungswidriger Grundrechtseingriff“. 658  Siehe ausführlich zur arbeitsvertraglichen Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG den 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 2. „Suspendierungswirkung: Verfassungskonforme Grundrechtsausgestaltung“.

4. Teil

Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Arbeitskämpfe beinhalten ein großes Konfliktpotenzial und können logischerweise zu Rechtsstreitigkeiten zwischen den beteiligten Arbeitskampfparteien führen.1 Da es jedoch an einem Gesetz zum Arbeitskampf fehlt, können sich Gerichte nur auf Art.9 Abs. 3 GG und auf Grundsätze berufen, die sie selber aufgestellt haben.2 Damit kommt einigen wichtigen Urteilen eine gesetzesähnliche Wirkung zu. Sie werden als „Richterrecht“ bezeichnet.3 Zu diesen Urteilen zählt einerseits die Feststellung des BAG4, dass nur der gewerkschaftliche und tarifbezogene Streik eine suspendierende Wirkung besitzt, sowie die spätere Entscheidung des Gerichts5, dass nichtgewerkschaftliche Streiks generell einen deliktsrechtlichen Schadensersatzanspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB nach sich ziehen. Diese in einem Einzelfall entwickelten Feststellungen zum nichtgewerkschaftlichen Streik sind zur gesetzesgleichen Referenz für nachfolgende Urteile geworden. Die Urteile sind aus ihrem konkreten Zusammenhang herausgehoben worden und stellen für die arbeitskampfrechtliche Rechtsprechung die Quelle für ein allgemeines arbeitsvertragliches wie deliktsrechtliches Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks dar.6

1 Vgl. Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 196, Rn. 1: „Insofern stellt sich jeder Arbeitskampf auch als eine Art Angriff auf die Rechtsordnung und die Rechtsgüter des einzelnen dar.“ 2 Vgl. Litschen, NZA-RR 2015, 57; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 195, Rn. 4; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 103; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 18. 3  Vgl. nur Lerche, NJW 1987, 2465, 2472; Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2498 ff.; Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 110; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 25 ff.; Jacobs, ZfA 2011, 71, 72; kritisch Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 198, Rn. 4 f. Eine ausführliche Analyse der Bindungswirkung des Richterrechts soll an dieser Stelle unterbleiben. Siehe dazu die genannten Autoren mit weiterführenden Nachweisen. 4  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. 5  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 886: „Ein solcher rechtswidriger Streik erfüllt den objektiven Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB.“ 6  Vgl. die Bezugnahmen in: BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486 (wilder Streik und Kündigung); BAG GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, GS 1/68, NJW 1971, 1668, 1971 (wilder Streik und Kündigung); BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237 (wilder Streik und Kündigung); BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883 (wilder Streik und § 823 Abs. 1 BGB).

264

4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes des nichtgewerkschaftlichen Streiks stellt sich die Frage, ob die Rechtsprechung des BAG mit der Verfassung in Einklang steht (1. Kapitel). Dazu wird zu klären sein, ob es sich um Eingriffe in die Koalitionsfreiheit handelt, die verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein müssen. Demgegenüber kommt eine Einordnung der Rechtsprechung des BAG als nichteingreifende Ausgestaltung in Betracht. Diese kann anderen Voraussetzungen als ein Grundrechtseingriff unterliegen, da sie nicht den abwehrrechtlichen Teil des Grundrechts betrifft, sondern ihren Ursprung in der objektiv-rechtliche Dimension besitzt. Eine zutreffende Einordnung der Rechtsprechung ist daher unverzichtbar, da sich nach ihr die verfassungsrechtlichen Anforderungen richten.7 Abschließend wird erörtert, welchen Einfluss die völkerrechtlichen Vorgaben auf die Rechtsprechung des BAG haben (2. Kapitel). 1. Kapitel

Verfassungsrechtliche Bewertung 1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

Im folgenden Kapitel erfolgt die verfassungsrechtliche Bewertung der Rechtsprechung des BAG zum Gewerkschaftsmonopol. Zu untersuchen sind die deliktsrechtliche und die arbeitsvertragliche Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks. Auf beiden Ebenen stellt sich die Frage, ob das BAG verfassungskonforme Rechtsgrundsätze aufgestellt hat. Dazu werden beide Bewertungen anhand der dogmatischen Figuren des Grundrechtseingriffs und der Grundrechtsausgestaltung gewürdigt. Dazu wird die Rechtsprechung des BAG zunächst der Eingriffs- und der Ausgestaltungskategorie zugeordnet (A.). Auf dieser Grundlage wird anschließend geprüft, ob beide Bewertungen den jeweiligen verfassungsrechtlichen Anforderungen standhalten (B.).

A.  Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum nichtgewerkschaftlichen Streik: Eingriff oder Ausgestaltung? Nach einer kurzen begrifflichen Klärung wird im Folgenden zuerst gezeigt, wie das BVerfG die Begriffe des Eingriffs und der Ausgestaltung behandelt. Im Anschluss werden unterschiedliche Ansichten in der Literatur erläutert und kritisch analysiert. Sie reichen von einem Gleichlauf beider Begriffe zu einer strikten kategorialen Trennung. Nach dieser Bestandsaufnahme erfolgt eine persönliche Stellungnahme, in deren Rahmen das gewählte Differenzierungskriterium auf den Streik und die Rechtsprechung des BAG übertragen wird.

7 So die treffende Einschätzung von Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 160.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

265

I.  Begriffliche Einführung zu den Kategorien Eingriff und Ausgestaltung Der Eingriff ist eine klassische Kategorie der Abwehrfunktion der Freiheitsgrundrechte.8 Er liegt vor, wenn der Staat den Schutzbereich eines Grundrechtes beeinträchtigt.9 Liegt demnach ein grundrechtlicher Eingriff vor, wird die verfassungsrechtliche Rechtfertigungsprozedur ausgelöst.10 Bei einer grundrechtlichen Ausgestaltung wird der Schutzbereich gerade nicht beeinträchtigt.11 Der Staat schafft vielmehr normative Verhaltensmöglichkeiten, die nicht von Natur aus Inhalt des Schutzbereiches sind.12 Eingriff und Ausgestaltung stehen nach herrschender Ansicht in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander.13 Ob dieser Trennung zu folgen ist, wird im Folgenden unter Berücksichtigung abweichender Ansichten dargestellt. An dieser Stelle ist nur darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Ausgestaltung in den folgenden Ausführungen als grundrechtlicher Begriff verstanden wird. Mitunter wird unter einer Ausgestaltung auch die allgemeine Ausgestaltung eines Rechtsgebietes durch Gesetze verstanden, die in diesem Fall auch Grundrechtseingriffe umfasst.14 Als grundrechtlicher Begriff wird die Ausgestaltung jedoch als eigenständige Kategorie in Abgrenzung zum Eingriff verstanden. Die genaue Zuordnung einer staatlichen Handlung erweist sich in der Praxis als äußerst schwierig.15 Besondere Probleme bereiten die Begriffe bei Grundrechten, die eines normativen Gerüstes bedürfen. Dazu zählt wie dargestellt die Koalitionsfreiheit und der durch sie geschützte Streik, der mit der Suspendierungswirkung einer normativen Wirkung benötigt, um arbeitsvertraglich zulässig zu sein.16 Der Staat befindet sich in der Doppelrolle, die normativen Wirkun8 Vgl.

Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 81. Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 77: „Es besteht folglich ein Konnex zwischen Schutzbereich und Eingriff.“ 10  Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 76: „Jeder Eingriff bedarf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.“; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 135. 11  Von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 135 f. 12 Vgl. Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 75. 13  Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 72. 14 Dazu von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 136; Alexy, Grundrechte, S. 302; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 240: „Im Lichte eines Zwecks ist alle Gesetzgebung Ausgestaltung, Konkretisierung dieses Zwecks.“; siehe zu dieser Verwendung: BVerfG, Urt. v. 2. 3. 2010, 1 BvR 256/08 u.a., NJW 2010, 833, 837 f. zur Vorratsdatenspeicherung; vgl. das weite Verständnis von Waltermann, EuZA 2015, 15, 18 f. 15 Vgl. von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 136. 16 Zur Koalitionsfreiheit: von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 136; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 9; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 72; zum Arbeitskampf Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 82, vgl. zum Tarifeinheitsgesetz Konzen/ Schliemann, RdA 2015, 1, 12 f. 9 

266

4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

gen zuerst aktiv erschaffen zu müssen, um anschließend als potenzieller Feind der Grundrechte an die normativen Wirkungen gebunden zu sein.17 Die erforderliche Grundrechtsausgestaltung und die Abwehr von Grundrechtseingriffen liegen daher eng beieinander. II.  Eingriff und Ausgestaltung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG hat bisher die Rechtsprechung des BAG zum Gewerkschaftsmonopol nicht beurteilen müssen. Es betrachtet das Richterrecht des BAG jedenfalls als einfaches Recht und nicht als Verfassungsrecht, so dass sich das Gericht zu einer Überprüfung befugt sieht.18 Eine Differenzierung zwischen grundrechtlichem Eingriff und grundrechtlicher Ausgestaltung durch staatliches Handeln ließ das BVerfG jedoch in älteren Urteilen vermissen. Die Literatur kritisierte insbesondere die Ausführungen des BVerfG im Mitbestimmungsurteil als nicht stringent.19 In diesem Urteil versteht das BVerfG unter der Ausgestaltung nicht nur die Schaffung von Normkomplexen, sondern auch die Ziehung von Schranken, die ein Synonym für einen grundrechtlichen Eingriff sind: „Mehr noch als die in Art. 9 I GG gewährleistete allgemeine Vereinigungsfreiheit bedarf die Koalitionsfreiheit von vornherein der gesetzlichen Ausgestaltung. Diese besteht nicht nur in der Schaffung der Rechtsinstitute und Normenkomplexe, die erforderlich sind, um die grundrechtlich garantierten Freiheiten ausüben zu können. Die Bedeutung und Vielzahl der von der Tätigkeit der Koalitionen berührten Belange namentlich im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung machen vielmehr vielfältige gesetzliche Regelungen notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen können […].“20

Mit dem Aussperrungsurteil von 1991 lässt sich jedoch ein genaueres Vorgehen verzeichnen. Das BVerfG differenziert zwischen Einschränkungen (Grundrechtseingriffen) und der Ausgestaltung des Grundrechts: „Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist zwar vorbehaltlos gewährleistet. Damit ist aber nicht jede Einschränkung von vornherein ausgeschlossen. Sie kann durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte gerechtfertigt sein. 17 

Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 138. BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2004, 1 BvR 1191/03, NZA 2004, 1338, 1339; vgl. Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 110: „Die Arbeitskampfjudikatur des BAG darf nicht missverstanden werden als authentische Umschreibung des grundrechtlichen Gewährleistungsbereichs der Koalitionsfreiheit.“ 19  Zur Kritik siehe Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 78; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 73; Engels, RdA 2008, 331, 333; Übersicht zur Vermischung beider Begriffe bei Bayreuther, Tarifautonomie, S. 29. 20 BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 709, Hervorhebung durch den Verfasser. 18 

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

267

Darüber hinaus bedarf die Koalitionsfreiheit der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander berührt wird, die beide den Schutz des Art. 9 III GG genießen.“21

Bezüglich des Streiks hat das BVerfG in demselben Urteil insbesondere die Grundrechtsausgestaltung hervorgehoben: „Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang eine Koalition dieses verfassungsrechtlich geschützte Mittel [die Aussperrung, Anm. d. Verf.] einsetzen darf, ist ebenso wie beim Streik keine Frage des Schutzbereichs, sondern der Ausgestaltung des Grundrechts durch die Rechtsordnung.“22

Zudem billigte das BVerfG die Wahrnehmung der Grundrechtsausgestaltung durch das BAG anstelle des primär zuständigen Gesetzgebers: „Zwar hat das BVerfG mehrfach geäußert, es sei ‚Sache des Gesetzgebers‘, die Koalitionsfreiheit näher auszugestalten […]. Folgerungen für die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Koalitionen ergeben sich daraus aber nicht. Die Gerichte müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. […] Nur so können die Gerichte die ihnen vom Grundgesetz auferlegte Pflicht erfüllen, jeden vor sie gebrachten Rechtsstreit sachgerecht zu entscheiden.“23

Insbesondere für zwei Fälle nimmt das BVerfG eine Ausgestaltung des Grundrechts an.24 Zum einen sei die Ausgestaltung erforderlich, wenn ein Koalitionsmittel rechtlicher Rahmenbedingungen bedarf, damit die Grundrechtsträger von ihm Gebrauch machen können: „Die Koalitionsfreiheit ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Grundsätzlich können ihr daher nur zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Güter Schranken gesetzt werden. Das schließt allerdings eine Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers nicht aus, soweit er Regelungen trifft, die erst die Voraussetzungen für eine Wahrnehmung des Freiheitsrechts bilden.“25 21 BVerfG, Urt. v. 26.  6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 811, Hervorhebung durch den Verfasser. 22 BVerfG, Urt. v. 26.  6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810, Hervorhebung durch den Verfasser. 23  BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810; so auch aktuell im Beschluss zum Flashmob, BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 495. 24 Vgl. Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 9; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 73 ff. 25  BVerfG, Urt. v. 10. 1. 1995, 1 BvF 1/90 u.a., NZA 1995, 272, 273, Hervorhebung durch den Verfasser; vgl. zu Kampfmitteln: BVerfG, Beschl. v. 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; ähnliche Formulierung in Bezug auf die Tarifautonomie bereits in BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 709.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Zum anderen nimmt das BVerfG unter Kritik der Literatur26 eine Ausgestaltung an, wenn der Staat die betroffenen Freiheitsbereiche des Arbeitskampfgegners und Dritter so koordiniert, dass sie nebeneinander bestehen können: „Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit […] hat vielmehr darüber hinaus die Beziehung zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand und schützt diese auch insoweit vor staatlicher Einflußnahme, als sie zum Austrag ihrer Interessengegensätze Kampfmittel mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Gegner und die Allgemeinheit verwenden. Gerade wegen dieser Eigenart bedarf das Grundrecht der Koalitionsfreiheit der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung. Zum einen erfordert der Umstand, daß beide Tarifvertragsparteien den Schutz von Art. 9III GG prinzipiell gleichermaßen genießen, bei seiner Ausübung aber in scharfem Gegensatz zueinanderstehen, koordinierende Regelungen, die gewährleisten, daß die aufeinander bezogenen Grundrechtspositionen trotz ihres Gegensatzes nebeneinander bestehen können. Zum anderen macht die Möglichkeit des Einsatzes von Kampfmitteln rechtliche Rahmenbedingungen erforderlich, die sichern, daß Sinn und Zweck dieses Freiheitsrechts sowie seine Einbettung in die verfassungsrechtliche Ordnung gewahrt bleiben.“27

In jüngeren Urteilen verwendet das Gericht – insbesondere im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf – pauschal den Begriff der Ausgestaltung des Grundrechts, wenn es sich auf das Verhältnis der Grundrechtsträger untereinander bezieht: „Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf allerdings der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit es die Beziehungen zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand hat.“28

Andererseits griff es jüngst auch wieder auf den Eingriffsbegriff zurück, als es das Verbot von Unterschriftslisten in Polizeidienststellen bestätigte: „Die in Art. 9 III GG garantierte Koalitionsfreiheit kann, obwohl sie ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, jedenfalls zum Schutz von Rechtsgütern und Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt […]. Die kollidierenden Verfassungsrechte sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden […]. Eingriffe in das Grundrecht des Art. 9 III GG können nach der Rechtsprechung des BVerfG beispielsweise auch bei einer Störung des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens […] gerechtfertigt sein.“29 26  Grundlegende Kritik bei Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 80 ff.; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 108; Höfling, in: FS Friauf, S. 388; ähnlich Kahl, Der Staat 2004, 167, 175, in Fn. 46; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 244. 27  BVerfG, Beschl. v. 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380, Hervorhebungen durch den Verfasser; ähnlich BVerfG, Urt. v. 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86 u.a., NZA 1995, 754, 755. 28  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494; so auch ­BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2004, 1 BvR 1191/03, NZA 2004, 1338, 1339.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

269

Auch bezüglich des Verbots von Beamtenstreiks ging das BVerfG jüngst von einer Eingriffkonstellation aus und nahm die dementsprechend erforderliche Rechtfertigungsprüfung mit Rückgriff auf Art. 33 Abs. 5 GG und dessen hergebrachte Grundsätze des Beamtentums vor. Begrifflich verwendete das Gericht zwar statt des Begriffes Eingriff das Wort „Beeinträchtigung“30. Da es kurz darauf jedoch im selben Zusammenhang wieder von Eingriff spricht, verwendet das Gericht den Begriff Beeinträchtigung offensichtlich als Synonym für die Kategorie des Eingriffs: 29

„Das Spannungsverhältnis zwischen Koalitionsfreiheit und Art. 33 V GG ist zugunsten eines für Beamtinnen und Beamte bestehenden Streikverbots aufzulösen. Der Eingriff in Art. 9 III GG trifft Beamtinnen und Beamte nicht unzumutbar schwer.“31

Im Ergebnis muss daher festgehalten werden, dass das BVerfG zwar von der eigenständigen Existenz beider Kategorien ausgeht,32 aber seine Rechtsprechung keine klaren Abgrenzungskriterien vorgibt.33 So verwendete das Gericht beispielsweise jüngst im Urteil zur Tarifeinheit die Begriffe „Beeinträchtigung mit Wirkung eines Eingriffs“ und Ausgestaltung nebeneinander im selben Zusammenhang, ohne sie voneinander abzugrenzen.34 Einzig die Annahme einer Grundrechtsausgestaltung für den Fall der Schaffung rechtlicher Voraussetzungen bestimmt einen klaren Anwendungsfall. Der Begriff der „koordinierenden Regelungen“ lässt dagegen nicht eindeutig erkennen, wann eine Ausgestaltung vorliegt, da auch Eingriffe zur Koordinierung verschiedener Interessen beitragen können. Diese insgesamt unbefriedigende Situation scheint das Gericht teilweise sogar bewusst hinzunehmen. So lässt das BVerfG in seinem Beschluss zur Einbeziehung von Außenseiter-Arbeitgebern in Arbeitskampfmaßnahmen aus-

29  BVerfG, Beschl. v. 6. 2. 2007, 1 BvR 978/05, NZA 2007, 394, 395, Hervorhebung durch den Verfasser. 30  BVerfG, Urt. v. 12. 6. 2018, 2 BvR 1738/12 u.a., NJW 2018, 2695, 2702, Rn. 142. 31  BVerfG, Urt. v. 12. 6. 2018, 2 BvR 1738/12 u.a., NJW 2018, 2695, 2704, Rn. 158. 32  So auch die Einschätzung von Henssler, ZfA 1998, 1, 11; vorsichtiger Hromadka, NZA 2018, 961, 962, der angesichts des Urteils des BVerfG zur Tarifeinheit den Schluss zieht, dass der Senat der Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung keine entscheidende Bedeutung beimesse. 33  So auch die Einschätzung von von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 145; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 281 f.; Höfling, in: FS Friauf, S. 385; Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 414; kritisch auch Bayreuther, Tarifautonomie, S. 29; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 108. 34  BVerfG, Urt. v. 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u.a., NZA 2017, 915, 917 f., hierzu Hromadka, NZA 2018, 961 f. Zur Verwirrung trägt zusätzlich bei, dass in der abweichenden Meinung des Richters Paulus und der Richterin Baer ausdrücklich die Kategorie des Eingriffs gewählt wird (Rn. 2) und der Unterschied zur „Beeinträchtigung mit Wirkung eines Eingriffs“ offenbleibt.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

drücklich offen, ob ein Grundrechtseingriff oder die von ihm zuvor präferierte Ausgestaltung vorliegt: „Wollte man in der Einbeziehung der [Beschwerdeführer] in die Streikmaßnahmen gleichwohl einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit sehen, wäre dieser gerechtfertigt.“35

III.  Eingriff und Ausgestaltung in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Wie ordnet das BAG seine Rechtsprechung zum Streik und zum Arbeitskampf selbst ein? In seinen Urteilen greift das BAG jedenfalls häufig auf die Begriffe Eingriff und Ausgestaltung zurück oder nutzt Synonyme wie das Wort Beschränkung. Zur Unterscheidung beider Kategorien bezieht es sich teilweise auf die soeben zitierte Rechtsprechung des BVerfG. In Übereinstimmung mit dem BVerfG betrachtet es daher auch „koordinierende Regelungen“ als Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit: „Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit es die Beziehungen zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand hat. Diese erfordert koordinierende Regelungen, die gewährleisten, dass die aufeinander bezogenen Grundrechtspositionen trotz ihres Gegensatzes nebeneinander bestehen können.“36

Das BAG hat auch bestätigt, dass der grundrechtliche Schutz einer Koalitionsbetätigung nicht bedeutet, dass diese generell – somit auch unmittelbar im Zivilrecht – zulässig ist. Wie bereits im Rahmen dieser Arbeit dargestellt wurde, bedarf es dazu der staatlichen Anordnung einer zivilrechtlichen Wirkung der einzelnen Koalitionsbetätigung.37 Nur so entfällt beispielsweise die vertragliche Bindung des Arbeitnehmers im Falle eines Streiks. In Übereinstimmung mit dem BVerfG bezeichnet das BAG daher die Schaffung (zivil)rechtlicher Voraussetzungen der Koalitionsbetätigungen als Ausgestaltungen: „Derartige Aktionsformen des Arbeitskampfs [“Flashmob-Aktionen„, Anm. d. Verf.] unterfallen dem Schutzbereich des Art. 9 III GG. Allerdings sind sie, wie jede Arbeitskampfmaßnahme, nicht schon allein deshalb immer zulässig. Vielmehr richtet sich ihre Zulässigkeit nach der Ausgestaltung des Grundrechts durch die Rechtsordnung. Diese Ausgestaltung unterliegt mangels eines Tätigwerdens des Gesetzgebers den im Einzelfall angerufenen Gerichten.“38 35 

BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2004, 1 BvR 1191/03, NZA 2004, 1338, 1339. BAG, Urt. v. 22. 9. 2009, 1 AZR 972/08, NZA 2009, 1347, 1351. 37  Siehe dazu insbesondere die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2., (5) „Zusammenfassung zur normativen Freiheit“. 38  BAG, Urt. v. 22. 9. 2009, 1 AZR 972/08, NZA 2009, 1347, 1350; dieselbe Formulierung findet sich auch im Urteil zum Unterstützungsstreik: BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057. 36 

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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Allerdings berücksichtigt das BAG die wichtige Trennung zwischen Verfassungs- und Zivilrecht nicht immer. In einem anderen Urteil ist es davon ausgegangen, dass es für vom Schutzbereich umfasste Arbeitskampfmittel generell eine zivilrechtliche Zulässigkeit gewähren müsse. Nur in besonderen Einzelfällen, meint das Gericht, könne es diese Zulässigkeit verweigern: „Eine Bewertung von Arbeitskampfmaßnahmen durch die Fachgerichte als rechtswidrig kommt deshalb grundsätzlich nur in Betracht, wenn eine Arbeitskampfmaßnahme offensichtlich ungeeignet oder unverhältnismäßig ist […].“39

Diese Auffassung widerspricht dem in dieser Arbeit vertretenen Konzept einer auf einen Kernbereich begrenzten objektiv-rechtlichen Schutzpflicht, die dem Arbeitskampf im Zivilrecht zur Geltung verhilft.40 Wie später noch erläutert wird, überschreitet das BAG dadurch sogar seine rechtsstaatlichen Kompetenzen, da es sich für befugt ansieht, generell in die grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit des Arbeitgebers einzugreifen.41 Neben den beiden genannten Fällen einer Ausgestaltungsfunktion mangelt es der Rechtsprechung des BAG an einer klaren Unterscheidung zwischen Grundrechtseingriffen und Ausgestaltungen. Das Gericht verwendet die Begriffe häufig in demselben Zusammenhang, ohne zwischen ihnen zu differenzieren: „Bei der Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts haben die Gerichte insbesondere zu beachten, dass jegliche Reglementierung zugleich eine Beschränkung der durch Art. 9 III GG gewährleisteten Betätigungsfreiheit darstellt, die der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf.“42

Noch deutlicher wird die Vermischung von Ausgestaltungs- und Eingriffskategorie im Urteil zum Streik um Tarifsozialpläne: „Auch haben dort, wo gesetzliche Vorgaben – wie auf dem Gebiet des Arbeitskampfrechts – unzureichend sind oder fehlen, an Stelle des Gesetzgebers die Gerichte für eine sachgerechte Ausgestaltung der Betätigungsfreiheit zu sorgen (BVerfGE 84, 212 = NZA 1991, 809 = NJW 1991, 2549 [zu C I 2a]). Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass Einschränkungen der verfassungsrechtlich garantierten Betätigungsfreiheit der Koalitionen nur dann mit Art. 9 III GG vereinbar sind, wenn sie entweder dem Schutz des jeweiligen Koalitionspartners und damit gerade der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie oder dem Schutz der Grundrechte Dritter dienen oder sie 39  BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057, Hervorhebung durch den Verfasser. Das BAG beruft sich dazu auf eine gleichlautende Aussage des B ­ VerfG, BVerfG, Beschl. v. 10. 9. 2004, 1 BvR 1191/03, NZA 2004, 1338, 1340. 40  Siehe dazu die Ausführungen zur objektiv-rechtlichen Dimension des Streiks im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 41  Siehe dazu die Ausführungen im 5. Teil, 1. Kapitel, A., „Anordnung durch das Bundesarbeitsgericht“. 42 BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057, Hervorhebung durch den Verfasser.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

durch die Rücksicht auf andere Rechte mit Verfassungsrang gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGE 84, 212 = NZA 1991, 809 = NJW 1991, 2549 [zu C I 3a]; BVerfG [24. 4. 1996], BVerfGE 94, 368 = NZA 1996, 1157 = NJW 1997, 513 [zu C II 1]).43

Zwar nutzt das Gericht statt des Begriffes Eingriff den Begriff Einschränkung, doch ist dieser verknüpft mit Ausführungen zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs. Das BAG betrachtet den Begriff Einschränkung daher offensichtlich als Synonym für den Begriff Eingriff. Indem das Gericht das Wort „dabei“ verwendet, schafft es eine direkte Verknüpfung zwischen der Ausgestaltungs- und der Eingriffsebene. Ein Eingriff wird zu einem Unterfall der Ausgestaltung der Betätigungsfreiheit. Interessanterweise verweist das BAG auf die bereits dargestellte Aussperrungsentscheidung des BVerfG, in der das BVerfG – wie dargestellt – klar zwischen Eingriffen und Ausgestaltungen trennt.44 Das BAG scheint dieses differenzierte Verständnis des BVerfG nicht wahrgenommen zu haben. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass es seine Rechtsprechung generell als Ausgestaltung einstuft, bei der es nur in bestimmten Fällen – die es jedoch nicht klar benennt – die Voraussetzungen eines Eingriffs beachten muss.45 Hinsichtlich des nichtgewerkschaftlichen Streiks erfolgte in den diesbezüglichen Urteilen des BAG keine Einordnung, ob es sich bei dem arbeitsvertraglichen und dem deliktsrechtlichen Verbot um Eingriffe oder Ausgestaltungen handelt. Zum einen wurde der verfassungsrechtliche Schutz des Streiks erst 1980 durch das BAG bestätigt,46 so dass lange Zeit kein Bedürfnis für eine Einordnung in Grundrechtsausgestaltungen oder Grundrechtseingriffe bestand. Zum anderen umging das Gericht nach der grundrechtlichen Zuordnung die erforderliche Einordnung, indem es auf seine ständige – in der vorliegenden Arbeit jedoch anders vertretene – Rechtsansicht verwies, nach welcher der nichtorganisierte Streik a priori keine Stütze in Art. 9 Abs. 3 GG finde.47 IV.  Ansichten in der Literatur zu Eingriff und Ausgestaltung Angesichts einer fehlenden klaren Linie in der Rechtsprechung werden in der Literatur zahlreiche Kriterien vertreten, nach denen sich Eingriff und Ausgestaltung trennen lassen. Dem steht zudem eine Ansicht gegenüber, die eine Differenzierung zwischen beiden Kategorien ablehnt. Angefangen bei der Ausgangsfrage, 43  BAG, Urt. v. 24. 4. 2007, 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987, 996, Hervorhebung durch den Verfasser. 44  BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 811. 45 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 281: „[…] das Bundesarbeitsgericht [lässt] insoweit jede Auseinandersetzung vermissen […].“ 46  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643 f. 47  BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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ob eine Trennung überhaupt erforderlich ist, werden im Anschluss verschiedene Kriterien dargestellt, nach denen sich Grundrechtseingriff und Grundrechtsausgestaltung trennen lassen könnten. 1.  Stimmen gegen eine Unterscheidung von Eingriff und Ausgestaltung Vereinzelt sprechen sich einzelne Ansichten in der Literatur gegen eine Unterscheidung von Eingriff und Ausgestaltung aus. Sie nehmen an, dass eine Differenzierung entweder schlicht unmöglich ist oder dass sie keinen dogmatischen Gewinn verspricht.48 So meint Thüsing etwa, dass es einer Abgrenzung nicht bedürfe.49 Er verweist darauf, dass nach seiner Ansicht ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit auch mithilfe des Gemeinwohls zu rechtfertigen sei, so dass Eingriff und Ausgestaltung denselben Voraussetzungen unterlägen. Dieser Schluss verstellt jedoch einerseits den Blick dafür, dass es sich dogmatisch um zwei verschiedene Kategorien handelt. Nur aufgrund gleicher Voraussetzungen auf der nachgelagerten Rechtfertigungsebene kann es strukturelle Unterschiede zwischen beiden Kategorien auf der Eingriffsebene geben. Aus wissenschaftlicher Sicht besteht daher ein Bedürfnis für eine Differenzierung.50 Andererseits kann – wie nachfolgend noch gezeigt wird – die Ausgestaltung geringeren verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegen als der Grundrechtseingriff.51 Daher ist sie auch aus Sicht einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung staatlichen Handelns erforderlich. Darüber hinaus meint Thüsing, dass die existierenden Kriterien keine sichere Leitlinie aufweisen. In Bezug auf die Rechtsprechung hat er damit sicherlich Recht. Deshalb jedoch auf eine klare Differenzierung verzichten zu wollen, würde einer Kapitulation gleichkommen. Gerade die Unsicherheiten der Rechtsprechung sind Anlass genug, weiterhin die beiden Kategorien zu untersuchen und klare Kriterien zu bilden. Nur dadurch kann verhindert werden, dass Grundrechtseingriffe der Rechtsprechung fälschlicherweise als Grundrechtsausgestaltungen getarnt werden.52 48  Thüsing, in: 50 Jahre BAG, S. 892; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 30 f.; Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 65; Schwarze, JuS 1994, 653, 658; Henssler, ZfA 1998, 1, 11; Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 107; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 111; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 91: „keine trennscharfe Abgrenzung“; für eine „Angleichung“ Rieble, Verfassungsfragen der Tarifeinheit, S. 76 f. 49  Thüsing, in: 50 Jahre BAG, S. 892. 50 Ähnlich Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 215; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 20. 51  Siehe dazu die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 2. „Grundrechtsausgestaltung“. 52  Siehe dazu Kahl, Der Staat 2004, 167, 175, in Rn. 46; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 73 f.; Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 64.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Bayreuther hebt zwar zunächst die Bedeutung einer Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung hervor, da beide Kategorien auf Rechtfertigungsebene unterschiedliche Anforderungen besäßen.53 Letztlich geht er jedoch davon aus, dass eine Trennung nicht schematisch vorgenommen werden könne, da Eingriff und Ausgestaltung fließende Übergänge besäßen. Insbesondere stehen beide Kategorien nach seinem Modell nicht in einem Exklusivverhältnis, sondern sind auf unterschiedlichen Ebenen anzuordnen, die sich nicht ausschließen. Eine Differenzierung sei daher weder sinnvoll noch durchführbar.54 Er weist darauf hin, dass jede neue Ausgestaltung auch Grenzen setze und daher einen Eingriffs­charakter besäße.55 Zudem nimmt er einen Grundrechtseingriff auch an, wenn der Staat es unterlässt, erforderliche Normen zu schaffen.56 Die Ausgestaltung wird für ihn nur als Maßstab für die Bestimmung dieser Erforderlichkeit relevant. Sie stellt für ihn daher keinen Gegenbegriff zum Eingriff dar, sondern repräsentiert nur das notwendige Maß an normativer Freiheit, die der Staat schaffen muss.57 Bayreuther ist zuzugestehen, dass der Staat bei der Schaffung normativer Freiheit diese an bestimmte Voraussetzungen knüpfen kann und dadurch dem Grundrechtsträger nur einen begrenzten rechtlichen Handlungsspielraum eröffnet. Gleichwohl ist damit nicht eine Begrenzung im Sinne eines Grundrechtseingriffes gemeint, da der Staat nicht bestehende Betätigungsmöglichkeiten verhindert, sondern neue schafft.58 Ein Grundrechtseingriff kann entgegen Bayreuthers Ansicht nur eine bestehende Substanz betreffen.59 Nur so erklärt sich das mit dem Eingriff verbundene Abwehrrecht, das Handlungen des Staats unterbinden soll 53 

Bayreuther, Tarifautonomie, S. 26. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 30. 55  Bayreuther, Tarifautonomie, S. 26; so Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 65; ähnlich Schwarze, JuS 1994, 653, 658: „[…] auch die Ausgestaltung ist nicht freiheitsindifferent.“; Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 16 f. 56  Bayreuther, Tarifautonomie, S. 32 und S. 36 ff. 57  Bayreuther, Tarifautonomie, S. 31 f. 58  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 61; Epping, Grundrechte, S. 213; vgl. Richardi, NZA 2014, 1233, 1236: „Seine Zulässigkeit [des Arbeitskampfes, Anm. d. Verf.] wird rechtsdogmatisch fehlerhaft bestimmt, wenn man Grenzziehungen ausschließlich als Beschränkung der Koalitionsfreiheit interpretiert; es geht hier entscheidend auch um die Problematik, dass durch die Zulassung des Arbeitskampfes der Eingriff in einen fremden Rechtskreis institutionalisiert wird und insoweit einen besonderen Tatbestand im zivilrechtlichen Haftungssystem bildet.“ 59  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 54; Ruffert, Vorrang der Verfassung, S. 117; Bethge, in: Der Grundrechtseingriff, 1. Bericht, S. 19; vgl. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 159; vgl. Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 124, der richtigerweise einen Grundrechtseingriff ablehnt, wenn der Staat hinter der erforderlichen Ausgestaltung zurückbleibt; so auch Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 40. 54 

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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und ihn nicht zum Handeln auffordert.60 Die Ausgestaltung ist dagegen ein Teil der objektiv-rechtlichen Dimension, in der der Staat zu einem Handeln aufgefordert wird, um eine normative Grundrechtssubstanz zu schaffen. Bayreuthers Ablehnung einer semantischen Trennung zwischen Eingriff und Ausgestaltung liegt daher ein zu weites Verständnis des Eingriffsbegriffs zugrunde. Nur auf Grundlage seines weiten Eingriffsmodells beinhaltet jede Ausgestaltung einen potenziellen Eingriff, so dass die Grenzen zwischen beiden Kategorien verschwimmen. Setzt man hingegen richtigerweise für einen Eingriff die Existenz einer grundrechtsrelevanten Substanz voraus, bleibt für eine bloße Ausgestaltung dort ein Anwendungsbereich, wo er die rechtliche Substanz schafft, ohne eine bestehende grundrechtsrelevante Freiheit zu reduzieren.61 Henssler erkennt zwar auf der einen Seite an, dass es bei manchen Grundrechten ein Bedürfnis für eine Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung gibt.62 Für die Koalitionsfreiheit lehnt er eine spezifische Ausgestaltung, die von einem Eingriff zu trennen ist, jedoch ab und bezeichnet die Differenzierung als künstliches Konstrukt, bei der eine präzise Grenzziehung nicht möglich ist.63 Henssler berücksichtigt allerdings nicht, dass insbesondere die Koalitionsfreiheit einer gesetzgeberischen Gewährleistung bedarf, damit natürliche Grundrechtsbetätigungen eine normative Wirkung entfalten können.64 Er lehnt eine gesetzgeberische Gewährleistung ab, da er darin ein dem Abwehrrecht zuwiderlaufendes Ergebnis sieht. Für ihn ist jedes staatliche Handeln bezüglich der Koalitionsfreiheit, auch wenn die Rechtsprechung es als Ausgestaltung bezeichnet, ein Grundrechtseingriff.65 Hensslers Ansicht überzeugt nicht, da die Koalitionsfreiheit – wie auch andere Grundrechte – neben dem abwehrrechtlichen Bereich eine objektiv-rechtliche Dimension besitzt, die den Staat zum Handeln auffordert.66 Dies ist gerade für Grundrechte mit normativen Freiheiten wichtig, damit diese

60  Gegen die abwehrrechtlichen Funktion der Pflicht zur normativen Konstituierung Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 162; ähnlich Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 304. 61  So im Ergebnis auch die Kritik von Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 61. 62  Henssler, ZfA 1998, 1, 11: „[…] diesen Ansatz, der für andere Grundrechte durchaus tauglich ist […].“ 63  Henssler, ZfA 1998, 1, 11; ähnlich Henssler, RdA 2011, 65, 70. 64  Vgl. dazu die Erläuterungen zur normativen Freiheit des Streiks im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 2. „Normative Freiheit“; ähnlich die Kritik von Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 215; vgl. Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 63. 65  Henssler, ZfA 1998, 1, 11 f., der aufgrund dieses weiten Eingriffsverständnis versucht, einen einfachen Gesetzesvorbehalt für alle Koalitionsbetätigungen herzuleiten, dazu näher Henssler, RdA 2011, 65, 70. 66  Vgl. dazu den 3. Teil, 4. Kapitel „Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension“.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

nach einer Ausgestaltung durch den Staat am abwehrrechtlichen Schutz teilhaben können. Auch für Bumke schließen sich Eingriffs- und Ausgestaltungskategorie nicht aus.67 Sie sind zwar zwei verschiedene Kategorien, stehen jedoch nicht im Verhältnis strenger Alternativität zueinander.68 Am Beispiel normativer Grundrechte führt er aus, dass jegliche Entwicklung normativer Freiheit eine Ausgestaltung sei. Generell liege eine Ausgestaltung vor, wenn der handlungsgebietende Grundrechtsgehalt (Handlungsgebot) Auslöser staatlichen Handelns sei. Eine Handlung falle (zugleich) in die Kategorie der Grundrechtsbegrenzung, wenn der verbietende Grundrechtsgehalt (Unterlassungsgebot) aktiviert wird.69 Mit diesen Grundrechtsbegrenzungen scheint Bumke die Kategorie des Grundrechtseingriffs zu meinen.70 Bumke kommt der Verdienst zu, dass er die Ausgestaltungskategorie aus der abwehrrechtlichen Dogmatik löst und als eigenständige Grundrechtskategorie etabliert.71 Allerdings umfasst sein Ausgestaltungsbegriff auch die Umgestaltung derjenigen normativen Freiheitsbereiche, die abwehrrechtlich geschützt sind, und ist daher zu weitgehend. Geht man von verschiedenen Rechtfertigungsmaßstäben zwischen Grundrechtseingriff und Grundrechtsausgestaltung aus, ist eine Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung an dieser Stelle jedoch notwendig. Ein Rückbau einer abwehrrechtlich relevanten normativen Freiheit stellt einen Eingriff und nicht – wie Bumke meint – gleichzeitig eine Ausgestaltung dar.72 Im Ergebnis sind Eingriff und Ausgestaltung zwei verschiedene Kategorien, für die Differenzierungskriterien zu entwickeln sind. Die vorgebrachten Argumente für einen Gleichlauf beider Kategorien lassen sich widerlegen. Insbesondere darf die Schwierigkeit einer Abgrenzung nicht dazu verleiten, von einer diesbezüglichen Auseinandersetzung abzusehen.

67  Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 107: „[…] eine nachteilige Berührung [kann] sowohl einen Grundrechtseingriff als auch eine Grundrechtsausgestaltung darstellen“; Bumke, Ausgestaltung, S. 47 f. 68  Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 104 f. 69  Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 104 f.; Bumke, Ausgestaltung, S. 46. 70 So jedenfalls das mehrheitliche Verständnis seiner Ausführungen: Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 111, in Fn. 451; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 215, in Fn. 225; vgl. Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, S. 62 f.: „Vielfach wird in jeder ernsthaften Beeinträchtigung ein Grundrechtseingriff und damit eine Begrenzung gesehen.“ 71  Insbesondere entwickelt er Maßstäbe für die wichtige Frage, wie eine verfassungskonforme Ausgestaltung erfolgt: Bumke, Ausgestaltung, S. 49 ff. 72  Siehe zum abwehrrechtlichen Schutz normativer Freiheit den 3. Teil, 3. Kapitel, B., II., 2 „Normative Freiheit“.

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2.  Unterscheidung nach Intensität Ähnlich wie das vorherige Modell wird ein struktureller Unterschied zwischen Eingriff und Ausgestaltung insbesondere durch ein von Schwarze vertretenes Modell abgelehnt. Danach unterscheiden sich Eingriff und Ausgestaltung nicht strukturell, sondern nur graduell.73 Jegliches grundrechtsrelevante Staatshandeln wirke sich auf die Freiheit des Grundrechtsträgers aus, so dass sich Handlungen des Staats nur aufgrund des Intensitätsgrads der Beeinträchtigung in Eingriff oder bloße Ausgestaltung einteilen lassen. Im Unterschied zum ersten Modell erkennt Schwarze ein Differenzierungsbedürfnis an, da für ihn die Ausgestaltung an geringeren verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen ist als der Grundrechtseingriff.74 Eine Ausgestaltung liegt seiner Meinung nach vor, wenn eine Regelung die Arbeitskampfwirkung unberücksichtigt lässt, nur modifiziert oder nur unerheblich beeinträchtigt. Dagegen liegt ein Eingriff vor, wenn die Regelung die Arbeitskampfwirkung nicht nur unerheblich beeinträchtige.75 Schwarzes Modell fehlt es einerseits an Praktikabilität, da es keine klaren Grenzen erkennen lässt, wann die Schwelle der Erheblichkeit überschritten wird. Andererseits knüpft Schwarze nicht wie üblich am Verbot bestimmter Handlungen an, sondern richtet seine Differenzierung ausschließlich an der Arbeitskampfwirkung aus. Dies bedeutet, dass ein Richter trotz eines Verbots eines Arbeitskampfmittels zu dem Ergebnis kommen könnte, dass kein Eingriff vorliegt, wenn sich die Arbeitskampfwirkungen nicht verschlechtert haben. Diese subjektive Einschätzung der schwierig zu bestimmbaren Wirkung befördert richterliche Fehleinschätzungen.76 Transparenter ist es, eine Differenzierung an der Einschränkung objektiver Handlungen vorzunehmen. Zudem ist wie schon zu Bayreuther auch an Schwarzes Modell zu kritisieren, dass die beschränkende Wirkung einer neuen Ausgestaltung strukturell etwas Anderes ist als ein Grundrechtseingriff, da die Ausgestaltung neue Substanz erst schafft. 3.  Unterscheidung nach subjektivem Kriterium Ebenfalls auf objektiv-bestimmbare Kriterien verzichtet ein Ansatz, der Eingriff und Ausgestaltung nach dem Regelungsziel des Staates unterscheidet. Insbesondere Dieterich vertritt dieses an subjektiven Maßstäben orientierte Kriteri73  Schwarze, JuS 1994, 653, 658; zustimmend Henssler, ZfA 1998, 1, 11, in Fn. 53; Henssler, RdA 2011, 65, 70; wohl auch Grzeszick, NZA 2013, 1377, 1378: „Intensiv ausgestaltende Regelungen bedürfen aber durchaus einer sachlichen Rechtfertigung; andernfalls sind sie mit Art. 9 III GG nicht vereinbar.“ 74  Schwarze, JuS 1994, 653, 658. 75  Schwarze, JuS 1994, 653, 658. 76 Ähnliche Kritik bei Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 63; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 27.

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um.77 Er geht von einer bloßen Ausgestaltung aus, wenn der Staat durch seine Regelung die Funktionsfähigkeit eines Grundrechtes sichern will. Verfolgt der Staat hingegen andere rechtspolitische Ziele, läge seiner Ansicht nach ein Grundrechtseingriff vor, der an den strengen Anforderungen der Eingriffskontrolle zu messen ist.78 Dieterich sieht den Sinn der Unterscheidung beider Kategorien in erster Linie darin, deutlich zu machen, wann der Staat im Wege der Ausgestaltung einen breiteren Gestaltungsfreiraum habe.79 Dieterichs Modell räumt dem Staat weite Regelungsbefugnisse ein. Er selbst kann durch Wahl seines Motivs entscheiden, ob seine Regelung an den Eingriffsschranken oder an den geringeren Voraussetzungen der Ausgestaltung zu messen ist. Die Grundrechte sind in erster Linie jedoch Abwehrrechte, so dass es primär auf die Feststellung ankommt, ob staatliches Verhalten ein Eingriff ist.80 Ein Schutz des Grundrechtsträgers ist sicherer und transparenter, wenn sich Eingriff und Ausgestaltung anhand objektiver Kriterien unterscheiden lassen.81 Zudem führt Dieterichs Modell insbesondere bei der Koalitionsfreiheit zu Abgrenzungsschwierigkeiten, da das Grundrecht ein bipolares Grundrecht ist, welches mit der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite unterschiedliche Interessen vereint. Würde man eine Ausgestaltung annehmen, weil eine Regelung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie dienen soll, würde unberücksichtigt bleiben, dass das Grundrecht nicht nur übergeordnete Zwecke verfolgt, sondern auch individuelle Interessen der Koalitionen schützt. Werden diese zugunsten der Tarifautonomie „geopfert“, liegt darin zwar ein legitimer Zweck, doch können solche Regelungen ein rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff sein. Eine Unterscheidung zwischen Eingriff und Ausgestaltung anhand des subjektiv frei wählbaren Regelungsmotivs ist daher abzulehnen.82 4.  Unterscheidung nach „Ob“ und „Wie“ Einige Autoren wollen in Bezug auf Art. 9 Abs. 3 GG die Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung danach vornehmen, ob eine staatliche 77 

Dieterich, RdA 2002, 1, 11 f.; zustimmend Jacobs, Tarifeinheit, S. 433. Dieterich, RdA 2002, 1, 11 f. 79  Dieterich, RdA 2002, 1, 11. 80 Vgl. Alexy, Grundrechte, S. 306 f., für einen engen Ausgestaltungsbegriff zur effektiven Abwehr von Eingriffen; auch Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 43 stellt primär auf den Eingriff ab. 81  Jacobs will daher im Zweifel auch von einem Eingriff ausgehen, da eine trennscharfe Abgrenzung nach Thüsings Modell nicht immer möglich sei: Jacobs, Tarifeinheit, S. 433. 82  Im Ergebnis auch ablehnend Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 53 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 290; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 160. 78 

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Handlung das „Ob“ oder das „Wie“ bestimmter Koalitionsbetätigungen regelt.83 Sie berücksichtigen jedoch nicht, dass Art. 9 Abs. 3 GG verschiedene Formen koalitionsspezifischer Betätigung und damit auch das „Wie“ einer Betätigung schützt. So obliegt es nach der Rechtsprechung des BVerfG den Koalitionen, geeignete Mittel zur Verfolgung des Koalitionszwecks selbst auszuwählen.84 Die Wahl der Art und Weise der Koalitionsmittel ist daher vom Schutzbereich umfasst. Will der Staat daher das „Wie“ bestimmter Koalitionsmittel regeln, würde er das abwehrrechtlich geschützte Wahlrecht der Koalitionen beeinträchtigen. Hierin kann keine bloße Ausgestaltung liegen, sondern ein Grundrechtseingriff, der einer verfassungsrechtlichen Eingriffsrechtfertigung zu unterziehen ist. Einen Eingriff erst annehmen zu wollen, wenn das „Ob“ betroffen und damit ein gänzliches Verbot eines Koalitionsmittels Gegenstand des staatlichen Handelns ist, führt zu einer nicht hinnehmbaren Verringerung des abwehrrechtlichen Schutzes der Grundrechte. 5.  Unterscheidung nach Hemmung grundrechtlicher Prinzipien Nach Alexy soll im Kontext normativer Freiheiten zwischen Eingriff und Ausgestaltung allgemein danach differenziert werden, ob eine staatliche Maßnahme die Realisierung eines grundrechtlichen Prinzips hemmt. Gestaltet der Staat normative Freiheiten um und beseitigt dabei eine rechtliche Kompetenz, die Ausfluss eines grundrechtlichen Prinzips ist, liegt ein Eingriff und keine bloße Ausgestaltung vor.85 Im Übrigen seien Maßnahmen, die grundrechtlichen Prinzipien dienen und das Grundrecht optimieren, Ausgestaltungen. Hingegen seien zwingende Regelungen, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können, Eingriffe.86 Alexy erkennt richtigerweise, dass die Abgrenzung zwischen Eingriff und Ausgestaltung insbesondere bei normgeprägten Grundrechten relevant ist. Der Staat schaffe den Grundrechtsträgern zivilrechtliche Kompetenzen, könne diese später beseitigen oder erschaffe sie erst gar nicht.87 Alexys Abgrenzung bezieht sich jedoch alleine auf den Bereich der normativen Freiheit. Sie lässt nicht zu, dass auch natürliche Freiheiten Gegenstand der Differenzierung werden. Wenn sich eine staatliche Regelung gleichzeitig auf natürliche wie auf normative Frei83  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 75; von Rosenstiel, Arbeitskampfrecht, S. 151, die jedoch auf S. 135 f. mit dem Schutzbereichsbeeinträchtigung und Freiheitsverkürzung noch ein weiteres Kriterium vorschlägt; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 16, Fn. 78. 84  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494. 85  Alexy, Grundrechte, S. 306. 86  Alexy, Grundrechte, S. 75 f. 87  Alexy, Grundrechte, S. 304.

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heiten bezieht, ist Alexys Modell überfordert. Trotzdem muss Alexys Gedanke, dass bei normativen Freiheiten staatliche Regelungen in einem bestimmten festgelegten Bereich ein Eingriff und keine Ausgestaltung sind, für ein allgemein gültiges Abgrenzungskriterium berücksichtigt werden.88 6.  Unterscheidung nach Erforderlichkeit einer Grundrechtsabwägung Alexy schlägt außerdem vor, eine Abgrenzung danach vorzunehmen, ob eine staatliche Regelung einer Abwägung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bedarf.89 Dadurch schließt er jedoch von der spezifischen Rechtsfolge auf eine der Kategorien. Bevor man eine Einordnung des staatlichen Handelns in eine der beiden Kategorien getroffen hat, steht die Rechtsfolge jedoch nicht fest. Gerade dies ist der Sinn der Abgrenzung zwischen Eingriff und Ausgestaltung. Daher kann dieses Differenzierungskriterium von Alexy die Abgrenzungsschwierigkeit zwischen beiden Kategorien nicht lösen.90 7.  Ausgestaltung bei normativem Verhalten und als Koordinierungsmittel Im Einklang mit dem BVerfG nimmt Butzer eine Ausgestaltung einerseits an, wenn der Staat grundrechtliche Verhaltensmöglichkeiten durch eine „(gesetzliche) Substruktur in Form von Rechtsinstituten und Normkomplexe[n]“ ermöglicht. Dadurch werde der Gesetzgeber dem objektiv-rechtlichen Bedeutungsgehalt des Grundrechts gerecht.91 Andererseits spricht sich Butzer für eine Ausgestaltung aus, wenn der Staat koordinierende Regelungen schafft, die einen Ausgleich aller betroffenen Interessen gewährleisten.92 Insbesondere die Koalitionsfreiheit bedürfe dieser Ausgestaltungsregelungen, damit die Koalitionen nicht autonom über ihr Koalitionsrecht entscheiden können und dadurch die Rechte des Koalitionspartners und außenstehender Dritter beeinträchtigen.93 In Abgrenzung zu die-

88 Kritischer Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 45 f.; ebenfalls ablehnend Bayreuther, Tarifautonomie, S. 28; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 56. 89  Alexy, Grundrechte, S. 306; zustimmend Neumann, RdA 2007, 71, 72. 90 Ähnlich Kritik durch Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 46; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 54, unzulässiger Aufbau des Kriteriums „vom Ergebnis her“; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 160 f. 91  Butzer, RdA 1994, 375, 378 f.; so auch: Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 20; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 31, als Schaffung der Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Grundrechts; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 244; Gooren, Tarifbezug, S. 128 f. 92  Butzer, RdA 1994, 375, 378 f.; ebenso Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 415. 93  Butzer, RdA 1994, 375, 378 f.

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sen beiden Fällen soll nach Maßgabe strenger Exklusivität ein Eingriff vorliegen, wenn der Staat ein Verhalten verwehrt, welches vom Schutzbereich umfasst ist.94 Butzers Modell enthält mit der Schaffung normativer Freiheiten einen wichtigen Hinweis auf die Anwendung der grundrechtlichen Ausgestaltung. Ein Grundrechtseingriff kann nur vorliegen, wenn eine grundrechtliche Substanz bereits existiert. Bedarf es normativer Betätigungsmöglichkeiten, damit Grundrechtsträger von ihrem Grundrecht Gebrauch machen können, muss der Staat im Wege normativer Ausgestaltung tätig werden.95 Beispielsweise hat der Gesetzgeber durch das TVG die Möglichkeit geschaffen, normativ wirkende Tarifverträge abzuschließen. Dadurch ist er ausgestaltend tätig geworden und hat eine normative Freiheit geschaffen, die vorher nicht existierte. Dadurch hat der Staat keinen Grundrechtseingriff vorgenommen, sondern nur die Koalitionsfreiheit ausgestaltet.96 Butzer berücksichtigt jedoch nicht, dass eine einmal geschaffene normative Freiheit zum Bestandteil des Schutzbereiches werden kann und damit abwehrrechtlichen Schutz genießt.97 Will der Staat eine bestehende normative Freiheit umgestalten, um die rechtlichen Verhaltensmöglichkeiten zu verändern, greift er unter Umständen in den Schutzbereich ein. In diesem Fall erfolgt ein Grundrechtseingriff und keine bloße Ausgestaltung.98 Butzer ist daher zuzustimmen, dass eine bloße Ausgestaltung vorliegt, wenn neue normative Freiheiten geschaffen werden oder bestehende normative Freiheiten umgestaltet werden, die nicht durch den Schutzbereich geschützt werden. Schafft der Staat allerdings eine normative Freiheit und vermindert gleichzeitig eine bestehende normative Freiheit, die abwehrrechtlich geschützt ist, liegt entgegen Butzers Modell keine Ausgestaltung, sondern ein Grundrechtseingriff vor. 94 

Butzer, RdA 1994, 375, 378. Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 59; Bayreuther, Tarif­ autonomie, S. 31 f., der jedoch die unterlassene Ausgestaltung fälschlicherweise als Eingriff einordnet. 96  Siehe dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 161 f. 97  Siehe dazu die Ausführungen zum abwehrrechtlichen Schutz der normativen Freiheit des Streiks im 3. Teil, 3. Kapitel, B, II., 2. „Normative Freiheit“. Demnach werden normative Freiheiten abwehrrechtlich geschützt, wenn sie zu dem Kernbereich an Normen gehören, die der Staat aufgrund der objektiv-rechtlichen Dimension eines Grundrechts zu schaffen hat; mit einem Beispiel zur Informationsfreiheit Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 225; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 20 nehmen einen Eingriff an, wenn der institutionelle Grundgehalt eines Grundrechts angetastet wird; für einen weiten abwehrrechtlichen Schutz normativer Freiheit Bethge, in: Der Grundrechtseingriff, 1. Bericht, S. 29. 98  Butzer bezeichnet diesen Fall stattdessen als „unangemessene, fehlgehende, mithin unzulässige, verfassungswidrige Ausgestaltung“ und lehnt die Einordnung als Grundrechtseingriff ab, Butzer, RdA 1994, 375, 380 f. 95 

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Butzers zweiter Anwendungsfall grundrechtlicher Ausgestaltung sind koordinierende Regelungen. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch meistens um Grundrechtseingriffe und keine bloße Grundrechtsausgestaltung.99 Kollisionen zwischen Grundrechtsträgern sind kein Spezifikum der Koalitionsfreiheit, sondern der Normalfall im System der Grundrechte.100 Kollidieren zwei Grundrechte miteinander und ist der Staat dazu berufen zum Schutz des einen Grundrechtsträgers einzugreifen, beschränkt er bestehende Rechte des anderen Grundrechtsträgers. Verbietet er beispielsweise spezielle Forschungsmethoden zum Schutz des menschlichen Lebens liegt ein Grundrechtseingriff in die Wissenschaftsfreiheit vor, der jedoch im Wege der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung legitimiert werden kann. Derselbe Vorgang kann im Rahmen der Koalitionsfreiheit erfolgen, wenn beispielsweise die Arbeitgeberkoalition oder Dritte zu stark beeinträchtig werden und der Staat zu deren Schutz abwehrrechtlich geschützte Rechte der Arbeitnehmerkoalition beschränkt. Dieser Grundrechtseingriff kann nach Maßgabe der Eingriffsvoraussetzungen in die Koalitionsfreiheit legitimiert werden. Im Ergebnis muss daher eine pauschale Einordnung koordinierender Regelungen als Ausgestaltung zurückgewiesen werden. In Übereinstimmung mit dem ersten Anwendungsfall Butzers kann nur die Schaffung oder unter Umständen die Veränderung normativer Freiheit nach Maßgabe koordinierender Erwägungen eine bloße Ausgestaltung sein. Dazu darf der Staat jedoch nicht in abwehrrechtlich geschützte normative Freiheiten eingreifen. Dann würde durch die koordinierende Regelung ein Eingriff erfolgen. 8.  Ausgestaltung bei normativer Freiheit und Eingriff bei natürlicher Freiheit Drohsel ordnet jegliches staatliche Handeln, das normative Freiheiten betrifft, der Ausgestaltungskategorie zu. Schränkt der Staat hingegen natürliche Freiheiten ein,101 nimmt sie einen Grundrechtseingriff an.102 Dieser Ansatz berücksich99  Siehe dazu ausführlich Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 74.1; kritisch ebenfalls Bayreuther, Tarifautonomie, S. 31; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 61 ff., der insbesondere darauf hinweist, dass der Arbeitskampf nicht nur eine normative, sondern auch eine natürliche Freiheit ist und diesbezüglich jede koordinierende Regelung ein Eingriff ist (S. 64); kritisch auch Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 293 f., der zur Recht hervorhebt, dass die Koordinierung unterschiedlicher Interessen durch Grundrechtseingriffe oder -ausgestaltungen erfolgen kann; so auch die Kritik von Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 161; ebenfalls kritisch Mager, Einrichtungsgarantien, S. 244. 100  Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 408; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 62; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 293; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 161. 101  Siehe zur Unterscheidung zwischen natürlicher und normativer Freiheit die Ausführungen zum Streik im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I. „Einordnung“.

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tigt zu Recht, dass normative Freiheiten der staatlichen Ausgestaltung bedürfen. Rechtlich relevantes Handeln muss im Gegensatz zu natürlichen Freiheiten erst durch eine normative Ausgestaltung geschaffen werden.103 Beeinträchtigt staatliches Handeln hingegen natürliche Freiheiten, liegt grundsätzlich ein Grundrechtseingriff vor.104 Die Grundrechtsträger sind von sich aus fähig, von ihren natürlichen Fähigkeiten umfassenden Gebrauch zu machen, so dass staatliches Handeln nicht erforderlich ist. Diesbezüglich aktiviert staatliches Handeln die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte, so dass der Staat der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung genügen muss. 102

Zu kritisieren ist jedoch die pauschale Einordnung der normativen Freiheit als Bereich grundrechtlicher Ausgestaltung. Wie bereits erläutert, ist auch der normative Freiheitsbereich eines Grundrechts in einem Kernbereich abwehrrechtlich geschützt. Gestaltet der Staat diesen Bereich um, erfolgt keine bloße Ausgestaltung, sondern ein Grundrechtseingriff.105 Daher deckt Drohsels Ansatz nicht den gesamten Bereich möglicher Eingriffskonstellationen ab. 9.  Eingriff bei Aktivierung des Abwehrrechts Schließlich lässt sich auch danach differenzieren, ob das staatliche Handeln die Abwehrfunktion des jeweiligen Grundrechts aktiviert.106 Ein Grundrechtseingriff und keine Grundrechtsausgestaltung sei demnach anzunehmen, wenn der Staat den Schutzbereich der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension ne102 

Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 71; ähnlich Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 65, nach dem ein Eingriff unmittelbar grundrechtliche Schutzgüter beschränkt und die Ausgestaltung bei normgeprägten Grundrechten das Schutzgut rechtlich konstituiert. 103  Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 7; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 223 f.; Bumke, Ausgestaltung, S. 41 f.; Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 403; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 244. 104  Bayreuther, Tarifautonomie, S. 34; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 64; vgl. Däubler, Gutachten Tarifeinheit, S. 20 f. 105 Dies erkennt Drohsel selbst auch und fordert für den normativen Bereich eine Grenze, bei der die Ausgestaltung zu einem Eingriff wird. Diese Grenze entnimmt sie richtigerweise dem objektiv-rechtlichen Bereich. Auf ihr Differenzierungskriterium bezüglich Eingriff und Ausgestaltung wirken sich diese Feststellungen jedoch nicht aus. Siehe dazu Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 71 f. 106  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 288; Engels, RdA 2008, 331, 333; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 157; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 123 f.; Höfling/Engels, ZG 2008, 250, 255 f.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 43; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 54 f. und S. 158 f.; Krause, in: Giesen/Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 51; Hopfner, Grundgesetz und Tarifeinheit, S. 207, der jedoch nur für natürliche Freiheit einen abwehrrechtlichen Schutz anerkennt und für normative Freiheiten ausschließlich die Grundrechtsausgestaltung heranzieht.

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gativ beeinträchtigt.107 Diese Ansicht hebt den unterschiedlichen Ursprung der Eingriffs- und der Ausgestaltungskategorie hervor. Die Eingriffskategorie sei Bestandteil der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte und die Ausgestaltungskategorie die Handlungsform der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension.108 Dieses Modell umfasst neben Grundrechten mit natürlichen Freiheiten insbesondere die Fälle normgeprägter Freiheiten mit abwehrrechtlichem Schutz. Die pauschale Einordnung staatlichen Handelns auf dem Gebiet normativer Freiheit als Ausgestaltung kann durch das Kriterium abwehrrechtlicher Relevanz nicht erfolgen. Die staatliche Umgestaltung normativer Freiheiten kann eine Ausgestaltung oder ein Grundrechtseingriff sein. Dies hängt davon ab, ob die Umgestaltung das Abwehrrecht des Grundrechts aktiviert. Die wichtige Folgefrage ist daher, wann bestehenden normativen Freiheiten ein abwehrrechtlicher Schutz zukommt.109 Auch Bertke wählt ein ähnliches Abgrenzungskriterium, um dadurch einen abwehrrechtlichen Schutz der Grundrechte möglichst umfassend zu gewährleisten. Als Kriterium für einen Grundrechtseingriff schlägt sie die Beeinträchtigung bestehender Grundrechtssubstanz vor.110 Damit differenziert sie zwar nicht ausdrücklich anhand der Aktivierung des Abwehrrechts, doch bezieht sich ihre Formel neben natürlichen Grundrechtsfreiheiten auch auf konkrete Rechtspositionen, die den Grundrechtsträgern durch die normativen Ausgestaltungen zur Verfügung gestellt wurden.111 Bertke berücksichtigt in Bezug auf ihre Abgrenzungsformel jedoch nicht, dass nicht nur den konkreten Rechtspositionen ein abwehrrechtlicher Schutz zukommen kann, sondern unter Umständen auch abstrakten Normenkomplexen, soweit sie aufgrund der objektiv-rechtlichen Dimension in einem Kernbereich einzurichten sind.112

107 

Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 288. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 278 f.; ähnlich Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 155 f., der von „anderen Grundrechtsdimensionen“ spricht (S. 159). 109  Siehe dazu im Überblick den 3. Teil, 3. Kapitel, B, II., 2. „Normative Freiheit“. 110  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 118; auch Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 9, Rn. 31, als Verkürzung des Schutzbereiches; ähnlich Hufen, NZA 2014, 1237, 1238. 111  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 118. 112  Siehe dazu die Ausführungen zum abwehrrechtlichen Schutz der normativen Freiheit des Streiks im 3. Teil, 3. Kapitel, B., II., 2. „Normative Freiheit“. Angesichts dieses Schutzes lehnt Bertke wohl auch die Möglichkeit eines Grundrechtseingriffs für den Kernbestand grundrechtlicher Gewährleistung nicht ausdrücklich ab: siehe Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 219. 108 

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V.  Abschließende Stellungnahme: Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung anhand des Abwehrrechts Zunächst ist festzuhalten, dass die Einhaltung einer klaren Perspektive wichtig ist. So kann eine staatliche Handlung in mehrdimensionalen Konstellationen für den einen eine Ausgestaltung und für einen anderen ein Eingriff sein.113 Will man jedoch die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer staatlichen Regelung in Bezug auf einen bestimmten Grundrechtsträger untersuchen – wie vorliegend das Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks –, muss die Beurteilung aus einer Perspektive erfolgen. Entscheidend ist, ob das arbeitsvertragliche und das deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks in die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer und der nichtgewerkschaftlichen Koalitionen eingreift. Ob das Verbot zugleich aus Sicht eines Dritten eine Ausgestaltung ist, ist für diese Beurteilung nicht relevant. Entscheidend ist die Feststellung, dass das Verbot ein Eingriff ist, sodass in diesem Fall die besonderen Rechtfertigungslasten der Eingriffsdogmatik zu beachten sind. Eingriff und Ausgestaltung sind zwei strukturell unterschiedliche Handlungsformen des Staates, die sich aus der Sicht eines Grundrechtsträgers ausschließen.114 Der Eingriff ist ein Element der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte. Die Ausgestaltung ist dagegen eine Handlungsform der objektiv-rechtlichen Dimension seines Grundrechts.115 Die Trennung zwischen Eingriff und Ausgestaltung ist zudem erforderlich, da der Staat grundsätzlich für einen Eingriff strengere verfassungsrechtliche Voraussetzungen erfüllen muss.116 Als Differenzierungskriterium ist die Aktivierung des Abwehrrechts zu wählen. Ein Eingriff liegt vor, wenn staatliches Handeln das Abwehrrecht eines Grundrechts aktiviert. Eine bloße Ausgestaltung erfolgt dagegen, wenn der Staat auf Grundlage der objektiv-rechtlichen Dimension normative Freiheiten schafft oder verändert, ohne dabei das Abwehrrecht zu aktivieren. 113  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 215 ff.; Pietzcker, in: FS Dürig, S. 362 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 56; siehe auch BAG, Urt. v. 22. 6. 2010, 1 AZR 179/09, NZA 2010, 1365, 1367, in dem das Gericht berücksichtigt, dass es bei einer Ausgestaltung mit Drittwirkung kollidierende Grundrechte des Arbeitgebers im Wege praktischer Konkordanz berücksichtigen muss. Siehe weiterführend den 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 2., b) „Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung“ und am Beispiel der Suspendierungswirkung den 4. Teil, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“. 114  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 54 f.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 135 f. 115  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 288 f. 116  Siehe eingehender zu den Voraussetzungen beider Handlungsformen 4. Teil, 1. Kapitel, B., I. „Abstrakte Darstellung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 GG“.

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Beeinträchtigt der Staat die umfassend durch das Abwehrrecht geschützten natürlichen Freiheiten eines Grundrechts, liegt immer ein Grundrechtseingriff vor.117 Bezüglich normativer Freiheiten muss hingegen genau abgegrenzt werden, wann ein abwehrrechtlicher Schutz besteht.118 Schafft der Staat einen normativen Freiheitsbereich zum ersten Mal, liegt immer eine Ausgestaltung vor, da eine bisher nicht existierende normative Freiheit keinen abwehrrechtlichen Schutz erfahren kann.119 Regelt der Staat bestehende normative Freiheiten erneut – auch Umgestaltung genannt120 –, wird das Abwehrrecht nur aktiviert, wenn der Staat das grundrechtlich geforderte Minimum normativer Ausgestaltung zurückbaut.121 Der Umfang dieses Minimums wird durch die Vorgaben der objektiv-rechtlichen Dimension des jeweiligen Grundrechts ermittelt, beispielsweise durch den Kernbereich der grundrechtlichen Schutzpflicht.122 Über dieses Minimum hinaus besteht kein abwehrrechtlicher Schutz der einfachrechtlichen Normen, um die Trennung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht aufrecht zu erhalten. Gestaltet der Staat diese Normen um, handelt es sich nicht um einen Grundrechtseingriff, sondern eine bloße Ausgestaltung in Form einer Umgestaltung.123 Das Abwehrrecht wird darüber hinaus dann aktiviert, wenn konkrete subjektive Rechtspositionen entfallen, die der Grundrechtsträger auf Grundlage einer bestehenden normativen Freiheit bereits erworben hatte. In diesem Fall erfolgt ebenfalls ein Grundrechtseingriff.124 117  Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 64; vgl. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 157; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 61. 118  Zum abwehrrechtlichen Schutz normativer Freiheiten siehe die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., II., 2. „Normative Freiheit“. 119  Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 62; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 170; vgl. Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn.124, wonach auch kein Eingriff vorliegt, wenn der Staat hinter dem notwendigen Kernbereich normativer Freiheit zurückbleibt. 120  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 179; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 157 f. 121 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 219; vgl. Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 72; vgl. Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 128 f. für einen Eingriff bei Unterschreitung eines „An-sich-Mindestbetätigungsrecht“. 122 Siehe zur Schutzpflicht und einem legitimen Anwendungsbereich des Kernbereichs eines Grundrechts den 3. Teil, 4. Kapitel, C., I. „Grundrechtliche Schutzpflicht im Allgemeinen“. 123 Vgl. Butzer, RdA 1994, 375, 381: „Bewirkt eine Ausgestaltung solche nicht funktionale Belastungen, ist sie aber nicht etwa automatisch als Eingriff zu charakterisieren […].“. 124  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 220; Engels, RdA 2008, 331, 335; Butzer, RdA 1994, 375, 381.

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Auf Grundlage dieses Konzeptes ist die pauschale Ansicht des BVerfG und des BAG abzulehnen, dass eine Ausgestaltung immer erfolgt, wenn „koordinierende Regelungen“ das Verhältnis zwischen zwei Grundrechtsträgern regeln.125 Kollisionslagen stellen übliche Konflikte zwischen Grundrechten dar, die der Staat zu lösen hat. In erster Linie greift er hierfür zum Mittel des Grundrechtseingriffs. Beeinträchtigt eine koordinierende Regelung ein Verhalten, das durch den Schutzbereich abwehrrechtlich geschützt ist, liegt ein Eingriff vor.126 Dieser kann jedoch selbstverständlich gerechtfertigt sein. VI.  Abschließende Einordnung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum nichtgewerkschaftlichen Streik Was bedeutet dieses Modell für den durch Art. 9 Abs. 3 GG abwehrrechtlich geschützten nichtgewerkschaftlichen Streik? Sind das deliktsrechtliche und das arbeitsvertragliche Verbot bloße Ausgestaltungen oder Eingriffe? Dazu ist eine Prüfung aus der Perspektive der betroffenen nichtgewerkschaftlichen Arbeitnehmer und Koalitionen vorzunehmen. Die relevanten Urteile des BAG werden nur hinsichtlich ihrer generellen Aussagen zum nichtgewerkschaftlichen Streik analysiert. Weitere wichtige Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 3 GG wie das Vorliegen einer verhandlungsfähigen Koalition können weitestgehend nicht überprüft werden, da das BAG hierzu überwiegend keine genauen Feststellungen getroffen hat.127 1.  Nichtgewerkschaftlicher Streik und Deliktsrecht: Grundrechtseingriff Das BAG hat in seinem Urteil vom 20. 12. 1963 festgestellt, dass der nichtgewerkschaftliche Streik generell zu einem deliktsrechtlichen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB führe. Als Haftungsursache benannte das Gericht einen rechtswidrigen Eingriff in das Schutzgut des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs des Arbeitgebers.128 Das Gericht wies richtigerweise darauf hin, 125  Ähnliche Kritik in der Literatur: grundlegend Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 61; Bumke, Ausgestaltung, S. 43 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 293 f.; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 244. 126 So auch Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 80 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 293 f.; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 62 f.; vgl. Kahl, Der Staat 2004, 167, 175, Fn. 46. 127  Siehe dazu insbesondere abstrakt den 3. Teil, 2. Kapitel, A., III: „Koalitionsbegriff“. 128  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 886. Siehe ausführlich zur Entwicklung der deliktsrechtlichen Rechtsprechung den 1. Teil, 3. Kapitel, A., II. „Deliktsrechtliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks“.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

dass „ein gesetzliches Verbot wilder Streiks nirgends ausdrücklich ausgesprochen ist.“129 Somit handelt es sich bei dem Verbot nicht um eine bloße Gesetzeswiedergabe. Vielmehr war das BAG darauf angewiesen, mittels Auslegung des bestehenden Rechts das gewünschte Ergebnis herzuleiten. Das hierfür relevante Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb aus § 823 Abs. 1 BGB stellt ein sogenanntes Rahmenrecht dar. Für dieses muss zwingend eine umfassende Güterabwägung erfolgen, um die Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung positiv festzustellen. In diese fließen insbesondere die Grundrechte der beteiligten Personen ein.130 Dies muss auch für das Verhältnis zwischen dem durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Streik und den betroffenen Arbeitgeber- und Drittgrundrechten gelten.131 Das BAG nahm die erforderliche Abwägung hingegen nicht vor und berücksichtigte nicht, dass der nichtgewerkschaftliche Streik in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3  GG fällt.132 Zwar mag man dem Gericht zugutehalten, dass es den grundrechtlichen Schutz des Streiks erst durch ein späteres Urteil vom 10. 06. 1980 herausarbeitete.133 Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Streik nicht vorher schon durch Art. 9 Abs. 3 GG erfasst wurde – zumal das BAG seit der Zuordnung des Streiks zur Koalitionsfreiheit weiterhin am deliktsrechtlichen Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks festgehalten hat.134 Im Ergebnis führt die deliktsrechtliche Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks zu einem zwingenden und generellen Verbot dieser Streikform.135 Es ist Seiter zuzustimmen, dass das BAG 129  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885; so auch Weller, AuR 1967, 76, 79. 130 Vgl. Förster, in: BeckOK BGB, § 823 BGB, Rn. 188 und 259; umfassende Darstellung bei Sack, Recht am Gewerbebetrieb, S. 149 ff.; ebenfalls ständige Rechtsprechung: siehe nur BGH, Urt. v. 7. 2. 1984, VI ZR 193/82, NJW 1984, 1607, 1609: „[…] die Rechtswidrigkeit des Eingriffs [ist] in jedem Einzelfall unter Heranziehung aller Umstände durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu prüfen“; BGH, Urt. v. 21. 4. 1998, VI ZR 196/97, NJW 1998, 2141, 2143; BGH, Urt. v. 19. 4. 2005, X ZR 15/04, NJW 2005, 2766, 2770. 131  Speziell zum „wilden Streik“ Badura, AöR 1973, 153, 162; allgemein zum Streik: Green, NZA 2016, 274, 276; Konzen, AcP 1977, 473, 488; Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 22, Rn. 46; Sack, Recht am Gewerbebetrieb, S. 157; vgl. zum Sympathiestreik Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 200; am Beispiel aktiv produktionsbehindernder Arbeitskampfmaßnahmen Lübbe-Wolff, DB 1988, Beilage Nr. 9, 1, 6. 132  So auch die Bewertung des Urteils durch Czycholl/Frieling, ZESAR 2011, 322, 326; ähnlich Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396 zur fehlenden Verhältnismäßigkeitsprüfung. Denselben Fehler beging das BAG auch bei der deliktsrechtlichen Einordung tarifwidriger Streiks (BAG, Urt. v. 4. 5. 1955, 1 AZR 493/54, NJW 1955, 1373). Auch hier nahm das BAG keine grundrechtliche Abwägung vor und berücksichtigte nicht, dass auch der nichttarifbezogene Streik vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst ist (siehe zum Umfang des Schutzbereiches des Art. 9 Abs. 3 GG den 3. Teil, 3. Kapitel, A., IV. „Zusammenfassung“). 133  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643 f. 134  BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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„damit im Wege richterlicher Rechtsfortbildung eine Verbotsnorm aufgestellt und nach Deliktsrecht abgesichert hat.“136 135

Ist darin ein Grundrechtseingriff zu sehen? Durch die Anordnung der deliktsrechtlichen Haftung hat das BAG die natürliche Freiheit der Arbeitnehmer eingeschränkt, nichtgewerkschaftlich ihre Arbeit niederlegen zu können.137 Das Abwehrrecht der Koalitionsfreiheit bezieht sich auch auf den Streik als natürliche Freiheit.138 Durch diese Beeinträchtigung wird das Abwehrrecht aktiviert,139 so dass nach dem hier gewählten Differenzierungskriterium ein Grundrechtseingriff erfolgte.140 Das BAG führt als weiteres Argument für den deliktsrechtlichen Schadensersatz an, dass das Streikrecht nichtgewerkschaftlicher Koalitionen nicht grund135  ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 1.:„generelles Unwerturteil“; vgl. Seiter, RdA 1986, 165, 185; Konzen, ZfA 1970, 159, 177 f.: „widerrechtlich“; Konzen, AcP 1977, 473, 489: „deliktisches Kampfverbot“; anders hingegen Zachert/Binkert, NZA 1998, 337, die irrtümlicherweise annehmen, „daß der nach allgemeinen arbeitskampfrechtlichen Grundsätzen nicht zulässige Streik insofern nicht ,verboten‘, sondern eben (nur) nicht privilegiert ist.“ 136  Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 10. 137 Vgl. Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 323, die zu Recht betonen, dass die deliktsrechtliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks zu einer Beschränkung der Streikfreiheit führt. Siehe zum Begriff der Streikfreiheit die Erläuterungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“, wonach die Streikfreiheit mit einem abwehrrechtlichen Schutz der natürlichen Arbeitsniederlegung vor staatlicher Einmischung gleichzusetzen ist. 138 Siehe zum abwehrrechtlichen Schutz der natürlichen Freiheit des Streiks durch Art. 9 Abs. 3 GG die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., II., 1. „Natürliche Freiheit“. 139  Vgl. zur Aktivierung der Abwehrfunktion durch zwingende Vorschriften des Privatrecht instruktiv Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 3 GG, Rn. 61. 140 Vgl. Ramm, AuR 1964, 353 für eine „Verletzung des Art. 9 Abs. 3 GG“; vgl. Dumke, Streikrecht ESC, S. 230 f., der die Verkürzung des Schutzbereiches auf gewerkschaftliche Streiks als Grundrechtseingriff einordnet; vgl. bezüglich der Anwendung des § 823 BGB auf Sympathiestreiks Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 161 f.; vgl. zu Sympathiestreiks und Flashmobs Bertke, NJW 2014, 1852, 1853; vgl. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 34 für einen Eingriff bei Beeinträchtigung der natürlichen Freiheit des Streiks. Kritisch zur deliktsrechtlichen Beurteilung des nichtgewerkschaftlichen Streiks: Seiter, RdA 1986, 165, 185; Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 862; Konzen, ZfA 1970, 159, 178 ff. Allgemein gegen die deliktsrechtliche Beurteilung des Arbeitskampfes: Lübbe-Wolff, DB 1988, Beilage Nr. 9, 1, 4; Richardi, in: FS Säcker, S. 290 ff. Generell für einen Grundrechtseingriff durch die Bindung des Streiks an Gewerkschaften: Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 111 und 115; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 70; kritisch auch Konzen, AcP 1977, 473, 488: „nicht nachweisbar“. Vgl. zu einer generellen Einordnung der Arbeitskampfregeln als Grundrechtseingriff: Blanke, NZA 1990, 209, 213; Friauf, RdA 1986, 188, 192: „Gestaltung von Grundrechtsschranken“; Schwerdtfeger, Koalitionsfreiheit, S. 31, der die „Hauptregeln des unterverfassungsrechtlichen Arbeitskampfrechts“ als Eingrenzung der grundrechtlichen Arbeitskampffreiheit bezeichnet.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

rechtlich geschützt sei.141 Das Streikrecht ist jedoch nur für das vertragliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer relevant.142 Das BAG versucht demgegenüber auch das deliktsrechtliche Verbot mit einem fehlenden Streikrecht zu begründen. Für das Deliktsrecht ist allerdings nur entscheidend, dass die nichtgewerkschaftliche Streikfreiheit grundrechtlich geschützt ist. Diese im Verhältnis zwischen Staat und Grundrechtsträger relevante natürliche Freiheit wird, wie bereits dargelegt, durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt.143 Diesen grundrechtlichen Schutz hätte das BAG in seiner deliktsrechtlichen Beurteilung zumindest als Belang in seine Abwägung einstellen müssen. Neben der fehlenden Interessenabwägung begründet das BAG zudem nicht, was genau den deliktsrechtlichen Unrechtsgehalt eines „rechtswidrigen Streiks“ ausmachen soll. Die Arbeitsniederlegung führt mit dem Verstoß gegen den Arbeitsvertrag zu zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen. Vertragsrechtlich begründete Pflichten werden jedoch grundsätzlich nicht durch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb aus § 823 Abs. 1 BGB geschützt. Hierfür ist ausschließlich das vertragliche Schadensersatzrecht zuständig.144 Eine zusätzliche Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB, parallel zum vertragsrechtlichen Schadensersatz, sollte aus der nichtgewerkschaftlichen Arbeitsniederlegung wegen der Zivilrechtsdogmatik nicht folgen.145 Allenfalls § 826 BGB kann in Ausnahmefällen Anwendung finden.146 Eine Haftung nach § 826 BGB in besonderen Fällen der Sittenwidrigkeit würde im Übrigen mit der deliktsrechtlichen Bewertung des Streiks in der Weimarer Republik übereinstimmen.147 141  BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883: „Ein weitergehendes Streikrecht läßt sich Art. 9 III GG nicht entnehmen“. 142  Siehe zur Unterscheidung der Begriffe Streikrecht und Streikfreiheit die Ausführungen im 1. Teil, 1. Kapitel, B. „Begriff des Streiks“. 143  Siehe zum umfassenden abwehrrechtlichen Schutz der natürlichen Streikfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG den 3. Teil, 3. Kapitel, C. „Zwischenergebnis“. 144  Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 867 f.; Konzen, AcP 1977, 473, 489 f.; Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 22, Rn. 43; vgl. Buchner, Gewerbebetrieb, S. 147 ff. 145 Vgl. allgemein zum „rechtswidrigen Streik“: Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 867 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 349; vorsichtiger Wagner, in: MüKo VI, § 823 BGB, Rn. 357; Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 22, Rn. 43; Sack, Recht am Gewerbebetrieb, S. 244; a.A. Förster, in: BeckOK BGB, § 823 BGB, Rn. 247 und 250. 146  Wagner, in: MüKo VI, § 823 BGB, Rn. 357; vgl. Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 867; Richardi, in: FS Säcker, S. 298; vgl. Kluth, in: Berliner Kommentar GG, Art. 9, Rn. 238. 147  Für eine Beurteilung nach § 826 BGB ebenfalls: Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 867; Richardi, in: FS Säcker, S. 298; Ramm, AuR 1971, 97, 105.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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2.  Nichtgewerkschaftlicher Streik und Arbeitsvertrag Im Rahmen der arbeitsvertraglichen Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG ist auf zwei Bereiche einzugehen. Zuerst stellt sich die Frage, ob die Annahme des BAG, dass nur der gewerkschaftliche und nicht der nichtgewerkschaftliche Streik die Arbeitspflicht suspendiert, zur Grundrechtsausgestaltung gehört (a)). Im Anschluss wird erörtert, zu welchem Bereich die richterliche Bewertung von arbeitsrechtlichen Sanktionsmitteln wie verhaltensbedingten Kündigungen gehört, die eine Folge der fehlenden Suspendierungswirkung sein können (b)). a)  Suspendierungswirkung: Grundrechtsausgestaltung Das BAG ist der Ansicht, dass der nichtgewerkschaftliche Streik nach bisheriger Rechtslage mangels einer arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung zu einem Bruch des Arbeitsvertrages führt.148 Diese Feststellung greift im Gegensatz zur deliktsrechtlichen Bewertung nicht in Grundrechte ein.149 Vertragsrechtliche Beschränkungen grundrechtlicher Freiheit werden auf Ebene des Zivilrechts durch die Grundrechtsträger selbst festgelegt und sind kein dem Staat zurechenbares Verhalten.150 Auch das bisherige Fehlen einer Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks ist kein Grundrechtseingriff. Ein Versäumnis grundrechtlicher Ausgestaltung in Form einer normativen Freiheitsanordnung kann nur gegen die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte verstoßen 148  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; ausführlich BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237; die Zulässigkeit des Streiks einer „ad-hoc-Koalition“ hatte das BAG zuvor mangels Entscheidungserheblichkeit noch offengelassen: BAG, Urt. v. 17. 12. 1976, 1 AZR 772/75, NJW 1977, 918; Andeutungen bereits in BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885 f. Siehe zur Entwicklung der diesbezüglichen Rechtsprechung den 1. Teil, 3. Kapitel, A., III. „Arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks“. 149 Vgl. Bertke, NJW 2014, 1852, 1854: „Die gerichtliche Durchsetzung eines auf Grund privatautonomer Vereinbarung anwendbaren Leistungsstörungsrechts stellt keinen staatlichen Eingriff in die Koalitionsfreiheit dar.“; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 157; vgl. Höfling, in: FS Friauf, S. 386, der die rechtsgestaltenden Wirkungen des Arbeitskampfes als Ausgestaltung einstuft; a.A.: Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 304 f., der an anderer Stelle allerdings richtigerweise darauf hinweist, dass die zivilrechtlichen Wirkungen des Arbeitskampfes nicht aus der abwehrrechtlichen Dimension, sondern aus der Schutzpflicht abzuleiten sind (S. 278 f.). Somit müsste es sich bei der Suspendierungswirkung um eine Ausgestaltung handeln. Wohl einen Eingriff durch die zivilrechtlichen Beschränkungen befürwortet Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 112: „Streikrestriktionen“. 150 Siehe dazu die Ausführungen von Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 157 ff. zum Sympathiestreik; ebenfalls zu zivilrechtlichen Beschränkungen Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 303 f.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

(Grundrechtsverstoß) und greift nicht in Grundrechte ein.151 Zudem erfordert die grundrechtliche Schutzpflicht für den Streik bisher gerade nicht, dass auch dem nichtgewerkschaftlichen Streik generell eine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung zukommen muss.152 Nur den gewerkschaftlichen Streik hat der Große Senat des BAG durch eine normative Grundrechtsausgestaltung mit der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung versehen.153 Wie ist dieses Urteil aus Perspektive des nichtgewerkschaftlichen Streiks einzuordnen? Durch die Verknüpfung der Suspendierungswirkung mit dem gewerkschaftlichen Streik klammerte das BAG den nichtgewerkschaftlichen Streik zumindest aus.154 Allerdings besaß ein Streik vor dem Beschluss des Großen Senats generell keine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung. Die Streikenden mussten ihren Arbeitsvertrag vor einer Arbeitsniederlegung kündigen, um nicht vertragswidrig zu handeln. Somit verfügte keine einzige Streikform – weder der gewerkschaftliche, noch der nichtgewerkschaftliche – über eine normative Freiheitskomponente.155 Für den nichtgewerkschaftlichen Streik bedeutet dies, dass er vor dem Urteil keine abwehrrechtlich geschützte normative Substanz besaß, in die das BAG im Zuge der normativen Ausgestaltung des gewerkschaftlichen Streiks hätte eingreifen können. Daher stellt sich der Beschluss des Großen Senats des BAG vom 28. 01. 1955 aus Sicht des nichtgewerkschaftlichen Streiks nicht als Grundrechtseingriff dar. Es handelt sich insgesamt um eine Grundrechtsausgestaltung des BAG. Für den gewerkschaftlichen Streik bedeutet der Beschluss des Großen Senats hingegen, dass dieser nun eine eingriffsrelevante normative Freiheit besitzt. Würde der Staat die durch das Urteil angeordnete zivilrechtliche Suspendierungswirkung zurücknehmen, wäre dies ein Grundrechtseingriff in die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer. Das durch die Schutzpflicht geforderte und damit abwehrrechtlich geschützte Minimum normativer Freiheit würde angetastet 151  Es mangelt dafür an einer eingriffsfähigen Substanz die abwehrrechtlich geschützt ist. Siehe nur Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 124; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 40, Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 88. 152  Siehe dazu den 3. Teil, 4. Kapitel, C. „Streik als Bezugspunkt der Schutzpflicht“. 153 BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882; zur Einordnung als Ausgestaltung: Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 82; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 116 und S. 150; vgl. Richardi, NZA 2014, 1233, 1236; vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 172; vgl. allgemein zur Koalitionsfreiheit Ladeur, AöR 2006, 643, 651. 154 Vgl. Hohenester, Grenzen der Streikfreiheit, S. 43, der jedoch fordert, die Argumente des Großen Senats auch für den nichtgewerkschaftlichen Streik gelten zu lassen und für diesen auch die Suspendierungswirkung anzuerkennen (S. 36 f.). 155  Dazu im 1. Teil, 2. Kapitel, B. „Bewertung des Streiks durch das Bundesarbeitsgericht“.

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werden.156 An späterer Stelle wird ergänzend zum gewerkschaftlichen Streik in einem Exkurs erläutert, welche grundrechtliche Bedeutung die Anordnung der Suspendierungswirkung für die Grundrechte des Arbeitgebers hatte. Dazu wird ein Perspektivenwechsel vorgenommen, der dazu führt, das eine normative Ausgestaltung aus Sicht eines Anderen – in diesem Fall des Arbeitgebers als Vertragspartner des Streikenden – nicht der Grundrechtsausgestaltung, sondern der Kategorie des Grundrechtseingriff zugeordnet werden muss.157 b)  Arbeitsrechtliche Sanktionsmittel: Möglichkeit einer Grundrechtsbeeinträchtigung Neben der Bewertung als Arbeitsvertragsbruch stellt sich die Frage, welche arbeitsvertraglichen Konsequenzen das BAG aus einem nichtgewerkschaftlichen Streik ziehen darf. In den beiden dafür relevanten Urteilen des BAG158 vom 21. 10. 1969 und vom 14. 02. 1978 hielt es außerordentliche Kündigungen nach § 626 Abs. 1 BGB durch die Arbeitgeber für rechtmäßig. Im ersten Urteil führte das Gericht aus: „Die gemeinsame Arbeitsniederlegung durch die Klägerin und die übrigen Arbeitnehmerinnen war somit, wie das LAG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu Recht ausführt, als sogenannter ,wilder‘ Streik rechtswidrig […]. Ohne Rechtsirrtum hat das LAG weiter angenommen, daß bei einem rechtswidrigen Streik der Arbeitgeber berechtigt ist, dem streikenden Arbeitnehmer, falls ein wichtiger Grund vorliegt, zu kündigen. Das folgt daraus, daß das an sich unabdingbare gesetzliche Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grunde, wie es u.a. in § 626 BGB zum Ausdruck kommt, nach der Rechtsprechung des BAG lediglich für den Fall des rechtmäßigen gewerkschaftlichen Streiks eingeschränkt ist […]. Liegt der vorgenannte Fall dagegen nicht vor, so verbleibt es bei der Grundregel des § 626 BGB und den übrigen das Recht zur außerordentlichen Kündigung betreffenden Vorschriften.“159

156  Siehe zum abwehrrechtlichen Schutz der normativen Freiheit des Streiks die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., II., 2. „Normative Freiheit“ und ergänzend zum grundrechtlich geforderten Minimum normativer Freiheit des Streiks durch die Schutzpflicht die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 157  Siehe dazu den 4. Teil, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“. 158  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237. Siehe zum Sachverhalt beider Urteile die Erläuterungen im 1. Teil, 3. Kapitel, A., III. „Arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks“. 159  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486, Hervorhebung durch den Verfasser.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Hierzu ist anzumerken, dass das BAG jedenfalls berücksichtigt, dass die Verletzung des Arbeitsvertrages durch einen nichtgewerkschaftlichen Streik nicht immer eine Kündigung rechtfertigt. Neben der verhaltensbedingten Pflichtverletzung ist erforderlich, dass ein wichtiger Grund vorliegt. Zu diesem führt das BAG im zweiten Urteil weiter aus: „Es kommt […] auch bei der Kündigung von Arbeitnehmern wegen Teilnahme an einem rechtswidrigen Streik auf eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und auf eine Abwägung der Interessen beider Vertragsteile an der Fortsetzung oder Nichtfortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist an; diese Abwägung ist auch bei einem zugrundeliegenden kollektiven Streikgeschehen nicht entbehrlich.“160

Somit kommt es bei der Beurteilung des wichtigen Grundes – ähnlich wie im Rahmen des „Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ – auf eine Interessenabwägung an. Der wichtige Grund ist ein offener Rechtsbegriff, der als Generalklausel offen für die Berücksichtigung grundrechtlicher Wertungen ist.161 Damit muss das BAG im Rahmen des wichtigen Grundes zumindest berücksichtigen, dass der nichtgewerkschaftliche Streik als natürliche Freiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird.162 Diese Vorgabe hat das BAG in den beiden zitierten Urteilen nicht berücksichtigt, da es zum Zeitpunkt der Urteile den grundrechtlichen Schutz des Streiks noch gar nicht anerkannt hatte.163 Insofern hat das BAG in beiden Urteilen den grundrechtlichen Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks als natürliche Freiheit verkannt. Wenn Gerichte übersehen, dass bei der Anwendung von Vorschriften des Zivilrechts Grundrechte zu beachten sind, ist ein Grundrechtsverstoß anzunehmen, wenn das Urteil auf diesem Abwägungsfehler beruht.164 Anders als bei der Anordnung zwingender Vorschriften im Privatrecht – wozu nach hier vertretener Auffassung das deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen 160  BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237, Hervorhebung durch den Verfasser. 161  Berkowsky, in: MüHdbArbR I, § 114, Rn. 44; Müller-Glöge, in: MüKo IV, § 611 BGB, Rn. 279. 162  Vgl. zum vergleichbaren Fall einer die Betriebsabläufe störenden Gewerkschaftswerbung während der Arbeitszeit Berkowsky, in: MüHdbArbR I, § 114, Rn. 44; anders zu Sympathiestreiks Bertke, NJW 2014, 1852, 1855, die zwar einen „umfassenden abwehrrechtlichen Schutz koalitionsspezifischer Betätigungen“ befürwortet, aber dennoch Kündigungen „regelmäßig“ für zulässig hält (siehe zum grundrechtlichen Schutz des Sympathiestreiks Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 136). 163  Den Schutz des Streiks durch Art. 9 Abs. 3 GG bestätigte erstmals BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643 f. 164  Vgl. zum Arbeitsrecht: BVerfG, Beschl. v. 23. 11. 2006, 1 BvR 1909/06, NZA 2007, 85, 86; Linck, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 3, Rn. 2; Müller-Glöge, in: MüKo IV, § 611 BGB, Rn. 279.

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Streiks gehört – stellen fehlerhafte Abwägungen grundsätzlich keine Grundrechtseingriffe dar. Stattdessen handelt es sich um einen Grundrechtsverstoß, wenn die grundrechtliche Schutzpflicht im konkreten Fall ein bestimmtes Abwägungsergebnis erfordert hätte, und dadurch das Gerichtsurteil auf dem Abwägungsfehler beruht. Diese Fälle stellen eine eigene Kategorie dar, die allerdings in ihrer Wirkung dem Grundrechtseingriff gleichkommt.165 Wie wären die beiden Urteile des BAG zu außerordentlichen Kündigung wegen nichtgewerkschaftlicher Streiks nach diesen Maßstäben zu beurteilen? Im ersten Urteil hatte die Arbeitnehmerin primär aus Protest gegen die Entlassung der Betriebsratsvorsitzenden nichtgewerkschaftlich gestreikt, so dass nicht ihre eigenen Interessen betroffen waren. Im zweiten Fall sollte mit dem nichtgewerkschaftlichen Streik die Rücknahme einer betriebsbedingten Massenentlassung erreicht werden. Insofern wären Kündigungsschutzklagen gegen diese Kündigungen eine zumutbare Alternative gewesen.166 Damit lagen beiden Urteilen keine besonderen Umstände zugrunde, aus denen sich eine grundrechtliche Schutzpflicht des BAG für die Betroffenen und ein entsprechendes Abwägungsergebnis im Rahmen des wichtigen Grundes nach § 626 Abs. 1 BGB ergeben hätten. Damit erfolgte in diesen beiden Fällen kein Grundrechtsverstoß, da die Urteile nicht auf einer fehlerhaften Abwägung von Grundrechten beruhten. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass der grundrechtliche Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks auch bei anderen zivilrechtlichen Generalklauseln zu berücksichtigen ist, die im Zusammenhang mit einem nichtgewerkschaftlichen Streik relevant werden können: Neben dem wichtigen Grund aus § 626 Abs. 1 BGB wird dies beispielsweise bei der sozialen Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung gemäß § 1 KSchG oder bei Abmahnungen relevant.167 Inwieweit das Völkerecht im Rahmen dieser Generalklauseln berücksichtigt werden muss, wird an späterer Stelle noch erörtert.168

165  Siehe ausführlich zu dieser „nuancierenden Betrachtung“ und dem Zusammenhang mit der Schutzpflicht Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 3 GG, Rn. 63 ff., der allerdings von Grundrechtsbeeinträchtigung spricht. Das BVerfG nutzt stattdessen den Begriff Grundrechtsverstoß: BVerfG, Beschl. v. 23. 11. 2006, 1 BvR 1909/06, NZA 2007, 85, 86; ebenso und mit Bezug zur Schutzpflicht Müller-Glöge, in: MüKo IV, § 611 BGB, Rn. 279. 166  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237. Siehe zum Sachverhalt der Urteile die Erläuterungen im 1.Teil, 3. Abschnitt, A., III. „Arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks“. 167 Vgl. Müller-Glöge, in: MüKo IV, § 611 BGB, Rn. 279. 168 4. Teil, 2. Kapitel, C. „Arbeitsvertragliche Sanktionsmittel: Berücksichtigungspflicht“.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

VII.  Zusammenfassung Grundrechtseingriff und Grundrechtsausgestaltung sind aus der Perspektive eines Betroffenen anhand der Aktivierung des Abwehrrechts abzugrenzen. Für das deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks bedeutet dies aus Sicht der streikenden Arbeitnehmer oder ihrer Koalition, dass das BAG in die Koalitionsfreiheit eingreift. Es beeinträchtigt dadurch den Streik als natürliche Freiheit und aktiviert dadurch das Abwehrrecht. Die Annahme, dass der nichtgewerkschaftlichen Streiks bisher keine Suspendierungswirkung besitzt und zum Arbeitsvertragsbruch führt, ist hingegen aus Sicht der streikenden Arbeitnehmer oder deren Koalition Bestandteil der Grundrechtsausgestaltung im Bereich des Zivilrechts. Durch die ausschließliche Anordnung der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung für den gewerkschaftlichen Streik erfüllt das BAG das erforderliche Minimum normativer Freiheit, welches durch die objektiv-rechtliche Schutzpflicht für den Streik gefordert wird. Bei der Beurteilung von arbeitsvertraglichen Konsequenzen des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG muss dessen grundrechtlicher Schutz im Rahmen von zivilrechtlichen Generalklauseln berücksichtigt werden. Dies ist beispielsweise bei der Bewertung des wichtigen Grundes bei außerordentlichen Kündigungen gemäß § 626 Abs. 1 BGB relevant. Wenn das BAG seine grundrechtliche Schutzpflicht im Rahmen der Abwägung der grundrechtlichen Belange nicht berücksichtigt, erfolgt ein Grundrechtsverstoß. Diese Kategorie ist vom Grundrechtseingriff zu unterscheiden, wobei sie in ihrer Wirkung der eines verfassungswidrigen Grundrechtseingriff gleicht. In beiden zu außerordentlichen Kündigungen infolge nichtgewerkschaftlicher Streiks ergangenen Urteilen lag keine Schutzpflichtkonstellation vor, so dass kein Grundrechtsverstoß angenommen werden kann. Insgesamt enthält die Rechtsprechung des BAG in Bezug auf den nichtgewerkschaftlichen Streik Eingriffs- wie Ausgestaltungselemente. Im Folgenden ist nun zu klären, ob das BAG auf beiden Ebenen – des Grundrechtseingriffs und der Grundrechtsausgestaltung – den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt.

B.  Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum nichtgewerkschaftlichen Streik Eine der wichtigsten Funktionen des Grundgesetzes ist die Bindung der staatlichen Gewalten an bestimmte Rechtmäßigkeitskriterien. Diese sorgen dafür, dass Freiheitsbereiche des Bürgers nicht verletzt werden. Beeinträchtigt der Staat ein Grundrecht und hält sich dabei nicht an die verfassungsrechtlichen Vorgaben, verletzt er das jeweilige Grundrecht und handelt verfassungswidrig. Im Folgenden werden zuerst die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Eingriffs- und Aus-

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gestaltungskategorie des Art. 9 Abs. 3 GG in abstrakter Form dargestellt (I.) und anschließend auf die deliktsrechtliche und arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks übertragen (II.). I.  Abstrakte Darstellung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 GG Zunächst wird der allgemein anerkannte Rechtfertigungsmaßstab für Grundrechtseingriffe erläutert (1.). Danach werden die noch kontrovers diskutierten verfassungsrechtlichen Vorgaben der Grundrechtsausgestaltung dargestellt (2.). 1.  Grundrechtseingriffe Jeder Grundrechtseingriff stellt eine Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Substanz dar. Er führt jedoch nicht immer zu einer Verletzung des Grundrechts. Eine Grundrechtsverletzung erfolgt nur, wenn der Grundrechtseingriff nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.169 Die Rechtfertigung des Eingriffs hängt davon ab, ob der Staat in Übereinstimmung mit dem jeweiligen Grundrechtsvorbehalt („Schrankenvorbehalt“) und den „Schranken-Schranken“ des jeweiligen Grundrechts handelt.170 Letztere umfassen in erster Linie die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.171 Darüber hinaus müssen grundsätzlich der Vorbehalt des Gesetzes, der Bestimmtheitsgrundsatz, die Wesensgehaltsgarantie, das Zitiergebot und das Verbot des Einzelfallgesetzes beachtet werden.172 Auch ein Grundrechtseingriff durch Richterrecht bedarf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Ansonsten ist auch er verfassungswidrig.173

169  Dreier, in: Dreier, Vorbemerkung, Rn. 88; vgl. Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 102; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 123; vgl. zum Arbeitskampf Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 305. 170  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 123; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 309 f. 171  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 52; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 309. 172  Dazu im Überblick Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 126 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 309 f. 173  Kluth, in: Waldhoff/Thüsing, Verfassungsfragen des Arbeitskampfes, S. 117: „Es gelten für die materiell rechtlichen Wirkungen der Ersatzgesetzgebung demnach die gleichen Anforderungen wie für die parlamentarische Gesetzgebung. Dazu gehören auch die ausreichende Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der Rechtsfolgen von Rechtssätzen.“; ebenfalls BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 811: „Soweit das BAG selbst die Grundsätze entwickelt hat, an denen es die streitigen Arbeitskampfmaßnahmen mißt, hat das BVerfG zu prüfen, ob auch der Gesetzgeber solche Rechtssätze nicht

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a)  Eingriffsrechtfertigung im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 GG Für die Koalitionsfreiheit gilt entsprechend der vorstehenden Ausführungen, dass Eingriffe der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürfen.174 Dies gilt für den Gesetzgeber wie insbesondere auch für das BAG als „Ersatzgesetzgeber“, das durch seine Urteile den grundrechtlich geschützten Arbeitskampf geregelt hat.175 Allerdings ist umstritten, ob als Grundrechtsschranke ein spezieller Grundrechtsvorbehalt maßgeblich ist. Die Rechtsprechung und ein großer Teil der Literatur nehmen an, dass die Koalitionsfreiheit ein Grundrecht ohne Grundrechtsvorbehalt sei.176 In diesem Fall wären Eingriffe nur auf der Grundlage von verfassungsimmanenten Schranken zulässig.177 Dem widerspricht eine Ansicht, die für die Koalitionsfreiheit den Grundrechtsvorbehalt der Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 2 GG heranzieht.178 Einen noch weitergehenderen Spielraum für Eingriffe fordert eine weitere Ansicht, die aufgrund der Aufgabe der Kernbereichsrechtsprechung durch das BVerfG für größere Einschränkungsmöglichkeiten plädiert.179 Der Ansicht der Rechtsprechung, dass Art. 9 Abs. 3 GG ein vorbehaltloses Grundrecht ist, ist jedoch zuzustimmen. Dafür spricht die systematische Stellung der Koalitionsfreiheit nach dem ausdrücklich in Absatz 2 genannten Grundrechtsvorbehalt.180 Die Übertragung des Grundrechtsvorbehalts aus Absatz 2 auf Absatz 3 ist daher abzulehnen. Darüber hinaus ist die Annahme eines speziellen Grundrechtsvorbehalts für die Betätigungsfreiheit außerhalb ohne Verletzung von Grundrechten der Bf. hätte erlassen können […].“; vgl. auch Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 92. 174  Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 66. 175  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 305 ff. 176  BVerfG, Urt. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 811: „Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist [..] vorbehaltlos gewährleistet.“; Neumann, RdA 2007, 71, 72; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 67; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 48; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 135 f.; Hufen, NZA 2014, 1237, 1238; Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 94; Kluth, in: Berliner Kommentar GG, Art. 9, Rn. 254; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 305; Söllner, NZA-Beil. 2000, 33, 36; Gooren, Tarifbezug, S. 133 ff. 177  Hufen, NZA 2014, 1237, 1238; vgl. Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 68; Neumann, RdA 2007, 71, 72; Söllner, NZA-Beil. 2000, 33, 36; allgemein zu vorbehaltlosen Grundrechten Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 138 ff. 178  Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 337; Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9, Rn. 110; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Abs. 3 GG, Rn. 196; Franzen/ Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 50; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 93. 179 Beispielsweise Wank, RdA 2009, 1, 3, der ein Stufensystem fordert, welches das BVerfG im Rahmen der Berufsfreiheit anwendet; für eine „Abstufung im Grundrechtsschutz“ für Koalitionsbetätigungen Friauf, RdA 1986, 188, 190 f. 180  Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 94; Kluth, in: Berliner Kommentar GG, Art. 9, Rn. 259; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 136; Gooren, Tarifbezug, S. 134.

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verfassungsimmanenter Schranken abzulehnen. Derartigen Versuchen liegt die Furcht vor zu weitgehenden Betätigungen der Koalitionen zugrunde. Eine Einschränkung dieser Betätigungen muss jedoch systemkonform erfolgen und darf nicht durch improvisierte Schranken vereinfacht werden.181 Ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit kann somit nur verfassungsgemäß sein, wenn er zum Schutze anderer Grundrechte oder anderer Verfassungsgüter erfolgt.182 Darüber hinaus umfasst die Rechtfertigungsprüfung insbesondere das Verhältnismäßigkeitsgebot.183 Ein Eingriff zugunsten anderer Verfassungswerte muss geeignet und erforderlich sein und einen angemessenen Ausgleich der betroffenen Positionen erzeugen (Prinzip der praktischen Konkordanz).184 b)  Insbesondere: Vorbehalt des Gesetzes und Wesentlichkeitstheorie Für richterrechtliche Eingriffe in die Betätigungsfreiheit der Koalitionen ist fraglich, ob für das „Richterrecht“ des BAG der Vorbehalt des Gesetzes gilt. Dieser folgt aus der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Bindung der Exekutive und Judikative an Recht und Gesetz und fordert für Grundrechtseingriffe stets ein formelles Gesetz als Grundlage.185 Neben der Exekutive gilt er auch für die Judikative und das Richterrecht.186 Als Erweiterung hat das BVerfG aus dem Vorbehalt des Gesetzes die Wesentlichkeitstheorie entwickelt.187 Diese bestimmt, für welche Bereiche neben Grundrechtseingriffen der parlamentarische Gesetzgeber 181 Vgl.

Gooren, Tarifbezug, S. 136 zur Möglichkeit eines Gemeinwohlvorbehalts in Art. 9 Abs. 3 GG. 182  Hufen, NZA 2014, 1237, 1238; Kluth, in: Berliner Kommentar GG, Art. 9, Rn. 254; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 86; vgl. Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 97 ff.; Söllner, NZA-Beil. 2000, 33, 36. 183  Neumann, RdA 2007, 71, 72; Wilms, in: Nomos Kommentar Arbeitsrecht, GG Art. 9, Rn. 73; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 97; Gooren, Tarifbezug, S. 140 f. 184  Hufen, NZA 2014, 1237, 1283; Gooren, Tarifbezug, S. 141. 185  Michael/Morlok, Grundrechte, S. 279; zur Eingriffsverwaltung Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 111; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 282; Dreier, in: Dreier, Vorbemerkung, Rn. 102. 186  Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 90; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 336 f.; Höfling/Burkiczak, AP GG Art. 9 Nr. 142, Anmerkung III. 1.); Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 224; vgl. auch Friauf, RdA 1986, 188, 192 f.; Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2499 ff.; Hillgruber, JZ 1996, 118, 123 f; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 392 ff.; Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 245; Boemke, AR Blattei ES 1650, Nr. 23, 1, 22; Ossenbühl, in: HStR V, § 101, Rn. 60; Drechsler, ZJS 2015, 344, 351 f.; wohl auch BVerfG, Beschl. vom 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; a.A. Schwarze, JuS 1994, 653, 659. 187  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 327; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 221; Ossenbühl, in: HStR V, § 101, Rn. 53; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 390.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

eine gesetzliche Grundlage schaffen muss.188 Der Gesetzgeber hat in allen grundrechtswesentlichen Bereichen selbst tätig zu werden.189 Für den Arbeitskampf befand das BVerfG allerdings, dass die Wesentlichkeitstheorie keine Anwendung fände und das Richterrecht des BAG ein legitimer Ersatz des bisher fehlenden Arbeitskampfgesetzes sei. Das Richterrecht des BAG betreffe nicht das Bürger/Staat Verhältnis, sondern das Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger. Für dessen Regelung bedürfe das BAG keines Gesetzes als Grundlage.190 Diese generelle Einordnung überzeugt nicht.191 Richtig ist zwar, dass die Rechtmäßigkeitskriterien des BAG in erster Linie in der horizontalen Ebene zwischen gleichrangigen 188 Die Wesentlichkeitstheorie geht damit über den Vorbehalt des Gesetzes hinaus, da letzterer ursprünglich nur einen Schutz vor Grundrechtseingriffen bot. Die Wesentlichkeitstheorie aktiviert wie die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte auch ein Handeln des Gesetzgebers (vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 327 ff. und 336). Darüber hinaus dient die Wesentlichkeit einer Angelegenheit neben den Fällen, in denen ein Grundrechtseingriff erfolgt, als zusätzliches Kriterium für die Anwendung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes (dazu Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 105 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 339; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 376 f.). 189  BVerfG, Beschl. v. 8. 8. 1978, 2 BvL 8/77, NJW 1979, 359, 360: „Heute ist es ständige Rechtsprechung, daß der Gesetzgeber verpflichtet ist, – losgelöst vom Merkmal des ‚Eingriffs‘ – in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.“; BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1981, 1 BvR 640/80, NJW 1982, 921, 922 f.; siehe ausführlich zur Bestimmung der Wesentlichkeit Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 107. 190  BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991, 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810: „Bei Eingriffen in die grundrechtliche Freiheitssphäre unterliegt der Staat dem Vorbehalt des Gesetzes. Er darf in weiten Bereichen nur tätig werden, wenn er durch ein vom Parlament erlassenes Gesetz dazu ermächtigt ist. Die Tragweite dieses Grundsatzes wird durch die Rechtsprechung zur Wesentlichkeitstheorie näher bestimmt. Im vorliegenden Fall geht es jedoch um das Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger.“ 191 Ebenfalls kritisch Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 168; ausführlich Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2499 ff.; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beil. 2015, 3, 18: „bedenklicher Zustand“; Fischer, RdA 2009, 287 ff.: „blinder Fleck“; Kluth, in: Berliner Kommentar GG, Art. 9, Rn. 214; Kluth, in: Waldhoff/Thüsing, Verfassungsfragen des Arbeitskampfes, S. 115 f.; Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2498; Friauf, RdA 1986, 188, 191 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 325 f. und 339; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 391 f.; Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 44 ff.; Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 379 ff.; Jansen, Betriebliche Mitbestimmung im Arbeitskampf, S. 115; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 95; Höfling/ Burkiczak, AP GG Art. 9 Nr. 142, Anmerkung III: 3.); Höfling/Engels, ZG 2008, 250, 259; Hillgruber, JZ 1996, 118, 123; Kersten, in: Waldhoff/Thüsing, Verfassungsfragen des Arbeitskampfes, S. 32 f., der für den Streik in der Daseinsvorsorge wegen der Beeinträchtigung Dritter eine generelle Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie fordert; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 66; hingegen zustimmend: Schleusener, Qualitative Besetzungsregeln, S. 99; Neumann, in: FS Wiedemann, S. 372, Konzen, in: 50 Jahre BAG, S. 529; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 33.

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Grundrechtsträgern anzuwenden sind und primär keine einseitig-horizontale Anordnung sein sollen. Allerdings hat das BAG beispielsweise mit dem Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks Grundsätze aufgestellt, die abwehrrechtlich geschützte Betätigungen verbieten. Das Gericht vermittelt daher nicht nur im Verhältnis zweier Grundrechtsträger, sondern ordnet grundrechtliche Beschränkungen an.192 Diese Grundrechtseingriffe unterliegen – sogar ohne Anwendung der Wesentlichkeitstheorie – dem Vorbehalt des Gesetzes.193 Darüber hinaus berührt die Rechtsprechung des BAG mit dem Arbeitskampf grundrechtsrelevante Bereiche und betrifft dadurch generell wesentliche Fragen. Wenn man die Wesentlichkeitstheorie als Maßstab ernst nimmt, müsste die gesamte Regulierung des Arbeitskampfes durch den Gesetzgeber vorgenommen werden.194 Das BAG muss daher grundsätzlich dem Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie genügen, wenn es durch richterrechtliche Anordnung in abwehrrechtlich geschützte Freiheitsbereiche eingreift oder wesentliche Änderungen vornimmt.195 Eigentlich müsste das BVerfG dieser Einordnung zustimmen, da es für den Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen bei der ehemaligen Deutschen Bundespost die Wesentlichkeitstheorie und den Vorbehalt des Gesetzes weiterhin für anwendbar erklärt hatte. In diesen Fällen greife der Staat vertikal in das Arbeitskampfgeschehen ein. Die Bundespost verfüge als Trägerin öffentli192  So auch schon Lerche, NJW 1987, 2465, 2471: „Ja soll denn die Feststellung der Grundbedingungen, in denen sich der Arbeitskampf abspielen kann und darf, dieses Verhältnis, das Verhältnis zwischen Staat und Einzelnem, nicht betreffen?“; ebenso Höfling/ Burkiczak, AP GG Art. 9 Nr. 142, Anmerkung, III. 3.; Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 381. 193  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 325 f.; Höfling/Burkiczak, AP GG Art. 9 Nr. 142, Anmerkung III. 3.; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 221; vgl. Dreier, in: Dreier, Vorbemerkung, Rn. 102; vgl. Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 282. 194  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 333; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 95; Friauf, RdA 1986, 188, 192; anschaulich Fischer, RdA 2009, 287 ff.; Kreuz, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 70 f.; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 222 f.; Ossenbühl, in: HStR V, § 101, Rn. 58; Schwarze, JuS 1994, 653, 659: „im Arbeitskampfrecht evident“; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 391 f. 195  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 325 und 339; Höfling/Burkiczak, AP GG Art. 9 Nr. 142, Anmerkung III. 3.; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 95, zu „Grenzziehungen“; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 223 f. zur richterrechtlichen Anordnung, der Sympathiestreik sei zulässig; Kluth, in: Waldhoff/Thüsing, Verfassungsfragen des Arbeitskampfes, S. 116; vgl. Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2500 f.; vgl. Franzen/ Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 51, die für staatliche Eingriffe in Streiks in der Daseinsvorsorge ebenfalls eine gesetzliche Grundlage fordern; genauso Rüthers, ZRP 2015, 2, 5; für eine strikte Zurückhaltung des BAG Friauf, RdA 1986, 188, 192; a.A. Sunnus, AuR 2008, 1, 11 f.: „Merkwürdig mutet allerdings der Ruf nach dem Gesetzgeber an.“

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

cher Verwaltung über die angestellten Beamten und werde somit neben ihrer Rolle als private Tarifpartnerin auch als Hoheitsträgerin tätig.196 Das Richterrecht des BAG zum Arbeitskampf genüge der für diesen Fall geltenden Wesentlichkeits­ theorie nicht.197 Überträgt man diese Einschätzung des BVerfG auf den normalen Arbeitskampf mit zwei privaten Koalitionspartnern, müsste der Vorbehalt des Gesetzes auch hier teilweise Anwendung finden.198 Insbesondere durch deliktsrechtliche Klassifizierungen bestimmter Streikformen und den damit verbundenen Grundrechtseingriff tritt das BAG als Hoheitsträger auf, so dass es im für die Wesentlichkeitstheorie relevanten Bürger/Staat Verhältnis aktiv wird. Wie die Deutsche Bundespost beim Einsatz von Beamten eine „Doppelrolle“199 ausgeübt hat, greift das BAG durch die richterrechtliche Gestaltung des Arbeitskampfes ebenfalls vertikal in das Arbeitskampfgeschehen ein und befindet nicht nur über das horizontale Verhältnis der Grundrechtsträger untereinander.200 Daher müssen Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie grundsätzlich auch für die grundrechtseingreifende Rechtsprechung des BAG zum Arbeitskampf gelten. c)  Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie? Von diesem Grundsatz ausgehend ist fraglich, ob in bestimmten Fällen eine Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie gemacht werden sollte. Manche Teile der Literatur lehnen eine Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie generell ab und verweisen auf die Möglichkeit, bei unzureichenden Gesetzen Verfassungsbeschwerde einzulegen.201 Andere wiederum befürworten eine „Notkompetenz“, aber beschränken 196 

BVerfG, Beschl. vom 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380. Beschl. vom 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380: „Die allgemeinen Rechtsgrundlagen des Arbeitskampfrechts stellen keine gesetzliche Regelung in diesem Sinne dar.“ 198  So auch Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 168; Jansen, Betriebliche Mitbestimmung im Arbeitskampf, S. 115; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 325 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 391 f.; vgl. zu „Konflikten gleichgeordneter Grundrechtsträger“ und der Anwendbarkeit des Vorbehalts des Gesetzes Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 88 ff. 199  BVerfG, Beschl. vom 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380. 200  So auch Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 304. 201  Strikt gegen eine Ausnahme und stattdessen für die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde oder Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG: Höfling/Burkiczak, AP GG Art. 9 Nr. 142, Anmerkung III. 2.); Burkiczak, RdA 2007, 17, 19 f.; Höfling/Engels, NJW 2007, 3102, 3103; Höfling/Engels, ZG 2008, 250, 260 f.; Hillgruber, JZ 1996, 118, 123 f.; Wahl/ Masing, JZ 1990, 553, 558 ff.; auf die Verfassungsbeschwerde verweist auch Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 245, der jedoch im „Extremfall“ eine Ausnahme für ein gerichtliches Einschreiten anerkennt; ähnlich Lücke, Vorläufige Staatsakte, S. 137: „wenn […] Aussetzung des Verfahrens und die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zu spät kämen […].“ 197  BVerfG,

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sich zumeist auf den pauschalen Hinweis, dass der Richter nur in engen Grenzen oder nur ersatzweise tätig werden dürfe.202 Wie die Grenzen der Notkompetenz zu bemessen sind, wird dabei jedoch überwiegend nicht erörtert. Als Maßstab könnte die grundrechtliche Schutzpflicht aus der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 9 Abs. 3 GG fungieren.203 Durch sie könnte der Judikative eine richterrechtliche Notkompetenz zukommen.204 Sie würde dafür sorgen, dass der Richter in bestimmten Schutzpflichtsituationen den Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie ausnahmsweise außer Acht lassen könnte und rechtsgestaltend in die Grundrechte der Beteiligten eingreifen dürfte. Auch das BAG beruft sich – ohne allerdings auf den Vorbehalt des Gesetzes zu verweisen – für die Bereitstellung normativer Befugnisse durch richterliche Rechtsfortbildung auf die grundrechtliche Schutzpflicht.205 202  Für eine „strikte Zurückhaltung“ des Richters Friauf, RdA 1986, 188, 192; ähnlich Kluth, in: Waldhoff/Thüsing, Verfassungsfragen des Arbeitskampfes, S. 109; für das Richterrecht als Ausnahme Fischer, RdA 2009, 287, 293; für ein Subsidiaritätsverhältnis Seiter, RdA 1986, 165, 170; für notrechtliche Befugnisse Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2501; für eine „Notkompetenz“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 394 f.; für ein Tätigwerden im „Extremfall“ Müller-Franken, in: FS Bethge, S. 245; für eine „treuhänderische“ Kompetenz Kreuz, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 72. 203  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S.  224 ff.; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 308; wohl auch Fischer, RdA 2009, 287, 296, für einen „Eingriff zugunsten der Schwachen“ im Falle von Exzessen; ähnlich Richardi, AP GG Art. 9 Nr. 127, Anmerkung I. 2., der sich jedoch allgemein auf die Legitimität des Richterrechts bezieht; ähnlich Boemke, AR Blattei ES 1650, Nr. 23, 1, 21 ff.; vgl. zur Begründung einer Notfallkompetenz der Exekutive: Ossenbühl, in: HStR V, § 101, Rn. 75; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 386 f.; a.A.: Höfling/Engels, NJW 2007, 3102, 3103; Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, S. 55 f.; Hillgruber, JZ 1996, 118, 123 f. Siehe zur Schutzpflicht in Bezug auf Art. 9 Abs. 3 GG bereits die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C. „Streik als Bezugspunkt der Schutzpflicht“; siehe allgemein zum Einfluss der Schutzpflicht auf das Arbeitskampfrecht Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 277 ff. und 347 f.; vgl. allgemeine Ausführungen zur Schutzpflicht bei Stern, in: HStR IX, § 185, Rn. 86 ff. 204  Vgl. für notrechtliche Befugnisse im Einzelfall Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2501; für eine temporäre Notkompetenz Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 346; dagegen allerdings Höfling/Engels, ZG 2008, 250, 262. 205  BAG, Urt. v. 28. 2. 2006, 1 AZR 460/04, NZA 2006, 798, 800: „Da eine gesetzliche Regelung fehlt, müssen die Gerichte auf Grund ihrer grundrechtlichen Schutzpflicht im Wege der Rechtsfortbildung eine entsprechende Ausgestaltung vornehmen.“; ähnlich auch BAG, Urt. v. 22. 6. 2010, 1 AZR 179/09, NZA 2010, 1365, 1367; kritisch zum Rückgriff des BAG auf die Schutzpflicht und für eine weitergehende richterliche Ausgestaltungskompetenz Dieterich, RdA 2007, 110, 112 f.; dieser Kritik zustimmend Schwarze, RdA 2010, 115, 116 f. Beide berücksichtigen jedoch nicht, dass die normative Ausgestaltung des Arbeitskampfes für einen Dritten häufig zu einem Grundrechtseingriff führt und dem Richterrecht daher außerhalb einer gerichtlichen Notkompetenz der Vorbehalt des Gesetzes im Wege steht. Schwarze listet sogar Art. 14 GG als zu berücksichtigenden grundrechtlichen Belang des Arbeitgebers auf, aber lässt außer Betracht, dass bei der Anordnung der Suspendierungswirkung gerade in diesen eingegriffen wird und dadurch der Vorbehalt

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Für das Schutzpflichtmodell spricht, dass die Schutzpflicht nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch die Rechtsprechung verpflichtet.206 Zwar wird überwiegend angenommen, dass sie kein eigener Kompetenztitel zur Schaffung von Richterrecht ist.207 Sie sollte jedoch als rechtfertigende Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes in Betracht kommen: Wird das Untermaßverbot verletzt und die Schutzpflicht dadurch aktiviert, muss der Staat den betroffenen Grundrechtsträger schützen.208 Allerdings kann der Staat die Schutzpflicht in den meisten Fällen durch mehrere Maßnahmen erfüllen. Darf der Richter in diesem Fall eine Entscheidung des Gesetzgebers vorwegnehmen? Würde dadurch nicht der politische Abwägungsprozess, der das gesamte System im Blick hat, umgangen? Ja – dieses Risiko besteht und darf sich nicht realisieren. In dieser Situation besteht ein Wahlrecht des Staates, welches dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben sollte. Sein weiter Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum darf nicht durch Richterrecht untergraben werden. Allerdings gibt es Situationen, in denen die Schutzpflicht nur durch eine bestimmte Handlung erfüllt werden kann. In diesem Fall ist es hinzunehmen, dass der Richter dem Gesetzgeber vorweggreift. Der Richter zeichnet nur verfassungsrechtliche Vorgaben nach, die der Gesetzgeber im Nachhinein weiter entwickeln kann.209 Ist ein effektiver Schutz nur durch ein bestimmtes Mittel zu erreichen, greift der Richter der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht vorweg.210 Hat der Gesetzgeber bisher keine Regelung getrofdes Gesetzes beachtet werden muss (siehe dazu noch ausführlich den 4. Teil, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“). 206  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 348; Hermes, NJW 1990, 1764, 1768, der jedoch zu Recht darauf hinweist, dass die Schutzpflicht „erst in zweiter Linie“ an die Rechtsprechung gerichtet ist und primär an den Gesetzgeber adressiert ist; Wahl/ Masing, JZ 1990, 553, 559: „Die Schutzpflicht trifft gemäß Art. 1 III GG alle Gewalten als unmittelbar geltende Verpflichtung; sie schafft Ihnen aber keine (neuen) Kompetenzen oder Befugnisse.“ 207  Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 277 f.; Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 559; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 348: „Über die Organzuständigkeit zur Erfüllung einer Schutzpflicht entscheidet vielmehr die allgemeine Kompetenzverteilung.“ 208  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 348; Burkiczak, RdA 2007, 17, 19; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 342 f.; Arnold/Wiese, NZA 2009, 716, 718; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 301 ff., der das Untermaßverbot jedoch auf das staatliche Auswahlermessen beschränkt; ausführliche Darstellung durch Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 215 ff. Siehe ausführlich zum Untermaßverbot und seiner Konkretisierung durch den Kernbereich eines Grundrechts die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C. „Streik als Bezugspunkt der Schutzpflicht“. 209  Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 225, für die eine einfachgesetzliche Norm im Schutzpflichtenfall „ohnehin nur deklaratorischer Natur“ ist; ähnlich Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 387 in Bezug auf eine schutzrechtliche Notkompetenz der Exekutive. 210 Vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 224, für eine Notkompetenz bei „unzweifelhaft grundrechtsgebotenen Leistungen“; vgl. Gellermann, Grundrechte

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fen und ist nur eine Art der Schutzgewährung erfolgsversprechend, sollte eine richterliche Entscheidung im konkreten Fall zum Schutz des Opfers erfolgen können.211 Wenn der Gesetzgeber allerdings bewusst einen Bereich nicht geregelt hat, sollte die Notkompetenz des Richters ausscheiden. Diese parlamentarische Entscheidung muss ein Gericht trotz Schutzpflicht respektieren, so dass es den Fall dem BVerfG zur Prüfung vorlegen müsste.212 Wird der Gesetzgeber jedoch wie beim Arbeitskampf aus politischen Gründen nicht tätig und stellt sich die Suspendierungswirkung des Streiks als das Mittel der Schutzgewähr dar, ist für Schutzpflichtkonstellationen eine Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie anzunehmen.213 Die richterliche Notkompetenz wird teilweise ausschließlich für Fälle der Grundrechtsausgestaltung befürwortet.214 Grundrechtseingriffen durch Richterrecht stehe der Vorbehalt des Gesetzes generell entgegen.215 Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass die Grundrechtsausgestaltung in den üblichen Dreieckskonstellationen häufig sowieso zu einem Grundrechtseingriff in die Grundrechte Dritter führt.216 Es sind Situationen denkbar, in denen ein Abwarten auf das Handeln des Gesetzgebers für einen Grundrechtsträger unzumutbar sein kann und ein staatlicher Grundrechtseingriff durch den Richter weiteren Schaden abwenden kann. Daher sollte die Notkompetenz des Richters nicht nur auf in einfachgesetzlichem Gewande, S. 395: „Überdies sind die Gerichte […] dazu berufen, grundrechtsgebotene Leistungen zuzusprechen, die sich unmittelbar und zwingend aus der Verfassung ableiten lassen.“; siehe zu dieser Konstellation Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 559, die allerdings auch für diesen Fall keine Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes zulassen wollen (vgl. auch S. 562); vgl. Hillgruber, JZ 1996, 118, 122, der für diesen Fall jedenfalls eine Ausnahme des Gewaltenteilungsprinzip annimmt und Richterrecht für zulässig erklärt. Hingegen stehe bei Grundrechtseingriffen der Vorbehalt des Gesetzes dem Richterrecht trotzdem zwingend entgegen (S. 123). 211 Vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 394 f., der sich für eine richterrechtliche Notkompetenz im Arbeitskampf ausspricht, um einen „Leerlauf“ der Koalitionsfreiheit zu verhindern. 212 Ausführlich hierzu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 383 ff. 213  Vgl. dazu bereits den 3. Teil, 4. Kapitel, C. „Streik als Bezugspunkt der Schutzpflicht“. 214  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 345 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 394 f. 215  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 326 und 339; Hillgruber, JZ 1996, 118, 123 f. 216  Siehe dazu bereits den 4. Teil, 1. Kapitel, A., V. „Abschließende Stellungnahme: Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung anhand des Abwehrrechts“, den nachfolgenden 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 2., b) „Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung“ und konkret am Beispiel der Suspendierungswirkung des Streiks den 4. Teil, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“.

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den Bereich der Grundrechtsausgestaltung begrenzt werden, sondern auch in Eingriffssituationen Anwendung finden.217 Der rechtsgestaltende Grundrechtseingriff des Richters stellt in diesem Fall eine hinzunehmende Beeinträchtigung dar, da jedem Grundrechtsträger nach der Schutzpflichtlehre ein Minimalschutz zusteht.218 Allerdings muss der Richter bei Grundrechtseingriffen in schutzrechtlichen Dreieckskonstellationen selbstverständlich die bereits beschriebenen Voraussetzungen der Eingriffsrechtfertigung erfüllen.219 2.  Grundrechtsausgestaltung Im Folgenden werden abstrakt die Maßstäbe herausgearbeitet, an die sich der Richter im Rahmen der Grundrechtsausgestaltung halten muss. Wie der Grundrechtseingriff unterliegt die davon abzugrenzende Kategorie der Grundrechtsausgestaltung ebenfalls verfassungsrechtlichen Bindungen.220 Diese unterscheiden sich von der auf Abwehr gerichteten Eingriffsrechtfertigung vor allem dadurch, dass sie ein grundrechtsförderndes Handeln des Staates ermöglichen sollen. a)  Grundrechtsausgestaltung im Normalfall Nach überwiegendem Verständnis gilt die traditionelle Schrankendogmatik für die Grundrechtsausgestaltung nicht.221 Anderen Ansichten liegt häufig die Überzeugung zugrunde, dass sich Grundrechtseingriff und Grundrechtsausgestaltung nicht unterscheiden.222 Wenn man – wie vorgeschlagen – Eingriff und Ausgestaltung danach abgrenzt, ob durch staatliche Beschränkung das Abwehr217 

So auch Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 225. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 224 ff. 219 Vgl. Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 560 am Beispiel des Normalfalls einer Schutzgewähr durch den Gesetzgeber. 220 Siehe dazu grundlegend: Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 308 ff.; Bumke, Ausgestaltung, S. 49 ff; speziell zur Koalitionsfreiheit Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 396 ff. 221  Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 296; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 153; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 75 ff.; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 137; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 223 f.; Buchner, in: FS Hromadka, S. 40; Söllner, NZA-Beil. 2000, 33, 35 f.; Dieterich, RdA 2002, 1, 11; vgl. Bumke, Ausgestaltung, S. 49, mit einer ausführlichen Darstellung zur Bindung der ausgestaltenden Staatsgewalt; Schwarze, JuS 1994, 653, 658; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 47; hingegen kritisch Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 72. 222 Beispielsweise Löwisch, RdA 2010, 263, 264: „Ob man dabei von einem Eingriff in die Koalitionsfreiheit spricht oder wegen deren umfassender Ausgestaltungsbedürftigkeit von einer Ausgestaltung, spielt letztlich keine Rolle. Versagt der Staat der Koalition Rechte, muss das in Ansehung des jeweiligen Regelungszwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne (proportional) sein.“; ähnlich Henssler, RdA 2011, 65, 218 Vgl.

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recht ausgelöst wird, liegt eine Grundrechtsausgestaltung insbesondere vor, wenn der Staat dem Grundrechtsträger neue normative Freiheiten gewährt.223 Diese würde er ohne Mithilfe des Staates nie erlangen. Darauf aufbauend stellt sich die Frage, welchen verfassungsrechtlichen Bindungen der Richter bei der Grundrechtsausgestaltung unterliegt. Im Unterschied zu Grundrechtseingriffen bedarf die Grundrechtsausgestaltung keiner zwingenden Legitimation durch den Schutz anderer Grundrechte oder grundrechtsgleicher Güter.224 Die Ausgestaltung orientiert sich vielmehr an dem Grundrecht selbst, welches normativ ausgestaltet werden soll.225 Denn im Gegensatz zum Grundrechtseingriff gewährt der Staat dem jeweiligen Grundrechtsträger durch die Ausgestaltung zusätzliche normative Freiheiten, so dass hierfür nicht die Maßstäbe des Grundrechtseingriffs und des Abwehrrechts gelten können.226 Für die Grundrechtsausgestaltung ist der objektive Gehalt des jeweiligen Grundrechts maßgeblich.227 Das bedeutet, dass sich die Ausgestaltung 70, der gleichzeitig jedoch für Eingriffe in die Betätigungsfreiheit geringere Voraussetzungen fordert; strenge Voraussetzungen vertritt Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 65. 223  Siehe dazu die Übersicht ausgestaltungsrelevanter Fälle bei Bumke, Ausgestaltung, S. 41 ff. Siehe zum Differenzierungskriterium den 4. Teil, 1. Kapitel, A., V. „Abschließende Stellungnahme: Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung anhand des Abwehrrechts“. 224 Vgl. Butzer, RdA 1994, 375, 380 f.; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 224. 225  Vgl. BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 706: „Auf der anderen Seite darf der Gesetzgeber die Ausgestaltung nicht nach seinem Belieben vornehmen. Diese hat sich vielmehr an dem Schutzgut des Art. 9 Abs. 1 GG zu orientieren […].“; Epping, Grundrechte, S.  215; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 297; vgl. Söllner, NZA-Beil. 2000, 33, 36, für die Orientierung am Wesensgehalt des auszugestaltenden Grundrechts.; vgl. Bumke, Ausgestaltung, S. 49 f.; hingegen auch Rechtsgüter anderer einbeziehend Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 77, die eine wirtschafts- und sozialpolitische Kompetenz des Staates im Bereich der Ausgestaltung verankert sehen. 226 Vgl. Hoffmann-Riem, Der Staat 2004, 203, 224: „Der Chance der Freiheitsausübung soll nach Maßgabe der gewährleistungsspezifischen Vorgaben des Grundrechts Gestalt gegeben werden; diese sind damit zugleich die Maßstäbe der Rechtmäßigkeitsprüfung.“; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 296; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 134 ff. Mitunter werden normative Freiheiten im Wege der Ausgestaltung zurückgebaut („Umgestaltung“). Solange dabei das Abwehrrecht nicht aktiviert wird, handelt es sich um eine bloße Grundrechtsausgestaltung und nicht um einen Grundrechtseingriff. Siehe zur Umgestaltung noch die Ausführungen am Ende dieses Gliederungspunktes. 227  BVerfG, Urt. v. 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86, NZA 1995, 754, 756: „Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers findet seine Grenzen am objektiven Gehalt des Art. 9III GG.“; Kittner/Schiek, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 98; Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 20; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 92; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 218 ff.; Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 121 ff.; vgl. Butzer, RdA 1994, 375, 381; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 291 ff.; Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 171; kritisch Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 51 ff.

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am Normzweck des auszugestaltenden Grundrechts orientiert und dessen „gewährleistungspezifische Vorgaben“228 verwirklicht werden.229 Der Normzweck der Koalitionsfreiheit besteht darin, den Arbeitnehmern und Arbeitgebern einen gleichberechtigten Freiraum zu schaffen, in dem sie ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können.230 Dazu ist es erforderlich, dass beide Seiten dieselbe Durchsetzungskraft besitzen. Das Verhandlungsgleichgewicht zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite ist daher einer der primären Inhalte der Koalitionsfreiheit.231 Hinsichtlich der normativen Umsetzung und der zu wählenden Mittel besitzt der Staat allerdings einen weiten Handlungsspielraum.232 Starre Grenzen ergeben sich nur aus dem zu gewährleistenden Minimum staatlichen Schutzes, welches durch die Schutzpflicht festgelegt wird.233 Weitere Siehe zur objektiv rechtlichen Dimension allgemein den 3. Teil, 2. Kapitel, C. „Objektiv-rechtliche Dimension der Koalitionsfreiheit“ und zu den speziellen Auswirkungen auf den Streik den 3. Teil, 4. Kapitel „Streik als Element der objektiv-rechtlichen Dimension“. 228  Bumke, Ausgestaltung, S. 52 ff., der diese als „Kern der grundrechtlichen Bindung“ bezeichnet und am Beispiel der Vertragsfreiheit darstellt, wie die „dirigierende Grundsätze“ eines Grundrechts herauszuarbeiten sind (S. 57 ff.); alternativ „Grundentscheidungen“ genannt: Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 219. 229 BVerfG, Urt. v. 10. 1. 1995, 1 BvF 1/90 u. a., AP GG Art. 9 Nr. 76; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 167; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 135 und 140 ff.; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 245; siehe auch Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 328 ff.; zur Ausgestaltung der Privatautonomie Lenz, Freiheitsrechte, S. 139 f.; vgl. BVerfG, Beschl. v. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 382: „Denn sie verpflichten den Gesetzgeber auch dort, wo er außerhalb des Kernbereichs koalitionsmäßige Betätigungen ausgestaltend regelt, zu einer Rücksichtnahme auf die Koalitionen und ihre Mitglieder.“ 230  Vgl. BVerfG, Beschl. v. 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; zur Herstellung von Verhandlungsparität als leitendes Prinzip der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 357; ähnlich Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 35; siehe weiterführend zum Koalitionszweck den 3. Teil, 2. Kapitel, A., III., 2. „Bedeutung des Koalitionszweck“. 231 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG, Rn. 183 und 287; Zwanziger, RdA-Beil. 2009, 10, 11, in Fn. 10; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 112. 232  Siehe nur zum Arbeitskampfrecht BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 494; BVerfG, Urt. v. 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86 u.a., NZA 1995, 754, 756; aus der Literatur siehe nur Epping, Grundrechte, S. 216; Dieterich, RdA 2002, 1, 11; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 297; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 91 und Fn. 469; Butzer, RdA 1994, 375, 381; Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 126 f.; Drohsel, Gesetzliche Öffnungsklauseln, S. 72. 233  Dieterich, RdA 2002, 1, 11; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 300 ff.; vgl. Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, S. 127, die allerdings nur eine Parallele zur Schutzpflicht sieht; ausführliche Darstellung des „Ordnungskerns“ durch Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 318 ff.; siehe zur Vertragsfreiheit Lenz, Freiheitsrechte, S. 138 f.; vgl. BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979, 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699, 709, das darauf hinweist, dass die Regelungsbefugnis des ausgestaltenden Gesetzgebers seine Grenzen „an dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereich der Koalitions-

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Vorgaben sollten der Grundrechtsausgestaltung aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht gemacht werden. Häufig wird allerdings darauf hingewiesen, dass die Grundrechtsausgestaltung wie ein Grundrechtseingriff auch am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen sei.234 Dies ist jedoch abzulehnen.235 Dagegen spricht, dass dessen Anwendung die Gegenüberstellung zweier konträrer Interessen voraussetzt.236 Bei einem Grundrechtseingriff ist dies der Fall, da erst die Existenz des einen Grundrechts den Eingriff in ein anderes Grundrecht zu legitimieren vermag. Die Grundrechtsausgestaltung bezieht sich jedoch grundsätzlich nur auf ein einzelnes Grundrecht. Eine strenge Abwägung zwischen widerstreitenden Interessen erfolgt daher grundsätzlich nicht, solange man die Grundrechtsausgestaltung als Grundrechtsförderung ansieht.237 Eine besondere Situation ergibt sich in Schutzpflichtfällen, in denen die Ausgestaltung eine Doppelwirkung besitzt und der Staat gleichzeitig in das Grundrecht eines Dritten eingreift.238 Dieser mehrdimensionale Fall ist jedoch eine spezielle Fallgruppe der Ausgestaltung und nicht für die gesamte Ausgestaltungsdogmatik verallgemeinerungsfähig. Vor allem folgt die diesbezügliche Orientierung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht aus den verfassungsrechtlichen Maßstäben der Ausgestaltung, sondern aus denen des gleichzeitig erfolgenden Grundrechtseingriffs. Bumke berücksichtigt dies vermutlich nicht, wenn er die Bindung der Ausgestaltung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz damit begründet, dass diefreiheit“ finde. Siehe zum Einfluss der Schutzpflicht auf den Streik und der diesbezüglich berechtigten Anwendung des „Kernbereiches“ den 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 234  BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057: „Zentraler Bewertungsmaßstab ist dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.“; Bumke, Ausgestaltung, S. 50 f.; Löwisch/Rieble, in: MünchHdbArbR II, § 155, Rn. 79 ff.; Bauer, in: Dreier, Art. 9, Rn. 92; Schwarze, JuS 1994, 653, 658; Butzer, RdA 1994, 375, 381. 235 Ebenfalls ablehnend Söllner, NZA-Beil. 2000, 33, 36; Epping, Grundrechte, S. 216; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 157; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 155 und 164 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 299 f.; Lenz, Freiheitsrechte, S. 141 ff.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 336 ff., zur Erforderlichkeitsprüfung, die auf ein „Optimierungsgebot“ hinauslaufe und daher abzulehnen sei; kritisch auch Gooren, Tarifbezug, S. 129. 236  Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifrechts, S. 157; Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 156; ähnlich auch früher Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 97. 237 Vgl. Lenz, Freiheitsrechte, S. 142: „Zunächst ist hier staatliches Handeln zur Ermöglichung des Grundrechtsgebrauchs gerade erwünscht, so dass es kontraproduktiv wäre, staatliche Untätigkeit zu verlangen.“ 238 Siehe dazu nachfolgend die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 2., b) „Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung“.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

se zu einer „Einbuße grundrechtlicher Positionen des Einzelnen“ und zu „Verkürzungen“ führe.239 Dieselben Grundsätze gelten im Übrigen für den Fall, dass bestehende normative Freiheiten eines Grundrechtsträgers durch den Staat zurückgebaut werden („Umgestaltung“). Hier kommt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann zum Tragen, wenn abwehrrechtlich geschützte Bereiche betroffen sind und der Staat nach der hier verwendeten Abgrenzungsformel einen Grundrechtseingriff und keine bloße Ausgestaltung vornimmt. Für Bereiche, die nicht abwehrrechtlich geschützt sind, sollte die weite Gestaltungsfreiheit des Staates bei der Grundrechtsausgestaltung berücksichtigt werden. Diese würde ad absurdum geführt werden, wenn man die Grundrechtsausgestaltung am strengen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen würde.240 Würden staatliche Ausgestaltungsregeln einer Erforderlichkeitsprüfung oder einer Angemessenheitskontrolle unterzogen, bliebe von der Gestaltungsfreiheit nicht viel über. Einzig die Geeignetheit der Ausgestaltung könnte zu berücksichtigen sein.241 Falls sich eine Grundrechtsausgestaltung nicht am Grundrechtsinhalt orientiert und ungeeignet ist, das Grundrecht zu fördern, wäre sie verfassungswidrig.242 Diese Fallgruppe deckt jedoch bereits die Bindung an den objektiven Gehalt des Grundrechts ab. Zuletzt ist zu beachten, dass für die Grundrechtsausgestaltung auch der Vorbehalt des Gesetzes gelten kann.243 Dafür ist die bereits dargestellte Wesent239 

Bumke, Ausgestaltung, S. 51. auch die Kritik von Epping, Grundrechte, S. 216; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 299 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 338; a.A. Bumke, Ausgestaltung, S. 51 f., der die Begrenzung der Ausgestaltungsfreiheit dadurch abzumildern versucht, dass das BVerfG seine Kontrolldichte im Zweifel zurücknimmt. In welchem Fall das Gericht dazu jedoch verpflichtet ist, bleibt offen. 241  Bumke, Ausgestaltung, S. 51: „Für das Gebot der Geeignetheit folgt dies aus seiner Funktion, ein Mindestmaß rationaler Rechtsgestaltung zu sicher.“; zuvor schon Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 97; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 301, der die Geeignetheit am Untermaßverbot festmacht; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 339, der neben der Eignung allerdings auch eine modifizierte Angemessenheitsprüfung als Maßstab der Ausgestaltung vorschlägt (S. 350 ff.); vgl. Lenz, Freiheitsrechte, S. 141 ff, der lediglich eine Vertretbarkeitskontrolle fordert (S. 144); noch zurückhaltender Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 156 f. 242  So auch BVerfG, Urt. v. 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86, NZA 1995, 754, 756: „Der Gesetzgeber ist allerdings bei der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit nicht daran gebunden. Er kann auch andere Regeln aufstellen, die verhindern sollen, daß eine der Tarifvertragsparteien ein Übergewicht bei Tarifverhandlungen erhält. Verfassungswidrig ist sein Ansatz erst dann, wenn er von vornherein ungeeignet ist, dieses Ziel zu erreichen.“. 243  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 377; zur arbeitskampfrechtlichen Rechtsprechung des BAG Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 332 ff.; a.A. Grzeszick, Rechte und Ansprüche, S. 408; kritisch Dieterich, RdA 2007, 110, 113. 240  So

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lichkeitstheorie verantwortlich, die den Vorbehalt des Gesetzes von Grundrechtseingriffen gelöst hat und für jedes grundrechtswesentliche Handeln eine Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers fordert.244 Die Ausgestaltung formt die Grundrechte, begründet normative Freiheiten und formt so den Schutzbereich der Grundrechte, so dass sie im Einzelfall eine wesentliche Maßnahme zugunsten eines Grundrechts ist.245 Allerdings muss auch bei der Grundrechtsausgestaltung der oben begründete Ausnahmefall der staatlichen Schutzpflicht das Gericht von der Beachtung des Gesetzesvorbehalts entbinden.246 Eine Grundrechtsausgestaltung kann dann von einem Gericht vorgenommen werden, wenn die Schutzpflicht das Gericht zu einer konkreten Schutzhandlung zwingt und der Gesetzgeber eine Ausgestaltung nicht bewusst unterlassen hat (sogenanntes „qualifiziertes gesetzgeberisches Unterlassen“247). b)  Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung Die allgemeinen Maßstäbe der Ausgestaltung müssen für die besondere Fallgruppe der Ausgestaltung mit Doppelwirkung ergänzt werden. Wie erläutert worden ist, stellt sich staatliches Handeln aus der Perspektive eines einzelnen Grundrechtsträgers entweder als Grundrechtseingriff oder als Grundrechtsausgestaltung dar. Beide Kategorien schließen sich aus dieser Perspektive gegenseitig aus.248 Etwas anderes gilt hingegen in Dreieckskonstellationen, in denen die normative Ausgestaltung eines Grundrechts Auswirkungen auf die Grundrechte Dritter besitzt und dadurch mehrdimensional ist.249 Die Auswirkungen bei Dritten 244  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 376 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 327 und 332 ff.; vgl. Friauf, RdA 1986, 188, 191 ff. 245 Vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 377 f. 246  Dazu ausführlich bereits im 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 1., (3) „Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie?“; zustimmend: Richardi, AP GG Art. 9 Nr. 127, Anmerkung I. 2.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 224 ff. Für eine Notkompetenz unabhängig vom Fall der Schutzpflicht: Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 394 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 346. Zu weitgehend hingegen Dieterich, RdA 2007, 110, 113, der Richterrecht auch für den über die Schutzpflicht hinausgehenden Ausgestaltungsbereich als zulässig ansieht und damit die Wesentlichkeitstheorie im Bereich der Grundrechtsausgestaltung in unzulässiger Weise ausblendet. 247 Dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 383 f. 248  Siehe zur eindimensionalen Perspektive und der Unterscheidung zwischen Eingriff und Ausgestaltung die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, V. „Abschließende Stellungnahme: Differenzierung zwischen Eingriff und Ausgestaltung anhand des Abwehrrechts“. 249  Ausführliche Darstellung des „Dreiecksverhältnisses“ in Schutzpflichtfällen durch Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 556 f.; zum Arbeitskampf Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 215 ff.; vgl. Schmidt, in: ErfK, Einleitung zum GG, Rn. 38; zur Privatautonomie Pietzcker, in: FS Dürig, S. 362 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 56.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

können so stark sein, dass durch sie das Abwehrrecht eines anderen Grundrechts aktiviert wird und dadurch ein Grundrechtseingriff bei einem Dritten erfolgt. In diesem Fall ist das staatliche Handeln gleichzeitig als Grundrechtsausgestaltung und als Grundrechtseingriff zu bewerten und zu rechtfertigen. Daher muss die Handlung nicht nur im Einklang mit den vorstehenden Kriterien der zulässigen Ausgestaltung stehen, sondern auch den eingriffsrechtlichen Voraussetzungen genügen.250 Bei einem derartigen „Akt mit Doppelwirkung“ muss neben dem spezifischen Grundrechtsvorbehalt und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor allem der bei Grundrechtseingriffen zu beachtende Vorbehalt des Gesetzes berücksichtigt werden.251 Ausgestaltendes Richterrecht mit eingreifender Wirkung ist daher wegen des Verstoßes gegen den Vorbehalt des Gesetzes im Grundsatz unzulässig.252 Hier muss der Gesetzgeber aktiv werden und entsprechende normative Freiheiten schaffen. Wie allerdings vorstehend bereits erläutert wurde, muss in bestimmten Schutzpflichtkonstellationen eine Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes gemacht werden. In Fällen, in denen die grundrechtliche Schutzpflicht ein bestimmtes staatliches Handeln einfordert, kann ein Gericht diese Anordnung treffen.253 3.  Zusammenfassung Grundrechtseingriffe des BAG unterliegen grundsätzlich dem Vorbehalt des Gesetzes. Nur die Schutzpflicht kann in bestimmten Fällen einen Grundrechtseingriff des BAG durch Richterrecht rechtfertigen. Im Übrigen muss sich das BAG bei Grundrechtseingriffen an die üblichen Voraussetzungen grundrechtlicher Eingriffe halten und im Rahmen verfassungsimmanenter Schranken handeln und vor allem den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Grundrechtsausgestaltungen des BAG unterliegen ebenfalls dem Vorbehalt des Gesetzes, wenn es sich gleichzeitig um Grundrechtseingriffe für einen Drit250  Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 105; auch das BAG berücksichtigt, dass es bei einer Ausgestaltung mit Drittwirkung kollidierende Grundrechte des Arbeitgebers im Wege praktischer Konkordanz berücksichtigen muss: BAG, Urt. v. 22. 6. 2010, 1 AZR 179/09, NZA 2010, 1365, 1367. 251  Drechsler, ZJS 2015, 344, 352; Michael/Morlok, Grundrechte, S. 253 f.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 218 ff., die zu Recht jedoch darauf hinweist, dass bei normgeprägten Freiheiten die Besonderheit zu berücksichtigen ist, dass diesen nur in einem begrenzten Maße abwehrrechtlicher Schutz zukomme (siehe dazu bereits die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., II., 2. „Normative Freiheit“). 252  Drechsler, ZJS 2015, 344, 352; Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 92. Für die Betätigungsfreiheit der Koalitionen bleibt dies häufig unberücksichtigt, siehe beispielsweise Schwarze, RdA 2010, 115, 116 f., der die Ausgestaltung des BAG auch bei Beeinträchtigung grundrechtlicher Belange des Arbeitgebers grundsätzlich billigt. 253  Siehe dazu bereits die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 1., (3) „Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie?“.

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ten handelt (Dreieckskonstellationen) oder die bloße Ausgestaltung bereits nach der Wesentlichkeitstheorie grundrechtsrelevant ist. Die Notkompetenz gilt jedoch hier genauso wie bei Grundrechtseingriffen. Im Übrigen muss sich die Ausgestaltung eines Grundrechts an den jeweiligen grundrechtsspezifischen Prinzipien orientieren und diese verwirklichen. Einer Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegt die Ausgestaltung hingegen nicht. II.  Übertragung auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum nichtgewerkschaftlichen Streik Im Folgenden werden die vorstehend erläuterten abstrakten Rechtfertigungsmaßstäbe auf die Rechtsprechung des BAG zum nichtgewerkschaftlichen Streik übertragen: Dies betrifft zum einen die deliktsrechtliche Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks als Grundrechtseingriff (1.) und zum anderen die arbeitsvertragliche Bewertung des Streiks als Grundrechtsausgestaltung (2.). 1.  Deliktsrechtliche Bewertung: Verfassungswidriger Grundrechtseingriff Das deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks muss als Grundrechtseingriff entsprechend der oben dargelegten Maßstäbe verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Steht es mit diesen Maßstäben im Widerspruch, hat das BAG die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt. Den Vorbehalt des Gesetzes hat das Gericht jedenfalls gewahrt. § 823 Abs. 1 BGB stellt eine gesetzliche Norm dar, die als Grundlage für Grundrechtseingriffe dienen kann. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Grundrechtseingriff des BAG im Übrigen verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Dazu muss der Eingriff in die Koalitionsfreiheit verfassungsimmanenten Schranken genügen und den Schutz anderer Grundrechte oder grundrechtsgleicher Werte verfolgen. Darüber hinaus muss das deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen und zu diesem Zwecke geeignet, erforderlich und angemessen sein. Für die nachfolgende Prüfung ist zu berücksichtigen, dass der nichtgewerkschaftliche Streik trotz seines abwehrrechtlichen Schutzes durch Art. 9 Abs. 3 GG bisher keine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung besitzt. Diese ist kein automatischer Bestandteil der grundrechtlichen Gewährleistung des Streiks. Zudem ist sie bislang weder durch den Gesetzgeber noch durch das BAG als „Ersatzgesetzgeber“ im Zivilrecht verankert worden. Nur für den gewerkschaftlichen Streik hat das BAG die Suspendierungswirkung angeordnet.254 Daher verstößt ein nichtgewerkschaftlicher Streik nach aktueller Rechtslage gegen die arbeitsvertragliche 254  Siehe dazu die Ausführungen zur normativen Freiheit des Streiks im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 3. „Auswirkungen“. Gute Darstellung auch durch Ramm, AuR 1964, 353, 361.

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Leistungspflicht. Um diese Pflichtverletzung zu umgehen, müssten Arbeitnehmer vor einem nichtgewerkschaftlichen Streik ihr Arbeitsverhältnis kündigen.255 Das BAG verkannte in seinem ersten Urteil zur deliktsrechtlichen Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks, dass dieser Streikform die arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung fehlt: Es ging davon aus, dass „jeder Streik [..] eine einseitige Suspendierung der durch den Arbeitsvertrag übernommenen Arbeitspflicht [ist]“256. Wie das Gericht betonte, sei der nichtgewerkschaftlichen Streik auch aus diesem Grund als rechtswidrig einzustufen.257 Damit ging das Gericht zumindest hinsichtlich der Wirkungen des nichtgewerkschaftlichen Streiks auf den Arbeitgeber von einem falschen Grundverständnis aus. Im Rahmen der folgenden Verhältnismäßigkeitsprüfung wird dagegen berücksichtigt, dass der nichtgewerkschaftliche Streik bisher keine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung besitzt. a)  Legitimer Zweck Als Gründe für das generelle deliktsrechtliche Verbot griff das BAG auf unterschiedliche Aspekte zurück. Das Gericht führte zunächst an, dass einer Arbeitnehmergruppe im Vergleich zu einer Gewerkschaft einerseits das nötige Verhandlungsgewicht für den Abschluß eines Tarifvertrages fehle und andererseits nicht gewährleistet sei, dass die Friedenspflicht durch die Arbeitnehmer eingehalten werden würde.258 Beide Aspekte können als Schutz der Tarifautonomie verstanden werden.259 Die Tarifautonomie stellt mit der Möglichkeit, Tarifverträge abzuschließen, die wichtigste – wenngleich nicht einzige Form260 – der Koaliti255  In diesem Zusammenhang hat sich die Rechtslage zu den Verhältnissen in der Weimarer Republik nicht verändert. Siehe dazu die Ausführungen im 1. Teil, 2. Kapitel, A., IV. „Weimarer Zeit“. 256 BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885, Hervorhebung durch den Verfasser. Anders dagegen die Folgeurteile zum nichtgewerkschaftlichen Streik, in denen das Gericht die Suspendierungswirkung dieser Streikform generell ablehnte: BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; vgl. BAG GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, GS 1/68, NJW 1971, 1668, 1671; vgl. BAG, Urt. v. 17. 12. 1976, 1 AZR 772/75, NJW 1977, 918; ausführlich BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237 f. 257  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885 f. 258  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885. 259  Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 324 f.; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 17; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1088: „[…] die Gefährdung der Tarifautonomie ist denn auch die eigentliche Rechtfertigung der h.M. [die für das Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks sei, Anm. d. Verf.]; zur Rechtfertigung des arbeitskampfrechtlichen Tarifbezugs durch den Schutz der Tarifautonomie Gooren, Tarifbezug, S. 145; vgl. Rüthers, DB 1970, 2120, 2127 f.; vgl. zur Tarifautonomie als Schranke des Streikrechts Hufen, NZA 2014, 1237, 1239. 260  Siehe dazu den 3. Teil, 3. Kapitel, A., II., 3., a) Tarifvertrag nicht alleiniges Mittel der Koalitionseinigung“.

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onseinigung dar. Sie zählt zu den grundrechtlich geschützten Betätigungsformen der Koalitionsfreiheit und ist daher ein legitimer Zweck, einen grundrechtlichen Eingriff zu rechtfertigen.261 Darüber hinaus griff das BAG auf die Aussage des Großen Senates zurück, wonach Arbeitskämpfe im Allgemeinen unerwünscht seien, da diese zwangsläufig zu volkswirtschaftlichen Schäden führen würden.262 Dieser Aspekt stellt für das BAG „die […] entscheidende und für sich allein durchschlagende Erwägung gegenüber einer rechtlichen Anerkennung oder auch nur Tolerierung des wilden Streiks“263 dar. Zum Schutz vor volkswirtschaftlichen Schäden fordert das Gericht, die Führung von Arbeitskämpfen ausschließlich Gewerkschaften anzuvertrauen. Diese müssten zu Kontrollzwecken eingeschaltet werden, damit nur in wirklich begründeten Fällen gestreikt würde. Nichtgewerkschaftliche Arbeitnehmerkoalitionen bieten nach Ansicht des Gerichts nicht die Gewähr dafür, dass vom Streik nur in einem vertretbaren Umfang Gebrauch gemacht werde.264 Konkrete Grundrechte der Streikbetroffenen oder andere verfassungsrechtliche Güter, die das BAG durch das Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks schützen will, nennt das Gericht im Rahmen des Urteils allerdings nicht.265 Ein bloßes Allgemeininteresse oder das diesem ähnliche generelle Gemeinwohl sind jedenfalls keine grundrechtlich geschützten Güter.266 Es ist daher zu untersuchen, welche Grundrechte des bestreikten Arbeitgebers und betroffener Dritter durch einen nichtgewerkschaftlichen Streik beeinträchtigt werden. Für den Arbeitgeber kommen insbesondere seine Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG, seine Eigentumsfreiheit gemäß Art. 14 GG und sein Hausrecht gemäß Art. 13 Abs. 1 GG als kollidierende Verfassungsgüter in Betracht. Ein Streik unterbricht den gewöhnlichen Betriebsablauf eines Unternehmens. Dadurch werden Produktionsvorgänge verlangsamt, so dass vertragliche Bindungen des Arbeitgebers zu Abnehmern möglicherweise nicht eingehalten werden können. Der Streik beeinträchtigt daher den Arbeitgeber in seiner ungestörten beruflichen Ausübung, die von der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG gewährleistet 261  Zur

„Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“ als legitimes Ziel arbeitsrechtlicher Normsetzung Ulber, NZA 2016, 619, 620. 262  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885; vgl. BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883; dazu kritisch Zachert, AuR 2001, 401, 403. 263  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885. 264  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885. 265  Vgl. allgemein zum Streikrecht Zachert/Binkert, NZA 1998, 337, 340, in Fn. 34: „Die Rechtsprechung ist im Hinblick auf die abzuwägenden Positionen sehr unsicher […].“ 266  Gooren, Tarifbezug, S. 142; vgl. BAG, Urt. v. 7. 7. 2010, 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, 1076, das darauf hinweist, dass die Koalitionsfreiheit nur zum Schutz konkreter Gemeinwohlbelange eingeschränkt werden kann, die Verfassungsrang besitzen.

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wird.267 Die Eigentumsfreiheit des Arbeitgebers kann ebenfalls als grundrechtlicher Belang relevant werden, wobei ihr Anwendungsbereich für den nichtgewerkschaftlichen Streik konkretisiert werden muss. Dies liegt daran, dass der nichtgewerkschaftliche Streik keine Suspendierungswirkung besitzt und er durch Art. 14 GG geschützte arbeitsvertragliche Ansprüche des Arbeitgebers jedenfalls nicht entwertet.268 Daneben beeinträchtigt die bloße Arbeitsniederlegung nach der hier vertretenen Ansicht auch nicht das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb,269 welches zum Teil dem Schutzbereich des Art. 14 GG zugeordnet wird.270 Art. 14 GG schützt allerdings neben dem Bestand des Eigentums auch die entsprechende Nutzung, so dass Substanzverletzungen und Nutzungsbeeinträchtigungen die Eigentumsfreiheit beeinträchtigen.271 Ein zeitlich begrenzter und friedlich ausgeübter nichtgewerkschaftlicher Streik führt nicht zu Substanzverletzungen oder erheblichen Nutzungsbeeinträchtigungen.272 Die passive Arbeitsniederlegung verhindert grundsätzlich nicht den Zugriff des Arbeitgebers auf sein Eigentum.273 Sie stellt keine Blockade dar und schließt daher nicht die Möglichkeit aus, dass der Arbeitgeber den Betrieb mit anderen Arbeitnehmer aufrechterhält. Die Nutzung des Betriebsgeländes erfährt allerdings insoweit grundrechtlichen Schutz, als dass der Arbeitgeber sein Hausrecht nutzen kann, das gemäß Art 13 Abs. 1 GG geschützt ist.274

267  Gooren, Tarifbezug, S. 143 f.; Dumke, Streikrecht ESC, S. 234; vgl. Cornils, in: BeckOK GG, Art. 9 GG, Rn. 89.1. Das BVerfG ordnet die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit mitunter auch der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG zu: BVerfG, Beschl. 14. 11. 1995, 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 383. 268 Vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 143. 269  Siehe dazu eingehender die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, A., VI., 1. „Nichtgewerkschaftlicher Streik und Deliktsrecht: Grundrechtseingriff“. Derselben Ansicht sind Dumke, Streikrecht ESC, S. 349; Richardi/Fischinger, in: Staudinger (2011), Vorbemerkungen zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 867 f. Überwiegend wird allerdings angenommen, dass jedenfalls der rechtswidrige Streik in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs eingreift: Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 129; vgl. Förster, in: BeckOK BGB, § 823 BGB, Rn. 247 ff.; Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 203, 34 f. 270  Für einen Schutz durch Art. 14 GG beispielsweise Axer, in: BeckOK GG, Art. 14 GG, Rn. 51 ff. 271  Axer, in: BeckOK GG, Art. 14 GG, Rn. 64. 272  Da die Streikenden bei einem nichtgewerkschaftlichen Streik keine finanzielle Unterstützung einer Gewerkschaft erhalten und für die Zeit des Streiks keinen Lohn erhalten, ist davon auszugehen, dass ein nichtgewerkschaftlicher Streik überwiegend zeitlich kurz ausfällt. 273 Vgl. Lambrich/Sander, NZA 2014, 337, 338 f., die allerdings eine Nutzungsbeeinträchtigungen annehmen, „wenn Flugzeuge für eine nicht unerhebliche Zeit am Flughafen festsitzen oder Schiffe durch außer Betrieb genommene Schleusen ‚eingesperrt‘ werden“. 274  Zachert/Binkert, NZA 1998, 337, 340 f.

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Inwieweit ein Streik in relevanter Weise Grundrechte Dritter berührt, ist dagegen unklarer.275 Zwischen den Streikenden und Dritten bestehen grundsätzlich keine vertraglichen Beziehungen, so dass ein Streik nicht zu einem Vertragsbruch führt. Zudem ist der Streik grundsätzlich nicht unmittelbar gegen die Berufsfreiheit oder das Eigentum von Dritten gerichtet. Falls Dritte durch einen Streik beeinträchtigt werden, ist dies überwiegend nur eine mittelbare Folge.276 Eine Beeinträchtigung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb kommt in diesen Fällen bereits wegen der fehlenden Betriebsbezogenheit nicht in Betracht.277 Mittelbare Beeinträchtigungen Dritter durch Streiks gehören zum Wesen des rechtmäßigen Arbeitskampfes und sind dadurch bis zu einem gewissen Grad hinzunehmen.278 Allerdings sind auch Arbeitskämpfe denkbar, in denen die Streikenden zielgerichtet und als Hauptzweck die Rechte Dritter beeinträchtigen wollen.279 Wird in diesem Fall der direkte Arbeitgeber bestreikt, um dadurch offensichtlich Dritte zu schädigen und den Druck auf den Arbeitgeber zu erhöhen, ist dies für Dritte grundrechtsrelevant. Denkbar ist dies beispielsweise bei einem Streik von Fluglotsen, wenn diese dadurch tatsächlich zielgerichtet das Geschäft der Fluggesellschaften behindern wollen.280 Für diese Fälle können auch die Grundrechte Dritter als legitimes Ziel eines Verbots bestimmter Streikformen dienen. 275  Siehe zum Schutz Drittbetroffener bei Streiks: Lambrich/Sander, NZA 2014, 337 ff.; Scharff, BB 2015, 1845 ff; Höfling, in: Sachs, Art. 9, Rn. 144; Steinau-Steinrück/Glanz, NZA 2009, 113, 115: „existenzielle Extremfälle“; siehe zu besonderen Fällen der Drittbetroffenheit in Fällen der in dieser Arbeit nicht eingehender zu behandelnden Daseinsvorsorge: Hufen, NZA 2014, 1237, 1238 f.; Rudkowski, Streik in der Daseinsvorsorge, S. 16. 276 Siehe zum vermeintlichen Sonderfall einer starken wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen dem bestreikten Arbeitgeber und einem Dritten (Fluggesellschaft und Flugsicherung) Scharff, BB 2015, 1845, 1848, für den die Autorin einen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb annimmt. Das BAG hingegen hat auch für diesen Fall einen Anspruch des Dritten aus § 823 Abs. 1 BGB mangels Betriebsbezogenheit zuletzt abgelehnt: BAG, Urt. v. 25. 8. 2015, 1 AZR 754/13, NZA 2016, 47. 277  Zachert/Binkert, NZA 1998, 337, 338. Siehe allgemein zum Erfordernis der Betriebsbezogenheit Förster, in: BeckOK BGB, § 823 BGB, Rn. 182 ff.; Lambrich/Sander, NZA 2014, 337, 339 f. 278  Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 198; LAG Frankfurt, Urt. v. 27. 6. 2013, 9 Sa 1387/12, BeckRS 2013, 74901: „Es gehört zum Wesen des Streiks, dass hiervon auch Dritte, nämlich diejenigen, die Leistungen des bestreikten Unternehmens abnehmen, mittelbar betroffen sein können.“. 279 Dazu BAG, Urt. v. 21. 06. 1988, 1 AZR 653/86, NZA 1988, 884; BGH, Urt. v. 16. 6. 1977, III ZR 179/75, NJW 1977, 1875. In letzter Zeit behandelt die Rechtsprechung Ansprüche Dritter infolge von Arbeitskämpfen jedoch restriktiver und lehnt überwiegend die Betriebsbezogenheit für Ansprüche Dritter aus § 823 Abs. 1 BGB ab: BAG, Urt. v. 25. 8. 2015, 1 AZR 754/13, NZA 2016, 47; LAG Frankfurt, Urt. v. 27. 6. 2013, 9 Sa 1387/12, BeckRS 2013, 74901; ArbG Frankfurt a. M., Urt. v. 25. 3. 2013, 9 Ca 5558/12, NZA-RR, 2013, 426. 280  Siehe dazu Lambrich/Sander, NZA 2014, 337, 340; Scharff, BB 2015, 1845, 1846 ff.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

b)  Geeignetheit Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Anzahl von Streiks durch das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks geringer ausfällt.281 Das Verbot ist somit geeignet, die wirtschaftliche Beeinträchtigung des Arbeitgebers und Dritter durch Streiks zu reduzieren. Der Eingriff des BAG ist in dieser Hinsicht geeignet. Die Möglichkeit der Zweckerreichung reicht für die Geeignetheit aus.282 Gleiches gilt für den Schutz der Tarifautonomie. Das zentrale Mittel, um bessere Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, ist bislang der Tarifvertrag.283 Solange nichtgewerkschaftliche Koalitionen kein zulässiges Druckmittel besitzen, befinden sie sich gegenüber dem Arbeitgeber in einer schlechteren Verhandlungsposition als Gewerkschaften. Tarifverträge werden dadurch vermutlich zu besseren Konditionen abgeschlossen als schuldrechtliche Verträge nichtgewerkschaftlicher Koalitionen. Dadurch bleiben Tarifverträge für Arbeitnehmer weiterhin attraktiver. Zudem können gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer den Tarifvertrag ihrer Gewerkschaft durch einen eigenen nichtgewerkschaftlichen Streik nicht in Frage stellen, solange letzterer verboten ist. Wäre der nichtgewerkschaftliche Streik erlaubt, könnten gewerkschaftliche Arbeitnehmer parallel für einen neuen schuldrechtlichen Kollektivvertrag streiken, obwohl für sie bereits ein Tarifvertrag existiert.284 Die Friedenspflicht des bestehenden Tarifvertrags bietet nur einen mittelbaren Schutz. Die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer sind nicht unmittelbar an die Friedenspflicht gebunden. Sie bindet unmittelbar nur die Gewerkschaft als Vertragspartei.285 Sie müsste im Falle eines nichtgewerkschaftlichen Streiks auf ihre Mitglieder einwirken, diesen zu unterlassen.286 Ist der nichtgewerkschaftliche Streik jedoch verboten, wird der Schutz bestehender Tarifverträge über die Einwirkungspflicht hinaus verstärkt. Zweifel sind allerdings hinsichtlich des Ordnungsarguments des BAG angebracht.287 Die gewerkschaftliche Situation hat sich im Vergleich zum Zeitpunkt 281  So auch Gooren, Tarifbezug, S. 141 f.; vgl. Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 38; a.A. Zachert, AuR 2001, 401, 405; ähnlich kritisch Kittner, BB 1974, 1488, 1489, in Fn. 10, für den diese Annahme einer empirischen Basis entbehrt. 282  Zur Geeignetheit arbeitsrechtlicher Normsetzung Ulber, NZA 2016, 619, 621. 283  Bruhn, Tariffähigkeit, S. 80. 284 Dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1088; Rüthers, DB 1970, 2120, 2128. 285  Rüthers, DB 1970, 2120, 2126; vgl. Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 217 f. 286  Zur Einwirkungspflicht Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 329. 287  Ähnliche Zweifel haben: Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 20; vorsichtiger Bepler, in: FS Wißmann, S. 108; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 17 f.; Klein, in: Gagel SGB III 2018, Vorbem. vor § 160, Rn. 23; Hohenester, Grenzen der Streikfreiheit, S. 37; Däubler, ZfA 1973, 201, 220; Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 9 GG, Rn. 119; Zachert, NZA-Beil. 2006, 61, 66, aufgrund

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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des BAG-Urteils dahingehend verändert, dass nicht mehr nur große Einheitsgewerkschaften die Tarifpolitik und den Arbeitskampf bestimmen, sondern auch kleine Spartengewerkschaften die Rechte ihrer Mitglieder vertreten. Auch diese vergleichsweise jungen Koalitionen können strukturierte und zielorientierte Arbeitskämpfe führen. Die Größe einer Koalition ist daher kein zwingendes Erfordernis für die Ordnung im Arbeitskampf.288 Zudem ist der durch das BAG und das BVerfG anerkannte Flashmob ein Beispiel dafür, dass der Arbeitskampf großer Gewerkschaften nicht immer in geordneten Bahnen ablaufen muss.289 Das Argument des BAG, nur Gewerkschaften können Gewähr für einen geordneten Arbeitskampf gewährleisteten, wird durch diese Entwicklung entkräftet. Es hängt nicht zwingend von der Größe oder dem Alter einer Koalition ab, ob ein Arbeitskampf geordnet abläuft.290 Gegen das pauschale Ordnungsargument spricht aus rechtlicher Sicht zudem, dass nichtgewerkschaftliche Streiks nur von Art. 9 Abs. 3 GG umfasst werden, wenn die nichtgewerkschaftliche Koalition – wie bereits festgestellt wurde – eine innere Willensbildung aufweist und dem Arbeitgeber als Ansprechpartner zur Verfügung steht.291 Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, sollte davon ausgegangen werden, dass auch eine Arbeitnehmerkoalition ernsthaft und geordnet mit dem Arbeitgeber über bestimmte Forderungen verhandeln kann und im Streikfalle ordnend auf die Mitglieder einwirken kann.292 Das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks ist daher zumindest nicht generell geeignet, für einen geregelten und geordneten Arbeitskampf zu sorgen. eines Autoritätsverlust der großen Verbände mit Zweifeln am Streikmonopol der Gewerkschaften; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 208 ff.; Zachert, AuR 2001, 401, 403: „überholt“; Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396; vgl. Bruhn, Tariffähigkeit, S. 150; zumindest für ein geringes Gewicht des Ordnungsarguments Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1089; das Ordnungsargument hingegen unterstützend: Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 325; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch Arbeitsrecht, Bd. II/2, S. 1005 f.; Rüthers, DB 1970, 2120, 2121; Picker, ZfA 2010, 586, 626. 288 Vgl. Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 96. 289  BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, 495; BAG, Urt. v. 22. 9. 2009, 1 AZR 972/08, NZA 2009, 1347. Gegenstand der Urteile war ein von Verdi getragener Flashmob, bei dem Gewerkschaftsmitglieder und außenstehende Dritte in Berlin einen Supermarkt blockierten, indem sie beispielsweise Einkaufswagen füllten und stehenließen oder nur mit Cent Beträgen an der Kasse bezahlten. Siehe dazu Waldhoff/ Thüsing, ZfA 2011, 329, 356 f. und aus historischer Sicht Hohenester, Grenzen der Streikfreiheit, S. 37. 290 Vgl. Ramm, AuR 1971, 65, 74: „Der nichtgewerkschaftliche Streik kann auch organisiert […] sein […].“; vgl. Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 20; ähnlich bereits LAG Frankfurt, Urt. v. 18. 9. 1950, I LA 344/49, RdA 1950, 427, 429. 291  Siehe zu dieser wichtigen Anforderung des Koalitionsbegriffs an das streikende Kollektiv die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 292  So auch die Einschätzung von Dumke, Streikrecht ESC, S. 235; passend dazu die Forderung des Professorenentwurfs eines Arbeitskampfgesetzes, der verbandsfreie Streik bedürfe einer „Streikleitung“: Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 98.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

c)  Erforderlichkeit Fraglich ist, ob ein generelles Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks erforderlich ist, um die Tarifautonomie zu schützen. Dazu dürften keine gleich geeigneten milderen Mittel verfügbar sein.293 Dabei geht es zum Einen um die Ordnungsfunktion bestehender Tarifverträge durch Wahrung der tarifvertraglichen Friedenspflicht. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass Arbeitnehmer, die überhaupt nicht gewerkschaftlich organisiert sind und deshalb zum Mittel des nichtgewerkschaftlichen Streiks greifen, überhaupt keiner tariflichen Friedenspflicht unterliegen.294 Ähnliches gilt für nichtgewerkschaftliche Streiks, die inhaltliche Ziele verfolgen, die bisher nicht durch einen Tarifvertrag geregelt werden.295 Auch diese Streiks verstoßen nicht gegen eine tarifliche Friedenspflicht. Ein milderes und gleich geeigneteres Mittel wäre beispielsweise, das Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks auf Fälle zu beschränken, in denen Gewerkschaftsmitglieder streiken wollen und zugleich eine tarifliche Friedenspflicht sachlich Anwendung findet. Neben dieser Begrenzung des Verbots könnten Friedenspflichten auch in schuld­ rechtlichen Vereinbarungen zwischen nichtgewerkschaftlichen Arbeitnehmerkoalitionen und dem Arbeitgeber vereinbart werden, um für einen bestimmten Zeitraum Arbeitskämpfe in einem Betrieb auszuschließen.296 Zur Wahrung der tarifvertraglichen Friedenspflicht ist ein generelles Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks zum Schutz der Tarifautonomie daher nicht erforderlich. Etwas anderes gilt allerdings für das legitime Ziel, das kollektive Vereinbarungen weiterhin durch Tarifverträge erfolgen sollen. Gerade ein streikrechtliches Gewerkschaftsmonopol führt zu einer größeren Attraktivität von Tarifverträgen. Mildere Mittel, die gleichsam diesen Zweck erfüllen, sind nicht ersichtlich. Damit ist das Verbot diesbezüglich erforderlich. Zum Schutz der Grundrechte des Arbeitgebers und mittelbar betroffener Dritter ist ein generelles Verbot dagegen auch erforderlich. Die Belastung durch Streiks sinkt, wenn bestimmte Streikformen verboten werden und dadurch die Druckmittel der Arbeitnehmer verringert werden. Wenn neben Gewerkschaften auch nichtgewerkschaftliche Koalitionen Arbeitsniederlegungen beschließen könnten, würde das Risiko der Arbeitgeber steigen, durch Streiks Produktionsunterbrechungen ausgesetzt zu sein. Ein Mittel, das im Vergleich zum generellen 293 

Ulber, NZA 2016, 619, 621. Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 329. 295  Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 329; Galperin, in: FS Nipperdey 1965, S. 217. 296  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 1091; für einen „zeitlich begrenzten Streikverzicht“ nach nichtgewerkschaftlichen Streiks – wohl in Form einer Rechtsfortbildung – Ramm, AuR 1971, 65, 75; auch der sogenannte „Professorenentwurf“ eines Arbeitskampfgesetzes ordnet in § 36 eine individualvertragliche Friedenspflicht für verbandsfreie Arbeitskämpfe an: Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 11 und 99 f.; kritisch zu dieser Möglichkeit Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 324. 294 

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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Verbot gleich geeignet, aber gleichzeitig für nichtgewerkschaftliche Koalitionen weniger einschneidend wäre, stand dem BAG nicht zur Verfügung. Daher ist das Verbot jedenfalls zum Schutz der Grundrechte des Arbeitgebers und betroffener Dritter erforderlich gewesen.297 d)  Angemessenheit Der Grundrechtseingriff müsste jedoch auch angemessen sein, damit er nicht als Grundrechtsverletzung verfassungswidrig ist. Diese unter dem Stichwort „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“ durchzuführende Prüfung verlangt, dass der Staat die widerstreitenden Grundrechte in einen angemessenen Ausgleich bringt. Insbesondere bei Eingriffen in vorbehaltlos gewährte Grundrechte wie die Koalitionsfreiheit wird dieser Vorgang als die Herstellung praktischer Konkordanz bezeichnet.298 Diese von Hesse geprägte Formel verlangt, dass die betroffenen Grundrechte „zu optimaler Wirkung gelangen können“299. Es muss eine umfassende Güterabwägung vorgenommen werden, bei der nicht nur alle Positionen berücksichtigt werden müssen, sondern beide Seiten in einen optimalen Ausgleich gebrachten werden müssen.300 Um auf beiden Seiten zu optimaler Wirksamkeit zu gelangen, sind auf beiden Seiten auch Grenzen zu ziehen.301 Die wechselseitige Begrenzung sorgt somit zwar für Einbußen auf beiden Seiten, aber führt im Endeffekt dazu, dass von beiden konkurrierenden Schutzgehalten möglichst viel bewahrt wird.302 Die Herstellung praktischer Konkordanz ist auch bei Eingriffen in den durch Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos geschützten Streik maßgebend.303 Auf Grundlage der vorstehenden Prämissen ist zunächst die Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks für die Koalitionsfreiheit und die Schwere seines Verbots 297  Anders hingegen Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396, die der Ansicht sind, dass es zum Schutz der Rechte der Arbeitgeber keines totalen Verbotes bedürfe. Mildere Mittel, die gleichzeitig einen gleich geeigneten Schutz gewähren, zählen die beiden Autoren jedoch als Begründung nicht auf. 298 Ausführlich Schladebach, Der Staat 2014, 263, 269 ff.; Engels, RdA 2008, 331, 336; Gooren, Tarifbezug, S. 148; Rudkowski, Streik in der Daseinsvorsorge, S. 16; siehe auch BVerfG, Beschl. v. 16. 5. 1995, 1 BvR 1087/91, NJW 1995, 2477, 2479; BVerfG, Beschl. v. 6. 10. 2009, 2 BvR 693/09, NJW 2010, 220, 222. 299  Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, S. 28; dazu Schladebach, Der Staat 2014, 263, 271 f. 300  Schladebach, Der Staat 2014, 263, 273; Hufen, NZA 2014, 1237, 1238; Gooren, Tarifbezug, S. 148; vgl. Rudkowski, Streik in der Daseinsvorsorge, S. 16. 301  Hesse, Grundzüge Verfassungsrecht, S. 28; Schladebach, Der Staat 2014, 263, 271. 302 Vgl. Schladebach, Der Staat 2014, 263, 271. 303  Hufen, NZA 2014, 1237, 1238; LAG Sachsen, Urt. v. 2. 11. 2007, 7 SaGa 19/07, NZA 2008, 59, 68 ff.; zum Arbeitskampf: Gooren, Tarifbezug, S. 148; Lehmann, in: FS Buchner, S. 533.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

zu ermitteln. Ebenfalls wird auf die von Hesse angesprochenen Begrenzungen eingegangen, die dem nichtgewerkschaftlichen Streik unter Umständen gezogen werden können. Im Anschluss werden die kollidierenden grundrechtlichen Güter und ihre jeweilige Beeinträchtigung bewertet. Generell ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitskampf nicht per se Vorrang vor den mit ihm kollidierenden Grundrechtsgütern besitzt.304 Der Ausgleich zwischen allen beteiligten Gütern muss so erfolgen, dass alle zu optimalerer Wirksamkeit gelangen. Am Ende der Prüfung kann festgestellt werden, ob das BAG alle beteiligten Grundrechtsgüter im Sinne praktischer Konkordanz ausgeglichen hat, so dass sein Grundrechtseingriff angemessen wäre. Der nichtgewerkschaftliche Streik kann ein wichtiges Druckmittel sein, wenn Arbeitnehmern ein gewerkschaftlicher Streik nicht zur Verfügung steht. Dies kommt in verschiedenen Situationen in Frage. So wurde im Dezember 2014 ein nichtgewerkschaftlicher Streik im Mercedes-Werk in Bremen dadurch ausgelöst, dass die dort zuständige Gewerkschaft IG Metall den Streik von mehr als 1000 Mitarbeitern nicht unterstützen wollte. Das Ziel der Arbeitnehmer war unter anderem, die Auslagerung von 140 bestehenden Logistikarbeitsplätzen an Fremdfirmen zu verhindern und die zukünftige Vergabe von Leiharbeitsplätzen zu reduzieren.305 Zu ähnlichen Arbeitsniederlegungen kam es 2004 bei Daimler-Chrysler und bei Opel, wo die Arbeitnehmer ebenfalls ohne die Unterstützung einer Gewerkschaft ihre Arbeit niederlegten.306 Diese Fälle verdeutlichen, dass es Situationen gibt, in denen Gewerkschaften aus strategischen oder politischen Gründen bestimmte Arbeitnehmerinteressen nicht unterstützen und ein Bedürfnis für nichtgewerkschaftliche Streiks besteht.307 Dies gilt gleichermaßen 304 Zutreffend

Lehmann, in: FS Buchner, S. 536. dazu die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Bremen unter http://www. arbeitsgericht.bremen.de/sixcms/media.php/13/Pressemitteilung_16_02_2016.pdf (Abruf am 18. 6. 2016) und aus der Presse: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-135322498. html (Abruf am 18.  6.  2016); http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ mercedes-streik-gericht-weist-klage-gegen-abmahnungen-ab/12971880.html (Abruf am 18. 6. 2016). 306  Siehe dazu Rieble, RdA 2005, 200 f.; aus der Presse: http://www.handelsblatt.com/ unternehmen/industrie/unmut-beim-autobauer-wilder-streik-im-bochumer-opel-werk/ 8769778.html (Abruf am 18. 6. 2016). 307  Siehe dazu den 1. Teil, 3. Kapitel, C. „Soziale Bedeutung des nichtgewerkschaftlichen Streiks und Rechtsvergleichung“. Aus der Literatur: Reuss, AuR 1965, 97, 100; Reuss, Juristen-Jahrbuch 1963/64, 163, 173; Kittner, BB 1974, 1488, 1492; siehe § 34 des „Professorenentwurfs“, der ein verbandsfreies Streikrecht anerkennt, wenn „die Tarifautonomie im konkreten Fall versagt“: Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 96 ff.; anders Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 325, die diesen Umstand „als kleineres Übel“ zum Schutz der Tarifautonomie hinnehmen. Siehe weiterführend zur grundrechtlichen Schutzpflicht in diesen Fällen 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 305 Siehe

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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für bereits gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer wie für nichtorganisierte Arbeitnehmer. Darüber hinaus nimmt der gewerkschaftliche Einfluss in vielen Branchen durch einen vermehrten Mitgliederschwund ab.308 Verstärkt sich dieser Trend, könnten nichtgewerkschaftliche Streiks einen ausgleichenden Mechanismus bilden, mit dem Arbeitnehmer ihre Position gegenüber dem Arbeitgeber stärken können.309 Ein Verbot der Streikform würde Arbeitnehmer faktisch dazu zwingen, in schwächelnde Gewerkschaften einzutreten. Dieser Zwang ist noch kritischer vor dem Hintergrund, dass Gewerkschaften üblicherweise Mitgliedsbeiträge erheben und ein Streik dadurch an die Zahlung von Beiträgen gekoppelt wäre. Bepler weist zudem darauf hin, dass sich Arbeitgeber zunehmend tarifvertraglichen Bindungen entziehen und sich außerhalb des tarifvertraglichen Ordnungssystems stellen. In diesen Situationen bestehe für einen Schutz vor nichtgewerkschaftlichen Streiks kein Anlass, da sich die Arbeitgeber ebenfalls nicht im Rahmen des tarifvertraglichen Ordnungssystems bewegen würden.310 Für einen ausreichenden Schutz durch bestehende Regelungen könnten jedoch zwei Mechanismen sprechen: die Möglichkeit der Übernahme nichtgewerkschaftlicher Streiks durch Gewerkschaften und die Möglichkeit kollektiver Kündigungen durch Arbeitnehmer. Die nachträgliche gewerkschaftliche Übernahme eines Streiks kann Arbeitnehmer vor rechtlichen Nachteilen schützen und kompensiert zu einem gewissen Grad die fehlende Möglichkeit der Arbeitnehmer, ohne Gewerkschaft zu streiken.311 Allerdings liegt es im Belieben der Gewerkschaften, einen nichtgewerkschaftlichen Streik zu übernehmen. Dadurch sind Arbeitnehmer in den oben genannten Fällen, in denen beispielsweise eine Gewerkschaft einen bestimmten Streik nicht befürwortet, weiterhin schutzlos. Die Übernahmemöglichkeit schmälert daher nicht das Bedürfnis, nichtgewerkschaftliche Streiks zu erlauben. Die zweite Alternative zum nichtgewerkschaftlichen Streik, die kollektive Kündigung, verspricht ebenfalls nur einen scheinbaren Schutz. Jedem Arbeitnehmer müsste es eigentlich individualrechtlich möglich sein, seinen Arbeitsvertrag vor einer Arbeitsniederlegung zu kündigen. Dadurch wäre er nicht mehr vertraglich an den Arbeitgeber gebunden und könnte Druck auf diesen ausüben. Dieses individualvertragliche Recht wird jedoch durch die Rechtsprechung des 308 Siehe dazu Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 18 f.; Höpfner, RdA 2015, 94, 97. 309 Ähnlich Bepler, in: FS Wißmann, S. 110; Waltermann, EuZA 2015, 15, 27; vgl. Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458. 310  Bepler, in: Gagel SGB III 2017, Vorbem. vor § 160, Rn. 21. 311  Siehe zu diesem Argument gegen den nichtgewerkschaftlichen Streik die Ausführungen des BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885; allgemein zur Übernahme nichtgewerkschaftlicher Streiks durch Gewerkschaften: Konzen, ZfA 1970, 159, 181 ff.; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 100.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

BAG ebenfalls erheblich eingeschränkt. Das Gericht hat in einem Urteil vom 28. 04. 1966 entschieden, dass gleichartige und gleichzeitige Änderungskündigungen von Arbeitnehmern ein kollektiver Arbeitskampf sind und damit dessen Regeln unterworfen sind.312 Entsprechend der arbeitskampfrechtlichen Regeln des BAG müssten kollektive Kündigungen durch Arbeitnehmer daher von einer Gewerkschaft getragen sein.313 Diese rechtliche Bewertung überzeugt nicht.314 Die Arbeitnehmer nehmen nur ein ihnen individualvertraglich zustehendes Recht wahr – auch wenn es sich dabei um eine abgestimmte Aktion handelt und sie als Kollektiv ihren Arbeitsvertrag kündigen.315 Zudem riskieren die Arbeitnehmer den dauerhaften Verlust ihres Arbeitsplatzes, so dass sie das Mittel der kollektiven Kündigung nur im äußersten Notfall wählen würden.316 Aufgrund des Urteils des BAG dürfen Arbeitnehmer ihre eigenen Rechte nicht mehr selbständig wahrnehmen, sondern benötigen dafür eine Gewerkschaft. Diese Rechtsprechung führt dazu, dass der Aktionsradius nichtgewerkschaftlicher Koalitionen noch kleiner wird, als er durch das Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks sowieso bereits ist. Dadurch führt das in dieser Arbeit zu analysierende Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks zu einer noch größeren Belastung der Arbeitnehmer und 312 

BAG, Urt. v. 28. 4. 1966; 2 AZR 176/65; AP Nr. 37 Art. 9 Arbeitskampf. Schlussfolgerung lässt das BAG zwar in seinem Urteil explizit dahinstehen (vgl. BAG, Urt. v. 28. 4. 1966; 2 AZR 176/65; AP Nr. 37 Art. 9 Arbeitskampf, Blatt 461 f.). Wenn man dem Gericht jedoch eine gewisse Konsequenz in seiner rechtlichen Behandlung des Arbeitskampfes unterstellt, muss auch für die kollektiv ausgeübte Änderungskündigung gelten, dass sie als Arbeitskampf gewerkschaftlich organisiert sein müsste. So auch die überwiegende Bewertung des Urteils in der Literatur: Weller, AuR 1967, 76, 81; Bepler, in: FS Wißmann, S. 103; Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 261; Mayer-Maly, AP Art. 9 Arbeitskampf Nr. 37, Blatt 464; Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 95; Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 326 ff.; Säcker, BB 1971, 962, 964 f.; Rüthers, DB 1970, 2120, 2125; a.A. hingegen Rieble, RdA 2005, 200, 207 ff., der jedoch in der Analyse des Urteils nicht berücksichtigt, dass das BAG ausdrücklich offenließ, ob ein vorübergehender Zusammenschluss von Arbeitnehmern zum Arbeitskampf legitimiert sei. Zudem meint er, das BAG hätte nie entschieden, dass der Arbeitskampf notwendigerweise ein „nur-gewerkschaftliches Phänomen“ sei (S. 209). Diese Annahme lässt sich alleine durch die Aussagen des Gerichts im Grundsatzurteil zum wilden Streik widerlegen: „Zusammenfassend ist zu sagen, daß Träger des Arbeitskampfes auf der einen Seite – neben den Arbeitgeberverbänden – zwar auch die einzelnen Arbeitgeber, auf der anderen Seite aber nur die Gewerkschaften sein können.“ (BAG, Urt. vom 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 886). 314  So auch Mayer-Maly, AP Art. 9 Arbeitskampf Nr. 37, Blatt 464: Bepler, in: FS Wißmann, S. 113; Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 261 f.; vgl. auch Rieble, RdA 2005, 200, 207 ff; Säcker, BB 1971, 962, 964 f.; differenziert Rüthers, DB 1970, 2120, 2125 f. 315  Mayer-Maly, AP Art. 9 Arbeitskampf Nr. 37, Blatt 464; Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 327; Rieble, RdA 2005, 200, 208; Richardi, in: FS Säcker, S. 292. 316  Bepler, in: FS Wißmann, S. 113; Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 327, die zusätzlich auf die Schwierigkeit unterschiedlicher Kündigungsfristen hinweisen; Rüthers, DB 1970, 2120, 2125. 313  Diese

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nichtgewerkschaftlicher Koalitionen.317 Effektive Alternativmechanismen zum nichtgewerkschaftlichen Streik existieren daher im Falle eines Versagens der Tarifautonomie und der Gewerkschaften nicht. Das angesprochene Schutzbedürfnis bleibt daher in bestimmten Fällen bestehen. Auch das BAG ist sich dieser Fälle bewusst und nimmt in seinem Urteil zum deliktsrechtlichen Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streik zu diesen besonderen Konstellationen in Form einer abstrakten Überlegung Stellung: „Darüber hinaus sind Betriebe denkbar, in denen es keine organisierten Arbeitnehmer gibt. Wenn den dort tätigen Arbeitnehmern als selbständigen Größen das Streikrecht versagt wird, so könnte auch das u.U. eine nicht gerechtfertigte Differenzierung darstellen.“318

Das Gericht nimmt diese Belastung allerdings im Ergebnis zum Schutz kollidierender Grundrechte als „kleineres Übel“319 hin. Dadurch räumt es der dargestellten Schutzbedürftigkeit gewerkschaftlicher Arbeitnehmer und den Interessen nichtorganisierter Arbeitnehmer entgegen der Vorgaben praktischer Konkordanz keinen Stellenwert ein. Der Arbeitskampf läuft damit für nichtgewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer und in bestimmten Fällen auch für organisierte Arbeitnehmer praktisch leer.320 Allerdings ist bezüglich nichtgewerkschaftlicher Arbeitnehmer im Sinne eines optimalen Ausgleichs aller Interessen zu berücksichtigen, dass die Teilnahme an einem Streik oftmals durch einen Gewerkschaftsbeitritt oder die zulässige Teilnahme als Außenseiter möglich ist. Die bereits angesprochene finanzielle Beeinträchtigung durch die gewerkschaftlichen Mitgliedsbeiträge fließt den Mitgliedern zum Teil durch die Zahlung von Streikgeld wieder zu. Die Begrenzung des Verbots nichtgewerkschaftlicher Streiks auf Situationen, in denen ein Gewerkschaftsbeitritt zumutbar ist und die Gewerkschaften eine ausreichende Unterstützung der Arbeitnehmerinteressen gewährleisten, könnte daher eine angemessene Grenzziehung im Sinne praktischer Konkordanz sein. Wie verhält es sich darüber hinaus mit den kollidierenden Grundrechten? Wie stark sind diese beeinträchtigt und erfordern sie ein Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks? Natürlich führen auch nichtgewerkschaftliche Arbeitsniederlegungen zu Umsatzeinbußen des Arbeitgebers und indirekt auch zu teils erheblichen Beeinträchtigungen bei Dritten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der nichtgewerkschaftliche Streik nach bisheriger Rechtslage keine arbeits317 Vgl. Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 327, die ebenfalls beide Verbote in ihrer Gesamtheit als erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitnehmer betrachten, die „zu weit“ gehe. 318  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 885. 319  So die Beurteilung durch Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 325. 320 So zu nichtgewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern Gooren, Tarifbezug, S. 149.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

vertragliche Suspendierungswirkung besitzt.321 Dadurch wird der vertragliche Anspruch des Arbeitgebers nicht entwertet, so dass er im Falle einer Arbeitsniederlegung unter Umständen vertraglichen Schadensersatz gegenüber den Arbeitnehmern geltend machen könnte oder die Arbeitnehmer wegen Vertragsbruch abmahnen oder die Arbeitsverhältnisse unter bestimmten Umständen kündigen könnte.322 Hinsichtlich der grundrechtlich geschützten Tarifautonomie wäre die Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks dann eine erhebliche Gefahr, wenn dieser so attraktiv für Arbeitnehmer wäre, dass sie entweder keinen Anreiz mehr besäßen, in Gewerkschaften einzutreten, oder bereits organisierte Arbeitnehmer motiviert würden, aus ihrer Gewerkschaft auszutreten. Dagegen sprechen jedoch konkrete Nachteile, die der nichtgewerkschaftliche gegenüber dem gewerkschaftlichen Streik besitzt. Neben den bereits genannten zivilrechtlichen Folgen aufgrund der Arbeitsvertragsverletzung erhalten Arbeitnehmer von einer nichtgewerkschaftlichen Koalition keinen Ausgleich für den bei Streiks anfallenden Lohnausfall. Dieser wird hingegen bei gewerkschaftlichen Streiks durch das gewerkschaftliche Streikgeld ausgeglichen.323 Aus diesen rechtlichen und wirtschaftlichen Nachteilen folgt, dass Arbeitnehmer nur in Notfällen zum nichtgewerkschaftlichen Streik als Kampfmittel greifen werden.324 Die Belastung konkurrierender Grundrechte und der Tarifautonomie ist auf Sondersituationen begrenzt. Zugunsten der Tarifautonomie ist sogar denkbar, dass die Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks zu einem besseren Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitnehmern führt. Gewerkschaften könnten dazu neigen, sich noch intensiver und besser um ihre Mitglieder zu bemühen, um zu verhindern, dass es überhaupt zu nichtgewerkschaftlichen Streiks kommt.325 Selbstverständlich kann auch ein nichtgewerkschaftlicher Streik in Einzelfällen andere 321  Siehe zu den arbeitsvertraglichen Folgen des gewerkschaftlichen und des nichtgewerkschaftlichen Streiks nach bisheriger Rechtslage die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., 3. „Auswirkungen“. 322 Dazu Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 327, siehe auch Kittner, BB 1974, 1488, 1492, in Fn. 35, der allerdings auch hervorhebt, dass das Kündigungsrisiko die Arbeitnehmer in Sondersituationen nicht von einem nichtgewerkschaftlichen Streik abhalte; vgl. Bepler, in: FS Wißmann, S. 113, zum Einfluss des Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, auf die Zulässigkeit kollektiver Änderungskündigungen; allgemein zu Ansprüchen des Arbeitgebers im Falle eines „rechtswidrigen Streiks“: Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 232 ff; Öğüt, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 22, Rn. 8 ff. 323  Zachert, AuR 2001, 401, 405; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 17 und 22; Däubler, ZfA 1973, 201, 220; Kittner, BB 1974, 1488, 1492, der dies als „eines der wichtigsten Regulative“ des nichtgewerkschaftlichen Streiks bezeichnet; ebenso Dumke, Streikrecht ESC, S. 370. 324 Vgl. Berg, in: BKS, AKR, Rn. 202; Däubler, ZfA 1973, 201, 220; Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 17. 325 Vgl. Kittner, BB 1974, 1488, 1492 zu einem „vitale[n] Interesse der Gewerkschaften, keine Aktivitäten neben sich zuzulassen“.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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Grundrechte stark beeinträchtigen, so dass für diese Fälle ein Regulativ für den nichtgewerkschaftlichen Streik erforderlich ist. Die Beeinträchtigung kollidierender Grundrechte wäre jedoch nicht so stark, dass ein pauschales Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks angemessen ist.326 Für den Einzelfall müssen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder gesetzlich neu zu schaffende Regulative für Entlastung sorgen.327 Im Ergebnis führt der durch das BAG vorgenommene Grundrechtseingriff nicht dazu, dass alle beteiligten Grundrechte zu optimaler Wirksamkeit gelangen. Er verstößt gegen den Grundsatz praktischer Konkordanz und ist daher unverhältnismäßig. Das deliktsrechtliche Verbot verletzt die Koalitionsfreiheit und ist verfassungswidrig. e)  Zwischenergebnis Das generelle deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG greift unverhältnismäßig in die Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG ein und verletzt dadurch das Grundrecht. Der Streik einer nichtgewerkschaftlichen Koalition führt damit nicht generell zu einem Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers nach § 823 Abs. 1 BGB. Eine derartige Wertung verstößt einerseits gegen den Grundsatz praktischer Konkordanz, da sie jegliche Wirksamkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks verhindert. Andererseits fußt das Verbot auf der zweifelhaften Auffassung, dass ein nichtgewerkschaftlicher Streik im Vergleich zu einem gewerkschaftlichen Streik grundsätzlich unkon­ trolliert, unbegründet und damit „wild“ sei. Trotz der Unzulässigkeit eines pauschalen deliktsrechtlichen Verbots bleibt zu klären, ob die bisherige arbeitsvertragliche Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG verfassungsgemäß ist. So ist im Folgenden zu klären, ob die Annahme des BAG, dass nur der gewerkschaftliche Streik eine suspendierende Wirkung besäße und sich der nichtgewerkschaftliche Streik hingegen an die Bindung des Arbeitsvertrags halten müsse, eine verfassungsgemäße Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit ist.

326  So auch Dumke, Streikrecht ESC, S. 235 f.; Gooren, Tarifbezug, S. 305 f.; vgl. Däubler, AuR 1998, 144, 146. 327  So bindet der Professorenentwurf das verbandsfreie Streikrecht beispielsweise gemäß § 34 an eine Ankündigungspflicht und an eine betriebliche Urabstimmung: Birk/ Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 96 ff.; die Möglichkeit „anderer Sicherungen“ als Ersatz des Gewerkschaftsmonopols andeutend Picker, ZfA 2010, 586, 626 f. Siehe zu weiteren Möglichkeiten gesetzlicher Einschränkung eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts die Ausführungen im 5. Teil, 2. Kapitel „Regeln für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht“.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

2.   Suspendierungswirkung: Verfassungskonforme Grundrechtsausgestaltung Wie bereits dargestellt, besitzt der nichtgewerkschaftliche Streik bisher keine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung. Nur dem gewerkschaftlich geführten Streik hat der Große Senat des BAG durch sein Urteil vom 28. 01. 1955 mit der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung eine normative Freiheit zugeordnet.328 Zuzugeben ist, dass sich der Große Senat des BAG in seinem Urteil von 1955 nur mit dem gewerkschaftlichen Streik auseinandersetzen musste, da nur dieser aufgrund des Sachverhalts zu untersuchen war.329 Anhand späterer Entscheidungen des BAG lässt sich jedoch feststellen, dass das Gericht die suspendierende Wirkung nur dem gewerkschaftlichen Streik zuordnet.330 Im Folgenden wird daher die normative Ausgestaltung des Streiks in seiner Gesamtheit überprüft. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob die normative Ausgestaltung des gewerkschaftlichen Streiks verfassungsgemäß war und die Ausklammerung des nichtgewerkschaftlichen Streiks mit den Anforderungen an eine verfassungsgemäße Ausgestaltung zu vereinbaren ist. Dazu ist zunächst festzustellen, um welchen Fall der Grundrechtsausgestaltung es sich bei der Anordnung der Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks gehandelt hat. Entsprechend der vorstehend abstrakt erklärten Maßstäbe ist zwischen der einfachen Grundrechtsausgestaltung und der Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung zu unterscheiden.331 Das BAG hat den gewerkschaftlichen Streik durch die Suspendierungswirkung normativ ausgestaltet und ihm neben der natürlichen eine normative Freiheit zugewiesen.332 Gleichzeitig hatte diese richterrechtliche Rechtsfortbildung aus Sicht des betroffenen Arbeitgebers den Effekt, dass dieser ein vorher konkret bestehendes Recht verlor: Bei diesem Recht handelte es sich um den arbeitsvertraglichen Anspruch gegen den Arbeitnehmer gemäß § 611 Abs. 1 BGB, dass dieser seine Arbeit – auch im Streikfalle – zu erbringen habe. Dadurch erfolgte durch das Urteil des Großen Senats des BAG neben der Grundrechtsausgestaltung ein Grundrechtseingriff in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers.333 Daher ist das Urteil des Großen Senats des 328  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884 f. Siehe dazu ausführlich die Darstellung im 3. Teil, 3. Kapitel, B. „Streik als natürliche und normative Freiheit“. Zum Sachverhalt und den Hintergründen des Beschlusses Kittner, Arbeitskampf, S. 610 f. 329  Siehe dazu den entsprechenden Hinweis: BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883. 330  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; vgl. BAG GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, GS 1/68, NJW 1971, 1668, 1671; vgl. BAG, Urt. v. 17. 12. 1976, 1 AZR 772/75, NJW 1977, 918; ausführliche Darstellung bei BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237 f. 331  Siehe dazu den 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 2. „Grundrechtsausgestaltung“. 332  Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 3. „Auswirkungen“.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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BAG als Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung anzusehen. Als Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung muss die Rechtsprechung des BAG zur Suspendierungswirkung einerseits den allgemeinen Anforderungen an eine verfassungsgemäße Ausgestaltung gerecht werden.334 Wegen ihres eingreifenden Charakters in die vertraglichen Ansprüche des Arbeitgebers muss sie zusätzlich aus Perspektive des Arbeitgebers den eingriffsrechtlichen Voraussetzungen genügen.335 Diesbezüglich ist die übliche Rechtfertigungsprüfung vorzunehmen, die an dieser Stelle allerdings nicht ausführlich ausfallen wird, da diese Arbeit in erster Linie den nichtgewerkschaftlichen Streik untersucht, für den das BAG bisher keine Suspendierungswirkung angeordnet hat. 333

a)  Ausgestaltung aus Perspektive des Streikenden Die Anordnung der Suspendierungswirkung für den gewerkschaftlichen Streik erfolgte wie dargestellt im Rahmen einer Schutzpflichtkonstellation.336 Das BAG musste zum Schutz der Koalitionsfreiheit eingreifen, da der Streik bis zu diesem Zeitpunkt zu einem Arbeitsvertragsbruch führte, wenn der Arbeitnehmer nicht zuvor gekündigt hatte. Ein zivilrechtliches Streikrecht existierte bis dahin nicht. Damit fehlte den Arbeitnehmern ein effektives Druckmittel, das jedoch Voraussetzungen für eine gleichwertige Verhandlungsposition von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist. Mit Blick auf einen fairen Tarifvertragsabschluss hat das BAG diese Situation zutreffend als „kollektives Betteln“ beschrieben.337 Da der Gesetzgeber die Suspendierungswirkung des Streiks nicht gesetzlich geregelt hatte, war der Große Senat des BAG berufen, diese per Richterrecht anzuordnen.338 In diesem Kontext bestand daher sogar eine Pflicht des BAG zu einer entsprechenden normativen Ausgestaltung. Ein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes, der aufgrund der Grundrechtswesentlichkeit der Suspendierungswirkung anzuwenden wäre, liegt wegen der rechtfertigenden Schutzpflichtkonstellation nicht vor. Ebenfalls ist nicht ersichtlich, warum die Ausgestaltung des gewerkschaftlichen Streiks nicht dem objektiven Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG entsprechen sollte.339 333 

Siehe zur Einordnung als Grundrechtseingriff den nachfolgenden Gliederungspunkt b). Dazu der nachfolgende Gliederungspunkt a). 335  Dazu der darauffolgende Gliederungspunkt b). 336  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883 f. Siehe dazu die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 337  BAG, Urt. v. 10. 6. 1980, 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1643. 338  So auch ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 d). 339  Siehe bereits ausführlich zur Rechtfertigung eines Verstoßes gegen den Vorbehalt des Gesetzes durch die grundrechtliche Schutzpflicht den 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 1., (3) „Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie?“. 334 

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Die Entscheidung, den nichtgewerkschaftlichen Streik aus der Suspendierungswirkung auszuklammern, ist ebenfalls dem Bereich der Grundrechtsausgestaltung zuzuordnen.340 Die grundrechtliche Schutzpflicht hat bisher kein generelles Einschreiten des Staates zugunsten des nichtgewerkschaftlichen Streiks erfordert.341 Dies liegt daran, dass der Große Senat für den gewerkschaftlichen Streik die Suspendierungswirkung angeordnet hat und dadurch der auf Art. 9 Abs. 3 GG bezogenen Schutzpflicht grundsätzlich genügte.342 Damit gewann der gewerkschaftliche Streik an der erforderlichen Effektivität, so dass seitdem im Allgemeinen eine Verletzung des Untermaßverbots in Bezug auf eine gleichwertige Verhandlungsposition nicht mehr vorliegt.343 Eine generelle Verletzung des Untermaßverbots wäre nur anzunehmen, wenn die generell-abstrakte Funktionsfähigkeit der Gewerkschaften oder der Tarifautonomie in Deutschland so drastisch abnehmen würde, dass Arbeitnehmer auf alternative Koalitionen und Einigungsmittel angewiesen wären.344 Ein allgemeines Versagen der Gewerkschaften ist trotz der Möglichkeit von Ausnahmefällen bisher nicht anzunehmen.345 Zu den Ausnahmefällen gehören Situationen, in denen der gewerkschaftliche Streik im Einzelfall gar keine Wirkung entfaltet oder den Arbeitnehmern nicht zugänglich ist. Dann kann die staatliche Schutzpflicht den Staat dazu zwingen, zum Schutze der Arbeitnehmer für einen nichtgewerkschaftlichen Streik im Einzelfall eine Suspendierungswirkung anzuordnen.346 Die Umstände der beiden Urteile des BAG vom 21. 10. 1969 und vom 14. 02. 1978, in denen das Gericht eine Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks ablehnte, lassen derartige Sonderfälle jedoch nicht erkennen.347

340  Siehe dazu bereits den 4. Teil, 1. Kapitel, A., VI., 2., a) „Suspendierungswirkung: Grundrechtsausgestaltung“. 341  Siehe ausführlich zur Frage, inwieweit die Schutzpflicht den Staat zur normativen Ausgestaltung des Streiks verpflichtet, die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 342  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883 f. 343  So auch ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 e): „Angesichts der grundsätzl. vorhandenen Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erscheint eine generelle Gleichstellung des nichtgewerkschaftl. Streiks mit dem gewerkschaftl. Streik nicht notwendig.“ 344 Vgl. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 3666 f.; Däubler, ZfA 1973, 201, 219; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 262 ff., die dafür eine „offenkundige Störung des Verhandlungsgleichgewichts“ fordert; ähnlich ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 e). 345 Ähnlich Bepler, in: FS Wißmann, S. 111; auch Löwisch/Hartje, RdA 1970, 321, 325 („kleineres Übel“); in Bezug auf den Sympathiestreik Hohenstatt/Schramm, NZA 2007, 1034, 1035; einschränkend Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 249 f. 346  Siehe zu den Ausnahmefällen bereits die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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Allerdings stellt sich die Frage, ob der Große Senat des BAG überhaupt die Kompetenz besaß, im Rahmen der Ausgestaltung des gewerkschaftlichen Streiks in seinem Urteil vom 28. 01. 1955 den nichtgewerkschaftlichen Streik auszuklammern. Konnte es diese Entscheidung ohne Anordnung des Gesetzgebers treffen? Diese Frage ist zu bejahen. Es handelte sich um die reine Wiedergabe der gesetzlichen Situation. Etwas Neues hat das Gericht nicht geschaffen. Es existiert keine einfachrechtliche Norm, aus der sich ein Anspruch auf Suspendierung der Arbeitspflicht bei einem nichtgewerkschaftlichen Streik ergibt.348 Daher stehen der Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie der Entscheidung des Großen Senats des BAG nicht entgegen. Das Gericht konnte daher ohne den Gesetzgeber entscheiden, nur für den gewerkschaftlichen Streik die Suspendierungswirkung anzuordnen. 347

Im Übrigen spricht für die Zulässigkeit der Entscheidung des BAG auch der Einschätzungsspielraum, den der Staat im Rahmen der Ausgestaltung besitzt. Dem BAG ist es als „Ersatzgesetzgeber“ nicht verwehrt, die normative Ausgestaltung nach eigenen Ermessensgesichtspunkten vorzunehmen. Aus Sicht des BAG bilden Gewerkschaften eine Führungs- und Organisationsinstanz im Arbeitskampf, so dass die Bindung der Suspendierungswirkung an Gewerkschaften Teil eines sozialpolitischen Konzeptes ist.349 Allerdings besitzt das BAG nicht denselben Einschätzungsspielraum wie der Gesetzgeber.350 Vor allem sozialpolitische Aufgaben sollte ein Gericht nicht übernehmen. Es bleibt Aufgabe des Gesetzgebers, für ein funktionierendes Arbeitskampfsystem zu sorgen. Solange sich jedoch der Gesetzgeber dieser Aufgabe entzieht, muss das BAG als Ersatzgesetzgeber in begrenztem Maße und vor allem problembezogen den Arbeitskampf normativ ausgestalten.351 347  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237. Siehe zum Sachverhalt beider Urteile den 1. Teil, 3. Kapitel, A., III. „Arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks“. 348  Das gleiche gilt im Übrigen insgesamt für den Streik: Die Suspendierung des gewerkschaftlichen Streiks beruht auch Richterrecht. Siehe dazu ausführlich den 3. Teil, 3. Kapitel, B., I., 3. „Auswirkungen“; zustimmend ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 d). 349  Siehe BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; eingehend Joost, in: Symposium H. Seiter, S. 245 f.: „In diesem Verständnis stellt sich das Erfordernis der gewerkschaftlichen Führung des Streiks wiederum als Ausprägung der immanenten Grenzen einer einseitigen Suspendierungsbefugnis dar.“; zustimmend Picker, ZfA 2010, 586, 626, der das Konzept der Gewerkschaft als Kontrollinstanz als „rational und zivilisiert“ bezeichnet. 350 Ebenfalls für einen engeren Gestaltungsspielraum der Gerichte: Ricken, in: MünchHdbArbR II, § 198, Rn. 4; Dieterich, RdA 2007, 110, 113; Birk/Konzen/Löwisch/ Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 21; allgemein zu den Nachteilen des Richterrechts gegenüber dem Gesetzgeber Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 320 ff. 351  So auch Dieterich, RdA 2007, 110, 113.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

Eine Differenzierung zwischen Gewerkschaften und nichtgewerkschaftlichen Koalitionen läuft zudem nicht dem Normzweck der Koalitionsfreiheit zuwider. Er ist darauf angelegt, Arbeitnehmern und Arbeitgebern einen gleichberechtigten Freiraum zu ermöglichen, in dem sie ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können.352 An diesem Ziel muss sich die Grundrechtsausgestaltung orientieren.353 Durch die einseitige Anordnung der Suspendierungswirkung für Gewerkschaften werden sie in ihrer Rolle gestärkt.354 Gleichzeitig werden nichtgewerkschaftliche Koalitionen nicht geschwächt, da ihre Rechtsposition gleichbleibt (jedoch ohne Berücksichtigung des deliktsrechtlichen Verbots). Daher lässt sich die Entscheidung des BAG als Stärkung der Arbeitnehmer im Verhältnis zum Arbeitgeber einordnen. Die Differenzierung zwischen Gewerkschaften und nichtgewerkschaftlichen Koalitionen im Rahmen der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung ist daher verfassungskonform, so dass der nichtgewerkschaftliche Streik weiterhin zum Bruch des Arbeitsvertrages führt.355 b)  Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers Welche verfassungsrechtliche Bedeutung besitzt die Anordnung der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung aus Perspektive des Arbeitgebers, dessen Anspruch gegen den Arbeitnehmer auf Arbeitserbringung für die Zeit des Streiks vorübergehend aufgehoben wird? Diese Einordnung wird im Folgenden am Beispiel des gewerkschaftlichen Streiks vorgenommen und dient als Grundlage für die spätere Frage, ob das BAG für den nichtgewerkschaftlichen Streik eine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung überhaupt anordnen dürfte. Die normative Ausgestaltung des gewerkschaftlichen Streiks durch das Urteil des BAG vom 28. 01. 1955356 führte aus Sicht des betroffenen Arbeitgebers, einem Fischereiunternehmen, zu einer Beeinträchtigung seiner Grundrechte: Durch 352  So bezüglich der Tarifautonomie BVerfG, Beschl. v. 2. 3. 1993, 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379, 1380; insgesamt zur Verhandlungsparität als leitendes Prinzip der Ausgestaltung Waldhoff/Thüsing, ZfA 2011, 329, 357; siehe neben der abstrakten Darstellung zur Grundrechtsausgestaltung weiterführend zum Koalitionszweck die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III., 2. „Bedeutung des Koalitionszweck“. 353 Vgl. Richardi, NZA 2014, 1233, 1236: „Das Streikrecht ist deshalb zivilrechtsdogmatisch ein Gestaltungsrecht […]. Für die Einräumung dieser individualrechtlichen Befugnis sind aber kollektivrechtliche Kriterien maßgebend, nämlich die Herstellung und Wahrung des Verhandlungsgleichgewichts in der Tarifautonomie.“ 354  So auch die Einschätzung des ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 e). 355  So auch mit ausführlicher Begründung Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 191 ff.; vgl. Ramm, AuR 1964, 353, 361. 356  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883 f. Siehe zum Sachverhalt und den Hintergründen des Urteils Kittner, Arbeitskampf, S. 610.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

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die Anordnung der Suspendierungswirkung wurde für die Dauer des Streiks der vertragliche Anspruch des Arbeitgebers auf die Arbeitsleistung der streikenden Arbeitnehmer gemäß § 611 Abs. 1 BGB entwertet.357 Damit beseitigte der Große Senat des BAG durch die Rechtsfortbildung eine subjektive Rechtsposition und griff in die Vertragsfreiheit des betroffenen Arbeitgebers ein.358 Es liegt daher eine Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung vor, die aus Sicht des Gegenübers zu einem Grundrechtseingriff führt.359 Welches Grundrecht schützt jedoch den Anspruch des Arbeitgebers auf Arbeitsleistung? Grundsätzlich ist die beeinträchtigte Vertragsfreiheit ein Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und schützt als Abwehrrecht den Bestand bestehender Verträge vor staatlichen Eingriffen.360 Konkret bestehende, vertraglich begründete Ansprüche werden allerdings durch den spezielleren Art. 14 GG geschützt.361 Daher muss die Anordnung der Suspendierungswirkung

357  Vgl.

dazu die abstrakten Ausführungen von Boemke, ZfA 2009, 131, 134 f.; vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 143; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 220, die nur auf den Entfall des Schadensersatzanspruches des Arbeitgebers abstellt. Dieser ist jedoch nur eine nachgelagerte Folge des Entfalls der Verpflichtung zur Arbeitsleistung. Primär entfällt der Anspruch des Arbeitgebers auf Erbringung der Arbeitsleistung. 358 Vgl. Kluth, in: Waldhoff/Thüsing, Verfassungsfragen des Arbeitskampfes, S. 115 f.; Richardi, in: FS Säcker, S. 291; Löwisch, ZfA 1971, 319, 324, der die Rechtfertigung des Arbeitsvertragsbruches als „Kollisionsproblem“ zwischen Kollektivrecht und sich aus dem Arbeitsvertrag ergebener Rechte bezeichnet; vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 148 ff.; zum Sympathiestreik Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 219 ff.; anders hingegen Greiner, Rechtsfragen, S. 134, der jedoch nicht berücksichtigt, dass dem konkreten Anspruch auf Vertragserfüllung im Verhältnis zum Staat ein abwehrrechtlicher Schutz durch Art. 14 GG zukommt. Aufgrund der Anordnung der Suspendierungswirkung durch Richterrecht, ohne eine gesetzliche Grundlage, ist entgegen Greiner nicht nur das „Gleichordnungsverhältnis Privater“ betroffen, sondern auch das Bürger/Staat Verhältnis. 359  Siehe umfassend zu den Voraussetzungen dieser Ausgestaltungsform die abstrakte Darstellung im 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 2., b) „Grundrechtsausgestaltung mit Doppelwirkung“. 360  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 GG, Rn. 101 f. Der Schutz der Arbeitsvertragsfreiheit wird auch dem spezielleren Art. 12 GG zugeordnet: siehe dazu Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 74 f. m.w.N. 361  Gooren, Tarifbezug, S. 143 m.w.N.; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 220; Detterbeck, Öffentliches Recht, S. 221; Axer, in: BeckOK GG, Art. 14 GG, Rn. 48; vgl. BVerfG, Beschl. v. 24. 11. 2004, 1 BvR 1306/02, NJW 2005, 589, f.; für einen Schutz durch Art. 12 GG Boemke, ZfA 2009, 131, 135; a.A.: Hensche, in: Nomos Handkommentar Arbeitsrecht, Art. 14 GG, Rn. 17, der sich gegen einen grundrechtlichen Schutz des Anspruches auf Arbeitsleistung ausspricht; ähnlich Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, S. 116 ff., wobei sich dieser ausschließlich auf das Verhältnis Bürger/Bürger („Gleichordnungsverhältnis) bezieht und nicht Fälle einbezieht, in denen ein neues Gesetz oder Richterrecht eine Beschränkung des Anspruches auf Vertragserfüllung anordnet.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

mit der Eigentumsfreiheit im Einklang stehen.362 Ein Eingriff in Art. 14 GG kann entweder durch eine Inhalts- und Schrankenbestimmung oder durch eine Enteignung erfolgen.363 Da der Große Senat davon ausging, dass bei einem „legitimen gewerkschaftlichen Streik“ als „kollektivrechtliche Größe“ eine Verletzung des Arbeitsvertrages generell ausscheide,364 stellt sich die Suspendierungswirkung als generell-abstrakte Regelung und somit als Inhalts- und Schrankenbestimmung dar. Eine Enteignung wäre dagegen erfolgt, wenn es sich ausschließlich um eine Entziehung einer konkreten Rechtspositionen im Einzelfall gehandelt hätte.365 Gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG muss eine Inhalts- und Schrankenbestimmung grundsätzlich durch ein Gesetz vorgenommen werden.366 Dies kann jede Rechtsnorm sein, die auf eine formell-gesetzliche Ermächtigung des Parlaments zurückzuführen ist. Die unmittelbare Umsetzung kann daher auch durch eine Rechtsverordnung oder eine Satzung erfolgen.367 Durch die Bindung der Inhaltsund Schrankenbestimmung an ein Gesetz wird deutlich, dass das Eigentum eine normative Freiheit ist, die nicht qua natura besteht, sondern durch den Gesetzgeber geschaffen werden muss.368 Andererseits wird durch diese Formulierung ausdrücklich dem Gesetzgeber die Aufgabe zugewiesen, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen.369 Damit ist das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage generell für die Anordnung der Suspendierungswirkung des Streiks zu berücksichtigen.370 Im Prinzip darf eine Inhalts- und Schrankenbestimmung somit nicht durch Richterrecht erfolgen.371 Allerdings sollte – wie auch im Rahmen des Vorbehalts des Gesetzes – im Falle gesetzgeberischen Unterlassens eine Notkompetenz des Richters zulässig sein, wenn eine grundrechtliche Schutzpflicht ein bestimmtes Handeln des Richters 362 Vgl. Gooren, Tarifbezug, S. 143; vgl. Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 220 f., in Bezug auf die Rechtsprechung des BAG zur vertraglichen Zulässigkeit von Sympathiestreiks. 363  Axer, in: BeckOK GG, Art. 14 GG, Rn. 70; Detterbeck, Öffentliches Recht, S. 229. 364  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 883 f. 365  Detterbeck, Öffentliches Recht, S. 230; vgl. zu bestehenden Eigentumspositionen Axer, in: BeckOK GG, Art. 14 GG, Rn. 70 und allgemein Rn. 72. 366  Axer, in: BeckOK GG, Art. 14 GG, Rn. 82; vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 14 GG, Rn. 35. 367  Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 14 GG, Rn. 35. 368  Bryde, in: von Münch/Kunig, Art. 14, Rn. 47. 369  Wendt, in: Sachs, Art. 14 GG, Rn. 54. 370  Kluth, in: Waldhoff/Thüsing, Verfassungsfragen des Arbeitskampfes, S. 116; vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 379; vgl. Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 559. 371  BVerfG, Urt. v. 10. 12. 1987, III ZR 220/86, NJW 1988, 478, 480; Grzeszick, Rechte und Ansprüche, S. 398.

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Bewertung

335

erforderlich macht.372 Aufgrund des Zusammenhangs zwischen der grundrechtlichen Schutzpflicht und der Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks ist für diesen Fall eine Notkompetenz des Großen Senats anzunehmen. Die bezüglich des Arbeitgeberanspruches auf Arbeitsleistung erfolgte Inhaltsund Schrankenbestimmung konnte demnach durch richterrechtliche Rechtsfortbildung ergehen.373 Darüber hinaus ist sowieso der Vorbehalt des Gesetzes zu berücksichtigen, da wegen Beseitigung konkreter Ansprüche des Arbeitgebers durch die Anordnung der Suspendierungswirkung ein Grundrechtseingriff in Art. 14 GG erfolgte.374 Für Grundrechtseingriffe ist aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes eine gesetzliche Entscheidung des Parlamentes erforderlich.375 Da der Große Senat des BAG allerdings aufgrund der grundrechtlichen Schutzpflicht zur Anordnung der Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks verpflichtet war, besaß das Gericht die Notkompetenz, den Eingriff durch Richterrecht vorzunehmen.376 Letztlich muss die Inhalts- und Schrankenbestimmung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot) genügen.377 Das bedeutet, dass die Suspendierungswirkung einerseits einem legitimen Zweck dienen und in geeigneter, erforderlicher und angemessener Art und Weise ausgestaltet sein muss. Die Suspendierungswirkung diente in erster Linie der Verbesserung der Verhandlungschancen der Arbeitnehmer in Tarifverhandlungen. Sie beseitigte die bis dahin fehlende arbeitsvertragliche Zulässigkeit des Streiks und die daraus fol-

372  Vgl. für eine Notkompetenz der Judikative: Wahl, DVBl. 1996, 641, 648 f.; Konzen, AcP 1977, 473, 499 f.; für eine allgemeine Ausgestaltung des Eigentums durch Richterrecht: Sendler, DöV 1971, 16, 18 f.; ähnlich für Fälle „jahrzehntelange höchstrichterliche Rechtsprechung“ Depenheuer, in: HGR V, § 111, Rn. 45; vorsichtiger hingegen Depenheuer, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 14 GG, Rn. 224 f. 373 Siehe bereits ausführlich zur gleichgelagerten Rechtfertigung eines Verstoßes gegen den Vorbehalt des Gesetzes durch die grundrechtliche Schutzpflicht den 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 1., (3) „Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie?“. 374  Ebenfalls weist Lücke auf den Vorbehalt des Gesetzes im Zusammenhang mit Eingriffen der Judikative in Freiheit und Eigentum hin: Lücke, Vorläufige Staatsakte, S. 64. 375  Siehe dazu die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 1., b) „Insbesondere: Vorbehalt des Gesetzes und Wesentlichkeitstheorie“. 376  Siehe dazu die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 1., (3) „Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie?“. Ebenfalls für eine Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes in Schutzpflichtkonstellationen: Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 394; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 224 f. 377  Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 14 GG, Rn. 36 ff.; dies berücksichtigt Greiner, Rechtsfragen, S. 133 nicht, für den die Beschränkung der individuellen Vertragsfreiheit des Arbeitgebers durch den Arbeitskampf „grundsätzlich hinzunehmen“ ist.

336

4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

gende Ineffektivität von Arbeitskampfmaßnahmen.378 Demnach galt die Rechtsfortbildung der Stärkung der Koalitionsfreiheit und war geeignet, einen legitimen Zweck zu fördern. Hinsichtlich der Erforderlichkeit ist bereits im Rahmen der grundrechtlichen Schutzpflicht dargestellt worden, dass die Suspendierungswirkung erforderlich war. Es existiert kein milderes Mittel, welches in gleich geeigneter Weise den Arbeitsvertragsbruch der Streikenden verhindern könnte oder die Verhandlungschancen der Arbeitgeber verbessern könnte.379 Zu klären bleibt nur, ob die Entwertung des arbeitsvertraglichen Anspruches ein angemessener Eingriff in die Eigentumsfreiheit ist (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Dafür müssten die Belange des Arbeitgebers im Verhältnis zu denen der Arbeitnehmer ausreichend berücksichtigt worden sein. Hierfür spricht, dass das BAG für suspendierende Arbeitskampfmaßnahmen von den Beteiligten sowieso die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes fordert. Nur ein verhältnismäßiger Arbeitskampf suspendiere das Arbeitsverhältnis.380 Diese einfachrechtlich durch das BAG statuierte Voraussetzung ist Spiegelbild des wiederum vom BAG zu berücksichtigenden Übermaßverbots im Rahmen der Inhalts- und Schrankenbestimmung.381 Sie verkörpert den erforderlichen Ausgleich zweier kollidierender Rechtskreise. Im Ergebnis führt diese auf den Einzelfall bezogene Voraussetzung dazu, dass die Suspendierungswirkung auf abstrakt-genereller Ebene eine verhältnismäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums ist.

378  BAG

GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884: „Die Einhaltung von Kündigungsfristen und namentlich von unterschiedlichen Kündigungsfristen macht das Schwert des Streikes stumpf.“ 379  Siehe dazu den 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 380  Ausdrücklich entwickelt durch BAG, GS, Beschl. v. 21. 4. 1971, GS 1/68, NJW 1971, 1668: „Auch bei der Durchführung des Arbeitskampfes selbst, und zwar sowohl beim Streik als auch bei der Aussperrung, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.“; allerdings bereits angedeutet durch BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882, 884: „Dabei ist entspr. der […] Fragestellung davon auszugehen, daß nur der gegen die Arbeitgeber gerichtete Streik um die tarifliche Regelung der Arbeitsbedingungen zu untersuchen ist […], der weder tarifwidrig (Bruch der tariflichen Friedenspflicht) noch nach seinen Mitteln oder seinen Zielen oder der Unverhältnismäßigkeit von Mittel und Ziel […] ist.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 381  So auch Löwisch, ZfA 1971, 319, 323 ff., für den das Übermaßverbot des Arbeitskampfes aus der Kollision zwischen Kollektivaktion und Vertragsrecht (Individualrechtskreis) folgt; grundlegend Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 148 ff., der öffentlich-rechtliches (entspricht der Vorgabe der Verfassung an BAG) und privatrechtliches Übermaßverbot (entspricht der Vorgabe des BAG an Arbeitskampfparteien) trennt und andeutet, dass sich letzteres aus ersterem ableitet (S. 151); ähnlich Konzen, AcP 1977, 473, 501; Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 300.

2. Kap.: Einfluss des Völkerrechts

337

2. Kapitel

Einfluss des Völkerrechts 2. Kap.: Einfluss des Völkerrechts

Welchen Einfluss hat das Völkerrecht auf die Rechtsprechung des BAG zum nichtgewerkschaftlichen Streik? Zu trennen ist zwischen der deliktsrechtlichen Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks (A.), seiner arbeitsvertraglichen Einordnung (B.) und der gerichtlichen Bewertung arbeitsrechtlicher Sanktionsmittel des Arbeitgebers (C.). Dabei wird der völkerrechtliche Einfluss auf die Rechtsprechung BAG allerdings nur in Bezug auf die generellen Aussagen des BAG zum nichtgewerkschaftlichen Streik analysiert. Spezielle im 2. Teil dieser Arbeit bereits ermittelte Voraussetzungen des Völkerrechts wie das Vorliegen einer verhandlungsfähigen Koalition oder eines zulässigen Streikziels können für die einzelnen Urteile weitestgehend nicht überprüft werden, da in den Urteilen hierzu keine genauen Feststellungen getroffen wurden bzw. kein entsprechender Sachverhalt festgehalten wurde, der eine vollumfängliche Überprüfung der den Urteilen zugrunde liegenden Sachverhalte erlauben würde.

A.  Deliktsrechtliche Bewertung: Völkerrechtswidriger Grundrechtseingriff Das Völkerrecht ist dann für das BAG maßgeblich, wenn die Verfassung und das einfache Recht Spielräume besitzen, die einen Einfluss völkerrechtlicher Vorgaben erlauben. Dies folgt aus dem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung.382 Für die deliktsrechtliche Bewertung des nichtgewerkschaftlichen Streiks bedeutet dies, dass das BAG im Rahmen des offenen Tatbestandes des § 823 Abs. 1 BGB den völkerrechtlichen Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition berücksichtigen muss.383 Inwieweit dies für die beiden relevanten Urteile zum Deliktsrecht gilt, muss aufgrund der unterschiedlichen Ratifizierungszeitpunkte der Verträge einzeln geprüft werden.384 Für das Urteil vom 07. 06. 1988 hätte das BAG den Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition durch Art. 6 Nr. 4 ESC, Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 3 ILO-Übereinkommen berücksichtigen müssen, da zu diesem Zeitpunkt alle drei völkerrechtli382  Siehe dazu die allgemeinen Ausführungen im 2. Teil, 1. Kapitel, B., III. „Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung“; vgl. speziell zum Einfluss der ESC auf das GG: Dumke, Streikrecht ESC, S. 280; Deinert, Arbeitskampfmittelfreiheit, S. 73; vgl. Rieble, RdA 2005, 200, 204; Zachert, AuR 2001, 401, 404. 383  Darauf weist auch Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 53 im Zusammenhang mit den Vorgaben des Art. 6 Nr. 4 ESC hin. 384  BAG, Urt. v. 20. 12. 1963, 1 AZR 428/62, NJW 1964, 883, 886 und BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883.

338

4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

chen Verträge bereits in Kraft getreten und durch Deutschland ratifiziert waren.385 Das Gericht nahm allerdings nur Bezug auf die ESC und berücksichtigte nicht, dass Art. 6 Nr. 4 ESC einer generellen Rechtswidrigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks entgegensteht.386 Ebenso standen dem Urteil die Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 3 ILO-Übereinkommen entgegen. Im früheren Urteil vom 20. 12. 1963 hätte das BAG nur Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 3 ILO-Übereinkommen berücksichtigen müssen, da die ESC erst am 26. 02. 1965 in Kraft trat. In diesem Urteil erfolgte jedoch gar keine Auseinandersetzung mit völkerrechtlichen Vorgaben. Da § 823 Abs. 1 BGB als Rahmenrecht dem BAG einen Auslegungsspielraum ermöglicht, hätte es in beiden Urteilen nicht nur den grundrechtlichen, sondern auch den völkerrechtlichen Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks berücksichtigen müssen.387 Durch das pauschale Verbot verstößt das BAG gegen den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung. Das deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks ist auch aus völkerrechtlicher Perspektive aufzugeben.388

B.  Suspendierungswirkung: Vorbehalt des Gesetzes vor Völkerrecht? Auch im Rahmen der normativen Ausgestaltung des Streiks muss das BAG grundsätzlich den völkerrechtlichen Bindungen der Bundesrepublik Rechnung tragen.389 Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 gewährleisten für nichtgewerkschaftliche Streiks von nichttariffähigen Arbeitnehmerkoa385  Siehe zur Gewährleistung des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Völkerrecht die Zusammenfassung im 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“ und zu den jeweiligen Ratifizierungszeitpunkten und dem Inkrafttreten die Ausführungen zu den einzelnen Verträgen im 2. Teil. 386  BAG, Urt. v. 7. 6. 1988, 1 AZR 372/86, NZA 1988, 883 f.: „Nach ständiger Rechtsprechung des BAG […] findet der nichtorganisierte Streik keine Stütze in Art. 9III GG und ist rechtswidrig. […] Die Zulässigkeit des Streiks ergibt sich auch nicht aus der Europäischen Sozialcharta (ESC) vom 18. 10.1961 (BGBl II 1964, 1262).“ Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das Gericht zu Recht den Anwendungsbereich des Art. 6 Nr. 4 ESC im konkreten Fall für nicht eröffnet ansah, da der Streik keine Verbindung zu Kollektivverhandlungen aufwies. 387 Vgl. Dumke, Streikrecht ESC, S. 354 f.; den Einfluss der ESC auf die Auslegung der Rechtsprechung hinsichtlich des nichtgewerkschaftlichen Streiks unterstreicht auch Vogel, BB 2004, Nr. 48, Die erste Seite. 388 Ähnlich Gooren, Tarifbezug, S. 305 f.; Zachert, AuR 2001, 401, 404; Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396; ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 353. 389 Vgl. Konzen, AcP 1977, 473, 500; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 137 ff. und 189.

2. Kap.: Einfluss des Völkerrechts

339

litionen die Suspendierungswirkung. Art. 6 Nr. 4 ESC beinhaltet ein generelles Streikrecht während Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 dieses nur in notwendigen Situationen schützt. Bei Art. 11 Abs. 1 EMRK ist es zumindest denkbar, dass der EGMR in notwendigen Situationen eine entsprechende positive Verpflichtung Deutschlands ausspricht, ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht anzuerkennen.390 Diese zivilrechtliche Wirkung ist grundsätzlich auf das deutsche Recht zu übertragen.391 Bisher hat das BAG nur den gewerkschaftlichen Streik mit der Suspendierungswirkung ausgestattet.392 Diese Rechtsfortbildung erfolgte am 28. 01. 1955 und somit vor Inkrafttreten der streikrelevanten völkerrechtlichen Quellen, so dass sich das BAG zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Völkerrecht orientieren musste und nicht völkerrechtswidrig handelte. Anderes könnte für die Frage gelten, ob das BAG im Rahmen seiner Urteile vom 21. 10. 1969 und vom 14. 02. 1978 völkerrechtswidrig handelte, indem es davon ausging, dass ein nichtgewerkschaftlicher Streik die Arbeitspflicht generell nicht suspendiere.393 Diese Frage hängt davon ab, ob das BAG überhaupt die Kompetenz besessen hätte, eine derartige Anordnung zu treffen. Wie vorstehend erläutert wurde, stellt die Suspendierungswirkung für den Streikenden eine Grundrechtsausgestaltung dar, die jedoch aus Perspektive des Arbeitgebers zu einem Grundrechtseingriff führt.394 Dieser Grundrechtseingriff könnte insbesondere wegen des Vorbehalts des Gesetzes einer Ausgestaltungskompetenz des BAG entgegenstehen. Da im nachfolgenden 5. Teil erörtert wird, ob das BAG oder der Gesetzgeber die Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks zum heutigen Zeitpunkt anordnen muss, wird die Frage zu den Urteilen vom 21. 10. 1969 und vom 14. 02. 1978 im Zusammenhang mit den dortigen Ausführungen beantwortet.

C.  Arbeitsrechtliche Sanktionsmittel: Berücksichtigungspflicht Wie bereits erläutert wurde, hat das BAG bei der Bewertung arbeitsrechtlicher Sanktionsmittel die betroffenen Grundrechte im Rahmen zivilrechtlicher Gene390  Siehe ausführlich zur Gewährleistung eines suspendierenden nichtgewerkschaftlichen Streikrechts im Völkerrecht die Zusammenfassung im 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“. 391  So zur ESC auch Dumke, Streikrecht ESC, S. 353 f.; Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 53. 392  BAG GS, Beschl. v. 28. 01. 1955, GS 1/54, NJW 1955, 882. 393  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237. Siehe zur Entwicklung der arbeitsvertragsbezogenen Rechtsprechung den 1. Teil, 3. Kapitel, A., III. „Arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks“. 394  Siehe dazu den 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“.

340

4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

ralklauseln zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen. Dies gilt beispielsweise für die Beurteilung des wichtigen Grundes im Rahmen außerordentlicher Kündigungen gemäß § 626 Abs. 1 BGB. Hier kann die grundrechtliche Schutzpflicht das BAG dazu anhalten, eine Abwägung zugunsten des grundrechtlichen Schutzes des nichtgewerkschaftlichen Streiks zu treffen.395 Die zivilrechtlichen Generalklauseln sind allerdings auch Einfallstore für völkerrechtliche Wertungen. Daher ist der für das Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien geltende Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks aus Art. 6 Nr. 4 ESC, Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 3 ILO-Übereinkommen im Rahmen der Generalklauseln völkerrechtsfreundlich zu berücksichtigen.396 Beispielsweise kann dies bei der Beurteilung einer außerordentlichen Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB dazu führen, dass eine aus grundrechtlicher Perspektive zulässige Kündigung wegen des völkerrechtlichen Einflusses auf die Beurteilung des wichtigen Grundes trotzdem für unzulässig zu erklären ist. Allerdings gilt, dass die Interessen des Arbeitgebers insoweit berücksichtigt werden können, wie das Völkerrecht im Rahmen der jeweiligen Beschränkungsvorbehalte Einschränkungen des nichtgewerkschaftlichen Streiks zulässt.397 Unter dieser Prämisse hätte sich das BAG im Rahmen seiner Urteile vom 21. 10. 1969 und vom 14. 02. 1978 bei der Beurteilung des wichtigen Grundes aus § 626 Abs. 1 BGB zumindest mit den Vorgaben aus Art. 6 Nr. 4 ESC, Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 3 ILO-Übereinkommen auseinandersetzen müssen und unter Umständen mildere Sanktionsmöglichkeiten wie eine Abmahnung fordern müssen. Je nach dem konkreten Sachverhalt hätte es aber auch die schutzwürdigen Interessen des betroffenen Arbeitgebers im Rahmen der Beschränkungsvorbehalte des Völkerrechts wahren können und zu einem Abwägungsergebnis gelangen können, dass grundrechtliche sowie völkerrechtliche Vorgaben umsetzt. Für eine ähnliche Umsetzung völkerrechtlicher Vorgaben hat sich das Verwaltungsgericht Düsseldorf ausgesprochen, dass im Falle des Streiks einer verbeamteten Lehrerin vorgeschlagen hatte, trotz des verfassungsrechtlichen Verbots von Beamtenstreiks und des daraus folgenden Dienstvergehens – das bildlich dem 395 

Siehe dazu den 4. Teil, 1. Kapitel, A., VI., 2., b) „Arbeitsrechtliche Sanktionsmittel“. Siehe zur Gewährleistung des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Völkerrecht die Zusammenfassung im 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“. 397 Strenger Dumke, Streikrecht ESC, S. 357, der Kündigungen und Mahnungen bei nichtgewerkschaftlichen Streiks wegen der Vorgaben aus Art. 6 Nr. 4 ESC für generell unzulässig hält. Allerdings ist er der Ansicht, dass die Suspendierungswirkung wegen Art. 6 Nr. 4 ESC bereits jetzt auch für nichtgewerkschaftliche Streiks gelten solle (S. 353 f.). Zur Frage, ob das BAG überhaupt die Kompetenz zu einer derartigen Anpassung besitzt, äußert er sich nicht. Diese Frage wird nachfolgend im 5. Teil, 1. Kapitel, A. „Anordnung durch das Bundesarbeitsgericht“ erörtert. 396 

3. Kap.: Ergebnisse

341

Arbeitsvertragsbruch beim nichtgewerkschaftlichen Streik entspricht – das nachfolgende Disziplinarverfahren wegen der Vorgaben des Art. 11 Abs. 1 EMRK zur Zulässigkeit des Beamtenstreiks einzustellen: „Der Auffassung des EGMR, dass eine disziplinare Reaktion auf einen Beamtenstreik die EMRK verletzt, hätte der Beklagte Rechnung tragen können und müssen. Zwar war er nach § 17 Abs. 1 LDG NRW gehalten, ein Disziplinarverfahren einzuleiten; denn die Klägerin hatte ein Dienstvergehen begangen. […]. Das Disziplinarverfahren hätte aber nicht zum Erlass der Disziplinarverfügung führen dürfen, sondern nach § 33 Abs. 1 Nr. 4 LDG NRW eingestellt werden müssen. Über diese Vorschrift hätte nach ihrem Wortlaut der Auffassung des EGMR zwanglos Rechnung getragen werden können: Eine Disziplinarmaßnahme war ,aus sonstigen Gründen‘, nämlich wegen Verstoßes gegen die EMRK, unzulässig.“398

Dieses Vorgehen könnte auf arbeitsrechtliche Sanktionsmittel des Arbeitgebers im Falle von nichtgewerkschaftlichen Streiks übertragen werden. Wenn im konkreten Fall eine Beschränkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Rahmen der völkerrechtlichen Beschränkungsvorbehalte (z.B. Art. 31 Abs. 1 ESC) zugunsten des Arbeitgebers unzulässig ist, sollte eine außerordentliche Kündigung als privatrechtliche Disziplinarmaßnahme aufgrund des Einflusses der völkerrechtlichen Vorgaben auf die abwägungsfähige Generalklausel des wichtigen Grundes unzulässig sein. 3. Kapitel

Ergebnisse 3. Kap.: Ergebnisse

Eingriff und Ausgestaltung sind zwei strukturell unterschiedliche Handlungsformen des Staates, die sich aus der Sicht eines Grundrechtsträgers ausschließen. Beide sind bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung staatlichen Handelns zu trennen. Als Differenzierungskriterium ist die Aktivierung des Abwehrrechts zu wählen. Ein Eingriff liegt vor, wenn staatliches Handeln das Abwehrrecht eines Grundrechts aktiviert. Eine bloße Ausgestaltung erfolgt dagegen, wenn der Staat auf Grundlage der objektiv-rechtlichen Dimension normative Freiheiten schafft oder verändert, ohne dabei das Abwehrrecht zu aktivieren. Das deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks durch das BAG stellt einen Grundrechtseingriff dar. Das Gericht hat durch diese Einordnung den Streik als natürliche Freiheit beeinträchtigt und dadurch das Abwehrrecht des Art. 9 Abs. 3 GG aktiviert. Dagegen ist die arbeitsvertragliche Unzulässigkeit 398 VG Düsseldorf, Urt. v. 15. 12. 2010, 31 K 3904/10.O, Rn. 34 (zitiert nach juris); zustimmend: Schlachter, RdA 2011, 341, 348; Walter, ZaöRV 2015, 753, 759 ff.; gegen die Entscheidung des VG Düsseldorf wendet sich allerdings ausführlich das OVG Münster, Urt. v. 07. 03. 2012, 3 d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890, 901 f.

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4. Teil: Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts

des nichtgewerkschaftlichen Streiks Teil der grundrechtlichen Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG. Die fehlende Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks stellt keinen Grundrechtseingriff dar. Grundrechtseingriffe des BAG unterliegen grundsätzlich dem Vorbehalt des Gesetzes. Nur die Schutzpflicht kann in bestimmten Fällen einen Grundrechtseingriff des BAG durch Richterrecht rechtfertigen. Im Übrigen muss sich das BAG bei Grundrechtseingriffen an die üblichen Voraussetzungen grundrechtlicher Eingriffe halten und im Rahmen verfassungsimmanenter Schranken handeln und vor allem den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Das deliktsrechtliche Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streiks verstößt aufgrund seiner Anknüpfung an § 823 Abs. 1 BGB nicht gegen den Vorbehalt des Gesetzes. Allerdings stellt es einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG dar und führt zu einer Verletzung des Grundrechts. Dem Streik einer nichtgewerkschaftlichen Koalition darf nicht generell ein deliktsrechtlicher Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB entgegenstehen. Dieser Einordnung stehen ebenfalls völkerrechtliche Vorgaben entgegen, die das BAG hätte beachten müssen. Somit handelte das BAG hinsichtlich des deliktsrechtlichen Verbots des nichtgewerkschaftlichen Streiks verfassungs- und völkerrechtswidrig. Grundrechtsausgestaltungen des BAG unterliegen grundsätzlich nicht den Voraussetzungen von Grundrechtseingriffen. Die Grundrechtsausgestaltung ist an die Vorgaben der objektiv-rechtlichen Dimension gebunden. Dabei hat sie sich an den jeweiligen grundrechtsspezifischen Prinzipien zu orientieren und muss diese verwirklichen. Einer Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegt die Ausgestaltung nicht. Eingriffsrechtliche Voraussetzungen sind allerdings zu berücksichtigen, wenn die Ausgestaltung aus Sicht von Dritten ein Grundrechtseingriff ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn das BAG erstmals für eine Streikform eine arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung anordnet. Dann ist neben der normalen Eingriffsrechtfertigung insbesondere der Vorbehalt des Gesetzes zu berücksichtigen. Allerdings rechtfertigt die sich aus der Schutzpflicht ergebende Notkompetenz in speziellen Ausnahmesituationen den Verstoß des BAG gegen den Vorbehalt des Gesetzes. Die Anordnung der Suspendierungswirkung für den gewerkschaftlichen Streik und die Ausklammerung des nichtgewerkschaftlichen Streiks sind Teil der grundrechtlichen Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG. Die Entscheidung, den nichtgewerkschaftlichen Streik auszuklammern, so dass er bisher arbeitsvertraglich unzulässig ist und zu einem Vertragsbruch führt, ist im Rahmen des staatlichen Einschätzungsspielraums zulässig. Die grundrechtliche Schutzpflicht hat bisher kein generelles Einschreiten des Staates des Staates zugunsten des nichtgewerkschaftlichen Streiks gefordert. Durch die Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks sind Streikende bisher ausreichend geschützt, so dass

3. Kap.: Ergebnisse

343

das Untermaßverbot im Allgemeinen nicht verletzt ist. Hinsichtlich des gewerkschaftlichen Streiks war die durch den Großen Senat des BAG richterrechtlich geschaffene Suspendierungswirkung im Übrigen aus Sicht des betroffenen Arbeitgebers ein gerechtfertigter Grundrechtseingriff in dessen durch Art. 14 GG geschützten arbeitsvertraglichen Anspruch gegen die Arbeitnehmer. Bei der gerichtlichen Beurteilung arbeitsrechtlicher Sanktionsmittel hat das BAG im Rahmen zivilrechtlicher Generalklauseln den grundrechtlichen und den völkerrechtlichen Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks zu berücksichtigen. Der grundrechtliche Schutz würde das BAG allerdings nur im Falle einer Schutzpflichtkonstellation zwingen, eine Abwägung zugunsten des nichtgewerkschaftlichen Streiks zu treffen. Hingegen geht die Berücksichtigungspflicht der völkerrechtlichen Vorgaben über diesen Bereich hinaus, wobei die Interessen des Arbeitgebers im Rahmen der einzelnen Beschränkungsvorbehalte des Völkerrechts berücksichtigt werden können. Ein Einfallstor für die grundrechtlichen und völkerrechtlichen Vorgaben bei der Beurteilung arbeitsrechtlicher Sanktionsmittel stellt beispielsweise der wichtige Grund bei außerordentlichen Kündigungen gemäß § 626 Abs. 1 BGB dar. In diesem Fall kann trotz einer Verletzung des Arbeitsvertrages durch den nichtgewerkschaftlichen Streik die Zulässigkeit einer außerordentlichen Kündigung wegen des völkerrechtlichen Schutzes dieser Streikform abzulehnen sein.

5. Teil

Konsequenzen und Folgeüberlegungen 5. Teil: Konsequenzen und Folgeüberlegungen

Im abschließenden 5. Teil werden auf Grundlage der bisher erarbeiteten Ergebnisse mögliche Konsequenzen prognostiziert und Folgeüberlegungen angestellt. Dazu gehört die Frage, wie und durch wen die völkerrechtliche Vorgabe umgesetzt werden muss, dass der nichtgewerkschaftliche Streik in einem bestimmten Umfang auch arbeitsvertraglich zulässig sein muss.1 Für die Umsetzung kommen einerseits das BAG und andererseits der deutsche Gesetzgeber infrage (1. Kapitel). Anschließend soll in einem Überblick dargestellt werden, wie ein deutsches Streikrecht aussehen könnte, das die völkerrechtlichen Vorgaben umsetzt (2. Kapitel). Dazu werden die Friedenspflicht und formale Regeln als Regulative eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts erörtert. Am Ende der Arbeit folgen schließlich allgemeine Überlegungen, wie die gefundenen Ergebnisse dieser Arbeit auch in anderen Bereichen des Arbeitskampfrechts Anwendungen finden können (3. Kapitel). 1. Kapitel

Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik? 1. Kap.: Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik?

Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 gewährleisten für nichtgewerkschaftliche Streiks von nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalitionen die Suspendierungswirkung. Art. 6 Nr. 4 ESC beinhaltet ein generelles Streikrecht, während Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 dieses nur in notwendigen Situationen schützt. Art. 11 Abs. 1 EMRK beinhaltet hingegen nur eine Streikfreiheit des nichtgewerkschaftlichen Streiks von Arbeitnehmerorganisationen, wobei es zumindest denkbar ist, dass der EGMR in notwendigen Situationen eine entsprechende positive Verpflichtung Deutschlands ausspricht, ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht nichttariffähiger Arbeitnehmerkoalitionen anzuerkennen.2 1 Siehe ausführlich zu den völkerrechtlichen Vorgaben in Bezug auf den nichtgewerkschaftlichen Streik die Zusammenfassung im 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“. 2 Siehe ausführlich zur Gewährleistung eines suspendierenden nichtgewerkschaftlichen Streikrechts im Völkerrecht die Zusammenfassung im 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“.

1. Kap.: Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik?

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A.  Anordnung durch das Bundesarbeitsgericht Das BAG könnte die völkerrechtlichen Vorgaben zur Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks aufgrund des Grundsatzes völkerrechtsfreundlicher Auslegung umzusetzen haben.3 Dieser Grundsatz gilt auch für Fälle der Grundrechtsausgestaltung durch richterliche Rechtsfortbildung.4 Allerdings gilt die Pflicht zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung nicht absolut.5 Sie führt nicht zur „Selbstaufgabe der Verfassung“6. Dem Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung können tragende Verfassungsprinzipien entgegenstehen.7 Dies hat zuletzt das BVerwG in seinem Urteil zum Beamtenstreik und dem Einfluss des Art. 11 Abs.1 EMRK auf das deutsche Arbeitskampfrecht bekräftigt: Bevor deutsche Gerichte die streikrechtlichen Vorgaben der EMRK umsetzen können, müsse der deutsche Gesetzgeber handeln, da die hergebrachten Grundsätze des Beamtentums aus Art. 33 Abs. 5 GG eine Auslegungsgrenze für nationale Gerichte und richterliche Rechtsfortbildung seien.8 Zu den tragenden Verfassungsprinzipien zählen jedenfalls alle Grundsätze, die von der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt werden.9 Dies sind neben Art. 1 GG insbesondere die Strukturprinzipien des Art. 20 GG. Dazu gehören gemäß Art. 20 Abs. 3 GG das Rechtsstaatsprinzip und der darin enthaltene Vorbehalt des Gesetzes. Dieser schreibt für Grundrechtseingriffe eine gesetzliche Grundlage

3  Vgl. zu Art. 6 Nr. 4 ESC: Dumke, Streikrecht ESC, S. 353 f.; wohl auch Schubert, in: EUArbR, Art. 6 ESC, Rn. 53. Siehe weiterführend den 2. Teil, 1. Kapitel, B., III. „Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung“. 4  Deinert, Arbeitskampfmittelfreiheit, S. 74; Leinemann, BB 1993, 2519; zur Ausgestaltung durch den „rechtsfortbildenden Arbeitsrichter“ Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 239 f.; zur Normkonkretisierung Konzen, AcP 1977, 473, 500; ebenso Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 137 ff., der zu Recht darauf hinweist, dass sich die Kompetenzgrenzen des BAG nur aus nationalem Recht ergeben. 5 BVerfG, Beschl. v. 15.  12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1300; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 230; zum Einfluss der EMRK Sauer, ZaöRV 2005, 35, 54; vgl. Deinert, Arbeitskampfmittelfreiheit, S. 74. 6  So anschaulich in Bezug auf Art. 25 GG Talmon, JZ 2013, 12, 15. 7 BVerfG, Beschl. v. 14.  10. 2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408: „Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist.“; vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015, 2 BvL 1/12, NJW 2016, 1259, 1300 f.; zustimmend: Deinert/Kittner, in: FS Lörcher, S. 292; Dumke, Streikrecht ESC, S. 194; Gooren, Tarifbezug, S. 237; vgl. Hofmann, Jura 2013, 326, 333; Payandeh, JöR 2009, 465, 498. 8  BVerwG, Urt. v. 27. 2. 2014, 2 C 1/13, NZA 2014, 616 620 f.; anders nur im Ergebnis BVerfG, Urt. v. 12. 6. 2018, 2 BvR 1738/12 u.a., NJW 2018, 2695, nach dessen Ansicht bereits keine Koventionswidrigkeit vorgelegen habe (Rn. 172 ff.). 9  Gooren, Tarifbezug, S. 237; Sauer, ZaöRV 2005, 35, 53 f.

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5. Teil: Konsequenzen und Folgeüberlegungen

vor.10 Der Vorbehalt des Gesetzes wird durch das Völkerrecht nicht beeinflusst und kann dem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung als tragendes Verfassungsprinzip entgegenstehen.11 Wie bereits am Beispiel des gewerkschaftlichen Streiks herausgearbeitet wurde, stehen der Anordnung einer streikrechtlichen Suspendierungswirkung durch das BAG grundsätzlich der Vorbehalt des Gesetzes und speziell Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG entgegen, der ebenfalls eine gesetzliche Grundlage fordert. Die Anordnung einer Suspendierungswirkung führt zu einem Grundrechtseingriff beim Arbeitgeber.12 Allerdings kann das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage in speziellen Schutzpflichtkonstellationen aufgrund einer richterlichen Notkompetenz entfallen.13 Im Fall des nichtgewerkschaftlichen Streiks ist eine generelle Notkompetenz jedoch abzulehnen. Die dafür erforderliche Schutzpflicht liegt nicht vor, da das gewerkschaftliche Streikrecht ein ausreichendes Druckmittel der Arbeitnehmer ist und daher eine generelle Unterschreitung des maßgeblichen Untermaßverbots nicht anzunehmen ist. Indem der Große Senat des BAG für den gewerkschaftlichen Streik die Suspendierungswirkung angeordnet hat, hat er den Anforderungen der Schutzpflicht grundsätzlich genügt.14 Daher ist unter den aktuellen Umständen eine Notkompetenz des BAG für eine generelle Anordnung eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts abzulehnen. Man könnte erwägen, dass das Völkerrecht Einfluss auf die grundrechtliche Schutzpflicht ausübt und seine Maßstäbe modifiziert, um über diesen Weg eine entsprechende Notkompetenz des BAG zu begründen. So ist Bertke der Ansicht, dass sich je nach Umfang der völkerrechtlichen Vorgabe weitergehende Schutz10 Zur Eingriffsverwaltung Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG, VI., Rn. 111; Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 282; Dreier, in: Dreier, Vorbemerkung, Rn. 102. 11  Dieterich, in: FS Jaeger, S. 109 und S. 105; vgl. zum Völkergewohnheitsrechts: Talmon, JZ 2013, 12, 17 f.; Zimmermann, ZRP 2012, 116, 118; vgl. zum Rechtsstaatsgebot Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 27; vgl. zur grundgesetzlichen Ordnung als Grenze völkerrechtskonformer Auslegung Hofmann, Jura 2013, 326, 333; zur rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG als Grenze einer konventionsfreundlichen richterlichen Rechtsfortbildung BAG, Urt. v. 20. 10. 2015, 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 303. 12  Vgl. dazu die Ausführungen zur Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks im 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“. 13  Siehe dazu ausführlich den 4. Teil, 1. Kapitel, B., 1., (3) „Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie?“. 14  Ähnlich ArbG Berlin, Urt. v. 10. 10. 1974, 39 Ca 112/74, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 49, unter I. 3 e): „Angesichts der grundsätzl. vorhandenen Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erscheint eine generelle Gleichstellung des nichtgewerkschaftl. Streiks mit dem gewerkschaftl. Streik nicht notwendig.“. Siehe ausführlich zum Zusammenspiel zwischen Schutzpflicht und nichtgewerkschaftlichen Streikrecht die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“.

1. Kap.: Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik?

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pflichten ergeben.15 Dagegen spricht jedoch, dass sich die grundrechtliche Schutzpflicht auf die Grundrechte des Grundgesetzes bezieht und von dem dort zu gewährleistenden Schutzminimum abhängig ist.16 Darüber hinaus existieren im Völkerrecht eigenständige Schutzpflichten, deren Inhalt ebenso autonom bestimmt wird.17 Adressaten dieser völkerrechtlichen Schutzpflichten sind jedoch in erster Linie der Gesetzeber und nur im Rahmen ihrer innerstaatlichen Kompetenzen nationale Gerichte.18 Eine Notkompetenz des BAG ergibt sich damit nur aus der nationalen grundrechtlichen Schutzpflicht. Diese wird nicht durch das Völkerrecht modifiziert. Allerdings kann dem BAG in einzelnen Ausnahmefällen eine Notkompetenz für den nichtgewerkschaftlichen Streik einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition zukommen. Dies gilt insbesondere für Situationen, in denen Arbeitnehmern ein gewerkschaftlicher Streik als Druckmittel nicht zur Verfügung steht. Dann kann die staatliche Schutzpflicht den Staat und damit auch das BAG dazu zwingen, zum Schutze der Arbeitnehmer die Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks im Einzelfall anzuordnen.19 Davon werden allerdings nur seltene Fälle erfasst, in denen den Arbeitnehmern überhaupt keine Gewerkschaft zur Verfügung steht oder diese grundlos die Führung eines Streiks ablehnt. Solange sich eine Gewerkschaft hingegen aus legitimen Gründen weigert, einen Streik zu organisieren, besteht kein besonderes Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer. Dies gilt beispielsweise für den Fall, dass die Gewerkschaft rechtlich 15 

Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 265 f. Zuvor führt Bertke jedoch selbst aus, dass die richterliche und die gesetzliche Schutzpflicht durch das grundrechtliche Untermaßverbot ausgelöst werden (S. 263 f.). Mehr Sinn machen die Ausführungen von Bertke allerdings, wenn man ihre Ausführungen auf die allgemeine Pflicht des Gesetzgebers zur normativen Ausgestaltung des Streiks bezieht. Diese geht über das Untermaßverbot hinaus und lässt einen Einfluss des Völkerrechts zu. Siehe dazu die Ausführungen im 5. Teil, 1. Kapitel, B. „Anordnung durch den Gesetzgeber“ (vgl. im Übrigen zur Unterscheidung zwischen Schutzpflicht und allgemeiner Ausgestaltungspflicht Isensee, in: HStR IX, § 191, Rn. 223; Dieterich, RdA 2007, 110, 112 f.). 16 Vgl. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 282, die nachweist, dass die Schutzpflicht „aus den fundamentalen Rechtsgütern, die jedem der Rechtssysteme zugrunde liegen, heraus zu entwickeln“ sind und die Schutzfunktion „unter Achtung und Einpassung in das Gesamtsystem der jeweiligen Rechtsordnung zu erfolgen“ hat. 17 Siehe zu Schutzpflichten im Rahmen des Völkerrechts und des europäischen Gemeinschaftsrechts die ausführlichen Darstellungen von Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 103 ff. und Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 27 ff. 18 Vgl. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 166; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 342 ff. (zum „Gesetzesvorbehalt“ S. 348). 19  Siehe zu diesen Ausnahmefällen die ausführlichere Darstellung im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“.

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5. Teil: Konsequenzen und Folgeüberlegungen

keinen Streik organisieren darf, weil sie noch an eine bestehende tarifliche Friedenspflicht gebunden ist. Den Arbeitnehmern ist zuzumuten, bis zum Ablauf der Friedenspflicht mit der Durchsetzung ihrer neuen Forderungen zu warten. Dies ist gerade der Sinn der Friedenspflicht und würde ansonsten die Befriedungsfunktion der Tarifautonomie gefährden.20 Im Ergebnis gilt, dass das BAG wegen des Vorbehalts des Gesetzess keine generelle Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik anordnen kann, obwohl zumindest Art. 6 Nr. 4 ESC dies fordert.21 Nur in besonderen Ausnahmefällen kommt dem BAG eine Notkompetenz zu, die einen Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes rechtfertigt. Damit verstieß das BAG im Übrigen auch nicht gegen den Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung, als es anlässlich seiner Urteile vom 21.10. 1969 und vom 14. 02. 1978 davon ausging, dass ein nichtgewerkschaftlicher Streik die Arbeitspflicht nicht suspendiere. Den beiden Urteilen lagen keine Umstände zugrunde, aus denen sich eine Schutzpflicht und damit eine Notkompetenz des BAG ergeben hätte.22

B.  Anordnung durch den Gesetzgeber Wenn die generelle Einführung der Suspendierungswirkung durch eine richterliche Rechtsfortbildung des BAG am Vorbehalt des Gesetzes scheitert, stellt sich die Anschlussfrage, ob der deutsche Gesetzgeber eine entsprechende zivilrechtliche Regelung per Gesetz verabschieden muss. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber verpflichtet, eine völkerrechtskonforme Rechtslage zu schaffen.23 Dies gilt auch für die normative Ausgestaltung des 20  Siehe zur Frage, wann ein legitimes Schutzbedürfnis besteht, ebenfalls die Ausführungen im 3. Teil, 4. Kapitel, C., II. „Grundrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Streik“. 21 A.A.: Dumke, Streikrecht ESC, S. 353 f., der offensichtlich davon ausgeht, dass das BAG seine Rechtsprechung anpassen und dementsprechend die Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks wegen der Vorgaben der ESC anordnen muss. Er berücksichtigt jedoch die entgegenstehenden verfassungsrechtlichen Grenzen des Vorbehalts des Gesetzes und des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG nicht, ähnlich Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 22 ff. 22  BAG, Urt. v. 21. 10. 1969, 1 AZR 93/68, NJW 1970, 486; BAG, Urt. v. 14. 2. 1978, 1 AZR 76/76, NJW 1979, 236, 237. Siehe zum Sachverhalt beider Urteile die Erläuterungen im 1. Teil, 3. Kapitel, A., III. „Arbeitsvertragliche Einordnung des nichtgewerkschaftlichen Streiks“. 23  Vöneky, in: HStR XI, § 236, Rn. 26; vgl. zum Gebot innerstaatlicher Umsetzung, wenn der völkerrechtliche Vertrag auf eine Umsetzung angewiesen ist Payandeh, JöR 2009, 465, 490; vgl. hinsichtlich eines Arbeitskampfgesetzes Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 23; zur ESC Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, S. 56: „Ein Gesetzgebungsvorschlag muss schon deshalb die ESC

1. Kap.: Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik?

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deutschen Streikrechts und damit die arbeitsvertragliche Wirkung des Streiks.24 Hinsichtlich der Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks betrifft dies – abgesehen von den genannten Ausnahmefällen – einen Bereich der normativen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, der unabhängig von den Maximen der grundrechtlichen Schutzpflicht ist.25 In diesem Bereich besitzt der Gesetzgeber grundsätzlich einen weiten Einschätzungsspielraum.26 Hier kann er beispielsweise berücksichtigen, dass es in Deutschland durch die betriebliche Mitbestimmung bereits andere Kanäle der Streitbeilegung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gibt.27 Darüber hinaus müsste der Einfluss eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts auf das Tarifvertragssystem und die etablierte Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften analysiert werden. Allerdings bilden die völkerrechtlichen Vorgaben eine Grenze des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums und verpflichten den Gesetzgeber zum völkerrechtskonformen Handeln.28 Auf der anderen Seite ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Einfluss des Völkerrechts auf den Gesetzgeber verfassungsrechtliche Grenzen hat. Ähnlich wie beim Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung müssen grundrechtliche Vorgaben beachtet werden. Insbesondere hat der Gesetzgeber bei der Ausarbeitung eines Arbeitskampfgesetzes betroffene Grundrechte aufgrund des Übermaßverbots in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen („praktische Konkordanz“), beachten, damit die Bundesrepublik nicht gegen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verstößt.“. 24  Vgl. zum Beamtenstreik Dieterich, in: FS Jaeger, S. 109; zur ESC Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 137 und S. 189 f.; zustimmend Konzen, AcP 1977, 473, 500; allgemein zur Regelung von Koalitionsbetätigungen Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, Grundlagen, Rn. 341. 25  Siehe zu diesem Bereich der Ausgestaltung jüngst BVerfG, Beschl. v. 24. 2. 2015, 1 BvR 472/14, NJW 2015, 1506, 1509, insbesondere Rn. 46 und 52; hinsichtlich des Arbeitskampfes wohl auch BVerfG, Urteil v. 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86 (u.a.), NZA 1995, 754, 755 f. Aus der Literatur: Dieterich, RdA 2007, 110, 112 f.; Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 75; vgl. Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, S. 134; vgl. Richardi, AP GG Art. 9 Nr. 127, Anmerkung I. 2. und II.; vgl. zu einer über den Kernbereich hinausgehenden Ausgestaltung Schwarze, JuS 1994, 653, 658. 26 Siehe BVerfG, Urteil v. 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86 (u.a.), NZA 1995, 754, 756; Birk/ Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 21; Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 268; Dieterich, RdA 2007, 110, 113; Henssler, ZfA 2010, 397, 407 f.; Hillgruber, in: HStR IX, § 200, Rn. 75; Schwarze, JuS 1994, 653, 658; Waltermann, EuZA 2015, 15; 28; vgl. Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 20. Siehe ausführlich zu den Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Ausgestaltung den 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 2. „Grundrechtsausgestaltung“. 27  Darauf weist beispielsweise Kerwer, EuZA 2008, 335, 352 hin; ebenso im Zusammenhang mit den Vorgaben des Art. 11 EMRK Hilje, Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen, S. 177. 28  Zu Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 11 EMRK Waltermann, EuZA 2015, 15, 28.

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5. Teil: Konsequenzen und Folgeüberlegungen

wenn mit der Ausgestaltung Grundrechtseingriffe verbunden sind.29 Die Anordnung einer arbeitsvertraglichen Zulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks betrifft eine Dreieckskonstellation, in der der Gesetzgeber zugunsten des einen Grundrechtsträgers in Rechte eines anderen Grundrechtsträger eingreift.30 Anders als das BAG könnte der Gesetzgeber jedoch eine rein zukunftsbezogene Ausgestaltung des Arbeitsvertragsrechts vornehmen, die bestehende Arbeitsverträge nicht beeinträchtigt. Aber auch eine rein zukunftsbezogene Anordnung eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts würde zu einer Beeinträchtigung der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 12 GG des Arbeitgebers führen, die der Gesetzgeber mit der Koalitionsfreiheit der nichtgewerkschaftlichen Arbeitnehmer in ein ausgewogenes Verhältnis bringen müsste.31 Aufgrund dieses Abwägungsgebots zwischen kollidierenden Grundrechten ist eine pauschale Übertragung der völkerrechtlichen Vorgaben in Dreieckskonstellation nicht möglich.32 Um in derartigen Situationen den unterschiedlichen Bedürfnissen in völkerrechtskonformer Weise gerecht zu werden, kann der Gesetzgeber auf die Beschränkungsklauseln der völkerrechtlichen Verträge zurückgreifen. So könnte der Staat ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht nach Maßgabe des Art. 31 ESC an bestimmte Bedingungen knüpfen und damit auf die Grundrechte des Arbeitgebers und Dritter Rücksicht nehmen.33 Welche Bedingungen und Regeln der Gesetzgeber in diesem Rahmen aufstellen könnte, wird im folgenden Kapitel in einem Überblick beispielhaft erläutert.

29  Dieterich, RdA 2007, 110, 111; Henssler, ZfA 2010, 397, 407 f.; zu Errichtung von Schranken Richardi, NZA 2014, 1233, 1236; Schwarze, JuS 1994, 653, 658; zum Sympathiestreik Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 254 ff.; zum Ausgleich von Grundrechtspositionen im Zivilrecht Dieterich, in: FS Jaeger, S. 107. 30  Siehe dazu am Beispiel der Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks den 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“. 31 Siehe zu kollidierenden Rechtsgütern der Arbeitgeberseite: Greiner, EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 143, Anmerkung, S. 34 f.; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017, 1024 f.; Patett, Arbeitskampfrecht und Art. 12 GG, S. 113 ff., der allerdings eine Anwendung des Prinzips praktischer Konkordanz beim Arbeitskampf ablehnt und eine Abwägung bereits auf Schutzbereichsebene vornimmt. 32  Vgl. zu „mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen“ im Rahmen völkerrechtsfreundlicher Auslegung durch Gerichte: BVerfG, Urt. v. 4. 5. 2011, 2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931, 1936; jüngst BAG, Urt. v. 20. 10. 2015, 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 301; Gooren, Tarifbezug, S. 234; Nußberger, RdA 2012, 270, 276. 33 Ebenso Däubler, in: Däubler Arbeitskampfrecht, § 12, Rn. 27; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 137 ff.; ähnlich Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393, 396; zum Sympathiestreik Bertke, Zulässigkeit von Sympathiestreiks, S. 268; allgemein zum Streikrecht Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 28.

2. Kap.: Regeln für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht

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2. Kapitel

Regeln für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht 2. Kap.: Regeln für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht

Bei der Aufstellung von einschränkenden Kriterien für das nichtgewerkschaftliche Streikrecht durch den Gesetzgeber kommt es in erster Linie auf Art. 31 ESC an. Bei den anderen beiden völkerrechtlichen Quellen, Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 und Art. 11 Abs. 1 EMRK, ergibt sich dieses Bedürfnis insofern nicht, da die Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks dort sowieso nur im Zusammenhang mit notwendigen Situationen steht.34

A.  Nichtgewerkschaftliches Streikrecht und Friedenspflicht Ein bestehender Tarifvertrag begründet nach allgemeiner Auffassung für die Vertragsparteien eine relative Friedenspflicht. Diese dem Tarifvertrag immanente Pflicht sorgt dafür, dass die Vertragsparteien während der Laufzeit des Tarifvertrags zu den durch ihn geregelten Themen keine Arbeitskämpfe durchführen dürfen.35 Zudem verpflichtet sie die Vertragsparteien, auf ihre Mitglieder einzuwirken, Arbeitskämpfe während dieser Zeit zu unterlassen.36 Wie sich aus der Formulierung des Art. 6 Nr. 4 ESC ergibt, wird das dortige Streikrecht nur „vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ geschützt. Damit steht Art. 6 Nr. 4 ESC der Annahme einer relativen Friedenspflicht für die Parteien eines Kollektivvertrags und einem daraus folgenden zeitlich begrenzten Verbot von Streiks nicht entgegen.37 In Anlehnung an dieses Modell der tarifvertraglichen Friedenspflicht könnte der Gesetzgeber ebenso für nichtgewerkschaftliche Koalitionen gesetzlich anordnen, dass aus kollektiven Vereinbarungen zwischen nichtgewerkschaftlichen Koalitionen und dem Arbeit-

34  Siehe dazu die Zusammenfassung zum Völkerrecht im 2. Teil, 4. Kapitel „Ergebnisse“, wonach der EGMR eine positive Verpflichtung nur in notwendigen Situationen anordnen würde und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 den nichtgewerkschaftlichen Streik inklusive Suspendierungswirkung sowieso nur in einem notwendigen Situationen schützt. 35  Siehe nur BAG, Urt. v. 19. 6. 2007, 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055, 1057; BAG, Urteil v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 738 f.; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 124 f.; Waas, in: BeckOK ArbR, Art. 9 GG, Rn. 45. 36 Dazu ausführlich unter Bezug auf den „wilden Streik“ Löwisch/Rieble, in: TVG Kommentar, § 1 TVG, Rn. 1183 ff.; Waas, in: BeckOK ArbR, § 1 TVG, Rn. 64. 37  Ausführlich BAG, Urteil v. 10. 12. 2002, 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734, 739: „Der Beschränkung des Streikrechts durch die Friedenspflicht steht die Europäische Sozialcharta (ESC, BGBl II 1964, 1262) nicht entgegen.“; zustimmend Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 105; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 232; vgl. Treber, in: Arbeitsrechts-Handbuch, § 191, Rn. 28.

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5. Teil: Konsequenzen und Folgeüberlegungen

geber eine relative Friedenspflicht und damit ein vorübergehendes Verbot des nichtgewerkschaftlichen Streikrechts folgt.38 Für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht und seine möglichen Auswirkungen ist ein anderer Aspekt jedoch viel wichtiger. Die tarifvertragliche Friedenspflicht gilt nur für die unmittelbaren Vertragsparteien und nicht für andere Gewerkschaften oder Koalitionen.39 Wenn in einem Betrieb bereits ein Tarifvertrag einer Gewerkschaft existiert, wären nichtgewerkschaftliche Koalitionen nicht an die daraus folgende Friedenspflicht gebunden, da sie nicht Vertragspartei sind. Dies könnte dazu führen, dass nichtgewerkschaftliche Koalitionen einen Arbeitgeber trotz einer bestehenden tariflichen Regelung bestreiken und dadurch die Befriedungsfunktion der Tarifautonomie aushebeln. Dies könnte mittelfristig zu einer ungewollten Schwächung der gesamten Tarifautonomie und der Gewerkschaften führen.40 Eine gesetzgeberische Lösung wäre die Verknüpfung des nichtgewerkschaftlichen Streikrechts mit einer Ausweitung der tarifvertraglichen Friedenspflicht auf betrieblicher Ebene.41 Die persönliche Reichweite einer tarifvertraglichen Friedenspflicht würde neben den Tarifvertragsparteien auch nichtgewerkschaftliche Koalitionen umfassen. Auf dieser Grundlage wäre die Ausübung eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts nur zulässig, wenn in dem jeweiligen Betrieb noch kein Tarifvertrag existiert, der die angestrebten Inhalte bereits regelt. Damit könnte ein „Nebeneinander von gewerkschaftlichen und nichtgewerkschaftlichen Streiks zu denselben Themen“42 verhindert werden. Eine derartige Regelung würde anders als ein vollständiges Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks wohl eine verhältnismäßige Beschränkung des Streikrechts aus Art. 6 Nr. 4 ESC im Sinne des Art. 31 Abs. 1 ESC sein.43 38 Vgl. Ramm, AuR 1971, 65, 75, für den diese Friedenspflicht sogar individuell für den nichtgewerkschaftlich streikenden Arbeitnehmers gilt; ähnlich Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 138; ebenfalls für eine individualrechtliche Friedenspflicht Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 99 f. 39  Deinert, RdA 2011, 12, 18; Jacobs, NZA 2008, 325, 330; Linsenmaier, in: ErfK, Art. 9 GG, Rn. 124: „Die Friedenspflicht wirkt jedoch nicht zu Lasten Dritter.“. 40  Dumke, Streikrecht ESC, S. 293; Kovacs, Comparative Labor Law & Policy Journal 2004, 445, 458 f. 41  So auch der Vorschlag von Dumke, Streikrecht ESC, S. 293 f.; vgl. Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 138, der vorschlägt, die tarifvertragliche Friedenspflicht auf die Mitglieder der Tarifvertragsparteien auszuweiten, um dadurch zumindest für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer ein Ausweichen auf einen nichtgewerkschaftlich Streik während der Laufzeit des Tarifvertrags zu verhindern; vgl. Meyer, DB 2006, 1271, 1272, der eine solche Ausweitung als Reaktion auf die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit vorschlägt. 42  Davor zu Recht warnend Dumke, Streikrecht ESC, S. 293. 43  So auch Dumke, Streikrecht ESC, S. 293 f.

2. Kap.: Regeln für ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht

353

B.  Formale Regeln eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts Neben dem Schutz der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch eine Ausweitung der Friedenspflicht könnte der Gesetzgeber die Auswirkungen eines nichtgewerkschaftlichen Streikrechts durch die Aufstellung von formalen Regeln in Grenzen halten. Dabei kommt – wie auch der sogenannte „Professoren­entwurf“ zu einem verbandsfreien Streikrecht vorschlägt – die Einführung einer Ankündigungsfrist in Frage, damit dem nichtgewerkschaftlichen Streik ein Verhandlungszeitraum vorausgeht.44 Eine derartige „cooling-off period“ wurde auch durch das EKSR als zulässige Einschränkung des Streikrechts der ESC gemäß Art. 31 Abs. 1 ESC eingestuft, wenn der Streik „vitally important func­t ions“ (äußerst wichtige Funktionen) betrifft oder dem Gemeinwohl „serious harm“ (ernsthaften Schaden) zufügt.45 In diesem Zusammenhang könnte der Gesetzgeber zusätzlich festschreiben, dass nichtgewerkschaftliche Koalitionen eine Streikleitung als Verhandlungspartner für den Arbeitgeber bilden müssen.46 Ebenso besteht die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber das nichtgewerkschaftliche Streikrecht an eine vorhergehende Urabstimmung der Streikenden bindet.47 Dadurch würde sichergestellt, dass die nichtgewerkschaftliche Koalition tatsächlich einen inneren Willensbildungsprozess durchläuft, der als abstrakte Fähigkeit sowieso Voraussetzung der Koalitionseigenschaft ist.48 Das EKSR akzeptiert sogenannte „ballots“, wenn die Methode der Abstimmung, das Quorum und die erforderliche Mehrheit das Streikrecht nicht zu sehr beschränken.49 Eine weitere Möglichkeit, den Arbeitgeber und Dritte vor unverhältnismäßigen Eingriffen zu schützen, wäre die gesetzliche Anordnung einer gemeinsamen Pflicht von Gewerkschaften und nichtgewerkschaftlichen Koalitionen, Notdiens-

44  Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 98 f.; ebenso Mitscherlich, Arbeitskampfrecht der BRD/ESC, S. 137. 45 Beispielsweise Conclusions XIV-1 (1998), Finland, Article 6 – 4; siehe dazu weiterführend Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 106 f.; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 234. 46  So zum „verbandsfreien Streikrecht“ Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 98; zur Rolle eines derartigen Streiksprechers ArbG Gelsenkirchen, Urt. v. 13. 3. 1998, 3 CA 3173/97, NZA-RR 1998, 352, 354. 47  So zum „verbandsfreien Streikrecht“ Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetzentwurf, S. 98. 48  Siehe dazu und zu den weiteren Anforderungen des Koalitionsbegriffs nach Art. 9 Abs. 3 GG die Ausführungen im 3. Teil, 2. Kapitel, A., III. „Koalitionsbegriff“. 49 Dazu jüngst Conclusions (2014), Romania, Article 6 – 4; unzulässig hingegen in conclusions XIV-1 (1998), United Kingdom, Article 6 – 4; siehe zu „ballots“ Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 107.

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5. Teil: Konsequenzen und Folgeüberlegungen

te und Erhaltungsarbeiten zu gewährleisten.50 Verpflichtende Notdienste und Erhaltungsarbeiten stehen grundsätzlich mit Art. 31 Abs. 1 ESC im Einklang, wenn dadurch öffentliche Belange und das Gemeinwohl geschützt werden.51 Insgesamt sind vielfältige Optionen für den Gesetzgeber denkbar, wie er in völkerrechtskonformer Weise die gesetzliche Anordnung der arbeitsvertraglichen Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks mit formalen Bedingungen verknüpfen könnte. Dabei kommen dem Gesetzgeber sein Gestaltungsspielraum im Rahmen der normativen Grundrechtsausgestaltung und die Möglichkeit von Beschränkungen des Streikrechts nach Art. 31 Abs. 1 ESC zu Gute. 3. Kapitel

Allgemeine Überlegungen zum Arbeitskampfrecht 3. Kap.: Allgemeine Überlegungen zum Arbeitskampfrecht

Abschließend soll an dieser Stelle eine allgemeine Bemerkung zu dem in dieser Arbeit entwickelten dogmatischen Modell zum Zusammenspiel zwischen Völkerrecht, Verfassungsrecht und einfachem Zivilrecht erfolgen. Die Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen und der durch den Vorbehalt des Gesetzes eingeschränkte Handlungsspielraum des BAG wurden zwar am Beispiel des nichtgewerkschaftlichen Streiks erläutert, doch können die hierzu gefundenen Ergebnisse auf die arbeitsvertragliche Anerkennung neuer Arbeitskampfmittel durch das BAG übertragen werden. Auch diese besitzen nicht automatisch eine normative Freiheit, die zu einer arbeitsvertraglichen beziehungsweise zivilrechtlichen Zulässigkeit führt, obwohl sie als natürliche Freiheiten vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst sein können.52 Diese normative Freiheit muss entweder durch den Gesetzgeber im Zivilrecht geschaffen werden oder kann – und das ist eine wichtige Erkenntnis dieser Arbeit – nur unter Beachtung des Vorbehalts des Gesetzes durch das BAG mittels Rechtsfortbildung angeordnet werden. Aufgrund des mit dieser Anordnung verbundenen Grundrechtseingriffs zu Lasten des Arbeitgebers hat 50  So der Vorschlag zur Verbandspluralität im Arbeitskampf von Kork, Verbandspluralität im Arbeitskampf, S. 229 f., der im Übrigen einheitliche Verhandlungs- und Friedenzeiten und Schlichtungen vorschlägt. Dadurch wären verschiedene Gewerkschaften in einem Betrieb zur Koordinierung ihrer Aktivitäten gezwungen. Auf ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht geht Kork allerdings nicht ein. 51  Harris/Darcy, The European Social Charter, S. 108 f.; Świa̜ tkowski, Charter of Social Rights, S. 235 f. 52 Siehe zur Unterscheidung zwischen natürlicher und normativer Grundrechtsfreiheit am Beispiel des Streiks die Ausführungen im 3. Teil, 3. Kapitel, B. „Streik als natürliche und normative Freiheit“.

3. Kap.: Allgemeine Überlegungen zum Arbeitskampfrecht

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das BAG grundsätzlich den Vorbehalt des Gesetzes zu berücksichtigen.53 Eine rechtfertigende Notfallkompetenz des BAG besteht nur in besonderen Schutzpflichtkonstellationen, in denen das Untermaßverbot bezüglich der betroffenen Arbeitnehmer verletzt sein muss und die arbeitsvertragliche Zulässigkeit des Arbeitskampfmittels die einzige Option zur Erfüllung der Schutzpflicht ist.54 Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben werden nicht durch den Einfluss des Völkerrechts zur Zulässigkeit bestimmter Arbeitskampfmittel beeinflusst. Das BAG kann die Vorgaben des Völkerrechts ausschließlich im Rahmen seiner Kompetenzen völkerrechtsfreundlich umsetzen.55 Ein konkretes Beispiel, in dem das BAG diese verfassungsrechtlichen Vorgaben berücksichtigen müsste, ist die arbeitsvertragliche Zulässigkeit eines Flash­ mobs von Arbeitnehmern im Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber.56 Wie Bertke richtigerweise unterstreicht, kommt der grundrechtliche Schutz bestimmter Koa­ litionsbetätigungen nicht automatisch im Vertragsrecht zum Tragen. Daher sind streikbegleitende Flashmobs im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber trotz eines grundrechtlichen Schutzes durch Art. 9 Abs. 3 GG im Ausgangspunkt arbeitsvertragsrechtlich unzulässig.57 Zu ihrer arbeitsvertraglichen Zulässigkeit bedürfte es einer zivilrechtlichen Anordnung durch den Gesetzgeber oder – allerdings nur unter den genannten Voraussetzungen der Schutzpflicht – einer rechtsfortbildenden Anordnung durch das BAG. Nur wenn eine Verletzung des Untermaßverbots vorliegt und die arbeitsvertragliche Zulässigkeit des Flashmobs die einzige Lösung zur Erfüllung der Schutzpflicht ist, dürfte das BAG die bestehende vertragliche Regelung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aussetzen 53  Siehe zu den Grundrechten des Arbeitgebers, die bei einer Anordnung der arbeitsvertraglichen Zulässigkeit von Arbeitskampfmittel beeinträchtigt werden, die Ausführungen zur Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks im 4. Teil, 1. Kapitel, B., II., 2., b) „Ausgestaltung aus Perspektive des Arbeitgebers“. 54  Siehe zur rechtfertigenden Notkompetenz des BAG in besonderen Schutzpflichtkonstellationen die Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, B., I., 1., (3) „Ausnahme vom Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie?“. 55  Siehe dazu ausführlich am Beispiel der Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks den 5. Teil, 1. Kapitel, A. „Anordnung durch das Bundesarbeitsgericht“. 56  Siehe zur anders gelagerten Frage (Deliktsrecht), ob ein Arbeitgeberverband gegen eine Gewerkschaft einen Unterlassungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 BGB i.V. mit § 823 Abs. 1 BGB, Art. 9 Abs. 3 GG wegen eines Flashmobs hat: BVerfG, Beschl. v. 26. 3. 2014, 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493; BAG, Urt. v. 22. 9. 2009, 1 AZR 972/08, NZA 2009, 1347. Vergleiche zum Einfluss des grundrechtlichen Schutzes eines Kampfmittels auf die Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in das Recht des Arbeitgebers am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb die kritischen Ausführungen im 4. Teil, 1. Kapitel, A., VI., 1. „Nichtgewerkschaftlicher Streik und Deliktsrecht: Grundrechtseingriff“. 57  Bertke, NJW 2014, 1852, 1854; ähnlich Krause, in: Giesen/Junker/Rieble, Entgrenzter Arbeitskampf?, S. 53; Maaß, ArbR Aktuell, 151, 152.

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5. Teil: Konsequenzen und Folgeüberlegungen

und den Flashmob für arbeitsvertraglich zulässig erklären. In allen anderen Fällen würde das BAG durch den mit der Anordnung verbundenen Grundrechtseingriff wegen des Vorbehalts des Gesetzes seine Kompetenzen überschreiten und gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen.58 Wie Richardi zu Recht kritisiert, bleibt für die arbeitsrechtliche Problematik im Allgemeinen unberücksichtigt, welche Bedeutung der Arbeitskampf für das zivilrechtliche Haftungssystem hat: „Seine Zulässigkeit wird rechtsdogmatisch fehlerhaft bestimmt, wenn man Grenzziehungen ausschließlich als Beschränkung der Koalitionsfreiheit interpretiert; es geht hier entscheidend auch um die Problematik, dass durch die Zulassung des Arbeitskampfes der Eingriff in einen fremden Rechtskreis institutionalisiert wird und insoweit einen besonderen Tatbestand im zivilrechtlichen Haftungssystem bildet.“59 Neben der Bestätigung von Richardis These hat die vorliegende Untersuchung zudem gezeigt, wer für die Zulassung des Arbeitskampfes im Zivilrecht zuständig ist und vor allem dazu die verfassungsrechtliche Kompetenz besitzt: dies ist im Grundsatz der Gesetzgeber und nur in Ausnahmefällen das BAG. 4. Kapitel

Ergebnisse 4. Kap.: Ergebnisse

Trotz der völkerrechtlichen Vorgabe – insbesondere aus Art. 6 Nr. 4 ESC – kann das BAG wegen des rechtsstaatlichen Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes keine generelle Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik anordnen. Nur in besonderen Ausnahmefällen kommt dem BAG eine Notkompetenz zu, die einen Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes rechtfertigt. Dazu zählen insbesondere Situationen, in denen Arbeitnehmern ein gewerkschaftlicher Streik als Druckmittel nicht zur Verfügung steht. Dann kann die staatliche Schutzpflicht das BAG im Einzelfall dazu ermächtigen, zum Schutze der Arbeitnehmer die Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks anzuordnen. Solange sich eine Gewerkschaft allerdings aus legitimen Gründen weigert, einen Streik zu organisieren, besteht kein besonderes Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer. Dies gilt beispielsweise für den Fall, das die Gewerkschaft keinen Streik organisieren kann, weil sie noch an eine bestehende tarifliche Friedenspflicht gebunden ist. Der Gesetzgeber hingegen ist verpflichtet, für eine völkerrechtskonforme Ausgestaltung des Streikrechts zu sorgen. Dazu zählt grundsätzlich die An58  Siehe dazu ausführlich am Beispiel der Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks den 5. Teil, 1. Kapitel, A. „Anordnung durch das Bundesarbeitsgericht“. 59  Richardi, NZA 2014, 1233, 1236.

4. Kap.: Ergebnisse

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ordnung einer Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik. Allerdings hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Zivilrechts auch entgegenstehende Grundrechte des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Daher ist eine pauschale Übertragung der völkerrechtlichen Vorgaben zum nichtgewerkschaftlichen Streikrecht nicht möglich. Der Gesetzgeber kann entgegenstehende Grundrechte des Arbeitgebers dadurch berücksichtigen, dass er das nichtgewerkschaftliche Streikrecht an bestimmte Regeln und Bedingungen knüpft, die sich im Rahmen der Beschränkungsklauseln der völkerrechtlichen Verträge (z.B. Art. 31 ESC) bewegen. Zu möglichen Regeln des nichtgewerkschaftlichen Streikrechts könnte eine Bindung an eine betriebliche Friedenspflicht zählen. Diese würde im Vergleich zur bisher geltenden tarifvertraglichen Friedenspflicht nicht nur die unmittelbaren Tarifvertragsparteien erfassen, sondern auch nichtgewerkschaftliche Koalitionen in dem Betrieb, auf den ein bestehender Tarifvertrag Anwendung findet. Damit könnte verhindert werden, dass nichtgewerkschaftliche Koalitionen die Befriedungsfunktion eines bestehenden Tarifvertrags durch einen Streik beseitigen. Darüber hinaus kommen formale Regeln wie eine Ankündigungsfrist, eine Urabstimmung oder gesetzliche Pflichten zu Notdiensten und Erhaltungsarbeiten infrage, die grundsätzlich mit dem Völkerrecht vereinbar sind. Das in dieser Arbeit zum nichtgewerkschaftlichen Streik entwickelte Modell, das den Streik in völkerrechts- und verfassungsrechtskonformer Weise in das Arbeitsvertragsrecht integriert, kann auf andere Arbeitskampfmittel übertragen werden. Ein verfassungsrechtlicher Schutz führt nicht automatisch zur arbeitsvertraglichen Zulässigkeit eines Arbeitskampfmittels. Für letztere ist in erster Linie der Gesetzgeber zuständig, während das BAG wegen des Vorbehalts des Gesetzes nur in besonderen Ausnahmefällen eine Notkompetenz zur normativen Ausgestaltung aufgrund der grundrechtlichen Schutzpflicht besitzt. .

Zusammenfassung der Ergebnisse Zusammenfassung der Ergebnisse Zusammenfassung der Ergebnisse

I. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung war der nichtgewerkschaftliche Streik in seiner Handhabung durch das BAG. Die historische Betrachtung hat gezeigt, dass bis in die Weimarer Republik der gewerkschaftliche und nichtgewerkschaftliche Streik rechtlich gleichbehandelt wurden. Erst die Rechtsprechung des BAG änderte diese Situation, indem sie den gewerkschaftlichen Streik durch die arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung privilegierte und den nichtgewerkschaftlichen Streik durch die deliktsrechtliche Einordnung verbot.

Der nichtgewerkschaftliche Streik ist trotz des Verbotes durch das BAG ein seltenes, aber wiederkehrendes Phänomen in der deutschen Arbeitskampfpraxis. Für seine Ursachen lassen sich verschiedene Ursachen festmachen, zu denen insbesondere in Einzelfällen eine fehlende Unterstützung der Arbeitnehmer durch Gewerkschaften gehört. Aus rechtsvergleichender Sicht hat sich gezeigt, dass der nichtgewerkschaftliche Streik weltweit und in vielen europäischen Staaten zulässig ist.

II. Im für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Völker- und Unionsrecht existieren verschiedene Bestimmungen, aus denen sich ein Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks ergibt. Alle Bestimmungen setzen allerdings voraus, dass die streikenden Arbeitnehmer nicht als loser Zusammenschluss, sondern zumindest in einer verhandlungsfähigen Arbeitnehmerkoalition organisiert sind. Im Einzelnen ist ein generelles Verbot nichtgewerkschaftlicher Streiks mit Art. 6 Nr. 4 ESC, Art. 11 Abs. 1 EMRK, Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 und Art. 28 GrCh und ihren entsprechenden Einschränkungsvorbehalten nicht vereinbar. Partielle Einschränkungen des nichtgewerkschaftlichen Streiks sind hingegen im Rahmen der jeweiligen Einschränkungsvorbehalte zulässig.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass nur Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87 ein suspendierendes nichtgewerkschaftliches Streikrecht enthalten und damit Vorgaben für das vertragliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer enthalten. Bei Art. 11 Abs. 1 EMRK ist allerdings denkbar, dass der EGMR in notwendigen Situationen eine entsprechende positive Verpflichtung ausspricht, ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht anzuerkennen.

III. Auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist der nichtgewerkschaftliche Streik einer verhandlungsfähigen Arbeitnehmerkoalition geschützt. Der für

Zusammenfassung der Ergebnisse

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den personellen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG maßgebliche Koalitionsbegriff umfasst neben Gewerkschaften auch nichttariffähige Koalitionen, zu denen unter bestimmten Umständen auch „ad-hoc Koalitionen“ zählen. Lose Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern sind hingegen nicht Träger der Koalitionsfreiheit.

Hinsichtlich des sachlichen Schutzbereichs ist zu berücksichtigen, dass der Streik aus einer natürlichen und einer normativen Grundrechtsfreiheit besteht. Als natürliche Freiheit (die Arbeitsniederlegung) wird der Streik umfassend und ohne Einschränkungen abwehrrechtlich geschützt (Verhältnis Bürger/Staat). Nur der Koalitionszweck begrenzt den Streik auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Ansonsten umfasst der Schutzbereich auch den nichttarifbezogenen Streik und den nichtgewerkschaftlichen Streik einer nichttariffähigen Arbeitnehmerkoalition. Damit garantiert die Koalitionsfreiheit eine umfassende und weite Streikfreiheit.



Ein weiter Schutz der natürlichen Freiheit führt allerdings nicht automatisch zu einem weiten arbeitsvertraglichen Schutz des Streiks und damit einem Streikrecht (Verhältnis Bürger/Bürger). Die arbeitsvertragliche Zulässigkeit des Streiks setzt eine normative Freiheit voraus, die erst durch eine staatliche Anordnung entsteht. Eine normative Freiheit des Streiks besteht bisher nur für den gewerkschaftlichen Streik, da das BAG die arbeitsvertragliche Suspendierungswirkung nur für diese Streikform richterrechtlich angeordnet hat.



Die in der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 9 Abs. 3 GG enthaltene grundrechtliche Schutzpflicht kann den Staat in einem Kernbereich verpflichten, die Suspendierungswirkung für den Streik anzuordnen und mit dieser normativen Freiheit ein Streikrecht zu schaffen. Durch die Suspendierungswirkung des gewerkschaftlichen Streiks hat das BAG dem Kernbereich der Schutzpflicht grundsätzlich genügt. Eine darüberhinausgehende generelle Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks verlangt die Schutzpflicht hingegen nicht. Nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen der gewerkschaftliche Streik den Arbeitnehmern nicht zur Verfügung steht, kann die staatliche Schutzpflicht den Staat unter bestimmten Umständen dazu zwingen, zum Schutze der Arbeitnehmer eine Suspendierungswirkung dieser Streikform anzuordnen.

IV. Die Rechtsprechung des BAG zum nichtgewerkschaftlichen Streik ist teilweise verfassungswidrig. Das generelle deliktsrechtliche Verbot der Streikform greift in die Koalitionsfreiheit ein. Das Gericht hat durch diese Einordnung den Streik als natürliche Freiheit beeinträchtigt und dadurch das Abwehrrecht des Art. 9 Abs. 3 GG aktiviert. Da dieser Grundrechtseingriff insbesondere aufgrund der Pauschalität des Verbots unverhältnismäßig ist, hat das BAG Art. 9 Abs. 3 GG verletzt. Dieser Einordnung stehen eben-

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Zusammenfassung der Ergebnisse

falls völkerrechtliche Vorgaben entgegen, die das BAG im Rahmen des der Auslegung zugänglichen Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs hätte beachten müssen. Somit handelte das BAG hinsichtlich des deliktsrechtlichen Verbots des nichtgewerkschaftlichen Streiks zusätzlich völkerrechtswidrig.

Hingegen ist die bisher geltende arbeitsvertragliche Unzulässigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks verfassungskonform. Sie ist Teil der grundrechtlichen Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG. Die fehlende Suspendierungswirkung des nichtgewerkschaftlichen Streiks ist kein Grundrechtseingriff. Die Entscheidung des BAG, den nichtgewerkschaftlichen Streik bei der Anordnung der Suspendierungswirkung auszuklammern, ist im Rahmen des staatlichen Einschätzungsspielraums bei der Grundrechtsausgestaltung zulässig. Die grundrechtliche Schutzpflicht verlangt kein generelles Einschreiten des Staates zugunsten des nichtgewerkschaftlichen Streiks.



Bei der gerichtlichen Beurteilung arbeitsrechtlicher Sanktionsmittel hat das BAG im Rahmen zivilrechtlicher Generalklauseln den grundrechtlichen und den völkerrechtlichen Schutz des nichtgewerkschaftlichen Streiks zu berücksichtigen. Ein Einfallstor für grundrechtliche und völkerrechtliche Vorgaben ist beispielsweise der wichtige Grund bei außerordentlichen Kündigungen gemäß § 626 Abs. 1 BGB dar. Die in diesem Zusammenhang erforderliche Abwägung kann unter Umständen dazu führen, dass trotz einer Verletzung des Arbeitsvertrages durch die Teilnahme an einem nichtgewerkschaftlichen Streik die Zulässigkeit einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitnehmers im Rahmen der Interessenabwägung abzulehnen ist.

V. Trotz der völkerrechtlichen Vorgabe aus Art. 6 Nr. 4 ESC und Art. 3 ILO-Übereinkommen Nr. 87, dass der nichtgewerkschaftliche Streik im Zivilrecht zulässig sein muss, kann das BAG wegen des rechtsstaatlichen Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes keine generelle Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik anordnen. Nur in besonderen Ausnahmefällen kommt dem BAG eine Notkompetenz zu, die einen Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes rechtfertigt. Dazu muss die grundrechtliche Schutzpflicht explizit die Anordnung der Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik verlangen. Eine Schutzpflichtsituation kann beispielsweise vorliegen, wenn in einem Betrieb keine Gewerkschaft existiert oder Gewerkschaften ohne einen legitimen Grund die Unterstützung eines Streiks ablehnen.

Der Gesetzgeber ist hingegen verpflichtet, für eine völkerrechtskonforme Ausgestaltung des Streikrechts zu sorgen. Dazu zählt die Anordnung einer Suspendierungswirkung für den nichtgewerkschaftlichen Streik. Allerdings hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Zivilrechts entgegenstehende Grundrechte des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Daher ist eine pauschale

Zusammenfassung der Ergebnisse

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Übertragung der völkerrechtlichen Vorgaben zum nichtgewerkschaftlichen Streikrecht auf das deutsche Recht nicht möglich. Der Gesetzgeber kann Grundrechte des Arbeitgebers dadurch berücksichtigen, dass er ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht an bestimmte Regeln und Bedingungen knüpft, die sich im Rahmen der völkerrechtlichen Beschränkungsvorbehalte (z.B. Art. 31 ESC) bewegen. Dazu gehören die Ausweitung der tarifvertraglichen Friedenspflicht auf nichtgewerkschaftliche Koalitionen, damit nichtgewerkschaftliche Streiks in Betrieben mit tarifvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen unzulässig sind. Darüber hinaus kann der Gesetzgeber ein nichtgewerkschaftliches Streikrecht an formale Regeln wie eine Ankündigungsfrist, eine Urabstimmung oder gesetzliche Pflichten zu Notdiensten und Erhaltungsarbeiten binden. VI. Das in dieser Arbeit zum nichtgewerkschaftlichen Streik entwickelte Modell, das den Streik in völkerrechts- und verfassungsrechtskonformer Weise in das deutsche Arbeitsvertragsrecht integriert, kann auf andere Arbeitskampfmittel – wie den Flashmob – übertragen werden. Ein verfassungsrechtlicher Schutz führt nicht automatisch zu einer arbeitsvertraglichen Zulässigkeit eines Arbeitskampfmittels. Für die Anordnung der arbeitsvertraglichen Zulässigkeit ist – trotz völkerrechtlicher Vorgaben – in erster Linie der Gesetzgeber zuständig, während das BAG wegen des Vorbehalts des Gesetzes nur in besonderen Ausnahmefällen eine Notkompetenz zur normativen Ausgestaltung der Arbeitskampfmittel besitzt. Dazu muss die grundrechtliche Schutzpflicht explizit die arbeitsvertragliche Zulässigkeit für das Arbeitskampfmittel verlangen.

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Stichwortverzeichnis Stichwortverzeichnis Stichwortverzeichnis

Abwehrrecht  30, 115, 123, 163, 165, 220, 222, 240, 242, 245, 283, 285, 296

Europäische Menschenrechtskonvention  93

ad-hoc Koalition  32, 53, 55, 103, 154, 157

Europäische Sozialcharta 

Arbeitnehmerkoalition  102, 108, 135, 146, 162, 222, 337 Arbeitnehmerkollektiv  Arbeitskampf 

79

35, 224, 290

Arbeitsvertrag  43, 46, 52, 96, 146, 222, 227, 238, 247, 254, 291, 294, 349 Ausgestaltung  253, 264, 265, 270, 272, 285, 291, 296, 306, 328, 338, 348 Ausgestaltung mit Doppelwirkung  Auslegung 

311

70, 104, 165, 167, 208

Betätigungsfreiheit  167, 174, 177 Bildungsfreiheit 

165

Bundesrepublik Deutschland  64, 113 Deliktsrecht  327, 337

41, 56, 61,

Großer Senat 

43, 44, 226, 292

Grundgesetz  148 Grundrechtsträger  153 Grundrechtsverletzung  327 Grundrechtsverstoß  295, 296 Handlungsspielraum  308 ILO-Übereinkommen Nr. 87 

126

Kernbereich 

Dreieckskonstellation  258, 311, 350 228

44 178, 179, 183, 213, 252, 260

Koalitionen  32, 37 Koalitionsbegriff  47, 55, 156, 160 Koalitionsfreiheit  149, 152, 165, 327

Eingriff  264, 265, 270, 272, 285, 289, 296, 297, 313 Einrichtungsgarantie  247

Koalitionszweck  156, 160, 162, 177, 180, 187, 202 Kollektiv  29, 61, 78, 100, 142, 155 Kollektive Einheitstheorie  43

Einschätzungsspielraum  349

Kündigung 

enge Tatbestandstheorie  188 enges Schutzbereichsverständnis  195 Europäische Grundrechtecharta 

innerstaatliche Geltung  66 Kampfparität 

285

Doppelgrundrecht  153, 155 Drittwirkung 

Gewerkschaftsmonopol  44, 59, 72, 102, 114, 123, 146, 150, 160, 201, 222

individuelles Streikrecht  29

30, 46, 49, 51, 287, 313,

Differenzierungskriterium 

Gesetzgeber  344, 348, 356 Gewerkschaftsbegriff  46, 47, 49, 55, 60, 101, 107, 122, 134, 160

36

Arbeitsniederlegung 

166, 173, 174, 176, 212,

Gewerkschaft  46, 55

25, 27, 42, 151, 181

Arbeitskämpfe 

Freiheitsrecht  225

72

138

52, 293, 295, 296, 340

natürliche Freiheit  52, 164, 204, 213, 223, 224, 238, 240, 243, 296

Stichwortverzeichnis

388

nichtgewerkschaftlicher Streik  32, 45, 56, 58, 59, 61, 72, 102, 107, 112, 113, 131, 146, 154, 158, 239, 257, 287, 291, 296, 301, 327, 356

Suspendierungswirkung  31, 41, 43, 46, 51, 53, 54, 61, 75, 97, 123, 143, 146, 226, 239, 244, 245, 246, 255, 256, 260, 291, 296, 328, 338, 344, 356

nichtgewerkschaftliches Streikrecht  351, 353, 357

Tarifbezug  44, 182, 184, 189, 193, 194, 195, 207, 212, 222

normative Freiheit  52, 164, 204, 214, 223, 226, 227, 237, 238, 241, 245, 292, 296 Notkompetenz  303, 305, 313, 347, 356 objektiv-rechtliche Dimension  97, 163, 174, 239, 243, 244, 245, 303 Parlamentarischer Rat 

42

praktische Konkordanz  321, 327, 349 Prinzip der praktischen Konkordanz  299 Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb  43, 46, 50, 287 Rechtfertigungsmaßstab 

297

Regeln  353 Richterrecht 

299, 304, 312

Tariffähigkeit  47, 49, 54, 101, 159 Unionsrecht 

63, 137

UN-Menschenrechtspakte 

117

unmittelbare Anwendbarkeit  66, 67 Untermaßverbot  252, 255, 256 Verfahrens- und Organisationsgarantien  250 Verfassungsprinzipien 

69

verfassungsrechtliche Rechtfertigung  296 Völkerrecht 

62, 65, 221, 258, 337

völkerrechtsfreundliche Auslegung  67, 68, 69, 70, 116, 127, 136, 147, 221, 258, 337, 345

Schutzpflicht  53, 96, 175, 244, 251, 258, 260, 286, 292, 295, 296, 303, 312, 346, 356

Völkerrechtsfreundlichkeit  62

Streik  28, 36, 37, 64, 176, 182

Weimarer Republik  41, 45, 46, 56, 61, 150

Streikfreiheit  29, 30, 31, 38, 40, 61, 143, 239, 246, 290 Streikmonopol  104, 176 Streikrecht  29, 31, 60, 75, 100, 117, 239, 245, 246, 290 Streikträgerschaft 

55, 142

subjektiv-rechtliche Dimension  163

Vorbehalt des Gesetzes  70, 299, 302, 310, 312, 338, 346, 348, 356

weite Tatbestandstheorie 

200

weites Grundrechtsverständnis  180, 183, 212

178,

Wesentlichkeitstheorie  299, 302, 311 wilder Streik  32, 41