Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa 9783412216160, 9783412221683

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Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa
 9783412216160, 9783412221683

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Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa

Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg

Herausgegeben von Hans-Joachim Veen Volkhard Knigge Torsten Oppelland in Verbindung mit Hans-Peter Schwarz Peter Maser Robert Traba Karl Schmitt

Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittelund Westeuropa Herausgegeben von Volkhard Knigge

Redaktion: Manuel Leppert

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gefördert durch das Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Berlin Leninplatz (Foto: ullstein bild – Gezett)

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Lukas Schmitz Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22168-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Hans-Joachim Veen Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Der Kommunismus in den Geschichtskulturen Ostmitteleuropas Michal Kopeček Kommunismus zwischen Geschichtspolitik und Historiographie in Ostmitteleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Antanas Gailius Litauen: Vom Stiefel des Herrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Marek Zybura Der Kommunismus und die Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Joachim von Puttkamer Beunruhigend banal. Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung und ihren Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Der Kommunismus in den Geschichtskulturen Westeuropas Gilbert Merlio Der Kommunismus in der Geschichtskultur Frankreichs . . . . . . . . . . . . . . 91 Torsten Oppelland Der Kommunismus in der Geschichtskultur Deutschlands . . . . . . . . . . . . 103 Erinnerungskultur: Stand und Perspektiven Martin Sabrow Der Zeitzeuge als Figur der Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

6  Waltraud Schreiber Gedenkstättenarbeit für die »post-mémoire«-Generation. Wie viel Geschichte braucht die demokratische Kultur? . . . . . . . . . . . . . . 133 Harald Welzer Historische Bildung und reflexive Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Volkhard Knigge Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? Warum Erinnerung allein in eine Sackgasse für historisch-politische Bildung führen muss . . . . . . . 177 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Volkhard Knigge

Vorwort

Erinnerung hat Konjunktur und gilt als Königsweg der Demokratie- und Menschenrechtserziehung. Als der Kommunismus 1989/90 an hausgemachten ökonomischen Problemen, dem vielfältigen Widerstand der Demokratiebewegungen und in Folge der Öffnungs- und Demokratisierungspolitik Gorbatschows in der Sowjetunion zusammenbrach, konnte sich die kritische Auseinandersetzung mit ihm auch auf die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik beziehen. Zunächst über Jahrzehnte häufig als Nestbeschmutzung diffamiert, galt sie ab Anfang der 1980er Jahre zunehmend als ein elementares, vorbildhaftes Moment der politischen Kultur der Bundesrepublik. Die Erfahrung, dass in demokratischer und menschenrechtlicher Perspektive selbstkritische historisch-politische Lernprozesse an negativer Geschichte gesellschaftlich möglich sind und demokratische Institutionen wie demokratische Kultur stärken, hat der Aufarbeitung des Kommunismus vielfältige Impulse gegeben, allerdings auch die Rede von der Erinnerung unmäßig ausgeweitet und dabei den Begriff ausgehöhlt. Erinnerung steht für die Anerkennung und Würdigung von Verfolgten ebenso wie für die historisch konkrete, selbstkritische Auseinandersetzung mit menschenfeindlichen politischen und gesellschaftlichen Strukturen und Haltungen. Erinnerung kann religiös oder tiefenpsychologisch konnotiert sein, etwa wenn von Schuld, Sühne, Vergebung und Versöhnung die Rede ist oder von Traumatisierungen und Verdrängung. Der Begriff der Erinnerung kann ebenso für eine spezifische Gattung von Zeugnissen und Quellen stehen oder ganz allgemein für den öffentlichen Umgang mit Geschichte in der Gesellschaft. Erinnerung ist ein Synonym für politisch und ethisch folgenreiches Lernen aus heilloser Geschichte, steht aber auch für die Annahme kathartischen Gesinnungswandels durch die Konfrontation mit Leid und Schrecken. Von Erinnerung ist auch die Rede, wenn nur historisch entkernte, politisch funktionalisierte Pietät geübt wird – und kein kritisches, reflexives Geschichtsbewusstsein angestrebt ist, in dem Wissen und Begreifen gegenwartsrelevant miteinander sich verschränken. Und schließlich kann Erinnerung ebenso empirisch gehaltvolle Anteilnahme und Empathie meinen, wie die apodiktischen Forderung bedeuten, sich mit Opfern und

8 Vorwort Opferverbänden und deren Deutungen von Geschichte vorbehaltlos zu identifizieren, egal, ob diese Deutungen geschichtswissenschaftlich standhalten. Unverkennbar ist der Trend, Geschichte auf Erinnerung zu reduzieren und historisches Lernen als Nacherzählen der Erzählungen von Zeitzeugen zu banalisieren. Ein Trend, der nicht zuletzt in der seit Jahren notorisch gestellten Frage zum Ausdruck kommt, was nach dem Schwinden der letzten Zeitzeugen komme, so als ob historisches Lernen und Geschichtsbewusstsein nur durch die unmittelbare Weitergabe von Erlebnissen ermöglicht würden. Lässt man zudem nicht unbeachtet, dass Erinnerung jenseits aller kritischen Gehalte für dirigistische Geschichts- und Identitätspolitik stehen kann, für die »����������������������������������������������������������������� ������������������������������������������������������������������ weiche����������������������������������������������������������� «���������������������������������������������������������� Verordnung von Geschichtsbildern und politischen Einstellungen, dann wird es Zeit, nicht nur Erinnerung anzumahnen, sondern sich auch mit begründetem Unbehagen an der Erinnerung auseinander zu setzen. Hiermit sind Vorüberlegungen zum 11. Symposion der Stiftung Ettersberg skizziert, aus dem dieser Band hervorgegangen ist. Sein erster Teil ist gegenwartsdiagnostisch der Entwicklung von historischer Erinnerung seit 1990 in ehemals kommunistischen Ländern gewidmet. Der zweite Teil zielt auf allgemeinere Fragen von Erinnerung, Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. So wie die Analyse der erinnerungskulturellen und -politischen Entwicklung nach 1990 in den Ländern des östlichen Europas nicht flächendeckend, sondern nur an relevanten Fallbeispielen thematisiert werden konnte, so ist auch der zweite Teil weder in disziplinärer noch in systematischer Hinsicht erschöpfend. Eher ist er ein Aufriss, insofern geschichtsdidaktische, erinnerungstheoretische, sozialpsychologische oder die öffentlich-mediale Konstruktion von Erinnerung thematisierende Analysen und Konzepte zur Diskussion gestellt werden. Dass dabei oft auf Geschichte und Entwicklung der Aufarbeitung des Nationalsozialismus Bezug genommen wird, hat zwei Gründe. Zum einen lassen sich hier Entwicklungen und Erfahrungen wie auch konzeptuelle Orientierungen und geschichtspolitisches Handeln und dessen Wirkungen mittlerweile über einen langen Zeitraum untersuchen. Zum anderen bildeten die hier entstandenen Konzepte, Methoden aber auch Redeweisen starke Bezugspunkte für die Erinnerung der kommunistischen Diktaturen, wenn sie nicht sogar zur unmittelbaren Nachahmung in Anspruch genommen wurden und werden. Zum Charakter von Sondierungen gehört, dass sich kein ganzes Bild ergibt und Brüche nicht ausbleiben. Deshalb bezweckt der Band keine abschließende Bilanzierung, sondern er will zur notwendigen Diskussion über Leistungen, Schieflagen und Regressionen im Feld des historischen Erinnerns beitragen und dem Lernen aus heilloser Geschichte über die Zeitgenossenschaft hinaus Perspektiven eröffnen.

Hans-Joachim Veen

Einführung

Der Flyer, mit dem wir zu unserem 11. Internationalen Symposium eingeladen hatten, zeigt den mit Efeu verfremdeten »Nischel« in Chemnitz, den heute zur Skurrilität heruntergekommenen riesigen Karl-Marx-Kopf des sowjetischen Monumental-Bildhauers Lew Kerbel. Inzwischen habe ich aber noch ein anderes Bilddokument entdeckt, das als Einladungssymbol passend gewesen wäre. Es ist ein Foto aus dem U-Bahnhof Berlin-Gesundbrunnen. Dort brachte man vor einiger Zeit eine Schrifttafel mit dem Zitat des amerikanisch-spanischen Philosophen George Santayana an. Es lautet: »Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.« Praktische Notwendigkeiten führten dann offensichtlich dazu, dass dieser Kernsatz der Erinnerungskultur inzwischen von dem warnenden Hinweis »Achtung Videoüberwachung« und dem Logo des Denkmalschutzes gewissermaßen eingerahmt wird. So ist ein bizarres Arrangement entstanden, das zu bissigen Kommentaren geradezu einlädt: Erinnerung unter Videokontrolle und Denkmalschutz! Aber soweit sind wir mitnichten. Unser letztjähriges Symposium beschäftigte sich offen und kritisch wie immer mit der Zukunft der Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Polen, Litauen, Frankreich und Deutschland und ihrem erinnerungskulturellen Niederschlag. Bald wird es ein Vierteljahrhundert her sein, dass die kommunistischen Regime im östlichen Europa zu Fall gebracht wurden. Das bedeutet, dass die Täter und Opfer, aber auch die Bürgerrechtler, Dissidenten und überhaupt Zeitzeugen von damals allmählich in die Jahre kommen, in den Ruhestand treten und in absehbarer Zeit nicht mehr zur Verfügung stehen werden – eine Situation, die für die Aufarbeitung der NS-Diktatur und des Holocausts längst virulent ist. Deshalb ist es schon jetzt sinnvoll, einmal ausschnitthaft zu bilanzieren, wo wir heute in der Kommunismusforschung stehen, in welcher Verfassung sich unsere Erinnerungskulturen in Bezug auf die kommunistische Herrschaft befinden und was zu ihrer Fortentwicklung getan werden kann, nicht nur mit Blick auf das vereinte Deutschland, sondern auch auf unsere Nachbarländer. Die Kommunismusforschung kann in Deutschland auf eine vergleichsweise lange Geschichte zurückblicken. Ich nenne nur die Namen von Her-

10 Einführung mann Weber und Karl-Wilhelm Fricke, die diesem Anliegen bereits seit Jahrzehnten verbunden sind und wichtige Beiträge geleistet haben. Nicht vergessen werden darf auch die Tätigkeit der beiden Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages, die die Aufarbeitung der SED-Diktatur ganz wesentlich befördert und Materialien für viele Dissertationen bereitgestellt haben. Längst ist der Blick über die Aufarbeitung der SED-Diktatur hinaus auf die Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen in ganz Europa gerichtet. Eine erste Durchsicht der seit 1989/90 verfügbar gewordenen Quellen ist inzwischen abgeschlossen. Damit treten wir in eine neue Phase der vertiefenden Bewertung der kommunistischen Regime und ihrer politischen Eliten ein. Von den vielen Fragen, die jetzt zu bearbeiten sein werden, will ich nur einige, recht willkürlich ausgewählte nennen: Warum ist die deutsche Erinnerungskultur mit Blick auf die DDR geschichtspolitisch bis heute so umkämpft geblieben? Was kann Timothy Snyders große Monographie Bloodlands1 für das Verständnis der Diktaturen des 20. Jahrhunderts leisten? Wird sie gar einen neuen »Historikerstreit« auslösen? Wie ist die historische Rolle Stalins heute zu bewerten, da in Russland anscheinend ein neuer Verehrungskult begonnen hat? Ist der Kommunismus an der Macht überhaupt ohne Terror zu denken? Welche Formen hatte der Terror zwischen Massenerschießungen, Gulag-System, Abschottung nach außen und der Einmauerung eines ganzen Landes, Durchdringung des Alltags mit geheimpolizeilichen Mitteln und der umfassenden Beobachtung aller Bürger bis hin zur gezielten Zersetzung der »����������������������������������������������������������������� ������������������������������������������������������������������ feindlich-negativen Kräfte��������������������������������������� «�������������������������������������� ? Wie verfiel die kommunistische Ideologie dann sukzessive nicht nur in den Bevölkerungen, sondern auch bei den Parteikadern selber, sodass die Regime am Ende ohne große Gegenwehr oft einfach implodierten? Zu fragen wäre heute wohl auch noch einmal: Was leistete der Antikommunismus in seinen verschiedenen Phasen und was der »Wandel durch Annäherung«? Dringlich bleibt schließlich die Frage nach dem Verlauf der postkommunistischen Systemtransformation mit Blick auf die Bürgerrechtler und Dissidenten von einst, die breite Masse der Bevölkerung und vor allem mit Blick auf die ehemaligen Eliten, die in Bulgarien, in Rumänien und anderswo oft in neuen Kleidern weiter an der Macht sind. Dass die Erinnerungskulturen in der postkommunistischen Ära dem Wandel unterliegen, braucht kaum eigens betont zu werden. Um nur ein Beispiel aus Deutschland zu nennen: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Roland Jahn, denkt inzwischen laut darüber nach, in der Stasizentrale in der Normannenstraße in 1 Timothy D. Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.

Einführung

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Berlin einen »Campus der Demokratie« einzurichten2 und damit das Nervenzentrum der Repression in der DDR gewissermaßen demokratisch einfach umzutaufen, ein, wie ich finde, unpassendes und zum Scheitern verurteiltes Unterfangen an diesem Ort. Derlei Überlegungen gehören in den Gesamtzusammenhang der Diskussionen über die Zukunft der BStU: Sollen deren Akten ab 2019 als Sonderbestand nach dem Vorbild von SAPMO dem Bundesarchiv und u.U. den Landesarchiven zugeordnet und damit auch historisiert werden? Und auch wenn dies geschieht: Welche Aufgaben bleiben für die BStU? Hierüber muss die öffentliche Diskussion endlich beginnen, auch wenn der Deutsche Bundestag sich damit bislang schwertut. Ein weiteres Beispiel: Die geplanten deutschen Freiheits- und Einheitsdenkmäler in Berlin und Leipzig, für die insgesamt 17 Millionen Euro zur Verfügung stehen, lösen bisher wenig Enthusiasmus aus. Ihre Entwürfe signalisieren, wenn ich es richtig sehe, einige Verlegenheit gegenüber dem Thema und verlieren sich, wie ich finde, in Dekorativem. Hier wird die Frage interessant, wie man in unseren Nachbarländern mit dem Problem, »lieux de mémoire« der Freude und der Freiheit zu schaffen, umgeht. Wir werden deshalb unser 12. Symposium 2013 den Denkmälern und Symbolen der revolutionären Umbrüche in Osteuropa widmen. Der Band über die ����������������������������� »���������������������������� Denkmäler demokratischer Umbrüche nach 1945« wird dann im Herbst 2014 in unserer Schriftenreihe bei Böhlau vorliegen. Zu den sachlich und emotional schwierigsten Problemen bei der Weiterentwicklung unserer Erinnerungskultur gehört das Verhältnis von Zeitzeugen und wissenschaftlicher Zeitgeschichte. Der Anspruch der Opfer auf Wahrung ihrer Würde und ein angemessenes Gedenken an ihre Leiden ist ebenso anzuerkennen wie der Auftrag der Zeitgeschichtsforschung, aus der Fülle der überlieferten Quellen und der Zeitzeugenaussagen ein nachprüfbares Gesamtbild zu entwerfen. Die Konflikte, die sich hier immer wieder ergeben, lassen sich nicht vermeiden. Wir brauchen die persönliche Erinnerung der Zeitzeugen, der Opfer, der Bürgerrechtler und Dissidenten, der Täter und Mitläufer, und wir können nicht auf die Zeugnisse aus dem Alltag der Diktatur verzichten. Zu einem Gesamtbild wird sich das allerdings erst fügen, wenn wir die ganze Breite der zur Verfügung stehenden schriftlichen und medialen Quellen hinzunehmen und diese ebenso wie die Zeitzeugenberichte kritisch bewerten. Erst dann wird es uns zunehmend gelingen, die Diktatur überzeugend zu rekonstruieren. Dass dabei die Erinnerung historisiert wird, gehört zu jenem für den Einzelnen oft schmerzhaften Prozess, dem alles Er2 Die Idee findet sich unter: http://www.bstu.bund.de/SharedDocs/Downloads/ DE/jahn_campus.pdf?__blob=publicationFile [14.05.2013].

12 Einführung innern wohl nicht entgehen kann. Diese Problematik wird von Herrn Sabrow, Frau Schreiber und Herrn Knigge diskutiert. Wenn wir in diesem Band über die Zukunft der Erinnerung nachdenken, dürfen wir uns auch nicht dem Problem versagen, wie solches Erinnern in einer zunehmend von Migration geprägten multikulturellen Gesellschaft möglich ist und welchen Zwecken es dienen soll. In Deutschland liegt der Anteil der Migranten an der Gesamtbevölkerung heute bei 20 Prozent. Auch in Polen, Litauen und Frankreich stellt sich vor anderen historischen Hintergründen die Frage: Welchen Stellenwert kann die Erinnerung an die untergegangenen Regime in Gesellschaften einnehmen, in denen größere Teile der Bevölkerung diese Erinnerung biographisch-familiär nicht teilen? Die Aufklärung über das Elend der untergegangenen Diktaturen, die Vermittlung von historischen Zusammenhängen und die Erzählungen vom endlichen Sieg der so verschiedenen Freiheitsbewegungen, wird nur dann Sinn haben, wenn dies alles dem Ziel der Erziehung zu einer bürgerschaftlichen Demokratie dient und die Integration in den freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat in europäischer Perspektive fördert. In diesem Geist hat die Stiftung Ettersberg in den letzten zehn Jahren ihren Auftrag zu erfüllen versucht und vor diesem Hintergrund auch die Trägerschaft der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt übertragen bekommen. Ich muss mich hier kurz fassen, aber ein wenig sei dazu doch gesagt. Unser Weg in die Andreasstraße war lang und schwierig. Aber alle, die ihn mitgegangen sind, haben davon profitiert und darum bin ich heute dankbar, dass wir ihn gehen mussten. Bestand am Anfang die Gefahr, dass der »historische Ort« der Stasi-Haft in Erfurt aufgegeben würde, so waren es zunächst die ehemaligen Häftlinge, die mit mehreren Ausstellungen sowie einem reichhaltigen Veranstaltungsprogramm und Zeitzeugenführungen die Andreasstraße im öffentlichen Gedächtnis verankerten. Als dann in der breiteren Öffentlichkeit klar wurde, dass das heruntergekommene Gebäude der MfS-Haftanstalt als Ort der Erinnerung und des Lernens behauptet werden muss, gab es Auseinandersetzungen darüber, wie dieses Ziel erreicht werden könnte. Heute lässt sich sagen: Mit der Übertragung der Trägerschaft der künftigen Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt durch die Thüringer Landesregierung wurde es möglich, unter intensiver Einbeziehung der ehemaligen Häftlingsvereine, der Bürgerrechtler und vieler Zeitzeugen, ein Konzept zu entwickeln, das Synergie entwickelt und das zukunftsfest ist. Der historische Haftbau mit seinem gefängnistypischen Ziegelmauerwerk und den vielen vergitterten Zellenfenstern, mit seiner im Zustand von 1989 original erhaltenen Haftetage und dem künstlerisch rekonstruierten Freiganghof, gibt der eindringlichen Erinnerung an die Repression

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und die Leiden der dort Inhaftierten einen würdigen Ort. In der Ausstellungsetage im ersten Obergeschoss des Haftbaus wird diese Erinnerung zeitgeschichtlich verankert, indem dort wesentliche Elemente der SED-Diktatur so dargestellt werden, dass der Systemkontext begreifbar wird, in dem die Menschen leben mussten und dem Schild und Schwert der Partei ausgeliefert waren. Der politischen Bildung sollen darüber hinaus Wechselausstellungen zu Spezialthemen der Aufarbeitung im neu gestalteten Erdgeschoss und im modernen Foyer dienen. Die Andreasstraße war aber nicht nur eine Stätte der Repression, sondern wurde am 4. Dezember 1989 auch zu einem denkwürdigen Ort der Freiheitsgeschichte in Thüringen. Bürgerrechtler, insbesondere Erfurter Frauengruppen, erzwangen damals als erste in der untergehenden DDR die Übergabe einer Stasi-Bastion an die demokratischen Kräfte und die Sicherung der Akten des Unrechtsregimes, deren Vernichtung bereits begonnen hatte. Seitdem ist die Andreasstraße in Erfurt ein Ort zweifacher Erinnerung, jener an die Repression und ihrer Opfer und zudem an die erste geglückte Revolution in der deutschen Geschichte. Das macht ihre Einzigartigkeit in der deutschen Gedenkstättenlandschaft aus. Der Würdigung der geglückten Revolution soll u. a. die Fassadengestaltung des neu errichteten Konferenzbaus, eines schlichten Kubus, im Freigelände der Andreasstraße dienen. In großflächigen Panoramen werden hier von dem 1982 in Erfurt geborenen Künstler Simon Schwartz mit den Mitteln der Graphic Novels wichtige Stationen der Befreiungsgeschichte in Thüringen ins Bild gesetzt. Dabei wird das Fotomaterial aus der Umbruchszeit zeitgemäß übersetzt. Der Gebäudekomplex wurde am 3. Dezember 2012 eröffnet. An der Gestaltung der Dauerausstellung wird noch gearbeitet. Die Eröffnung ist für Ende 2013 geplant. Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen – zu dem Themenkomplex des 11. Internationalen Symposiums der Stiftung Ettersberg konnten wir wiederum ausgezeichnete Experten aus dem In- und Ausland gewinnen. Ihnen allen danke ich für ihre Mitwirkung. Wir wollen uns durch ihre Beiträge anregen lassen und versuchen zu bilanzieren, wo wir heute in Deutschland und in den Nachbarländern stehen. Die Mahnung von George Santayana: »Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen«, gehört, um das klarzustellen, weder unter Videobewachung noch unter Denkmalschutz, sondern in den demokratischen Diskurs.

Michal Kopeček

Kommunismus zwischen Geschichtspolitik und Historiographie in Ostmitteleuropa

Nach 1989 erlebte die zeithistorische Geschichtsschreibung in Ostmitteleuropa einen wahren Boom in ihrer institutionellen Ausgestaltung, ihrem Verlagswesen, der finanziellen Unterstützung und, last but not least, durch das öffentliche Interesse. Doch entwickelte sich diese historiographische Forschung nicht in einem neutralen Umfeld. Ein vielschichtiger Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit war allgegenwärtig und gehörte zu den konstitutiven Elementen der neuen oder wiedergeborenen Demokratien in Ostmitteleuropa nach 1989. Die »Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit« war besonders wichtig als Mittel zur Sicherung der Legitimation der neuen demokratischen Regime. Ich schlage vor, die seit 1989 vergangenen mehr als zwei Jahrzehnte schematisch in zwei Perioden aufzuteilen: Die erste setzt unmittelbar nach den demokratischen Revolutionen ein und erstreckt sich bis zur zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Sie ist gekennzeichnet durch die »Suche nach Legitimation« der neuen Ordnung, und die dringliche Aufgabe, die Netzwerk-Nomenklatur der alten Kader stillzulegen, beeinflusste die Art und Weise, wie die Geschichtspolitik organisiert wurde. In der zweiten Periode – die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts, die durch die Stabilisierung und Legitimation der politischen Systeme charakterisiert sind – wurde die kommunistische Vergangenheit mehr als früher zu einem Feld des politischen Kampfes mit unterschiedlichen Varianten der Erinnerungspolitik als zweckmäßiges politisches Instrument. Die auffälligste von ihnen war eine aktive antikommunistische, oft rechtsgerichtete Erinnerungspolitik mit ihrem Streben nach Ausbesserung und Wiederherstellung des »Gedächtnisses der Nation«. Die zentrale Frage meiner Ausarbeitung ist: Wie hat sich die Historiographie der jüngsten Geschichte und besonders die Geschichte des Kommunismus in Ostmitteleuropa (mit Fokus auf Tschechien, Ungarn, Polen und der Slowakei) in den letzten mehr als zwei Jahrzehnten entwickelt? Um das zu verstehen, müssen wir einen breiteren sozialpolitischen und kulturellen Kontext, und dabei besonders die politischen Zusammenhänge im Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit, betrachten. Ich möchte gewissermaßen

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in drei Schritten vorgehen: Zuerst werde ich die Vorgeschichte der postkommunistischen Geschichtsschreibung kurz untersuchen, vor allem das Jahrzehnt vor 1989, das die Voraussetzungen für die jüngste Entwicklung geschaffen hat. Zweitens werden wir die Geschichtspolitik der 1990er Jahre und die Art und Weise untersuchen, wie sie bei den Experten auf dem Gebiet der historischen Forschung wiedergegeben wird, mit anderen Worten, wie hierdurch diese Gründungsperiode der Zeitgeschichte in der Region beeinflusst wurde. Schließlich sollten wir über die Entwicklungen innerhalb der letzten, seit der Jahrtausendwende mehr als zehn vergangenen Jahre nachdenken, die bedeutende Veränderungen in den politischen Kulturen dieser Länder sowie der Historiographie Ostmitteleuropas angestoßen haben.1

1. Vorgeschichte Vereinfacht gesprochen, müssen wir für die letzten anderthalb Jahrzehnte oder die Zeit des späten Staatssozialismus und insbesondere in der Historiographie zur jüngeren Geschichte, die in gewisser Weise getrennt davon existiert, grundsätzlich drei verschiedene Arten der Geschichtsschreibung unterscheiden.2 Die erste und hartnäckigste war offensichtlich die offizielle Geschichtsschreibung. Sie ging aus den Forschungsinstituten der Wissenschaftsakademien, aus Universitäten, Museen, Archiven usw. hervor. Die Ergebnisse dieser Arbeiten waren umfangreich, doch je mehr ihre Themen sich der vorkommunistischen und kommunistischen Zeit näherten, desto mehr waren sie als offizielle Verlautbarungen politisch und ideologisch gefärbt. Natürlich gab es wichtige Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. In Ungarn zum Beispiel schloss die historische Forschung viele problematische Fragestellungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ein und war im Vergleich zu anderen Ländern des Ostblocks relativ liberal. Interessante und bis heute wichtige Bücher erschienen zur Trianon-Frage, zum 1 Die hier vorgebrachten Argumente gehen zu einem großem Teil auf meine längere, auf den tschechischen Fall im ostmitteleuropäischen Kontext gerichteten Studie zurück, siehe Michal Kopeček: Von der Geschichtspolitik zur Erinnerung als politischer Sprache: Der tschechische Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit nach 1989, in: Etienne François/Kornelia Kończal/Robert Traba/Stefan Troebst (Hg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013, S. 352–391. 2 Bei dieser Einteilung bin ich durch den tschechischen Historiker Milan Otáhal inspiriert worden, vgl. Milan Otáhal: Normalizace 1969–1989. Příspěvek ke stavu bádání, Praha 2002, S. 9–15.

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Horthy-Regime, zu Ungarns Rolle im Zweiten Weltkrieg oder zum Holocaust an den ungarischen Juden; auch die stalinistische Periode wurde mit einer gewissen Gedankenfreiheit untersucht. Die einzigen zwei Ausnahmen waren: die Geschichte der ungarischen kommunistischen Partei (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei3) und der Revolution von 1956. Im Gegensatz dazu wurde in der Tschechoslowakei – besonders im tschechischen Teil des Landes, während die Slowakei nicht so stark betroffen war – nach der Zerschlagung des Prager Frühlings und den massiven Säuberungen in den Reihen der Kommunisten die offizielle Geschichtsschreibung der Geschichte des 20. Jahrhunderts sehr streng ideologisch kontrolliert. Sehr viele von diesen unverhohlenen ideologischen Werken waren nach 1989 nicht mehr vorzeigbar, da sie einer wissenschaftlichen Betrachtung der Geschichte nicht Stand hielten. Die zweite Art, die mehr oder weniger während der ganzen Periode der kommunistischen Herrschaft bestand, war die Exil-Historiographie, entstanden nach der ersten Welle der politischen Emigration in den 1940er und Anfang der 1950er Jahre. Diese wurde im Laufe der nachfolgenden Auswanderungswellen von 1956, 1968, 1981 usw. ergänzt. Nun gibt es auch bei diesen historischen Publikationen wichtige Unterschiede, besonders im Hinblick auf die möglichen Auswirkungen. Für die Verhandlungen nach den Revolutionen von 1989 erwies sich die nichtkommunistische Exil-Historiographie als sehr wichtiges Instrument, zum Beispiel in dem historischen und politischen Diskurs in der Slowakei, insbesondere in den 1990er Jahren (in dieser Hinsicht ist die Slowakei vergleichbar mit Kroatien, den baltischen Republiken und der Ukraine), während in Polen, Tschechien und Ungarn nach 1989 die dritte Art eine viel wichtigere Rolle spielte – die Historiographie der Dissidenten. Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Arten gab es eine unabhängige Dissidenten- oder Samisdat-Geschichtsschreibung in mehr oder weniger institutionalisierter Form nur während der letzten zehn bis fünfzehn Jahre vor 1989. Doch sie erwies sich von immenser Bedeutung für die Wiederherstellung der historischen Forschung und besonders für die jüngste Geschichte nach 1989. Das auffälligste Beispiel hier ist sicherlich Polen mit der Solidarność-Bewegung und ihrem intellektuellen Hintergrund einschließlich des unabhängigen historischen Diskurses sowie die spätere UntergrundSolidarność mit einer Fülle von Untergrund-Verlagen, die ehrliche historische Diskurse alternativ zu den offiziellen produzierten.

3 Magyar Szocialista Munkáspárt, kurz: MSZMP.

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Trotz der Legitimationsansprüche oppositioneller Historiker und ihrer weitschweifenden Bekundungen eines maßgeblichen Interesses in Bezug auf die historische Wahrheit und die Erkenntnis, war der historische Diskurs der Solidarność als Ganzes weit entfernt von neutralen akademischen Über­ legungen. Der bekannte polnische Philosoph und Geisteswissenschaftler Bronisław Baczko nannte die sechzehn Monate des legalen Bestehens der Solidarność (1980/1981) eine Zeit »explodierenden historischen Gedächt­ nisses«.4 Seit seinen Anfängen und trotz des zwischenzeitlichen politischen Rückschlags im Dezember 1981 war der historische Diskurs der Solidarność der bedeutendste und einflussreichste anti-hegemoniale kulturelle Diskurs im kommunistischen Osteuropa. Er war nicht nur unabhängig, sondern der offiziellen kommunistischen Geschichtsschreibung diametral entgegengesetzt. Es wurde bereits von mehreren Wissenschaftlern dokumentiert, dass der revisionistische historische Diskurs zu einem grundlegenden Bestandteil der politischen und kulturellen Solidarność und später der Samisdat-Produktion wurde.5 Während die älteren Traditionen nationaler Befreiungsbewegung – unter Rückbesinnung auf die romantischen Ursprünge der modernen polnischen Literaturtradition und auch der Aufstandstradition – als gemeinsamer kul­ tureller Nenner für die Mitglieder und Sympathisanten der SolidarnośćBewegung dienten,6 wurden die jüngsten historischen Perioden natürlich einer großen revisionistischen Neubewertung unterzogen, etwa am offensichtlichsten durch die Fokussierung auf historische Tabus des Regimes wie zum Beispiel: • den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion, der Polen in zwei Hälften teilte (was in der offiziellen kommunistischen Interpretation als vorbeugender Schritt der UdSSR zur Vorbereitung auf den Krieg mit Deutschland dargestellt wurde. Im

4 Zitiert nach Marcin Meller: Rola myślenia o historii w ruchu »Solidarność« w latach 1980–1981, in: Marcin Kula (Hg.): Solidarność w ruchu 1980–1981,Warszawa 2000, S. 219–268, hier S. 228. 5 Dazu v.a. Magdalena Mikołajczyk: Jak się pisało o historii. Problemy polityczne powojennej Polski w publikacjach drugiego obiegu lat siedemdziesiątych i osiemdziesiątych, Kraków 1998; Marcin Meller: Rola myślenia , in: Kula (Hg.): Solidarność w ruchu, a.a.O. 6 Vgl. Jan Kubik: The Power of Symbols against the Symbol of Power. The Rise of Solidarity and the Fall of State Socialism in Poland, Penn 1994; Barbara Törnquist-Plewa: The wheel of Polish fortune: myths in Polish collective consciousness during the first years of Solidarity, Lund 1992.

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Gegensatz dazu verweisen polnische Oppositions-Historiker nun auf die räuberischen Zusammenhänge und den Terror der Sowjets.); • das Massaker von Katyń, das allein vielleicht das größte historische Anathema für die sowieso schon fehlende Legitimation des polnischen Regimes war, weil es bis in die jüngste Zeit an der Katyń-Lüge festhielt; • der Warschauer Aufstand im Jahr 1944 und die Rolle der Roten Armee, die auf dem östlichen Weichselufer abwartete, bis die deutsche Armee den Aufstand niedergeschlagen und die Warschauer Bevölkerung niedergemetzelt hatte; • und natürlich die ganze Nachkriegszeit mit Entfaltung des kommunistischen Regimes und der Einführung des Stalinismus. Aber das waren nur die offensichtlichsten Tabuthemen; es gibt in der Tat viel mehr solche Themen, die nicht in den offiziellen historischen Veröffentlichungen behandelt werden konnten, dafür aber in die Geschichtsschreibung der Oppositions-Historiker Eingang fanden und im Untergrund und später regelmäßig in der Exil-Presse veröffentlicht wurden.7 Es war für die Oppositions-Historiker und Schriftsteller relativ einfach, die Lügen und Fälschungen der offiziellen Propaganda und der regimetreuen Geschichtsschreibung nachzuweisen. Und es ist kein Zufall, dass die einflussreichsten Zeithistoriker der 1990er Jahre wie Władysław Bartoszewki, Krystyna Kersten, Andrzej Paczkowski, Andrzej Friszke, Jerzy Holzer u. a. tatsächlich alle mehr oder weniger Solidarność-Historiker waren. Die propagandistische Wirkung dieses unabhängigen historischen Diskurses war bemerkenswert. Im Untergrund und auch im historischen Diskurs der offiziellen Presse, insbesondere bezüglich des 20. Jahrhunderts, verwandelte sich die polnische Nationalgeschichte in ein moral-politisches Schlachtfeld gegen das Regime, das sich nach der Einführung des Kriegszustandes im Dezember 1981 noch zusätzlich verstärkte. Es entstand ein leistungsfähiger Diskurs mit Enthüllung der sprichwörtlichen »weißen Flecken« auf der Landkarte der neuesten Nationalgeschichte. Es ist kein Zufall, dass dies in Polen geschah. Es gab hierfür einen besonders fruchtbaren Boden, weil die polnische Geschichte und die Geschichte der polnisch-sowjetischen Beziehungen voller Schattenseiten war, was sowohl die Sowjets als auch die heimischen Kommunisten mühsam zu vertuschen und zu verbergen versuchten. Inzwischen wird diese mit dem politischen Diskurs der Solidarność und ihrer leistungsfähigen Rhetorik eines nationalen Befreiungskampfes verbunden. 7 Magdalena Mikołajczyk: Jak się pisało o historii, a.a.O., S. 29.

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In keinem anderen Land Ostmitteleuropas halten die historischen Leistungen der Opposition einem Vergleich mit der Untergrund-Solidarność stand. Am nächsten kommt ihr – wenn auch in viel bescheidenerem Ausmaß – die tschechische Opposition, die mehrere Untergrund-Zeitschriften produzierte und regelmäßig Bücher zur jüngsten Geschichtsforschung veröffentlichte. Im Gegensatz dazu könnten der Großteil der ungarischen, aber auch der slowakischen Oppositionsveröffentlichungen quasi in den offiziellen Institutionen produziert worden sein, offiziell oder halboffiziell. Dennoch gab es einige Gemeinsamkeiten aller oppositionellen Geschichtsdiskurse, die nachweislich wichtige Konsequenzen für die nach 1989 einsetzende Periode hatten: In allen hier betrachteten Ländern gab es Versuche der Opposition, eine unabhängige Geschichtsforschung zu etablieren, und sie benutzte dies in großem Umfang als politisch-ideologisches Mobilisierungs- und Propagandainstrument gegen die sozialistische Diktatur und ihre historische Propaganda. Gleichzeitig dienen die verschiedenen Darstellungen, besonders diejenigen zur modernen Geschichte, als symbolisches Identitätsmerkmal. Diese strukturieren somit die Linien der politischen Identitäten, aus denen nach 1989 die Mehrparteiensysteme in den einzelnen Ländern entstanden. In allen Fällen war es vor allem die Nationalgeschichte und ihre jüngste Zeit, die die historischen Veröffentlichungen der Opposition dominierte. Dies hat zu einer Form der Aufdeckung der »weißen Flecken« in den jeweiligen nationalen Geschichtsschreibungen geführt – am stärksten in der polnischen und tschechischen Historiographie. Der Begriff des »nationalen Gedächtnisses« und seine projizierte herbeigesehnte Wiedergeburt oder Reinigung von »kommunistischen Lügen« wurde zu einem integralen Bestandteil des gesamten oppositionellen Geschichtsprojektes.8

2. Geschichtspolitik und Sprache der Zeitgeschichte in den 1990er Jahren Nach 1989 beeinflusste der komplexe Prozess des Übergangs von der kommunistischen Diktatur zur Demokratie in Mittel- und Osteuropa natürlich auch die Umschreibung der Geschichte. Die politischen Veränderungen des Jahres 1989 führten zu einer außerordentlichen Ausweitung von For8 Mehr zur Erinnerungspolitik der antikommunistischen Opposition in den 1980er Jahren siehe Michal Kopeček: Human Rights Facing a National Past. Dissident ›Civic Patriotism‹ and the Return of History in East Central Europe 1968–1989, in: Geschichte und Gesellschaft, Nr. 4/2012, S. 573–602.

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schungsgebieten, vor allem in der Zeitgeschichte, wo nun auch öffentlich eine große Anzahl von Tabus gebrochen wurde. Eine führende Rolle in diesem Zusammenhang spielten in allen Ländern, die in unserem Fokus stehen, die ehemaligen Dissidenten oder die jetzt in ihre Heimatländer zurückgekehrten Exil-Historiker. In einigen Ländern, zum Beispiel in Tschechien, wurden völlig neue Institutionen geschaffen, wie das im Jahr 1990 auf Veranlassung der Historischen Kommission des Bürgerforums (Občanské forum) gegründete »Institut für Zeitgeschichte« in Prag (als Teil der damaligen tschechoslowakischen, später tschechischen Akademie der Wissenschaften). In diesem Fall finden wir auch eine direkte methodische und institutionelle Inspiration aus Deutschland, da die jüngste tschechische Geschichtsforschung zu einem großen Teil nach dem Vorbild der erfolgreichen deutschen Zeitgeschichtsforschung der Nachkriegszeit entwickelt werden sollte. So sehr die deutsche Zeitgeschichte stark durch den politischen und sozialen Kontext Nachkriegsdeutschlands und des Kalten Krieges geprägt worden ist, so sehr wurde die postkommunistische Zeitgeschichte durch das »Paradigma des demokratischen Übergangs« (transition paradigm) vorbestimmt. Das betrifft vor allem die Prozesse der »Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit« oder, anders gesagt, die Politik der Geschichte, die zu einem großen Teil die politische Kultur der neuen Demokratien beeinflusste sowie die bemerkenswerte Rehabilitierung des Nationalstaates als wichtigste und »natürliche« politische Rahmenbedingung für demokratisches Leben. Ich werde nun nicht ausgiebig über die Art und Weise der Vergangenheitsbewältigungsprozesse in den jeweiligen Ländern sprechen, die viele Schichten, Akteure und Institutionen einschließt und die ausführlich in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben sind. Aber ich möchte kurz zwei Aspekte erwähnen, die für die Betrachtung der Entwicklung der Historiographie des Kommunismus wichtig sind.9 Zunächst ist da der sogenannte »transitional justice consensus« und als Zweites etwas, das ich »Erbe der Dissidenz������������������������������� « nennen ����������������������������� will, mit anderen Worten, die Sprachmodalitäten über die kommunistische Vergangenheit, die sich im öffentlichen politischen Diskurs durgesetzt haben. Nach 1989 könnten die neuen postkommunistischen Demokratien durch eine lange Tradition von Verfahren und Mechanismen der Übergangsjustiz inspiriert worden sein, die aus den reichen historischen Erfahrungen der 9 Für die Entwicklung der Historiographie in der ganzen ostmitteleuropäischen Region nach 1989 siehe Sorin Antohi/ ������������������������������������������������ Peter Ápor������������������������������ ���������������������������������� /Balázs Trencsényi (Hg.): Narratives Unbound. Historical ���������������������������������������������������������� Studies in Post-Communist Eastern Europe, Budapest/New York 2007.

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Nachkriegszeit in Deutschland (Nürnberger Prozesse) und Japan (Tokioter Prozesse) resultierten, aber auch durch ähnliche Prozesse in Belgien, Österreich, Frankreich, durch den Übergang zur Demokratie in Südeuropa in den 1970er Jahren und später in Lateinamerika und, last but not least, durch die Parallele mit der Apartheid-Vergangenheit in Südafrika beeinflusst worden sein. Daher gab es eine Vielzahl von Modellen der Übergangsjustiz: von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, Vergeltungstribunalen, politischer Amnestie und Säuberungen, finanziellen Entschädigungen für die Opfer, Rückgabe von Eigentum, bis hin zu öffentlichen Bildungsprojekten, Museen und Programmen zur Dokumentation der kommunistischen Verbrechen. Im Allgemeinen hat die internationale Fachwelt die transitional justice als einen der Schlüsselfaktoren zur Gründung lebensfähiger und legitimer Demokratien gesehen. So bildet zum Beispiel bei Noel Calhoun die Übergangsjustiz eine solide Grundlage für den Aufbau einer Demokratie, weil sie den Mittelweg wählt zwischen dem Vergessen der Vergangenheit und grausamer Vergeltung als zwei inakzeptable Optionen, die neue demokratische Regime daran hindern können, dringend benötigte politische Legitimität zu erreichen.10 In Ostmitteleuropa – so sehr sich in den jeweiligen Ländern der Kontext in Bezug auf die Intensität und Einbindung der Übergangsjustiz in den politischen Konflikt unterscheidet – können wir grundlegende Gemeinsam­keiten feststellen, etwa durch die Tatsache, dass in allen Fällen der Hauptadressat der Übergangsjustiz einmal die übergroßen Institutionen der Partei-Nomenklatur und zum anderen vor allem die Sicherheitskräfte waren. So wurde nach nicht einmal mehr als einem Jahrzehnt des Falls des Kommunismus in der Mehrzahl der ostmitteleuropäischen Länder eine Art Lustrations-Gesetzgebung ermöglicht, in vielen Ländern wurden die Archive der politischen Polizei der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und in einigen Ländern wurden Prozesse mit den Verbrechern und Verdächtigen wegen Hochverrat inszeniert.11 So bedeutete die ostmitteleuropäische Übergangsjustiz������������������� ���������������������������������� vor allem: Lustration, Öffnung der Archive der Geheimpolizei, Prozesse (nicht sehr erfolgreiche) aber auch Dokumentation der kommunistischen Verbrechen. Dieser 10 Noel Calhoun: Dilemmas of Justice in Eastern Europe’s Democratic Transitions, New York 2004. 11 ����������������������������������������������������������������������������������� Siehe z. B. Lavinia Stan (Hg.): Transitional Justice in Eastern Europe and the former Soviet Union: Reckoning with the Communist Past, London 2008; Friedrich-Christian Schroeder/Herbert Küpper (Hg.): Die rechtliche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Osteuropa, Frankfurt am Main u. a. 2010.

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Lustrations- oder auch legalistische Weg der Übergangsjustiz beeinflusste zu einem großen Teil die thematischen und teilweise auch methodischen Möglichkeiten der historischen Forschungen zum Kommunismus. Der zweite Aspekt des politischen Kontexts der 1990er Jahre, von dem hier kurz die Rede sein wird, ist das erwähnte »Erbe der Dissidenz/Opposition«. Mit Blick auf den Beginn der demokratischen Epoche in Ostmitteleuropa (am deutlichsten in Polen und der Tschechoslowakei) wurden neben ehemaligen Dissidenten, die Symbole des demokratischen Umbruchs im Jahr 1989 waren, sehr bald in vielen wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens erfahrene Ökonomen, Technokraten, Experten und pragmatische Politiker eingestellt. Doch es waren eben die ehemaligen Dissidenten, die die wichtigsten Akteure in den Diskussionen über die jüngste Vergangenheit und über die Praktiken zur möglichen Entkommunisierung darstellten. Allerdings ist es Tatsache – was oft durch eine idealisierte Betrachtung übersehen wird, mit der liberale Dissidenten wie Adam Michnik oder Václav Havel als die alleinigen Vertreter der Dissidenz präsentiert werden –, dass die ehemaligen, in zwei Richtungen gespaltenen Dissidenten tatsächlich die öffentliche Diskussion über die kommunistische Vergangenheit prägten: als überzeugte Antikommunisten wie auch als Kritiker des postkommunistischen politischen Antikommunismus. Um es vereinfacht auszudrücken: In den 1990er Jahren entstanden zwei verschiedene Interpretationen oder Visionen vom »Erbe der Dissidenz«. Eine, die liberal-republikanisch genannt werden könnte, betont den demokratischen Konsens, der die Eliten der antikommunistischen Opposition zusammenschweißte. Aus dieser Sicht, wie im Fall Tschechiens an der postdissidenten liberalen Partei der Bürgerbewegung12 (Petr Pithart, Jiří Dienstbier usw.) deutlich wird, war nicht der Widerstand gegen den Kommunismus per se die wichtigste Triebkraft des Dissidenz-Erbes, sondern der Verhandlungsprozess innerhalb der Opposition (Charta 77, Solidarność, ungarische demokratische Opposition), der auf Grundlage kommunaler Solidarität, kritischer demokratischer Diskussion und bürgerlich-gesellschaftlicher Aktivität eine konsensuelle und gewaltfreie demokratische Herausforderung für die staatssozialistische Diktatur darstellte. Aus dieser Sicht war der Runde Tisch ein Höhepunkt oder auch der Triumph einer einvernehmlichen Strategie, die nicht nur zu gewaltfreier Veränderung des Regimes führte, sondern Anreize schaffte für wahrhaft demokratische politische Kultur.

12 Občanské hnutí.

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Doch ein anderer Teil dieser im Grunde liberalen historischen Meistererzählung war auch ein binärer Weg zum Verständnis des Kampfes für Demokratie; etwas, dass wir einen nutzbaren Totalitarismus (usable totalitarianism) nennen können. Ihn gab es offenbar in der politischen Sprache der Dissidenten schon in den 1980er Jahren, und er bildet den Stoff für die grundlegende Gegensätzlichkeit zwischen »uns« und »ihnen«, zwischen der »Zivilgesellschaft« und dem »totalitären Regime«, zwischen dem »Kampf für Menschenrechte und Demokratie« und gegen den »totalitären Parteistaat«. Vereinfacht gesagt, wurde diese Ansicht und diese Art und Weise der jüngsten Geschichte während der 1990er Jahre mit Vorliebe erzählt und beeinflusste zu einem großen Teil die liberal-demokratischen politischen Kulturen als auch die historische Forschung zum Kommunismus sowie die Darstellungsstrategien der jüngsten Geschichtsschreibung. Die andere Interpretation des Erbes der Opposition könnte man konservativ-national nennen (in Polen die Partei der Kaczyński-Brüder oder in Ungarn Fidesz) oder konservativ-neoliberal (in Tschechien: besonders die ODS13 nach der Ära von Václav Klaus). Auch hier wird das konsensuelle bzw. kommunitäre Fundament der antikommunistischen Opposition geschätzt, und auch hier wurden die grundlegenden Elemente des nutzbaren Totalitarismus geteilt. Aber die Vertreter dieser Interpretation waren von einer antielitären Überzeugung geprägt, weswegen sie aus dieser Sichtweise weniger die ehemaligen Dissidenten, das heißt ihre Spitzenrepräsentanten, sondern die Nation oder allein das Volk würdigten. Besonders im polnischen Fall der Solidarność wurde der Massencharakter der Opposition wie auch die Rolle der Kirche und ihrer moralischen Lehren als Ursache für die moralische Erneuerung der Nation überbewertet. Diese Sichtweise lehnt den Mythos der Runden Tische als eigentlich nichts anderes als einen schmutzigen Handel zwischen alten und neuen Eliten ab; sie anerkennt das Jahr 1989 nicht als große Veränderung, weil der kommunistische Perestroika-Reformismus bloß durch liberalen Pragmatismus ersetzt wurde, der ähnlich elitär und unmoralisch war. Diese Ansicht trat mit dem aufkommenden »Kulturkampf« (eine neue Phase der kulturpolitischen Auseinandersetzung in den meisten Ländern Ostmitteleuropas) seit dem Jahr 2000 in den Vordergrund und erreichte in Polen ihren Höhepunkt während der PiS-Regierung 2005–2007 und in Ungarn in den letzten Jahren. Die versuchte Neukonfiguration des öffentlichen historischen Diskurses über die sogenannte polityka historyczna, (was eigentlich besser mit Erinnerungspolitik als mit Geschichtspolitik zu bezeich13 Občanská demokratická strana (Demokratische Bürgerpartei).

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nen wäre) hatte offensichtlich einen großen Einfluss auf die historische Forschung, ihren institutionellen Rahmen als auch den öffentlichen Geschichtsdiskurs, wie die verschiedenen »Institute für Nationales Gedenken« in mehreren Ländern Ostmitteleuropas (wie Polen, der Slowakei oder Tschechien) am besten darstellen. Wir widmen uns ihnen noch im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes.

3. Historiographie der Zeitgeschichte Werfen wir nun einen Blick auf die Entwicklung der Historiographie des Kommunismus und der jüngsten Geschichte in der Region während des ersten Jahrzehnts der demokratischen Epoche. Wie bereits erwähnt, eröffneten sich große Chancen, und es gab eine große soziale und politische Nachfrage nach neueren Darstellungen. Doch im Allgemeinen beinhaltete die thematische Erweiterung der historischen Studien der ersten Dekade nach 1989 nicht viel Innovation in Bezug auf methodische Überlegungen. Treibende Kraft war vielmehr das Streben nach Tilgung der »weißen Flecken«, insbesondere in der Geschichte der Nachkriegszeit.14 Dieser Ansatz hat die politische Geschichte auf Kosten anderer Felder gestärkt. Somit sind die neueren historischen Studien nach 1989, besonders im Bereich der jüngsten Geschichte, durch die Übernahme alter konzeptioneller Modelle gekennzeichnet anstelle der Einführung neuer. So erkennen wir ein starkes Übergewicht der politischen Geschichte mit Schwerpunkt auf die wichtigsten politischen Ereignisse, wie zum Beispiel im Falle der Tschechoslowakei auf die kommunistische Machtübernahme im Februar 1948, die kommunistische Reformbewegung und die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, die Bildung der Charta 77, demokratischer Dissens und schließlich die Samtene Revolution im Jahr 1989. In Ungarn war das einzige große historische Ereignis verständlicherweise der antistalinistische Aufstand von 1956, der zur Einrichtung eines speziellen »Instituts für die Geschichte der ungarischen Revolution von 1956« führte, das die wichtigste Forschungseinrichtung für Zeitgeschichte darstellte, bis es durch die derzeitige ungarische Regierung abgeschafft wurde. Dieses Programm für historische Forschung beinhaltete Studien über die Art der Entscheidungsfindung in der Kommunistischen Partei, Analysen des 14 Helmut Altrichter (Hg.): Gegen Erinnerung: Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas (=Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 61), München 2006.

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politischen Wandels, Studien über die Verbindung des lokalen Regimes mit seinen Moskauer Gönnern, Untersuchungen des Sicherheitssystems und der repressiven Maßnahmen des Staates gegen seine Bürger, Studien über Arbeitslager und politische Prozesse, zur Funktionsweise der Geheimpolizei, zur Unterdrückung der Widerstandsbewegung, zum demokratischen Dissens und so weiter. Dies waren sicherlich unverzichtbare Themen für das Verständnis der Natur der staatssozialistischen Diktatur, und die Historiker lagen ganz richtig, sich hierauf zu fokussieren. Im Großen und Ganzen zeichnete jedoch der Schwerpunkt auf Politik und Repression ein eher einseitiges Gesamtbild der Nachkriegszeit mit Darstellung der staatssozialistischen Ära als eine Zeit ständigen Kampfes, der Unterdrückung, terroristischer Aktionen der Geheimpolizei und der willkürlichen Herrschaft der Kommunistischen Partei. Nun kann den meisten Zeithistorikern an den verschiedenen Institutionen und Universitäten sicherlich nicht vorgeworfen werden, der politischen Macht nach dem Mund zu reden. Aber es war schwierig für sie, sich politischen Vorgaben zu widersetzen sowie den gesellschaftlichen Forderungen nach Darstellung einer historischen Legitimität für die Ideologie des demokratischen Wandels zu widerstehen. In vielen Fällen haben sie sich in ihrer Sprache und Interpretation an die liberale Schilderung der Post-Dissidenten und ihres Kampfes für Freiheit und Demokratie gegen den Totalitarismus angepasst. Viele von ihnen gehörten auch persönlich zur Dissidentenbewegung oder zum demokratischen Exil und übernahmen schon vor 1989 den allgegenwärtigen Sprachcode des nutzbaren Totalitarismus, ohne ihn zu hinterfragen, und nutzten ihn als Instrument für die Auswahl und Interpretation historischer Quellen. Die offizielle liberale Geschichtspolitik und die historische Interpretation in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Sturz des Staatssozialismus stimmten in hohem Maße in ihren grundlegenden Ausgangspunkten miteinander überein. Ein ziemlich einseitiges und widersprüchliches Konzept der Nachkriegsgeschichte mit dem »wir« gegen »sie«, mit einem »Regime« gegenüber der »(Zivil-) Gesellschaft« herrschte in der Fachliteratur vor, wie auch – in weniger anspruchsvoller Form – in den medialen Diskursen der jungen Demokratien in dieser Region. Zusätzlich fehlte lange Zeit eine Art selbstkritische Reflexion über die Rolle der Geschichtsschreibung und ihre Verstrickung in das kommunistische System, die jenseits bitterer ad hominem Kontroversen gehen und zu dringend benötigter theoretischer Selbstprüfung dieser Disziplin führen würde. Im Gegensatz zur westlichen Geschichtsschreibung ignorierten die Historiker der Zeitgeschichte, die oft selber ehemalige Kommunisten gewesen waren, entweder die marxistische Tradition ganz oder disqualifizierten

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sie als bloße »Ideologie«, die es nicht verdient, wissenschaftlich analysiert zu werden. Aufgrund unzureichender Untersuchungen zum marxistischen Erbe, gerieten theoretische Ansätze der neuen Kultur- und Sozialgeschichte in den 1990er Jahren häufig in den Verdacht, sich einer verschleierten Rückkehr zum Marxismus auszusetzen und somit zu einer »Verletzung der Geschichte« beizutragen. Diese Werke als mögliches Gegenstück zum einseitigen Bild der totalitären Vergangenheit wurden manchmal als Rechtfertigung der kommunistischen Diktatur disqualifiziert und damit als »revisionistisch« im negativen Sinn verstanden. Der Glaube an wertfreie Forschung und eine mögliche Trennung zwischen historischer »Lüge« und »Wahrheit« war immer noch konstitutiv für den überwiegenden Teil der Geschichtsschreibung in dieser Region; ein Phänomen, dessen Wurzeln eindeutig mit der »positivistischen Wende« unter dem Staatssozialismus zusammenhängen. Die Ablehnung eines nutzlosen Theoretisierens und die Neigung zu einer politisch scheinbar neutralen, positivistischen Schreibweise hatten zu einem gewissen Grad dazu beigetragen, den Beruf des Historikers gegen die allgemeine Ideologisierung in dieser Zeit zu verteidigen. Nach 1989 führte der »positivistische Konsens« besonders auf dem Gebiet der Zeitgeschichte zu beschreibender, ereignisorientierter Geschichtsschreibung, deren erklärende Modi oft unbewusst von einer vereinfachten Form der Totalitarismus-Theorie abgeleitet wurden. Dies hat ein Fortbestehen bestimmter Erklärungsmodelle und Denkkonzeptionen möglich gemacht. Angepasst an die neuen Gegebenheiten nach 1989 haben sich einige Deutungsmuster jenseits ausdrücklicher Ideologie als unerwartet langlebig erwiesen. Bereits Ende der 1980er Jahre verwies die aus Tschechien stammende deutsche Historikerin Eva Schmidt-Hartmann auf eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen der offiziellen marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung und der inoffiziellen Historiographie der Dissidenten: Beide waren auf explizite nationszentrierte Darstellungen orientiert, beide stimmten beim monistischen und teleologischen Begriff der Geschichte überein, und beide beteiligten sich an einer äußerst polarisierenden Darstellung der Vergangenheit.15 Mit einer bis zurück zu den nationalistischen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts reichenden Tradition, angereichert durch die Rückkehr zu einer nationalstaatszentrierten Politik, wurde das Muster der herkömmlichen liberal-nationalen Geschichtsschreibung für viele Historiker – bewusst oder unbewusst – zum einzigen Ausweg 15 Eva Schmidt-Hartmann: Forty Years of Historiography under Socialism in Czechoslovakia. Continuity and Change in Patterns of Thought, in: Bohemia, Nr. 29/1988, S. 300–324.

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aus dem ideologischen Abgrund nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur. Die Rückbesinnung auf die jeweilige Nationalgeschichte und die Rehabilitation teilweise unterdrückter, diskriminierter und in jedem Fall verzerrter Aspekte nationaler Geschichte und Traditionen waren nach 1989 dringende Aufgabe in allen mittel- und osteuropäischen Ländern. Die »Rückkehr der nationalen historischen Souveränität« (Rudolf Jaworski) wurde zu einer offensichtlichen Priorität für Historiker in Zentral- und Osteuropa.16 Die Befreiung aus der marxistisch-leninistischen Zwangsjacke führte nicht zu einer kritischen Einschätzung gegenüber anhaltenden national-historischen Darstellungen oder zu einer Anerkennung wesentlicher Unterschiede in Bezug auf historische Erfahrungen unter der Oberfläche einer scheinbar einheitlichen Geschichte der Nationen. Dieser Trend nahm unter Historikern bereits in den 1990er Jahren verschiedene Formen an, beginnend mit der Anstrengung »nationales Geschichtsbewusstsein« zu kultivieren und eine »positive Konzeption« für die Nationalgeschichte zu fördern oder die nationale Identität im Kontext der Erweiterung der Europäischen Union festigen zu helfen. Er endet in dem unbewussten, aber nicht weniger problematischen Ansatz, den Nationalstaat – wenn nicht sogar die ethno-kulturell definierte nationale Gemeinschaft – als natürlichen, unbestrittenen Ausgangspunkt für historische Analysen zu akzeptieren.17 Nur wenige Zeithistoriker würden sich der aktiven, die Nation verteidigenden Position anschließen, wo hingegen der zweite Fall am häufigsten unter ihnen vertreten ist: die unbeschwerte Akzeptanz des Paradigmas einer auf die Nation ausgerichteten Geschichte. Symptomatisch war der Mangel an supranationalen, vergleichenden und transnationalen Perspektiven in der Forschungsagenda der Historiographie des Kommunismus. Es gab kaum vergleichende Forschungsprojekte außer den »traditionellen« bilateralen oder multilateralen Konferenzen, bei denen Vertreter der verschiedenen Länder ihren eigenen nationalen Fall präsentieren. Dies zeigt sich ziemlich paradox in der Geschichte der Tschechoslowakei, wo tschechische Historiker sehr oft den slowakischen Teil der Geschichte mit der Begründung unbeach16 Rudolf Jaworski: Geschichtsdenken im Umbruch. Osteuropäische Vergangenheitsdiskurse im Vergleich, in: Andrei Corbea-Hoissie/Rudolf Jaworski/Monika Sommer (Hg.): Umbruch im östlichen Europa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis, Innsbruck 2004, S. 27–44. 17 Vgl. Pavel Kolář/Michal Kopeček: A Difficult Quest for New Paradigms. Czech Historiography after 1989, in: Antohi/Ápor/Trencsényi (Hg.): Narratives Unbound, a.a.O., S. 173–248.

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tet lassen, dies sei Angelegenheit ihrer slowakischen Kollegen. Ebenso befassen sich die slowakischen Experten meist mit dem slowakischen Teil der tschechoslowakischen Geschichte, und soweit es um den speziell tschechoslowakischen Aspekt geht, beschränken sie sich tatsächlich auf Verweise tschechischer historischer Darstellungen. Als Ergebnis gibt es kaum jemanden, der »tschechoslowakische Geschichte« aus eigenständigem Verständnis schreibt.

4. Erinnerungspolitik und Historiographie des Kommunismus nach der Jahrtausendwende Dies alles hat in gewisser Weise zu einer neuen Form der Erinnerungspolitik im Namen der Rekultivierung des »nationalen Gedächtnisses« beigetragen, die die Politik in der Region nach der Jahrtausendwende kennzeichnet. Diese qualitativ neue Politik der Erinnerung als eine bewusste Förderung bestimmter historischer Erinnerung in der Gesellschaft, die zu einem Teil der politischen Bildung und zu einem neuen, positiv formulierten Begriff des Patriotismus werden sollte, trat in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa in den Vordergrund.18 Politisch war sie mit einer harschen Kritik an den liberalen Reformen des letzten Jahrzehnts verbunden. Weil Liberalismus nie ein politischer Mainstream in Ostmitteleuropa gewesen war, entzündete sich eine starke Kritik an der liberalen Transformation während der 1990er Jahre in sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht – auch in den »vorbildlich erfolgreichen« Transformationsländern wie Polen, Tschechien oder Ungarn. Als jedoch um die Jahrtausendwende die Dynamik des Umbruchs nachließ und zur selben Zeit die Möglichkeiten einer EU-Mitgliedschaft dieser Länder wuchsen, gewann die antiliberale Kritik eine neue Dimension in Richtung einer allgemeinen Kritik an dem »liberalen Konsens« der frühen postkommunistischen Ära. Diese Kritik war vor allem mit der Konsolidierung konservativer politischer Parteien und Bewegungen verbunden, die in Abgrenzung zu den verschiedenen marginalen Linksradikalen die antiliberale Kritik nicht mit sozialen Begriffen formulierten, sondern mit kulturellen und symbolischen Begriffen. Wie durch den bulgarischen Politikwissenschaftler Iwan Krastew aufgezeigt, verdrängte der neoliberale Wandel der 1990er Jahre, der mit dem gelenkten EU-Beitrittsprozess verbunden war, eine Zeit lang viel soziales 18 Vgl. James Mark: The Unfinished Revolution. Making sense of the Communist Past in Central-Eastern Europe, New Haven/London 2010.

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und wirtschaftliches Konfliktpotential aus dem politischen Kampf, wodurch sich Raum ergab für politische Mobilisierung rund um symbolische und Identitätsfragen.19 Deutlichstes Beispiel in der Region war zunächst Polen, wo die harte Kritik an der Übergangszeit der 1990er Jahre bereits lange vor dem Jahr 2000 anstieg. Die entscheidende Rolle in der kulturellen und politischen Formulierung der Kritik spielte eine Neuinterpretation der 1989 am Runden Tisch initiierten Gespräche, die in radikalsten revisionistischen Darstellungen nichts anderes gewesen sein sollen als ein inakzeptabler historischer Kompromiss zwischen den Solidarność-Führern – politisch meist linksliberal ausgerichtet – und den letzten polnischen kommunistischen Parteiführern. Dies wurde als Verrat am Erbe der antikommunistischen Opposition angesehen und damit einhergehend als Verrat an der Nation als Ganzes. Die logische Konsequenz dieser Position war die Forderung nach Säuberung der jungen polnischen Demokratie von dem düsteren Ergebnis des Kompromisses. Im Jahr 2003 mündeten diese Forderungen in einen Plan in Form des politischen Programms der Kaczyński Brüder und ihrer Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS), die in den Jahren 2005–2007 an der Macht war, die Dritte Polnische (post-1989er) Republik durch eine neue Vierte Republik zu ersetzen. Während die entschiedene Ablehnung des Transition-Liberalismus in Polen kaum vergleichbare Beispiele in Mittelosteuropa fand (mit einer Ausnahme von Ungarn in den letzten Jahren), gewann überall die neue Erinnerungspolitik an Boden mit dem Anspruch, die »unvollendete Revolution« (James Mark) zu vollenden. Die Betonung der nationalen Souveränität – oft mit einem steigenden Euro-Skeptizismus verbunden – ist in den meisten Fällen unübersehbar. Die tschechische Situation war ganz eigenartig, weil hier die Kritik an dem früheren liberalen Konsens kaum sehr weit gehen konnte. Es war die Demokratische Bürgerpartei (ODS), die sich gegen Ende der 1990er Jahre eher konservativ und nationalistisch gab und die neue Erinnerungspolitik in ihr Programm aufnahm. Aber es war auch diese Partei, die die entscheidende Rolle in der liberalen ökonomischen Transformation nach 1989 spielte. Da die Wirtschaftspolitik unter Václav Klaus nach der Wende sie zu der erfolgreichsten politischen Mitte-Rechts-Volkspartei des Landes machte, konnten die bürgerlichen Demokraten kaum mit vernichtender Kritik an ihrem Gründervater beginnen, obwohl er deutlich Abstand von der Partei nahm.

19 Ivan Krastev: The strange death of the liberal consensus, in: Journal of Democracy, Nr. 4/2007, S. 56–63.

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Mit der wachsenden kulturpolitischen Differenzierung zu Beginn der 2000er Jahre begann wieder die Zeit der zahlenmäßig kleinen, aber intellektuell und ideologisch einflussreichen konservativen, antikommunistischen Strömung innerhalb der Partei, verbunden mit dem Post-Dissidenten und Christdemokraten Václav Benda und einigen anderen konservativ ausgerichteten Gruppierungen rund um die neue Parteiführung von Mirek Topolánek. Sie interpretierten die Tatsache, dass die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM)20 im tschechischen politischen System weiterhin erfolgreich existierte, als Beweis dafür, dass die Gesellschaft nicht radikal genug mit der kommunistischen Vergangenheit umging. Deshalb sollte die grundlegend richtige Politik des liberal-wirtschaftlichen Wandels durch eine kompromisslose Erinnerungspolitik ergänzt werden mit der Vision einer Umerziehung der Nation im Hinblick auf ihre »totalitäre Vergangenheit«. Mit der Gründung der »Institute für Nationales Gedenken« in Polen und der Slowakei und einer ähnlichen Institution, die ebenfalls als »Institut für Nationales Gedenken« vorgeschlagen wurde und schließlich im Jahr 2007 unter dem Namen »Institut für das Studium totalitärer Regime in der Tschechischen Republik« (ÚSTR) entstand, bekam das Konzept einer »nationalen Erinnerung« oder eines »Gedächtnisses der Nation« eine neue Dimension. Aus einem regimekritischen Emanzipationswerkzeug der damaligen Dissidenten wurde ein staatlich unterstütztes politisches Bildungsprojekt mit Schwerpunkt auf den Stimmen der Opfer und Oppositionellen der kommunistischen Herrschaft, deren Zeugenaussagen, im Gegensatz zu den angeblich »verdorbenen« Zeugnissen des ehemaligen Regimes und dessen Geisteshaltung, höchste Authentizität zugeschrieben wurde. Die Arbeiten und Veröffentlichungen dieser Institute sind aber auch Teil des wachsenden Phänomens in Form einer »Gedächtniskonjunktur« in den letzten zwei Jahrzehnten und der allgemeinen Demokratisierung der historischen Erinnerung mit dem Bemühen, eine Vielzahl von Stimmen der historischen Akteure und Zeitzeugen ans Tageslicht zu bringen, die über den traditionellen Fokus auf die politischen Eliten und Gegeneliten hinausgehen. Die »Institute für Nationales Gedenken« sind vor allem politisch motivierte Projekte zur Speicherung bestimmter kollektiver Erinnerung, wodurch eine Grundlage für bewusste, aktive, engagierte und historisch-informierte demokratische Bürger geschaffen werden soll. Doch in erster Linie sind sie Institutionen zur Archivierung und Dokumentation. Das Konzept der politischen Bildung ist zweiter Fokus ihrer Aktivitäten. Allerdings sind sie auch Institutionen, die starke akademische Ambitionen hegen, und sie 20 Komunistická strana Čech a Moravy.

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sind – neben ihrer finanziellen guten Ausstattung – wichtige Produzenten für die Veröffentlichung historischer Daten. Eines ihrer Ziele in dieser Hinsicht ist die Beschäftigung mit bisher vernachlässigten Aspekten der Forschung, vor allem aus dem Bereich der Unterdrückungs- und Machtmechanismen der totalitären Regime, aber manchmal bearbeiten sie auch recht kontroverse Themen. Die Institute widmen natürlich ihre große Aufmerksamkeit der Entwicklung und dem Mechanismus der Staatssicherheit sowie dem Repressionssystem der sozialistischen Diktatur. Schließlich sind sie im Besitz der Archive der Staatssicherheit – den brisantesten Archivalien der postkommunistischen Demokratien. Jedenfalls entstanden aus einem der bekanntesten Bereiche der Forschung und Dokumentation verschiedene Formen des Widerstands – abgesehen von Dissidenten und politischer Opposition –, was bisher eher ungenügend bearbeitet wurde. Das »Polnische Institut für Nationales Gedenken« zum Beispiel sammelt alle möglichen und besonders regionalen Formen des Widerstands und antikommunistischer Aktivitäten aus allen Epochen der Volks­republik Polen.21 In Tschechien organisierte das tschechische Pendant dieses Instituts eine Erforschung des »Dritten Widerstands«, des antikommunistischen Widerstands in der Zeit nach 1948, wobei der Begriff des »Dritten Widerstandes« unter Historikern umstritten ist. In der Slowakei ist die kontroverse Beziehung des kommunistischen Staates gegenüber der katholischen Kirche ein wichtiger Teil der Forschungsarbeit des »Slowakischen Instituts für Nationales Gedenken«. Weil aber im slowakischen Fall die Rolle der Slowakei als NS-Verbündete während des Zweiten Weltkrieges ähnlich problematisch ist wie die Verbrechen des Kommunismus, wurde ein bedeutender Teil der historischen Produktion des »Slowakischen Institutes des Nationalen Gedächtnisses« auch der »Arisierung« und dem Holocaust gewidmet. Allgemein gesagt sind die »Institute für Nationales Gedenken« mit ihren akademischen Programmen in vielerlei Hinsicht einfach eine Fortsetzung der früheren Dissidenten- und späteren postkommunistischen Geschichtsschreibung. Trotz der generellen Politisierung ihrer Veröffentlichungen, scheinen sie sich bei ihrer akademischen Tätigkeit und Identität auf das »positivistische« Forschungsprogramm des Tilgens der »weißen Flecken« zu berufen, vor allem hinsichtlich der politischen Geschichte und der Geschichte der 21 Abgesehen davon, ist die gesamte Veröffentlichung des IPN jedoch einfach riesig, indem sie eine Menge faktografisches Wissen über verschiedene Aspekte der polnischen Geschichte aus der Kriegs- und kommunistischen Zeit aufbereitet. Es wäre daher ungerecht, hier eine verallgemeinernde Einschätzung vorzunehmen.

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staatlichen Repressionen. Gleichzeitig sind für sie vor allem die Nationalgeschichte (nationales Gedenken) und der Nationalstaat zentrale und quasi »natürliche« Rahmen der Geschichtsforschung. Die »Institute für Nationales Gedenken« und ihre politische Leitung haben jedoch auch viel Kritik und Protest unter den Historikern hervor­ gerufen. Im Gegensatz zu der frühen »Wendezeit« scheint es heute eine größere Kluft zwischen den Fachkreisen der Historiker an verschiedenen akademischen Forschungszentren und Hochschulen zu geben und den staatlich organisierten Einrichtungen, deren Hauptaufgabe es ist, eine bestimmte Art von Geschichts- und Erinnerungspolitik anzubieten. Oder, um es weniger dichotom auszudrücken, scheint es viel mehr Abwechslung und viel weniger »historischen Konsens« zu geben als in der vorhergehenden Periode. Für viele Historiker, auch wegen der »historischen Kriege« in den letzten Jahren, wurde es sehr wichtig, ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit zu behaupten und sich auf beiden Gebieten – der Politik und der Forschung – Gehör als Experte und nicht als Geschichtspolitiker zu verschaffen. Darüber existiert in dieser Entwicklung auch der deutliche Aspekt des Generations­ wechsels: Eine neue Generation von Wissenschaftlern, die bereits in der postkommunistischen Zeit ausgebildet wurde und oft über Abschlüsse bedeutender internationaler Universitäten verfügt, verschafft sich Gehör. Mit allen Schwierigkeiten, mit denen diese Gelehrten immer wieder bei ihrer Rückkehr nach längeren Auslandsaufenthalten zu kämpfen haben (zum Beispiel eine angemessene akademische Arbeit zu finden), verändern ihre oft methodisch und thematisch innovativen Ansätze wesentlich die Betätigung auf dem Feld der Historiographie und teilweise auch den historischen Diskurs in der Öffentlichkeit. So sehr die politische Geschichte des Kommunismus mit den umfangreichen Veröffentlichungen der »Institute für Nationales Gedenken« – aber sicher nicht nur diese – immer noch die Hauptrichtung geschichtlicher Veröffentlichungen darstellt, gab es auch bei anderen Themen und Ansätzen zur jüngeren Geschichte in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte. Zur Verdeutlichung dieses Punktes seien hier nur einige Beispiele genannt: Die Sozial- und Kulturgeschichte wurde bereits in den 1990er Jahren von den Praktizierenden als Betätigungsfeld für die teilweise Verwendung einer alternativen historischen Sprache verstanden. Doch die meisten Aufzeichnungen zur Sozialgeschichte aus dieser Zeit mit Schwerpunkt Kommunismus unterliegen noch immer dem Schema der Gegenüberstellung von politischer Elite und Parteidiktatur und den unterdrückten Massen der Menschen, der Gesellschaft. Daher gibt die Dichotomie Staat versus Gesellschaft in gewisser Weise für alle historischen Darstellungen die Struktur vor. Im Unter-

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schied dazu untersuchen neue sozialkulturelle Ansätze zum Beispiel sozialistische Konsummuster oder populäre, durch eine den sozialistischen Staat unterstützte Massenkultur. Ein neuer Blick auf die sozialistische Diktatur bieten zum Beispiel eine geschlechterspezifische geschichtliche Perspektive, zunehmend städtische und regionale historische Studien sowie mikrohistorische und kulturanthropologische Ansätze. In der Zwischenzeit zieht das sehr viel nuanciertere und viel weniger binäre Bild der kommunistischen Zeit das politisch erzeugte Modell des nutzbaren Totalitarismus in Zweifel, das von der bisherigen postkommunistischen Geschichtsschreibung erzeugt wurde. Es gibt ganze Gruppen und Zentren der historischen Kommunismusforschung, die diese Entwicklung repräsentieren. Stellvertretend sei hier die bereits seit mehr als zehn Jahren bestehende Auflage der Edition W krainie PRL (Im Lande der PRL) des polnischen Verlags »Trio« oder die sehr erfolgreiche und weithin einflussreiche ungarische sozialhistorische Zeitschrift Korall genannt, die zu Beginn der 2000er Jahre von jüngeren Historikern gegründet worden ist. Als Folge dieser Entwicklung entsteht auch eine »neue politische Geschichte« des Kommunismus, bei der der historische Prozess nicht mehr allein das Ergebnis von Parteipolitik, Elitendiskursen, diplomatischen Manövern oder politischen Entscheidungen ist. Ein Beispiel hierfür könnte das Projekt »Sozialistische Diktatur als Sinnwelt�������������������������������� « (2007������������������������� –2010) sein – ein gemeinsames Projekt des ZZF Potsdam und des Prager Instituts für Zeitgeschichte. Dieses Projekt versuchte, den zweideutigen Bereich der vorpolitischen Akzeptanz zu untersuchen, also denjenigen Bereich einer Meinungsbildung jenseits von ausdrücklich politischen oder ideologischen Vorgaben. Unter Ausnutzung des Modells der Darstellung sozialer Ordnung, konzentrierte es sich auf die Zusammenhänge zwischen primär nicht-politischer, alltäglicher Meinungsbildung auf der einen Seite und der Stabilisierung oder Destabilisierung des jeweils staatlichen sozialistischen Systems auf der anderen Seite. Die ersten Veröffentlichungen zu diesem Projekt lösten in Tschechien in den letzten zwei Jahren schon eine ziemlich heftige Debatte unter Experten sowie einer breiten interessierten Öffentlichkeit aus.22 Doch es gibt noch viele andere Themen und Ansätze, welche die zeitgenössische geschichtliche Forschung ausmachen und die zur steigenden Vielfalt und Pluralität der Forschungslandschaft als auch zu der intellektuellen und politischen Reflexion des Verhältnisses von Geschichte und Erinnerung 22 Michal Pullmann: Konec experimentu: Přestavba a pád komunismu v Česko­slo­ vensku. Praha, Scriptorium 2011; Matěj Spurný: Nejsou jako my: Česká společnost a menšiny v pohraničí (1945–1960), Praha 2012.

Kommunismus zwischen Geschichtspolitik und Historiographie

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beitragen. Ein weiteres breites, methodisch innovatives Feld, das auch in der jüngeren Geschichte mehr und mehr Anhänger findet, beschäftigt sich mit transnationaler Geschichte, zum Beispiel in Form von Untersuchungen zur Kultur in der Zeit der Ost-West-Teilung oder in Form der Analyse verschiedener informeller Kontakte und Kommunikationsformen zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten in Ostmitteleuropa während der kommunistischen Herrschaft. Neue Ansätze liefert auch die Erforschung der Europäisierung am Beispiel des Wohlfahrtsstaates und der Sozialpolitik in Ost und West als Teil der europäischen Geschichte über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg.

5. Fazit Zusammenfassend kann man feststellen: Die Geschichtsschreibung der kommunistischen Vergangenheit und der Zeitgeschichte im Allgemeinem erlebte in den letzten zwei Jahrzehnten in Ostmitteleuropa einen enormen Aufschwung. Gegründet nach 1989, aufgrund eines ehemaligen oppositionellen anti-hegemonialen kulturellen Diskurses, erregte sie bei der neuen demokratischen Politik und Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit und stand gewissermaßen im Zentrum der identitätsbildenden Bestrebungen der neuen Regime in Ostmitteleuropa. Das hat die Geschichtsschreibung in ihrer Programmatik, Stilistik, Rhetorik und teilweise auch in ihren Praktiken erheblich beeinflusst. Abgesehen von allen politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen – also dem, was mit dem akademischen Bereich nicht unmittelbar zusammenhängt – und zugespitzt formuliert, kann man behaupten, dass die »Institute für Nationales Gedenken« (und verschiedene ähnliche Institutionen in dieser Region) und ihre akademischen Produktionen im Wesentlichen eine Fortsetzung der vorangegangenen oppositionellen und späteren postsozialistischen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung darstellen. Gleichzeitig handelt es sich jedoch um eine Fortsetzung, die viel Kritik und Unwillen in den Reihen älterer Historiker als auch der jüngeren Generation erweckt hat. Die Gründung und Folgen dieser Institute entsprechend der neokonservativen Erinnerungspolitik hat zu keinen Einschränkungen oder gar politischer Lenkung der breiteren Forschungs- und Diskussionsbereiche geführt, was auch viele eine Zeit lang, einschließlich meiner Person, befürchteten. Im Gegenteil: Die Reaktion auf eben diese Erinnerungspolitik, so sieht es jetzt jedenfalls aus, hat zu einer Pluralisierung von Perspektiven, Erklärungsmodellen und methodologischen Zugängen in der Zeitgeschichtsforschung ge-

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führt. Diese Tendenz stellt bislang sicher keine Hauptrichtung der Zeit­ geschichte dar, sie bringt jedoch für die Zukunft relativ hoffnungsvolle Er­wartungen hervor – mindestens was die Geschichtsschreibung betrifft.

Antanas Gailius

Litauen: Vom Stiefel des Herrn

Die Einladung, auf dem 11. Symposium der Stiftung Ettersberg mit einem Vortrag über den Kommunismus und Erinnerungen an ihn in Litauen aufzutreten, hat mich sowohl erfreut als auch überrascht. Erfreut, weil es nicht so oft vorkommt, dass ein Forum zu diesem Thema veranstaltet wird. Und überrascht, weil es sich hier um eine wissenschaftliche Veranstaltung handelt. Ich bin zwar der reinen Welt der akademischen Wissenschaft nicht irgendwie besonders abhold, gehöre aber selbst eher zur literarischen Welt, in der nicht nur bewiesene Tatsachen, sondern auch Meinungen, Empfindungen, Vorgefühle und Ahnungen erlaubt und sogar erwünscht sind. Unter diesem Vorbehalt will ich denn auch versuchen, hier zu erzählen, was mit dem Kommunismus in Litauen passiert ist. Dabei muss ich zuerst erwähnen, dass wir Zeugen von zwei gesellschaftlichen Experimenten sind, deren letzter Ausgang uns wahrscheinlich unbekannt bleibt. Europa hat im 20. Jahrhundert zwei schreckliche, totalitäre Regime erlebt und zwei ganz unterschiedliche Methoden der Überwindung ihrer verheerenden Folgen erprobt. Dieser Unterschied, wie mir scheinen will, beruht darauf, dass kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Europa sich gezwungen sah, im Kampf gegen den Nationalsozialismus eine Allianz mit dem Kommunismus einzugehen. Somit wurde der eine Verbrecher zum Verbrecher par excellence, der andere aber zum gerechten Mitstreiter und ruhmreichen Sieger, der später auch mit anderen Alliierten über den Bösewicht zu Gerichte saß. Zwar war es bald ziemlich klar, dass der Kommunismus kein richtiger Verbündeter ist, aber die Entscheidungen von Jalta und Potsdam waren nicht mehr zu widerrufen. Dadurch wurden ganze Nationen in Mittel- und Osteuropa zu einer fast 50-jährigen Lagerhaft verurteilt. Das Wort »Lager« war übrigens auch offiziell im Gebrauch, sprach man doch immer von einem »sozialistischen Lager« (und die polnische Baracke hielt man zumindest in Litauen für die lustigste). Der Nationalsozialismus wurde besiegt und international verurteilt, und auch Deutschland hat alle Forderungen für das Sakrament der Buße erfüllt: Es hat seine Schuld eingesehen, sie bekannt, sie bereut und sich entschieden vorgenommen, sie nie wieder zu begehen. Dies verstehe ich unter der ersteren Methode der Überwindung der Vergangenheit.

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Der Kommunismus jedoch starb in Europa, wenn man so sagen darf, eines natürlichen Todes. Er wurde im Laufe der Jahre greis und marode, er verlor seine tödliche Energie, blieb aber bis zu seinem letzten Atemzug lebensgefährlich und vermehrte noch in der Agonie die Zahl seiner Opfer um einige Tausende. Selbst unter dessen Anhängern gab es nur wenige, die seinem Tod wirklich nachtrauerten. Europa atmete tief durch und glaubte, nun endlich ruhig zum ersehnten Ziel des Kommunismus fortschreiten und das Paradies auf Erden aufbauen zu können. Dieses Ziel ist ja so verlockend, und nur die vom Kommunismus gewählten Methoden zu seiner Verwirklichung wären falsch gewesen. Da war man gerne bereit, auch die Tatsache zu ignorieren, dass der Kommunismus in China weiterhin frisch und munter am Leben blieb. Nordkorea ist zwar eine heikle Angelegenheit, weil der Kommunismus dort doch zu brutal wirkt. Über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens haben wir aber nur ein ganz wenig die Nase gerümpft, und der Blutdunst hat sich ziemlich schnell verflüchtigt, weil die Chinesen für uns ja so billig produzieren. Die Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking haben wir einfach bewundert, ohne darüber nachzudenken, wie die militärische Exaktheit des Ganzen zustande gebracht wurde. Doch sollte ich vielleicht jetzt mit dieser Aufzählung aufhören, da ich doch gebeten wurde, nicht über die Welt, sondern über Litauen zu reden. Natürlich höre ich jetzt auf, denn es würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen, das Schwarzbuch des Kommunismus1 hier vorzulesen. Worum es mir ging, war nur anzudeuten, dass die Problematik des Kommunismus nicht national, sondern international ist. Das heißt aber, dass auch die Entwicklung in Litauen ohne diesen internationalen Hintergrund nur schwer verständlich ist. Eine litauische und – wie ich vermute – auch allgemein baltische Eigenschaft der Befreiungsbewegung war, dass sie, wenn anfangs auch nur im Stillen, vor allem eine Bewegung für die nationale Staatlichkeit war. Sie war selbstverständlich auch antikommunistisch, weil Kommunismus die Ideologie der Sowjetunion war. Die Frage, ob der Kommunismus verbrecherisch ist, wurde überhaupt nicht diskutiert, die Antwort war zu evident. Evident war für uns auch die Tatsache, dass Nazismus und Kommunismus gleich verbrecherisch waren. Es stand weiter für uns außer Frage, dass man nicht vom Stalinismus als einer verbrecherischen Abart des sonst akzeptablen Kommunismus reden sollte. Spätestens seit dem Massaker in Tiflis vom 9. April 1988 1 ������������������������������������������������������������������������������ Stéphane Courtois u. a.: Le Livre noir du communisme. Crimes, ������������������������ terreur, répressio, Paris 1997 [deutsche Erstausgabe: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen, Terror, München 1998].

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wussten wir ja, dass der Kommunismus auch mit dem ach so menschlichen Antlitz von Gorbatschow sehr wohl imstande ist, das Schanzzeug gegen das ungehorsame Volk zu benutzen. Es war natürlich ein politischer Kampf. Er wurde aber vor allem mit moralischen Mitteln geführt, und die Forderungen der Bewegung (z. B. nicht mehr lügen, die ganze Wahrheit sagen, die Existenz der Geheimprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes anzuerkennen u.ä.) waren auch nicht nur politisch, sondern gleichzeitig moralisch. Das schlimmste Wort, das ein Redner während einer Kundgebung skandiert zu hören bekam, war »Gėda«, zu Deutsch »Schande«. Auch die Tatsache, dass vonseiten der Bewegung im Laufe von einigen Jahren des Kampfes kein Tropfen Blut, noch nicht mal aus einer Nase, vergossen wurde, ist in diesem Zusammenhang sehr bemerkenswert. Was die litauische Bewegung oft nicht verstehen konnte, war, dass die Welt ihren Kampf zwar mit Anteilnahme und Verständnis verfolgte, gleichzeitig aber mit Gorbatschow so liebäugelte, dass man andererseits das Gefühl hatte, nicht der Kommunismus, sondern der Wille zur Freiheit in den aufbegehrenden Ländern sei der größte Störenfried. So haben wir erlebt, dass selbst nach der tragischen Nacht vom 13. Januar 19912, in den Tagen, als die Opfer noch nicht begraben worden waren, die Welt uns aufforderte, den guten »Gorbi« nicht zu reizen und ihm das Leben nicht zu sauer zu machen. Die Litauische Kommunistische Partei3 verstand man am Anfang als das Instrument der Okkupation, was sie natürlich auch war. Doch schon bald hatte sich gezeigt, dass auch diese Partei eher litauisch als kommunistisch ist. Unter dem Druck der Befreiungsbewegung hat sie sich als erste in der Sowjetunion von der KPdSU abgespalten und im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung so lange den Namen geändert, bis sie sich schließlich in den unter ihrem heutigen Namen bekannte Litauische Sozialdemokratische Partei4 umbenannte. Die ersten Anzeichen, dass es mit dem Kampf gegen den Kommunismus nicht allzu gut steht, konnte man bereits kurz danach sehen, als die staatliche Unabhängigkeit erreicht wurde. Ein Lustrationsgesetz, das die ehemaligen Kommunisten, besser gesagt, die führenden Funktionäre der ehemaligen Kommunistischen Partei für einige Jahre von der politischen Bühne verschwinden lassen sollte, konnte das Parlament, in dem die Anhänger der li2 Am 13. Januar 1991gab es einen Putschversuch prosowjetischer Kräfte die noch junge Demokratie gewaltsam zu stürzen. Mehrere Todesopfer waren zu beklagen. Dieses Datum ist als »Vilniusser Blutsonntag« in die Geschichte Litauens eingegangen. 3 Lietuvos komunistų partija (LKP). 4 Lietuvos socialdemokratų partija (LSDP).

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tauischen Befreiungsbewegung eine riesige Mehrheit hatten, nicht verabschieden. Die Kommunisten waren ja auch an dem Kampf für Litauen aktiv beteiligt gewesen. Dennoch war der Schock sehr groß, als die ehemaligen Kommunisten dann – damals noch unter dem Namen der Demokratischen Arbeitspartei Litauens5 – bei den ersten freien Wahlen im Jahre 1992 den Sieg davontrugen und die ganze alte Nomenklatura nun frei gewählt im Parlament saß. Man wollte seinen Augen und Ohren nicht trauen. In den drei Jahren des Kampfes hatte man doch gedacht und gesagt, ganz Litauen stünde für die Freiheit und gegen die Kommunisten. Erst viele Jahre später haben wir hochgerechnet, dass maximal 30 Prozent der Bevölkerung an der Bewegung aktiv teilgenommen haben konnten. Da bei den Widerstandsaktionen Menschen nie fehlten, war es leicht, die Nachbarn zu vergessen, die z. B. auch in der schweren Nacht vom 13. Januar nichts anderes taten, als sich zu zanken, obwohl sie unmittelbar neben der Garnison wohnten und das Panzergeröll bestimmt hörten. Nach jener skandalösen Parlamentswahl von 1992, der auch in der Auslandspresse eine Karikatur gewidmet war, auf der stolze Litauer mit ihren Fahnen aus dem Gefängnis durch die Mauer hindurchbrechen und durch das Tor genauso stolz zurückmarschieren, gab es noch einige Jahre immer wieder kleinere oder größere Versuche, das Thema des Kommunismus in das Bewusstsein zu rücken. Es gab Entrüstungsäußerungen sowie eine ganze Flut von Lagererinnerungen. Die ehemalige Befreiungsbewegung zerfiel in einige Parteien, von denen nur die Konservativen und die Christdemokraten versuchten, diese Problematik auch in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung zu thematisieren. Doch schon für die Liberalen schien dieses Thema zu rückwärtsgewandt und nicht mehr aktuell. Die Haltung der Ex-Kommunisten brachte ein ehemals hoher Parteifunktionär und Professor der Philosophie in einer Fernsehdiskussion mit einem ehemaligen Dissidenten zum Ausdruck. Er sagte seinem Gesprächspartner direkt ins Gesicht: »Wir alle waren Opfer.« Und 2007 konnte es sich der letzte Erste Sekretär des Zentralkomitees der KP und der erste frei gewählte Präsident der Republik Litauen leisten, seine Erinnerungen unter dem Titel Auch damals arbeiteten wir für Litauen6 zu publizieren. Dieser Unwille der Mehrheit der litauischen Gesellschaft, sich mit der kommunistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, fand einen sehr harmonischen Anklang an die prinzipielle Unlust des sogenannten »alten Eu5 Lietuvos demokratinė darbo partija (LDDP). 6 Algirdas Brazauskas: Ir tuomet dirbome Lietuvai, Vilnius 2007.

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ropa«, die eigene Geschichte erneut zu überdenken. Selbst die grausamsten Bilder aus unserer Welt waren für unsere Gesprächspartner im Westen nicht überzeugend genug, um ihre Meinung über den Kommunismus zu ändern. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich bezeugen, dass ich mich unzählige Male in Deutschland gezwungen sah, bei den Gesprächen über Hitler und Stalin sowohl im Vortragsraum als auch am Tische, mich eines Sarkasmus zu bedienen und zu fragen, ob die Deutschen denn so überheblich seien, dass sie unbedingt wollen, zumindest den größten Bösewicht der Welt produziert zu haben. Wir konnten schon verstehen, dass der Westen nicht informiert genug war, was alles in der Sowjetunion passiert ist. Was wir zuerst aber nicht verstehen konnten, war eben der Unwille, sich zu informieren. Allmählich verstanden wir doch, woran es liegt. Am deutlichsten hat es vielleicht der französische Premierminister Lionel Jospin zu Worte gebracht, als er 1997 öffentlich sagte: »Die Revolution von 1917 gehört zu den großen Ereignissen unseres Jahrhunderts. Die Sowjetunion, was auch immer man über Stalin meinen kann, war unsere Verbündete gegen Nazideutschland. Ja, der Gulag und der Stalinismus müssen en bloc verurteilt werden, und womöglich haben die französischen Kommunisten dies zu spät getan. Aber für mich hat der Kommunismus zu tun mit der Volksfront, den Kämpfen der Résistance, den Regierungen von 1945 und 1981. Ich bin stolz, daß der Kommunismus in meiner Regierung vertreten ist.«7

Wie der Titel des Beitrags zeigt, fand auch die sozialliberale Zeit diese Aussage ein wenig übertrieben. Dass diese Haltung auf höchster politischer Ebene in Westeuropa noch 1997 möglich war, ist für mich jedoch ein Zeichen, dass man auch im Westen nicht geneigt ist, sich mit dem Kommunismus ernsthaft auseinanderzusetzen. Es ist ja auch nicht verwunderlich. Das rote Büchlein mit Zitaten des Vorsitzenden der chinesischen KP, Mao, habe ich zum ersten Mal bei meinen katholischen Freunden in Berlin erblickt. Die 68er Generation lief damit umher und las es in nicht gezwungener Weise, sondern aus freien Stücken. Ich rede über diesen internationalen Hintergrund nicht deswegen, weil ich damit unsere litauische Geistesträgheit entschuldigen möchte, sondern weil der Kommunismus, wie bereits erwähnt, eine internationale Erschei-

7 Lionel Jospin zitiert nach: Lucas Delattre, Fidel Castros Fanclub. Frankreichs Intellektuelle sind immer noch vom Kommunismus infiziert, in: Die Zeit vom 21. November 1997, online abrufbar unter: http://www.zeit.de/1997/48/Fidel_Castros_Fanclub [27.03.2013].

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nung war und ist, deren Überwindung, wenn überhaupt, nur durch gemeinsame Anstrengungen vielleicht zu erreichen wäre. Doch es ist bestimmt nicht so, dass die Problematik des Kommunismus in Litauen überhaupt nicht mehr existent wäre. Es gibt zu viele Probleme in der Gesellschaft, die mit den Folgen des Kommunismus verbunden sind, als dass man wirklich den berühmten polnischen dicken Strich unter diese Rechnung ziehen könnte. Nach dem ersten Schock kam man zur Einsicht, dass es bei weitem nicht genügt, die Verbrechen des Kommunismus einfach zu benennen, sondern dass die Folgen des 50-jährigen totalitären Regimes viel schwerer sind. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Dokumenten zur sowjetischen Zeit sowie einige seriöse, historische Forschungsarbeiten, vor allem über die Lage der katholischen Kirche im Kommunismus.8 Man hat eingesehen, dass es ein langer Weg sein wird, und man hat auf so manche Illusion verzichtet. Vor allem aber hat man verstanden, dass es nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern um die aktuelle Gegenwart der litauischen Gesellschaft geht, dass es nicht genügt, sich wegen bestimmter Züge dieser Gesellschaft zu entrüsten und dass man fragen muss, warum diese Gesellschaft so und nicht anders ist. Wie kann es z. B. sein, dass 77 Prozent der Bevölkerung laut der letzten Volkszählung von 2011 sich als Mitglieder der römisch-katholischen Kirche bezeichnen, dass aber 66 Prozent derselben Bevölkerung laut Umfragen nichts gegen das Schmuggeln haben und Schmuggelwaren gern kaufen? Warum sind wir ein Volk, dass die höchste Selbstmordrate in der Welt9 hat, wo doch vor dem Kriege diese Rate winzig klein war, wie es sich eben für ein katholisches Land auch gehört? Warum finden es z. B. fast alle – und besonders die neuen – Parteien während der Wahlkampagne nötig, den Wählern zu versichern, dass sie die zehn Gebote wertschätzen, obwohl man ganz sicher sein kann, dass sie gar nicht mehr wissen, wie das erste Gebot lautet? Und warum findet der Wähler solche Beteuerungen wohlklingend, obwohl er weiß, dass sie nicht wahr sind? Oder weiß auch der 77-prozentige Katholik die zehn Gebote nicht mehr? Warum meint er dann, dass es zum guten Ton gehört, sich zum Katholizismus zu bekennen? Dies sind nur einige Beispiele. Mit ihnen könnte man den ganzen Nachmittag füllen. Natürlich kann man auf solche Fragen keine eindeutigen Antworten finden. Sie haben aber bestimmt auf irgendeine Weise mit der Lüge, mit einem verlogenen Leben zu tun. Die Leute sahen sich während der kommunisti8 So z. B. bei Arūnas Streikus: Sovietų valdžios antibažnytine politika Lietuvoje (1944–1990), Vilnius 2002. 9 Peeter Värnik: Suicide in the World, in: International Journal of Environmental Research and Public Health, Nr. 9/2012, S. 760–771.

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schen Zeit so viele Male gezwungen, nie die volle Wahrheit zu sagen, oft auch nicht die volle Wahrheit zu denken, sondern immer wenigstens zur Hälfte, zu einem Drittel oder einem Viertel zu lügen, so dass sie heute nicht mehr in der Lage sind, mit der Wahrheit umzugehen. Sie sind auch nicht mehr imstande, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden. Auf diese Lüge zielte das erste kulturhistorische Buch über die kommunistische Zeit. Die Philosophin Nerija Putinaitė publizierte 2007 ihre Studie Umgesprungene Saite. Anpassung und Widerstand im sowjetischen Litauen10. In dieser gründlichen Monographie schildert die Autorin verschiedene Anpassungsformen und Überlebensstrategien der litauischen Kultureliten in der sowjetischen Zeit und rüttelte damit an dem Mythos über den Widerstand und »Arbeit für Litauen«, den diese Eliten bis heute aufrecht zu erhalten versuchen. Das Buch rief keine heftigen Debatten hervor, fand jedoch einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten und verschaffte der Autorin natürlich eine Menge stiller und offener Feindschaft. Ein Jahr später erschien das Buch meiner Frau, Danutė Gailienė, mit dem Titel Was sie uns angetan11. Sie ist Leiterin des Lehrstuhls für klinische Psychologie an der Universität Vilnius und hat mit ein paar Kollegen und mit Unterstützung des Litauischen Forschungszentrums für Genozid und Widerstand12 ein breit angelegtes Forschungsprojekt über die Folgen langjähriger Traumatisierung durch politische Repressionen realisiert. Dadurch wurde zum ersten Mal im postsowjetischen Raum das Problem in diesem Ausmaß thematisiert. Ich kann hier nicht ausführlich über die Ergebnisse dieser Untersuchung berichten. Nur zwei Momente scheinen mir in unserem heutigen Zusammenhang erwähnenswert: Das erste ist das Ergebnis, wonach das subjektive Selbstbefinden der litauischen Kontrollgruppe (das heißt der Leute, die nicht direkt repressiert wurden, sondern ����������������������������� »���������������������������� einfach��������������������� «�������������������� unter dem kommunistischen Regime lebten) schlimmer ist, als die der Norweger, die während der Nazi-Okkupation als Widerstandskämpfer repressiert wurden. Dies ist ein Zeichen, wie tief selbst die sogenannte normale Bevölkerung unter dem Regime gelitten hat. Das pauschalisierende Wort über die »traumatisierte Gesellschaft«, das in Litauen seit dem Erscheinen des Buches in der Öffentlichkeit immer wieder zum Vorschein kommt, ist somit nicht ganz unbegründet. Das zweite Moment, das ich hier erwähnen möchte, ist nur mittelbar mit diesem Forschungsprojekt verbunden, scheint mir aber gerade im Kontext 10 Nerija Putinaitė: Nenutrūkusi styga. Prisitaikymas ir pasipriešinimas sovietų Lietuvoje, Vilnius 2007. 11 Danutė Gailienė: Ką jie mums padarė, Vilnius 2008. 12 Lietuvos gyventojų genocido ir rezistencijos tyrimo centras (LGGRTC).

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meiner heutigen Erwägungen sehr bedeutend. Meine Frau hatte in Norwegen und in Polen Vorträge zu diesem Projekt zu halten, und ich hatte die Möglichkeit, dabei zu sein. Es war für uns beide ein seltsames Erlebnis, dass in beiden Fällen die Fachkollegen meine Frau nach den Vorträgen für ihren Mut lobten, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Da kommt mir nur der Satz des russischen Dissidenten Wladimir Bukowski in den Sinn, der einmal sagte, es werde nicht mehr lange dauern, bis man auch in der freien Welt für Worte eingesperrt wird. Und als das Publikum lachte, fügte er noch hinzu, es gäbe hier überhaupt nichts zu lachen, er habe ja bereits für Worte gesessen, er wisse Bescheid.13 Diese Warnung Bukowskis ist wirklich nicht als Spaß zu verstehen. In den zwanzig Jahren ohne Kommunismus hat Litauen emsig vom Westen gelernt. Inzwischen ist auch in Litauen der Mainstream des öffentlichen Lebens eher liberal. Im Hinblick auf die kommunistische Vergangenheit und die heutige Krise drängt sich immer akuter die Frage auf, wie es möglich ist, über die Wahrheit zu reden in einer Gesellschaft, die bereit ist, mehrere Wahrheiten zu akzeptieren. Wir sprechen ja nicht mehr von Tugenden, sondern nur noch von Werten. Wir reden über konkurrierende Erinnerungen, ohne daran zu denken, dass es oft die Erinnerungen von Tätern und Opfern sind, die eben konkurrieren. Aus der großen politischen Welt hat Litauen nur zweimal Aussagen empfangen, die nicht pragmatisch, sondern eben moralisch waren. Ich meine damit den Satz von Ronald Reagan, die Sowjetunion sei das »Reich des Bösen«. Und ich bitte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie unzufrieden die freie Welt mit dieser Aussage war. Den zweiten Satz hat auch ein amerikanischer Präsident, der in Europa so verhasste George W. Bush auf dem Rathausplatz von Vilnius gesprochen. Er sagte dort am 11. November 2002: »No more Jalta, no more Potsdam.« Es klang wie eine kleine Hoffnung. Andererseits aber sahen wir, dass auch ein Bundeskanzler a.D. heute auf dem freien Weltmarkt zu kaufen ist. Somit ist es auch in Litauen so geworden, dass die Trennlinie heute nicht mehr zwischen den Ex-Kommunisten und Antikommunisten, sondern eher zwischen den Liberalen und den Christlich-Konservativen verläuft. Dabei kommt es manchmal auch zu ganz lustigen Auseinandersetzungen. Vor zwei 13 Wladimir K. Bukowski (Jg. 1942) gilt als einer der bedeutendsten Dissidenten in der ehemaligen Sowjetunion. Internationales Aufsehen erregte er durch seine öffentliche Bekanntmachung politischer Gefangener in psychiatrischen Anstalten in der UdSSR, zu denen er selbst gehörte. Vgl. hierzu auch Vladimir Bukovskij: Politinis korektiškumas- blogiau už leininzmą?, in: Naujasis Židinys – Aidai, Nr. 3–4/2010, S. 80–87.

Litauen: Vom Stiefel des Herrn

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Jahren veranstalteten zwei litauische Philosophen während der Buchmesse in Vilnius eine Diskussion über den Teufel in der Politik. Einer von ihnen, Professor Alvydas Jokubaitis, der übrigens 2012 ein sehr bedeutendes Buch über die Tyrannei der Werte und Politik14 veröffentlichte, sagte in dieser Diskussion, wenn er der Teufel wäre, würde er heute liberal sein. Ein Aufschrei ging durch den öffentlichen Raum, vor allem durch das litauische Internet, als ob diesen zwei Philosophen zufälligerweise ein Exorzismus gelungen wäre. Beenden möchte ich mit einer Zeichnungsserie15 des polnischen Dichters Tadeusz Różewicz. Es sind drei kleine Bilder. Im ersten bittet ein kniender Mann: »Gott, gib mir ein Zeichen.« Im zweiten kriegt er einen Stiefel in den Nacken geschleudert. Im dritten schreit er: ����������������������������� »���������������������������� So habe ich’s doch nicht gemeint!« Es scheint mir manchmal, dass er damit unsere Situation sowohl im politischen als auch im moralischen Sinne gemeint hat, und ich glaube, wir sollten bereit sein, unseren Buckel dem nächsten Stiefel des Herrn entgegenzuhalten.

14 Alvydas Jokubaitis: Verybių tironija ir politika, Vilnius 2012. 15 Diese ist erschienen in Jerzy Illg: Mój znak. O noblistach, kabaretach, przyjaź­ niach, książkach, kobietach, Kraków 2009.

Marek Zybura

Der Kommunismus und die Polen

Die europaweite Auseinandersetzung mit dem Schwarzbuch des Kommunismus1 hat gezeigt, dass sich diesbezügliche Narrative in West und Ost stark unterscheiden, insbesondere in puncto der Interpretation des Zweiten Weltkrieges und in der Frage der Abrechnung mit dem Kommunismus. Dass westliche und östliche Erfahrungen hierüber schwerlich vereinbar sind, kam nur allzu manifest nach dem Auftritt der lettischen Außenministerin Sandra Kalniete bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2004 zum Vorschein.2 Für die westliche Öffentlichkeit mag aus der Sicht der friedlichen, politisch-wirtschaftlichen Entwicklung dieser Hälfte des Kontinents nach 1945 bis hin zur gelungenen deutsch-französischen Versöhnung und der Wiedervereinigung Deutschlands der Rekurs auf diese Problematik müßig erscheinen. Für die Gesellschaften Ostmitteleuropas unter sowjetischem Einflussbereich, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Kollaps des Kommunismus die Möglichkeit erhielten, souverän die Freiräume ihrer öffentlichen Diskurse zu gestalten, gab es vor dieser Problematik kein Entrinnen. Gezeichnet sowohl vom deutschen Faschismus als auch vom sowjetischen Kommunismus, mussten und wollten sie sich ihrer historischen Erfahrung stellen. Die Modalitäten dieser Auseinandersetzung sind freilich von Land zu Land verschieden – wie auch die Erfahrungen dieser Gesellschaften mit den beiden Totalitarismen. Die polnische Abrechnung mit dem Kommunismus fing sehr früh an, schon in den 1950er Jahren, und wurde von dem späteren Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz initiiert. Als eine exemplarische Figur seiner Zeit 1 Stéphane Courtois u. a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München/Zürich 1998. Zur diesbezüglichen Diskussion in Deutschland vgl. Horst Möller (Hg.): Der Rote Holocaust und die Deutschen. Die Debatte um das »Schwarzbuch des Kommunismus«, München 1999; Dietrich Seybold: Geschichtskultur und Konflikt: Historisch-politische Kontroversen in Gesellschaften der Gegenwart, Bern 2005. 2 Der genaue Wortlaut der Rede Kalnietes ist zu finden unter: http://www.dieunion.de/reden/altes_neues_europa.htm [28.03.2013].

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und als Zeuge des »Jahrhunderts der Extreme«3 soll ihm und seinen intellektuellen und politischen Entscheidungen von damals im Folgenden etwas mehr Platz eingeräumt werden. Zur Parteinahme für die neue Macht entschlossen, mag jene denn auch »jesuitisch« mit reservatio mentalis erfolgt sein, half er sich über die moralische Zwielichtigkeit seines Tuns (»Ich litt und warf mir Prostitution vor.«4) mit der Rationalisierung hinweg: Lawinen ändern ihren Lauf, Ragt irgendwo ein Steinchen auf. Du kannst’s, so sprach einmal ein Weiser: Bring die Lawine aus dem Gleise, Mildere ihre blinde Wut, Auch dazu braucht es Mannesmut.5

Dieser Mahnruf aus dem Moralischen Traktat (1947) war nämlich nicht ein einfaches, aktivistisches Postulat. Getarnt war darin die Tragik der Generation Miłosz, die im Krieg erwachsen wurde und 1945 auf dem Schutthaufen der alten Welt (ihrer Welt; eine andere kannten die Mitglieder dieser um 1918 Geborenen nicht oder kaum) vor den Fragen ihres Lebens stand: Weiterkämpfen? Emigrieren? Oder mitmachen? In der Überzeugung, aus dem nazistischen Regen in die kommunistische Traufe gekommen zu sein, entschlossen sich die wenigsten für die Fortsetzung des Kampfes, der unter den neuen politischen Bedingungen zwangsläufig mehr und mehr in einen Bürgerkrieg ausarten musste. Die Hoffnung auf den »Dritten Weltkrieg«, die die Befürworter dieser Lösung beflügelte und »ihrem« Krieg Sinn gab, entbehrte für Miłosz und sein Milieu jeder Grundlage. Nicht nur die geopolitische Lage sprach dagegen. Die ob der sowjetischen Omnipotenz geschockten Intellektuellen Ostmitteleuropas gewöhnten sich an die lähmende fatalistische Einsicht, »dass die ganze Welt diesen scheußlichen Dreck [Sowjetkommunismus – M.Z.] erst mal über sich ergehen lassen muss«, ehe sie davon genesen könne, wie es der bekannte Politiker, Freimaurer und Publizist Stanisław Stempowski 1945 gegenüber Miłosz formulierte.6 3 Vgl. Andreas Lawaty und Marek Zybura (Hg.): Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme. Ars poetica – Raumprojektionen – Abgründe – Ars translationis, Osnabrück 2013. 4 Czesław Miłosz: Rok myśliwego, Kraków 2001, S. 155. 5 Ders.: Gedichte 1933–1981, Frankfurt am Main 1995, S. 71. 6 Zitiert nach Jerzy Giedroyc/Czesław Miłosz: Listy 1964–1972, Warszawa 2011, S. 323.

Der Kommunismus und die Polen

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Emigration war auch keine einfache Alternative. Für diejenigen, die bereit waren, das Land illegal zu verlassen, Hasardeure ohne Beziehungen zur neuen Macht, verband sich das mit erheblichen Hindernissen, die nur allzu oft unter Lebenseinsatz zu überwinden waren. Für Miłosz, der sofort an Flucht dachte und in der privilegierten Lage war, diese über seine Beziehungen zu den neuen Machthabern von langer Hand vorbereiten zu können, stellte die Emigration trotzdem ein gravierendes Problem dar. Er war nicht unbedingt ein Freund des Vorkriegspolens. Durch die Rechnung, die noch zu begleichen gewesen wäre, machte der Krieg einen dicken Strich. Die polnische Emigration im Westen war aber eine politisch, gesellschaftlich und mental petrifizierte Verlängerung eben jenes Staates. Eine Allianz mit diesem Milieu kam für Miłosz nicht in Frage: »Nur heute, nach Jahrzehnten Volkspolens, wird die Standhaftigkeit der Emigration hochgepriesen. Damals sah das alles anders aus. Janusz Minkiewicz […] schrieb ein Gedicht, worin er über die Londoner [Exil]Regierung urteilte: ›Mit dem Teufel ja, aber nie mit euch‹. – So dachten damals unter uns Schreibenden viele.«7

Es sei hier hinzugefügt, dass nicht nur unter den linken Intellektuellen im Lande, sondern auch unter den liberal-konservativen Emigranten selbst damals gar manche so dachten: Am 25. November 1952 schrieb Jerzy Giedroyc, der Chefherausgeber der polnischen Pariser Exilzeitschrift Kultura, an den Schriftsteller Melchior Wańkowicz: »Schon heute muss man sich Gedanken nicht nur über die Befreiung des Vaterlands, sondern auch darüber machen, wie man diese politische Emigration vom befreiten Polen wird fernhalten können.«8 Dass die politische Führung der polnischen Emigration so tat, als ob sie nicht am Scheitern des Staates im Jahre 1939 mitverantwortlich gewesen wäre und sich von der geopolitischen Entwicklung nach dem Krieg abschotten könnte, war auch einer der Gründe, weshalb manche polnische Schriftsteller, sehr zum Gaudium der neuen Herrscher im Lande, nach Polen zurückkehrten (so auch Wańkowicz im Jahre 1958), was die propagandistische Wirkung auf die Gesellschaft nicht verfehlte. Kamen die ersten beiden Lösungen nicht in Frage, blieb das Arrangement mit der Macht (sieht man auf der einen Seite von den skrupellosen Profiteuren des Systems und der Masse der gewöhnlichen Mitläufer auf der anderen Seite ab) oft der einzige überlegenswerte Verhaltensmodus unter den 7 Czesław Miłosz: Rok myśliwego, a.a.O. 8 Jerzy Giedroyc/Melchior Wańkowicz: Listy 1945–1963, Wyboru dokonała i wstępem opatrzyła Aleksandra Ziółkowska-Boehm, Warszawa 2000, S. 352.

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obwaltenden Umständen. Es war ein modus operandi für Überlebende des Krieges, die nicht in das totale Abseits abtauchen wollten, die zwar keine Kommunisten waren, aber auch keine Wiederkehr der früheren Verhältnisse aus der Vorkriegszeit herbeiwünschten und von der Notwendigkeit der sozialen, landwirtschaftlichen und industriellen Reformen im Lande überzeugt waren. In einer Zeit, in welcher der sowjetkommunistischen »Lawine« kein Halt auf absehbare Zeit geboten schien, galt es – so der das Arrangement rationalisierende Gedanke –, die Lawine zu lenken versuchen, ein »Stein« auf ihrem Weg zu sein, sie »aus dem Gleise« zu bringen, um »ihre blinde Wut« zu mildern. Aber es blieb eben ein Arrangement (Unschuld ließ sich bei dieser Taktik nicht bewahren9), das Miłosz »das kleinere Übel nannte«.10 Die Spannung zwischen dieser Selbsttäuschung und dem Druck der nackten Wirklichkeit hielt er nur bis 1951 aus, und er stellte damals in Frankreich den Asylantrag. Fortan blieb er politischer Emigrant. Im Glauben, dem soziotechnischen Megaexperiment, einen »neuen Menschen« zu erschaffen und eine »neue Gesellschaft« aufzubauen, entronnen zu sein, machte sich Miłosz daran, sich und anderen das Phänomen der Attraktivität des Kommunismus zu erklären. Der Nationalsozialismus war besiegt, doch das bedeutete nicht, dass Miłosz, der immerhin den Krieg unter deutscher Besatzung erlebte und überlebte, kein Interesse an der analytischen Ergründung der Nazi-Ideologie gehabt hätte. Der Schriftsteller machte vielmehr keinen kategorialen Unterschied zwischen Faschismus/Nazismus und Kommunismus, dies im schroffen Gegensatz insbesondere zu den französischen Intellektuellen, die den Kommunismus aufwerteten, weil er angeblich auf humanistischen Prinzipien beharrte, die der Faschismus/Nazismus bekämpfte.11 Aber er hielt den Kommunismus für überlegener und – da philosophisch fundierter, universeller – für gefährlicher. Das Resultat seiner Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, die in Wahrheit eine Erforschung des eigenen Gewissens darstellte, war der politi-

9 Gegen sein Lebensende meinte er selbstkritisch, dass diese Metapher »Ausdruck der Philosophie der Kollaborateure« sei. Czesław Miłosz: Rozmowy polskie 1979–1998, Kraków 2006, S. 577. 10 Zitiert nach Andrzej Franaszek: Miłosz. Biografia, Kraków 2011, S. 390. 11 In der lebhaften Debatte, die das Erscheinen von Le livre noir du Communisme in Frankreich auslöste, verstieg sich der ehemalige Trotzkist und damalige französische Ministerpräsident Lionel Jospin am 12. November 1997 in der Nationalversammlung zu der Behauptung, dass – anders als der Faschismus – »der Kommunismus sich nie an der Freiheit vergriffen hat«.

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sche Essay Verführtes Denken12. Einer gewissen Ironie unterliegt die Tatsache, dass es zeitlebens sein, – des katexochenen poeta – in der Welt bekanntestes Werk bleiben sollte und ihn, sogar über den Nobelpreis für Literatur (1980) hinaus, zum politischen Autor stigmatisierte. Zur andauernden Präsenz des Buches in der Totalitarismus-Debatte trug nicht so sehr seine Fragestellung bei, sondern vielmehr die Antwort, mit welcher Miłosz die siegreiche Offensive des Kommunismus zu erklären versuchte. Im Gegensatz zu seinen Widersachern, die diesen Sieg auf simple Feigheit, Opportunismus, moralische Zerrüttung sowie Karrieredenken, Machtstreben und Bereicherungsdrang der Anhänger des »Neuen Glaubens« zurückführten, suchte er nach geschichtsphilosophischen und psychologischen Erklärungen. Und er hatte damit, wie nach zwei Jahrzehnten dieser Debatte selbst sein Exilverleger und Freund Jerzy Giedroyc meinte, »Entschuldigung und Absolution für die linken Intellektuellen im Westen geliefert, die sich in den kritiklosen Stalinismus verwickelt haben. Mit diesem Buch hast Du sie quasi freigesprochen.«13 Diese maximalistisch-moralische Herangehensweise an das Problem zielt (der Streit setzte sich fort) allerdings an Miłosz’ Intention vorbei, dem es in erster Linie nicht um die Aburteilung der Betroffenen, sondern um die Beurteilung des Phänomens selbst ging.14 Sieht man von Leszek Kołakowskis Hauptströmungen des Marxismus15 ab, die auch eine Art Abrechnung mit dem Kommunismus darstellten, unternahm nach Miłosz niemand mehr eine Systemkritik dieser Art. Dies resultierte zum Teil aus der nachmaligen Beschaffenheit des Kommunismus selbst. Als Kołakowski sein Opus Magnum schrieb und publizierte, gehörte die stalinistische Variante des Kommunismus in Polen längst der grauen Vergangenheit an. Der Pragmatiker Gierek war im Unterschied zu seinem Vorgänger Gomułka schon kein bekennender Kommunist mehr und schwor den revolutionären Idealen ab. Sein Interesse galt nur dem politischen Machtmonopol. Wer dieses Monopol nicht in Frage stellte, konnte nach seiner Façon selig werden im volkspolnischen Staat (weshalb dieser auch die lustigste »Baracke« im sozialistischen »Lager« war, wie der Volksmund sprach). Weiterhin trug die Art und Weise, wie die geschichtliche Wende 1989 in Polen erfolgt 12 Czesław Miłosz: Zniewolony umysł, Paryż 1953 [deutsche Erstausgabe: Verführtes Denken, Frankfurt am Main 1975]. 13 Jerzy Giedroyc/Czesław Miłosz: Listy 1973–2000, Warszawa 2012, S. 93 [Brief vom 27. September 1974]. 14 Jacek Breczko: Poglądy pisarzy z kręgu »Kultury« paryskiej, Lublin 2010, S. 353. 15 Leszek Kołakowski: Główne nurty marksizmu. Powstanie – rozwój – rozkład, Paryż 1976–1978 [deutsche Erstausgabe: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall, 3 Bde., München 1977–1978].

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war (Kompromiss am sogenannten Runden Tisch), dazu bei, dass sich in der darauffolgenden Zeit in der polnischen Geschichtspolitik die liberale Strömung im Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit der Polen durchsetzte und bis heute in der polnischen Geschichtskultur dominiert. Sie liegt freilich mit der als »(national)konservativ« zu bezeichnenden Strömung im ständigen und akuten Streit über die Rolle der Geschichte im politischen und geistigen Leben, die anzustrebende Vision der Vergangenheit und die Aufgaben des Staates um die öffentlich, gesellschaftlich wirksame Umsetzung des Geschichtswissens. Der polnische Historiker mittlerer Generation Krzysztof Ruchniewicz nennt diese Konfrontation einen »Streit um die Volksrepublik Polen«.16 Mag dieser Streit formell den im Orkus der Geschichte untergegangenen Trabantenstaat der Sowjetunion zum Gegenstand haben und somit anscheinend nur einen historischen Charakter aufweisen. In Wirklichkeit aber wird sich auch der nicht betroffene, weil nach 1989 geborene Beobachter dieser Konfrontation sagen lassen müssen: »Tua res agitur!« Denn von der Art der Abrechnung mit diesem Staat, sprich mit dem polnischen Kommunismus und deren Ergebnissen, wird in einem gewissen Sinne auch die Entwicklung des künftigen Polens abhängen. Darin äußert sich die Zukunft der Vergangenheit, die nicht tot, ja nicht einmal vergangen ist. Sollte man etwa den Beteuerungen des PiS17-Führers Jarosław Kaczyński Glauben schenken, der heute noch seine Anhänger zum Kampf gegen die »komuna« (poln.: Kommunistenjunta) anfeuert, die angeblich die jetzige polnische Regierung verkörpere? Der Kompromiss am Runden Tisch hatte u. a. zur Folge, dass die Entkommunisierung »ausdrücklich nicht zu den Prioritäten der ersten demokratischen Regierungen nach 1989 und des ihr nahestehenden intellektuellen Milieus« gehörte.18 Die nach den Parlamentswahlen im Herbst 1993 erfolgte Rückkehr der Ex-Kommunisten an die Macht, (was aber keine Revitalisierung des Kommunismus selbst bedeuten konnte) trug wesentlich zur Etablierung des liberalen Modells der Geschichtspolitik in Polen bei. Es nahm mehr oder weniger die Form der offiziellen Neutralität des Staates im Bereich der Gestaltung des geschichtlichen Bewusstseins der Polen an. Der Ideenhistoriker und Philosoph Andrzej Walicki führte dazu aus: »Der liberal-demokratische Staat muss in dieser Angelegenheit unparteiisch bleiben, widrigenfalls würde er seine eigenen Grundsätze verletzen – Gewissens­ 16 So der Titel seines noch unveröffentlichten Aufsatzes. 17 Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS). 18 Piotr Buras/Henning Tewes: Polens Weg von der Wende bis zum EU-Beitritt, Stuttgart/Leipzig 2005, S. 145.

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freiheit und die weltanschauliche Neutralität. Die gesetzgebende und die gericht­ liche Macht eines demokratischen Staates darf nicht festlegen, was die verbindliche Wahrheit über die Vergangenheit sein soll.«19

Einen spektakulären Ausdruck fand die liberale Geschichtspolitik im programmatischen Appell Um Wahrheit und Versöhnung von Adam Michnik und Włodzimierz Cimoszewicz im Jahre 1995, anhand dessen die Logik dieser Politik dargelegt werden soll. Veröffentlicht wurde der Aufruf im Zuge des Wahlkampfes um das Präsidentenamt, aus dem Aleksander Kwaśniewski als Sieger hervorging. Beide Autoren20 forderten darin die Vorbereitung eines »Rapports für Wahrheit und Versöhnung«, der »eine gemeinsame Beurteilung unserer neuesten Geschichte«, sprich der Geschichte des kommunistischen Volkspolens, enthalten sollte – erarbeitet durch die ehemalige Opposition und die ehemaligen Kommunisten. Als methodisches Vorgehen schlugen sie auf Kompromissen basierende Verhandlungen vor; ein Modell, das zum ersten Mal bei den Gesprächen am Runden Tisch (Februar bis April 1989) erprobt wurde. Sie hätten versuchen wollen festzustellen, schrieben die Autoren, wer 1945 »mehr Recht hatte: diejenigen, die durch kommunistische Verheißungen verblendet, naiv eine neue bessere Welt aufbauen wollten und mit der Zeit immer fester die Augen zudrücken mussten, um die Verbrechen nicht zu sehen, oder aber die anderen, die den hoffnungslosen Widerstand wählten?«21 Letztendlich entstand kein Rapport. Aufschlussreich ist aber die Argumentation des ungewöhnlichen Autorenpaars des Appells. Der Tenor ging dahin, dass dialektisch beide Kontrahenten Recht behalten sollten: Derjenige, der den Kommunismus aufbaute, und jener, der nach 1945 im Untergrund diesen Kommunismus mit Waffen bekämpfte. Das bedeutet, dass die gleichen historischen Ereignisse anders interpretiert und bewertet werden könnten, und die Bewertungen, so die Autoren, »resultieren aus verschiedenen Schicksalen und Erfahrungen, aus dem alten und neuen Engagement«22. Jeder dürfe seine Vision des Patriotismus und der Ehre haben, und jeder dieser Standpunkte sei gleichberechtigt. Was zähle, sei der Dialog, der ja die Unterschiede nicht kaschiere. Wenn allerdings der Dialog zur Versöhnung füh19 Andrzej Walicki: Sprawiedliwość na pasku polityki, in: Przegląd polityczny, Nr. 40–41/1999, S. 12–33, hier S. 33. 20 Adam Michnik (Jg. 1946), mehrmals politischer Gefangener, ist eine Legende der systemkritischen Opposition vor 1989. Włodzimierz Cimoszewicz (Jg. 1950) ist ein Funktionär des Ancien Régimes. 21 Włodzimierz Cimoszewicz/Adam Michnik: O prawdę i pojednanie, in: Gazeta Wyborcza vom 9./10. September 1995, S. 6. 22 Ebenda.

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ren solle, dann müssten die Dialogpartner Kompromissbereitschaft an den Tag legen. Kompromisslosigkeit sei ja die Todsünde für die Demokratie. In einer solchen argumentativen Atmosphäre wurden auch Dialogfeinde beim Namen genannt; in erster Linie wurden die Vertreter des sogenannten »tierischen« bzw. des »Höhlenantikommunismus« enttarnt: Leute, die vormals dem Kommunismus ihr Ehrgefühl verdankten, denen er zuwider war, die aber diese, ihre Abscheu dermaßen liebgewonnen hätten, dass sie jetzt ohne den Kommunismus nicht leben könnten. Die »Priester des Hasses«, wie sie auch genannt wurden, würden nun gerne dem Kommunismus, obwohl er von der geschichtlichen Bühne verschwunden war, den Krieg erklären und eine Hexenjagd auf ehemalige Kommunisten veranstalten. Adam Michnik knüpfte an die eigenen Ausführungen anlässlich des 10. Jahrestages der Verhängung des Kriegszustandes an. Er schrieb damals: »Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich dem Hunger nach Gerechtigkeit […] ein Hunger nach Rache anschließt […]. Und manchmal denke ich, dass man, wenn die wirklichen Kommunisten eines Tages nicht mehr da sind, neue erfinden wird, weil ein gemeinsamer Feind unerlässlich sein wird, um die neue Macht zu zementieren.«23

Die vorgenommene Argumentation lief darauf hinaus, dass die alte Einteilung in Rechte und Linke mittlerweile gegenstandslos geworden war, weil sich die Sprachen der beiden vermengt hätten. Eine neue, fundamentale, in ethischer Hinsicht scharfe Einteilung stelle vor die Wahl zwischen einer Politik des Hasses und einer der Solidarität. Die Botschaft der liberalen Geschichtspolitik war klar: Die heroisch-märtyrologische Betrachtung der Geschichte, insbesondere die daraus abgeleitete Forderung nach der Abrechnung mit der Epoche des kommunistischen Volkspolens, müsse auf dem Altar der Konsolidierung der Gesellschaft und der Modernisierung des Landes geopfert werden. Donald Tusk brachte es auf den Punkt, indem er feststellte: »Wir müssen heraus aus diesem Teufelskreis […]. Schluss jetzt mit den ständigen Berufungen auf Tschenstochau, den Adler mit der Krone und die Barrikaden im Kriegszustand. Es gilt jetzt, den Leuten zu zeigen, wie man Geschäfte macht und Geld verdient.«24

23 Adam Michnik: W imię przebaczenia, in: Gazeta Wyborcza vom 13. Dezember 1991, S. 1. 24 Zitiert nach Anna Magierska: Polityka historyczna, in: Społeczeństwo i Polityka, Nr. 4/2008, S. 9–27, hier S. 12.

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Es gab verschiedene Gründe, warum diese Haltung in der Gesellschaft greifen konnte – auch in den Reihen der ehemaligen Oppositionellen bedeutete Modernisierung in den 1990er Jahren Normalität, Wohlstand, Europa – und sich alle danach sehnten. Viele waren bereit, für diesen Preis vieles auf pragmatische Weise zu vergessen, Politikmüdigkeit war (und ist) ein weit verbreitetes Phänomen. Zum Sieg der liberalen Geschichtspolitik über die konservative, die die Entkommunisierung forcierte, trug und trägt auch sehr wesentlich das politische Engagement der katholischen Kirche im rechten Spektrum der politischen Szene bei. Dass der Antikommunismus infolgedessen sehr bald eine religiöse Note bekam, dass die Kirche ein Gleichheitszeichen setzte zwischen Atheismus, Relativismus, ja sogar Postmoderne auf der einen und dem Kommunismus auf der anderen Seite, wirkte und wirkt nach wie vor zunehmend abschreckend. Was sind die Resultate der soeben diagnostizierten Sachlage? Der liberale Umgang mit dem kommunistischen Erbe in Polen hat zur Folge, dass den aus dem kommunistischen Volkspolen stammenden Parteien, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Organisationen nach dem politischen Systemwechsel 1989 gestattet wurde, ihr oft unredlich, ja gar kriminell erworbenes Vermögen zum Großteil zu behalten. Es wurde darauf verzichtet, die kommunistische Partei PVAP25 und den Sicherheitsdienst zu kriminalisieren, obwohl es nachweislich verbrecherische Organisationen waren. Die kommunistischen Verbrecher aus ihren Reihen wurden nicht zur Verantwortung gezogen, obwohl 1991 die stalinistischen Untaten für Verbrechen gegen die Menschheit anerkannt wurden und durch eine verlängerte Verjährungsklausel auch die Strafverfolgung der 1956–1989 begangenen Verbrechen ermöglicht wurde. Das polnische Parlament folgte nicht dem Beispiel des deutschen Bundestages, der 1992 eine »Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« einsetzte und diese mit Untersuchungsbefugnissen ausstattete. Ein entsprechender Bericht über das Erbe des Kommunismus in Polen, wie ihn jene Kommission dem Bundestag vorlegte, wurde in Polen nicht verfasst (der polnische Sejm raffte sich zu einem eine Seite umfassenden Beschluss in dieser Angelegenheit zusammen). Der Publizist Piotr Buras nennt die (fehlende) Verfolgung der kommunistischen Verbrechen in Polen »ein besonders unrühmliches Blatt des polnischen Justizwesens nach 1989.«26 Ein Entkommunisierungsgesetz wurde in Polen nicht verabschiedet. Das im Jahre 1997 viel zu spät eingeleitete sogenannte Lustrationsverfahren 25 Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei). 26 Piotr Buras/Henning Tewes: Polens Weg, a.a.O., S. 164.

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(Durch­leuchtung) für Personen in hohen öffentlichen Ämtern funktionierte nur schleppend und kam nach 2007 mehr oder weniger zum Erliegen, als der Verfassungsgerichtshof auf seinen verfassungswidrigen Charakter hingewiesen hatte.27 Eine vernünftig geregelte Offenlegung der Aktenbestände des früheren kommunistischen Sicherheitsdienstes (SB) gibt es bis heute nicht. Anders als bei den Millionen von Anträgen auf Akteneinsicht, die bisher bei der »Bundesbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik« gestellt wurden, kann seine polnische Entsprechung, das 1998 gegründete »Institut für Nationales Gedenken« (IPN)28, gerade mal auf einige tausend Anträge »stolz« sein. Es mutierte obendrein gleich nach seiner Gründung zum Propagandasprachrohr und politischen Machtinstrument der Kaczyński-Partei, die es zur Eliminierung politischer Gegner oder auch nur taktisch unbequemer Gleichgesinnter benutzte.29 Und so funktioniert es bis heute. Der deutsche Beobachter der politischen Szene in Polen Reinhold Vetter schreibt dazu: »Mehr und mehr wurde das IPN zum Tummelplatz für junge politisch engagierte, aber wissenschaftlich nicht sehr ausgewiesene Akademiker, die Dossiers erstellten, die dann von den Kaczyńskis [im politischen Kampf] eingesetzt wurden.«30 Der hieraus resultierende extrem verantwortungslose Umgang mit den Akten durch seine Mitarbeiter diskreditierte dieses Projekt nachhaltig. Das sind alles Tatsachen, die den Umgang mit dem kommunistischen Erbe im heutigen Polen bestimmen. Interessant ist in diesem Zusammenhang noch ein anderes Phänomen: Durch die Liberalen in die Defensive gedrängt, begannen die Konservativen sich tatsächlich der Rhetorik und der Losungen zu bedienen, die ihnen die politischen Gegner vorwarfen: der Rhetorik der 27 Uzasadnienie wyroku Tybunału Konstytucyjnego w sprawie lustracji vom 11. Mai 2007, Syg. Akt. K 2/07, online abrufbar unter: http://www.trybunal.gov. pl/Rozprawy/2007/Dz_Ustaw/k_02s07.htm [24.04.2013]. 28 Instytut Pamięci Narodowej. 29 Ein besonders schmutziges Blatt in der Geschichte des IPN stellen die Manipulationen um die Nachfolge von Leon Kieres, seines ersten Leiters, im Jahre 2005 dar. Andrzej Przewoźnik, der das Amt praktisch schon antreten sollte, wurde von Janusz Kurtyka mithilfe eines in der Krakauer IPN-Abteilung (deren Mitarbeiter Kurtyka gewesen war) fabrizierten »Dokuments«, das eine Zusammenarbeit Przewoźniks mit dem kommunistischen Sicherheitsdienst nahelegte, verdrängt. Kurtyka wurde daraufhin Leiter des Instituts. Przewoźnik hingegen nach einem gerichtlichen Prozess von den fabrizierten Vorwürfen (das »Dokument« erwies sich als Fälschung) lediglich freigesprochen. 30 Reinhold Vetter: Wohin steuert Polen? Das schwierige Erbe der Kaczyńskis, Berlin 2008, S. 76.

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Angst und der belagerten Festung. In dieser Sicht erscheint die liberale Seite als das schlechthin Böse, und ihre Anhänger sind Verräter, »nominelle Polen« (wie sie mit christlicher Liebe von den konservativen »wahren Polen« bezeichnet werden), heimat- und wurzellose Gesellen ohne Eigenschaften, die moralischen Relativismus predigen. Die Antikommunisten schlüpften zum Großteil in die ihnen zugeschriebene Rolle der »nationalen Bolschewiki« und übernahmen auch deren obskure Sprache. Dass sie abstoßend und kontraproduktiv wirkt, liegt auf der Hand. Mit der Gründung des IPN und des Museums des Warschauer Aufstandes31 (2003) bekam das konservative Modell der Geschichtspolitik Wind in die Segel. Sein intellektueller Wortführer, der in Deutschland lehrende Soziologe Zdzisław Krasnodębski, führte 2003 in seinem Buch Demokratie der Peripherien32 eine detaillierte Kritik der diesbezüglichen liberalen Positionen an und befürwortete eindeutig die Einmischung des Staates in diesen Bereich. Nach der Machtergreifung 2005 starteten die Brüder Kaczyński den Versuch, den Staat auch in dieser Hinsicht nach ihren Vorstellungen umzukrempeln und das konservative Modell offiziell zu etablieren. Zu den einschneidenden Maßnahmen sollte die lustracja gehören. Der Kreis der zu überprüfenden Personen wurde von 30.000 auf ca. 700.000 ausgeweitet. Diesem Coup der Brüder schob dann das Verfassungsgericht mit seinem Urteil vom Mai 2007 einen Riegel vor: »Nicht weniger als zwei Drittel der Artikel des Lustrationsgesetzes wurden durch das Gericht für verfassungswidrig erklärt.«33 Dem Eimer kalten Wassers auf die »revolutionäre Glut« der Kaczyńskis folgte alsbald der Verlust politischer Macht im Lande. Konservative Geschichtspolitiker mussten die Segel streichen. Die Tatsache allerdings, dass der Doppelherrschaft der Kaczyńskis ein rasches Ende gesetzt wurde, ist nicht dahingehend zu deuten, dass in Polen ein Linksruck stattgefunden hätte. Im Gegenteil, die Zivilgesellschaft zeigte ihre Stärke, indem sie bewies, dass sie imstande war, ihre Entscheidung vom Herbst 2005 zu korrigieren. »Wenn man sich daran erinnert«, kommentiert Reinhold Vetter, »wie lange westliche Demokratien mitunter brauchten und brauchen, um politische Fehlentwicklungen zu korrigieren, dann kann man nur den Hut ziehen vor den polnischen Wählern.«34 Ist die misslungene Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit als Ausdruck ihrer Verklärung in weiten Teilen der polnischen Bevölkerung zu deuten? Wiederum 31 Muzeum Powstania Warszawskiego. 32 Zdzisław Krasnodębski: Demokracja peryferii, Gdańsk 2003. 33 Reinhold Vetter: Wohin steuert Polen?, a.a.O., S. 77. 34 Ebenda, S. 195.

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nicht. Stabil vertrauen die Polen, nachdem sie 2007 die politischen Brandstifter ins Abseits schickten, die Geschicke des Landes und damit ihre eigenen, der liberal-konservativen Bürgerplattform von Premier Donald Tusk an. Für die Sünde, die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit nicht rechtzeitig aufgegriffen und diese in die effektiven legislativen Bahnen gelenkt zu haben (heute ist es hierfür in vielerlei Hinsicht schon zu spät), ist die gesamte politische Szene Polens an der Wiege der Dritten Republik verantwortlich. Die liberale Regierung unter Mazowiecki (1989/90) lehnte es ab, das konservative Kabinett unter Olszewski (1991/92) kompromittierte es, und die postkommunistische Linke, die 1993 an die Macht kam, interessierte sich aus verständlichen Gründen nicht dafür. Über das kommunistische Erbe und die Verbrechen der Kommunisten wird die historische Forschung urteilen müssen. Aber das Bewusstsein dafür, dass der Kommunismus eine geschichtliche Fehlentwicklung gewesen war, die zu keinem »neuen Menschen« führte, der Menschheit keinen »neuen Weg« wies, sondern eine Sackgasse war, ideell, politisch, wirtschaftlich etc. – dieses Bewusstsein ist in der polnischen Gesellschaft fest verankert.

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Beunruhigend banal. Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung und ihren Bildern

Im Frühjahr 2012 erregte eine Ausstellung in der Budapester Nationalgalerie nationales und auch internationales Aufsehen.1 Anlässlich der neuen Verfassung, welche das ungarische Parlament mit der Zweidrittelmehrheit der Fidesz unter Ministerpräsident Viktor Orbán kurz zuvor verabschiedet hatte, wurden von Januar bis August fünfzehn Gemälde zur jüngeren Geschichte Ungarns ausgestellt. In Auftrag gegeben hatte sie Imre Kerényi, Staatssekretär im ungarischen Kultusministerium, für die geradezu läppisch anmutende Summe von gut 20 Millionen Forint (zirka 70.000 Euro). Sie sollen der Auslegung der ungarischen Geschichte, wie sie in der Präambel zur neuen Verfassung festgeschrieben wird, einen wirkungsvollen bildlichen Ausdruck verleihen. Dahinter steht das erklärte Ziel, an den Historismus des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen und diesen in die Gegenwart zu verlängern. Gezeigt wurden die Gemälde zunächst in engem Zusammenhang mit einer neu konzipierten Ausstellung »Helden, Könige, Heilige. Bilder und Dokumente aus der ungarischen Geschichte«, in deren Zentrum das monumentale Wandbild zur ungarischen Landnahme von Mihály Munkácsy aus dem Jahr 1893 steht, das auch in jedem Schulbuch zu finden ist.2 Nach einer Reise durch die Provinz sollen sie ab 2014 dauerhaft im 1 Kerényi Imre megmutatja, mit vett, in: fn.hir24.hu vom 7. November 2011, online abrufbar unter: http://fn.hir24.hu/itthon/2011/11/06/kerenyi-imre-megmutatjamit-vett/ [28.01.2013]; Sztahovics Zsuzsa: Alaptörvény-illusztrációk Békéscsabán, in: hir6.hu vom 5. Oktober 2012, online abrufbar unter: http://hir6.hu/ cikk/70068/alaptorvenyillusztraciok_bekescsaban [28.01.2013]; Siehe auch die Podiumsdiskussion »Geschichtspolitik durch Auftragskunst – Ungarn seit 2010« vom 22. Mai 2012 am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) Leipzig, online abrufbar unter: http://www.uni-leipzig.de/~gwzo/images/GWZO_images/Verschiedenes/12_Podiumsdiskussion_ Ungarn.pdf [28.01.2013]. Ich danke Ferenc Laczó, Éva����������������������� �������������������������� Kovács und Thomas Bremer für hilfreiche Hinweise und Anregungen. 2 Ungarische Nationalgalerie: http://www.mng.hu/kiallitasok/idoszaki/aktualis/ hosok_nyito_en; http://www.mng.hu/kiallitasok/idoszaki/2/3030 [04.02.2013].

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Parlament gezeigt werden. Bereits jetzt zieren sie die Prachtausgabe der ungarischen Verfassung und knüpfen dort unmittelbar und in Farbe an eine Auswahl berühmter Historiengemälde des 19. Jahrhunderts an.3 Wie an kaum einem anderen Gegenstand lässt sich anhand dieser Gemälde die Verschränkung politischer und ästhetischer Dimensionen in der ungarischen Erinnerung an den Kommunismus aufzeigen, zumindest in ihrer konservativ-nationalen Ausprägung.4 Zugleich wirft die Ausstellung grundlegende Fragen nach dem nationalungarischen Geschichtsbild und seiner regierungsamtlichen Kanonisierung auf. In europaweit einmaliger Weise wird in der Präambel der neuen Verfassung festgeschrieben, wie die Epoche des Kommunismus fortan zu verstehen sei, nämlich als Teil einer tiefen moralischen Erschütterung der Nation im 20. Jahrhundert.5 Auffällig ist zunächst eine pathetisch bildhafte Sprache, die ihrerseits an das 19. Jahrhundert anknüpft und die Nation als lebendigen, leidenden Körper auffasst: »Wir, die Mitglieder der ungarischen Nation, erklären zu Beginn des neuen Jahrtausends, in der Verantwortung für alle Ungarn Folgendes: […] Wir leisten das Versprechen, dass wir die geistige und seelische Einheit unserer in den Stürmen des vergangenen Jahrhunderts in Stücke gerissenen Nation bewahren. Die mit uns zusammenlebenden Nationalitäten sind staatsbildender Teil der ungarischen politischen Gemeinschaft.[…]«6

Diese Passage bezieht sich ganz offenkundig, auch ohne ihn explizit zu nennen, auf den Frieden von Trianon des Jahres 1920. In ihrem Anspruch, eine Verantwortung für alle ethnischen Ungarn auch in den Nachbarländern wahrzunehmen, ist sie nicht minder problematisch als in der Unterscheidung von ungarischer Nation und ungarischer politischer Gemeinschaft. Damit werden die eigenen Minderheiten ausgegrenzt, von denen die der Roma mit offiziell etwa zwei Prozent, tatsächlich wohl eher vier bis fünf Prozent der 3 Balázs Feledy/Imre Kerényi/László Tőkéczki/Gábor Bencsik (Hg.): Magyarország Alaptörvénye. (2012.január 1.): díszkiadás, Budapest 2011, S. 112–143. 4 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln 1994, S. 3–26. 5 Joachim von Puttkamer: Blicke auf ein gespaltenes Land. Die ungarische Nation und ihre Geschichte, in: Manfred Sapper/Volker Weichsel (Hg.): Quo vadis Hungaria? Kritik der ungarischen Vernunft, in: Osteuropa Nr. 12/2011, S. 9–28. 6 Gott segne die Ungarn! Nationales Bekenntnis. Präambel des Grundgesetzes von Ungarn, in: Ebenda, S. 29–30.

Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung

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Bevölkerung die zahlenstärkste ist. Die »Stürme des vergangenen Jahrhunderts« beziehen sich jedoch nicht allein auf den Ersten Weltkrieg und seine unmittelbaren Folgen. Die Verfassungspräambel rückt vielmehr den Bruch historischer Kontinuität in den Mittelpunkt, der durch die deutsche Besatzung im März 1944 und die anschließende Besatzung durch die Rote Armee eingetreten sei: »Wir erkennen die infolge der Besetzung durch fremde Mächte eingetretene Aufhebung unserer historischen Verfassung nicht an. Wir lehnen die Verjährung der gegen die ungarische Nation und ihre Bürger während der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktatur begangenen unmenschlichen Verbrechen ab. Wir erkennen die kommunistische Verfassung aus dem Jahre 1949, die die Grundlage einer Willkürherrschaft bildete, nicht an. Daher erklären wir ihre Ungültig­ keit.«7

Auch hier fällt auf, dass über die einzelnen Bürger hinaus die Nation als Kollektiv zum Opfer erklärt wird. Folgerichtig legt die Formulierung nahe, dass die Urheberschaft der Verbrechen außerhalb der Nation gesucht werden müsse. Ungarns Rolle als Bündnispartner NS-Deutschlands wird somit in ihr Gegenteil verkehrt, und die Deportation und Ermordung der ungarischen Juden geht bis zur Unkenntlichkeit in einer überhöhten nationalen Opfergemeinschaft auf. Neben der Lagerhaft und den Schauprozessen der stalinistischen Jahre könnten je nach Lesart selbst die Ungarndeutschen, die zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden, in diesen weiten Opferbegriff eingehen. Nur die inzwischen auch öffentlich verurteilte Vertreibung der Deutschen aus Ungarn lässt sich bei genauer Lektüre kaum unter die ansonsten bewusst pauschal gehaltene Formulierung fassen. Nationalsozialistische und kommunistische Herrschaft werden ohne weitere Differenzierung als Kontinuum beschrieben. In den anschließenden Passagen werden schließlich die Revolution von 1956 wie das erste freigewählte Parlament gleichermaßen als Quellen freiheitlicher Überwindung der kommunistischen Diktatur in Ungarn benannt: »Wir stimmen mit den Abgeordneten des ersten freien Parlaments überein, die in ihrem ersten Beschluss deklariert hat, dass die heutige Freiheit unserer Revolution von 1956 entsprungen ist. Für uns gilt die Wiederherstellung der am neunzehnten März 1944 verloren gegangenen staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat ab dem zweiten Mai 1990, von der Bildung der ersten frei gewählten Volksvertretung an. Diesen Tag

7 Ebenda, S. 30.

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betrachten wir als Beginn der neuen Demokratie und verfassungsmäßigen Ordnung unserer Heimat. Wir bekennen uns dazu, dass nach den zur moralischen Erschütterung führenden Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts unsere seelische und geistige Erneuerung unbedingt notwendig ist. […]«8

In der Lesart der Verfassung wurde das Ende der Diktatur zwar bereits 1990 besiegelt, ihre Folgen seien jedoch bis heute nicht überwunden, die innere Erneuerung der zutiefst erschütterten Nation stehe noch aus. Diese innere Genesung einzuleiten, kann als das programmatische Ziel der neuen politischen Ordnung gesehen werden, welche durch die Verfassung dauerhaft begründet werden soll. Der eingangs erwähnte Gemäldezyklus ist als Versuch zu sehen, die in der neuen Verfassung ausformulierte Deutung der nationalen Geschichte ikonographisch zu fassen, sie in visuell einprägsamen Bildern zu fixieren. Er kann durchaus als Darstellung eines Kreuzweges verstanden werden, der die Stationen einer nationalen Leidensgeschichte zeigt. Dann wäre die neue Verfassung, auf die das fünfzehnte und letzte Bild verweist, als eine Art Auferstehung zu betrachten. Doch der Reihe nach. Der Zyklus beginnt mit dem Gemälde von Gábor Szinte »A dualizmus kora (1867–1914)« (Die Ära des Dualismus). Es zeigt eine vermeintlich heile, beinahe noch harmonische Welt. Im Vordergrund sind vier prominente Politiker des letzten Vorkriegsjahrzehnts im entspannten, ernsten Gespräch vereint; die drei Ministerpräsidenten Széll, Wekerle und Tisza sowie der langjährige Minister Apponyi. Im Hintergrund vereinen Postkutsche und Straßenlaterne die nostalgische Erinnerung an die vorindustrielle Ordnung mit der aufziehenden Moderne. Dunkle, tanzende Figuren bringen Unruhe ins Bild. In starkem Kontrast zu dem grünen Garten steht der flammend rote Himmel. Er verleiht der Abendstimmung etwas Bedrohliches. Zeitlich ist die Szene im Jahr 1906 angesiedelt, im Jahr der großen ungarischen Staatskrise, welche die im Ausgleich von 1867 fixierte politische Ordnung des Dualismus noch einmal gegen die Sprengkraft eines überbordenden Nationalismus behauptete. Indem das Bild herausragende Figuren unterschiedlicher politischer Gruppierungen vereint, betont es die Fähigkeit großer Staatsmänner, in der Einigung die Nation zu führen. Staatssekretär Kerényi bezeichnete das Gemälde gar als eine Art Heiligenbild.9

8 Ebenda. 9 Anita Vorák: Orbán Viktor »valahogy odapottyant« – interjú az alaptörvényt népszerűsítő Kerényi Imrével, in: origo.hu vom 26. November 2011, online abruf-

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Das zweite Gemälde, »Az első világháború (1914–1918)« (Der Erste Weltkrieg) von Győző Somogyi, zeigt den Husarenangriff von Gorodok im August 1914, als die alte, bunte ungarische Reiterei in einem gleichermaßen heroischen wie militärisch sinnlosen Ritt im Feuer der russischen Artillerie unterging. Die naiv anmutende Farbenfreude ertrinkt in einem Strom von Blut. Der rot-schwarze Reiter im oberen rechten Bildfeld erhält apokalyptische Züge, er verweist auf Krieg, Hunger und Tod. Das dritte Gemälde von Sándor Filep »A tanácsköztársaság (1919)« (Die Räterepublik) zitiert ein zeitgenössisches Plakat. Heimkehrende Frontsoldaten, so Kerényis Deutung, streifen orientierungslos durch Budapest. Die Monarchie, die dem Vaterland Ordnung gab, ist verschwunden.10 »Zu den Waffen!« brüllt der Unhold der Revolution. Aus seinen Pfoten tropft Blut und formt sich zur Ikonographie des Bolschewismus. Die proletarische Räterepublik wird zu einem Blutbad, verübt an einer verunsicherten Nation. Im nächsten Gemälde, »Trianon (1920)« von Tibor Kiss, begegnet uns noch einmal Albert Apponyi. Als Repräsentant des historischen Ungarns nimmt er, der in Trianon die ungarische Delegation anführte, erstarrt und mit einem Rest an Würde die Bedingungen entgegen, die Clemenceau ihm diktiert. Die aufgeplatzte, zerstörte Ordnung der Welt wird von zwei Revolutionären umrahmt, welche den Betrachter anblicken. Am rechten Bildrand ist es Graf Mihály Károlyi, dem als Anführer der demokratischen Asternrevolution mit dem Zirkel ein Symbol des Konstruktiven, aber auch der Freimaurerei beigegeben ist. Letzteres wird durch das Winkelmaß verstärkt. Dieses verbindet Károlyi mit Béla Kun, dem Führer der Räterepublik auf der linken Seite des Globus. Ihn kennzeichnen die rote Krawatte und die destruktive Granate. Symbolträchtig tritt er zwischen Clemenceau und Apponyi, durchbricht das Diktat der Westmächte und verstärkt doch nur den Eindruck ungarischer Hilflosigkeit. Dem antisemitischen Blick mag Kun als Verkörperung des jüdischen Bolschewismus erscheinen. Im Hintergrund entschwebt die Stefanskrone einem bedeutungslos gewordenen König. Nicht minder symbolbeladen ist Mózes Inczes »Horthy Miklós kora (1919–1944)« (Die Ära Miklós Horthy). Im Hintergrund versinkt die havarierte Novara, das Flaggschiff des ehemaligen Admirals. Der Reichsverweser reitet durch eine aus den Fugen geratene Welt auf den Betrachter zu. Der Weg in die industrielle Moderne erweist sich als totes Gleis.11 Anonyme Kräfte bar unter: http://www.origo.hu/itthon/20111126-uj-alaptorveny-diszito-festmenyek-interju-kerenyi-imre-rendezovel.html [28.01.2013]. 10 Ebenda. 11 Ebenda.

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halten sein Pferd zurück. Der Schimmel gehört zur traditionellen Ikonographie Horthys. So wie der Sage nach ein weißes Pferd den Anspruch der landnehmenden Magyaren auf ihre neue Heimat verkörperte, so war Horthy auf einem Schimmel – im November 1919 nach der Niederlage der Räterevolution in Budapest –, im Oktober 1938 und im September 1940 in Städten wie Komorn (Komárno/Komárom) und Kaschau (Košice/Kassa), Sathmar (Satu Mare/Szatmárnémeti) und Klausenburg (Cluj/Kolozsvár) eingeritten, die durch die beiden sogenannten Wiener Schiedssprüche wieder an Ungarn gefallen waren.12 Wie schon bei Munkácsy verweist der Schimmel somit auch in diesem Gemälde auf die historischen Gebietsansprüche Ungarns, also auf den ungarischen Revisionismus sowie mittelbar auf den Weißen Terror. Eine offen religiöse Bildsprache wählt das Gemälde von Tibor Bráda »A második világháború (1939–1945)« (Der Zweite Weltkrieg). Es zeigt eine Madonnenfigur im Bombenhagel, die ihr weißes Gewand schützend über ihre drei Kinder legt. Sie korrespondiert mit der Grablege des erschlagenen Soldaten. Der Budapester Kunsthistoriker József Mélyi hat dieses Bild als den eigentlichen Skandal der Ausstellung bezeichnet. Denn es verkehre die Familiengeschichte des Malers, dessen Vater als ungarischer Sanitätssoldat im thüringischen Nordhausen diente und dort bei einem Luftangriff im April 1945 ums Leben kam, in eine absurde Allegorie: Die Madonna als Patronin Ungarns ist schutzlos amerikanischen Bombenangriffen ausgeliefert, der ungarische Soldat wird zum wehrlosen Kriegsopfer. Damit ähnele das Gemälde in unerträglicher Weise dem Geschichtsbild deutscher Rechtsradikaler. Skandalös sei es vor allem deshalb, weil der ungarische Regierungsapparat offenbar nicht mehr auf den Einspruch besonnener Fachurteile höre, welche solche Absurditäten bislang verlässlich hätten verhindern können.13 Eine entgegengesetzte Aussage vermittelt das Gemälde von László Gyémánt »Holokauszt (1944–1945)« (Holocaust). Es zeigt die ungarischen Juden als Leidensgemeinschaft; klagend treten sie dem Betrachter gegenüber, zum Betrachter hin werden sie in den Tod gedrängt. Aus der großen Zahl anonymer Opfer treten einige Individuen hervor. Die Häftlingskleidung verweist auf das KZ, im Vordergrund tragen auch unschuldig blickende Kinder den gelben Stern. Individuelle Gesichter hatte sich Staatssekretär Ke��� rényi als Auftraggeber gewünscht, »nicht schwarze Betonwürfel oder Ske-

12 Thomas Sakmyster: Miklós Horthy. Ungarn 1918–1944, Wien 2006, S. 50, S. 219 und S. 245. 13 József Mélyi: Bombák az alaptörvényben, in: Mozgó Világ 2013/2. Ich danke József Mélyi für den vorab ermöglichten Zugang zu dem Manuskript.

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lette, vor denen man sich entsetzt«.14 In der rechten unteren Ecke sind mehrere nichtjüdische Personen zu erkennen, welche den Strom der Häftlinge als Zuschauer betrachten oder ihm als Mittäter Richtung geben. Einer davon ist durch seine Armbinde eindeutig als Pfeilkreuzler gekennzeichnet. Hinter ihm steht ein Geistlicher, der an dem Geschehen missbilligend vorbeiblickt. Sein weißes Gewand, besonders die Scheitelkappe, deutet auf den Papst hin, die Gesichtszüge sind jedoch nicht eindeutig Pius XII. zuzuordnen. In dieser Ambivalenz verweist die Figur vielmehr auf die gesamte katholische Kirche und ihre auch in Ungarn widersprüchliche Haltung zum Holocaust. Gyémánt selbst erläutert sein Gemälde als Illustration von János Pilinszkys Mahnung, die Christenheit müsse auch von der Schande und dem Skandal von Auschwitz sprechen.15 Auch die übrigen Porträts benennen Akteure, ohne identifizierbare Personen zu zeigen. Dominiert wird dieser Teil des Bildes vielmehr von dem schattenhaft gebrochenen Antlitz eines ungarischen Soldaten, der den Betrachter durch seinen nachdenklichen Blick geradezu herausfordert. Offen thematisiert das Gemälde so die Frage nach der ungarischen Mitverantwortung für den Holocaust und spitzt diese sogar noch zu. Denn deutsche Täter werden nicht gezeigt. Hier, und nur hier, wird die Darstellung Ungarns als nationale Opfergemeinschaft wirksam durchbrochen, die ansonsten den gesamten Zyklus dominiert. Dániel Lászlós Gemälde »Rákosi Mátyás kora (1949–1953)« (Die Ära Mátyás Rákosi) fällt hingegen wieder ganz in die Eindeutigkeit der nationalen Opfergemeinschaft zurück. Das untere Drittel zeigt einen geschundenen Häftling, der totengleich am Boden einer Verhörzelle liegt. Mit schmalen Augen blickt Mátyás Rákosi von einem übergroßen Propagandafoto auf die Szene. Die Kälte seines Blickes kontrastiert mit der Wärme, die der mitleidend im Gebet versunkene Kardinal Mindszenty ausstrahlt. Dieser verkörpert den ungebrochenen moralischen Widerstand der Nation gegen die brutale Unterwerfung. Mindszenty war nach seiner Verhaftung im Dezember 1948 selbst in der Zentrale der ungarischen Staatssicherheit in der Andrássy út 60 verhört und gepeinigt worden. Heute beherbergt dieses Gebäude mit dem »Haus des Terrors« den Zentralort der nationalungarischen Erinnerung an die kommunistische Diktatur.16 Dessen anklagende Diktion wird in diesem Gemälde so weit als möglich verdichtet. 14 Kerényi Imre megmutatja, mit vett, in: fn.hir24.hu vom 7. November 2011, a.a.O. 15 Feledy u. a. (Hg.): Magyarország alaptörvénye, a.a.O., S. 125. 16 Haus des Terrors: http://www. Terrorhaza.hu; István Rév: The Terror of the House, in: Robin Ostow (Hg.): (Re)Visualizing National History, Toronto 2008, S. 47–89.

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Mit dieser Anklage korrespondiert das Gemälde von Imre Kocsis »Forradalom �������������������������������������������������������������� és������������������������������������������������������������ szabadságharc kora (1956)« (Die Ära der Ungarischen Revolution). Es zeigt eine irritierende Collage von Fotos und Zeichnungen. In der linken Bildhälfte dominiert jugendlicher Ernst, die größere, rechte Hälfte zeigt ängstliche Sorge, kämpferische Entschlossenheit, Trauer und Tod. Die klassische Ikonographie des revolutionären Aufbegehrens von 1956, der Straßenkampf gegen sowjetische Panzer, die nationale Symbolik und vor allem Imre Nagy als tragisch gescheiterte Führungsfigur fehlen völlig. Vermittelt wird ein Bild unaufdringlichen Heldentums breiter Bevölkerungsschichten. Krisztina Rényis Gemälde »Kádár János kora (1956–1989)« (Die Ära János Kádár) spielt auf die Leidenschaft des ansonsten nicht gerade intellektuell wirkenden Parteichefs für das Schachspiel an. Der Papierhut, gefaltet aus der sowjetischen Komsomolskaja Prawda, macht ihn zum bösen Narren. Im düsteren Wald stehen zwei Galgen und eine sowjetische Rakete. Die aufgespießten Konsumversprechen des ungarischen Sozialismus verweisen auf eine wertlose Kunstwelt. Kádár spielt ein kompliziertes Spiel ohne Gegenüber, den gegnerischen König hat er bereits geschlagen. Dessen blutrote Standfläche verweist auf den hingerichteten Imre Nagy. Kádár habe Blut an den Händen gehabt, kommentierte Staatssekretär Kerényi die Auswahl dieses Bildes; er habe seinen Weg bis zum bitteren Ende gehen müssen.17 Denn in kaum zu überbietender Symbolik starb János Kádár genau an dem Tag, dem 6. Juli 1989, als Imre Nagy vom Obersten Gericht Ungarns förmlich rehabilitiert wurde. Wenige Tage zuvor, am 16. Juni 1989, war es anlässlich der Umbettung von Imre Nagy am Budapester Heldenplatz zu einer Massenkundgebung mit Hunderttausenden Teilnehmern gekommen, welche das nahe Ende der kommunistischen Ordnung nun auch öffentlich sichtbar machte. Diese Veranstaltung zeigt das Gemälde von Tamás Galambos »Nagy Imre ujratemetése (1989)« (Die Wiederbestattung von Imre Nagy). Der Eindruck des Naiven wird bewusst erzeugt. Das Chamäleon als Symbol des Wendehalses spielt überdeutlich darauf an, dass der gesamte Systemwechsel kaum mehr als eine naive Illusion gewesen sei. Das gesamte Bild sei voller Sarkasmus, so Staatssekretär Kerényi. Somit verherrliche es auch keineswegs Viktor Orbán, der sich als Hauptredner der Kundgebung unschwer identifizieren lässt. Vielmehr sei der heutige Regierungschef unvermeidlich in das Bild »hinge­ plumpst«.18 Auf die atemberaubende Schlichtheit dieses Kunstverständnisses wird noch zurückzukommen sein. 17 Anita Vorák: »valahogy odapottyant«, a.a.O. 18 Ebenda.

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Das Gemälde von Gábor Atlasz »Nemzeti Színház (1837–2002)« (Das Nationaltheater) zeigt in der oberen Bildhälfte das neue, 2002 eröffnete Nationaltheater. Vor ihm breitet sich das alte Volkstheater als flache Folie am Boden aus. In diesem Gebäude hatte das ungarische Nationaltheater seine Blütezeit erlebt, bevor es 1965 wegen eines U-Bahn-Baus gesprengt wurde. Die Kontinuität ungarischer Theaterkultur, die bis in das Gründungsjahr 1837 zurückreicht, wird auch über die sozialistische Epoche hinweg nicht durch die Gebäude, sondern durch seine herausragenden Persönlichkeiten verkörpert. Wie auf einer Bühne sind in dem Ensemble bekannte ungarische Theater- und Filmschauspieler versammelt, unter anderem Zoltán Latinovits, Lujza Blaha, Róza Déryné, Hilda Gobbi, Imre Sinkovits und Ferenc Bessenyei.19 Gemeinsam blicken sie den Betrachter an. Deutlich provokativer ist János Korényis Gemälde »Lovasroham (2006. Október 23)����������������������������������������������������������������� « (�������������������������������������������������������������� Attacke zu Pferde). Es zeigt den heiligen Georg in Polizeiuniform als schwarzen apokalyptischen Reiter. Statt des Drachens tötet dieser eine unschuldige Jungfrau. Die Szene ist am 23. Oktober 2006 angesiedelt, dem 50. Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956. An diesem Tag war die Polizei äußerst gewaltsam gegen eine Kundgebung vorgegangen. Zuvor hatten Demonstranten das Fernsehgebäude zu stürmen versucht und so durch eine Reinszenierung der Ereignisse von 1956 eine direkte Verbindung von der kommunistischen Diktatur zur sozialistisch geführten Regierung unter Ferenc Gyurcsány gezogen. Gezeigt wird ein Martyrium. Auf dem schwarz hinterlegten Rahmen verstärken weitere Reiter den martialischen Eindruck. Es macht das Gemälde durch seine folkloristischen Motive und durch weitere Verweise auf das Jahr 1956, auf Entsetzen und Trauer zu einem düsteren, nationalen Heiligenbild.20 Weniger eindeutig ist das Gemälde »A vörös iszap (2010. Október 4.)« (Der Rotschlamm) von József Szentgyörgyi. Es zeigt die Schlammflut vom 4. Oktober 2010, als der Damm eines Aluminiumwerkes bei dem westungarischen Dorf Kolontár brach und hochgiftige Ablagerungen mehrere Gemeinden überschwemmten. Auf den ersten Blick thematisiert das Gemälde schlicht eine Unfallkatastrophe und verschließt sich einer politischen Deutung, zumal Viktor Orbán bereits fünf Monate zuvor sein Amt als Regierungschef einer rechtskonservativen Regierung angetreten hatte. In einem symbolischen Sinne 19 Identifiziert nach András Földes/Gábor Miklósi/László Szhily: Orbán Viktor egy kaméleon mellett kerül be az Alkotmányba, in: Index vom 8. November 2011, online abrufbar unter: http://index.hu/belfold/2011/11/08/orban_viktor_ kameleon_kepeben_kerul_az_alkotmanyba/ [28.01.2013]. 20 Anita Vorák: »valahogy odapottyant«, a.a.O.

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lässt sich das Gemälde dennoch auch politisch lesen. Es zeigt einen Schutzengel, nur dieser schützt den dörflichen familiären Alltag mit seinen mächtigen, durch dunkle Schatten noch verstärkten Schwingen vor der roten Flut. Das Gemälde von Iván Szkok »Új alkotmány születik (2011. Április 25.)« (Eine neue Verfassung wird geboren) beschließt den Zyklus. Es existiert in zwei Versionen. Die zunächst ausgestellte, unvollendet gebliebene Fassung zeigt in der unteren Bildhälfte die Verfassung und ihre Väter. Der HonvédSoldat verweist auf die Traditionslinien zur Revolution von 1848. Ihre Legitimation erhält sie hingegen erst durch König Stephan den Heiligen, der ihr durch sein Schwert historische Gültigkeit verleiht. Schattenhaft ist neben dem Staatsgründer Ungarns der Papst zu erkennen, der seine segnenden Hände über die Szene hält. Die spätere Fassung reduziert König Stephan auf die Heilige Krone als Symbol ungarischer Staatlichkeit und verzichtet auf das Schwert. Der Zwischenraum zwischen der mythischen Gründungszeit des ungarischen Staates und der neuen Verfassung wird nun durch eine Auswahl ungarischer Staatsmänner und Schriftsteller, Wissenschaftler und Komponisten gefüllt. Zwischen Ferenc Rákóczy und Lajos Kossuth, Endre Ady und Attila József, Béla Bartók und Franz Liszt, Ignác Semmelweis und Eduard Teller finden sich auch Imre Nagy und József Antall unter den traditionsstiftenden Helden Ungarns, welche die Nation durch die Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten hätten. Wie ein Banner durchwebt ein Spruch das Gemälde: »Ungarns Grundgesetz: das ungarische Land ist heiliges Land.«21 Ergänzt wird der Gemäldezyklus, den Staatssekretär Kerényi in Auftrag gegeben hatte, durch den Gewinner eines Malwettbewerbs für Kinder unter dem Titel »Ungarns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« aus dem Jahr 2011. Das Bild der vierzehnjährigen Réka Barta zeigt ein farbenfrohes Familienidyll. Auf dem Spielplatz zwischen gediegenen Einfamilienhäusern schaukelt ein kleines Mädchen. Das kleine Geschwisterchen sitzt im Kinderwagen, schützend hält der Vater den Arm um seine erneut schwangere Frau.22 Somit verbürgt das Bild den konservativen Gesellschaftsentwurf, welcher der Verfassung zugrunde liegt, ebenso wie die naive, fast schon kitschige intellektuelle Harmlosigkeit ihrer Bebilderung. Die Geschichte, die dieser Gemäldezyklus erzählt, deckt sich in vielen Punkten mit der Verfassungspräambel, und ist doch eine andere. Mit ihren religiösen Bezügen, der Inszenierung als Kreuzweg, den Verweisen auf Heilige, 21 Feledy u. a. (Hg.): Magyarország alaptörvénye, a.a.O., S. 140–141. 22 Ebenda, S. 142; Kövesdi diáklány rajza az alaptörvényben, in: Mezőkövesd vom 24. Januar 2012, online abrufbar unter: http://www.mezokovesd.hu/index.php? action=showart&id=609 [30.04.2013].

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Schutzengel, auf Kardinal Mindszenty und den Papst, ist sie sehr viel katholischer eingefärbt als es die Verfassung je sein könnte. Mit dem Holocaust wie mit der stalinistischen Gewaltherrschaft unter Mátyás Rákosi ist zwar unschwer zu erkennen, was die Verfassung unter den an der ungarischen Nation und ihren Bürgern begangenen unmenschlichen Verbrechen versteht. Von einem Bruch historischer Kontinuität, erst durch die deutsche und dann durch die sowjetische Besatzung, ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht die Rede, beide kommen in den Gemälden gar nicht vor. Nur in der Darstellung der Ära Kádár findet sich ein Verweis darauf, dass die sozialistische Einparteienherrschaft letztlich von der sowjetischen Militärmacht getragen wurde. Nicht der Bruch historischer Kontinuität, sondern der Leidensweg der ungarischen Nation durch die Stürme des 20. Jahrhunderts ist das Leitmotiv des Gemäldezyklus. Juristische Fiktionen lassen sich nicht bebildern. Bei genauer Betrachtung lässt der Gemäldezyklus vielmehr die eigentlich neuralgischen Punkte im nationalkonservativen ungarischen Geschichtsbild erkennen, nämlich die Frage nach der Rolle Ungarns im Zweiten Weltkrieg und einer antisemitisch motivierten Beteiligung am Holocaust sowie nach dem Charakter des Systemwechsels von 1989. Zum Zweiten Weltkrieg nehmen die Gemälde von Tibor Bráda und László Gyémánt in höchst widersprüchlicher Weise Stellung. Während Brádas Gemälde die in der Präambel angelegte Verkehrung Ungarns zu einem Opfer des Weltkriegs in absurder Weise überspitzt, wird diese Sicht durch Gyémánts Darstellung des Holocaust gebrochen. Bezüglich der Wertung des Jahres 1989 weicht der Gemäldezyklus sogar erheblich von der Verfassungspräambel ab. Denn von einer freiheitlichen Überwindung der kommunistischen Diktatur ist in den Bildern zur Revolution von 1956 und zum 1989 eingeleiteten Systemwechsel nur in Anklängen die Rede. Vielmehr entsteht ein Eindruck von Kontinuität über das Jahr 1989 hinaus bis in die Gegenwart. Damit bedient der Zyklus den Topos der »unvollendeten Revolution« und spielt mit einer Ambivalenz in der Deutung des Jahres 1989, das Ungarn in europäischer Perspektive als Vorreiter freiheitlicher Demokratie begreift und den Systemwechsel zugleich scharf als unvollständig kritisiert.23 Einig sind sich Verfassungstext und Gemäldezyklus darin, dass erst die neue Verfassung eine politische Ordnung begründe, die sich im Einklang mit ihren mythischen geschichtlichen Grundlagen befinde und so die angestrebte moralische Genesung der Nation verbürge. Die Reaktion der ungarischen Öffentlichkeit dürfte weit hinter dem zurückgeblieben sein, was sich Staatssekretär Kerényi als Auftraggeber erhofft 23 James Mark: The Unfinished Revolution. Making Sense of the Communist Past in Central Eastern Europe, New Haven 2010.

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haben mag. Manche Zeitungen gossen Hohn und Spott über den Zyklus und machten sich über die allzu simple Bildsprache einzelner Gemälde lustig.24 Der Kunsthistoriker András Rényi mochte zwar eingestehen, dass die politische Rechte die starke Macht visueller Symbole erkannt habe, aber erbärmlich daran gescheitert sei, sie zu nutzen. Nicht die Gemälde selbst seien das Problem, sondern die zynische Verachtung der Intellektuellen, die aus dieser Form von »Schund-Mäzenatentum«, aus der »Parodie einer autoritären, administrativen, höfischen Kunst« spreche. Viktor Orbán verschleudere so die letzten Reste symbolischen Kapitals.25 Der ungarische Versuch, ein regierungsamtlich verordnetes Geschichtsbild mit Mitteln der Staatskunst festzuschreiben, ist in den demokratischen Ländern Europas einmalig. Die Widersprüche in den Narrativen von Verfassungspräambel und Gemäldezyklus machen deutlich, dass dieses Geschichtsbild keineswegs konsistent ist. Die politische Absicht wird hier mit Mitteln der Kunst auf eher ungewollte Weise unterlaufen. Die wechselseitige Kon­ trolle der politischen, der ästhetischen und der kognitiven Dimensionen von Geschichtskultur kommt somit auf andere Weise zum Tragen als durch ihre postulierte idealtypische Autonomie.26 Vielmehr mag der Dilettantismus, mit dem die ungarische Regierung in diesem Falle vorgegangen ist, als einzig wirksame Garantie gegen die versuchte Ideologisierung der nationalen Geschichte mit ästhetischen Mitteln gelten. Eine seelische und geistige Erneuerung der Nation, wie sie die Verfassung proklamiert, wird sich mit diesen Gemälden schwerlich erreichen lassen. Ohnehin widerstrebt schon die Absicht den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft, die sich im zivilgesellschaftlichen Diskurs selbst konstituiert. Mit ihrem Leitbild von der Nation als gesunder Organismus gehört sie zum Vokabular des Autoritären. So zeigen die Gemälde vor allem eine gleichermaßen naive wie zynische Sehnsucht nach dem 19. Jahrhundert. Sie illustrieren eine Geisteshaltung, die sich bewusst in Gegensatz zu einer liberalen, europäischen Moderne und ihrer vermeintlich postmodernen Beliebigkeit setzt. Ob sich Staatssekretär Kerényi und mit ihm die Regierung Orbán mit diesen Gemälden lächerlich gemacht haben, sei hier dahingestellt. Grund zur Beruhigung wäre das nicht. 24 ������������������������������������������������������������������������������� Kerényi Imre megmutatja, mit vett, a.a.O.; Földes u. a.: Orbán Viktor egy kaméleon mellett kerül be az Alkotmányba, a.a.O; Visszakézből Kerényinek – az ellenkiállítás, in: Nepszabadságonline vom 1. Dezember 2011, online abrufbar unter: http://nol.hu/belfold/megnyilt_a_kerenyi-festmenyek_ellentarlata [04.02.2013]. 25 András Rényi: Staatskunst und ihre Abgründe. Ein Gespräch über den Geist der Zeit, in: Sapper/Weichsel (Hg.): Quo vadis Hungaria? a.a.O., S. 393–400, Zitat S. 397. 26 Jörn Rüsen, Was ist Geschichtskultur, a.a.O.

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Abb. 1

Gábor Szinte: A dualizmus kora (1867–1914)/Die Ära des Dualismus

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Abb. 2

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Dr. Győző Csaba Somogyi: Az első világháború (1914–1918)/Der Erste Weltkrieg

Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung

Abb. 3

Sándor Filep: A tanácsköztársaság (1919)/Die Räterepublik

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Abb. 4

Joachim von Puttkamer

Tibor Kiss: Trianon (1920)/Trianon

Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung

Abb. 5

Mózes Incze: Horthy Miklós kora (1919–1944)/Die Ära Miklós Horthy

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Abb. 6

Joachim von Puttkamer

Tibor István Bráda: A második világháború (1939–1945)/Der Zweite Weltkrieg

Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung

Abb. 7

László Mihály Gyémánt: Holokauszt (1944–1945)/Holocaust

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Abb. 8

Joachim von Puttkamer

Dániel László: Rákosi Mátyás kora (1949–1953)/Die Ära Mátyás Rákosi

Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung

Abb. 9 Imre Kocsis: Forradalom és szabadságharc kora (1956)/Die Ära der Ungarischen Revolution

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Joachim von Puttkamer

Abb. 10 Krisztina Rényi: Kádár János kora (1956–1989)/Die Ära János Kádár

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Abb. 11 Tamás Galambos: Nagy Imre ujratemetése (1989)/Die Wiederbestattung von Imre Nagy

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Abb. 12 Gábor Atlasz: Nemzeti Színház (1837–2002)/Das Nationaltheater

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Abb. 13 János Korényi: Lovasroham (2006. Október 23)/Attacke zu Pferde

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Abb. 14 József Szentgyörgyi: A vörös iszap (2010. Október 4.)/Der Rotschlamm

Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung

Abb. 15 Iván Szkok: Új alkotmány születik (2011. Április 25.)/Eine neue Verfassung wird geboren

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Gilbert Merlio

Der Kommunismus in der Geschichtskultur Frankreichs

»Warum haben wir nicht gewußt, was wir wußten? Warum haben wir nicht gewußt, was wir nicht wußten? Warum ist selbst unser Erinnern selektiv?« (Joachim Gauck)1

Von den 1930er bis zu den 1980er Jahren ist die Kommunistische Partei Frankreichs (Parti Communiste Français, PCF) eine der bedeutendsten Akteure des politischen Lebens in Frankreich gewesen. Unmittelbar nach der Libération, 1946, bekam die PCF bei den Wahlen zur Nationalversammlung fast 28,6 Prozent der Wählerstimmen. Die Mitgliederzahl belief sich auf 800.000. Die Partei stellte sieben Minister und drei Staatssekretäre. Es fehlte wenig und ihr Generalsekretär Maurice Thorez wäre Ministerpräsident (damals das mächtigste Amt der Republik, ver­gleich­ bar dem Bundeskanzler in Deutschland) geworden. Er hatte immerhin in der Regierung den Rang eines Staatsministers inne. Noch im Jahre 1981 erhielt der Kandidat der Kommunisten Georges Marchais bei der Präsidentschaftswahl 4.412.000 Stimmen. Seit diesem Jahr hat die Partei 83 Prozent ihrer Wähler verloren. Bei der Präsidentschaftswahl vom Frühjahr 2007 stimmten nur noch 707.000 Wahlberechtigte für die damalige Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Marie-George Buffet, was einem Anteil von 1,9 Prozent aller abgegebenen Stimmen entsprach. Nur 4 Prozent der Arbeiter hatten ihre Stimmen für sie abgegeben.2 Im vergangenen Jahr verzichtete die Partei darauf, einen eigenen Kandidaten zu nominieren. Sie unterstützte Jean-Luc Mélenchon, den Kandidaten der »Linken«. Dieser kurze Abriss zur Parteiengeschichte beinhaltet drei Fragen: 1. Woraus resultierte diese beachtliche Größe der Kommunistischen Partei in einer 1 Joachim Gauck: Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung, in: Stéphane Courtois u. a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Mit dem Kapitel »Die Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR« von Joachim Gauck und Ehrhart Neubert, 5. Aufl., München 1998, S. 885– 894, hier S. 885. 2 Stéphane Courtois: Le bolchevisme à la française, Paris 2010, S. 7.

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westlichen Demokratie? 2. Wovon rührt ihr heutiges Elend her? 3. Was bleibt heute vom Kommunismus übrig?

1. Glanzzeit der PCF Zusammen mit den Gaullisten waren die Kommunisten aus dem Krieg als Sieger hervorgegangen. Trotz des Schwankens der Parteiführung zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, hatten sie sich intensiv und wirksam an der Résistance beteiligt. Die Kommunisten gehörten wie die Gaullisten zu den Befreiern Frankreichs und hatten von nun an ihren wesentlichen Anteil an dem Gründungsmythos eines Nachkriegsfrankreichs, das sich selbst als Widerstandsnation zelebrierte. Andererseits hatte Stalingrad und überhaupt der Sieg Stalins im Krieg gegen Hitler den Verrat von 1939 vergessen lassen und die Sympathie vieler Franzosen für die Sowjetunion geweckt. Im Zeichen des »antifaschistischen Kampfes« genoss diese damals den Ruf einer großen demokratischen Nation. Dabei hatte übrigens die UdSSR die traditionelle Rolle Russlands in der Einkreisung und Abwehr der deutschen Gefahr weiterhin gewährleistet. Die Angst vor einem kommunistischen Regime, die vor dem Krieg bei vielen präsent war, wurde so in den Hintergrund gedrängt. Zu dieser Glanzzeit wusste die Partei mit Hilfe von linientreuen, aber talentierten Historikern ihre glorreiche Legende zu kultivieren, und auch die offizielle Geschichtsschreibung blieb nicht davon unbeeinflusst. In den französischen Schulbüchern zum Beispiel wurde bis weit in die 1970er Jahre ein positives Bild von der Sowjetunion gezeichnet. Die Partei präsentierte sich als die Partei der Volksfront (»Front populaire«) von 1936 mit ihren sozialen Errungenschaften, als die Partei der Résistance mit ihren 75.000 »Füsilierten« (eine weit übertriebene Zahl, in der Tat sind es etwa 30.000 gewesen) und als die Partei der Arbeiterklasse, obwohl schon damals bei weitem nicht alle Arbeiter für sie gestimmt hatten. Ja, es gelang ihr, sich als integrierender Teil des »roman national«, das heißt als Erbin der besten fortschrittlichen politischen Tradition Frankreichs seit der Aufklärung in Szene zu setzen. Ausgehend von den Ausführungen eines François Furet in dessen berühmtem Buch Das Ende einer Illusion3, hat Marc Lazar in seinem brillanten Essay Der Kommunismus. Eine französische Leidenschaft4 die tiefe Kongru3 François Furet: Le passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle, Paris 1995 [deutsche Erstausgabe: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996]. 4 Marc Lazar: Le communisme. Une passion française, Paris 2002.

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enz zwischen dieser Selbstinterpretation und der französischen politischen Kultur analysiert. Der Kommunismus sprach die Leidenschaft der Franzosen für die Revolution und den revolutionären Radikalismus sowie ihr Streben nach sozialer Gleichheit an. In ihrer Ablehnung des Privateigentums und der »formellen« repräsentativen Demokratie konnte sich die Partei auf die Tradition der Jakobiner berufen. Aus dieser Sicht ergänzte und vertiefte die Oktoberrevolution 1917 die noch »bürgerliche« Revolution von 1789 mit ihrer Erklärung der Menschenrechte und der Ausrufung der Ersten Französischen Republik Ende 1792. Zu der Mythologie der Partei gehörten auch die anderen französischen Revolutionen und ganz besonders die »Commune de Paris« von 1871 (obwohl die Selbstverwaltungsideale der »Communards« ihr überhaupt nicht ins Bild passten)! Die Führer der Partei werden symbolisch im Friedhof Le Père Lachaise in der Nähe der »Mauer der Föderierten«5 beerdigt. Für den historischen Messianismus des Kommunismus, für seine Ankündigung einer regenerierten, brüderlicheren Demokratie bzw. Republik waren die Franzosen zu einer Zeit des Wiederaufbaus nach vielen erlittenen Prüfungen und Spaltungen auch nicht unempfänglich.6 Nach dem Krieg haben sich Gaullisten und Kommunisten das Erbe der Résistance stets streitig gemacht, aber de Gaulle und die Gaullisten behielten eine gewisse Achtung vor diesen politischen Gegnern, deren Antiamerikanismus und Antikapitalismus ihnen nicht ganz fremd waren. André Malraux drückte irgendwie diese Achtung aus, als er seinen berühmten Satz prägte: »Zwischen den Kommunisten und uns gibt es nichts.« Die Beteiligung der Kommunisten an der Regierung de Gaulle 1945–1946 hat übrigens dazu beigetragen, sie in der politischen Landschaft Frankreichs fest zu etablieren. Seitdem hatten wir in Frankreich das innerhalb einer westlichen Demokratie seltsame ambivalente Phänomen der Präsenz einer starken kommunistischen Partei, die lange Zeit von Moskau finanziert und gesteuert wurde, trotz ihres reklamierten (und auch praktizierten) Patriotismus ganz im Dienst der Sowjetunion stand7 und im Inneren und nach außen totalitäre, sektiererische Methoden anwandte. Sie bildete trotz ihrer Resonanz in der Bevölkerung und bei den Intellektuellen eine Art Sub- bzw. Gegenkultur und einen nach 5 Das ist ein Stück der Friedhofsmauer, an der am 28. Mai 1871 147 »Föderierte«, Kämpfer der Pariser Kommune, von den »Versaillais« erschossen worden sind. 6 Marc Lazar versteigt sich sogar zu der Behauptung einer gewissen, der französischen politischen Kultur innewohnenden Veranlagung zum Totalitarismus, »die der Kommunismus verlängert, aber auch zurechtbiegt und steigert.« Marc Lazar: Le communisme, a.a.O., S. 121. 7 Von Maurice Thorez ist ein geflügeltes Wort überliefert: »Jeder Mensch hat zwei Vaterländer, Frankreich und die Sowjetunion.«

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außen geschlossenen Staat im Staate, der sich doch am politischen Leben, ja ab und zu auch direkt an der Regierung der Nation beteiligte. Bemerkenswert ist die Faszination, die der Kommunismus damals auf viele französische Intellektuelle ausübte und nicht nur auf mittelmäßige Opportunisten, realpolitisch denkende (für die der Zweck die Mittel heiligt) oder auch zynische Karrieristen. Über ihren Antikapitalismus und Antiamerikanismus, über ihre »sowjetische Leidenschaft«, ja über ihre »bürgerliche Antibürgerlichkeit« und ihr Revolutionspathos hinaus, wurden sie wahrscheinlich von der Mischung aus (Pseudo)-Wissenschaft und Praxis angezogen. Schließlich galt es ja, die Welt zu verändern und nicht mehr nur zu interpretieren! Ihr Glaube an Sendung und Zukunft des Kommunismus wies Züge einer politischen Religion auf. Im Nachhinein ist man über ihre Selbstverblendung, über ihre Tendenz, die gröbsten Propagandalügen zu glauben und zu wiederholen, geradezu verblüfft. Denn man konnte damals schon vieles wissen. Dennoch vermochten ihnen weder das Buch von Margarete Buber-Neumann8, noch der Krawtschenko-Prozess sowie die Publikationen und das Wirken von David Rousset9 oder auch von Arthur Koestler und dergleichen mehr die Augen zu öffnen. Und wenn bei ihnen Zweifel aufkamen, dann spielte das Trugbild des Antifaschismus, diese »Maske einer anderen Tyrannei«10, seine Rolle. Antikommunismus, als »primär« gebrandmarkt, erschien schon als Beweis einer faschistischen Ansteckung. Die ungeheuren Verbrechen der Nazis hüllten die der Kommunisten in Stillschweigen ein. Es gab für diese Intellektuellen keine Alternative: Wenn auch das eigene Lager nicht einwandfrei war, so galt es doch, zu ihm zu halten, um das absolut Böse, das heißt den kapitalistischen Imperialismus – vergessen wir nicht, zur Zeit wütete der sogenannte Kalte Krieg – und den Kolonialismus

8 Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Eine Welt im Dunkel, München 2002 [1. Aufl. 1949]. 9 David Rousset, ehemaliger Trotzkist, analysierte aufgrund seiner Erfahrungen in Buchenwald und Neuengamme das System der nationalsozialistischen Konzen­ trationslager in zwei erfolgreichen Büchern: L’univers concentratinaire (Paris 1946) und Les jours de notre mort (Paris 1947). Nach dem Krawtschenko-Prozess richtete er einen Appell an die französischen Intellektuellen, damit sie sich auch mit dem Gulag auseinandersetzen. Er wurde dann von den kommunistischen und linken Intellektuellen scharf angegriffen. Zwar gewann er seinen Prozess gegen die kommunistische Kulturwochenzeitung Lettres françaises, doch das Gehör des größten Teils der französischen Intelligenz sowie – schlimmer noch – der breitesten Schichten der Öffentlichkeit konnte er aber dadurch nicht gewinnen. 10 François Furet: Penser le XXe siècle, Paris 2007, S. 474.

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zu bekämpfen. Man durfte nach Sartre Boulogne-Billancourt11 nicht zur Verzweiflung bringen. In der französischen Sprache kursiert ein Sprichwort, dessen Herkunft unsicher ist: Lange Zeit zogen es viele französische Intellektuelle vor, »mit Sartre Unrecht zu haben als mit Raymond Aron Recht zu behalten.« Dabei denkt man auch an den bekannten Aphorismus von Saul Bellow: »Ein großer Aufwand an Intelligenz kann in den Dienst des Unwissens gestellt werden, wenn das Bedürfnis nach Illusion tief ist.«12 Die Lügen des Kommunismus konnten nur im Kontext einer geteilten Illusion greifen. Und nach der unmittelbaren traumatischen Erfahrung des »braunen Terrors« konnten sich die Argumente derjenigen, die diese Lügen bekämpften, auch in der breiten Öffentlichkeit nur mit Mühe durchsetzen. Wie nun aber diese Illusion verging, ist der Gegenstand meines zweiten Punktes.

2. Der Niedergang Der Machtschwund der Kommunistischen Partei hat innenpolitische, soziologische, außenpolitische und kulturelle Gründe, die selbstverständlich miteinander verflochten sind: Innenpolitische: Nicht zuletzt wegen ihrer Beteiligung an den Regierungen unter der Führung der Premiers Pierre Mauroy (unter Präsident Mitterrand 1981–1984) und Lionel Jospin (unter Präsident Chirac 1998–2002) verlor die Partei ihre revolutionäre Aura. Sie wurde gleichsam von der liberalen Demokratie aufgesaugt. Soziologische: Im Zuge der industriellen Modernisierung Frankreichs schrumpfte die klassenbewusste Arbeiterschaft zusammen und die Partei verlor ihre Hochburgen in den schwerindustriellen Gebieten (Lothringen, Nordfrankreich) und um Paris herum (Pariser »roter Gürtel«). Außenpolitische: Nach Chruschtschows »Geheimrede« auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, nach dem ungarischen Aufstand im selben Jahr sowie dem »Prager Frühling« 1968, löste sich der Mythos der Sowjetunion auf und die undemokratischen und imperialistischen Züge der Sowjetunion ließen sich von nun an nicht mehr leugnen. Parallel dazu zerfiel die Kommunistische Internationale (Komintern).

11 Boulogne-Billancourt ist der Ort, an dem zu der damaligen Zeit die Renault-Werke angesiedelt waren. 12 Zitiert nach Michel Winock: Le grand aveuglement, in: L’histoire spécial, Nr. 247/2000, S. 46–53, hier S. 53.

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Kulturelle: Ab 1956 verließen viele Intellektuelle die Partei, und nicht selten wurden diese Abtrünnigen zu deren schärfsten Kritikern. Mitte der 1960er Jahre erschienen mit den Publikationen von Annie Kriegel13 und Jacques Fauvet14 die ersten wissenschaftlichen Arbeiten über die Geschichte der KPD. Die Partei versuchte den beginnenden Aufklärungs- und Entzauberungsprozess aufzuhalten. Auch im Jahre 1964 erschien unter der Leitung von Jacques Duclos eine offizielle Geschichte der Partei. Diese versuchte der Entstalinisierung entgegenzusteuern: Lange Zeit, bis in die 1970er Jahre hinein, wollte sie nur von einem angeblichen »Bericht« hören, der dem Kameraden Chruschtschow zugeschrieben worden sei. Die Kritik am Stalinismus beschränkte sich auf die Kritik am Personenkult. Der Aufklärungs- und Entzauberungsprozess beschleunigte sich aber in den 1970er Jahren mit dem in französischer Sprache erschienenen Archipel Gulag von Solschenizyn (1973). Die sogenannten »Neuen Philosophen« (in der Regel Ex-Maoisten) brachten es auf den Punkt, als sie die »Barbarei mit menschlichem Gesicht«15 anprangerten. Die Partei tat sich schwer, sich den neuen Entwicklungen anzupassen. Sie ging auf Distanz zu Moskau, verzichtete 1976 auf das Dogma von der »Diktatur des Proletariats« und bekannte sich zum Eurokommunismus. Aber nach dem Bruch der sogenannten »Union der Linken« 1977 näherte sich Generalsekretär Georges Marchais wiederum der Sowjetunion von Breschnew an. Der organische Parteihistoriker Jean Ellenstein, der in seinen Büchern im Sinne der Entstalinisierung und Demokratisierung der Partei wirken wollte, wurde schließlich 1980 aus der PCF ausgeschlossen. Die Partei billigte 1979 den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan. Gefragt nach der Bilanz des Kommunismus, antwortete Marchais zu Beginn der 1980er Jahre, sie sei »insgesamt positiv«. Die Öffnung der Archive in Moskau (und teilweise derjenigen der Partei selbst) in den 1990er Jahren, gab selbstverständlich der Legende den Todesstoß. Der Aufklärungs- und Entzauberungsprozess, der mit Archipel Gulag begonnen hatte und von zahlreichen Publikationen namentlich ehemaliger Kommunisten (Annie Kriegel, Philippe Robrieux, Stéphane Courtois usw.) 13 Annie Kriegel: Aux origines du communisme français 1914–1920, Paris/La Haye 1964. 14 Jacques Fauvet: Histoire du parti communiste, Paris 1964. 15 Nach dem Titel von Bernard Henri Lévy: La barbarie à visage humain, Paris 1977 [deutsche Erstausgabe: Die Barbarei mit menschlichem Gesicht, Hamburg 1978]. Zu erwähnen wäre auch von André Glucksmann: Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager, Berlin 1976.

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in Form von wissenschaftlichen Arbeiten oder selbstkritischen Memoiren abgesteckt wurde, erreichte einen Höhepunkt mit zwei Büchern, die nicht nur in Frankreich eine überaus große Resonanz erlangt haben: Das Ende einer Illusion von François Furet (1995)16 und Das Schwarzbuch des Kommunismus17. All diese Publikationen ließen sowohl den totalitär-sektiererischen Charakter der Kommunistischen Partei Frankreichs als auch den verbrecherischen Charakter des Weltkommunismus klar erkennen. Die Frage, ob diese Verbrechen auch der PCF angelastet werden können, leitet zu meinem dritten Teil über.

3. Was bleibt? Als entscheidende politische Kraft auf nationaler Ebene ist die PCF fast ganz ausgeschieden. In der neuen Nationalversammlung kann sie nur noch mit anderen Abgeordneten der Linken eine Fraktion bilden. Auf lokaler Ebene stellt sie aber immer noch eine relativ große Zahl an Bürgermeistern, Regional- und Kreistagsabgeordneten.18 Die Partei übt immer noch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf gesellschaftliche Kämpfe aus. Unsere größte Gewerkschaft, die CGT (Confédération Générale du Travail), hat zwar gegenüber der Partei eine größere Autonomie erlangt, aber ihr Generalsekretär hatte bis jetzt immer noch sein Parteibuch, und die beiden Organisationen sind einander sehr nah geblieben. Die Partei hat weitgehend auf den messianischen Teil ihrer Botschaft verzichtet. Aber sie legt den Akzent auf ihre soziale Rolle als Anwältin der sozial Schwächeren, Deklassierten und Diskriminierten und knüpft immer noch gerne als solche an die Tradition der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts an. Die Partei inszeniert sich andererseits populistisch als die beste Verteidigerin der Nation und stellt sich gegen die USA, die neoliberale Globalisierung sowie gegen Souveränitätsabtretungen an Europa, wobei sie Maastricht doch akzeptiert und den Euro nicht abschaffen will. Sie vertritt darüber hinaus einen radikalen Pazifismus, hat den proletarischen Internationalismus 16 François Furet: Le passé d’une illusion, a.a.O. 17 ������������������������������������������������������������������������������ Stéphane Courtois u. a.: Le Livre noir du communisme. Crimes, ������������������������ terreur, répression, Paris 1997 [deutsche Erstausgabe: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen, Terror, München 1998]. François Furet sollte ursprünglich das Vorwort schreiben. 18 Sie beansprucht die Leitung von 800 Stadtverwaltungen, 8000 Gemeinderäten und stellt 250 Regional- und Kreisabgeordnete.

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durch eine Art »Altermondialisme«19 ersetzt, und entgegen ihrer stark in der industriellen Kultur wurzelnden Tradition wendet sie sich nun auch schüchtern der Ökologie zu. Die Partei hat ihren historischen Kompromiss mit der bürgerlichen Demokratie geschlossen, bevorzugt aber die direkte Demokratie oder die Demokratie auf der Straße, das heißt Kundgebungen, Streiks, Proteste aller Art, bei denen sie stets den Gewerkschaften beisteht. Sie besitzt immer noch eine gewisse »Schädigungskapazität«. Sie hat zum Beispiel 2005 triumphiert, als das Nein bei der Volksbefragung über die europäische Verfassung obsiegte. Dieses Protestpotential, das bei jeder Gelegenheit mobilisiert wird, wird aber auch von anderen sich auch kommunistisch oder antikapitalistisch gebenden kleinen Parteien der Ultralinken (Trotzkisten) getragen, welche ihr fortan ihre Funktion als Volkstribunat streitig machen. Ein eher sozial-moralischer Kommunismus überlebt so als diffuse Ideologie linker Gruppen und Kreise, ein bisschen in der Tradition des Anarcho-Syndikalismus des endenden 19. Jahrhunderts. Die Partei hat bisher noch nicht richtig den Mut aufgebracht, den Verbrechen und Irrtümern des Kommunismus ins Gesicht zu schauen. Zwar wurden inzwischen Stalinismus und Gulag verurteilt, also kann von einem ausdrücklichen »négationnisme« keine Rede mehr sein, wohl aber von einer Art Umgehungstaktik. Über die vergangenen Fehler der Partei (zum Beispiel anlässlich des Hitler-Stalin-Paktes) wird meistens geschwiegen oder schnell hinweggesehen, als ob die Partei von heute davon gar nicht betroffen sei. Wenn aber der Kommunismus in seiner historischen Gestalt politisch marginalisiert, wenn nicht sogar überwunden worden ist, ist er ideologisch nicht ganz diskreditiert. Stéphane Courtois beklagt, dass die Geschichtsschreibung auf den Widerstand eines noch allzu lebhaften kommunistischen Gedächtnisses stößt. Er hat Recht, wenn er die relative Amnesie, die den Gulag betrifft, mit der Hyperamnesie hinsichtlich der nationalsozialistischen Verbrechen bedauernd parallelisiert und gegen die erste ankämpfen will. Doch sein Schwarzbuch, genauer gesagt seine Einleitung20 – vielleicht mit dem Eifer des Renegaten geschrieben – und seine anderweitigen Publikationen wurden selbst von einigen Mitautoren des Werks kritisiert (zum Beispiel 19 So wird bei uns eine weit verzweigte, heterogene soziale Bewegung bezeichnet, die für eine alternative, antikapitalistisch-ökologische Art der Globalisierung plädiert. 20 Stéphane Courtois: Die Verbrechen des Kommunismus, in: Ders. u.  a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus, a.a.O., S. 11–43.

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Nicolas Werth): Er habe allzu schnell den Kommunismus mit seinen Verbrechen identifiziert und den roten Totalitarismus allzu schnell mit dem braunen gleichgesetzt, so dass er die Einzigartigkeit des Holocausts in Frage gestellt habe. Wenn nur wenige die Ehrlichkeit der Dokumentation in Frage stellen, dann wird die vom beinahe polizeilichen Willen der Denunzierung und Anklage beseelte Benutzung der Quellen kritisiert (es ist die Rede von einem »Fetischismus der Quellen« oder von der Reduktion des Kommunismus auf eine mafiartige Internationale). Courtois übersehe die politische und soziologische Komplexität des kommunistischen Phänomens, es gäbe nicht nur eine Form des Kommunismus, sondern verschiedene, je nach Zeit und Raum und nach Entstehungsbedingungen.21 Man könne sich den Nationalsozialismus nicht ohne Lager denken, den Kommunismus aber schon (übrigens ein Satz von Primo Levi). Man dürfe den antifaschistischen Kampf der Kommunisten in den internationalen Brigaden gegen Franco oder in den verschiedenen Widerstandsbewegungen gegen Hitler, so wenig wie ihren Einsatz zugunsten der Verdammten der Erde, mit einem Federstrich aus der Welt schaffen. Die Wirklichkeit sei hässlich gewesen, aber die Idee bleibe schön usw.22 Ich will auf diese nicht enden wollende Debatte nicht eingehen, sondern sage nur: Jedes Mal, wenn bis jetzt die schöne Idee umgesetzt wurde, endete das leider in Diktatur und relativer Armut. Oder auch anders gefragt: Kann eine Ideologie intakt bleiben, wenn sie als Vorwand für die Ermordung von Millionen Menschen gedient hat? Hier gilt es wahrscheinlich auch zwischen den auf Machtergreifung und Machterhaltung eingestellten Eliten und den unteren Militanten zu unterscheiden, deren Aufrichtigkeit und Einsatzfähigkeit für das Wohl der Mitmenschen der Anerkennung würdig sind. Der Historikerstreit findet sein Pendant in der öffentlichen Meinung. Marc Lazar spricht von der »résilience« (Widerstandsfähigkeit)23 der kommunistischen Kultur. Nun, da der Ostblock zusammengebrochen ist, ist die vorhergehende Komplizenschaft der Partei mit Moskau, die mit der Öffnung der Archive seit 1990 zur Genüge nachgewiesen wurde, in Vergessenheit

21 Siehe vor allem: Michel Dreyfus u. a.: Le siècle des communismes, Paris 2000. 22 Routinierte Argumente werden auch ins Feld geführt: Diese Kommunismuskritik komme der Ultrarechten zugute; wo revolutionär gehobelt wird, fallen Späne usw. Siehe Pierre Rigoulot/Ilios Yannakakis: Un pavé dans l’histoire. Le débat français sur le livre noir du communisme, Paris 1998. 23 »Résilience« ist ursprünglich ein Begriff aus der Physik, der die Fähigkeit eines Metalls bezeichnet, nach einem Schock seine ursprüngliche Form wieder anzunehmen. Psychologisch heißt das, die Fähigkeit, ein Trauma zu überwinden, um normal weiter leben zu können.

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geraten. Obwohl die glorreiche Legende von einer immer kritischeren Geschichtsschreibung unterhöhlt worden ist, hat die Partei dadurch eine neue Unschuld erlangt. Die gute Idee kann wiederum unbehelligt verkündet werden. Einige Intellektuelle von Format wie Alain Badiou setzen sich für sie ein. Spontan stellt die französische Bevölkerung keinen Zusammenhang zwischen der Partei und den stalinistischen Verbrechen her. Die Partei hat zwar ihre politischen Gegner, die sich über den Machtverlust der Kommunisten freuen, aber sie wird nicht als ein extremistischer Außenseiter, sondern als ein ganz normaler Akteur der politischen Bühne bewertet. Die französische Linke, einschließlich des linken Flügels der Sozialistischen Partei (Parti socialiste), ist noch vom marxistischen Denken und von der durch die Exzesse des Neoliberalismus und des Weltkapitalismus neu aufgeputschten Idee des Klassenkampfes relativ stark geprägt. Dies ist wahrscheinlich einer der Gründe für den Mangel an Konsensfähigkeit, der die Lösung der sozialen Konflikte in Frankreich erschwert. Obwohl die Partei den größten Teil ihrer Wähler verloren hat, ist das Bild über den Kommunismus in der französischen Bevölkerung so negativ nicht. Sie hat den kommunistischen Totalitarismus nicht am eigenen Leib erfahren, wohl aber den des Nationalsozialismus. Da sie nie in einem kommunistischen Regime gelebt hat, hat sie nicht einmal den Widerspruch zwischen den schönen Worten und der schnöden Wirklichkeit erfahren, an dem der Kommunismus schließlich zugrunde gegangen ist. Die Kommunistische Partei Frankreichs stand vielmehr stets auf der guten Seite der Freiheit und der Emanzipation des Volkes, in den sozialen Kämpfen zur Zeit der »Front populaire«, im Widerstand gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg, im Kampf gegen Rassismus und Ausbeutung der kolonisierten Völker wäh­ rend der Kolonialkriege, und als Verfechterin neuer sozialer Errungen­ schaften zur Zeit der Rückkehr der Linken an die Macht (unter Mitterrand). Die kommunistischen Minister, auch zur Zeit der Sowjetunion, haben sich stets als gute Republikaner verhalten. Daher sträuben sich noch viele Menschen in Frankreich, insbesondere viele Intellektuelle, gegen die Gleichsetzung von rotem mit braunem Totalitarismus. Die gute Absicht verharmlost für viele den Grad des Verbrechens. Zwar hat sich das gaullistische Gedächtnis auf Kosten des kommunistischen durchgesetzt – de Gaulle ist unser Totem geworden, auch für einen guten Teil der Linken – aber der Heldentaten oder der Leiden der kommunistischen Widerstandskämpfer wird weiterhin, und nicht nur von den Kommunisten allein, gedacht: Der selbstproklamierte Neo-Gaullist Sarkozy war 2007 nicht davor zurückgeschreckt, den französischen Schülern den jungen

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Kommunisten Guy Moquet24, dessen Eigenschaft als Widerstandskämpfer von nicht wenigen bestritten wird25, als moralisch-politisches Vorbild vorzuschlagen: Sein letzter, in der Tat rührender Brief an die Familie, sollte in jeder Klasse vorgelesen werden.

24 Guy Moquet wurde nach der Ermordung des Oberstleutnants der Wehrmacht Karl Hotz als jüngste Geisel am 21.Oktober 1941 in Châteaubriant erschossen. Nach dessen Namen ist eine Metrostation in Paris benannt. 25 Für den Historiker Jean-Pierre Azéma stellt Châteaubriant den Idealtyp des kommunistischen Gedächtnisses und ihrer strategischen Benutzung dar. »Mit dem Andenken an die damals Füsilierten wird suggeriert, dass die Kommunisten die besten Patrioten gewesen sind und gleich nach Beginn der Okkupation zu widerstehen begannen…was die Irrtümer der Zeit vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Sowjetunion in den Hintergrund drängt«, Jean-Pierre Azéma: »Guy Môquet, Sarkozy et le roman national« in: L’Histoire, Nr. 323/2007, S. 6–11.

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Die Bundesrepublik Deutschland ist – sowohl vor wie nach 1990 – nicht nur »ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«, wie es im Artikel 20 des Grundgesetzes heißt, sie ist auch – und das ergibt sich aus der Gesamtarchitektur des politischen Systems – ein liberaler, parlamentarischer Verfassungsstaat, der auf einem pluralistischen politischen Wettbewerb nicht nur, aber in erster Linie von Parteien basiert. Die vielzitierten Väter und Mütter des Grundgesetzes haben damit die entstehende Bundesrepublik von beiden totalitären Regierungsformen der Zeit klar und deutlich abzugrenzen versucht, von der jüngsten nationalsozialistischen Vergangenheit ebenso wie von dem parallel unter den Auspizien der stalinistischen UdSSR entstehenden Staatswesen der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland. An diesem Selbstverständnis als freiheitliches Gemeinwesen hat sich nie etwas Grundlegendes geändert, so dass der Untergang der kommunistischen Regime in Osteuropa im Allgemeinen und die Friedliche Revolution in der DDR im Besonderen als Sieg der Freiheit über Unfreiheit, Unterdrückung und Diktatur verstanden wurde und wird. Nicht alle drücken das so empathisch aus wie der derzeitige Bundespräsident, dennoch ist es im Wesentlichen die allgemeine Sichtweise. Diese Sicht spiegelt sich in der offiziellen deutschen Geschichtspolitik und -kultur wider, etwa in der musealen Aufbereitung der jüngeren Vergangenheit im Deutschen Historischen Museum Berlin, im Haus der Geschichte in Bonn, im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig oder in zahlreichen Gedenkstätten und Aufarbeitungsstiftungen zur Geschichte der DDR, nicht zuletzt auch in der »Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße«, der ehemaligen MfS-Untersuchungshaftanstalt in Erfurt, die in der Trägerschaft der Stiftung Ettersberg steht. Der Fokus auf Überwachung, Unrecht, Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen dominiert in dem, was man als den bundesdeutschen Mainstream bezeichnen könnte: die Erinnerung an die untergegangenen kommunisti1 Bis auf unmittelbare Verweise und Zitate wird die ursprüngliche Vortragsform beibehalten.

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schen Systeme in der DDR und den übrigen Ostblock (weniger allerdings den Umgang mit aktuell noch bestehenden kommunistischen Systemen wie demjenigen in China). Dies gilt im Übrigen für den öffentlichen Diskurs mehr als für die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Diese Konzentration auf die repressiven Elemente des Kommunismus prägt auch die Sicht auf die kommunistische Ideologie. Insgesamt ist das Ziel der Erinnerungsarbeit Demokratieaffirmation im liberaldemokratischen Sinne, wie er oben beschrieben wurde. Weitaus weniger als in den meisten anderen ostmitteleuropäischen Staaten ist die Erinnerung an die kommunistischen Diktaturen an Zielen der nationalen Integration ausgerichtet, wie im Vergleich zu den anderen Beiträgen dieses Bandes deutlich wird. So weit, so einfach – doch das ist natürlich nicht das ganze Bild. Zwei Dinge machen den Kommunismus zu einem Problem der deutschen Geschichtskultur. Das eine ist die in den letzten Jahren – auch bei den Ettersberger Symposien – vielfach thematisierte Teilung Europas in zwei verschiedene geschichtskulturelle Erinnerungsräume; einen westlichen, in dem die Erinnerung an den Nationalsozialismus, der geradezu zu einem negativen Legitimationsmythos für Europa geworden ist, dominiert und einen östlichen, in dem die Erinnerung an den Kommunismus, an die langjährige sowjetische Herrschaft einen größeren Stellenwert einnimmt. Deutschland, so die gängige These, gehöre durch seine westliche und östliche Vergangenheit beiden Räumen an. In einem ausführlichen Artikel über die »Zukunft unserer Vergangenheit« zitierte Bernd Ulrich in der Zeit vor einigen Wochen den Leiter der israelischen Gedenkstätte Jad Vaschem, Avner Schalev, den in Bezug auf Deutschland eine Sorge umtreibe: »Die Verostung der Erinnerung. Der Osten Europas, wo man sich wenig mit den eigenen Verbrechen an den Juden beschäftigt habe; der Osten, wo ehemalige Bürgerrechtler Stalinismus und Nationalsozialismus gleichsetzen und damit den Holocaust verharmlosten; der Osten, aus dem doch auch Joachim Gauck komme, nicht wahr?! Schalev missbilligt, dass Gauck vor drei Jahren die Prager Erklärung unterzeichnet hat, in der Kommunismus und Nationalsozialismus als ›völlig gleichwertige verbrecherische Regime‹ bezeichnet werden.«1

Ich will im Folgenden diese Linie nicht weiter verfolgen, weil ich die hier geäußerte, aus israelischer Perspektive vielleicht verständliche Sorge nicht für berechtigt halte. Ich musste selbst erst einmal recherchieren, was es mit dieser

1 Bernd Ulrich: Wer sind wir, heute?, in: Die Zeit vom 30. August 2012, S. 2 f.

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Prager Erklärung2 auf sich hatte, und ich empfinde das als symptomatisch für die geringe Rolle, die diese in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit spielte. Insgesamt gesehen, ist die länger zurückliegende NS-Zeit in der deutschen Öffentlichkeit – und nicht erst seit den unsäglichen Vorgängen um den »NSU«3 – viel präsenter als die noch nicht so lange zurückliegende SED-Diktatur (wenn man von den Tagen um den 3. Oktober absieht, an denen im Fernsehen gerne Filme und Dokumentationen, die die DDR-Vergangenheit und die Wiedervereinigung thematisieren, gezeigt werden). Eingangs verwies ich darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland ein liberaldemokratischer Verfassungsstaat ist; freilich ist diese Beschreibung nicht vollständig, denn sie ist auch eine – wenn auch vielleicht nicht mehr ganz so sehr wie früher – soziale Marktwirtschaft, etwas anders ausgedrückt, ein kapitalistischer Staat. Diese einfache Tatsache hat einen Einfluss auf den Umgang mit dem Begriff »Kommunismus����������������������������������� «���������������������������������� , der seinerseits verschiedene Semantiken beinhaltet. Wenn wir von der »kommunistischen Zeit« oder der »kommunistischen Herrschaft« sprechen, ist für Deutschland die Zeit der SED-Herrschaft in der DDR gemeint, für Russland die Zeit der Sowjetunion, also grob die Zeit von der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« bis 1991. Die Selbstbezeichnung der Herrschaftssysteme war in der Regel nicht kommunistisch, sondern sozialistisch; der Kommunismus war im Einklang mit den marxistisch-leninistischen ideologischen Grundlagen das Endziel der Geschichte, der Fluchtpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung, mit anderen Worten, eine Utopie, an deren Verwirklichung man arbeitete und letztlich immer wieder scheiterte, die aber noch heute für viele sich im weitesten Sinne als Linke verstehende Menschen relevant ist. Im Folgenden möchte ich anknüpfend an Ehrhart Neubert, der in einem Ettersberger Vortrag von 2005 zwischen vier Erinnerungstypen Ost und drei Erinnerungstypen West unterschieden hat, ebenfalls idealtypische geschichts-

2 In der »Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus« vom 3. Juni 2008 (http://www.victimsofcommunism.org/media/article.php?article= 3849) forderten prominente Unterzeichner, darunter Joachim Gauck und Václav Havel, die Verurteilung der kommunistischen Verbrechen und die Ausrufung eines europäischen Gedenktages für die Opfer des Stalinismus und des Nationalsozialismus. 3 Der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) war eine rechtsterroristische Vereinigung, die im November 2011 öffentlich wurde und der eine beispiellose Mordserie an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund in Deutschland zur Last gelegt wird.

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kulturelle Positionen zum Kommunismus beschreiben.4 Geschichtskultur hat nach Jörn Rüsen bekanntlich eine kognitive, eine politische und eine ästhetische Dimension. Mir wird es – anders als damals Ehrhart Neubert – in erster Linie um die politische Dimension gehen, denn im Kern handelt es sich um Positionen in einem durchaus politischen Kampf um die Hegemonie darüber, in welcher Form der Kommunismus ins deutsche kulturelle Gedächtnis, also in den Langzeitspeicher überführt wird. Zwei der Positionen sind Subjekte in diesem Deutungskampf, eine könnte man als Objekt bezeichnen: die Antikommunisten, die Utopie-Bewahrer und die Indifferenten bzw. Ahnungslosen.

1. Die Antikommunisten Insofern die Bundesrepublik durch die Erfahrung des nationalsozialistischen Totalitarismus und den Gegensatz zum kommunistischen Totalitarismus in der Sowjetischen Besatzungszone und dann der DDR geprägt war und der viel beschworene freiheitlich-demokratische, antitotalitäre Konsens wesentlich zur inneren Befriedung der Politik der jungen Republik beigetragen hatte, war der oben beschriebene Mainstream per se auch antikommunistisch. Das ist hier jedoch nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr die schon im Wort »Antikommunisten« deutlich werdende Position als weltanschaulicher Gegner des Kommunismus, die die Ideologie der revolutionären Überwindung des gegenwärtigen Gesellschaftssystems schon immer abgelehnt und bekämpft hat, lange bevor es tatsächlich je ein kommunistisches Regime gegeben hat. Weltanschaulich geprägten Antikommunisten dient die verbrecherische Regierungspraxis der kommunistischen Regime lediglich als zusätzlicher Beweis dessen, was sie aus einem im Wortsinne konservativen, Status quo-bewahrenden Impuls heraus schon immer wussten, nämlich dass diese spezifische Utopie – im Prinzip sogar jede Utopie – zu nichts Gutem führen könne. Die Ursprünge dieser antikommunistischen Position unterscheiden sich in Ost und West. Ostdeutsche Antikommunisten kamen weniger stark von der Weltanschauung her (teilweise haben sie sogar als SED-Mitglieder begonnen), sondern wurden in erster Linie durch das Erleben der Repression in der DDR geprägt. Diese würde ich durchaus als eine Untergruppe derer 4 Ehrhart Neubert: Westdeutsche und ostdeutsche Erinnerungsperzeptionen, in: Peter März/Hans-Joachim Veen (Hg.): Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 165–189.

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sehen, die Ehrhart Neubert damals als »Wächter über die Erinnerung����� «���� bezeichnet hat.5 Inzwischen hat aber ein Konvergenzprozess stattgefunden, in dem erfahrungsgeprägte Ostdeutsche, die nicht aus ihrer Haut können, in jeder linken Politik (das heißt im Sinne von links von der SPD) einen Restaurationsversuch des alten, überwundenen SED-Systems sehen und weltanschaulich geprägte Westdeutsche ein geschichtspolitisches Ziel gefunden haben, mit Hilfe des Gedenkens an die kommunistischen Regime und deren Verbrechen die kommunistische Utopie ein für alle Mal zu delegitimieren. Ein Schlüsseldatum in diesem Konvergenzprozess war sicher das Jahr 1996, als Vera Lengsfeld und mehrere andere ehemalige DDR-Bürgerrechtler sich der CDU anschlossen, womit freilich nicht behauptet werden soll, dass man die CDU insgesamt dieser antikommunistischen Position zuordnen kann, sondern eher nur deren rechten Flügel. George Orwell hat in seinem Essay Notes on Nationalism6, wobei der Begriff des Nationalismus von ihm als ein Synonym für die ideologischen »Ismen��������������������������������������������������������������� «�������������������������������������������������������������� seiner Zeit verwandt wurde – Kommunismus, Trotzkismus, britischer Jingoismus, aber auch Pazifismus und politischer Katholizismus hat er als Beispiele genannt –, geschrieben, dass es für alle diese »Ismen« einen Satz gebe, der für die jeweiligen Anhänger absolut nicht tolerierbar sei, obwohl er für alle diejenigen, die dieser Weltanschauung nicht anhingen, evident wahr sei. So könnten Trotzkisten den Satz, die russischen Massen würden das stalinistische System akzeptieren, genauso wenig ertragen wie Pazifisten den Satz, sie könnten nur deshalb der Gewalt abschwören, weil jemand anderes für sie Gewalt ausübe. Für die antikommunistische Position wäre die Behauptung, dass kommunistische Regime zwar überall auf verbrecherische Weise gescheitert seien, die kommunistische Utopie aber dennoch eine gesellschaftliche Korrektivfunktion erfüllen könne, in ähnlicher Weise unerträglich. Der »Mainstream«, der von liberalkonservativen bis zu linksliberalen Positionen reicht, hätte mit einem solchen Satz keinerlei Probleme, da dieser die historische Erfahrung der »alten« Bundesrepublik beschreibt. Denn die soziale Marktwirtschaft, also der sozial eingehegte Kapitalismus, hat sich auch deshalb durchgesetzt, weil es in der konkreten historischen Situation des Kalten Krieges und der deutschen Teilung darum ging, die Arbeiterschaft für Demokratie und Marktwirtschaft zu gewinnen und gegen alle revolutionären Versuchungen zu immunisieren. 5 Ebenda, S. 175. 6 Sonia Orwell/Ian Angus (Hg): The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell Volume 3: As I Please (1943–1945), Boston 2000.

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2. Die Utopie-Bewahrer Der politische Kern dieser geschichtspolitischen Position findet sich naturgemäß in der seit ihrer Entstehungsphase sich als gesamtdeutsch definierenden Partei DIE LINKE, ist aber keineswegs darauf beschränkt. Ein Beispiel aus eigenem Erleben kann vielleicht verdeutlichen, was gemeint ist. Bei einer Veranstaltung des Instituts für Politikwissenschaft der FSU Jena sollte im Frühjahr 2012 der Chemnitzer Extremismusforscher Eckhard Jesse darüber sprechen, ob ein NPD-Verbot politisch sinnvoll sei. Im Vorfeld deutete sich bereits an, dass es Proteste gegen Herrn Jesses Auftritt geben würde; Träger dieses Protestes waren verschiedene linke Gruppen, die von den Jusos7 über den DGB8 bis hin zum Jugendverband der LINKEN reichten. Bezeichnenderweise richtete sich die Kritik nicht gegen das, was der Referent zum NPD-Verbot sagen wollte – das hätte man aus seinen Presseveröffentlichungen ungefähr wissen können –, sondern ausschließlich gegen seinen wissenschaftlichen Extremismus-Ansatz, mit dem, so etwas vergröbert, radikale Linke mit rassistischen Neofaschisten in einen Topf geworfen würden. Dahinter steht die geradezu als selbstverständlich empfundene Ansicht, dass die Linken die Guten seien, die Antifaschisten und Antirassisten, die das weltanschaulich-normativ »gute« Ziel einer Gesellschaft ohne soziale Ungleichheit und Ausbeutung verfolgten. Solche Proteste hätten sicherlich in ähnlicher Zusammensetzung auch in Göttingen, Bremen oder Freiburg stattfinden können und tun das wahrscheinlich auch. Auch auf der Linken, insbesondere der jüngeren Generation, hat es offenbar einen Konvergenzprozess gegeben, der es ermöglicht, sich trotz ganz unterschiedlicher Herkunft bei bestimmten weltanschaulichen Positionen zu finden. Ein Orwellscher Satz, der für die Utopie-Bewahrer nicht hinnehmbar ist, könnte also etwa lauten: »Unabhängig von den verfolgten Zielen weisen links- und rechtsextreme Bewegungen eine Reihe von ähnlichen strukturellen Merkmalen auf.« Einem der medialen Aufreger des Jahres 2011, als die damalige Kovorsitzende der Partei DIE LINKE, Gesine Lötzsch, von den »Wegen zum Kommunismus« sprach,9 scheint eine gewisse Arglosigkeit zugrunde zu liegen, die letztlich genau darauf zurückzuführen ist, dass im linken Milieu die posi7 Juso-Presseerklärung: Jesse kann in Sachsen bleiben, online abrufbar unter: http://www.spd-jena.de/index.php?nr=12617&menu=1 [28.08.2012]. 8 Presseerklärung des DGB Thüringen: Kritik am Tag der Politikwissenschaft der Uni Jena, online abrufbar unter: http://www.jenapolis.de/2012/05/kritik-am-tagder-politikwissenschaft-der-uni-jena/ [28.08.2012]. 9 Vgl. den Text der am 3. Januar 2011 auf der Internationalen Rosa-LuxemburgKonferenz der Zeitung Junge Welt gehaltenen Rede, online abrufbar unter: http://

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tive Wertung der kommunistischen Utopie der klassenlosen Gesellschaft völlig selbstverständlich ist. Frau Lötzsch ist offenkundig die andere Semantik des Kommunismus-Begriffs, also der Bezug auf die kommunistische Herrschaftspraxis, völlig aus dem Blick geraten. Dabei hätte sie es besser wissen können, denn DIE LINKE bzw. die PDS als deren unmittelbarer Vorläuferin, unternahm seit ihrer Entstehung größte begriffliche Anstrengungen, um zwischen Utopie und Herrschaftssystem zu differenzieren. Begriffe wie »Stalinismus« (wobei innerhalb der Partei höchst umstritten ist, was eigentlich mit Stalinismus gemeint ist: die Lebzeiten Stalins, die Zeit bis zur Entstalinisierung oder gar die gesamte Zeit der SED-Herrschaft) oder »real existierender Sozialismus«, von denen sich der weitaus größte Teil der Partei glaubhaft distanziert hat, dienen dem geschichtspolitischen Ziel, die ursprüngliche marxistische Ideologie bzw. deren utopischen Kerngehalt von der Herrschaftspraxis zu unterscheiden und damit für den weiteren politischen Gebrauch als Alternative zum kapitalistischen System der Bundesrepublik zu retten. Freilich darf man eine im Lager der linken Utopie-Bewahrer vielleicht nicht besonders geschätzte, aber doch geduldete Untergruppe in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen, der es weniger um die Zukunft als um die Deutung ihrer ganz persönlichen Vergangenheit geht. Etwas zugespitzt formuliert, handelt es sich um eine Täter-Elite, die sich inzwischen organisiert hat und versucht, ihre eigene persönliche Vergangenheit reinzuwaschen, indem sie die »Normalität« der DDR in den Vordergrund rückt, etwa indem das MfS als »normaler« Geheimdienst, die Hauptverwaltung Aufklärung als »normaler« Auslandsgeheimdienst oder die Praktiken in DDR-Gefängnissen insbesondere gegenüber politischen Gefangenen als »normaler« Strafvollzug verharmlost werden; zugleich versuchen sie, die Wahrhaftigkeit der Diktaturaufarbeitung in Zweifel zu ziehen. Dies ist insbesondere in den Angriffen gegen die Gedenkstätte Hohenschönhausen deutlich geworden, beschränkt sich aber keineswegs nur auf diese.10 Wie wirkungsvoll derartige Unterfangen sind, ob sich vor allem Angehörige der jüngeren Generation, die keine eigenen Erinnerungen an die DDR haben (können), davon beeinflussen lassen, ist schwer zu beurteilen. Für alle Formen der Aufarbeitung der SEDwww.rosa-luxemburg-konferenz.de/article/272.wege_zum_kommunismus.html [28.08.2012]. 10 Peter Wensierski: Die Rache der Rentner, in: Der Spiegel, Nr. 13/2006, S. 44 sowie Freya Klier: Sondervotum (zu den Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ›Aufarbeitung der SED-Diktatur‹), in: Martin Sabrow u. a. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung. Dokumentation einer Debatte, S. 44 f.

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Diktatur stellen derartige Versuche der positiven Umdeutung der (DDR-) Vergangenheit eine Herausforderung, zugleich aber auch nicht zu unterschätzende Legitimation dar.

3. Die Indifferenten bzw. Ahnungslosen Die »Ahnungslosen«, die ich eingangs eher als Objekt denn als Subjekt der verschiedenen Deutungen bezeichnet habe, kommen in erster Linie aus der nachwachsenden Generation, die das Leben unter der kommunistischen Herrschaft selbst nicht mehr kennen gelernt hat, sondern es aus zweiter Hand – und zwar von sehr vielen verschiedenen Vermittlungsinstitutionen wie der Familie, der Schule, den Medien – erzählt bekommt. Daneben gibt es die Indifferenten der älteren Generation, die sich einerseits nicht betroffen fühlen – das sind überwiegend Westdeutsche – oder die einfach nichts mehr davon hören wollen – das dürften überwiegend Ostdeutsche sein. Beide sind geschichtskulturell nur schwer zu erreichen und stehen deshalb nicht im Mittelpunkt des Folgenden. Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, die ganze jüngere Generation könne unter der Überschrift der Ahnungslosen subsumiert werden. Selbst die vom Forschungsverbund SED-Staat in der neuesten Studie erhobenen Zahlen über den Kenntnisstand zur jüngeren Geschichte und zur Geschichte allgemein bei Schülern der 10. Klasse in Baden-Württemberg, Bayern, NRW, Sachsen-Anhalt und Thüringen würden das keineswegs erlauben.11 Man kann an dieser Studie sicher das eine oder andere kritisieren, z. B. ob nicht das 10. Schuljahr ein zu früher Zeitpunkt für die Erhebung solcher Kenntnisse wäre; die Verfasser der Studie wollten jedoch zu Vergleichszwecken alle Schulformen einschließlich der in den alten Bundesländern noch vorhandenen Hauptschule einbeziehen, was nach dem 10. Schuljahr nicht mehr möglich wäre. Dennoch ergeben diese Zahlen ein sehr viel differenzierteres Bild, als man erwarten würde, wenn man nur die Medienresonanz auf diese und die Vorgängerstudie vor einigen Jahren zu Rate ziehen würde. Denn die Medien stürzen sich natürlich gerne auf die paar Prozent der Jugendlichen, die glauben, Adenauer hätte die Mauer gebaut. Die Kenntnisse zum Nationalsozialismus sind insgesamt bei Zehntklässlern ziemlich gut; 11 Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder/Rita Quasten/Dagmar Schulze Heuling: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen (=Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, Bd. 17), Frankfurt am Main u. a. 2012.

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so können gut 60 Prozent die Frage danach, welches System mit der Macht­ übernahme der Nationalsozialisten endete, richtig beantworten; gut zwei Drittel können mit dem Datum des 8. Mai 1945 das richtige Ereignis verbinden�������������������������������������������������������������� , und knapp 78 Prozent wissen den Ort Auschwitz der Massenvernichtung der europäischen Juden zuzuordnen (in Thüringen sogar 92,5 Prozent!).12 Diese guten Kenntnisse werden einerseits auf den in allen Lehrplänen sehr breiten Raum einnehmenden Geschichtsunterricht zum Thema Nationalsozialismus, aber auch auf die Präsenz des Themas in den öffentlichen Medien zurückgeführt. Dagegen sind die Geschichtskenntnisse zur DDR weniger eindrucksvoll. Zwar kann über die Hälfte der Zehntklässler mit dem Namen Honecker etwas anfangen, aber nur knapp 40 Prozent wissen, wer die Mauer errichtet hat (was allerdings insofern nicht so einfach war, als eine Antwortmöglichkeit die Sowjetunion war, die zumindest nicht völlig unbeteiligt gewesen ist) und nur etwas mehr als ein Drittel kann die Frage zum Datum 17. Juni 1953 beantworten.13 Interessant ist jedoch, dass die Prozentwerte nicht nur bei den Fragen zur DDR, sondern auch zur alten Bundesrepublik von 1949 bis 1989 in den beiden untersuchten ostdeutschen Ländern deutlich höher liegen als in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen.14 Das Niveau der Kenntnisse scheint also weniger mit der Herkunft als mit der Intensität des Geschichtsunterrichts zu tun zu haben. Dafür spricht auch, dass die Fragen zur Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung – also eine Zeit, die im Geschichtsunterricht der 10. Klasse noch nicht behandelt wurde – von allen am wenigsten zutreffend beantwortet werden. Den Verfassern der Studie ist allerdings ein anderer Punkt wichtiger als die Kenntnisse im engeren Sinn, und damit komme ich zum Ausgangspunkt und zum eigentlichen Thema – Kommunismus in der deutschen Geschichtskultur – zurück. Obwohl nur knapp 11 Prozent der befragten Schüler und Schülerinnen ein insgesamt positives DDR-Bild und nur knapp 9 Prozent ein positives NS-Bild zeichnen15 und sich zirka 60 Prozent der befragten Zehntklässler für eine zukünftige Auseinandersetzung mit den beiden Systemen aussprechen16 – was für alle staatlich finanzierten Aufarbeitungsinstitutionen ganz beruhigend sein dürfte –, sehen die Verfasser vor allem darin Grund zur Sorge, dass ein erheblicher Teil der befragten Schüler die Begriffe Demo12 Ebenda, S. 296 (Tab. 6.6). 13 Ebenda, S. 305 (Tab. 6.8). 14 Ebenda, S. 300 (Tab. 6.7). 15 Ebenda, S. 331 (Tab. 6.15). 16 Ebenda, S. 391 (Schaubild 6.68).

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kratie und Diktatur nicht angemessen zuordnen kann. So sind zirka ein Drittel der Befragten der Ansicht, weder der NS noch die DDR noch die Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung seien Rechtsstaaten; mehr als ein Drittel (bei Hauptschülern sogar mehr als die Hälfte) stimmten der Aussage im Fragebogen zu, »im NS, in der BRD vor der WV, in der DDR und in der BRD nach der WV sind individuelle Menschenrechte gleichermaßen gewährleistet.«17 Ähnlich sieht es bei der Frage nach der Zustimmung zur Aussage aus, die Planwirtschaften des NS und der DDR seien »nicht besser oder schlechter als die Marktwirtschaften der BRD vor und nach der Wiedervereinigung«.18 Die Verfasser der Studie beklagen insgesamt also vor allem die erkennbaren Mängel der Schüler und Schülerinnen darin, die abstrakten Begriffe der Demokratie und der Diktatur den jeweiligen Systemen zuzuordnen. In den Befunden zum Kommunismus, verstanden als konkretes Herrschaftssystem, liegt mithin die aktuelle Herausforderung an geschichtskulturelle Vermittlungsakteure, also an schulische und außerschulische historisch-politische Lernorte. Gedenkstätten haben hier geradezu naturgemäß einen Vorsprung, weil sie unmittelbar über die Anschaulichkeit und Konkretisierung verfügen, die freilich an die abstrakten Begriffe zurückgebunden werden muss.

4. Fazit Seit den Zeiten des Thomas Morus, der zugleich Politiker und humanistischer Gelehrter, Verfasser der Utopia und später ein katholischer Märtyrer war, zielt die Ausmalung eines unerreichbar fernen oder zukünftigen Idealstaats in Wirklichkeit auf die eigene Gegenwart, auf real existierende Missstände. Eine kritische Korrektivfunktion in der aktuellen Gesellschaft ist ihr Ziel. Eine so verstandene Utopie – und sei es die eines demokratischen Sozialismus – in ihrer historischen Bildungsarbeit zu kritisieren, gehört nicht zum Mandat einer im Geiste der liberaldemokratischen, deutschen Verfassung arbeitenden Gedenk- und Bildungsstätte, die damit allzu sehr in einem gesellschaftlichen Deutungskampf auf Seiten des oben beschriebenen antikommunistischen Lagers Partei ergreifen würde. Wohl aber gehört es zu ihrem Bildungs- und Gedenkauftrag – auch wenn das von der Gruppe der »Utopie-Bewahrer« nicht immer gern gesehen wird – am konkreten Beispiel der SED-Diktatur unermüdlich zu zeigen, welche 17 Ebenda, S. 372 (Schaubild 6.55). 18 Ebenda, S. 373 (Schaubild 6.56).

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Folgen es hat, wenn bei der Verwirklichung der kommunistischen Utopie auf demokratische Methoden und Verfahren verzichtet wird. Zu zeigen, was es bedeutet, wenn die Utopie von oben, gestützt auf die Macht der sowjetischen Besatzungstruppen brutal durchgesetzt wird; wie aus dem Wahrheitsmonopol einer Partei für große Teile der Gesellschaft ein Leben in der Lüge wird; wie aus der Berufung auf die Demokratie eine Maske diktatorischer Praxis wird und wie aus der machtpolitischen Instrumentalisierung des Rechts ein Unrechtsstaat wird, der bei der Verfolgung Andersdenkender den Opfern der Repression schwer ermessliches Leid zufügt. Die wohl wichtigsten Zielgruppen der historischen Aufklärungsarbeit einer Gedenk- und Bildungsstätte wie der »Andreasstraße« sind zweifellos die nachwachsenden Generationen. In einer solchen opferzentrierten Gedenkstätte wird das DDR-Bild, insbesondere ostdeutscher Jugendlicher, das häufig, wie wir aus zahlreichen Untersuchungen wissen, einerseits durch die im Rückblick geschönten Erinnerungen an das persönliche Erleben der sozialistischen Gesellschaft der älteren Generation, andererseits aber auch durch manche späteren Erfahrungen mit der wiedervereinigten Bundesrepublik geprägt wurde, zwangsläufig mit der »dunklen«, repressiven Seite der SEDDiktatur konfrontiert. Die geschichtskulturelle Konzentration auf das verbrecherische Herrschaftssystem läuft jedoch Gefahr, eine Abwehrreaktion, eine mehr oder weniger unreflektierte Rechtfertigung der Diktatur, hervorzurufen. Dieses Problem lässt sich nur vermeiden, wenn man die demokratisch-sozialistischen Ursprünge der kommunistischen Utopie in die geschichtskulturelle Vermittlung einbezieht und ihr Ziele zubilligt, die vielleicht unrealistisch, vielleicht auch in dem Sinne gefährlich waren, dass ihre Umsetzung unweigerlich zu totalitären Zuständen führen musste, die aber nicht von vornherein unbillig waren bzw. sind. Das Ziel der historischen Bildungsarbeit ist letztlich, die eigene politische Urteilskraft, insbesondere der jüngeren demokratischen Bürger, zu stärken, selbst zu erkennen, wo eine demokratische Utopie durch den Verzicht auf demokratische Methoden und Verfahren in eine verbrecherische Diktatur umschlägt.

Martin Sabrow

Der Zeitzeuge als Figur der Zeitgeschichte

Zeitzeugen prägen unser Bild von der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.1 Sie vermitteln nachwachsenden Generationen, was es bedeutete, in einem Zeitalter der Extreme zu leben, in dem sich die erbitterte Konkurrenz um die Ordnung der Moderne abspielte und sich zum Schicksal über Leben und Tod aufwarf. Die Zeugnisbereitschaft der vielen, die sich ihrer Erinnerung stellten, half der Zeitgeschichte seit den 1980er Jahren, sich mehr und mehr aus dem Bann einer Strukturgeschichte zu lösen und dem historischen Subjekt wieder mehr Raum zu geben. Der Mensch, den die Figur des Zeitzeugen in Erinnerung ruft, trägt freilich nicht mehr die Züge der Heldengestalt, die Geschichte macht, sondern des Opfers, dem Geschichte widerfährt. Dabei konnte die nach 1989 erneuerte Kommunismusforschung von vornherein auf die geschichtskulturelle Institution des Zeitzeugen zurückgreifen, und allein dies unterscheidet sie maßgeblich von der Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Anders als in der in den späten fünfziger Jahren allmählich einsetzenden medialen Befassung mit der NSZeit beherrschen Zeitzeugen das öffentlich vermittelte Geschichtsbild, wie es das mit dem Namen von Guido Knopp verbundene Geschichtsfernsehen mit seinen ständigen Schnitten von Interviewpassagen und dokumentarischem Material in die bundesdeutschen Wohnzimmer getragen hat. Zeitzeugenbörsen werben im Internet dafür, »die unendliche Vielfalt persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse, die jeder in sich trägt, der eine Weile gelebt hat, zu sammeln und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.«2

1 Der Beitrag nimmt Überlegungen auf, die ich an anderer Stelle ausführlicher entwickelt habe: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen beiden Welten, in: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 13–32. 2 ZeitZeugenBörse – Eine Börse, an der jeder Gewinn macht, online abrufbar unter: http://www.eurag-deutschland.de/home-01/home-ad/hs-ad012.htm [18.03.2013].

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Die historische Genese des Zeitzeugen Der Zeitzeuge, wie er in solchen medial vermittelten Kontexten fassbar wird, ist nicht identisch mit dem Tatzeugen, der ein miterlebtes abgrenzbares Geschehen durch seine Darstellung für andere so präzise wie möglich nachvollziehbar und beurteilbar macht. Er ist auch nicht gleichzusetzen mit dem historischen Fachexperten, der vor Gericht oder in den frühen Fernsehproduktionen zur NS-Geschichte aus dem Off als beglaubigende Instanz auftritt, um Ereignisse und Einschätzungen zu bestätigen und zu kommentieren. Der Zeitzeuge im engeren Sinne hingegen beglaubigt nicht so sehr ein außerhalb seiner selbst liegendes Geschehnis, wie dies der klassische Tat- und Augenzeuge tut; er konstituiert vielmehr durch seine Erzählung eine eigene Geschehenswelt. Er bestätigt weniger durch sein Wissen fragliche Details eines einzelnen und sich häufig ohne sein Zutun abspielenden Vorgangs, sondern dokumentiert durch seine Person eine raum-zeitliche Gesamtsituation der Vergangenheit; er autorisiert eine bestimmte Sicht gleichsam von innen als mitlebender Träger von Erfahrung und nicht von außen als wahrnehmender Beobachter. Die Sachgeschichte des Zeitzeugen reicht tief in die Vergangenheit zurück. So erläuterte der 75-jährige Altmeister Goethe seinem Eckermann: »Ich habe den großen Vortheil, […] daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerika’s von England, ferner von der französischen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war.«3

Und Goethe machte sich auch schon den subjektiven Deutungsvorsprung zu eigen, der sich aus dem vermeintlichen Vorteil des Miterlebens über die Anschauungsferne des nachzeitigen Fachurteils ergibt. »Hiedurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich seyn wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sich nicht verstehen.«4

Die Wortgeschichte des Zeitzeugen hingegen lässt sich überraschenderweise nur weniger weit in die Vergangenheit verfolgen, nämlich bis in die Mitte der 3 Goethe. Begegnungen und Gespräche, hg. von Renate Grumach, Bd. XIV, 1823– 1824, bearb. v. Angelika Reimann, Berlin 2011, S. 350. 4 Ebenda.

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1970er Jahre. In den ersten nachweisbaren Verwendungen des Begriffs 1975 durch den Romancier Hans Hellmut Kirst und 1977 durch den Historiker Hagen Schulze bezeichnet der Zeitzeuge einen unbestechlichen Chronisten, der wie Erich Kuby ein aufschlussreiches Kriegstagebuch geführt5 oder wie Arnold Brecht die Weimarer Republik in kritischer Distanz begleitet hat.6 Im Gefolge einer Neubesinnung auf die NS-Zeit seit dem Ende der siebziger Jahre gewann eine Bewegung gegen das kommunikative Beschweigen der Vergangenheit Ausdruck, das in ihrem Verständnis auch durch die strukturgeschichtlich orientierten Faschismusinterpretationen im Kontext der Studentenbewegung nicht gebrochen schien.7 Immer deutlicher wurde der Zeitzeuge im Laufe der achtziger Jahre und mit einer auffälligen Zunahme ab 1987 zu einer gängigen Münze von Buchund Aufsatztiteln, die sich der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit widmeten. Er stand für eine neue Form der »Vergangenheitsaufarbeitung« und eben nicht mehr der »Vergangenheitsbewältigung«, und er stand für eine neue – mehr von 1968 als von 1945 geprägte – Generation, die mit Hilfe des Zeitzeugenbegriffs Gegengeschichte schrieb und dem geglätteten Distanzierungsritual die konkrete Verfolgungs- und Leidensrealität entgegensetzte, wie schon ein erster Buchtitel von 1982 exemplarisch verdeutlicht: …als wenn nichts gewesen wäre. Fragen an Zeitzeugen zu ihrem Leben im Faschismus.8 In derselben Zeit fanden Zeitzeugen den Weg in die Schule und trugen durch ihre lebendige Schilderung aus der Verfolgtenperspektive dazu bei, die bis dahin im Geschichtsunterricht oft marginalisierte Erfahrungswelt unter nationalsozialistischer Herrschaft erlebbar zu machen. Zugleich wurden Zeitzeugenberichte jüdischer Überlebender zum Gegenstand archivarischer Do5 »Kuby hat diesen scheußlichen Krieg in Tausende Tagebuchnotizen verwandelt. Er wollte, ganz bewußt, geradezu berechnet zielstrebig, ein exakt registrierender Zeitzeuge sein.« Bericht von der Blutbühne. Hans Hellmut Kirst über Erich Kuby: «Mein Krieg», in: Der Spiegel, Nr. 42/1975, S. 214. 6 »Die Großen der Weimarer Republik sind lange tot; auch ihre Mitarbeiter, die Zeitzeugen, die wissen, ›wie es wirklich gewesen ist‹, werden weniger«, notierte Hagen Schulze 1977 zum Tode Arnold Brechts in der Zeit. Hagen Schulze: Glaubwürdiger Zeuge der Demokratie. Zum Tode von Arnold Brecht, in: Die Zeit vom 30. September 1977. 7 Zur steigenden Aufmerksamkeit für den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch im deutschen Fernsehen seit dem Ende der siebziger Jahre: Wulf Kansteiner: Ein Völkermord ohne Täter? Die Darstellung der ›Endlösung‹ in den Sendungen des Zweiten Deutschen Fernsehens, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 31 (2003), S. 253–286, hier S. 264. 8 Dokumente aus Bad Soden, Schwalbach und Hofheim, hg. vom Bund Deutscher Pfadfinder (BDP/BDJ) Main-Taunus, Schwalbach/a.T. 1982.

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kumentation.9 Von 1981 an führten das »Fortunoff Video Archive« in Yale und seit 1985 das »Holocaust Education and Memorial Centre of Toronto« Videointerviews mit jüdischen Überlebenden und leiteten damit eine Sammlungsbewegung ein, die in den neunziger Jahren mit dem Holocaust Memorial in Washington und der von Steven Spielberg gegründeten »Survivors of the Shoah Visual History Foundation« ihren Höhepunkt erreichte. Die Entstehung einer Zeitzeugenbewegung seit den späten siebziger Jahren sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ursprünge der Zeitzeugenschaft bis in die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zurückreichen: Systematische Befragungen der Vernichtung entkommener Juden fanden schon unmittelbar nach der Befreiung 1945 statt.10 Das Mitte der neunziger Jahre bereits mehr als 6.000 Interviews mit Holocaust-Überlebenden umfassende Zeitzeugenarchiv in Yad Vashem geht auf das Jahr 1954 zurück, und 1960 startete das Institute of Contemporary Jewry an der Hebrew University Jerusalem über 200 unterschiedliche biographische Interviewprojekte, die sich die gemeinsame Aufgabe stellten, »to repair the omission in existing documentation«.11 Ein Jahr später stützte sich die 14-teilige ARDDokumentation Das Dritte Reich zum ersten Mal auf ausführliche Aussagen von meist prominenten sogenannten »Erlebniszeugen«, die vorformulierte Stellungnahmen vortrugen und in dieser »Melange aus Zeitzeugen und Experten« (Frank Bösch) für den sich anbahnenden Übergang in das Zeitzeugenzeitalter stehen.12 Denselben Befund ergibt der Blick auf die juristische Auseinandersetzung mit den Mordtaten der NS-Herrschaft. Der Nürnberger Prozess 1946 kannte den Typus des vom Tatzeugen zu unterscheidenden Zeitzeugen noch nicht und ebenso wenig der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965. 9 Thomas Rahe: Die Bedeutung der Zeitzeugenberichte für die historische Forschung zur Geschichte der Konzentrations- und Vernichtungslager, in: Kriegsende und Befreiung, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Bremen 1995, S. 84–88, hier S. 88. Ebenda, S. 87 ff., auch ein Überblick über die Verteilung der anfangs der neunziger Jahren weltweit knapp 12.000 Zeugenberichte auf verstreute Sammlungen in Amerika und Europa. 10 Laura Jockusch: »Jeder überlebende Jude ist ein Stück Geschichte«. Zur Entwicklung jüdischer Zeugenschaft vor und nach dem Holocaust, in: Sabrow/Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen, a.a.O., S. 113–144. 11 Thomas Rahe: Die Bedeutung der Zeitzeugenberichte, a.a.O., S. 87 f. 12 Frank Bösch: Geschichte mit Gesicht. Zur Genese des Zeitzeugen in HolocaustDokumentationen seit den 1950er Jahren, in: Thomas Fischler/Rainer Wirtz (Hg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008, S. 51–72, hier S. 56.

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Spektakulär in Erscheinung trat der Zeitzeuge für eine breite Öffentlichkeit außerhalb Deutschlands das erste Mal im Eichmann-Prozess 1961. Vor dem Bezirksgericht Jerusalem bot Generalstaatsanwalt Gideon Hausner 112 Zeugen auf, die die zerklüftete israelische Gesellschaft dazu bringen sollten, »mehr über die Leiden der europäischen Juden zu erfahren und […] so auch die […] kollektive Identität der Israelis bzw. Juden zu festigen«.13 Hausners Prozessstrategie brachte den Zeitzeugen auf die juristische Bühne, wie er selbst rückblickend unterstrich: »Der einzige Weg, die Katastrophe überhaupt zu konkretisieren, bestand darin, so viele überlebende Zeugen aufzurufen, wie der Rahmen des Prozesses es überhaupt zuließ, und jeden zu bitten, ein winziges Bruchstück dessen zu erzählen, was er gesehen und erlebt hatte.«14

Filmdokumentationen des Prozesses zeigen den »breiten Querschnitt von Menschen […] – Professoren, Hausfrauen, Handwerkern, Schriftstellern, Bauern, Kaufleuten, Ärzten, Beamten und einfachen Arbeitern«15 –, die Hausner in den Zeugenstand rief, damit sie »berichten, was sich in jedem einzelnen Gebiet unter den Nazis abgespielt hatte«.16 Wie schmerzhaft die Geburt des Zeitzeugen war, lehrt der Auftritt des unter dem Pseudonym »Ka-Tzetnik« bzw. »K. Zetnik« bekannt gewordenen Überlebenden Jechiel Dinur (De-Nur), der so wenig wie zahlreiche andere Zeugen aufgerufen wurde, um Eichmann zu identifizieren oder eine konkrete Tat zu beglaubigen, sondern um den Terror eines Vernichtungslagers aus der Vergangenheit von Auschwitz in die Gegenwart des israelischen Gerichtssaales zu transportieren. Im Verhalten Dinurs erhielt die schmerzhafte Geburt des Zeitzeugen nach 1945 geradezu körperlichen Ausdruck: Der Zeuge machte seltsame Gebärden, er fürchtete sich offenbar vor dem Reden. Aber die Kamera beachtete ihn kaum, sie zoomte nicht auf ihn, sondern auf den Staatsanwalt, der eine Frage an den Zeugen richtete. Plötzlich ist ein Tumult hinter der Kamera zu hören, die herumfährt und nur noch den erschütternden Moment einfängt, wie der zitternde Zeuge dem Schock des Erinnern-Sollens im Geiste des biblischen »Sachor – Erinnere Dich!« nicht standgehalten hat und bewegungslos ausgestreckt neben dem Zeugenstand 13 Peter Krause: Die Rezeption des Eichmann-Prozesses in der deutschen Presse. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu Beginn der 60er Jahre, phil. Diss. Berlin 1999, S. 69 [ungedrucktes Manuskript]. 14 Gideon Hausner: Gerechtigkeit in Jerusalem, München 1967, S. 445. 15 Ebenda, S. 452. 16 Ebenda.

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liegt. Auch von anderen Zeugen erfahren wir, dass sie ihre Aussage nicht nur sich selbst um den Preis neuer seelischer Verwundung abgepresst haben, sondern auch einer Umgebung, die ihnen geraten hat, das Vergangene lieber vergangen sein zu lassen und nicht auch noch öffentlich daran zu erinnern, dass sie sich wie Lämmer zur Schlachtbank hätten führen lassen.17 Den Ohnmachtsanfall im Zeugenstand des Jerusalemer Bezirksgerichts als beredten und bedeutungsvollen Ausdruck einer erschütternden Überwältigung zu lesen, erscheint uns, die wir dem Zeitzeugen eine Schlüsselrolle in der Vergangenheitsaufarbeitung zuzumessen gewohnt sind, so unverdächtig wie naheliegend. Von welchen Komplikationen die Geburt des Zeitzeugen im Eichmann-Prozess jedoch in Wirklichkeit begleitet war, lehrt schon die Reaktion Hannah Arendts auf denselben Vorgang. Sie verwahrte sich am »Ende dieses Zeugenaufmarschs« mit kritischer Schärfe gegen die verfehlte Suggestionskraft, mit der die »aus Hunderten und aber Hunderten Bewerbern ausgesucht(en)« Belastungszeugen sich das Recht erkämpft hätten, »nicht zur Sache zu sprechen«, und dabei auch den Richter (Landau) erdrückten, der »rund 50 Sitzungen früher so intensiv gegen diese ›Bildermalerei‹ protestiert hatte«.18 »Wieviel klüger wäre es gewesen, sich diesem Druck ganz […] zu entziehen«, hält sie dagegen: »Dann wäre uns z. B. das Erscheinen jenes auf beiden Seiten des Atlantik unter dem Namen KZetnik bekannten Schriftstellers erspart geblieben, dessen Bücher über Auschwitz sich mit Bordellen, Homosexuellen und anderen ›human interest stories‹ befassen.« Folgerichtig interpretiert Hannah Arendt den Zusammenbruch Dinurs als operettenartigen Kunstgriff einer Zeugendiva, die sich, zu konkreten Auslassungen zur Sache gedrängt, »offenbar tief beleidigt« in eine effektvoll inszenierte Ohnmacht flüchtete. Der Zusammenbruch des K. Zetniks steht in ihrer Interpretation für den Niedergang einer juristischen Prozessführung, die im Interesse eines gefühligen Publikumserfolgs den präzise und nachprüfbar zur Sache aussagenden Belastungszeugen19 durch eine Armada theatralischer »Hintergrundzeugen» ausgetauscht hat, »die möglichst bereits in 17 Vgl. Hanna Yablonka: Die Bedeutung der Zeugenaussagen im Prozess gegen Adolf Eichmann, in: Sabrow/Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen, a.a.O., S. 176–198. 18 Diese und die folgenden Zitate nach Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986, S. 335–337. 19 Als Prototyp eines solchen klassischen Zeugen zeichnet Hannah Arendt dagegen Zindel Grynszpan, den Vater Herschel Grynszpans, den die Anklage ebenfalls in den Zeugenstand gerufen hatte: »Nun stand er hier als Zeuge und erzählte seine Geschichte, sorgfältig auf die Fragen, die ihm der Staatsanwalt stellte, antwortend; er sprach klar und fest, ohne Ausschmückung, nicht ein Wort zuviel […].

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Büchern ihre Erfahrungen niedergelegt hatten und nun ›bezeugten‹, was gedruckt vorlag, oder wiederholten, was sie unzählige Male öffentlich vorgetragen hatten«.20

Der Aufstieg des Zeitzeugen zur Leitfigur des Geschichtsdiskurses Nichts an diesem umstrittenen Vorgang hätte darauf hindeuten können, dass das vom Gericht und vielfach auch von der Mitwelt missbilligte, vom Betroffenen selbst vermutlich qualvoll durchlebte oder vielleicht auch effektvoll inszenierte Wiederaufreißen der Wunden entsetzlicher Misshandlung und Todesangst mehr sein würde als eine kurzzeitige Visite im Totenhaus der Erinnerung. Was kann uns begreifen helfen, wie diese schmerzhafte Beschäftigung mit der durchlittenen Vergangenheit in wenigen Jahrzehnten zur eigentlichen Leitfigur des öffentlichen Geschichtsdiskurses nicht nur in Deutschland, sondern in der westlichen Welt überhaupt aufsteigen konnte? Ein wesentlicher Grund wird vielfach in dem oft diagnostizierten Stellungsverlust der professionellen Historiographie gesucht, die ihre Deutungshoheit seit den sechziger Jahren schrittweise immer weiter verloren zu haben scheint. Mustern wir die Folge der großen Fachdebatten des letzten Halbjahrhunderts zwischen der Fischer-Kontroverse und dem Streit um die Wehrmachtsausstellung durch, so lässt sich in der Tat stichhaltig darlegen, wie sehr die Gesetze des Medienzeitalters die Herrschaft im Fach Geschichte übernommen haben. Die universitären Lehrstuhlinhaber geben in dieser Öffentlichkeitswendung des Faches nicht mehr den Ton an, und an ihre Stelle sind vielfach Schnittstellenakteure getreten, die die Brücke zwischen Fach und Öffentlichkeit schlagen: Gedenkstättenmacher, Historiker-Journalisten, Filmemacher und eben Zeitzeugen. Die kulturelle Tiefendimension des Zeitzeugenbooms aber erschließt erst der Blick auf den radikalen Rollenwechsel, den der Zeitzeuge im Vergangenheitsdiskurs der letzten drei Jahrzehnte durchgemacht hat. Das autobiographische Selbstzeugnis stand bis in die neunziger Jahre vor allem für den Versuch, die fortwirkende Macht des NS-Regimes zu brechen. Unter Berufung auf Primo Levi, der den Nationalsozialismus als »Krieg gegen das Erinnern« Nicht einer […] konnte es mit der unantastbaren, schmucklosen Wahrhaftigkeit des alten Mannes aufnehmen.« Ebenda, S. 341 ff. 20 Zur Diskrepanz zwischen gerichtlicher und öffentlicher Bewertung der Aussage Dinurs im Eichmann-Prozess siehe Hanna Yablonka: Die Bedeutung der Zeugenaussagen im Prozess gegen Adolf Eichmann, in: Sabrow/Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen, a.a.O., S. 176–198.

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und »Orwellsche Fälschung der Erinnerung« las21, wurde der Zeitzeugenbericht zur wichtigsten Macht, um der Führung von Partei und SS entgegenzuwirken, die ihre monströsen Verbrechen in strikter Geheimhaltung verübt hatten und ebenso »die Erinnerung an die Opfer auslöschen wollten«. Entsprechend stand der Zeitzeuge in dieser Zeit für eine demokratische Gegenerzählung von unten, die der Konzentration auf den totalitären Verführer das Leiden ihrer Opfer gegenüberstellte und den abstrakten Faschismustheorien das konkrete Erleben von Verfolgung und Verstrickung. Diese einstige Gegenerzählung hat im Laufe der letzten dreißig Jahre mit dem Generationswechsel schrittweise Hegemonie erlangt. Sie ist selbst zur master narrative unserer Zeit geworden, die im Schulunterricht wie im Geschichtsfernsehen oder in der politischen Gedenkrede das peinlich berührte Schweigen durch den Willen zur Aufklärung abgelöst hat. Wenn sich überhaupt die historische Sekunde dingfest machen lässt, an dem der Zeitzeuge seine beherrschende Stellung im öffentlichen Vergangenheitsdiskurs der Bundesrepublik erlangt hat, so fiel sie vielleicht auf den ergreifenden Moment am Vormittag des 10. November 1988, als die Kamera während der Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestags zum 50. Jahrestag des Judenpogroms von 1938 auf die in der NS-Zeit als Jüdin verfolgte Schauspielerin Ida Ehre zoomte, die zu Beginn der Feierstunde in bewegendem Vortrag Paul Celans Todesfuge rezitiert hatte und nun die Hände vor die Augen schlug, während neben ihr am Rednerpult Bundestagspräsident Philipp Jenninger sich mit einer Skandal machenden Gedenkrede ohne erkennbare Einfühlung und Anteilnahme um sein Amt redete.22

Der Strukturwandel des Zeitzeugen Der Preis für diesen öffentlichen diskursiven Machterwerb bestand darin, dass der Zeitzeuge seine ursprünglich kritische Funktion gegen eine affirmative Rolle eingetauscht hat: Nicht mehr die vollständige, sperrige, widersprüchliche Erzählung einer das herrschende Bild von unten in Frage stellenden Vita, die die Oral History im Erinnerungsinterview zum Sprechen gebracht hatte, steht mehr im Mittelpunkt, sondern die illustrative Funktion 21 Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München/Wien 1990, S. 28. 22 Zum möglichen kommunikativen Missverständnis, das die öffentliche Interpretation der Geste Ida Ehres und der Rede Jenningers begleitete vgl. Holger Siever: Kommunikation und Verstehen. Der Fall Jenninger als Beispiel einer semiotischen Kommunikationsanalyse, Frankfurt am Main/New York 2001.

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einer in Fragmente zerlegten Zeitzeugenschaft, die zur autoritativen Beglaubigungsinstanz der medialen Geschichtserzählung aufgestiegen ist. Der die Attraktivität steigernde Wandel des Zeitzeugen vom kritischen Herausforderer der historischen Meistererzählung zu ihrem affirmativen Belegspender wäre nicht vorstellbar gewesen, wenn der kulturelle Wandel nicht mit einem technischen parallel gegangen wäre. Der Siegeszug des ubiquitär einsetzenden Zeitzeugen als mediale Beglaubigungsinstanz ist technisch verbunden mit der Entwicklung des mobilen Tonfilms bzw. der Synchrontonspur und bald auch den digitalen Schneidemöglichkeiten der Videotechnik, die dem gefilmten Interview zu unbeschränktem Einsatz in der filmischen Erzählung verhalfen. Im Laufe dieser Entwicklung veränderte sich zugleich die Beziehung von Sprecher und Gesagtem in der Zeitzeugenschaft. Während der Begriff des Selbstzeugnisses so unterschiedliche Typen von Ego-Dokumenten wie Tagebücher, Gedichte, Erinnerungsberichte und Aussagen vor Gericht gleichermaßen umfasst, so privilegiert doch die mediale Aufmerksamkeit vor allem die Verschränkung von Autor und Erzählung – der Zeuge gewinnt Bedeutung durch sein Zeugnis, und das Zeugnis erlangt Glaubwürdigkeit durch die sinnliche Präsenz des Zeugen. Darum hat das Interview allen anderen Genres des Selbstzeugnisses seit den achtziger Jahren den medialen Rang abgelaufen und dies insbesondere im Video- und Filminterview, in dem das brüchige Verstummen, die verstohlen aus dem Auge gewischte Träne und die zusammengepressten Lippen nicht weniger bedeutsam erscheinen als der Fluss der aufgezeichneten Rede. Das kulturelle Verlangen nach unmittelbarer Begegnung mit der Vergangenheit stillt seither eine mediale Erinnerungskultur, die noch bis in das 21. Jahrhundert Überlebende des Ersten Weltkriegs als Zeitzeugen zu fassen sucht und den Tod der letzten Kriegsteilnehmer frontübergreifend als Verlust der Vergangenheit selbst beklagt: »Nun ist mit Choules auch ein Teil deutscher Geschichte gestorben«23, begleitete die deutsche Presse das Aussterben 23 So titelte Bild.de am 5. Mai 2011: Letzter Veteran des 1. Weltkriegs gestorben. Claude Stanley Choules wurde 110 Jahre alt, online abrufbar unter: http://www. bild.de/news/ausland/erster-weltkrieg/letzter-veteran-gestorben-17739994.bild. html [18.03.2013]. Ebenso hatte die Presse bereits den Tod des letzten deutschen Frontsoldaten Anfang 2008 kommentiert: »Und so nimmt hierzulande auch niemand Notiz, wenn einer dieser Zeitzeugen stirbt – wie denn auch? Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen kommen die Veteranen von 1914/18 nicht vor; sie sind eine wahrhaft verlorene Generation, deren Leben, Leiden und Sterben in den Schützengräben an Marne und Somme im Schlagschatten des Zweiten Weltkriegs verschwand.« Hans Michael Kloth: Der leise Tod des letzten Veteranen, in: Spie-

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der Frontkämpfergeneration, und den Tod des letzten französischen Kriegsveteranen gab der Welt in Paris gar der Élysée-Palast bekannt: »Die Nation sei tief bewegt, sagte Präsident Sarkozy.«24 Einen gewissen Ersatz zur Wahrung der zeugenschaftlichen Unmittelbarkeit bietet die Denkfigur der »sekundären Zeitzeugenschaft«, die in Bezug auf den Holocaust als »Über-Leben« verstanden wird, »das nicht länger Leben im herkömmlichen Sinne ist« und damit auch den nachgeborenen Berichterstatter mit der »Mitverantwortung für die Vergangenheit« im Sinne einer »stellvertretenden Zeugenschaft« auszustatten erlaubt.25 Dennoch ist anzunehmen, dass eine Konservierung von Zeitzeugenschaft, wie dies die Spielberg Foundation in großem Stil anstrebt, ein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen bleibt. Um Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu sein, muss der Zeitzeuge in seiner Historizität und zugleich in seiner Präsenz sichtbar sein – eben dies macht den Kult um den letzten lebenden Soldaten des Ersten Weltkriegs und den fast hundertjährigen Zeugen des »Tags von Potsdam« aus.26 Diese Mittlerfunktion erlischt im Fall des testis postumus, der selbst Teil der Vergangenheit ist, von der er der Gegenwart künden soll, und eben dies macht die banalste Aussage eines als gegenwärtig erlebbaren oder auch nur behaupteten Zeitzeugen medial wichtiger als die gehaltvollste Äußerung eines bekanntermaßen bereits verstorbenen. Die dahinter wirkende Kraft ist die der Authentizität, die ihrerseits eine Leitformel heutiger Vergangenheitsverständigung darstellt. Das Authentische stellt einen Mythos der Moderne dar, in dem die von Reinhart Koselleck formulierte Differenz von Erfahrung und Erwartung zur Deckung gebracht und die Vergänglichkeit der Zeit aufgehoben wird. Zeitzeugen beglaubigen durch ihre Gegenwärtigkeit die Echtheit ihrer Erlebnisse und suggerieren durch ihre körperliche Präsenz die Unmittelbarkeit der erlebbaren Vergangenheit,

gel online vom 24. Januar 2008, online abrufbar unter: http://einestages.spiegel. de/static/topicalbumbackground/1280/der_leise_tod_des_letzten_veteranen. html [18.03.2013]. 24 Französischer Veteran des Ersten Weltkriegs gestorben, in: Der Tagesspiegel vom 13. März 2008. 25 Ulrich Baer: Einleitung, in: Ders. (Hg.): »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt am Main 2008, S. 7–13, hier S. 12 f. 26 Der Augenzeuge. Pfarrer a.D. Wilhelm Stintzing erlebte als 19-Jähriger den »Tag von Potsdam« mit, in: Märkische Allgemeine Zeitung vom 9./10. März 2013. Eine beigegebene Gegenüberstellung von zwei Porträtaufnahmen unterstreicht die Spannweite des Zeitzeugen: »Wilhelm Stintzing in seiner Jugend und heute an seinem Schreibtisch.« Ebenda.

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die in unserer Lebenswelt längst den affektiven Rang eingenommen hat, den vor Jahrzehnten die Zukunft und der Fortschritt genossen.

Der Zeitzeuge als verkörperte Authentizität Um die ihm zugeschriebene Aura der Authentizität als gleichsam lebender Erinnerungsort zur Geltung zu bringen, muss der Zeitzeuge allerdings darüber hinaus nicht unwesentliche, geschichtskulturelle Voraussetzungen erfüllen. Das Interesse der historischen Erlebnisgesellschaft verehrt das zur historischen Reliquie erhobene Relikt, aber sie sehnt nicht die Vergangenheit selbst zurück, und eben dies befreit sie von dem bohrenden Nostalgieverdacht, der die Rückbesinnung auf die Vergangenheit in den siebziger Jahren noch als reaktionäres Sehnen nach der guten alten Zeit brandmarkte. Das über Flohmärkten wie über Städtebaudiskussionen liegende Interesse an historischer Authentizität ist zugleich die Vergewisserung des Vergangenen als Vergangenem: Wer Berlin ein Hohenzollernschloss wünscht, muss kein Monarchist sein und kein Nazi, wen es zu den Trümmern der Wolfsschanze oder an den genauen Ort des abgetragenen Führerbunkers zieht. Auch der Zeitzeuge präsentiert eine überwundene, unschädlich gemachte Vergangenheit. Mediale Aufmerksamkeit kann er nur als Ausdruck eines erfolgten Läuterungsprozesses gewinnen. Unvorstellbar, dass ein Zeitzeuge sich im Studio immer noch als Teil dessen darstellt, von dem er zeugt. Ein bekennender Nazi, ein eifernder Kommunist taugen nicht als Zeitzeuge. Der Zeitzeuge stellt nicht nur die Brücke zwischen Heute und Damals her, sondern passt auch die Vergangenheit in die Gegenwart ein und dient als Mittler zwischen beiden. Um als Wanderer zwischen beiden Welten dienen zu können, übernimmt er von der Vergangenheit die Erinnerung, von der Gegenwart aber die Wertmaßstäbe, das kulturelle Rahmenformat, in dem er das Vergangene memoriert und zugleich aktualisiert. Im Zeitzeugen kommen die beiden kulturellen Hauptströmungen unseres Geschichtsdenkens zur Deckung, und eben darin liegt seine tiefste Anziehungskraft. Es ist dies zum einen der kathartische, auf Distanzierung bedachte Grundzug der Aufarbeitungsepoche unserer Zeit, die die Identität unseres Gemeinwesens auf die Anerkennung des nationalsozialistischen und des stalinistischen Zivilisationsbruches gründet und vehement von den mimetischen Stolzkulturen abhebt, die wahlweise die Nation, das Volk oder auch die Klasse als verpflichtende Kollektivsubjekte mythisieren. Zum anderen ist es der mimetische, auf Unmittelbarkeit und Authentizität des Vergangenheitserlebnisses setzende Grundzug unseres Geschichts-

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empfindens, das im Zeitalter des Gedächtnisses die einstige affektive Bindung an den Fortschritt und die Verheißung der Zukunft abgelöst hat. Der Zeitzeuge als lebender Erinnerungsort erlöst uns von dem Widerspruch, in dem die Sehnsucht nach der unmittelbaren Begegnung mit Vergangenheit zur gleichzeitigen kritischen Distanzierung von ihr steht, und seine eigentliche kulturelle Leistungskraft liegt darin, dass er nicht nur zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelt, sondern zugleich auch Lust und Last des Erinnerns miteinander versöhnt.

Die Spezifik des DDR-Zeitzeugen Was geschieht, wenn der Zeitzeuge aus seinem kulturellen Korsett ausbricht und seine Vermittlungsrolle zwischen Katharsis und Erlebnis, zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgibt, zeigt der kleine Vorfall, der im Frühjahr 2006 den Berliner Kultursenator von der damaligen PDS fast sein Amt gekostet hätte – als nämlich in der Berliner MfS-Gedenkstätte Hohenschönhausen ehemalige Stasi-Offiziere für ihre interessengeleitete Sicht auf Überwachung und Verfolgung in der DDR Status und Dignität der Zeitzeugenschaft beanspruchten. In der simplen Frage, ob Täter Zeitzeugen sein können oder dürfen, tritt die Spannung zwischen der auratischen und der kathartischen Bestimmung des Zeitzeugen offen zutage. Für die lokale Geschichtspolitik lag die Sache seinerzeit denkbar einfach: »Als Zeitzeugen seien diejenigen zu bezeichnen, die Zeugnis über Geschichte ablegen können, aber kein falsches Zeugnis, wie es die Ex-Stasi-Kader mit ihrer Geschichtsleugnung erkennen ließen«27, erläuterte der Berliner Bildungspolitiker Uwe Lehmann-Brauns 2006 und meinte damit ein Problem gelöst zu haben, das die Modellierung des Zeitzeugen zur Leitfigur unseres Vergangenheitsdiskurses insgesamt betrifft. Denn den vereinzelten Versuchen von Geschichtsdidaktikern und Dokumentaristen, zwischen »guten« und »schlechten« Zeitzeugen zu unterscheiden, war bislang kein Erfolg beschieden. Dennoch widerstrebt es uns, Machthaber und Täter als Zeitzeugen anzuerkennen, weil sie deren kathartische Bestimmung verletzen und die Vergangenheit nicht in ihrer Überwundenheit und Unwiederbringlichkeit beschwören, sondern im Gegenteil in ihrer Ungebrochenheit und Wiederholbarkeit. Hier liegt ein wesentlicher Grund, warum die Kinder der NS27 Sabine Beikler: Flierl soll sich öffentlich entschuldigen. Nach Stasi-Eklat fordert Opposition Erklärung des Kultursenators, in: Der Tagesspiegel vom 21. März 2006.

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Generation ihre Eltern gerade nicht als Zeugen ihrer Zeit würdigen, sondern als deren unverdrossene Künder und oft mit großer Vehemenz zum Schweigen zu bringen trachteten: Ihre sakrale Aura als überdauernde Spur der Vergangenheit vermochte den moralischen Mangel ihrer zu Recht oder Unrecht als »ewiggestrig« disqualifizierten Botschaft nicht zu überstrahlen. Um seine auratische Kraft als Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart ausbeuten zu können, muss der Zeitzeuge daher eine Reihe von Anpassungsprozeduren durchlaufen und Zulassungsschranken überwinden, die seinen Opferstatus sichern oder im Extremfall auch seine mögliche Täterrolle kaschieren – und sei es nur dadurch, dass weinende Täter »auf dem Bildschirm als Opfer ihres früheren Handelns«28 erscheinen. Ein aufschlussreiches Anschauungsobjekt dieses Formungsprozesses stellt für den Fall der DDR die unterschiedliche Stellung von einstigen Machthabern wie Egon Krenz und Günter Schabowski im zeitgenössischen Aufarbeitungsdiskurs dar. Ersterer nutzte die von ihm verkörperte Authentizität als Erinnerungsort in autobiographischen Bemühungen, deren postkommunistischer Leserkreis sich an der fehlenden Katharsisbereitschaft nicht stört oder sie sogar – anders, als dies im Fall des »Dritten Reichs« möglich wäre – entschieden nachfragt. Egon Krenz wird daher der Status des Zeitzeugen in der Regel ebenso wenig zugebilligt, wie es angängig erscheint, einstige Machthaber wie Erich Mielke, Günter Mittag oder gar Erich Honecker als Zeitzeugen anzusprechen, so sehr gerade dessen Moabiter Notizen29 und Letzte Aufzeichnungen30 in der Öffentlichkeit als Zeugnisse ihrer Zeit Aufmerksamkeit gefunden haben. Günter Schabowski hingegen hat die Verwandlung vom Zeitgestalter in den Zeitzeugen erfolgreicher bewältigt, indem er sein Konversionserlebnis in das Zentrum seiner Autobiographie rückte und sich als Opfer seiner selbst und seiner Umstände zu interpretieren anbot. Sein Zeitzeugenstatus ist allerdings prekär. Er geht mit der Ausstoßung aus seinem alten Umfeld einher; er beruht auf einer systematischen Unterbelichtung seines tatsächlichen En­ gagements als SED-Funktionär und zugleich auf der immer erneuerten Bereitschaft zur rückhaltlosen Aufklärung über die Mechanismen seiner Verstrickung. Gleichwohl bleiben prominente Verantwortungsträger der über28 Frank Bösch: Geschichte mit Gesicht, in: Fischler/Wirtz (Hg.): Alles authentisch?, a.a.O., S. 69. 29 Erich Honecker: Moabiter Notizen. Letztes schriftliches Zeugnis und Gesprächsprotokolle vom BRD-Besuch 1987 aus dem persönlichen Besitz Erich Honeckers, Berlin 1994. 30 Ders.: Letzte Aufzeichnungen. Mit einem Vorwort von Margot Honecker, Berlin 2012.

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wundenen Vergangenheit wie Schabowski noch in der entschiedensten Konversionsbereitschaft auf der Schwelle zwischen Zeitgenossenschaft und Zeitzeugenschaft gefangen. Auf ihr bewegte sich nicht anders in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit die Selbstinszenierung Albert Speers und die Präsentation seiner, während der Spandauer Haftzeit, verfassten Erinnerungen. Vom bloßen Zeitzeugen trennte ihn die Verantwortung für das nationalsozialistische Verbrechen; vom bloßen Täter trennte ihn nicht nur das Schuldbekenntnis für das »Unglück, das wir über die Welt gebracht hatten«31, sondern auch die autobiographisch behauptete Ferne zur Macht, die der Propyläen-Verlag in seinem Klappentext besonders herausstrich: »Vom Anfang bis zum Ende des Dritten Reiches besaß Albert Speer einen idealen Beobachterstandort: der privatesten Umgebung Hitlers zugehörig und doch fremd in ihr; mächtig und zugleich ohne Interesse an der Macht. Diese Rolle des Außenseiters im innersten Kreis hat seinem Blick Kühle und Schärfe gegeben.«32

Nicht die Macht, sondern im Gegenteil die Ohnmacht zählt zum Wesen des Zeitzeugen. Wo sie sich nicht aus der historischen Verfolgtenrolle unmittelbar selbst ergibt, muss der Vergangenheitsdiskurs unserer Zeit sie mit den Instrumenten der geschichtskulturellen Einpassung herstellen. Ein typisches Merkmal insbesondere des Fernseh-Zeitzeugen seit den neunziger Jahren ist daher seine Unbestimmtheit.33 Medial aufbereitete und genutzte Zeitzeugenberichte bestätigen sich gerne durch Querverweise auf andere Zeitzeugen wechselseitig, aber sie sind – anders als Zeitzeugen in der Gedenkstättenarbeit – oft nicht präzise zu identifizieren. Judith Keilbach hat in ihren Untersuchungen zur Zeitzeugeninszenierung in bundesdeutschen Fernsehdokumentationen herausgearbeitet, wie der Status des befragten Zeitzeugen eine »Gemeinschaft derjenigen [stiftet], die an einem historischen Ereignis beteiligt waren, ohne Differenzierung zwischen Tätern und Opfern«.34 Diese verschwimmende Differenz von Täter- und Opferwelt, von Verfolgungserfahrung und Tätergesellschaft, drückt sich in der medialen Inszenierung von Zeitzeugen aus, die in der Regel eben nicht in ihrer ganzen Biographie vorgestellt werden, sondern nur ausschnitthaft illustrierend und häufig 31 Albert Speer: Erinnerungen, Frankfurt am Main 1969, S. 524. 32 Ebenda, hier Klappentext. 33 Zum »neuen Typus des Fernseh-Zeitzeugen« im Zeitalter der privaten TV-Konkurrenz: Frank Bösch, Geschichte mit Gesicht, in: Fischler/Wirtz (Hg.): Alles authentisch?, a.a.O., S. 57 f. 34 Judith Keilbach: Zeugen, deutsche Opfer und traumatisierte Täter – Zur Inszenierung von Zeitzeugen in bundesdeutschen Fernsehdokumentationen über den Nationalsozialismus, in: Tel Aviver Jahrbuch 31, a.a.O., S. 287–306, hier S. 304.

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historisch entortet. Der Schweigepakt ist freilich wechselseitig. Er beruht darauf, dass auch der Zeitzeuge die Regeln einhält und seine Erinnerungen an das Geschehen von einst in den Erinnerungskonsens unserer Gegenwart einpasst. Der Zeitzeuge, der den Geist der Zeit, von der er zeugt, willentlich oder unwillentlich in die Gegenwart transportiert, fällt hingegen aus der Rolle. Wie markant die Scheidelinie zwischen dem vermittelnden Zeitzeugen und dem auf die Täterseite zu buchenden Zeitgenossen gezogen ist und welches Skandalisierungspotential ihrer Übertretung innewohnt, lehrt die mediale Aufmerksamkeit für die diskreditierende Rückstufung vom Zeitzeugen zum Zeitgenossen, wie sie in den letzten Jahren angesichts ihrer lange unbekannt gebliebenen NS-Organisationszugehörigkeiten etwa Günter Grass und Walter Jens erlebt haben. Von hier aus lässt sich erklären, warum Zeitzeugen vor allem als Zeugen einer schlimmen Vergangenheit Gehör finden, während etwa von Zeitzeugen der bundesdeutschen Geschichte sehr viel weniger gesprochen wird. Der Zeitzeuge macht gegen die Entlastungsphase der Nachkriegszeit und auch noch gegen die anschließende Bewältigungsperiode durch seine bloße Präsenz auf eine historische Last aufmerksam, die nicht vergessen werden darf – das machte den Kampf um den Zutritt des Zeitzeugen in den Schulunterricht zu einem aufklärerischen und couragierten Geschäft im Geschichtsunterricht der siebziger Jahre. Eine solche Vergangenheit hat die Bundesrepu­ blik nach allgemeinem Urteil nicht – oder hatte sie zumindest lange Zeit nicht. Erst die linksterroristische Facette der 68er Bewegung revidierte diese Auffassung, und auch das Schicksal der misshandelten Heimkinder, der Contergan-Skandal und in jüngster Zeit die Aufdeckung des sexuellen Schülermissbrauchs in Kirche und Schule, ermöglichten die Etablierung einer Zeitzeugenkultur zur Geschichte der Bundesrepublik. Die gerade für die Neue Linke typische Herausbildung einer professionellen Zeitzeugenhistoriographie, wie sie etwa von Gerd Koenen und Wolfgang Kraushaar repräsentiert wird, hat denn auch zu der bekannten polemischen Frage nach dem »Zeitzeugen als Feind des Historikers« geführt35 – und zugleich eine Antwort geliefert: »Hier verschmelzen analytischer Anspruch und individueller Erfahrungshorizont, weil Zeitgeschichte noch im Dialog von Zeitzeugen und Historikern entsteht 35 Felix Dirsch: »1968«: Von der erlebten Zeitzeugenschaft zum Gegenstand der Historiographie? Eine Literaturauswahl in der Rückschau auf das Jubiläumsjahr 2008, in: Zeitschrift für Politik 56 (2009), S. 89–97; Wolfgang Kraushaar: Der Zeitzeuge als Feind des Historikers? Ein Literaturüberblick zur 68er-Bewegung, in: Ders.: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 253–347.

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(wobei letztere häufig selbst ›Zeugen‹ sind). So läuft der auf ›1968‹ gern gemünzte ›Gegensatz von Zeitzeuge und Historiker‹ eigentlich leer.«36

Die relative Abwesenheit des Zeitzeugen in der bundesdeutschen Geschichte erklärt sich daher mehr noch durch ein zweites Unterscheidungsmerkmal: Der Zeitzeuge bildet die Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Erst in der Repräsentation einer als unrettbar verloren empfundenen Zeit entfaltet er seine auratische Kraft. Diese Unwiederbringlichkeit aber ist für die bundesdeutsche Geschichte noch nicht gegeben, die vielmehr so sehr von ihrer Kontinuitätsidentität lebt, dass sich bislang nicht einmal die Unterscheidung von Bonner und Berliner Republik wirklich durchgesetzt hat. Lediglich die Aura des Alters kann diesen Mangel einer historischen Kardinalzäsur kompensieren, wenn sie die gefühlte Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart so eindrucksvoll in die Gesichtszüge von Zeitzeugen biblischen Alters kerbt, wie dies etwa Helmut Schmidt und Egon Bahr noch im zehnten Lebensjahrzehnt öffentlich vorführen. Der Zeitzeuge ist in den Worten Aby Warburgs zu einer kulturellen Pat­hos­formel geworden, die die historische Aufmerksamkeitsökonomie bestimmt und die Maßstäbe der zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung prägt.37 Die historische Fachhistorie hat in dieser Auseinandersetzung keine privilegierte Deutungsmacht mehr, sondern muss sich in einem Konzert vieler Akteure behaupten, in dem Zeitzeugen oft den Ton angeben. Aber sie kann diese vermeintliche Zurücksetzung auch nutzen, um einen Schritt beiseite zu treten und über die sich oft lautlos und hinterrücks verändernden Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Gesprächs über die Vergangenheit nachzudenken, die dem Zeitzeugen nach 1945 seinen beispiellosen Aufstieg beschert haben. 36 Philipp Gassert: Das kurze »1968« zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, in: HSoz-u-Kult vom 30. April 2010, online abrufbar unter: http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/forum/2010-04-001 [15.05.2013]. Siehe auch: Detlef Siegfried: Furor und Wissenschaft. Vierzig Jahre nach »1968«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 130–141, auch online abrufbar unter: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Siegfried-1-2008 [15.05.2013]. 37 Warburg entwickelte den Begriff 1905 in einem berühmt gewordenen Vortrag, dessen Druckfassung im Faksimile leicht zugänglich ist: Aby Warburg: Dürer und die italienische Antike. Sonder-Abdruck aus den Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Hamburg im Okt. 1905. in: Marcus Andrew Hurttig in Zusammenarbeit mit Thomas Ketelsen: Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel, Ausstellungskatalog Köln 2012, S. 86–93.

Waltraud Schreiber

Gedenkstättenarbeit für die »post-mémoire«-Generation. Wie viel Geschichte braucht die demokratische Kultur?

Jährlich sind 700.000 Menschen Gast der Klassik-Stiftung Weimar – 700.000 Menschen allesamt selbstverständlich Repräsentanten von »post-mémoire«Generationen. Sie zeigen: Offensichtlich will und braucht unsere demokratische Kultur diese Geschichte und hat keinerlei Probleme mit ihrer Historizität. Inwiefern befürchten wir, dass alles ganz anders wird, wenn es um Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts, konkret um Nationalsozialismus und kommunistisch/sozialistische Diktaturen geht, wenn es um Gedenkstätten als Repräsentanten der Erinnerungskultur und um unsere Zukunft als demokratische Kultur geht? Der folgende Beitrag geht diesen, mir von der Stiftung Ettersberg zur Reflexion und Beantwortung angetragenen Fragen nach. Dazu wird zuerst geklärt, was das Verständnis von Gedenkstätten heute ist, wobei ein besonderer Fokus auf der »mémoire«-Generation liegt, auf Besuchern also, die selbst Zeugen der thematisierten Zeit waren. Anschließend gehe ich auf Fragen der historischen Erinnerung der »post-mémoire«-Generation an Gedenkstätten ein und setze mich dabei auch damit auseinander, wie viel und welche Geschichte die demokratische Kultur braucht. Die bisherigen Überlegungen werden schließlich an einer Gedenkstätte, die erst im Entstehen ist und somit von Anfang an eine »post-mémoire« Gedenkstätte sein wird, konkretisiert. Die auf die »post-mémoire«-Generation ausgerichteten Kapitel strukturiere ich entlang der didaktischen Zentralfragen nach dem Warum, Was und Wie: Warum sollte die »post-mémoire«-Generation die Geschichte der NSund kommunistisch/sozialistischen Diktaturen kennen? Welche Geschichte(n) braucht die demokratische Kultur; welche Geschichten müssen Gedenkstätten also erzählen, und wie können Gedenkstätten diese so erzählen, dass sie von der »post-mémoire«-Generation einerseits verstanden und andererseits auch zur eigenen Orientierung aufgegriffen werden? Auch hier bleiben die Zeitzeugen im Fokus, diesmal geht es vorrangig um die Nutzung medialkonservierter Interviews in Gedenkstätten.

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Waltraud Schreiber

Gerade auch in den Kapiteln 1 und 2 wird ein weiter Bogen geschlagen; zur Verdeutlichung ziehe ich exemplarisch die Gedenkstätte Berliner Mauer heran. Die »post-mémoire«-Gedenkstätte ist die Gedenkstätte Mühldorfer Hart. Es handelte sich ursprünglich um ein Außenlager des KZ Dachau. Die Wahl der Beispiele erklärt sich daraus, dass ich an den beiden Fällen sehr intensiv über die hier in Rede stehenden generellen Fragen nachgedacht habe: Für die Gedenkstätte Berliner Mauer bin ich Mitglied des wissenschaftlichen Beirats und wirke in einer von diesem beauftragten Gruppe mit, die auch konzeptionelle Überlegungen anstellt. Die Mühldorfer Gedenkstätte liegt in meiner Heimat, und ich arbeite als eine von vielen Mitstreitern seit Jahren daran, dass dort eine Gedenkstätte entsteht. 1. Zum Verständnis von Gedenkstätten heute Gedenkstätten werden in Deutschland von Stiftungen getragen, die den Stiftungszweck in Stiftungsgesetzen formulieren. Ein Blick darauf verdeutlicht die zentrale Rolle der Zeitzeugen, genauer gesagt der Opfer-Zeitzeugen für Gedenkstätten. Dies ist eine erste Erklärung dafür, dass das Ende der Zeitzeugenschaft vielen Gedenkstätten zum Problem wird. Drei Auszüge aus Stiftungsgesetzen, jeweils zum Stiftungszweck, werden zuerst unkommentiert nebeneinander gestellt: Ein Auszug bezieht sich, als Referenz für den Tagungsort Weimar, auf die Stiftung der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Wegen der zur Konkretisierung gewählten Beispiele werden dann das Stiftungsgesetz zur Stiftung Berliner Mauer und zur Stiftung Bayerische Gedenkstätten zitiert. »Zweck der Stiftung ist es, die Gedenkstätten als Orte der Trauer und der Erinnerung an die dort begangenen Verbrechen zu bewahren, wissenschaftlich begründet zu gestalten und sie in geeigneter Weise der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sowie Bildung und Erziehung durch die Erforschung und Vermittlung damit verbundener historischer Vorgänge zu fördern. […] Ferner ist die Geschichte der politischen Instrumentalisierung der Gedenkstätten zu Zeiten der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik darzustellen. Um die Erfahrung der Opfer einzubeziehen, wurden drei Beiräte gebildet: – ein Beirat aus ehemaligen Häftlingen des KZ Buchenwald, – ein Beirat aus ehemaligen Häftlingen des KZ Mittelbau-Dora, – ein Beirat aus ehemaligen Häftlingen des sowjetischen Speziallagers Nr. 2.« (Stiftung der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Paragraf 2: Stiftungszweck, Buchenwald-Mittelbau-Dora-StiftG1)

1 Thüringer Gesetz über die Errichtung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in der Fassung vom 17. März 2003.

Gedenkstättenarbeit für die »post-mémoire«-Generation

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»Zweck der Stiftung ist es, die Geschichte der Berliner Mauer und der Fluchtbewegungen aus der Deutschen Demokratischen Republik als Teil und Auswirkung der deutschen Teilung und des Ost-West-Konflikts im 20. Jahrhundert zu dokumentieren und zu vermitteln sowie deren historische Orte und authentische Spuren zu bewahren und ein würdiges Gedenken der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft zu ermöglichen.« (Stiftung Berliner Mauer, Paragraf 2: Zweck der Stiftung, MauStG2)

»Zweck der Stiftung ist es, die Gedenkstätten als Zeugen für die Verbrechen des Nationalsozialismus, als Orte der Erinnerung an die Leiden der Opfer und als Lernorte für künftige Generationen zu erhalten und zu gestalten, die darauf bezogene geschichtliche Forschung zu unterstützen und dazu beizutragen, dass das Wissen über das historische Geschehen im Bewusstsein der Menschen wachgehalten und weitergetragen wird.« (Stiftung Bayerische Gedenkstätten, Artikel 2: Stiftungszweck, GedStG3)

Die zentrale Rolle der Opfer wird ebenso augenfällig, wie die normative, auf eine »nie wieder« gerichtete Formulierung der Stiftungsgesetze. Zugleich ist allen Gesetzen gemeinsam das Bemühen um Kontextualisierung und wissenschaftliche Fundierung und die klare Formulierung eines Vermittlungsauftrags. Das Konzept von Gedenkstätten als Erinnerungsort wird darin sichtbar; also als geschichtspolitische Orte der Erinnerungskultur, die durch Erinnerung an die Vergangenheit Orientierung für Gegenwart und Zukunft geben sollen.4 Gedenkstätten sind damit, prototypisch gefasst, Orte des Informierens, des Gedenkens/Mahnens und eben des Sich-Erinnerns der Zeitzeugen.5 2 Gesetz über die Errichtung der Stiftung Berliner Mauer – Gedenkstätte Berliner Mauer und Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde (Mauerstiftungsgesetz – MauStG) vom 17. September 2008, abgedruckt in: Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin, 64. Jg., Nr. 24/2008, S. 250–251. 3 Gesetz über die Errichtung der »Stiftung Bayerische Gedenkstätten« (Gedenkstättenstiftungsgesetz – GedStG) vom 24. Dezember 2002. 4 In diese Kurzdefinition sind Überlegungen führender Autoren zu Geschichtspolitik, Gedächtnisorten, Erinnerungs- und Geschichtskultur eingegangen (u. a. Pierre Nora, François Étienne, Hagen Schulze, Martin Sabrow, Georg Kreis, Claus Leggewie, Karl-Siegbert Rehberg, Wolfgang Schmale, Heidemarie Uhl, Hannes Stekl, Jörn Rüsen, Aleida und Jan Assmann). 5 Ausführlicher dargestellt in Waltraud Schreiber: »Kraft der Freiheit – Geist der Diktatur«. Über die Herausforderung, Besucherinnen und Besucher an Gedenkstätten in der Entwicklung ihrer historischen Kompetenz zu fördern, in: Dorothee Brovelli/Karin Fuchs/Raffael von Niederhäusern/Armin Rempfler (Hg.): Kompetenzentwicklung an Ausserschulischen Lernorten (=Ausserschulische Lernorte – Beiträge zur Didaktik, Bd. 2), Münster u. a. 2012, S. 35–67. Oder in

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Waltraud Schreiber

1.1 Informieren, Gedenken/Mahnen, Sich-Erinnern als Dimension der Erinnerungsarbeit an Gedenkstätten

Abb. 1

Gedenkstätten als Erinnerungsorte: Dimensionen des Erinnerns an Gedenkstätten

Dabei gilt es sich bewusst zu machen, dass selbst das Informieren nie objektiv und wertfrei erfolgen kann. Das gilt umso mehr angesichts der eben herausgearbeiteten normativen Aufgaben von Gedenkstätten oder angesichts des Zwangs, Geschichte in den Gedenkstätten auf einem beschränkten, durch Originalität des Ortes ausgezeichneten Raum zu erzählen und an ein breites Publikum zu richten; darunter sind die Opfer-Zeitzeugen als herausgehobene Adressatengruppe. Am Beispiel von Karten und Plänen, mit denen Gedenkstätten scheinbar »nur« darauf hinweisen, wo sie liegen, soll gezeigt werden, dass Infomaterialien immer mehr mittransportieren als die Kernaussage. Damit wird zugleich die Bedeutung der Exponatauswahl verdeutlicht:

Dies.: Gedenkstätten und historische Ausstellungen lesen (lernen), in: Markus Raasch/Tobias Hirschmüller (Hg.): Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität – Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis (=Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 175), Berlin 2013, S. 13–38.

Gedenkstättenarbeit für die »post-mémoire«-Generation

Abb. 2

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Wo liegt die Bernauer Straße (=Ort der Gedenkstätte Berliner Mauer)?

Bei der Entscheidung für eine, wie eine Schulbuchdarstellung anmutende Karte zu den Besatzungszonen Berlins, würde die einordnende Kontextualisierung eine größere Rolle spielen, bei der Entscheidung für eine Internetkarte der Gegenwartsbezug, bei der Entscheidung für eine historische Karte der Vergangenheitsbezug (Abb. 2) und bei der Wahl eines im Gelände situierten Orientierungsmodells der Ortsbezug.

Abb. 3 3D-Modell im Außengelände der Gedenkstätte Berliner Mauer

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Waltraud Schreiber

Das entsprechende Design kann das Modell zudem erkennbar und eindeutig zu einem Teil des Gestaltungskonzepts der Gedenkstätte machen. Im Fall der Gedenkstätte Berliner Mauer findet sich zum Beispiel, entsprechend des Gestaltungskonzepts, eine Ausführung aus Cortenstahl (Abb. 3). Nicht nur die gewählte mediale Präsentation beeinflusst das Informieren, sondern auch der Ort, an dem es stattfindet: Originale Orte im Außengelände der Gedenkstätte »verlangen« andere Informationen und andere Arten und Weisen des Informierens als die Kontextualisierung und Vertiefung ermöglichende Innenausstellung, als die an das weltweite Publikum des Internets gerichtete Homepage, die zudem den Ansprüchen einer multimedialen Präsentation unterworfen ist, oder als der Flyer, der in den Tourismuszentralen der Region in Konkurrenz steht mit der Werbung für den Besuch positiv konnotierter historischer Orte. Gute Gedenkstättenkonzepte schaffen es, ihre Informationen ortsspezifisch zu gestalten und dabei dennoch eine einheitliche, die Gedenkstätte repräsentierende Formensprache zu verwenden. Die Grafik aus Abb. 1 visualisiert, dass »Informieren« sich immer auch mit den anderen Aufgaben der Gedenkstätte überschneidet. Jede originale Quelle und insbesondere jede Bildquelle6, die gezeigt wird, ist für den Besucher, der keine eigenen Erfahrungen mit dem originalen Ort verbindet, lediglich Information. Für den Zeitzeugen können diese Überreste aus der Vergangenheit ein ganz spezifisches, nur für ihn zugängliches, subjektives Sich-Erinnern auslösen. Wer vor dem Mauerbau – zusammen mit Angehörigen, Freunden, fremden Zeitgenossen – die U-Bahn-Station Bernauer Straße benutzt hat, dann aber im Osten oder Westen lebend von der Verbindung abgeschnitten war, die zu schaffen die ursprüngliche Aufgabe von Verkehrsmitteln ist, sieht diese Photographie (Abb. 4) mit anderen Augen als zum Beispiel ein Mitglied der »post-mémoire«-Generation, das gewohnt ist, sich in einer zunehmend grenzenlosen Welt zu bewegen, oder als jemand, der als 40- oder 50-Jähriger zwar ein Mitglied der »mémoire«-Generation ist – also durch den Ost-WestKonflikt (mit-)geprägt ist –, aber keine konkrete Teilungserfahrungen gemacht hat. Die Intensität des ausgelösten Sich-Erinnerns hängt von der Erfahrung ab, die sich mit dieser U-Bahn-Station verbindet: War sie der Ort, an dem der eigene Fluchtversuch gescheitert ist, was eine Haftstrafe in Hohenschönhausen nach sich zog; war sie Symbolort für nie realisierte Träume

6 Vgl. hierzu die ausführlichere Darstellung Waltraud Schreiber: Überlegungen zu Bildern in Gedenkstätten, in: Charlotte Bühl-Gramer/Wolfgang Hasberg/ Susanne Popp (Hg.): Antike – Bilder – Welt. Forschungserträge internationaler Vernetzung, Schwalbach am Taunus 2013, S. 87–103.

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von Flucht, oder löst sie die Erinnerung an das Prinzip »Geisterbahnhof«7 aus, durch die, kontrolliert von bewaffneten DDR-Soldaten, Westberliner UBahnen ohne Halt fuhren.

Abb. 4 U-Bahnhof Bernauer Straße, 1961

Abb. 5 Brandmauer mit dem Schumann-Ikonenbild

7 Vgl. hierzu die Ausstellung der Stiftung Berliner Mauer im Berliner Nordbahnhof: Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin.

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Einen wieder anderen Rahmen für das Überlappen von Informieren und Sich-Erinnern stecken Ikonenbilder ab. Die Gedenkstätte Berliner Mauer baut sie bewusst in ihr Konzept ein. Sie werden in der Außenausstellung – an ihrem originalen Ort – in überdimensionaler Größe auf Brandmauern der die Gedenkstätte einrahmenden Häuser aufgebracht (Abb. 5). Ikonen stehen für etwas, das mehr ist als das historische Ereignis: Der über die Stacheldrahtrollen springende Grenzsoldat Conrad Schumann zum Beispiel ist zur Ikone der Freiheit geworden. Dabei ist es völlig unwichtig, wann, wo, warum genau dieser Sprung stattfand. Das Ziel der Gedenkstätte Berliner Mauer ist, den originalen Ort (Ecke Bernauer/Ruppiner Straße) mit der bekannten Bildikone zu verbinden und die Besucher einzuladen, sich auf deren Kontextualisierung und damit Re-Historisierung einzulassen. Die Information steht im Zentrum dieser Überlegungen. »Es geschah an der Mauer« ist die Überschrift für die Geschichten, die im entsprechenden Bereich der Außenausstellung erzählt werden. Gedenkstättenpädagogen regen an dieser Stelle die Besucher dazu an, die Geschichte(n), die sie selbst mit den Bildikonen verbinden, zu erinnern und sie dann zu dekonstruieren. Das Sich-Erinnern rückt also ins Zentrum, wobei es in diesem Falle nicht um eine Erfahrung geht, die vor Ort gemacht wurde: Es handelt sich um eine Form der Förderung von Methodenkompetenz für den Umgang mit Geschichte in der Geschichtskultur. Ein Aspekt kann sein, sich bewusst zu machen, dass die Bildikone Besitz von Conrad Schumann ergriffen hat, ohne dass er gefragt worden ist, ob ihm das Recht wäre. Dies geht soweit, dass sein Selbstmord im Jahr 1998 damit in Verbindung gebracht wird. Ein anderer wäre, für die Triftigkeit der eigenen Bilder für die Geschichte sensibilisiert zu werden. Wieder liegt für unmittelbare Zeitzeugen des Schumann-Sprungs eine Son­dersituation vor. Für sie erfüllt das Bild eine doppelte Funktion: die enthistorisierte, kulturell geprägte Deutung und die damalige, in ihrer Erinnerung verankerte Erfahrung. Dies gilt auch für Bilder, die Vergangenheit und Gegenwart verknüpfen: Wer als Opfer an der Zerstörung der Mauer mit Hand anlegte, tat dies mit anderen Intentionen und Gefühlen als der mitlebende Westberliner, der mit der Normalität der Mauer gelebt hat, oder der Berlin-Besucher, der eher zufällig vor Ort war. Beim Opfer-Zeitzeugen, beim zum Mauerspecht gewordenen Zufallsbesucher, beim heutigen Besucher, der dieses Bild betrachtet oder beim Denkmalschützer, löst es jeweils etwas anderes aus (Abb. 6). Abschließend sollen noch Gedenken und Mahnen in Bezug zum Informieren und Sich-Erinnern gesetzt werden. Gedenken und Mahnen beziehen sich zwar auf das, was war, sind aber zugleich in die Gegenwart und auf die

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Abb. 6 Mauerspechte in Aktion, 1989/908

Zukunft gerichtet. Die nachfolgenden Bilder (Abb. 7) verdeutlichen ohne viele Worte die Verortung von »Gedenken/Mahnen« zwischen »Sich-Erinnern/Trauern« und »Erinnern/Informieren«. Zu bedenken ist, dass Trauer nicht auf die unmittelbaren Zeitgenossen der Opfer beschränkt ist. In die Trauerarbeit, die Gedenkstätten unterstützen können, ist auch die nächste Generation einzubeziehen; die Trauer der nachgeborenen Familienangehörigen, die wissen, wie sehr der sinnlose Tod ihrer Verwandten auch ihr eigenes Leben beeinflusst hat. Vom Beispiel der Familiengeschichten von HolocaustÜberlebenden wissen wir, dass eine ganz spezifische Form der Trauer um die Opfer auch die Kinder und Enkel der Überlebenden erfassen kann, weil sie immer wieder erfahren haben, dass auch Überleben zur Belastung für einen selbst und für die Familien werden kann.9 8 Online abrufbar unter: http://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/uploads/ berliner_mauer_bilder/mauerspecht_f_ernst.jpg [25.03.2013]. 9 Als Beispiele für Familiengeschichten von Holocaustüberlebenden seien hier genannt: Max Mannheimer: Spätes Tagebuch, Zürich 2005 oder Henrik Gidron Mordechai: Trotzdem weitergelebt. Von Budapest durch das Ghetto-Miskole, Auschwitz-Birkenau, Arbeitslager in München-Allach sowie Mettenheim-Mühldorf und ein neues Leben in Israel, hg. v. Erhard Roy, Wien/Konstanz 2005. Als Beispiel für das Familiengedächtnis: Rudolph Tessler: Letter to My Children. From Romania to America via Auschwitz, Missouri 1999 oder Stephen Nasser/ Sherry Rosenthal: Die Stimme meines Bruders. Wie ein ungarischer Junge den Holocaust überlebte. Eine wahre Geschichte, Las Vegas 2003. Als bekanntestes Beispiel eines Therapeuten, der zugleich Betroffener war, kann Viktor Frankl gelten. Vgl. u. a. Viktor E. Frankl: Gesammelte Werke, Teilband 2: Psychologie des Konzentrationslagers/Synchronisation in Birkenwald/Ausgewählte Texte 1945– 1993, hg. von Alexander Batthyany, Karlheinz Biller und Eugenio Fizzotti, Wien 2006. Als Beispiel für die wissenschaftliche Auseinandersetzung von Kultur­ wissenschaftlern steht zum Beispiel die Publikation von Harald Welzer/Dana

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Abb. 7

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Formen des Gedenkens/Mahnens

Davon zu unterscheiden ist das ritualisierte, kollektive, kulturelle Gedenken, das an offizielle Gedenkveranstaltungen gebunden ist (Abb. 8). In den Gedenkstätten werden dafür eigene Orte geschaffen, oft handelt es sich um Denkmäler. Am Rande der offiziellen Gedenkanlässe können durchaus auch individuelle Formen des Gedenkens entstehen. Manche davon werden ihrerseits aufgegriffen, weitergetragen und ritualisiert, wie das Beispiel der Rosen zeigt, die in die Schlitze der Hinterlandmauer gesteckt werden, die ihrerseits Teil des Kohlhoff & Kohlhoff-Denkmals ist (Abb. 9). Denkmäler sind ästhetisierte, ex-post geschaffene Darstellungen, die als solche dem Zeitgeist ihrer Entstehungszeit entsprechen. Wegen ihrer Histo­ rizität haben Denkmäler auch Verfallsdaten: Wenn Gedenken an Orten stattfindet, die von den Besuchern nicht mehr verstanden oder von ihnen nicht akzeptiert werden, sollte über Veränderungen nachgedacht werden. In der Gedenkstätte Berliner Mauer haben sich zwei weitere Gedenkorte entwickelt, die Alternativangebote an die Besucher machen: das »Fenster des Gedenkens« (Abb. 10) und das allmittägliche Totengedenken in der »Kapelle der Versöhnung«. Beide Formen reagieren als individualisiertes Gedenken, das Opfern Gesicht und Biographie gibt, auf die Bedürfnisse und Erwartungen von Giesecke: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012.

Gedenkstättenarbeit für die »post-mémoire«-Generation Abb. 8 Offizielles Opfer-Gedenken am Kohlhoff & Kohlhoff Denkmal

Abb. 9 Ritualisiert und inoffiziell: Rosen in der Hinterlandmauer

Abb. 10 Weiße Rosen als Erinnerungszeichen im »Fenster des Gedenkens«

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Besuchern. Das kirchliche Gedenken weitet das Verständnis von Opfer-Sein aus, indem es auch der Mauerschützen gedenkt, die im Dienst – in einem Dienst, der auch den Schießbefehl und die Tötung von Flüchtlingen einschloss – erschossen wurden. Gedenkstätten, so lassen sich die Überlegungen zusammenfassen, erzählen immer Geschichte(n). Dabei folgen sie ihrem Stiftungszweck, das heißt, dass der Umgang mit dem Unrecht der Diktaturen leitend ist, den Opfern eine herausgehobene Rolle zugewiesen wird sowie auf eine wissenschaftsgeleitete und damit mehrdimensionale Erschließung des historischen Ortes zu achten ist. Der Bildungsauftrag bezieht sich – zukünftig vor allem – auf die »post-mémoire«-Generationen. Die Aufgaben, die sich aus dem Verständnis von Gedenkstätten als Orte des Informierens, des Gedenkens/Mahnens und Sich-Erinnerns ergeben, sind davon geprägt. Die idealtypische Trennung spiegelt sich nicht in der Realität; hier haben wir es mit einer Überlappung und Beeinflussung zu tun. Wie Informieren, Gedenken/Mahnen und SichErinnern zusammenwirken, hängt unter anderem von den Erfahrungen ab, die die Besucher konkret mitbringen. Gedenkstättenmacher, die ihre Gedenkstätten in diesem Bewusstsein gestaltet haben, und Gedenkstättenpädagogen, die ihre Erschließungsarbeit davon leiten lassen, können ihre Gedenkstätte näher an die Bedürfnisse der Besucher ausrichten. 1.2 Zum Funktionswandel von Zeitzeugen In den letzten Jahren ist es üblich geworden, dass Opfer-Zeitzeugen nicht mehr nur als herausgehobene Besucher und Gäste der Gedenkstätten wahrgenommen werden. Es wird ihnen zudem eine Rolle bei den Aufgaben des Informierens und Gedenken/Mahnens zugewiesen. Dies stellt eine weitere Erklärung dafür dar, warum Gedenkstätten und ihre Besucher das nahende Ende der Zeitzeugenschaft als massives Problem empfinden. Mit dem aktiven Einbeziehen von Opfer-Zeitzeugen in die Aufgaben des vergangenheitsbezogenen Informierens und des gegenwarts- und zukunftsbezogenen Gedenkens/Mahnens werden aber nicht nur Probleme der Gedenkstätten gelöst, es entstehen auch welche. Werden die Narrationen durch Opfer-Zeitzeugen präsentiert, liegt eine mögliche Gefahr darin, dass ihren Erzählungen ein Maß an Authentizität und Wahrheit zugemessen wird, das aus epistemologischen Gründen10 keine Narration für sich beanspruchen kann. Jede historische Narration ist notwendigerweise 10 In der Geschichtswissenschaft herrscht ein breiter Konsens über die narrative Struktur von Geschichte und die sich daraus ergebenden epistemologischen Prin-

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Ausdruck historischer Konstruktionen, geleitet durch selektiv wirkende Fragestellungen, abhängig von der immer partikularen Überlieferungslage, geprägt von mehrfacher Perspektivität, beeinflusst durch die ausgewählten Exponate und die gewählten Präsentationsmedien.

Dies gilt auch für die Narrationen der Zeitzeugen, wobei hier auch noch der Doppelcharakter von Quelle und Darstellung zu bedenken ist, den alle Zeitzeugenaussagen haben. Mit ihnen reflektiert umgehen zu können, verlangt deshalb sowohl Re- als auch De-Konstruktionskompetenz: Quellencharakter haben die Erlebnisse. Ihre Perspektive ist durch den damaligen Erfahrungsraum geprägt. Die Quelle Zeitzeuge muss, wie jede andere Quelle auch, kritisch geprüft und kontextualisiert werden. (Dies verlangt Re-Konstruktionskompetenz). Die Erzählung, die durch deutende und sinnbildende Vernetzung der Erinnerungen zustande kommt, muss, wie jede andere historische Darstellung auch, auf ihre empirische, narrative und normative Triftigkeit11 hin überprüft werden. (Das erfordert De-Konstruktionskompetenz). Dies erfolgt selbstverständlich, wenn Zeitzeugenaussagen in der Forschung zur Rekonstruktion von Vergangenem herangezogen werden. Wenn Opfer-Zeitzeugen Besuchern am Ort ihres Leidens ihre Geschichte erzählen – Besuchern, die der historischen Methode weniger kundig sind als Historiker – gelten diese Selbstverständlichkeiten nicht mehr ohne Weiteres. Die Konsequenz daraus ist, dass eine Gedenkstätte, gerade weil sie beidem verpflichtet ist, der Achtung vor dem Leid der Opfer und der wissenschaftlichen und politischen Fundiertheit sowohl des Informierens als auch des Mahnens, sich in ein Dilemma bringen kann; etwa wenn Zeitzeugen (unkontrolliert und auch unkontrollierbar) als Führungspersonal eingesetzt werden. Dabei geht es nicht nur um die sachliche Korrektheit, also die empirische Triftigkeit, sondern insbesondere auch um die narrative und normazipen (u. a. Konstruktcharakter, Perspektivität, Selektivität, Partialität), diese sind prägnant zusammengestellt bei Hans Michael Baumgartner: Narrativität, in: Klaus Bergmann/Klaus Fröhlich/Annette Kuhn/Jörn Rüsen/Gerhard Schneider (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl., Seelze-Velber 1997, S. 157–160. 11 Das Konzept geht zurück auf Jörn Rüsen: Historische Vernunft, Göttingen 1983, S. 85–116 und wird u. a. im Kompetenzstrukturmodell der FUER-Gruppe aufgegriffen: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, 2. Aufl., Neuried 2010.

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tive. Vergangenheitsbezüge wie gegenwarts- und zukunftsbezogene Botschaften können, so eindrücklich sie sein mögen, wenn sie aus dem Munde betroffener Opfer kommen, einen Zungenschlag bekommen, der gerade für die »post-mémoire«-Generationen Schwierigkeiten birgt. Weil Erleben und Erfahrung die Hauptdimensionen sind, kann das für die »post-mémoire«Generation Zugänge zur Vergangenheit verschließen. Wenn die Erfahrungen fremd und fern sind, dann hat zugleich die daraus erwachsende historische Orientierung nichts mit dem eigenen Leben zu tun; aus Geschichte zu lernen ist dann das Problem der Anderen.12 Wer zum Beispiel die Faszination, die von Ideologien ausgehen kann, nie vor Augen geführt bekommen hat, sondern nur mit ihren unfassbaren mörderischen Facetten konfrontiert wurde, wird nicht in der Lage sein, sich Anfängen einer wie auch immer gelagerten Ideologisierung zur Wehr zu setzen. Wer nie dazu angeregt wurde, darüber nachzudenken, was sich mit dem Leben in Diktaturen zu arrangieren an Konsequenzen nach sich ziehen kann, hat keinen Anlass, diesen oft so nahe liegenden, immer einfacheren Weg zu hinterfragen. Wer den Gedanken nie gedacht hat, dass auch Täter Opfer sein können und Opfer Täter, lernt nicht, die Grautöne zu sehen, aus denen die Welt in vielen Hinsichten besteht. Manchen Opfer-Zeitzeugen fallen, eben weil sie Opfer waren, solche Differenzierungen schwer. In der Rolle von Quasi-Gedenkstättenpädagogen gelingt es ihnen nicht immer bei den Besuchern Reflexionsprozesse anzuregen, die über Empathie und Mitleid hinausgehen. Zeitzeugen, die bereit sind über ihre Erfahrungen zu sprechen, sind ein Gewinn für jede Gedenkstätte. Sie nehmen diesen aber nicht die Verantwortung für kontextualisierende Information ab oder für ein zukunftszugewandtes Gedenken und Mahnen. Immer wieder einmal kann es auch notwendig werden, dass Gedenkstätten sich gegenüber dem Sich-Erinnern der Zeitzeugen distanzieren. Sich die Chancen und Grenzen des Einsatzes von Zeitzeugen als Informationsquellen bewusst zu machen, ohne das eine über das andere zu stellen, ist die Herausforderung für Gedenkstätten. Veranstaltungen, die Diskurse zulassen und anregen, sind geeignet, diese Herausforderung zu meistern: Zeitzeugencafés zum Beispiel, in denen mehrere Zeitzeugen ihre Erinnerungen abgleichen; Diskussionen mit Zeitzeugen; auch Seminare, in denen Besucher lernen können, mit Zeitzeugengesprächen re- und dekonstruierend umzugehen. De- und rekonstruierend arbeiten, müssen auch die Gedenkstättenmacher, wenn sie entscheiden, welche Zeitzeugenaussagen sie in ihre Ausstel12 Auch Harald Welzer weist in seiner letzten Publikationen auf diese Problematik hin: Harald Welzer/Dana Giesecke: Das Menschenmögliche, a.a.O.

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lungen integrieren, welche sie als Erweiterungsmaterialien anbieten oder wie sie Zeitzeugenarchive anlegen und zugänglich machen. Zeitzeugen bzw. Zeitzeugenerzählungen sind in diesen Fall nicht nur Quelle und Darstellung, sondern zugleich auch Exponat und Arbeitsmaterial. Wieder eine andere Rolle erfüllen Zeitzeugen, wenn sie bei offiziellen Gedenkanlässen sprechen. Sie werden dann zu Repräsentanten vieler und zum Gewissen aller. Zeitzeugen übernehmen, erhalten und übertragen dabei eine politisch-normative Funktion: Sie stellen ihre Erinnerungen zur Verfügung, um zu informieren, zu trauern, zu gedenken und zu mahnen. Um was es in den Situationen an Gedenktagen oder bei Auftritten in politischen Veranstaltungen oder in Beiratssitzungen ganz sicher nicht geht, ist das eigene SichErinnern. Adressaten sind die Anderen, zunehmend die Mitglieder der »postmémoire«-Generationen. Diese sollen gezielt in die Verantwortung genommen werden, gegen ein Vergessen des eigenen Leids.

2. Historische Erinnerung für die »post-mémoire«-Generation. Worin besteht die Herausforderung?

Abb. 11 »Die Zeit« zum 15. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 2004

Die Abbildung 11 in der Zeit anlässlich des 15. Jahrestages des Mauerfalls bringt die Herausforderung auf den Punkt: Jugendliche, die in einer zunehmend grenzenlosen Welt aufwachsen, sollen sich der Möglichkeiten und Chancen historischer Orientierung bewusst werden, die in der Beschäftigung mit der »Mauer« stecken. Eigentlich sollen sie sogar noch mehr: Sie sollen

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ausgehend von den Brüchen, die die Diktaturen des 20. Jahrhunderts darstellten, auch die Notwendigkeit erkennen, sich mit den Errungenschaften auseinander zu setzen, mit denen die Diktaturen gebrochen haben. Damit kommen große Themen wie Rationalismus, Humanismus und Aufklärung in den Horizont oder das revolutionäre Streben nach Demokratie und Freiheit, das im 18. Jahrhundert begann und von keinen Mauern, Ideologien, Mächten aufgehalten werden kann, wenn der Druck genügend hoch wird.13 Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass Jugendliche (wie auch die Erwachsenen) an jeder Stelle der Auseinandersetzung mit Geschichte verstehen lernen sollen, dass sie selbst in der Verantwortung stehen, weiter zu entwickeln, was Generationen vor ihnen angelegt haben und dass das heißt, eine Balance zu finden zwischen bewahren und neu denken – im Großen wie im Kleinen. 2.1 Warum? Zum Wesen des Menschen gehört die Historizität Mit solchen Überlegungen ist die am weitesten reichende der drei didaktischen Fragen angesprochen, die nach dem Warum der Beschäftigung mit Geschichte; ihr nachgeordnet sind die Fragen nach dem Was und Wie. Warum soll sich die »post-mémoire«-Generation mit den Diktaturen befassen, die ihre Eltern und Urgroßeltern erlebt haben, und was ist der Horizont, der dabei aufscheinen soll? Wie viel Geschichte braucht die demokratische Kultur, lautete die entsprechende Frage der Stiftung Ettersberg auf dem 11. Internationalen Symposium. Eine Möglichkeit, eine Antwort auf diese Frage zu geben, ist mit der Historizität als Wesensmerkmal des Menschen zu argumentieren: Der Mensch als das Wesen, das sich erinnern und aus den Einsichten in das Gewordensein Schlüsse für das Werden ziehen kann; als das Wesen, das sich bewusst ist, auf den Schultern der Vorfahren zu stehen, in deren Schuhen zu gehen, von deren Erfahrungen, deren Tun, aber auch von deren Scheitern zu profitieren; das Wesen, das sich bewusst ist, dass die Geschichte der Anderen »in uns« wirkt.14 Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts dürfen dann nicht in Vergessenheit geraten, damit »Ausschwitz«, mit Adorno gesprochen, »nicht wieder 13 Die Liste ließe sich fortsetzen, etwa um die großen Theorien, die das Menschsein denken (wie Sozialismus und Liberalismus), um die Wirtschaftstheorien, die Ökonomie zunehmend zusammen mit Ökologie und Nachhaltigkeit zu erfassen versuchen, oder auch um die Religionen, die Wertehorizonte aufspannen, die das Zusammenleben leiten können. 14 Ich beziehe mich bei diesen Überlegungen auf Philosophen (wie Kant, Scheler, Nietzsche, Husserl, Bloch, Danto) oder Geschichtstheoretiker und Geschichtsdidaktiker (wie von Borries, Rüsen, Körber, Hasberg).

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sei«15, damit Menschheitsideen, zum Beispiel die von Freiheit und Gleichheit, nicht noch einmal in ihr Gegenteil verkehrt werden, damit die Menschenrechte immer umfassender geachtet werden. Diesen großen Rahmen gilt es zu operationalisieren und zu konkretisieren. Die Fragen nach dem Was und dem Wie stellen sich. Dies sind nicht zuletzt immer auch Fragen der Auswahl. Jede Bildungseinrichtung, egal ob Schule oder Gedenkstätte, hat damit zu kämpfen, in begrenzter Zeit und auf begrenztem Raum zu ausgewählten Themen (Was?) Geschichte(n) zu erzählen und zwar in einer auf die Institution und ihre Adressaten abgestimmten Weise (Wie?). Eine Möglichkeit, die Auswahlentscheidungen zu leiten, hat Jörn Rüsen ins Spiel gebracht: Er geht davon aus, dass es anthropologisch fundierte Spannungen gibt, die als Motor menschlichen Lebens wirken, weil insbesondere die Benachteiligten nach Ausgleich streben. Auf diese Weise würden in allen Kulturen das Menschsein und die menschliche Entwicklung vorangebracht.16 2.2 Was? Anthropologische Grundkonstanten als Bezugspunkt für Auswahlentscheidungen Diese Spannungen seien überzeitlich und zeitspezifisch zugleich. Aktive historische Orientierung, also Bezüge auf die Erfahrungen der früheren Generationen, seien nötig, um mit den ins Menschsein »eingeschriebenen« Spannungen umgehen und sie auflösen zu können. Es handelt sich dabei zum Beispiel um Spannung zwischen • Oben und Unten; Herr und Knecht, • Zentrum und Peripherie; Innen und Außen, • Mann und Frau, • Alt und Jung, • Macht und Ohnmacht, • Handeln und Leiden, • Sterben-müssen und Totschlagen-können, • Freund und Feind, • Arm und Reich, 15 Theodor W. Adorno: Erziehung nach Ausschwitz, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, Frankfurt am Main 2006, S. 88. 16 Gerade in den letzten Jahren spielen die anthropologischen Spannungsfelder für Jörn Rüsen eine wichtige Rolle, wenn er die weltweite Bedeutung der Humanität herausarbeiten will. Vgl. Jörn Rüsen: Einleitung: Menschsein – kognitive Kohärenz, in: Ders. (Hg.): Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, Bielefeld 2010, S. 11–39.

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Individualität und Gesellschaftlichkeit, Bewusstheit und Unbewusstheit, Innerweltlichkeit und Transzendenz, Gut und Böse.

Um aus der Auseinandersetzung mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts Orientierungspotenziale ableiten zu können, wären dann zum Beispiel Spannungsfelder zu bestimmen, die als Auslöser von Bedeutung waren; Felder, die es ermöglicht haben, an die Versprechen der Ideologien zu glauben; oder Felder, die schlussendlich zu den Katastrophen führten. Gedenkstätten können diese überzeitlichen, anthropologisch fundierten Spannungsfelder in ihren zeitspezifischen Ausprägungen und Fehlformen aufschließen und weitere Zusammenhänge herstellen. Wegen ihrer überzeitlichen Gültigkeit sind den Besuchern, auch denen der »post-mémoire«-Generation, die Spannungsfelder grundsätzlich vertraut. An ihrer zeitspezifischen Ausprägung in der Phase der Diktaturen erschließt sich zugleich ihre Alterität. Es wird offensichtlich, dass ein Scheitern der Spannungslösung fatale Wirkungen nach sich ziehen kann. Diese Einsicht erschließt zugleich das Orientierungspotenzial für Gegenwart und Zukunft: Wenn den Besuchern bewusst geworden ist, dass Spannungsfelder sowohl das Potential haben, Brüche mit menschlichen Errungenschaften auszulösen als auch Weiterentwicklungen anzustoßen, bekommt historische Orientierung konkrete, handlungsleitende Bedeutung. Die Verantwortung wird in den Alltag des Einzelnen hereingeholt; für das »Nie wieder« sind nicht die Anderen, die Mächtigen oder die damals Schuldigen zuständig, sondern in seinem Bereich jeder Einzelne. Intuitiv, vielleicht auch weil es sich um anthropologische Grundkonstanten handelt, erzählen viele Zeitzeugen Geschichten gerade aus diesen Spannungsfeldern. Ihre Erzählungen sind konkret, ganzheitlich, lebendig, nachvollziehbar – auch für die »post-mémoire«-Generation. Sie lösen Empathie und Mitleiden aus. Das Potential, Bezugspunkte für Orientierung zu schaffen, haben sie allerdings erst dann, wenn sie eingeordnet, begründet, beurteilt werden. Für die Kontextualisierung bietet es sich an, Kategorien wie Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Gender, Religion etc. heranzuziehen. Dass zwischen den Feldern, die anthropologische Spannungen definieren, und den eben aufgelisteten, in der Geschichtswissenschaft eingeführten, kategorialen Zugriffen enge Zusammenhänge bestehen, ist offenkundig. Meine These ist also, dass Orientierung, verstanden als sinnbildender Transfer auf Gegenwart und Zukunft, dann besser gelingen kann, wenn ihre zeitübergreifende Relevanz sichtbar geworden ist.

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2.3 Wie sollte Geschichte an Gedenkstätten erzählt werden? Idealerweisen sollte es Besuchern problemlos möglich sein, sich die der Gedenkstättengestaltung zugrunde liegenden Fragestellungen und Ideen zu erschließen. Die Geschichten sollten konstruktionstransparent17 erzählt werden, das heißt, es sollte klar nachvollziehbar sein, warum welche Geschichte wo und wie erzählt wird. Nur wenn Besucher verstehen, was die Gedenkstätte ihnen anbietet, können sie sich nämlich auch zu den Deutungen und Sinnbildungsangeboten positionieren und sie für die eigene Orientierung fruchtbar machen. Weil aber nicht davon auszugehen ist, dass Besucher (und nicht nur die Jüngeren) dazu ohne weiteres in der Lage sind, stehen Gedenkstättenpädagogen, gegebenenfalls auch Lehrkräfte, zur Unterstützung bereit. Deren Ziel sollte sein, nicht nur diese eine Gedenkstätte zu erklären, sondern an ihrem Beispiel die Kompetenzen der Besucher für den Umgang mit Geschichte generell zu stärken. Dabei ist es hilfreich, sich an einer Modellvorstellung zu orientieren. Die internationale FUER-Gruppe hat ein derartiges Modell für historische Kompetenzen erarbeitet18 und dessen Tragfähigkeit pragmatisch und empirisch belegt (Abb. 12).19 Die Grundidee ist, • dass der Zuwendung zur Vergangenheit idealtypisch Interesse, Verunsicherungen und Bedürfnisse zugrunde liegen, die sich in einer Fragestellung fokussieren lassen, • dass den Fragestellungen methodisch reguliert nachgegangen werden kann, • dass die gefundenen Antworten einen Beitrag zur eigenen historischen Orientierung leisten,

17 Den Terminus konstruktionstransparent haben Waltraud Schreiber, Florian Sochatzy und Marcus Ventzke erarbeitet. Vgl. Waltraud Schreiber/Florian Sochatzy/Marcus Ventzke: Das multimediale Schulbuch – kompetenzorientiert, individualisierbar und konstruktionstransparent, in: Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/Florian Sochatzy (Hg): Schulbuchanalysen als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik, Stuttgart 2013, S. 212–232. 18 Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hg.): Kompetenzen historischen Denkens, a.a.O. 19 Zur empirischen Validierung des Modells vgl. u. a. die Beiträge der Kollegen Bertram, v. Borries, Körber, Meyer-Hamme, Schreiber, Serwuschok, Lehmann in den von Jan Hodel und Beatrice Ziegler herausgegebenen Bänden Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik. Für große empirische Studien (HiTCH, mBook-Studien) laufen im Augenblick die Datenerhebungen. Vgl. hierzu die Homepage unter: http://www.geschichtsdidaktik.info.

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• dass dies Sachkompetenz einerseits bereits voraussetzt und sie andererseits weiterentwickelt. Mit Sachkompetenz ist die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft gemeint, Entwicklungen und Veränderungen kategorial zu erfassen, sie auf den Begriff zu bringen und die entsprechenden Konzepte zur Strukturierung vergleichbarer Phänomene zu nutzen.

Abb. 12 Die Kompetenzbereiche nach dem FUER-Modell

Das Modell wird im Folgenden konkretisiert, wobei einerseits die Gedenk­ stättenakteure (Gedenkstättenmacher20 und Gedenkstättenpädagogen) und andererseits die Besucher, und hier insbesondere Besucher der »postmémoire«-Generation, der Bezugspunkt sind. Wer sperrte warum ein ganzes Volk ein? Wie konnte das überhaupt funktionieren? Warum machten Menschen dabei mit, ihren Mitmenschen Freiheiten vorzuenthalten? Warum schossen Menschen auf eigene Mitbürger? Warum arrangierten sich Ost und West mit der Mauer? Was hat ihren Fall bewirkt? Aus solchen konkreten Fragen zur Vergangenheit können Fragestellungen mit Orientierungspotential werden, indem sie kategorial unterfüttert werden. Dafür können zum Beispiel die anthropologischen Spannungsfelder genutzt werden. Die Doppelpaare Macht und Ohnmacht; Freund und Feind; Handeln und Leiden, Sterben-müssen und Totschlagen-können; Gut 20 Mit Gedenkstättenmacher sind die für den Auftritt der Gedenkstätten Verantwortliche gemeint, zum Beispiel Direktoren, Kuratoren, Gestalter und wissenschaftliche Beiräte.

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und Böse; Arm und Reich bieten sich zum Beispiel an. Über Fragekompetenz verfügt, wer dazu in der Lage ist, Fragestellungen zu entwickeln bzw. zugrunde liegende Fragestellungen zu erkennen. Ersteres kommt in Gedenkstätten vorrangig den Gedenkstättenmachern zu, letzteres den Besuchern, gegebenenfalls unterstützt von Gedenkstättenpädagogen. Allerdings können Besucher sich den Gedenkstätten auch mit eigenen Fragen zuwenden; insbesondere die Gedenkstättenpädagogen stehen dann vor der Herausforderung, die Fragestellungen der Besucher zu identifizieren und auf sie einzugehen. Generell müssen, um Fragestellungen nachzugehen, dafür relevante Quellen (und die auf die jeweiligen Quellen gestützte Historiographie) ausgewählt und ausgewertet werden. Im Falle der Gedenkstätten ist das Ziel zum einen die Forschung, zum anderen die besuchergerechte Dokumentation. Zeitzeugenerfahrungen sind ein Beispiel für die einzubeziehenden Quellen. Die Antworten, die aufgrund von Quellen und Historiographie möglich werden, müssen als Narrationen dargestellt werden, und das zwingt not­ wendig zu Interpretation und Deutung. Die Rede ist hier von Re-Konstruktionskompetenz, über die insbesondere wieder die Gedenkstättenmacher verfügen müssen. Von den Besuchern wird vorrangig De-Konstruktionskompetenz verlangt, wenn sie erkennen sollen, welche Auswahlentscheidungen die Verantwortlichen getroffen haben, wie sie die vorgeschlagenen Deutungen und Sinnbildungen herleiten und begründen und für welche Präsentationsweise sie sich warum entschieden haben. Sich selbst zu posi­tio­nieren, verbindet De- und Rekonstruktion. Re- und De-Konstruktions­ kompetenz zusammen sind die beiden Bestandteile von historischer Methodenkompetenz. Methodisch fundiert mit Vergangenheit und Geschichte umgehen zu können, ist ein entscheidender Bestandteil historischer Kompetenz. Dies kommt Besuchern der »post-mémoire«-Generation entgegen, weil Methodenkompetenz nicht notwendigerweise eine besondere Nähe zum Gegenstand voraussetzt. Der normative Auftrag verlangt von den Gedenkstätten explizite Botschaften für die Besucher zu formulieren. Es ist Ausdruck der Orientierungskompetenz der Macher, Sinnbildungen vorzuschlagen, die das Selbst-, Welt- und Fremdverstehen ihrer Besucher unterstützen und sie zu historisch fundierten Entscheidungen anzuregen. Für die Orientierungskompetenz der Besucher spricht, wenn diese sich den an der Gedenkstätte unterbreiteten Vorschlägen bewusst anschließen bzw. diese bewusst modifizieren oder auch ablehnen. Ein weiterer Aspekt von Orientierungskompetenz ist, die Fähigkeit und Bereitschaft, sein eigenes Geschichtsbewusstsein zu modifizieren. In Anlehnung an Jörn Rüsen habe ich oben die These vertreten, dass Gedenkstättenmacher die Besucher, insbesondere auch die der »post-mémoire«-

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Generation, dabei unterstützen können, Orientierungen aus der Gedenkstätte ins alltägliche Leben mitzunehmen, wenn sie an anthropologischen Spannungsfeldern ansetzen, einmal um zu erklären, was geschehen ist und zum anderen, um die Besucher mit in die Verantwortung zu nehmen, dass Ähnliches nie mehr geschehe. Die Doppelkategorien haben überzeitliche Gültigkeit, realisieren sich aber jeweils zeitspezifisch, zum Beispiel in den in Gedenkstätten thematisierten Diktaturen. Aus der Zeitspezifik ergibt sich, dass auch das eigene Handeln der eigenen Zeit angepasst sein muss. Aus der Überzeitlichkeit folgt, dass zum Beispiel Handeln, das zu Leiden führt, nie auf Dauer erfolgreich sein kann, dass Ohnmächtige mächtig werden können oder das Leiden in Handeln umschlagen kann. Das Niveau der Auseinandersetzung mit Vergangenem wie das Niveau des sich historisch Orientieren-Könnens, hängt zweifellos mit Wissen zusammen und vor allem mit dem sachkompetenten Verfügen über Wissen. Oben ist bereits gesagt worden, dass unter Sachkompetenz die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft verstanden wird, historische Entwicklungen und Veränderungen kategorial zu erfassen, auf den Begriff zu bringen, die entsprechenden Konzepte zur Strukturierung vergleichbarer Phänomene nutzen zu können. Wird historisches Denken, wie im hier skizzierten Modell vorgeschlagen, als Prozess verstanden, können aber auch Besucher, die Wissen erst aufbauen, Fragestellungen erkennen, Antwortprozesse nachvollziehen, deren methodische Validität einschätzen und Orientierungsangebote erkennen, diese annehmen oder ablehnen. Wenn sie entsprechend angeleitet werden, wird jedes neu erworbene Wissen für sie zum Baustein eines historischen Denkprozesses, den sie nachvollziehen und sich zu eigen machen oder modifizieren und gegebenenfalls ablehnen können. Informationen, die nicht auf eine Fragestellung bezogen und in einen auf das Suchen von Antworten ausgerichteten Denkprozess eingebunden sind, werden leicht zu totem Wissen, das nicht zum Verstehen genutzt werden kann und schon gar nicht zum Orientieren. Für Gedenkstätten (und Gedenkstättenpädagogen) bedeutet das, eben nicht »nur« Input zu geben, sondern am Outcome21 interessiert zu sein; an dem, was die Besucher mitneh21 Input-Orientierung durch Outcome-Orientierung zu ersetzen, ist das zentrale Motiv der Kompetenzorientierung. Vgl. hierzu den diesem Beitrag zugrunde liegenden Kompetenzbegriff nach Franz Weinert: Kompetenzen sind »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.« Franz E. Weinert: Vergleichende Leistungsmessung in Schu-

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men und für sich nutzen können. Es ist eine Herausforderung von den Besuchern her zu denken, gerade von denen der »post-mémoire«-Generation, und die Informationen in den Kontext von Fragestellungen zu stellen, die den Besuchern als relevant erscheinen. Es ist anspruchsvoll, konstruktionstransparent zu erzählen und dabei die einzelnen Aspekte kategorial zu verknüpfen, um zu zeigen, dass Antworten aus Teilelementen zusammengebaut werden und deshalb immer auch Interpretationsspielräume bestehen. Der Schlüssel für das »Wie soll Geschichte an Gedenkstätten erzählt werden?« ist also, dass Gedenkstättenmacher und Gedenkstättenpädagogen versuchen, die Kompetenzentwicklung ihrer Besucher explizit zu fördern. Kompetenzförderung heißt, Wissen nicht isoliert zu präsentieren, sondern es an der Stelle einzubinden, an der es Bedeutung für den Denkprozess hat. Dabei das Ausgangsniveau der Besucher einzuschätzen, ist eine spannende Herausforderung. Gelingt es, die Besucher da abzuholen wo sie stehen, ist der Gedenkstättenbesuch für sie besonders ertragreich.

3. Konkretisierung der Überlegungen an einer »post-mémoire«Gedenkstätte Bezugspunkt ist eine Gedenkstätte für ein Außenlager des KZ Dachau. Es handelt sich dabei um den Typus »Konzentrationslager der Verlage­rungs­ projekte«22, näherhin eines Typus von KZs, die im Zusammenhang mit Großbunkerbauten entstanden sind und die durch den Jägerplan vom März 1944 initiiert wurden.23 Diese Phase der KZ-Geschichte, in der die Stammlager zu »Drehscheiben für den Häftlingseinsatz in den Außenkommandos und -lagern geworden waren«24, hat eine ganz eigene Spezifik: Die Zahl der Aulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: Ders.: Leistungsmessung in Schulen, Weinheim 2001, S. 17–31, hier S. 2 f. 22 Vgl. Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, S. 198–207; Sabine Schalm: Überleben durch Arbeit? Außenkommandos und Außenlager des KZ Dachau 1933–1945, Berlin 2009, u. a. S. 32. Zum Vergleichsobjekt des Buchenwalder Außenlagers Mittelbau-Dora vgl. Jens-Christian Wagner: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001. 23 Edith Raim: Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, München 1992, S. 20–53; Sabine Schalm: Überleben, a.a.O, S. 32 f. 24 Vgl. dazu die Datenbank des KZ Dachau und die ersten Auswertungen – Ludwig Eiber: KZ-Außenlager in München, in: Dachauer Hefte Nr.12/1996, S. 58–80;

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ßenlager schnellte empor; selbst große Lager wurden oft in kürzester Zeit, oft mit einfachsten Mitteln errichtet. Die Mühldorfer Außenlager wurden in wenigen Wochen im Sommer 1944 aufgebaut. Für die Häftlinge sind die KZs dieser Phase durch eine extreme Verschlechterung der Lebens- und durch katastrophale Arbeitsbedingungen gekennzeichnet und – als Folge – durch ein dramatisches Ansteigen der Todesraten. Ein weiteres Merkmal ist, dass die Außenlager dieser Phase die Bevölkerung ganz nah (»direkt vor ihrer Haustür«) mit noch einmal neuen Facetten der Terrorherrschaft konfrontierten – nach mehr als zehn Jahren Diktatur­ erfahrung, nach fünf Jahren Kriegserfahrung, im Bewusstsein der Niederlage. Die gigantischen Rüstungsprojekte, die großen Lagerkomplexe – neben den KZ-Lagern auch die OT-(Organisation Todt) Lager der Facharbeiter und die Lager der Wachmannschaften; im Falle Mühldorfs zusätzlich der Thinktank aus Ingenieuren, untergebracht im Kloster Zangberg – waren vor der Bevölkerung nicht zu verheimlichen, zumal sie in ländlichen Regionen angesiedelt wurden. Dass diese späten KZs sehr unmittelbar in die Nachkriegszeit hineinragten, ist eine weitere Spezifik: Im Falle Mühldorfs steht dafür zum Beispiel die Konfrontation mit dem tausendfachen Tod der Häftlinge durch die von der amerikanischen Besatzungsmacht angeordneten Exhumierungen der Toten aus den Massengräbern und die Aufbahrung der verwesenden Leichen bei den Bestattungsfeierlichkeiten. Mit den Überlebenden wurden auch die über die Region verteilten Krankenlager und später die DP-(displaced persons) Lager konfrontiert. Mit dem Hineinragen in die Nachkriegszeit hat auch eine indirekte Facette zu tun: Nach Kriegsende blieben zahlreiche Fachkräfte – vom Ingenieur, über den Facharbeiter – zurück, und spielten für den Wiederaufbau der Region eine Rolle. Dazu kam, dass manches Werkzeug und viel Baumaterial vom Großbunker im privaten Bereich genutzt wurde. Die Ausstellung zur Gedenkstätte wird voraussichtlich 2015 zum 70. Jahrestag der Befreiung eröffnet. Sie adressiert deshalb explizit an die »postmémoire«-Generation und richtet sich an regionale, nationale und internatio­ nale Besucher. Als Adressaten werden insbesondere auch Nachfahren der vor allem jüdischen Opfer,25 vielfach ungarischer Herkunft26, mitbedacht und die Sabine Schalm: Überleben, a.a.O., hier S. 33. 25 Entscheidung Hitlers, Einsatz Jägerstabsprotokoll vom 6./7. April 1944. 26 Vertreten waren insgesamt aber viel mehr Nationen; vgl. Dirk Riedel: Ungarische Häftlinge im KZ Dachau, in: Wolfgang Benz/Angelika Königseder (Hg.): Das Konzentrationslager Dachau. Geschichte und Wirkung nationalsozialistischer Repression, Berlin 2008, S. 269–283.

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Abb. 13 Die Bunkerbaustelle im Mühldorfer Hart

sicherlich wesentlich zahlreicheren Besucher, die Nachfahren der einheimischen Konfrontierten sind. Mit speziellem Vorwissen der Gäste zu diesem Sondertypus eines KZ ist nicht zu rechnen. Gerade an ihm lässt sich aber zeigen, dass und wie das Terrorregime der Nationalsozialisten auch noch kurz vor seinem Zusammenbruch funktioniert hat. Die Beschäftigung mit den Außenlagern der Verlagerungsphase geht notwendigerweise über in die Auseinandersetzung mit dem Ende der KZs. Das Beispiel der Mühldorfer Lager (Abb. 13) liefert eine dramatische Fallstudie, die das in der Forschung noch immer unscharfe Bild vom Ende der Außenlager zu verdichten hilft. Mühldorf ermöglicht zudem Schlaglichter auf den Umgang mit den ehemaligen Häftlingen nach Kriegsende zu werfen. Der Fokus kann auf der amerikanischen Besatzungsmacht liegen, der heimischen Bevölkerung und den Heimatländern, in die die ehemaligen Häftlinge »rückgeführt« wurden. Dies erlaubt die Auseinandersetzung mit einer weiteren, über die Erinnerung an die NS-Diktatur und den Weltkrieg hinausgehenden Dimension des europäischen Gedächtnisses. Von überregionaler Relevanz ist auch die Frage nach den technisch-wirtschaftlichen Impulsen, die sich für die Regionen als ehemaligem Standort der Rüstungsindustrie ergaben.

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Ein besonderer Fokus soll auf die Konfrontierten der »zivilen Außenwelt« (Sabine Schalm) gelegt werden. Während es fast eine Selbstverständlichkeit ist, dass die plötzliche Anwesenheit von tausenden am Bunkergelände Beschäftigten, darunter 8.000 KZ Häftlinge, in einer Agrarregion, wie sie Mühldorf in den Jahren 1944 und 1945 war, der Zivilgesellschaft nicht verborgen bleiben konnte, ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass die Konfrontierten als Zeitzeugen über ihre damaligen Begegnungen sprechen. In Mühldorf gibt es bereits zahlreiche Interviews, in denen Zeitzeugen sich dazu äußern, wie sie damals, in den Jahrzehnten danach, und bis heute am Abend ihres Lebens mit ihren Beobachtungen und Erfahrungen zum Holocaust vor der Haustür umgegangen sind. Weitere Interviews werden immer noch geführt. Möglich wurde diese Offenheit aufgrund des Jahrzehnte langen zivilgesellschaftlichen Engagements vieler Menschen aus der Region Mühldorf, durch intensive Bildungsarbeit an den Schulen, durch eine breite Unterstützung der Aufarbeitung durch die Kommunal-, Landes- und Bundespolitik, durch die Bemühungen um Professionalisierung im Umgang mit der NS- und Außenlagergeschichte27 sowie durch die mediale Präsenz, die die Außenlager als selbstverständlichen Teil der eigenen Geschichte in der Geschichtskultur verankert. Folgende der Doppelkategorien bieten sich an, um diese Geschichten so zu erzählen, dass sie für »post-mémoire«-Generation verständlich werden, darunter für die Nachfahren der Opfer und die Nachfahren der einheimischen Konfrontierten: • Gut und Böse, • Sterben-müssen und Totschlagen-können, • Macht und Ohnmacht, • Zentrum und Peripherie, • Individualität und Gesellschaftlichkeit, 27 Wichtige Beiträge leisteten und leisten Edwin Hamberger vom Stadtarchiv Mühldorf, Professoren bayerischer Universitäten und Hochschulen, die u. a. ent­ sprechende Studienarbeiten vergaben. Susanna Horvat/Jürgen Huber/Thomas Kapfer/Konstantin Katsikis/Sibylle Krahmer: Waldlager 6, Revierbaracke. Geschichtliche und baugeschichtliche Auseinandersetzung, Studienarbeit im WS 1999/2000 an der FH München, Fachbereich Architektur, unveröffentlicht; Christoph Valentien: KZ-Außenlager Mühldorf. Entwurfsarbeiten von Landschaftsarchitekturstudenten, in: Dachauer Hefte, Nr. 15/1999, S. 29–36; TU München-Weihenstephan/FH München (Hg.): Die Rüstungsbunkeranlage im Mühldorfer Hart. Entwürfe der Studiengänge Landschaftsarchitektur und Architektur, Freising 1998. Die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt (Waltraud Schreiber) führte zahlreiche Zeitzeugeninterviews durch.

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• Alt und Jung, • Bewusstheit und Unbewusstheit. Skizziert wird hier nur, wie die Spannung Zentrum-Peripherie zum Beispiel in der Ausstellung zur Gedenkstätte aufgegriffen werden könnte. Im Fokus auf »Peripherie« lässt sich zum Beispiel erzählen, wie auf dem flachen Lande in wenigen Wochen eine Großbaustaustelle und mehrere KZ-Lager, dazu OT-Lager, SS-Lager und ein in einem Kloster untergebrachter Thinktank an Ingenieuren eingerichtet worden sind. Dabei wird eine vielfältige und vielschichtige Konfrontation der Bevölkerung mit der Baustelle und den Lagern sichtbar. Nicht zuletzt mit Hilfe von Auszügen aus Zeitzeugengesprächen können hierzu konkrete Detailgeschichten erzählt werden. Diese zeigen zugleich, dass und wie ein Terrorregime auch noch kurz vor seinem Zusammenbruch funktionierte und wie schnell in der Situation der Jahre 1944 und 1945 selbst die erneute Eskalation der NS-Erfahrung in einen Alltag, der alles andere als alltäglich war, integriert wurde. Neben das vor Ort, also in der Peripherie Beobachtbare wird gestellt, was im Zentrum beabsichtigt war. Dies wird zum Beispiel am Jägerplan verdeutlicht, der durch eine Technikoffensive und die bombengeschützte Verlagerung der Rüstungsindustrie noch einmal Zeichen setzen wollte, oder an der damit verbundenen »Re-Portation« der bereits für ihre letztendliche Ermordung deportierten Juden zurück ins Reich, bei der das Ziel der Vernichtung aber keineswegs aufgegeben wurde. Dabei ist auch die Frage zu stellen, wie das Zentrum mit der Aussichtslosigkeit der Kriegssituation umgegangen ist. Dass an der Peripherie das Streben gering war, Zusammenhänge zu sehen, dass auch andere der anthropologisch angelegten Abläufe keine Wirkung zeigten, (wie das Streben der Ohnmächtigen, sich aus ihrer Ohnmacht zu befreien, oder der Guten das Böse zu besiegen), ist eine Beobachtung, die dazu in der Lage ist, auch die »post-mémoire«-Generation zu irritieren. Dass dadurch Interesse am durch die Vergangenheit demonstrierten Menschenmöglichen (Harald Welzer) entsteht, ist die eine Seite; dass auf diese Weise auch die Frage nach eigenem Verhalten in der eigenen Gegenwart angeregt wird, die andere. Zeitzeugen werden im skizzierten Konzept nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, die Opfer-Zeitzeugen, aber auch die einheimischen, mit Opfern und Tätern konfrontierten Zeitzeugen. In das Konzept der Gedenkstätte können nur noch die konservierten Aussagen eingebunden werden. Dies verlangt, die letzten möglichen Zeitzeugengespräche zu führen und in ihnen u. a. die anthropologischen Spannungsfelder aufzugreifen. Die Interviews müssen mit hoher Bild- und vor allem Tonqualität filmisch dokumentiert werden.

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Alle bekannten Varianten des Interviewens sollten genutzt werden. Es werden also nicht nur einmalig Einzelinterviews geführt, vielmehr wird mehrmals mit denselben Zeitzeugen gesprochen. Als aussagekräftig hat es sich erwiesen, dabei zirkulär (nach Niklas Luhmann) und nicht linear vorzugehen.28 Es geht dabei »nicht darum, die ›richtige‹ und einzig gültige Erklärung zu finden, sondern es geht darum herauszufinden, welche Erklärung für wen wirksam ist!« 29 Zur Selbstverständlichkeit sollte auch gehören, Gruppeninterviews zu führen, gerade auch mit nicht aufeinander eingespielten Partnern. Nicht nur wegen der eindrucksvollen Bilder ist es gut, Zeitzeugen an originalen Orten zu befragen und zu filmen30. Der originale Ort fördert das Sich-Erinnern. Zeitzeugen haben oft auch einen Materialfundus aufbewahrt, an dem eigene Erinnerungen hängen. Auch diese sollten in die Interviews einbezogen werden. Vielleicht können sie sogar als Leihgabe für die Ausstellung gewonnen werden und auch dort im Sinne der Konstruktionstransparenz genutzt werden. Wenn die Interviews geführt sind, fängt – wie bei jeder Quellen- und Materialgattung – die eigentliche Arbeit des Historikers an. Als sinnvoll hat sich erwiesen, das Gespräch zuerst systematisch als Ganzes zu analysieren, es also als Narration, als ex post geschaffene Erzählung zu betrachten. Zur methodisch kontrollierten Dekonstruktion31 gehört es u. a. die Vergangenheitspartikel zu erschließen und von ihnen die vergangenheitsbezogenen Deutungen und gegenwarts- bzw. zukunftsbezogenen Sinnbildungsmuster zu trennen, mit deren Hilfe die Zeitzeugen die Vergangenheitspartikel ihrer Erinnerungen zu einer Erzählung zusammenfügen. In der Analyse der Tiefenstruktur ist zum Beispiel zu klären, ob es jenseits der Fragen, die der Interviewer gestellt hat, Fragestellungen gibt, die den Zeitzeugen bei seiner Erzählung geleitet haben. Erst im zweiten Schritt werden die vergangenheitsbezogenen 28 Vgl. die unveröffentlichte Bachelorarbeit von Florian Fischer: Methodenreflexion. Der Versuch des Anschlusses der Luhmannschen Systemtheorie an die oral history, Eichstätt 2011. 29 Ebenda, S. 31. 30 Vgl. hierzu den in einem Studierendenprojekt entstandenen Doku-Film Steine, der die Begegnung überlebender Häftlinge aus Ungarn mit den Überresten der Lager und den Orten der Massengräber dokumentiert, online abrufbar unter: http://www.lichtpunkt-film.de/showreel-dokumentationen.php?film=steine [24.05.2013]. 31 Unterschiedlich detaillierte Leitfäden zur Dekonstruktion enthält die Publikation: Waltraud Schreiber/Carola Gruner (Hg.): Geschichte durchdenken. Schüler vergleichen internationale Schulbücher. Das Beispiel »Wende 1989/1990« (=Kompetenzen: Grundlagen – Entwicklung – Förderung, Bd. 3), Neuried 2010.

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Aussagen quellenkritisch ausgewertet, wobei es insbesondere bei den einheimischen Zeitzeugen aufwändig sein kann, die historischen Kontexte zu rekonstruieren, auf die sie sich beziehen.32 Der abschließende Schritt, den Historiker und Gedenkstättenmacher am besten gemeinsam vollziehen, ist darüber nachzudenken warum, an welcher Stelle und wie das Gespräch in die Erzählung der Gedenkstätte eingebaut werden soll. Das Ziel der Mühldorfer Ausstellung ist, dies konstruktionstransparent zu leisten, so also, dass die Besucher verstehen, warum die Verantwortlichen die jeweilige Auswahl getroffen haben. Als Grundregel gilt, die Zeitzeugen dann zu Wort kommen zu lassen, wenn die von ihnen hergestellten Vergangenheitsbezüge mehr Klarheit über Gegebenheiten und Begebenheiten liefern als andere Materialien. Neben den Vergangenheitsbezügen werden auch Vergangenheitsdeutungen und Sinnbildungen von Zeitzeugen zum Thema gemacht. Dies ist eine bislang eher seltene Entscheidung. Deshalb müssen die Gedenkstättenmacher sich der Gründe dafür sehr bewusst sein und diese dann auch den Besuchern präsentieren. Es kann zum Beispiel darum gehen, dabei zu unterstützen, die Zeitzeugen oder sich selbst als Besucher besser zu verorten. Selbst- und Fremdreflexion können gefördert werden, ebenso aber auch der reflektierte Umgang der Besucher mit dem Doppelcharakter von Zeitzeugengesprächen als Quelle und Narration zugleich. Wegen der hohen Ansprüche, die das an die Erschließung stellt, zumal der Authentizitätsbonus unbewusst oft mitschwingt, ist geplant, MethodenWorkshops anzubieten, wobei die Analyse auch in die Produktion von kurzen Zeitzeugen-Film(ch)en münden soll. Das Grundprinzip dabei soll sein, sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart/Zukunft, für die Orientierung gesucht wird, gerecht zu werden. Eine besondere Ausrichtung dieser Workshops ist geplant: Im Anschluss an das Methodentraining sollen Nachfahren von Zeitzeugen mit den ungeschnittenen Interviews ihrer Vorfahren und deren Zeitgenossen arbeiten können. Dabei sollte damit gerechnet werden, dass eine psychohistorische Wendung eintritt, die zur Selbstreflexion der Nachfahren führen kann. Dann ist eine intensive Begleitung durch den Workshop-Leiter erforderlich, worauf dieser vorbereitet sein muss.

32 Zur methodenbewussten Arbeit mit Zeitzeugengesprächen vgl. Waltraud Schreiber/Katalin Árkossy (Hg.): Zeitzeugengespräche führen und auswerten – historische Kompetenzen schulen (=Themenheft Geschichte, Nr. 4), Neuried 2009.

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4. Resümee: Gedenkstättenarbeit für die »post-mémoire«-Generation? Eine Gewichtsverlagerung ist notwendig, die nicht nur von Nachteil sein muss, weil Zeitzeugen in den letzten Jahren oft mehr zugemutet worden ist, als sie wirklich leisten können. Es ist gut, wenn Gedenkstättenpädagogen die manchmal an Zeitzeugen abgetretene Arbeit wieder selbst übernehmen und die Besucher beim Verstehen und Nutzbarmachen der Gedenkstätte unterstützen. Und es liegt in der Verantwortung der aktuell Lebenden das Mahnen und Gedenken zur Sache der eigenen Generation zu machen. Dazu braucht es die methodisch überzeugende Rekonstruktion der Vergangenheit, zu der Zeitzeugen einen wichtigen Beitrag leisten und geleistet haben. Es braucht aber auch Zugänge, die der »post-mémoire«-Generation verständlich sind. Die anthropologischen Doppelkategorien könnten ein solcher Zugang sein, sofern Überzeitlichkeit und Zeitspezifik jeweils auf die entsprechende Weise genutzt werden. Am Vergangenen zu erkennen, was Menschenmöglich war, ist eines. Das im eigenen Alltag je Menschenmögliche zu unternehmen, damit den Anfängen von Unrecht und Menschenverachtung »gewehrt werden kann«, ist das andere. Wie viel Geschichte braucht die demokratische Kultur? So viel, dass die »post-mémoire«-Generation verstehen kann, worin die Brüche des 20. Jahrhunderts bestanden haben, womit die beiden Diktaturen gebrochen haben und was zu verteidigen und bewahren auch ihrer eigenen Generation aufgegeben ist – nicht zuletzt, um damit die Opfer der Exzesse der beiden deutschen Diktaturen zu ehren.

Harald Welzer

Historische Bildung und reflexive Erinnerungskultur*

1. Was war noch mal die Frage? Geschichtsunterricht, politische Bildung und das pädagogische Feld der Holocaust-Education zielen auf eine historisch-moralische Bildung ab, die zum einen das historische Geschehen verständlich machen, zum anderen aber auch Persönlichkeiten bilden soll, die sich gegenüber massen- oder völkermörderischer Gewalt widerständig verhalten können. Vor diesem Hintergrund macht die monothematische Konzentration auf das, was Menschen angetan wurde, keinen Sinn, sondern markiert eine deutliche Ferne zum geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisstand und ist moralisch unterkomplex. Denn es geht nicht, um Jan-Philipp Reemtsma zu zitieren, »um Erinnerung, es geht um das Bewusstsein einer Gefährdung, von der man weiß, seit man weiß, dass es eine Illusion war, zu meinen, der Zivilisationsprozeß sei unumkehrbar, von der man also weiß, dass sie immer aktuell bleiben wird«.1 Das absolute Grauen der Vernichtung muss als pures Faktum genauso unverständlich bleiben wie die Motive der Täter und, vice versa, der Grund für das Leiden der Opfer. Eine Geschichtserzählung, die vom Ergebnis her verfasst wird, enthält kein Lernpotential, sie bleibt opak. Eine Geschichtserzählung, die bei den Potentialen beginnt, die in einer historischen Situation immer liegen und dann berichtet, wie die Dinge sich entwickelt haben, kann einen Eindruck darüber vermitteln, dass an jeder Stelle eines historischen Prozesses Entscheidungen gefällt werden, die ihrerseits zur Voraussetzung des weiteren Verlaufs werden. Genau deshalb weiß erstens kein Zeitgenosse, wie die Geschichte ausgeht, und genau deshalb wählen unterschiedliche Menschen immer auch unterschiedliche Optionen, mit unterschiedlichen Konsequenzen. * Dieser Text ist ein leicht überarbeiteter Auszug aus Dana Giesecke/Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012 1 Jan Philipp Reemtsma: Wozu Gedenkstätten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 25–26/2010, S.3–9, hier S. 9.

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2. Prävention Das leitet über zur Frage der Prävention. Da man es historisch mit gesellschaftlichen Situationen zu tun hat, in denen – wie im »Dritten Reich« oder in Ruanda – Gewaltausübung gegen definierte Opfergruppen nicht als antisoziales, sondern als prosoziales Verhalten gilt, steht die Suche nach Präventionsmöglichkeiten vor einem besonders schwierigen Problem: Hier müsste Prävention nämlich darauf aus sein, die Bereitschaft zu abweichendem Verhalten zu stärken. Obwohl im Militärrecht solches Verhalten kodifiziert ist – Soldaten machen sich strafbar, wenn sie verbrecherischen Befehlen folgen – ist es in der Praxis extrem schwierig und verlangt es ein enormes Maß an Zivilcourage, sich nicht nur dem hierarchischen, sondern auch dem gruppenbezogenen Zwang in einer Situation kollektiver militärischer Verbrechens­ ausübung zu entziehen. Dass so etwas dennoch möglich ist, zeigt etwa der Fall des Hubschrauberpiloten Hugh Thompson, der während des Massakers von My Lai eine Reihe von vietnamesischen Dorfbewohnerinnen unter Waffengewalt vor seinen eigenen Kameraden retten konnte. Wenn allerdings Gesellschaften, die Verbrechen begehen, von einer hohen Zustimmung durch die Mehrheitsbevölkerung getragen werden, wie es etwa im »Dritten Reich« der Fall war, verschieben sich in der Regel auch die moralischen Grundüberzeugungen der »ganz normalen« Gesellschaftsmitglieder in verblüffend kurzer Zeit, wobei die meisten Menschen nicht einmal bemerken, dass sich ihre Maßstäbe etwa in Bezug auf mitmenschliches Verhalten radikal verändert haben. Dieses Phänomen der »shifting baselines«2 geht psychologisch betrachtet darauf zurück, dass Menschen in sich verändernden sozialen Umwelten oft keine Referenzpunkte haben, an denen sie die Verschiebung ihrer eigenen moralischen Orientierungen festmachen könnten. Auf diese Weise können sich etwa Normen staatlichen Handelns und zivilgesellschaftlicher Praxis unbemerkt verschieben. Man denke in diesem Zusammenhang daran, dass Deutschland seit mehr als einem Jahrzehnt Krieg führt, ohne dass dies gesellschaftlich debattiert würde, oder dass die politische Praxis innerhalb der Europäischen Union zu Entmächtigungen nationalstaatlichen Regierungshandelns führe, ohne dass dafür demokratische Legitimierungen vorlägen. So etwas wäre vor, sagen wir, einem Jahrzehnt nicht denkbar gewesen; heute bestimmt die verschobene Norm Annahmen darüber, was richtig und falsch, tolerabel bzw. intolerabel ist.

2 Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt am Main 2008, S. 212 ff.

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3. Normale Menschen, anormale Taten Grundsätzlich ist zunächst zu sagen, dass in den Funktionsabläufen hoch arbeitsteiliger Gesellschaften die Frage persönlicher Dispositionen und Tatbereitschaften eine relativ geringe Rolle spielt – als »Rädchen im Getriebe« kann man seinen Teil zu Gesellschaftsverbrechen beitragen, ohne sich während der Tat oder danach persönlich verbrecherisches Verhalten zuschreiben zu müssen. Im Nationalsozialismus etwa konnten alle Institutionen, die schon vor 1933 bestanden hatten, eine funktionale Rolle im nationalsozialistischen Projekt spielen – so, als hätte sich für die Reichsbahnbeamten, die Finanzamtsleiter, die Bankangestellten, die Psychiater eigentlich nicht das Geringste geändert. Die jeweiligen professionellen Anforderungen in den Institutionen ließen eine besondere, NS-spezifische Auswahl und Ausbildung des Personals gar nicht zu, wie Raul Hilberg schreibt, aber ohnehin konnte jedes Mitglied der Ordnungspolizei »Aufseher eines Ghettos oder eines Eisenbahntransports sein. Jeder Jurist des Reichssicherheitshauptamts kam dafür in Frage, die Leitung einer Einsatzgruppe zu übernehmen; jeder Finanzsachverständige des Wirtschafts-Verwaltungs­ hauptamts wurde als natürliche Wahl für den Dienst in einem Vernichtungslager betrachtet.«3

Übertragen auf den Krieg heißt das: Jeder Mechaniker konnte Bomber reparieren, die mit ihrer tödlichen Fracht Tausende von Menschen töteten; jeder Metzger konnte als Mitglied der Versorgungsbetriebe an der Ausplünderung der besetzten Gebiete teilnehmen. Lufthansapiloten wurden mit ihren Verkehrsmaschinen vom Typ FW 200 auch im Krieg für Langstreckenflüge eingesetzt, doch diesmal nicht um Passagiere zu befördern, sondern um britische Handelsschiffe im Atlantik zu versenken. Heute kann ein Informatiker den Chip eines Elektroautos programmieren oder den einer Drohne. Da die Tätigkeit an sich nicht wechselt, haben die Rollenträger in der Regel keine Veranlassung, moralische Erwägungen anzustellen oder gar ihre Arbeit zu verweigern. Die bleibt ja dieselbe. »Mit anderen Worten«, so Raul Hilberg in Bezug auf den Holocaust, »alle notwendigen Operationen wurden mit dem jeweils verfügbaren Personal durchgeführt. Wo immer man den Trennungsstrich der aktiven Teilnahme zu ziehen

3 Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 1080.

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gedenkt, stets stellte die Vernichtungsmaschinerie einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung dar«.4

Henry Friedländer hat genau vor diesem Hintergrund einmal die Bemerkung gemacht, dass er trotz intensiver Suche nie ein Stellenangebot in einer deutschen Zeitung aus den dreißiger oder vierziger Jahren gefunden habe, in dem der Staat erfahrene und qualifizierte Massenmörder suchte. Ein solches Inserat wäre allerdings auch überflüssig gewesen, denn die Vernichtungsmaschinerie unterschied sich »nicht grundlegend vom deutschen Gesellschaftsgefüge insgesamt; der Unterschied war lediglich ein funktioneller«5. Das gilt auch für die militärischen Formationen im »Dritten Reich«, selbst für die SS. Wenn man hier die Hierarchie Stufe für Stufe herabsteigt – über die höheren SS- und Polizeiführer zu den Einsatzgruppenkommandeuren, von den Experten im Rassen- und Siedlungshauptamt zu den KZ-Kommandanten, und von dort aus zu den Polizeibataillonsangehörigen an den Erschießungsgruben und zum Wachpersonal in den Lagern –, findet man nur ausnahmsweise sadistische Persönlichkeiten, etwa vom Schlag Ilse Kochs, der Ehefrau des seinerseits wegen Verfehlungen abgesetzten Kommandanten von Buchenwald Erich Koch, oder Amon Göths, Kommandant des durch Steven Spielberg berühmt gewordenen Lagers Plaszow, der zum persönlichen Vergnügen Häftlinge von der Veranda seiner Villa aus zu erschießen pflegte. Der Prozentsatz der psychisch auffälligen Personen unter den zahllosen Vordenkern und Exekutoren der Vernichtung wird regelmäßig auf etwa fünf bis zehn Prozent taxiert; verglichen mit normalgesellschaftlichen Verhältnissen in der Gegenwart keine spektakulär hohe Quote.6 Aber das heißt im Umkehrschluss, dass die weit überwiegende Mehrheit der Täterinnen und Täter psychologisch exakt jenem Bild entspricht, das wir uns selbst zuschreiben würden: »normal« zu sein. Der Holocaust-Überlebende Primo Levi konstatierte denn auch: »Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, 4 Ebenda. 5 Ebenda, S. 1062. 6 Für die USA und andere westliche Gesellschaften wird eine Prävalenz von 0,5–2,5 paranoider Persönlichkeiten angenommen, dazu kommen etwa 1 bis 3 Prozent antisoziale Persönlichkeiten. Überdies wird davon ausgegangen, dass ein Anteil von 7,5 Prozent der Bevölkerung schizoide Persönlichkeitsmerkmale aufweist. Wie immer man diese Zahlen im Einzelnen einschätzen mag (uns scheint besonders der letztgenannte Wert ziemlich hoch) – sie zeigen jedenfalls, dass die Zahl der psychisch auffälligen Täter etwa ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung auch unter gewöhnlichen Bedingungen entspricht. Vgl. Harold L. Kaplan/Benjamin J. Sadock/Jack A. Grebb: Kaplan and Sadock’s synopsis of psychiatry: Behavorial sciences, clinical psychiatry, 7. Aufl., Baltimore 1994, S. 731 ff.

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als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.«7 Also auch die Produzenten und Adressaten von Vermittlungsangeboten. Darüber zu sprechen ist Voraussetzung einer reflexiven Geschichtskultur.

4. Gewalt Aber neben den präventionsbezogenen gibt es auch politische Gründe, sich möglichst genau mit den Taten und ihren Tätern zu konfrontieren: Zum einen ist es eine intellektuelle und politische Selbstentmündigung, jedes Mal dann, wenn ein massenmörderischer Prozess – wie in Ex-Jugoslawien oder Ruanda – sich vollzogen hat, von der dabei freigesetzten Grausamkeit so entsetzt zu sein, als wäre es das erste Mal, dass so etwas passiert, anstatt sich damit auseinanderzusetzen, dass Gewalthandeln erstens eine Geschichte und sich wiederholende Aspekte hat und sich zweitens in Prozessen vollzieht, die man beschreiben kann. Es handelt sich bei kollektiven Gewalttaten in der Regel nicht um unerklärliche Eruptionen, sondern um wiederkehrende soziale Vorgänge mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Schluss, und diese Vorgänge werden von denkenden Menschen und nicht von amoklaufenden Berserkern erzeugt. Genozidale Prozesse entwickeln freilich selbst eine innere Dynamik – im Mittelteil wird möglich, was zu Anfang noch ganz undenkbar erschien –, und Gewalt selbst ist nicht prinzipiell destruktiv: Sie hat am Schluss eine neue Struktur geschaffen, die vor der Gewalt noch nicht da war. In einer Studie zur Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht ist kürzlich gezeigt worden, dass die Mikropolitik der Gewalt in Kriegseinsätzen selbst im Fall des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs nicht anders ausfiel als in anderen Kriegen: Die Figuration, die die Gruppe des Kämpfenden und ihre Gegner miteinander bilden, ist viel entscheidender für das, was im Kampf passiert, als Ideologie, »Weltanschauung« oder gar individuelle Motive.8 Daher geht es bei der Suche nach Ansätzen für Prävention auch darum, Gewalt in ihrer strukturbildenden Funktion zu verstehen und Gewaltakteure als denkende Menschen zu beschreiben – auch um Anschlussmöglichkeiten 7 Zitiert nach Tzvetan Todorov: Angesichts des Äußersten, München 1993, S. 137, der darauf hinweist, dass dieses bemerkenswerte Zitat einem Appendix zu Levis »Ist das ein Mensch?« entstammt, der in der deutschen Ausgabe (München 1992) fehlt. 8 Vgl. Sönke Neitzel/Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt am Main 2011.

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an die Lebenswelten von Jugendlichen, in denen Gewalt ja keine unerhebliche Rolle spielt, zu finden. Und noch etwas: Wenn man sich die Geschwindigkeit vergegenwärtigt, mit der in Jugoslawien die Ethnisierungsprozesse verlaufen sind, die eine ganze Gesellschaft in einen äußerst brutalen Krieg inklusive ethnischer Säuberungen und Massenerschießungen gezogen haben, oder bemerkt, in welch unglaublich kurzem Zeitraum die deutsche Gesellschaft sich nach Januar 1933 nationalsozialisiert hat, beginnt man zum einen zu ahnen, wie schwach es um die Stabilität und Trägheit moderner Gesellschaften in ihrem psychosozialen Binnengefüge bestellt ist, an die wir so gern glauben. Zum anderen wird verständlich, dass es eben nicht nur abstrakte analytische Kategorien wie »Gesellschaft« und »Herrschaftsformen« sind, die sich innerhalb weniger Monate verändern, sondern dass die konkreten Menschen, die diese Gesellschaften bilden und ihre Herrschaftsformen realisieren, sich in ihren normativen Orientierungen, in ihren Wertüberzeugungen, in ihren Identifikationen und auch in ihrem zwischenmenschlichen Handeln furchtbar schnell wandeln können. Entscheidungen zur Benachteiligung anderer Gesellschaftsmitglieder, zu ihrer Entrechtung, zu ihrer Beraubung, schließlich zu ihrer Deportation und Tötung, liegen ja 1933 keineswegs in ihrem vollen Ausmaß vor, sondern werden sukzessive durch aktive Toleranz und Partizipation der Volksgenossinnen und Volksgenossen formatiert. Dabei wird zunehmend für normal und akzeptabel gehalten, was zu Beginn des Prozesses noch als unmenschlich und unakzeptabel gegolten hätte. Für die auf den Holocaust bezogene Geschichts- und Erinnerungskultur leiten sich daraus die folgenden Voraussetzungen ab: • Akteure sind nicht nur persönlichkeitsspezifisch zu betrachten, sondern vor allem prozessanalytisch: wie man zum Täter wird, womöglich sogar dann, wenn man es nie für möglich gehalten hätte, jemals einer werden zu können; • Täterkarrieren sind mit Helferkarrieren zu kontrastieren; • die Zentralität der Kategorie »Entscheidung« ist zu akzentuieren: Zum Täter werden zu können, ist kein anthropologisches Phänomen, sondern eines von Entscheidungen auf sehr vielen Ebenen einer Handlungskette. Zum Retter oder zum Widerständler zu werden, setzt ebenfalls auf jeder Stufe des Handelns in einer gegebenen Situation Entscheidungen voraus; • der Fokus ist nicht auf den Einzelnen zu legen, sondern auf soziale Figurationen in sich verändernden normativen Gefügen. Das wiederum setzt die Berücksichtigung längerer historischer Prozesse und eine prozessanalytische Perspektive voraus;

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• Täter sind nicht als ungewöhnlich oder abweichend zu betrachten, sondern im »Normalitätsparadigma« zu interpretieren. Gesellschaftliche Funktionszusammenhänge und Institutionen sind als Speicher von Potentialen zu verstehen, die Handlungsbereitschaften und Handlungen unterschiedlichster Art entbinden können. Weil hoch arbeitsteilige Funktionsvollzüge partikulare Handlungsrationalitäten ausbilden, die die Voraussicht über die Folgen des eigenen Handelns systematisch begrenzen, muss über Konzepte partikularer Verantwortungsstärkung nachgedacht werden. Hier liegt eine ganz neue Aufgabe für das weite Feld der politischen und historischen Bildung, die sich ja ausschließlich auf die Entwicklung universaler Verantwortungs- und Moralvorstellungen konzentriert, die Individuen in konkreten Handlungssituationen aber – das zeigt das MilgramExperiment – radikal überfordern können. Anfang der sechziger Jahre konzipierte der junge Sozialpsychologe Stanley Milgram ein Experiment, mit dem er das Phänomen der Gehorsamsbereitschaft gegenüber einer Autorität zu untersuchen hoffte. Der Versuchsaufbau sah vor, dass eine per Annonce gesuchte und mit 4,5 Dollar entlohnte Versuchsperson als »Lehrer« mit einer anderen (allerdings vom Versuchsleiter instruierten) Versuchsperson, dem »Schüler«, einen Lerntest durchzuführen hatte, bei dem der »Lehrer« den »Schüler« jeweils dann mit Stromstößen zu »bestrafen« hatte, wenn dieser eine falsche Antwort gab. Die Stromstärke wurde mit jeder Bestrafung erhöht. Mehr als 60 Prozent der Versuchspersonen waren bereit, dem vermeintlichen Schüler tödliche Stromstöße zu verabreichen. Das Experiment ist in mehr als zehn Ländern repliziert worden, und die Ergebnisse fielen immer ähnlich aus. Allerdings wurde bislang zu wenig hervorgehoben, dass die Quote der Gehorsamen regelmäßig sank, wenn der Versuchsaufbau variiert wurde. Dabei wurde deutlich, dass soziale Nähe die Gehorsamsbereitschaft stark beeinflusst: Wenn der Kontakt zum »Schüler« variiert wird, er sich also im selben Raum befindet wie der »Lehrer«, oder wenn dieser die Bestrafung so vornehmen muss, dass er die Hand des »Schülers« bei einer falschen Antwort auf eine stromführende Platte pressen muss, sinkt die Gehorsamsbereitschaft deutlich (auf 40 bzw. auf 30 Prozent). Die Bedeutung der Variable »soziale Nähe« wurde auch dann deutlich, wenn »Lehrer« und »Schüler« Freunde, Bekannte oder Verwandte waren, die zusammen für das Experiment gewonnen wurden (»Bring-a-friend-condition«). Hier sank die Gehorsamsbereitschaft auf 15 Prozent; die »Ungehorsamen« brachen überdies das Experiment viel früher ab als die Verweigerer in den anderen Versuchsanordnungen. Eine typische Aussage einer ungehorsamen Versuchsperson in diesem Setting war etwa: »Ich bin doch kein Sadist!«

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François Rochat und Andre Modigliani, die die Ergebnisse dieses Versuchs von 1962 später noch einmal ausgewertet hatten, haben zwei wirksame Unterschiede zum Basisdesign herausgearbeitet, die die Versuchspersonen systematisch weniger gehorsamsbereit sein lassen: Die Referenzgruppe des »Lehrers« wird in der »bring-a-friend-condition« durch die Beziehung der beiden Versuchspersonen gebildet; deshalb besteht in diesem Fall eine Loyalitäts­ beziehung zwischen »Lehrer« und »Schüler«, nicht zwischen »Lehrer« und Versuchsleiter. Die bereits vorgängig bestehende Beziehung macht es dem »Lehrer« in dieser Variante moralisch schwer, wenn nicht unmöglich, das Experiment fortzusetzen, während in der Basisvariante eine moralische Ver­ pflichtung gegenüber dem Versuchsleiter wahrgenommen wird, die es dem »Lehrer« schwer macht, das Experiment abzubrechen. In einer Situation sozia­ ler Nähe ist eine Verantwortungsdelegation offensichtlich nicht ohne weiteres möglich. Soziale Nähe, so könnte man sagen, verhindert die kausale Logik des »Wer A sagt, muss auch B sagen«, weil die Logik der Beziehung eine größere Verbindlichkeit für den Handelnden hat: Auf die autoritäre Aufforderung, das Experiment fortzusetzen (»Sie haben keine Wahl!«) entgegnete eine der Ver­ suchs­personen einfach: »Warum? Was können Sie mir tun?«9

5. Referenzrahmen Ein gesellschaftlicher Prozess, in dem die radikale Ausgrenzung von Anderen zunehmend als positiv betrachtet wird und der schließlich das Tötungsverbot in ein Tötungsgebot verwandelt, bildet den ersten, umfassendsten Referenzrahmen, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner des »Dritten Reiches« sich selbst und ihre Gesellschaft verstehen: eine dynamische gesellschaftliche Deutungsmatrix für die individuellen normativen Orientierungen und ihre Veränderungen. Diese kann natürlich fallweise über- oder unterschritten oder ignoriert werden; für die Analyse des Handelns zeitgenössischer Akteure ist dieser Referenzrahmen erster Ordnung deswegen von Bedeutung, weil die Entscheidungen für das eigene Handeln nicht rein situativ und individuell getroffen werden, sondern immer auch an diesen größeren Rahmen gebunden sind – in dem Sinne etwa, dass die wahrgenommene Legitimität einer Judenerschießung durch einen gesellschaftlich dominanten Antisemitismus und Rassismus oder, noch allgemeiner, durch eine 9 ����������������������������������������������������������������������������� François Rochat/Andre Modligliani: Authority: Obedience, Defiance and Identification in Experimental and Historical Contexts, in: Martin Gold/Elisabeth Douvan (Hg.): A New Outline of Social Psychology, Washington 1997, S. 235–247.

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nationalsozialistische Moral kontextualisiert ist. Dieser Rahmen verändert sich in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 rapide, und er ist wichtig für die Wahrnehmung einer gegebenen Situation durch den Einzelnen – sei es eine Situation, in der man vor der Frage steht, ob man es sich erlauben sollte, in einem jüdischen Geschäft einzukaufen; sei es eine, in der die Gewalt der »Reichskristallnacht« beobachtet wird; sei es eine der angeordneten Erschießung jüdischer Kinder. Denn Situationen werden grundsätzlich interpretiert, bevor eine Schlussfolgerung gezogen und eine Entscheidung für das eigene Handeln (oder Nichthandeln) getroffen wird – und in solche Interpretationsprozesse gehen gesellschaftlich dominante Normen ebenso ein wie situativ gebildete Gruppennormen, sozialisierte Werthaltungen, religiöse Überzeugungen, vorangegangene Erfahrungen, Wissen, Kompetenz, Gefühle usw. Wenn man sieht, welchen Veränderungen solche umfassenden Referenzrahmen historisch unterliegen können, kann man in Präventionsperspektive nur etwas ganz Einfaches, aber desto Wichtigeres postulieren: nämlich das schlichte und alternativlose Festhalten an rechtsstaatlichen Prinzipien unter allen Bedingungen und die Verpflichtung, jeder Aufweichung solcher Prinzipien entschlossen entgegenzutreten. Mit Raul Hilberg kann man formulieren, dass das Schicksal der europäischen Juden in dem Augenblick besiegelt war, als ein Beamter 1933 eine Definition dessen, wer »arisch« war und wer nicht, in einer Verordnung niederlegte.10 In diesem Augenblick wird nämlich praktisch – normativ wie juristisch – exekutierbar, was zuvor in einem durch bürgerliches Recht kontrollier- und korrigierbaren Raum des rassistischen Ressentiments, der Ausgrenzungs- und Vernichtungswünsche zwar schon existierte, aber nicht zur freien Entfaltung kommen konnte. Wenn so etwas geschieht, ist der Gegenmenschlichkeit Tür und Tor geöffnet. Prävention bedeutet hier: funktionierende Staatsbürgerkunde.

6. Der Einfluss der Situation Menschen sind widersprüchlich. Die Persönlichkeit einer Versuchsperson, die in Stanley Milgrams Gehorsamkeitsexperiment einer anderen Person scheinbar bedenkenlos einen tödlichen Stromschlag zu verabreichen bereit 10 »Die Bezeichnung ›nicht-arische Abstammung‹ wurde in einer Verordnung vom 11. April 1933 als für alle Personen geltend definiert, die einen jüdischen Elternoder Großelternteil hatten; ein Eltern- oder Großelternteil galt dann als jüdisch, wenn er (oder sie) der jüdischen Religion angehörte«. Raul Hilberg: Die Vernichtung, a.a.O., S. 70.

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ist, geht ja keineswegs darin auf, dass sie einen Knopf drückt, obwohl das die Tötung eines Menschen zur Folge haben könnte. Jenseits dieses experimentell erzeugten Verhaltens kann dieselbe Person durchaus jemand sein, der unter Lebensgefahr eine hilflose Person vor dem Ertrinken rettet, das behinderte Nachbarskind spazieren fährt, der Pazifist ist und im Großen und Ganzen an das Gute im Menschen glaubt. Es ist ein kategorialer Fehler, das Handeln eines Menschen in einer gegebenen Situation auf seine ganze Persönlichkeit hin zu generalisieren; es geht im Gegenteil darum, herauszufinden, welche Interpretation der Situation, in der er sich befand, ihn dazu veranlasst hat, zu tun, was er getan hat. Die soziale Situation und ihre Deutung durch einen Akteur bildet mithin einen zweiten, konkreteren Referenzrahmen einer Handlung. Dieser ist in sich differenziert – nach den Erwartungen und Erfahrungen, mit denen jemand in die Situation kommt, nach den Modi der Bewältigung der gegebenen oder sich ergebenden Aufgaben, den dabei auftretenden Problemen und vorgenommenen Korrekturen des eingeschlagenen Wegs, die neue Entscheidungen nach sich ziehen usw. Prävention bedeutet hier: lernen, dass menschliches Handeln sich in Prozessen vollzieht. Die Handlungsbedingungen von heute sind die Handlungsfolgen von gestern.

7. Die Persönlichkeit Erst wenn dieser Referenzrahmen einer Entscheidung oder Handlung beschrieben werden kann, öffnet sich analytisch der Raum für die Betrachtung eines dritten, nun eher individualpsychologischen Referenzrahmens: die Einschätzung des eigenen Handlungsspielraums durch den jeweiligen Akteur. Ein solcher Spielraum ist nicht einfach objektiv gegeben; er ist davon bestimmt, ob und wie ein Akteur ihn wahrnimmt, welche möglichen Konsequenzen er bei der Entscheidung für diese oder jene Option (mitmachen oder »sich drücken« oder sich verweigern etc.) erwartet, bevor er sich schließlich für eine entscheidet.11 Erst auf dieser Ebene kommt Psychologie ins Spiel – 11 Dabei geht es nicht immer um bewusst durchlaufene Reflexionsschleifen; viele Entscheidungen finden routinisiert oder intuitiv statt. Gleichwohl geht allen Handlungen prinzipiell eine Interpretation der Situation voraus, ob diese nun im eingelebten und nicht-reflexiven Modus dessen, was »man« tut, abläuft, oder ob sie die knifflige und höchst bewusste Analyse eines ungewöhnlichen Problems ist. Dass die Interpretation prinzipiell immer in Geltung ist, merkt man dann, wenn man etwas falsch interpretiert hat – sich in einer Tür geirrt, jemanden irrtümlich für einen Bekannten gehalten oder etwas falsch verstanden hat. Durch den dann

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und damit zum Beispiel die Fähigkeit zu zivilcouragiertem Verhalten. Denn die Interpretation des Spielraums und die auf dieser Basis gezogene Schlussfolgerung ist auch von persönlichen Dispositionen, biographischen Erfahrungen, individuellen Einstellungen und Überzeugungen, der Handlungskompetenz usw. abhängig. Eine Handlung spielt sich also im Kontext mehrerer Referenzrahmen ab, die von der gesellschaftlichen bis zur individuellen Ebene zu unterscheiden sind. Mit Hilfe einer solchen Unterscheidung lässt sich nicht nur beschreiben, was die Akteure getan haben, sondern auch, wie sie als Personen die jeweilige Situation wahrgenommen haben, welche situativen Bedingungen ihr Handeln bestimmt haben und unter welchen überindividuellen, jenseits der Grenzen der subjektiven Zurechnung liegenden sozialen und normativen Rahmenbedingungen das jeweilige Handeln stattfand. Mit Hilfe einer solchen Differenzierung lassen sich auch die Möglichkeiten und Grenzen präventiven Handelns bestimmen.

8. Präventionsstrategien: Wie Zivilcourage zu bilden ist Wie gesagt: Jede noch so harmlose oder durch politischen Handlungsdruck gerechtfertigt erscheinende Suspendierung oder Einschränkung rechtsstaatlicher Prinzipien muss kategorisch vermieden werden. Umgekehrt sind Verletzungen solcher Prinzipien (etwa durch Androhung oder Anwendung von Folter) strikt zu sanktionieren. Das ist die zivilgesellschaftliche Handlungsebene, und die ist unhintergehbar. Demokratiegefährdungen gehen weniger von dezidierten Gegnern der Demokratie (wie Neonazis) aus, als von Normenauflösungen, die scheinbar sachlich geboten sind – wie etwa der Einsatz der Bundeswehr im Inneren, Übertreten des Folterverbots oder die Infragestellung von Rechten des Persönlichkeitsschutzes. In solchen Zusammenhängen ist deutlich daran zu erinnern, dass die strikte Aufrechterhaltung von institutioneller Gewaltenteilung eine Lehre aus dem Nationalsozialismus war. Politische und historische Bildung sollte auch in praktischer Perspektive darauf setzen, die Wahrnehmung und Auswertung eigener Handlungsspielräume zu verbessern. Das kann etwa an historischen Beispielen geschehen – zum Beispiel an dokumentiertem Helfer- und Retterverhalten während der NS-Zeit, das Privatpersonen (wie Oskar Schindler) genauso gezeigt haben entstehenden »Klärungsbedarf« wird deutlich, dass der missglückten Handlung eine Interpretation, wenn eben auch eine falsche, zugrunde gelegen hat.

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wie Wehrmachtsangehörige (wie Heinz Drossel)12. Solche Personen haben gegebene Handlungsspielräume anders genutzt als die übergroße Mehrheit ihrer Zeitgenossen, und darin liegt ein erhebliches Lernpotential. Solches Material kann um kleinere Experimente und Planspiele ergänzt werden, die etwa Schülerinnen und Schüler mit Aufgaben in arbeitsteiligen Prozessen konfrontieren, die mit oder ohne Rücksicht auf potentielle Opfer am Ende der Handlungsketten gelöst werden können. Aber auch die Kenntnis von Experimenten wie dem von Milgram kann das Bewusstsein darüber erhöhen, wie groß das mögliche Handlungsspektrum unter gegebenen Bedingungen ist. So haben etwa Experimente zum Bystander-Verhalten gezeigt, dass das Maß der »Verantwortungsdiffusion« als zentraler Faktor für erfolgende oder ausbleibende Hilfe gelten kann: Je mehr Personen anwesend sind, wenn sich jemand in einer Notsituation befindet, desto weniger neigen Einzelne zum Helfen (»bystander effect«). Gerade an diesem Beispiel kann gezeigt werden, dass das Wissen über hemmende Faktoren in Hilfesituationen das Verhalten moderieren, prosoziales Verhalten durch Lernen beeinflusst werden kann. Es geht also darum, kognitive Ressourcen für die Wahrnehmung eigener Verantwortlichkeit, aber auch eigener Handlungsmöglichkeiten herauszu­ bilden.

9. Reflexive Erinnerungskultur Für eine reflexive Erinnerungskultur sind Pathosformeln ebenso kontraproduktiv wie Ansprüche auf transtemporale Gültigkeit der Inhalte. Eine gültige Form des Erinnerns und Gedenkens gibt es nicht, auch wenn es den jeweiligen Zeitgenossen wünschenswert erscheint. Erinnerung schreibt sich immer nach Erfordernissen der Gegenwart um, und das Gedenken folgt diesen Umschriften in gemessenem Abstand. Wäre das nicht so, hätten wir heute gar keine Holocausterinnerung, denn der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft ging es, wenn dann um irgendetwas Zurückliegendes, um das Gedenken der eigenen Verluste und Leiden, nicht um die Erinnerung an die Taten. Diese frühe Erinnerungskultur ist sukzessive durch jene abgelöst worden, die die Opfer und ihre Leiden in den Mittelpunkt stellte, und in diesem Zusammenhang darf daran erinnert werden, dass dies nicht zuletzt den Grund hatte, den Opfern endlich nicht mehr die Anerkennung ihres Leids zu verweigern. 12 Wolfram Wette: Oberleutnant Heinz Drossel. Judenretter in Berlin 1945, in: Ders. (Hg.): Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht, Frankfurt am Main 2002, S. 209–229.

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Auf diesem Fundament steht die gegenwärtige Erinnerungskultur, und jetzt kommt es darauf an, sich den Potentialen, Handlungen und Orientierungen zu widmen, die Ausgrenzungsgesellschaften entstehen und Genozide möglich werden lassen. Genau in diesem Sinn ist Erinnerungskultur eine zivilgesellschaftliche Angelegenheit, deren Bezugspunkt die Zukunft und nicht die Vergangenheit ist. Alle bislang genannten Beispiele verweisen auf die Notwendigkeit einer Akzentuierung der erinnerungskulturellen Arbeit, die die nationalsozialistischen Verbrechen und den Holocaust als das Gesellschaftsverbrechen schlechthin nicht unreflektiert ins Zentrum stellen kann, sondern darüber hinaus vermehrt Gegenwartsbezüge akzentuieren muss, um ein emanzipatorisches Geschichtsbewusstsein entstehen zu lassen, das auch für kommende Generationen von Schülerinnen und Schüler, besonders aus nicht-deutschen Herkunftsgesellschaften, anschlussfähig ist. Und was könnte übrigens für Schülerinnen und Schüler anschlussfähiger sein als das, was sie vor sich haben: ihre Zukunft? Die klassischen Erziehungsziele, die auch bisher die historische und politische Bildung angeleitet haben, nämlich die Vermittlung historischen und politischen Wissens, die Bildung von Demokratiefähigkeit sowie von Toleranz und Zivilcourage, können nicht allein auf die negativen Lehren eines historischen Extremereignisses gebaut werden. Sie setzen ein eigenständiges Unterscheidungsvermögen zwischen richtigen und falschen, tolerablen und inakzeptablen Verhaltensweisen und Entwicklungen voraus, und dies wiederum hat eine stabile und sichere Identität zur Voraussetzung. Das paradoxe Bemühen der deutschen Erinnerungskultur, aus einem negativen Ursprungsereignis eine positive Identitätsbildung zu generieren und in politisches Verantwortungsbewusstsein zu übersetzen, muss fehlschlagen: Identität braucht psychologisch positive Fundamente, eine gesicherte Überzeugung, dass und wie man Gutes bewirken und Böses verhindern kann.

Volkhard Knigge

Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? Warum Erinnerung allein in eine Sackgasse für historisch-politische Bildung führen muss

Der Titel des Aufsatzes ist bewusst zuspitzend formuliert. Denn eine antagonistische Gegenüberstellung von Erinnerung und Geschichtsbewusstsein macht sowohl in geschichtsdidaktischer Perspektive als auch im Licht komplexerer Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Erinnerung und Geschichte wenig Sinn. Historische Erinnerung wie auch Geschichtsbewusstsein sind zunächst Containerbegriffe. Unter sie lassen sich alle Formen der Beschäftigung mit Geschichte in Gesellschaft, Alltag und Lebenswelt wie auch im Leben der einzelnen Menschen fassen. In dieser sehr allgemeinen Verwendung besagen beide Begriffe kaum mehr, als dass sich Vergangenheitsverhältnisse – also Geschichtsinteressen, Vorstellungen, Deutungen und Sinngebungen von Geschichte wie auch historische Urteile – keinesfalls nur im Feld geschichtswissenschaftlich fundierter Vergangenheitsbearbeitung bilden. Anders stellt sich die Sache dar, wenn man ernst nimmt, dass Erinnerung bzw. Erinnerungskultur in der Bundesrepublik in den vergangenen 35 Jahren in spezifischer Weise mit Bedeutung – und Sinn – aufgeladen worden sind. Im Oktober 1981 kamen in Hamburg erstmals Initiatoren für KZ-Gedenkstätten aus der gesamten Bundesrepublik zusammen. Anlass für das Treffen im engeren Sinn war die Einweihung eines gegen Widerstände zivilgesellschaftlich erstrittenen Dokumentenhauses in der Gedenkstätte Neuengamme. Das ehemalige Lager war zu diesem Zeitpunkt noch großflächig mit einer Jugendstrafanstalt überbaut, der Standort des Krematoriums bereits Anfang der 1950er Jahre unkenntlich gemacht worden und aus dem Bewusstsein verschwunden. Dass ehemalige nationalsozialistische Lager in den ersten Jahrzehnten nach 1945 durch die ortsansässige Bevölkerung, durch Kommunen oder andere Akteure auf vielfältige Weise unsichtbar gemacht worden waren, war in der Bundesrepublik kein Einzelfall. Deshalb galt das Treffen der Initiativen über den konkreten Anlass hinaus allen vergessenen KZ, wobei für die Teilnehmer kein Zweifel daran bestand, dass Vergessen als so-

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Volkhard Knigge

ziales Vergessen, also als ein Vergessen-Wollen, als Verdrängung gewertet werden müsste. Der Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg Kurt Scharf, zugleich der damalige Vorsitzende der einladenden Aktion Sühnezeichen, hat erläutert, was mit dem Terminus ���������������������� »��������������������� vergessene Konzentrationslager«, die »fast unzählbar« […] »im eigenen Land und in den besetzten Gebieten��������������������������������������������������������������� «�������������������������������������������������������������� entstanden seien, zum Ausdruck gebracht werden sollte. Er betonte, dass den Deutschen damals »deren Stätte wohl bekannt und gefürchtet war in ihrer weiteren Umgebung, an die aber die alten und die später zugezogenen Bewohner der benachbarten Orte nicht erinnert werden wollten und wollen. Es geht uns gerade um diese, weil wir das hier sichtbar werdende Symptom des Verdrängens als Merkmal gefährlicher nationaler Erkrankung werten.«1

Mir geht es bei diesem Rückblick auf das Treffen 1981 in Neuengamme nicht um Einzelheiten der Terminologie und der Argumentation. Vielmehr möchte ich mittels dieses Beispiels auf den Entstehungs- und Verwendungszusammenhang hinweisen, der Erinnerung in Deutschland sukzessive mit einer besonderen Dignität und der auch gegenwärtig noch weitgehend unhinterfragten Vorstellung aufgeladen hat, Erinnerung sei unter allen Umständen Ausdruck hellen, aufgeklärten Bewusstseins und deshalb der ideale Weg zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, sei der Königsweg der Demokratie und Menschenrechtserziehung. Eine Auffassung, die globalisiert und auf andere Formen von Staats- und Gesellschaftsverbrechen übertragen worden ist, von den kommunistischen Diktaturen bis hin zu den Massenverbrechen im Kontext der jugoslawischen Zerfallskriege, den Militärdiktaturen in Mittel- und Südamerika oder Genoziden wie dem in Ruanda. Erinnern, so zeigt das Beispiel von 1981, gewann aber seine kritische Konnotation in der Bundesrepublik vor allem deshalb, weil Begriff und eingeforderte Praxis sich an Zeitgenossen wandte. Zeitgenossen, die den Nationalsozialismus erlebt und ihn mehr oder minder mitgestaltet, mitgetragen hatten; Zeitgenossen, die um die Lager gewusst hatten; Zeitgenossen, die zumeist von alldem nach 1945 nichts mehr hatten wissen wollen. Erinnern bedeutete in diesem Kontext, sich erinnern, sich einzugestehen, was man gesehen, gewusst und wie man sich verhalten hatte und wie man später damit in der Bundesrepublik umgegangen war. Erinnern in dieser Perspektive war – anders 1 Kurt Scharf: Vorwort, in: Detlef Garbe (Hg.): Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983, S. 21–22, hier S. 21.

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gesagt – unmittelbar mit lebensgeschichtlicher Erfahrung verknüpft. Die der Erinnerung vorausgehende Erfahrung erst machte Erinnern möglich, setzte Individuen in den Stand, sich selbst zu erinnern – wenn sie es denn wollten – und sich so der Geschichte uneingeschränkt zu stellen. Allerdings macht das Beispiel bereits deutlich, wie sich erinnern und Erinnertwerden sprachlich bzw. rhetorisch leicht bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschränkt werden können. Im Kontext staatlich sanktionierter Erinnerungskultur, wie sie heute die Bundesrepublik auch hinsichtlich der nationalsozialistischen Vergangenheit prägt, gewinnt dieser Umstand besondere Brisanz. Denn Menschen, die sich erinnern, behaupten sich als Subjekt, während hingegen diejenigen, die an etwas erinnert werden, zwangsläufig zu Objekten – vornehmer: zu Adressaten – Anderer werden. Deshalb werden der hier gerade skizzierte Erinnerungsbegriff und die damit verbundene Praxis spätestens für die Zeit jenseits der Zeitgenossenschaft problematisch. Erinnerung als Praxis von individuellen Menschen verliert ihre historische Referenz in Gestalt lebensgeschichtlicher Erfahrung und damit ihren Eigensinn. Lange nach 1945 Geborene aufzufordern, sich zu erinnern, ist zudem eine pädagogische Falle. Dass, was sie erinnern sollen, können sie nicht erinnern. Erinnerung tritt ihnen vielmehr gegenüber als angemahnte Erinnerung, als oft hilflos moralisierender Appell Älterer. Erinnerung schlägt damit endgültig um in Erinnertwerden. Erinnertwerden ist aber nichts anderes als eine Form von Unterweisung, eine gleichsam durch die aufklärerisch-selbstreflexive Konnotation von Erinnerung, wie ich sie eingangs umrissen habe, verschleierte Form der Unterweisung, die sich geschichtswissenschaftlicher, geschichtsdidaktischer Reflexion, Diskussion und Legitimitätsprüfung mehr oder minder entzieht. Ein Entzug, der als umso natürlicher und verschmerzbarer erscheint, je mehr Erinnerung – gerne und polemisch in Opposition gebracht zu ������������������������������� »������������������������������ kalter������������������������ «����������������������� wissenschaftlicher Geschichtsschreibung – als authentische Wiedergabe von Geschichte gilt, als Medium, in dem sich die Vergangenheit unmittelbar darstellt und politische und moralische Lehren erteilt: memoria magistra vitae.2 Damit wird allerdings der gegenwartsgebundene, von Zukunftserwartungen geprägte Konstruktionscharakter von Vergangenheitsvorstellungen sowie die Notwendigkeit, diesen bestmöglich methodisch und quellenkritisch zu kontrollieren, überblendet. Überblendet wird zudem, dass auch das autobiographische Erinnern – wie Hirnforschung, Psychoanalyse oder sozi2 Dass sich eine ähnliche Entkopplung von Erfahrung und Erinnerung mittlerweile auch in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Diktaturgeschichte der DDR anbahnt, muss nicht eigens betont werden.

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alpsychologisch ausgerichtete Erinnerungsforschung belegen – kein bloßes Abspiegeln ist von dem, was war; es handelt sich vielmehr um einen Kons­ truktions- und Umbauprozess von Wahrnehmungs- und Erfahrungsrepräsentanzen im Licht neuer Wahrnehmungen, Erfahrungen und Wertungen. Als noch problematischer erweist sich die Auffassung von Erinnerung als Lehrerin für das Leben, wenn man sich an den zahlreich zur Verfügung stehenden Beispielen aus Geschichte und Gegenwart klar macht, dass Erinnern als solches mitnichten Mitmenschlichkeit und Zivilität, demokratische Haltungen oder Menschenrechtsbewusstsein fördert. Bereits ein Blick in die Länder des ehemaligen Jugoslawien zeigt, wie biographisches und gruppenbezogenes Erinnern bis hin zu staatlicher Erinnerungs- und Geschichtspolitik Vorurteile, Angst, Hass, Rache und sich daraus speisende Gewalt festigen und verstetigen kann. In Besucherbüchern von KZ-Gedenkstätten finden sich, vermehrt seit Ende der 1990er Jahre, Eintragungen, die sich positiv zum Nationalsozialismus und den Konzentrations- und Vernichtungslagern bekennen. Das belegt, was auch ohne solche Einträge gewusst werden könnte: dass Auschwitz sich erinnern lässt, um sich zu Auschwitz zu bekennen. Schlussendlich beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn Erinnerung wird gegenwärtig mit dem Ziel des Lernens aus – in demokratisch-menschenrechtlicher Perspektive – heilloser, negativer, menschenfeindlicher Geschichte gleichgesetzt, und Erinnerung soll darüber hinaus mit diesem Lernen selbst identisch sein. So ist eine geschichtsdidaktische, lerntheoretische Aporie entstanden, die in Formulierungen wie Erinnerung lernen oder Pädagogik der Erinnerung zwar aufscheint, durch diese aber nicht aufgelöst werden kann. Das Entstehen dieser Aporie wurde durch den Umstand begünstigt, dass die Herausbildung kritisch konnotierter Erinnerungsrhetorik und Gedenkstättenarbeit einerseits und die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein als Leitkategorie einer sich von der geisteswissenschaftlichen Bildungsdidaktik abhebenden Geschichtsdidaktik ab Ende der 1960er Jahre andererseits eher unverbunden denn aufeinander bezogen verliefen. Und dies, obwohl Gedenkstätteninitiativen durchaus darauf zielten, Gedenkstätten nicht nur als Denkmale und Orte des Opfergedenkens und der Trauer zu verstehen und zu gestalten, sondern auch als historisch-politische Lernorte und obwohl Lehrer und Geschichtsdidaktiker über Lernen am Nationalsozialismus in der Schule immer wieder nachdachten. In seinen Wirkungen nicht zu unterschätzen ist der Siegeszug kultur­ wissenschaftlich geprägter Erinnerungs- und Gedächtniskonzepte, wie er sich seit den 1970er Jahren nicht zuletzt in Frankreich vorbereitete. Die unkritische Rezeption solcher Konzepte ließ den elementaren Unterschied zwischen verhaltensrelevantem historischen Lernen, Begreifen, Urteilen und

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Erinnern in den Hintergrund treten. Im Zentrum dieser Diskurse stand weniger die Frage nach der Entwicklung quellengestützten, methodisch gesicherten, reflexiven Geschichtsbewusstseins als vielmehr die Funktion und der Nutzen des Erinnerns für kollektive Formen von Gedächtnis und Identität. Es ging also um den Zusammenhalt von Gruppen und Gesellschaften – nicht um Fragen von Geschichte als reflektierte Selbstbeunruhigung und um eine Historisierung von Identitätsdenken, das immer auch Gewaltpotentiale in sich birgt. Aus dem Blick gerieten, konkreter gesagt, die der Ausbildung kritischem, reflexivem Geschichtsbewusstsein entgegenstehenden Positionen zweier der wichtigsten Referenzautoren dieser Zeit: Maurice Halbwachs und Pierre Nora. Weitgehend unbeachtet blieb in Bezug auf Halbwachs, dass sein Radikalkonstruktivismus avant la lettre Erinnerung von historischer Erfahrung im Kern theoretisch entkoppelte und das sozial konstruierte Gedächtnis zwangsläufig durchmachtetes Gedächtnis sein musste, auch wenn es seine Durchmachtung verschattet. Die Rezeption von Pierre Noras Konzept der lieux de mémoire unterschlug dessen kompensatorische Intention, das vermeintlich von lebendigem Geschichtsbewusstsein nicht mehr getragene französische Nationalgedächtnis als Gemeinschaftsgarant durch Erinnerung zu revitalisieren. Aus den Augen geriet, dass überindividuelles Erinnern an geteilte, ähnlich verarbeitete und gedeutete Erlebnisse und Erfahrungen gebunden ist. Darauf hat Reinhart Koselleck besonders eindringlich – und in ideologiekritischer Absicht – aufmerksam gemacht. Es gebe, so Koselleck, »kein Subjekt, dass sich kollektiv zu erinnern fähig wäre. In Wirklichkeit handelt es sich um ein sprachlich generiertes Referenz-Subjekt – das Volk, die Klasse, der Staat, die Franzosen, die Polen und so weiter und so fort – und um kein gemeinschaftliches Handlungssubjekt, das sich seiner Taten und Leiden erinnern könnte. Die von Durkheim und Halbwachs und anderen Soziologen beschworenen Kollektiva mit gemeinsamer Erinnerung oder gemeinschaftlichem Gedächtnis sind sprachliche Konstrukte, quasi religiöse Ideologeme, die die unio mystica einer Glaubensgemeinschaft in nationale Referenz-Systeme überführen sollen. Befragen wir sie ideologiekritisch, stoßen wir nicht auf kollektive Erinnerungen […] sondern auf kollektive Bedingungen der je eigenen Erinnerungen.«3

Dies ernstgenommen, erscheinen kollektive Erinnerung und kollektives Gedächtnis weniger als natürliche Gebilde a priori harmonierender, gleichgerichteter Erinnerungen, sondern vielmehr als – und das ist mit Durch3 Reinhart Koselleck: Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte, in: Rudolf von Thadden/Steffen Kaudelka (Hg.): Erinnerung und Geschichte. 60 Jahre nach dem 8. Mai 1945, Göttingen 2006, S. 13–22, hier S. 15.

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machtung gemeint – soziale und politische Konstruktion und Rhetorik von tonangebenden Gruppen und Medien, die selbstverständlich auch aktuellen Hegemonie-, Macht- und Herrschaftsinteressen folgen. Sowohl die skizzierte Parallelität und Unvermitteltheit von Konzepten und Diskursen als auch die idealisierende Rezeption von Halbwachs und Nora hat von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Seite dazu bei­getragen, die durch ihre Verknüpfung mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vermeintlich ausschließlich kritisch aufgeladenen Formeln von Erinnerung und Erinnerungskultur für affirmative geschichts- und identitätspolitische Zwecke zu öffnen und verwendbar zu machen. Außerdem spielt in diesem Zusammenhang die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten eine besondere Rolle. Theorie wurde hier gleichsam direkt in (Geschichts-)Politik übersetzt. Denn die Überwindung der DDR als Staat, und die damit verbundene nationale Rekonstitution der Bundesrepublik haben die geschichtspolitische Hinwendung zu identitätsstützender, weniger selbstkritischer denn den Erfolg der nationalstaatlichen Entwicklung absichernden, feiernden Erinnerungskultur spürbar vorangetrieben. Dieser Prozess soll im Folgenden an drei Reden von drei Bundespräsidenten aus Anlass des Endes des Zweiten Weltkriegs exemplarisch vor Augen geführt werden. Es handelt sich um die Reden von Richard von Weizsäcker 1985, Roman Herzog 1995 und Horst Köhler 2005. Richard von Weizsäcker hatte in seiner als bahnbrechend wahrgenommenen Ansprache am 8. Mai 1985 in eigenwilliger, schiefer Bezugnahme auf die jüdische Mystik erklärt, »das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung« und brachte dabei Erinnerung, moralische Läuterung, deutsch-jüdische Versöhnung und intergenerationelle sowie innergesellschaftliche Aussöhnung in der Bundesrepublik in einen historischmetaphysischen Zusammenhang. Roman Herzog hingegen benutzte zehn Jahre später nicht ein einziges Mal das Wort Erinnerung. Für ihn lag die Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands weit zurück und konnte als abgeschlossen gelten. Denn – so Herzog – mit dem 8. Mai 1945 sei das »Tor zur Zukunft aufgestoßen« worden. Einer Zukunft, die sich in der Bundesrepublik und in Westeuropa als »Insel des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes« ausgeprägt und erfüllt hatte; einer Zukunft, die es nur mehr galt, nach Osten auszudehnen. Den Topos einer abgeschlossenen Vergangenheit, den Topos einer neuen Zeit, eines endgültig anderen Deutschlands führte schließlich Horst Köhler wiederum zehn Jahre später in der Formulierung zu Ende: »Deutschland ist heute nicht nur äußerlich ein anderes Land als vor sechzig Jahren. Unser Land hat sich von seinem Inneren her verändert.« Zuvor hatte Köhler allerdings das mit dem Nationalsozialismus über Europa gekommene Grauen

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plastisch geschildert. Verschwiegen hat er auch nicht, dass heftige innergesellschaftliche Konflikte um Geschichte und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit den deutschen Veränderungsprozess begleitet haben. Aber auch sie sind schlussendlich aufgehoben und harmonisiert im glücklichen Ausgang der Geschichte, im von den Schlacken der Vergangenheit geläuterten Deutschland. Was als Aufgabe bleibt, ist nach Köhler nur mehr eine antiquarische Pflicht, nämlich: ������������������������������������������������������� »������������������������������������������������������ das Wachhalten der Erinnerung������������������������� «,����������������������� verstanden als Weitergabe der Erinnerungen der Zeitzeugen von Generation zu Generation. Zu den relevanten Zeitzeugen zählen dann allerdings nicht nur die von Deutschen des »Dritten Reichs« Verfolgten, die Opfer des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs, sondern alle, die in dieser Zeit gelitten haben. Der Preis solcher Selbstzufriedenheit ist hoch: Potentiell relativierende Multiperspektivität und historisch entkernte Pietät gehen Hand in Hand mit Leidanklage ohne umfassende und konkrete Ermittlung der Leid verursachenden Akteure, ihrer Antriebe und Interessen und der sie begünstigenden politischen, moralischen, rechtlichen Umbrüche und Kontexte. Dagegen ist festzustellen, dass noch so gut gemeinte Identifikation mit der Erinnerung von Anderen, dass die identifizierende Übernahme und Weitergabe von Erinnerungen geradezu auf das Gegenteil von reflexivem Geschichtsbewusstsein hinaus laufen muss. »Geschichtsbewusstsein«, so Theodor Schieder 1974, »meint die ständige Gegenwärtigkeit des Wissens, dass der Mensch und alle von ihm geschaffenen Einrichtungen und Formen seines Zusammenlebens in der Zeit existieren, also eine Herkunft und eine Zukunft haben, dass sie nichts darstellen, was stabil, unveränderlich und ohne Voraussetzungen ist.«4

Geschichtsbewusstsein – Schieder betont hier insbesondere das Merkmal des Historizitätsbewusstseins – steht in geschichtsdidaktischer Hinsicht5 gerade nicht für die Identifikation mit auf welche Weise auch immer zustande gekommenen oder wie auch immer verfassten Aussagen über bzw. Bildern von Vergangenheit. Geschichtsbewusstsein steht vielmehr für das empirisch gehaltvolle Verständnis der Wirkung von Vergangenheit auf Gegenwart, steht für das Begreifen der Ursachen und Prozesse, der Wirkungen und Wechsel4 Theodor Schieder: Geschichtsinteresse und Geschichtsbewusstsein heute, in: Carl J. Burckhardt (Hg.): Geschichte zwischen Gestern und Morgen, München 1974, S. 73–102, hier S. 78 f. 5 Dazu insbesondere Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Ders. (Hg.): Geschichte und Bildung, Paderborn 2000, S. 46–72 sowie Bodo von Borries/Hans-Jürgen Pandel/Jörn Rüsen (Hg.): Geschichtsbewußtsein empirisch, Pfaffenweiler 1991.

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wirkungen, die Zukunft und Gegenwart aus Vergangenheit entstehen lassen. Anders gesagt, Geschichtsbewusstsein ist Bewusstsein davon, wie die drei Zeitdimensionen miteinander verknüpft sind in Folge menschlichen Handelns in Verbindung mit Rahmenbedingungen und Strukturen, im Spannungsfeld von Intentionalität und Kontingenz. Merkmale von reflexivem Geschichtsbewusstsein bestehen dabei nicht zuletzt in der Fähigkeit, Fragen an Geschichte und an konkrete Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein stellen zu können. Reflexives Geschichtsbewusstsein beweist sich durch das Vermögen, Geschichte, Geschichtsdeutungen, historische Sinn- und Identitätsangebote – oder -zumutungen – zu hinterfragen und in ihrer Genese aufschließen und erschließen zu können. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, die Dimensionen der Zeit sowohl unterscheiden zu können als auch sich ihrer inneren Verwobenheit bewusst zu bleiben: nicht ohnmächtig oder in blinder Faszination in Geschichte – und Geschehen – eingespannt, sondern als Voraussetzung dafür, trotz Einspannung reflexiv Distanz zu gewinnen und dabei Einsicht und handlungsrelevante Orientierung an durchgearbeiteter historischer Erfahrung zu gewinnen. Genau davon aber entbindet das Ersetzen von Geschichtsbewusstsein durch Erinnerung und Erinnerungstradierung und tut damit selbstreflexiver demokratischer Kultur – gewollt oder ungewollt – einen Bärendienst. Dieser Bärendienst hat gravierendere Folgen, da Erinnerungskultur und Politik mit der Erinnerung schon strukturell miteinander verkoppelt sind. Ist demokratische Kulturpolitik gerade dadurch gekennzeichnet, dass Politik Rahmenbedingungen schafft, aber keine Inhalte vorgibt, so ist diese Trennung im Feld einer ������������������������������������������������������� »������������������������������������������������������ Erinnerungskulturpolitik������������������������������ «����������������������������� partiell aufgelöst. Der Rahmen – etwa eine Haftstätte der DDR-Staatssicherheit, aus der eine Gedenkstätte werden soll, oder ein ehemaliges KZ – sind zwangsläufig gleichzeitig Rahmen und Inhalt, selbst dann, wenn der Inhalt nach Gründung der Einrichtung politikferner genauer bestimmt und entwickelt wird. Dies müsste eigentlich zu grundsätzlichen Überlegungen führen, wie der politische Zugriff auf Erinnerung und Geschichtsbewusstsein so gering wie möglich gehalten werden kann – etwa durch institutionell verankerte geschichtswissenschaftliche Gegengewichte. Es findet sich aber auch die gegenteilige Auffassung, nicht nur bei Norbert Lammert. Für ihn gehört zu den herausragenden Aspekten dieses Themas, »daß es in einer für die Kulturpolitik im Ganzen eher untypischen Weise eine unmittelbare staatliche Verantwortung impliziert. […] Wenn es ein Thema gibt, bei dem sich der Staat, die Politik nicht allein auf die Schaffung von Bedingungen zurückziehen kann, sondern ausdrücklich oder heimlich – manchmal auch

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unheimlich – selber den Gegenstand dessen prägt, um was es geht, dann ist es der Bereich der Erinnerungskultur.«6

Erinnerungskultur ist so gesehen Arena und Produkt offen oder verdeckt durchmachteter Aushandlungsprozesse und Kompromisse zu Geschichtsbildern unter mehr oder minder intensiver Beteiligung von Historikern – und dies längst nicht nur auf nationaler Ebene, wenn man an das Stockholm International Forum on the Holocaust im Jahr 2000, oder an das Europäische Parlament als geschichts- und erinnerungspolitischen Akteur denkt.7 Die Folge sind quasi halbamtliche Geschichtsbilder, wie sie etwa als Präambeln der Gedenkstättenförderkonzeption des Bundes oder den Gedenkstättenstiftungsgesetzen vorangestellt sind. Das Aggregat für die Verschiebung von Geschichte hin zur Erinnerung, für die politische Aushandlung von historischer Erinnerung, waren die beiden vom Bundestag eingesetzten Enquetekommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 1992 bis 1998.8 Die Dominanz von Erinnerung und unhinterfragter Zeitzeugenschaft gegenüber Historie und Geschichtsbewusstsein ist durch sie – bei allen Verdiensten – quasi politisch-moralisch legitimiert und zum Standard geworden. Wie sehr sich dabei die Gewichte zwischen Politik und Historie, zwischen Geschichte und Erinnerung im Bewusstsein von Abgeordneten verschoben haben, verdeutlichen Redebeiträge aus der Parlamentsdebatte vom 21. Februar 1992 zur Einrichtung der ersten Kommission wie auch die Vorworte von Rita Süssmuth und Wolfgang Thierse als damalige Bundestagspräsidenten zu den beiden mehrbändigen Dokumentationen der Arbeit der Enquete­ kommissionen. Hieß es seitens der Grünen im Februar 1992 noch: »Der Bundestag betrachtet es als Teil seiner Verantwortung, zur politischen und historischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte beizutragen«, formulierte beispielsweise die SPD bereits weniger zurückhaltend und zweideutig: »Unabhängig von anderen Initiativen gesellschaftlicher Institutionen trägt der Deutsche Bundestag als das höchste Gremium mit Abgeordneten aus der gesam6 Norbert Lammert: Erinnerungskultur als staatliche Aufgabe. Bemerkungen zur Einleitung, in: Ders. (Hg.): Erinnerungskultur. Kongressdokumentation der 4. Potsdamer Gespräche zur Kulturpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung am 16. und 17. Oktober 2004, St. Augustin 2004, S. 9–14, hier S. 9 f. 7 Günther Morsch: Geschichte als Waffe. Erinnerungskultur in Europa und die Aufgabe der Gedenkstätten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 5/2010, S. 109–121. 8 Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, 9 Bde., Baden-Baden/Frankfurt am Main 1995; Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, 8 Bde., Baden-Baden/Frankfurt am Main 1999.

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ten Bundesrepublik Deutschland eine besondere Verantwortung für die Aufarbeitung dieser Geschichte.«9

Und im Gegensatz zu Rita Süssmuth, die sich noch verpflichtet gesehen hatte, in ihrem Geleitwort explizit festzustellen, dass Politik Geschichtswissenschaft nicht bevormunden wolle und dürfe, spielte Geschichtswissenschaft im Geleitwort von Wolfgang Thierse bereits keine Rolle mehr. Es ging nur mehr um Erinnerung. Die Abwendung von Geschichte und die Hinwendung zur Erinnerung ist, das habe ich eingangs bereits angedeutet, kein singulär deutsches Phänomen. Und ich will trotz der notwendigen Hinweise auf die Durchmachtung von Gedächtnis und Erinnerung auch nicht darauf hinaus, dass die Hinwendung und Bevorzugung von Erinnerung politisch unmittelbar dekretiert und von oben nach unten durchgestellt worden sei. Eine solche Vorstellung griffe, bei aller zu beobachtenden hemdsärmeligen Geschichtspolitik10, zu kurz. Die »Überflutung der Geschichte mit Erinnerung« (Jacques Le Goff) vollzog sich transnational und entsprang ebenso konservativen wie progressiven Strebungen, die sich nicht selten durchmischten. Auf die vielfach diskutierten Ursachen und Erklärungen kann ich hier nur kursorisch eingehen. So gerieten traditionelle Geschichtsdarstellungen unter den Druck von Gruppen, deren Geschichte offizielle Quellen ausblendeten oder verzerrten und die deshalb die ������������������������������������������������������������� »������������������������������������������������������������ Spuren einer zerstörten oder beschlagnahmten (kolonialisierten) Vergangenheit suchten und ans Licht brachten und denen Erinnerung deshalb eine wichtige Quelle und ein Akt der (nachträglichen) Anerkennung des und der Marginalisierten war.«11 Auch das öffentliche, anfänglich in der 9 Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Bd. 1: Anträge, Debatte, Bericht, Baden-Baden/Frankfurt/ Main 1995, S. 8 bzw. S. 7. 10 Exemplarisch sei hier an den heftig kritisierten Versuch einer Gruppe CDU-Bundestagsabgeordneter um Günter Nooke erinnert. Die Gruppe beabsichtigte, die im Rahmen der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozess der deutschen Einheit«��������������������������������� (1995–1998) entstandene �������� »������� Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes« zu revidieren. Am 17. Juni 2004 brachte sie dementsprechend ein die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und DDR-Kommunismus verschleifendes »Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden Diktaturen« in den Bundestag ein. (Deutscher Bundestag, Drs. 15/3048) Siehe dazu: Kulturpolitische Mitteilungen. Zeitschrift der Kulturpolitischen Gesellschaft, Nr. 108, I/2005 (Erinnerungs- und Gedenkkultur), S. 34–51; Volkhard Knigge: Stellungnahme, in: Gedenkstättenrundbrief 140 (2007), S. 36–45. 11 Pierre Nora: Gedächtniskonjunktur, in: Transit – Europäische Revue 22 (2002), S. 18–31, hier S. 18.

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Bundesrepublik kaum erwünschte Erinnern von Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager gehörte über einen langen Zeitraum in dieses Feld der Gegenerinnerungen. Joachim Ritter, Hermann Lübbe und Odo Marquard schrieben Kultur – und damit Gedächtnis und historischer Erinnerung – explizit kompensatorische Funktionen zu. Ihnen zufolge galt es, den durch forcierte Modernisierung beschleunigten Untergang überkommener Herkunfts- und Erfahrungs­welten und die damit verbundenen Vertrautheits-, Stabilitäts- und Identitätsverluste symbolisch zu kompensieren.12 Zudem war Geschichte selbst unsicher geworden, und zwar auf beiden, im Wort verschränkten Ebenen des Begriffs. In Folge des Zerschellens geschichtsphilosophischer, geschichtsteleologischer Meistererzählungen spätestens an den Erfahrungen des »������������������ ������������������� extremen 20. Jahrhunderts« (Eric Hobsbawm) waren Verlauf und Ziel der Geschichte – verstandenen als Fortschritt, als unaufhaltbare Modernisierung und Verbesserung der Lebensumstände oder als endgültige Befreiung der Menschheit von Unterdrückung und Not – zweifelhaft und unsicher geworden. Gleichzeitig sah sich der positivistisch verankerte Wahrheitsbegriff der Geschichtswissenschaft durch ebenfalls im Kontext der Postmoderne­diskussion angestoßene erkenntnistheoretische und präsentationslogisch-poetologische Reflexionen in Frage gestellt.13 Der Erinnerung war hingegen – wie eingangs umrissen – im Verlauf der Auseinandersetzungen um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik eine besondere Aura von Wahrhaftigkeit zugewachsen, eine auratische Aufladung, ohne die Erinnerung kaum zur öffentlichen Pathosformel geworden wäre. Deren Attraktivität lag und liegt gerade in ihrer vielversprechenden Überdeterminierung: von emanzipatorischem Gegen­ gedächt­nis bis hin zu Traditionsbewusstsein, von einer kriminologisch-juristischen Wahrheitssemantik bis hin zu einem kathartisch-tiefenpsychologisch konturierten Wahrheitsbegriff, von religiös und theologisch inspirierten Wahrhaftigkeitsansprüchen und Erlösungsvorstellungen bis hin zur Verschränkung von Geschichte, Geschichtsaneignung und Wertbildung. So verstand Felix Messerschmidt bereits 1963 unter Erinnerung ein Geschichtsbe12 Dazu Joachim Küpper: Kanon als Historiographie – Überlegungen im Anschluss an Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen, zweites Stück, in: Maria MoogGrünwald (Hg.): Kanon und Theorie, Heidelberg 1997, S. 41–64. 13 Roland Barthes: Der Diskurs der Geschichte (zuerst frz. 1967), in: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt am Main 2006, S. 149–163; Hayden White: Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1978, deutsch unter dem Titel: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1991.

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wusstsein, das an Begebenheiten zurückgebunden ist, die »prägende sittliche Einsichten« ermöglichen.14 Gegen diesen Nimbus und gegen die auf ihn in so unterschiedlicher Weise gerichteten Interessen konnte sich eine Warnung, wie die von Jacques Le Goff vor der Überschwemmung der Geschichte durch Erinnerung, in Deutschland kaum Gehör verschaffen. 1992 – beinahe zeitgleich zu Pierre Noras Geschichte und Gedächtnis und zur Taschenbuchausgabe von Maurice Halbwachs Das kollektive Gedächtnis erschienen – ging Le Goffs deutlicher Warnruf weitgehend unter: »Naive Tendenzen der jüngsten Zeit scheinen beinahe das eine mit dem anderen gleichzusetzen, ja, in gewisser Weise der Erinnerung den Vorzug zu geben, weil sie angeblich authentischer und ›wahrer‹ ist als die Geschichte, die künstlich sei und vor allem eine Manipulation der Erinnerung darstelle. […] Doch die historische Disziplin, die den Wandel der Historiographie erkannt hat, muss nichts desto weniger nach Objektivität streben und auf dem Glauben an eine historische ›Wahrheit‹ begründet bleiben. Erinnerung ist ein Rohstoff der Geschichte. In Geist, Wort und Schrift stellt sie den Vorrat dar, aus dem die Historiker schöpfen. Da ihr Wirken meist unbewusst bleibt, ist sie in Wirklichkeit weit gefährlicheren Manipulationen durch die Zeit und durch die Gesellschaften, die denken, ausgesetzt als die historische Disziplin selbst. Im übrigen speist die Disziplin ihrerseits die Erinnerung und tritt damit in den großen dialektischen Prozess von Erinnern und Vergessen ein, den Individuen und Gesellschaften durchleben. Der Historiker ist dazu da, um über dies Erinnern und Vergessen Rechenschaft abzulegen, um es in denkbaren Stoff umzuwandeln, um es zu einem Gegenstand des Wissens zu machen. Der Erinnerung einerseits den Vorzug zu geben hieße, in den unbeherrschbaren Strom der Zeit einzutauchen.«15

14 Felix Messerschmidt: Historische und politische Bildung. Die geschichtspädagogischen Erwägungen seit 1950 – die Folgerungen, in: Neue Sammlung. Göttinger Blätter für Kultur und Erziehung. Zweites Sonderheft der Neuen Sammlung. Gemeinschaftskunde und politische Bildung, herausgegeben von Heinrich Roth im Auftrage des Göttinger Instituts für Erziehung und Unterricht, S. 12–24, hier S. 18; Nachdruck in: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsunterricht ohne Zukunft? Zum Diskussionsstand der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1972, S. 108–146, hier S. 117. 15 Jacques Le Goff im Vorwort zur französischen Ausgabe seines Buches von 1988, zitiert nach ders.: Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main, New York 1992, S. 11-15, hier S. 11 f. Le Goffs Buch war 1977 zuerst in Italienisch bei Einaudi erschienen und wurde erst 1992 bei Campus in der Übersetzung von Elisabeth Hartfelder auf Deutsch verlegt.

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Nimmt man diese Überlegungen auf, dann lassen sich Erinnerung und Geschichtsbewusstsein einander weder dichotomisch gegenüberstellen noch voneinander absolut separieren. Sie treten vielmehr in ein spezifisches Verhältnis, dessen Bedeutung weniger für das Feld geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Aufmerksamkeit und Theoriebildung reaktua­ lisiert werden muss – denn dort wird dieses Verhältnis seit längerem diskutiert –, sondern für das Feld erinnerungskultureller und geschichtspolitischer Praxis. So sehr Geschichte und Geschichtsbewusstsein im »������������� �������������� Schoß des Gedächtnisses« (Paul Ricœur) entstehen, so sehr bleibt es Aufgabe von Geschichte und reflexivem Geschichtsbewusstsein, Erinnerung und Gedächtnis in ihrer Genese und Funktion zu erschließen, zu instruieren und zu erweitern; anders gesagt: zur Reflexivität und Selbstreflexivität von Erinnerung beizutragen, zu ihrer Aufhebung in reflektiertem Geschichtsbewusstsein. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang noch einmal blitzlichtartig auf die Geschichte der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zurückzublicken, und zwar auf jene Konzepte historisch-politischer Bildung, die avant la lettre der Bildung reflexivem Geschichtsbewusstsein zuarbeiteten. Nicht auf bloße Erinnerung zielten sie, sondern auf Lernen – Verstehen – Begreifen, auf »historisches Denkenlernen«16, auf »geschichtliche Selbstbesinnung« als Beitrag zur Bildung demokratischen Bewusstseins und der substantiellen Verankerung der Demokratie in der Bundesrepublik. Ich zitiere Erich Weniger gerade auf Grund seiner ambivalenten Erscheinung. 1949 argumentierte er im Kontext der Wiedereinführung des Geschichtsunterrichts gegen Widerstände in der Lehrerschaft, sich mit dem Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht auseinanderzusetzen – weil, so ein Vorwand, es noch an Quellen fehle – folgendermaßen: »Denn die geschichtliche Selbstbesinnung und der neue Glaube [Weniger meint hier: Begeisterung für die Demokratie, V.K.] erwachsen primär nicht aus Quellenforschung und methodischer Kritik der Wissenschaft, sondern aus dem Umfang und der geschichtlichen Erfahrung, die wir gewonnen haben oder jetzt gewinnen können. Diese geschichtliche Erfahrung gilt es zum Bewusstsein zu bringen und von solcher bewusstgewordenen und kritisch durchleuchteten Erfahrung her rücken dann die Daten der geschichtlichen Erinnerung unseres Volkes in ein neues Licht und in eine neue Ordnung.«17 16 Friedrich J. Lucas: Der Beitrag des Geschichtsunterrichts zur politischen Bildung, in: Gesellschaft – Staat – Erziehung. Blätter für politische Bildung und Erziehung, 10. Jg. (1966), S. 381–395, hier S. 391. 17 Erich Weniger: Neue Wege im Geschichtsunterricht, Frankfurt am Main 1949, S. 16.

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Die selbstkritische Durcharbeitung historischer Erfahrung – nicht zuletzt in Gestalt gesellschaftlicher Konflikte – unter Einbezug zunehmend erschlossener Quellenbestände und immer umfassenderen Forschungs- und Erkenntnisständen bildete den Kern des gesellschaftlichen Lernprozesses, der zur Vorgeschichte heutiger Erinnerungskultur gehört. Ohne diesen Prozess politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit konkreten Kontinuitäten und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik wäre die substantielle Verankerung der Demokratie nach 1945 kaum denkbar. Dieser zeitgebundene und auch generationell geprägte Prozess lässt sich als solcher nicht unendlich fortführen. Nicht nur, weil �������������������� »������������������� historische Selbstbesinnung��������������������������������������������������������������� «�������������������������������������������������������������� ihren lebensgeschichtlichen, erfahrungsbezogenen Bezug verloren hat, sondern auch wegen des Erfolgs der selbstkritischen Aufarbeitung der Vergangenheit. Je weniger die Bundesrepublik politisch, rechtlich oder soziokulturell dem nationalsozialistischen Vorgänger entspricht, je größer der politisch-gesellschaftliche Abstand zu diesem Vorläufer erscheint, desto weniger relevant erscheint insbesondere für Jüngere die Beschäftigung damit. Das heißt aber nicht, dass demokratische Gesellschaften auf kritische Selbstreflexion im Licht ihrer normativen Selbstverpflichtungen und im Rückblick auf die inhumanen, menschenfeindlichen Momente ihrer Geschichte in selbstorientierender, wertbildender Perspektive verzichten könnten. Allerdings kann aus den hier umrissenen Gründen das Medium solch geschichtsbewusster willentlicher Selbstbeunruhigung an Geschichte nicht Erinnerung sein bzw. Erinnertwerden als staatlich-politisch regulierter und durchwirkter Unterweisungsakt über den Sinn der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft – zumal mit affirmativ-teleologischer Tendenz. Reflexives Geschichtsbewusstsein sperrt sich schon strukturell gegen Teleologie und affirmative Geschichts- und Selbstgewissheit. Denn zu seinen Merkmalen gehört der doppelte Blick; der Blick, der nicht nur den Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart auslotet bzw. den Unterschied zwischen beiden erfasst, sondern auch Nähe und Ähnlichkeit abwägt. Nicht was gewesen ist, ist dann die Hauptfrage, sondern, was am Gewesenen relevant bleibt. Nicht moralisierendes Von-Sich-Weisen oder retrospektives Verurteilen ist dann das Lernziel, sondern begreifendes Lernen an Geschichte und historischen Erfahrungen im Sinne einer Selbstaufklärung über das, was man besser nicht tut, wenn Gesellschaften ihre Zivilität, ihre humane Substanz nicht verlieren sollen – auf der Ebene der politischen Ordnung und des Rechts, auf der Ebene der Bildung und Kultur, im Feld der Ökonomie und des Sozialen. Virulent bleibt dann beispielsweise das Wissen und die Erfahrung, dass Marktwirtschaft als solche moralisch indifferent ist, dass sozioökonomisch verursachte Angst irrational an zu Sündenböcken gemachten Menschen aus-

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agiert werden kann, oder dass Kultur und Barbarei in Gestalt der – ambivalenten – Moderne ineinander verschränkt sind und dass das Gewissen, wenn es bürokratisch zergliedert, arbeitsteilig auf- und rassistisch zerspalten wird, sehr rasch untergehen kann. Im Gegensatz zur Erinnerungskultur in Gesellschaft und Medien, im Gegensatz zum staatlich abgestützten Erinnerungswesen verstehen sich deshalb die in der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Landes- und Bundesträgerschaft zusammengeschlossenen Gedenkstätten bereits seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre weniger als Erinnerungsorte, denn vielmehr als zeithistorische Museen mit einem gewissen Andachtscharakter, als Institutionen historisch-politisch-ethischer Bildung, die allerdings nicht vergessen machen wollen, dass sie zugleich Tat- und Leidensorte und konkret und symbolisch Friedhöfe sind.18 Die hier vorgestellte Kritik an Erinnerung als vermeintlicher Königsweg der Menschenrechts- und Demokratieerziehung, als Königsweg des historischen Lernens aus heilloser, menschenfeindlicher Geschichte ist zwar wegen der ihr zukommenden paradigmatischen Bedeutung in Bezug auf die Ausein­ andersetzung mit dem Nationalsozialismus entwickelt worden. Sie gilt aber darüber hinaus grundsätzlich auch für die Aufarbeitung der Geschichte der DDR. Empirisch gehaltvolles, reflexives Geschichtsbewusstsein führt in diesem Fall zunächst aus einer für die kritische Auseinandersetzung mit der DDR bezeichnenden erinnerungskulturellen Aporie heraus, nämlich der zwangsläufigen Asymmetrie der Erfahrung von Ost- und von Westdeutschen bis 1990. Anzuprangern oder zu beklagen, dass Westdeutsche zu wenig Interesse an der Erinnerung des Unrechts in der DDR aufbringen, führt in die Sackgasse. Denn Westdeutsche können die Geschichte der DDR und das mit ihr verbundene Unrecht unmittelbar nicht erinnern, geschweige denn analog zu Ostdeutschen erinnern. Westdeutsche können sich aber Wissen über diese Geschichte aneignen, sie können die westdeutschen Perspektiven der Wahrnehmung und Beurteilung der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1990 rekonstruieren und reflektieren, und sie können Geschichte und Erfahrung der DDR begreifen wollend sich etwas angehen lassen. Außerdem vermeidet reflexives Geschichtsbewusstsein historisch und ethisch ungerechtfertigte Parallelisierungen und Analogien, indem es nicht nur Ereignisse und Erinne18 Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten: KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland. Selbstverständnis, Leitlinien, Organisationsprofil. Erklärung vom November 1997. Siehe Volkhard Knigge: Die Zukunft der Gedenk­ stätten. Konstituierung der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gedenkstättenrundbrief 15 (1997), S. 32–33.

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rungen vergegenwärtigt und tradiert, sondern außerdem Vorgeschichten, historische Zusammenhänge und Kontexte auf quellenkritischer Grundlage erschließt. Dass Leid in der Perspektive davon Betroffener Leid ist, egal unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen es verursacht wird, ist reflexivem Geschichtsbewusstsein ein Grund für mitmenschliche Anteilnahme, aber kein erkenntnisträchtiger Befund, der historische Entwicklungen und deren Ursachen erschlösse oder der das Bewusstsein für politische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen schärfte. Gerade darin aber, gerade in der nicht alles über einen Kamm scherenden Qualität reflexiven Geschichtsbewusstseins, läge dessen präventives Potential. Hier liegt auch die Chance, Erinnerungskonkurrenzen und -konflikte künftig früher zu versachlichen und überwinden zu können, wenn nicht gleich ganz zu vermeiden.

Die Autoren

Antanas Gailius Geboren 1951 in Švendriškiai (Litauen), Studium der Germanistik in Vilnius, nach Lehrertätigkeit Referent der Litauischen Gesellschaft für Freundschaft und kulturelle Verbindung mit dem Ausland, später Lektor für übersetzte Literatur im Verlag »Vaga«, 1984–1989 Stellvertretender Cheflektor des Kinder- und Jugendbuchverlages »Vyturys«, 1989–1994 Herausgeber der Kulturzeitschrift Proskyna, November 1991–März 1992 Mitarbeiter der litauischen Botschaft in Bonn; 1991–1994 Mitinhaber und Direktor des Verlages »Amžius« sowie Chefredakteur der gleichnamigen Wochenzeitung, seit 1994 freier Autor und Übersetzer. Antanas Gailius hat drei eigene Lyriksammlungen sowie zahlreiche Über­ setzungen aus dem Deutschen und Niederländischen veröffentlicht, u. a. »Doktor Faustus« und die Tetralogie »Joseph und seine Brüder« von Thomas Mann, »Der Prozess« und »Das Schloss« von Franz Kafka, »Duineser Elegien« und »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« von Rainer Maria Rilke. Volkhard Knigge Geboren 1954 in Bielefeld, Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte, Germa­ nistik und Erziehungswissenschaften in Oldenburg und Paris; 1986 Promo­ tion, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter u. a. am Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums NRW; 1992–1994 Assistent am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena; seit 1994 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora; 2002 Honorarprofessor für »Geschichte und Öffentlichkeit« an der Universität Jena, seit 2007 dort ordentlicher Professor für »Geschichte in Medien und Öffentlichkeit«; Kurator zahlreicher Dauer-, Sonder- und Wanderausstellungen zur Geschichte von Gesellschaftsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskultur, Geschichtspolitik und Geschichtsbewusstsein im 20. Jahrhundert, besonders im Kontext europäischer Gedenkstätten, Ausstellungen und Denkmäler. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Die Umgestaltung der DDR-Gedenkstätten nach 1990. Ein Erfahrungsbericht am Beispiel Buchenwalds, in: Hans-

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Die Autoren

Joachim Veen (Hg): Zwischenbilanzen. Thüringen und seine Nachbarn, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 35–51; (Mithg.): Gulag: Spuren und Zeugnisse 1929–1956. Begleitband zur Ausstellung (mit Irina Scherbakowa), Göttingen 2012; (Mithg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung (mit Hans-Joachim Veen, Ulrich Mählert und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2011; (Mithg.): Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg, Weimar 2010. Michal Kopeček Geboren 1974 in Prag, Ph.D., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Prag, Berlin, Wien und Budapest; seit 2003 Leiter der Abteilung für »Spät- und Post-Sozialismus« am Institut für Zeitgeschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag; 2005 Ph.D. in Prag in Russischer und Osteuropäischer Geschichte; 2007–2010 Projektleiter des internationalen Postgraduierten-Forschungsprojekts »Sozialistische Diktatur als Sinnwelt. Repräsentationen gesellschaftlicher Ordnung und Herrschaftswandel in Ostmitteleuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«; seit 2010 Juniorprofessor für tschechische und mitteleuropäische Geschichte an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag; seit Herbst 2012 Fellow am Imre Kertész Kolleg Jena. Forschungsschwerpunkte: moderne Geistesgeschichte und Nationalismus in Ostmitteleuropa, Kommunismus- und Post-Sozialismusforschung, Geschichte und Theorie der Historiographie. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Von der Geschichtspolitik zur Erinnerung als politischer Sprache: Der tschechische Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit nach 1989, in: Etienne François u. a. (Hg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013; Human Rights Facing a National Past. Dissident ›Civic Patriotism‹ and the Return of History in East Central Europe 1968–1989, in: Geschichte und Gesellschaft, Nr. 4/2012, S. 573–602, (Hg.): Past in the Making. Historical Revisionism in Central Europe after 1989, Budapest/New York 2008. Gilbert Merlio Geboren 1934 in Douai (Frankreich), Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte und Germanistik in Lille, Paris und Saarbrücken; emeritierter Professor der Universität Paris-Sorbonne (Paris VI), Gründungsmitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar am Pariser Maison des Sciences de l’Homme; 1980 Habilitation, 1966–1993 Dozent und später Professor für

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Germanistik an der Universität Bordeaux; SS 1983 Gastprofessur an der Universität Hamburg; 1993–2003 Professor für deutsche Ideengeschichte an der Universität Paris-Sorbonne; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Ettersberg sowie langjähriges Mitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des Hannah-Arendt-Instituts in Dresden; Mitglied der UMR IRICE; Forschungsschwerpunkte: Kulturkritik, Oswald Spengler, Friedrich Nietzsche, Konservatismusforschung, Geschichte der Intellektuellen in Frankreich und Deutschland, politische Kultur Deutschlands, politische Ideengeschichte in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Forschungen zu Diktatur und Widerstand im 20. Jahrhundert. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Hg.): Spengler ohne Ende. Spenglers Weltrezeption (in Vorbereitung); (Mithg.): Les Lumières: héritage et mission. Hommage à Jean Mondot (mit Nicole Pelletier), Bordeaux 2012; Le débat autour de Das Amt. Suite et fin des querelles d’historiens en Allemagne ?, in : Le Débat, Nr. 168/2012, S 91–105; Über das französische Gedächtnis, in: Volkhard Knigge/Hans-Joachim Veen/Ulrich Mählert/Franz-Josef Schlichting (Hg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 83–100; L’homme et le cosmos chez Nietzsche, in: Franck Delannoy (Hg.): Sens et Cosmos, Arras 2011, S. 179–200; Der deutsche Widerstand gegen Hitler [Online-Publikation 2010], in: La clé des langues (ens Lyon/dgesco), im Internet unter: http://cle.enslyon.fr/1270039567691/0/fiche___article [31.05.2013]; L’historiographie de la résistance allemande en RDA, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande, 42. Jg., Nr. 4/2010, S. 391–407; 9. November: ein schwieriger Gedenktag, in: Etienne François/Uwe Puschner (Hg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 197–215; Frankreich, in: Günter Buchstab/ Rudolf Uerzt (Hg.): Geschichtsbilder in Europa, Freiburg/Basel/Wien 2009, S. 38–60; (Mithg.): Spengler – ein Denker der Zeitenwende (mit Manfred Gangl und Markus Ophälders), Frankfurt am Main u. a. 2009. Torsten Oppelland Geboren 1959 in Kiel, apl. Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik in Kiel, Brest und Köln; 1992 Promotion in Köln über die deutschen Reichstagsparteien und ihre Sicht der amerikanischen Politik; 1992–2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Hochschulassistent an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2000 Habilitation im Fach Politikwissenschaft, seit 2002 Akademischer Oberrat und seit Juni 2010 außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Friedrich-

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Schiller-Universität Jena; seit 2011 Vorstandsmitglied der Stiftung Ettersberg. Forschungsschwerpunkte: politische Kultur und Geschichtspolitik, Parteien und Fraktionen auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene. Aktuelle Veröffentlichungen: Politische Parteien in Thüringen 1990–2011 (mit Karl Schmitt), Erfurt 2011; Politik kulturell verstehen. Festschrift für Carl Deichmann zum 65. Geburtstag (Hg. mit Andreas Eis und Christian Tischner), Schwalbach am Taunus 2011; Rituals of Commemoration – Identity and Conflict: The Case of Die Linke in Germany, in: German Politics Nr. 4/2012. Joachim von Puttkamer Geboren 1964 in München, Prof. Dr. phil., Studium der Neueren und Osteuropäischen Geschichte in Freiburg und London; 1994 Promotion in Freiburg, seit 1994 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte in Freiburg; 2000 Habilitation mit einer Arbeit über das ungarische Nationalitätenproblem des 19. Jahrhunderts im Schulalltag; 2000–2002 Lehrstuhlvertretung in Jena, im Dezember 2002 Ernennung zum Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena; seit Oktober 2010 Leiter des Imre Kertész Kollegs Jena; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Ettersberg. Forschungsschwerpunkte: Staatsbildung und Staatlichkeit im östlichen Europa, Nationalismus in Ostmittel- und Südosteuropa, Schulund Bildungsgeschichte, osteuropäische Erinnerungskulturen, historischer Vergleich. Aktuelle Veröffentlichungen: (Mithg.): Europa und sein Osten: Geschichtskulturelle Herausforderungen (mit Włodzimierz Borodziej), München 2012; (Mithg.): Sozialistische Staatlichkeit (mit Jana Osterkamp), München 2012; Die ungarische Nation und ihre Geschichte. Blicke auf ein gespaltenes Land, in: Osteuropa, Nr. 12/2011, S. 9–28. Martin Sabrow Geboren 1954 in Kiel, Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte, Germanistik und Politologie in Kiel und Marburg; 1993 Promotion in Freiburg; 1994–2004 Lehrbeauftragter am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin; 1996–2004 Projektbereichsleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; 2000 Habilitation an der FU Berlin mit einer Arbeit über die DDR-Geschichtswissenschaft 1949–1969; seit 2004 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam; 2005/2006 Vorsitzender der Exper-

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tenkommission der Bundesregierung zur Erarbeitung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur»; 2004–2009 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Potsdam und seit 2009 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Diktaturforschung, Historiographie- und Erinnerungsgeschichte. Aktuelle Veröffentlichungen: (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012; (Mithg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945 (mit Norbert Frei), Göttingen 2012; Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012. Waltraud Schreiber Geboren 1956, Prof. Dr. phil., Studium Lehramt Grund- und Hauptschule, Studium der Geschichte, der Didaktik der Geschichte und der Bayerischen Landesgeschichte; 1977–1988 Lehrerin an verschiedenen Grund- und Hauptschulen; 1995 Promotion in Geschichtsdidaktik; 1999 Habilitation an der LMU München mit einer Arbeit zu den Hessischen Rahmenrichtlinien, seither Professorin für Theorie und Didaktik der Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt; Initiatorin des internationalen FUER-Projekts zur Förderung und Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins; Mitglied der wissenschaftlichen Beiräte der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, der Gedenkstätte Berliner Mauer, des Sachverständigengremiums für die Dauerausstellung in »Haus 1« des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen; Forschungsschwerpunkte: Geschichtsdidaktik, empirische Bildungsforschung, Geschichtskultur. Aktuelle Veröffentlichungen: Schulbuchanalysen – Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik, Stuttgart 2013 (mit Alexander Schöner und Florian Sochatzy), Stuttgart 2013; Zum Verhältnis zwischen Wissen und Kompetenzen. Ein Essay, in: Christoph Kühberger (Hg.).: Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundungen zur Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen, Schwalbach am Taunus 2012, S. 119–134. Geschichte denken statt pauken in der Sekundarstufe II: 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution; deutsche und europäische Perspektiven im gymnasialen Geschichtsunterricht, Radebeul 2010. Hans-Joachim Veen Geboren 1944 in Straßburg (Elsass), Prof. Dr. phil., Studium der Politischen Wissenschaften, der Neueren Geschichte und des Öffentlichen Rechts an den

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Die Autoren

Universitäten Hamburg und Freiburg im Breisgau; 1982–2000 Forschungs­ direktor der Konrad-Adenauer-Stiftung; seit 1996 Honorarprofessor für Vergleichende Regierungslehre und Parteienforschung an der Universität Trier; 2000–2002 Projektleiter »Demokratie- und Parteienförderung in Mittel- und Osteuropa« der Konrad-Adenauer-Stiftung; seit 2002 Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg; seit 2008 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums bei der BStU. Forschungsschwerpunkte: international vergleichende Wahl- und Parteienforschung, Geschichte der SED-Diktatur und ihre Aufarbeitung, europäisch vergleichende Diktatur- und Transformationsforschung. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Deutschlands »innere Einheit« – Neuer Gemeinschaftsmythos oder pluralistische Demokratie?, in: Michael Borchard/Thomas Schrapel/Bernhard Vogel (Hg.): Was ist Gerechtigkeit? Befunde im vereinten Deutschland, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 59–89; (Hg.): Zwischenbilanzen. Thüringen und seine Nachbarn nach 20 Jahren, Köln/ Weimar/Wien 2012; (Mithg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung (mit Volkhard Knigge, Ulrich Mählert und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2011; (Mithg.): Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus (mit Peter März und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2010. Harald Welzer Geboren 1958 in Bissendorf bei Hannover, Prof. Dr. phil., Studium der Soziologie, Literatur- und Politikwissenschaft in Hannover; 1988 Promotion in Soziologie, 1993 Habilitation in Sozialpsychologie und 2001 in Soziologie; seit 2001 Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten-Herdecke; seit 2004 Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen; seit 2007 Mitglied des Vorstands des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, dort Leiter von Teilprojekten des Forschungsschwerpunkts KlimaKultur; Dozent für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Sozialpsychologie an der Universität Sankt Gallen; Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung »Futurzwei« zur Förderung alternativer Lebensstile und Wirtschaftsformen. Forschungs­ schwer­punkte: Erinnerungs-, Gedächtnis- und Tradierungsforschung, psy­ cho­logische Holocaust- und Gewaltforschung sowie kultur­wissen­schaftliche Klimafolgenforschung. Aktuelle Veröffentlichungen: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt am Main 2013; Das Menschenmögliche: Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur (zusammen mit Dana Giesecke), Hamburg

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2012; Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben (mit Sönke Neitzel), Frankfurt am Main; Das kommunikative Gedächtnis: Eine Theorie der Erinnerung, München 2011; Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie (mit Claus Leggewie), Frankfurt am Main 2009. Marek Zybura Geboren 1957, Prof. Dr. phil., Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wrocław und der Universität Wien; 1989 Promotion in Wrocław, 1997 dort Habilitation mit einer Arbeit über August Scholtis; 1998–2004 Wissenschaftler am Institut für germanische Philologie der Universität Opole und Leiter des Instituts für Literatur- und Kulturgeschichte der deutschen Länder im 19. und 20. Jahrhundert; seit 2004 Leiter des Lehrstuhls für Germanistik am Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław, 2008–2009 stellvertretender Direktor des Willy Brandt Zentrums; Mitglied der Vereinigung Polnischer Schriftsteller und des Polnischen PEN-Clubs. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literaturgeschichte, deutsch-polnische literarisch-kulturelle Verbindungen, polnische Literatur des 20. Jahrhunderts, Geschichte der Deutschen und des deutschen Kulturerbes in Polen. Aktuelle Veröffentlichungen: (Mithg.): Zwischen (Sowjet-)Russland und Deutschland: Geschichte und Politik im Schaffen von Josef Mackiewicz (1902–1985), Osnabrück 2012; (Mithg.): Erwachsene Nachbarschaft: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1991 bis 2011, Wiesbaden 2011.

Personenregister

Adenauer, Konrad 110 Adorno, Theodor W. 148 Ady, Endre 70 Antall, József 70 Apponyi, Albert 64, 65 Arendt, Hannah 122 Aron, Raymond 95 Atlasz, Gábor 69 Baczko, Bronisław 20 Badiou, Alain 100 Bahr, Egon 132 Barta, Réka 70 Bartók, Béla 70 Bartoszewki, Władysław 21 Bellow, Saul 95 Benda, Václav 33 Bessenyei, Ferenc 69 Blaha, Lujza 69 Bösch, Frank 120 Bráda, Tibor 66, 71 Brecht, Arnold 119 Breschnew, Leonid I. 96 Buber-Neumann, Margarete 94 Buffet, Marie-George 91 Bukowski, Wladimir K. 46 Buras, Piotr 57 Bush, George W. 46 Calhoun, Noel 24 Celan, Paul 124 Chirac, Jacques 95 Choules, Claude Stanley 125 Chruschtschow, Nikita S. 95, 96 Cimoszewicz, Włodzimierz 55 Clemenceau, Georges 65 Courtois, Stéphane 96, 98, 99 Déryné, Róza 69 Dienstbier, Jiří 25 Dinur, Jechiel 121, 122 Drossel, Heinz 174

Duclos, Jacques 96 Durkheim, Émile 181 Eckermann, Johann Peter 118 Ehre, Ida 124 Eichmann, Adolf 121, 122 Ellenstein, Jean 96 Fauvet, Jacques 96 Filep, Sándor 65 Fischer, Fritz 123 Fricke, Karl-Wilhelm 10 Friedländer, Henry 166 Friszke, Andrzej 21 Furet, François 92, 97 Gailienė, Danutė 45 Galambos, Tamás 68 Gauck, Joachim 91, 104 Gaulle, Charles de 93, 100 Giedroyc, Jerzy 51, 53 Gierek, Edward 53 Gobbi, Hilda 69 Goethe, Johann Wolfgang von 118 Gomułka, Władysław 53 Gorbatschow, Michail S. 41 Göth, Amon 166 Grass, Günter 131 Gyémánt, László 66, 67, 71 Gyurcsány, Ferenc 69 Halbwachs, Maurice 181, 182, 188 Hausner, Gideon 121 Havel, Václav 25 Herzog, Roman 182 Hilberg, Raul 165, 171 Hitler, Adolf 20, 41, 43, 92, 98, 99, 130 Hobsbawm, Eric 187 Holzer, Jerzy 21 Honecker, Erich 111, 129 Horthy, Miklós 19, 65, 66 Incze, Mózes 65 Jahn, Roland 10

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Personenregister

Jaworski, Rudolf 30 Jenninger, Philipp 124 Jens, Walter 131 Jesse, Eckhard 108 Jokubaitis, Alvydas 47 Jospin, Lionel 43, 95 József, Attila 66, 69, 70 Kaczyński, Jarosław 26, 32, 54, 58, 59 Kádár, János 68, 71 Kalniete, Sandra 49 Károlyi, Mihály 65 Keilbach, Judith 130 Kerbel, Lew 9 Kerényi, Imre 61, 64, 65, 66, 68, 70, 71, 72 Kersten, Krystyna 21 Kirst, Hans Hellmut 119 Kiss, Tibor 65 Klaus, Václav 26, 32 Knigge, Volkhard 12 Knopp, Guido 117 Koch, Erich 166 Koch, Ilse 166 Kocsis, Imre 68 Koenen, Gerd 131 Koestler, Arthur 94 Köhler, Horst 182, 183 Kołakowski, Leszek 53 Korényi, János 69 Koselleck, Reinhart 126, 181 Kossuth, Lajos 70 Krasnodębski, Zdzisław 59 Krastew, Iwan 31 Kraushaar, Wolfgang 131 Krawtschenko, Wiktor A. 94 Krenz, Egon 129 Kriegel, Annie 96 Kuby, Erich 119 Kun, Béla 65 Kwaśniewski, Aleksander 55 Lammert, Norbert 184 Landau, Mosche 122 László, Dániel 67 Latinovits, Zoltán 69 Lazar, Marc 92, 99

Le Goff, Jacques 186, 188 Lehmann-Brauns, Uwe 128 Lengsfeld, Vera 107 Levi, Primo 99, 123, 166 Liszt, Franz 70 Lötzsch, Gesine 108, 109 Lübbe, Hermann 187 Luhmann, Niklas 160 Malraux, André 93 Marchais, Georges 91, 96 Mark, James 32 Marquard, Odo 187 Marx, Karl 9 Mauroy, Pierre 95 Mazowiecki, Tadeusz 60 Mélenchon, Jean-Luc 91 Mélyi, József 66 Messerschmidt, Felix 187 Michnik, Adam 25, 55, 56 Mielke, Erich 129 Milgram, Stanley 169, 171, 174 Miłosz, Czesław 49, 50, 51, 52, 53 Mindszenty, József 67, 71 Minkiewicz, Janusz 51 Mittag, Günter 129 Mitterrand, François 95, 100 Modigliani, Andre 169 Moquet, Guy 101 Morus, Thomas 112 Munkácsy, Mihály 61, 66 Nagy, Imre 68, 70 Neubert, Ehrhart 105, 106, 107 Nora, Pierre 181, 182, 188 Olszewski, Jan 60 Orbán, Viktor 61, 68, 69, 72 Orwell, George 107 Paczkowski, Andrzej 21 Pilinszky, János 67 Pithart, Petr 25 Pius XII. 67 Putinaitė, Nerija 45 Rákóczy, Ferenc 70 Rákosi, Mátyás 67, 71 Reagan, Ronald 46 Reemtsma, Jan-Philipp 163

202 Personenregister Rényi, András 72 Rényi, Krisztina 68 Ricœur, Paul 189 Ritter, Joachim 187 Robrieux, Philippe 96 Rochat, François 169 Rousset, David 94 Różewicz, Tadeusz 47 Ruchniewicz, Krzysztof 54 Rüsen, Jörn 106, 149, 153 Sabrow, Martin 12 Santayana, George 9, 13 Sarkozy, Nicolas 100, 126 Sartre, Jean-Paul 95 Schabowski, Günter 129, 130 Schalev, Avner 104 Schalm, Sabine 158 Scharf, Kurt 178 Schieder, Theodor 183 Schindler, Oskar 173 Schmidt-Hartmann, Eva 29 Schmidt, Helmut 132 Schreiber, Waltraud 12 Schulze, Hagen 119 Schumann, Conrad 140 Schwartz, Simon 13 Semmelweis, Ignác 70 Sinkovits, Imre 69 Snyder, Timothy 10 Solschenizyn, Alexander I. 96 Somogyi, Győző 65

Speer, Albert 130 Spielberg, Steven 120, 126, 166 Stalin, Iosiff W. 10, 20, 41, 43, 92, 98, 109 Stempowski, Stanisław 50 Stephan I., der Heilige 70 Süssmuth, Rita 185, 186 Széll, Kálmán 64 Szentgyörgyi, József 69 Szinte, Gábor 64 Szkok, Iván 70 Teller, Eduard 70 Thierse, Wolfgang 185, 186 Thompson, Hugh 164 Thorez, Maurice 91 Tisza, István 64 Topolánek, Mirek 33 Tusk, Donald 56, 60 Ulrich, Bernd 104 Vetter, Reinhold 58, 59 Walicki, Andrzej 54 Wańkowicz, Melchior 51 Warburg, Aby 132 Weber, Hermann 10 Weizsäcker, Richard von 182 Wekerle, Sándor 64 Welzer, Harald 159 Weniger, Erich 189 Werth, Nicolas 99 Zedong, Mao 43

Bildnachweis

Die Zeit vom 9. November 2004: Abb. S. 147. GDS Berliner Mauer: Abb. S. 143. FUER Geschichtsbewusstsein: Abb. S. 152. Google Earth/BTU Cottbus: Abb. S. 137. Jürgen Hohmuth/GDS Berliner Mauer: Abb. S. 139, 143. Karte der Grenztruppen der DDR/GDS Berliner Mauer: Abb. S. 137. Michael R. Ernst/GDS Berliner Mauer: Abb. S. 139, 141, 142. Ronny Heidenreich/GDS Berliner Mauer: Abb. S. 137. Stadtarchiv Mühldorf: Abb. S. 157. Stefan XP/wikimedia: Abb. S. 137. Ungarisches Ministerium für Öffentliche Verwaltung und Justiz: Abb. S. 73–87.

EuropäischE Dik taturEn unD ihrE ÜbErwinDung scHrif Ten der sTif Tung eT Tersberg Herausgegeben von Hans-JoacHim veen, volkHard knigge, TorsTen oppelland

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2007. 213 s. br. | isbn 978-3-412-23306-8

andreas warnecke 2011. 440 s. br. | isbn 978-3-412-20702-1

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thüringen unD seine nachbarn

2009. 241 s. zaHlr. graf. br.

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2012. 259 s. 4 farb. kTn. br. isbn 978-3-412-20946-9

bd. 15 | Hans-JoacHim veen, peTer märz, franz-Josef scHlicHTing (Hg.)

bd. 19 | volkHard knigge (Hg.)

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2010. 183 s. 14 s/w-graf. und abb.

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2013. 203 s. 26 farb. u. 2 s/w-abb. br.

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