Gestaltung und Management der digitalen Transformation : Ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und technologische Perspektiven [1. Aufl. 2019] 978-3-658-24492-7, 978-3-658-24493-4

Die Digitalisierung und der sich exponentiell entwickelnde technologische Fortschritt bahnen sich ihren Weg in alle Lebe

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German Pages XV, 376 [373] Year 2019

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Gestaltung und Management der digitalen Transformation : Ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und technologische Perspektiven [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-24492-7, 978-3-658-24493-4

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Digitale Transformation = Soziale Revolution? (Ronny Alexander Fürst)....Pages 1-15
Front Matter ....Pages 17-17
Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie (Robert Rossberger)....Pages 19-36
Die vierte Revolution: Wie Big Data, künstliche Intelligenz und Multi-Tool-Assistenten Geschäftsmodelle neu definieren (Matthias Laux, Klaus Michael Vogelberg)....Pages 37-49
Digitale Service-Transformation: Das Ende der Dienstleistung, wie wir sie kennen? (Torsten Olderog)....Pages 51-67
#digital steps are minimal steps: Mit Sensoren ins Internet der Dinge – mit Innovationsmanagement zur digitalen Strategie (Markus Haid)....Pages 69-73
Management im Zeichen der Digitalisierung: Moderne Unternehmensführung abseits von Moden und Ideologien (Rupert Hasenzagl)....Pages 75-102
Front Matter ....Pages 103-103
Unternehmensführung in einem volatilen Umfeld: Ist strategische Führung in Zeiten von VUCA-Bedingungen obsolet? (Corinna Ludwig)....Pages 105-118
Disrupt or get disrupted: Handlungserfordernisse und Chancen der digitalen Transformation erkennen (Christian Massmann)....Pages 119-133
Die digitale Transformation in all ihren Facetten anpacken (Ibrahim Evsan)....Pages 135-153
Multinlingual Online Content – wie man internationale Webseiten gestaltet und verwaltet (Verena Jung)....Pages 155-177
Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den Erwartungen der Studierenden einer privaten Hochschule (Marianne Blumentritt, Daniel Markgraf, Torsten Olderog, Doreen Schwinger)....Pages 179-203
Front Matter ....Pages 205-205
Digitales Soziales oder soziales Digitales? (Börries Hornemann)....Pages 207-219
Was ist der Mensch im digitalen Zeitalter und was können private Hochschulen zu seiner Entfaltung beitragen? (Markus Grottke)....Pages 221-241
Digitalisierung geht unter die Haut – Perspektiven eines Cyborgs (Enno Park)....Pages 243-254
Das Leben mit der digitalen Transformation – eine Gratwanderung zwischen Geschäftsmodellinnovation und Revolution der Soziokultur unterlegt mit Beispielen aus der Sprachindustrie (Axel Poestges)....Pages 255-273
Front Matter ....Pages 275-275
Digital Leadership – Wie verändert die Digitalisierung die Mitarbeiterführung und was müssen Personalmanager bereits heute tun? (Wolfgang Bohlen)....Pages 277-292
Digital Leadership – neuer Wein in alten Schläuchen? (Gerhard Wächter)....Pages 293-310
Digitalisierung und Kompetenzwandel – Erfolg durch Transformation: Das 5-K-Prinzip (Gudrun Frank)....Pages 311-328
Technik braucht Kultur – Lernkultur und Kompetenzentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung (Gardenia Alonso)....Pages 329-346
Die Bausteine der digitalen Human Resources-Transformation (Bernd Wiest)....Pages 347-365
Ausblick – Zukunftsperspektiven der digitalen Transformation (Ronny Alexander Fürst)....Pages 367-376

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AKAD University Edition

Ronny Alexander Fürst Hrsg.

Gestaltung und Management der digitalen Transformation Ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und technologische Perspektiven

AKAD University Edition Herausgegeben von: Ronny Alexander Fürst, Stuttgart, Deutschland Torsten Bügner, Stuttgart, Deutschland

Seit über 55 Jahren bietet die AKAD University Berufstätigen ein flexibles, individuelles und effizientes Fernstudium neben dem Beruf. Dabei verbindet sie in vielen Studienrichtungen und Studiengängen Wissenschaft, Praxisbezug und Digitalisierung. Anwendungsorientierte Forschung und neue Praxisherausforderungen bilden die Leitlinien der AKAD University Edition: In der Buchreihe werden aktuelle Forschungsfragen mit Blick auf Anwendungsorientierung aufgegriffen und erörtert. Herausgegeben von Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst Prof. Dr. Torsten Bügner

Weitere Bände in dieser Reihe http://www.springer.com/series/15688

Ronny Alexander Fürst Hrsg.

Gestaltung und Management der digitalen Transformation Ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und technologische Perspektiven

Hrsg. Ronny Alexander Fürst AKAD University Stuttgart, Deutschland

AKAD University Edition ISBN 978-3-658-24492-7    ISBN 978-3-658-24493-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Digitalisierung zu Ende gedacht bedeutet eine neue Gesellschaftsstruktur – packen wir’s an! Nach Web 2.0, Ökonomie 3.0 und Industrie 4.0 zeichnet sich nun die nächste Entwicklungsstufe ab: Society 5.0. Dahinter verbirgt sich das Zeitalter, in dem die Dinge und die Menschen digital miteinander vernetzt sind: Autos mit Tankstellen, Heizungen mit Stadtwerken, Patienten mit Ärzten, Schüler mit ihren Lerninhalten. Zentrale Rolle hierfür spielen dabei die Weiterentwicklung und Verschmelzung der Zukunftstechnologien Robotik, künstliche Intelligenz (KI), Big Data Analytics und Sensorik sowie Cloud Computing und das Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Digital ist das neue Normal und künstliche Intelligenz ist die Zukunft! Digital zu sein ist nicht das Ziel, sondern die Basis. Erst wenn Unternehmen die Intelligenz, die in den Daten steckt, auch nutzen, können sie gewinnen. Digital Business meets Digital Intelligence  – das nennt sich künstliche Intelligenz und IBM Watson ist einer der bekanntesten Vertreter. Dabei geht es um einen Paradigmenwechsel im Umgang mit IT und einen fundamentalen Wandel in der Geschichte der digitalen Datenverarbeitung. Ein Umbruch vergleichbar mit dem Übergang von Tabelliermaschinen zu programmierbaren Computern. KI-Systeme sind in der Lage, Daten aus den unterschiedlichsten Quellen und mit enormer Geschwindigkeit zu verarbeiten. 80 Prozent aller Daten sind unstrukturiert und daher bislang für Computer nicht verwertbar – also wirtschaftlich wertlos und eine verpasste Chance für Unternehmen. Wenn wir das wirtschaftliche Potenzial von Daten betrachten, sehen wir rasant steigende Volumina, die sich in noch nie dagewesener Geschwin-

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Vorwort

digkeit und Vielfalt vermehren: Jede Minute erzeugt jeder Mensch auf der Erde – also jeder von den mehr als sieben Milliarden – im Durchschnitt 1,7 MB an Daten. Das macht 2,5  Trillionen Bytes pro Tag, entstanden aus über neun Milliarden ­vernetzen Geräten weltweit. Und diese Daten sind überwiegend nicht strukturiert, sie liegen nicht in Datenbanken, sondern das sind Texte, Nachrichten, Bilder, Videos, Daten von Sensoren, Klimadaten, Verkehrsdaten – und so weiter und so fort. Bis 2020 schätzen wir, dass dieser Anteil noch auf über 90 Prozent wachsen wird. KI-Lösungen kommen also nicht einen Moment zu früh. Sie sind die beste – und vielleicht sogar die einzige – Chance, einige der größten Probleme unserer Zeit zu lösen: von der erfolgreichen Unterstützung bei der Behandlung von Krebs über Strategien zur Bewältigung des Klimawandels bis hin zum besseren Verständnis komplexer wirtschaftlicher Zusammenhänge im Kontext des Internet der Dinge oder Industrie 4.0. Society 5.0 = KI + Offenheit – Berührungsängste Heute ist vieles im Um- und Aufbruch – nun stellt sich die Frage, wo der Mensch in der Society 5.0 steht und welche Rolle er spielt. Autonom fahrende Autos brauchen schon heute keinen Fahrer oder keine Fahrerin mehr, was für die einen ein Traum, für die anderen ein Alptraum ist. Wir brauchen jetzt mehr denn je eine größere Offenheit gegenüber den neuen Technologien und weniger Berührungsängste, die häufig aus Unwissenheit und daraus resultierender Unsicherheit entstehen. Die Digitalisierung verändert unser Wertesystem, die Beziehungen zwischen Individuum, Staat, Wissenschaft und Wirtschaft. Wir sind gefordert, neu zu lernen und zu lehren, wie wir uns innerhalb dieses Systems mit seinen veränderten Parametern bewegen. Digitales Wissen ist die Basis, ich nenne es auch digitale Souveränität. Und die muss in unser Bildungssystem – am besten als Schulfach – aufgenommen werden. Der Einzelne muss wissen, wie er digitale Angebote nutzen kann und auch die Verantwortung für sein Handeln übernehmen – gerade beim Thema Datenmissbrauch und Persönlichkeitsrechte. Grundvoraussetzung ist die richtige mediale Erziehung – und nur digitale Kompetenz führt zur digitalen Exzellenz! Ethische Grundsätze beachten Künstliche Intelligenz hat sich in den letzten Monaten zum echten Medienstar entwickelt: Es vergeht kein Tag, ohne dass darüber berichtet wird oder die Auswirkungen auf die Digitalisierung der Wirtschaft und Gesellschaft beschrieben werden. Oft auch polemisch unter Überschriften wie „Nehmen uns Maschinen den Job weg?“ oder „Aufstand der Maschinen“. Und war nicht schon der Wirtschaftswis-

Vorwort

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senschaftler John Maynard Keynes 1930 davon überzeugt, dass uns die Arbeit bis zum Ende des letzten Jahrhunderts ausgeht und von Maschinen erledigt wird? Keynes lag falsch – die Arbeit ist nicht weniger geworden. Denn irgendjemand muss die Maschinen ja bauen … Und hier stehen Hersteller vor der Aufgabe, ­aufzuklären und Transparenz zu schaffen. IBM hat sich zu drei ethische Grundsätze für die verantwortungsvolle Entwicklung von künstlicher Intelligenz verpflichtet: Zweck, Transparenz und Skills. Der Zweck: KI-basierte Systeme wie IBM Watson werden entwickelt, um Menschen zu helfen, ihre täglichen Aufgaben besser zu bewältigen und nicht, um den Menschen zu ersetzen. Die Transparenz: Es muss transparent sein, wie und mit welchen Daten KI-Systeme arbeiten, wie sie trainiert werden und zu ihren Entscheidungen kommen. Die Skills: KI-Systeme müssen gemeinsam mit den Menschen entwickelt werden, die in ihren Branchen und Tätigkeiten jahrzehntelange Erfahrungen gesammelt haben und die in ihren Tätigkeiten von eben diesen Programmen künftig unterstützt und entlastet werden sollen. Society 5.0 bedeutet, dass wir nicht nur Menschen und Dinge miteinander vernetzen, sondern auch täglich voneinander lernen, damit wir fit für Neues bleiben. Wir legen das Fundament für eine Gesellschaft, die immer älter wird und aus unserer Erde eine Heimat für alle macht – eine echte Gemeinschaft, eine Society 5.0! Martina Koederitz

Die Autorin des Vorworts

Martina Koederitz ist als IBM Global Industry Managing Director weltweit für die Automobil- und Industriebranche zuständig. Von 2011 bis 2018 war sie Vorsitzende der Geschäftsführung IBM Deutschland GmbH, General Manager Deutschland, Österreich, Schweiz. Sie ist seit 2009 in der Geschäftsführung der IBM Deutschland, seit 2011 als Vorsitzende, tätig. Seit 2013 verantwortet sie außerdem das Geschäft der IBM für Österreich und die Schweiz. Im Laufe ihrer 1987 bei IBM gestarteten Karriere hatte sie verschiedene nationale und internationale Verantwortungen und Rollen inne. Neben ihrer Tätigkeit im Präsidium des Branchenverbands BITKOM ist sie in weiteren Verbänden aktiv  – unter anderem im BDI und VDMA. 2015 wurde sie mit dem Mestemacher-Preis als Managerin des Jahres ausgezeichnet.

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Über den Herausgeber

Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst ist Geschäftsführer und Kanzler der AKAD University, dem Spezialist für digitales Fernstudium neben dem Beruf. Als Vizepräsident für digitale Bildung des Fachverbands für Fernlernen und Lernmedien und im Verband der privaten Hochschulen vertritt er die deutschen Fernhochschulen. Zuvor baute er die European Management School auf, war Management-Experte einer führenden Unternehmensberatung und Vertriebsleiter eines Verlages. Er ist Herausgeber der AKAD University Edition im Springer-Verlag und forschte u.a. an der UCLA in Los Angeles. Zu seinen Referenzen gehören bspw. Boss, Mars, Lufthansa, Telekom, BASF, Harvard, Columbia, Wharton, St. Gallen, Handelsblatt, Financial Times, FAZ und Harvard Business Manager.

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Inhaltsverzeichnis

1 Digitale Transformation = Soziale Revolution?�������������������������������������  1 Ronny Alexander Fürst

Teil I Theoretische und praktische Standortbestimmung der digitalen Transformation 2 Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie��������������� 19 Robert Rossberger 3 Die vierte Revolution: Wie Big Data, künstliche Intelligenz und Multi-Tool-Assistenten Geschäftsmodelle neu definieren ������������������� 37 Matthias Laux und Klaus Michael Vogelberg 4 Digitale Service-Transformation: Das Ende der Dienstleistung, wie wir sie kennen?����������������������������������������������������������������������������������� 51 Torsten Olderog 5 #digital steps are minimal steps: Mit Sensoren ins Internet der Dinge – mit Innovationsmanagement zur digitalen Strategie ������������� 69 Markus Haid 6 Management im Zeichen der Digitalisierung: Moderne Unternehmensführung abseits von Moden und Ideologien ����������������� 75 Rupert Hasenzagl

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Inhaltsverzeichnis

Teil II  Management der digitalen Transformation 7 Unternehmensführung in einem volatilen Umfeld: Ist strategische Führung in Zeiten von VUCA-Bedingungen obsolet? �������������������������105 Corinna Ludwig 8 Disrupt or get disrupted: Handlungserfordernisse und Chancen der digitalen Transformation erkennen �������������������������������������������������119 Christian Massmann 9 Die digitale Transformation in all ihren Facetten anpacken ���������������135 Ibrahim Evsan 10 Multinlingual Online Content – wie man internationale Webseiten gestaltet und verwaltet�����������������������������������������������������������������������������155 Verena Jung 11 Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den Erwartungen der Studierenden einer privaten Hochschule�������179 Marianne Blumentritt, Daniel Markgraf, Torsten Olderog und Doreen Schwinger

Teil III  Soziale Entwicklungen induziert durch die Digitalisierung 12 Digitales Soziales oder soziales Digitales?���������������������������������������������207 Börries Hornemann 13 Was ist der Mensch im digitalen Zeitalter und was können private Hochschulen zu seiner Entfaltung beitragen?���������������������������������������221 Markus Grottke 14 Digitalisierung geht unter die Haut – Perspektiven eines Cyborgs�����243 Enno Park 15 Das Leben mit der digitalen Transformation – eine Gratwanderung zwischen Geschäftsmodellinnovation und Revolution der Soziokultur unterlegt mit Beispielen aus der Sprachindustrie �����������255 Axel Poestges

Inhaltsverzeichnis

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Teil IV  Kompetenzwandel und erforderliche Personalentwicklung 16 Digital Leadership – Wie verändert die Digitalisierung die Mitarbeiterführung und was müssen Personalmanager bereits heute tun? �������������������������������������������������������������������������������������277 Wolfgang Bohlen 17 Digital Leadership – neuer Wein in alten Schläuchen? �����������������������293 Gerhard Wächter 18 Digitalisierung und Kompetenzwandel – Erfolg durch Transformation: Das 5-K-Prinzip�����������������������������������������������������������311 Gudrun Frank 19 Technik braucht Kultur – Lernkultur und Kompetenzentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung���������������������������������������������������������������329 Gardenia Alonso 20 Die Bausteine der digitalen Human Resources-Transformation ���������347 Bernd Wiest 21 Ausblick – Zukunftsperspektiven der digitalen Transformation ���������367 Ronny Alexander Fürst

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Digitale Transformation = Soziale Revolution? Ronny Alexander Fürst

Inhaltsverzeichnis Literatur.............................................................................................................................  15

Die Digitalisierung und der sich exponentiell entwickelnde technologische Fortschritt bahnen sich ihren Weg in alle Lebensbereiche einer globalisierten Welt. Scheinbar völlig ungeachtet davon, wie dies von einzelnen Individuen und Gesellschaften wahrgenommen und bewertet wird. Manche fühlen sich als Verlierer und haben Ängste, von Robotern und künstlicher Intelligenz ersetzt zu werden, andere entdecken in der Zeitenwende neue Chancen und Perspektiven. Dies wirft zu den technologischen und ökonomischen Herausforderungen der digitalen Transformation zusätzliche kulturelle und gesellschaftliche Fragen auf. Beim 9. AKAD Forum der AKAD University präsentierten und diskutierten am 7. Oktober 2017 Professoren, Unternehmensvertreter sowie fast 200 Gäste neueste Forschungsergebnisse und praktische Erfahrungen zu dem Leitthema „Digitale Transformation = Soziale Revolution? Ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und technologische Per­ spektiven“. Gemäß dem seit annährend einem Jahrzehnt bewährten Leitgedanken „Wissenschaft trifft Praxis“ teilten auch viele Topmanager ihre „Lessons Learned“

R. A. Fürst (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_1

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und aktuellen Herausforderungen und die CEO von IBM Deutschland entwarf in ihrer Keynote auf dem jährlichen Wissenschaftsforum ein Zukunftsbild der Society 5.0. Schon mit dem gewählten Ort für das AKAD Forum 2017 im Stuttgarter Wizemann-­Areal machte der Gastgeber der Veranstaltung, die AKAD University, deutlich, dass sie den wissenschaftlichen Diskurs zum Thema digitale Transformation keineswegs nur im akademischen Elfenbeinturm führen möchte. In den alten, indes für innovative Veranstaltungen stark frequentierten Fabrikräumen des ehemaligen Automobilzulieferers war zwischen Rohren, alten Industriekränen und ehemaligen Werkstätten der Geist einer digitalen „Transformation“ förmlich mit den Händen zu greifen. Im Folgenden finden Sie die Vorträge des Forums ergänzt um weitere spannende Aufsätze als nachhaltigen Beitrag zum Leitthema in dem Band „Management und Gestaltung der digitalen Transformation“ der AKAD University Edition im Springer Verlag publiziert. Dem Leitgedanken eines Forums zwischen Wissenschaft und Praxis folgend, haben die Aufsätze mitunter unterschiedliche Schwerpunkte: wissenschaftliche Aufsätze schöpfen mehr aus Studien und wissenschaftlichen Quellen und praxisorientierte Abhandlungen stärker aus Anwendungsbezügen und praktischen Erfahrungen. Beide sollen im Prozess des Erkenntnisgewinns und im wissenschaftlichen Diskurs im AKAD Forum ihre jeweiligen Beiträge und Profile einbringen. Dabei spiegelt dieses Werk die eingebrachten spezifischen Einzelbeiträge ohne Anspruch auf inhaltliche Vollständigkeit einer umfassenden Behandlung des Leitthemas wider. Die einzelnen Beiträge wurden in vier thematischen Einheiten zusammengefasst. Ohne jeden Zweifel bringt die digitale Transformation soziale Wirkungen mit sich, die zunächst vor allem in Unternehmen Beachtung finden sollten. So ist im Moment noch hochumstritten, ob die Digitalisierung überwiegend Arbeitsplätze vernichten (sogenannte Substitutionshypothese, vgl. z. B. Brynjolfsson und McAfee 2012; Frey und Osborne 2013), Arbeitsplätze in Hochlohnsegment und Niedriglohnsegment spreizen (sogenannte Polarisierungshypothese, vgl. z.  B. Autor et al. 2003) oder aber Arbeitsplätze per Saldo komplementär zu den neuen Technologien schaffen wird (sog. Komplementaritätshypothese, vgl. z.  B.  Autor et al. 2015). Insbesondere in den ersten beiden Fällen könnten durch die Digitalisierung auch soziale Spannungen entstehen, welche zu vermeiden wünschenswert wäre. Ob eine Realisation der dritten Alternative gelingt, wird vor allem davon abhängen, wie die digitale Transformation gestaltet werden wird und hier ­wiederum kommt es auf die die Transformation gestaltenden Menschen und deren adäquate Ausbildung in den kommenden Jahren an. (Vgl. z. B. Becker und Blossfeld 2017) In Teil 1 des Buches wird zunächst geklärt, welche Facetten Digitalisierung aufweist und wie sich diese manifestieren:

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Prof. Dr. Robert Rossberger von der AKAD University stellt in seinem Beitrag „Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie“ zunächst heraus, dass die digitale Transformation massive Änderungen in der Gesellschaft nach sich zieht. Angesichts der Unsicherheit, in welche Richtungen diese Änderungen gehen, verwundert es darum laut dem Autor nicht, dass es sich um ein von „Ideologie getriebenes Thema“ handelt. Im Fokus des vorliegenden Beitrags grenzt sich der Autor hiervon ab, indem er allein auf die strategischen Implikationen der digitalen Transformation für Unternehmen eingeht. Um hierzu Aussagen ableiten zu können, werden zunächst Grundlagen zu den Begrifflichkeiten der „Digitalen Transformation, Strategie, Kultur“ definiert, diese drei Begrifflichkeiten in einen Kontext gestellt und insbesondere die Interdependenz zwischen Kultur, Strategie und Technologie herausgearbeitet. Darauf aufbauend werden empirische Befunde, in Form einer qualitativen und einer quantitativen Fallstudie, vorgestellt. An diesen lässt sich ablesen, dass die zuvor in den Grundlagen postulierten Zusammenhänge eine deutliche Kongruenz mit den empirischen Daten aufweisen. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse erfolgt die Ableitung von Implikationen und es werden mögliche Lösungsansätze im Umgang mit der digitalen Transformation für Unternehmen aufgezeigt. Als Empfehlungen formuliert der Autor beispielsweise, dass eine klare Strategie der Unternehmensführung vorliegen muss, dass Führung und Kultur nicht trennbar sind oder dass Bildung einen erheblichen und im Lichte der immer größer werdenden Unsicherheit weiter steigenden Einfluss hat. Abschließend stellt der Autor nochmals deutlich die Zusammenhänge zwischen digitaler Transformation, Unternehmensstrategie und kulturellen Faktoren heraus. In dem Beitrag „Die vierte Revolution: Wie Big Data, künstliche Intelligenz und Multi-Tool-Assistenten Geschäftsmodelle neu definieren“ von Dr. Matthias Laux und Klaus-Michael Vogelberg von der Firma Sage wird aus der Sicht der Praxis eines großen Softwareunternehmens ein Einblick gegeben, wie sich die digitale Revolution in den nächsten Jahren auf den Unternehmensalltag auswirken wird. Dabei geht es insbesondere darum, einen kurzen Abriss über die wichtigsten Technologien sowie Innovationen der kommenden Jahre zu geben. Zugleich geben die Autoren einen Einblick, wie bereits heute verfügbare Technologien und Assistenten kleine und mittelständische Unternehmen (KMUs) entlasten und bei der Digitalisierung unterstützen können. Zunächst werden in dem Beitrag erste Schlagworte, wie unter anderem Internet of Things, Blockchain und künstliche Intelligenz, aufgegriffen. Dann zeigen die Autoren einprägsam am eigenen Beispiel auf, dass es in Zeiten der Digitalisierung nicht mehr möglich ist, grundlegende Transformationen in sämtlichen Bereichen allein und ohne Kooperationen zu bewältigen. So bietet das Unternehmen Sage selbst eines seiner zentralen Produkte, die Sage Business Cloud über Spezialisten des Cloud Computing in Kooperation an.

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Das Potenzial des Einsatzes digitaler Technologien wird an Beispielen illustriert, z. B. in Form einer Digitalisierung der Buchhaltung mithilfe von künstlicher Intelligenz, eines Einsatzes von Chatbots als virtuellen Assistenten und abschließend einer Realisation der Stärken durch kollektive Intelligenz, wie sie sich mithilfe von gemeinsam genutzten Datenpools realisieren lassen. Auch auf die Technologien Blockchain und PSD2 und deren Potenzial, die Revolution von Finanztransaktionen zu ermöglichen, wird eingegangen. In der Zusammenschau verdeutlichen die Autoren, dass die digitale Transformation für KMUs mehr Chancen als Risiken enthält. In dem Beitrag „Digitale Service-Transformation: Das Ende der Dienstleistung wie wir sie kennen?“ von Prof. Dr. Torsten Olderog von der AKAD University steht die digitale Transformation der Dienstleistung im Mittelpunkt. Hierbei wird analysiert, welche Aspekte bei der digitalen Service-Transformation zu berücksichtigen und an welchen Stellen die größten Wirkungen digitaler Entwicklungen zu erwarten sind. Zu diesem Zweck wird teils praktisch, teils wissenschaftlich an die Problematik herangeführt. Zunächst wird beleuchtet, ob Digitalisierung als neue industrielle Revolution verstanden werden kann. Olderog hält fest, dass das wirklich Neue und damit der größte Effekt der Digitalisierung aus seiner Sicht in der Verteilung der Informationen basierend auf elektronischen Netzen zu verorten ist. Hierauf aufbauend thematisiert er nachfolgend zum Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Dienstleistung die Strukturparameter, welche erlauben, die digitale Transformation zu nutzen, um Dienstleistungen effizienter und effektiver entwickeln, vertreiben oder herstellen zu können. Am Beispiel des Onlinebanking wird anschließend dargelegt, dass Technologie zunehmend als zentraler Teil der Leistungsbereitschaft verstanden wird. An dieser Stelle kommen wissenschaftliche Betrachtungen rund um Qualität und Interaktivität elektronisch unterstützter Dienstleistungen zur Geltung. Abschließend werden die Überlegungen im Kapitel Digitalisierung und Dienstleistung auf Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zu Dienstleistungen übertragen. Insbesondere wird herausgearbeitet, dass im Falle einer Dienstleistung immer eine starke Interaktion zwischen Dienstleister und Kunden herrscht, welche zur Folge hat, dass Dienstleister ihre Kunden auf dem Weg in die Digitalisierung mitnehmen müssen. Dies ist zugleich das Fazit und das Plädoyer mit welchem der Beitrag schließt. Im Beitrag „#digital steps are minimal steps: Mit Sensoren ins Internet der Dinge – mit Innovationsmanagement zur digitalen Strategie“ von Prof. Dr. Markus Haid von der Hochschule Darmstadt wird dargelegt, dass die digitale Transformation eben nicht eine radikale digitale Transformation von null auf hundert mit einem hohen Investitionsvolumen und spätem ROI sei, sondern, wie bereits im Titel ersichtlich, vielmehr kleine Schritte einen erfolgversprechenderen Weg darstellen.

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Dazu beschreibt der Autor zunächst die digitale Transformation, geht anschließend kurz auf den Begriff digitale Strategie ein und gibt anschließend mit dem Kondensat eigener Erfahrungen in Form eines sehr praxistauglichen Leitfadens „In fünf Schritten ins Internet der Dinge“ ein Werkzeug an die Hand, um die wesentlichen bei der Digitalisierung zu beachtenden Aspekte einzubeziehen. Weil nach der Erfahrung des Autors bei vielen neuen digitalen Geschäftsmodellen große Anteile an Sensorik eine Rolle spielen, wird abschließend im Beitrag ein Blick auf die Rolle der Sensorik geworfen. Der erste Teil wird mit dem bereits zum zweiten Teil überleitenden Beitrag „Management im Zeichen der Digitalisierung: Moderne Unternehmensführung abseits von Moden und Ideologien“ von Prof. Dr. Rupert Hasenzagl abgeschlossen. In seinem Beitrag zeigt er auf, dass in der Digitalisierung sowohl für die Gesellschaft als auch für Branchen und v.  a. Unternehmen sehr viele Chancen liegen. Kontrastierend stellt er zugleich heraus, dass wissenschaftliche Untersuchungen indes zugleich vor allem auf der gesellschaftlichen Ebene deutliche Risiken sehen. Hierbei leitet der Autor seinen Beitrag mit dem Befund ein, dass sowohl populärwissenschaftliche als auch wissenschaftliche Literatur das neue Zauberwort Digitalisierung aufgreifen. Folgerichtig wird der Digitalisierung das nächste Kapitel gewidmet. Zunächst erfolgt eine Arbeitsdefinition der Digitalisierung, daraufhin werden die Auswirkungen der Digitalisierung auf Gesellschaft und Unternehmen aufgezeigt. Gesellschaftliche Auswirkungen werden beispielsweise anhand der erheblichen Einflüsse von Social Media als einer Form der Digitalisierung illustriert. Hierbei wird auch auf ethische Fragen eingegangen. Auswirkungen auf Unternehmen werden anhand von digitalen Geschäftsmodellen aufgezeigt. Basierend hierauf entwickelt der Autor ein Verständnis davon, was „gutes“ Management in der „Next Generation Competition“ darstellen könnte und legt anschließend ein alternatives Managementverständnis dar. Den Beitrag abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst. Es wird zum einen festgehalten, dass echte, grundlegende Veränderungen – folgt man der Literatur – akademischer Ausbildung bedürfen. Des Weiteren kommt der Autor zum Ergebnis, dass eine Veränderung der Weltbilder, sowohl hinsichtlich der Einstellung in der Praxis als auch in der akademischen Ausbildung, aktuell noch in weiter Ferne liegt. Basierend auf den vorangegangenen Aufsätzen wird im zweiten Teil diskutiert, wie insbesondere die Manager der von der Digitalisierung betroffenen Unternehmen – und diese berührt nahezu alle Branchen nahezu alle Branchen – dieser digitalen Transformation in der Unternehmensführung gerecht werden können und wie sich hierdurch die Rolle der Führungskraft und damit die strategische Ausrichtung des Managers selbst anpassen müssen.

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Der Beitrag „Unternehmensführung in einem volatilen Umfeld: Ist strategische Führung in Zeiten von VUCA-Bedingungen obsolet?“ von Frau Dr. Corinna Ludwig untersucht, wie es Unternehmen schaffen, in Zeiten eines volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfelds ihre strategischen und normativen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Nach einer kurzen Einleitung, Grundlagenlegung und historischen Einordnung, wird die zentrale Herausforderung aus Sicht eines Managers beleuchtet: die Führungsaufgabe in der VUCA-Welt (VUCA steht für die englischen Begriffe volatility, uncertainty complexity und ambiguity ). Als potenziell vielversprechende Handlungsmaxime wird synergetische Führung identifiziert. Zugleich werden normative Aspekte der Führung in einer VUCA-Welt beleuchtet. Um die aus der VUCA-Welt resultierenden neuartigen Herausforderungen herauszuarbeiten wird ein Vergleich zwischen einem strategischen Management in einer VUCA-Welt einerseits und dem historischen strategischen Managementverständnis andererseits gezogen. Anschließend werden transformationale Aspekte einer VUCA-Führung ausbuchstabiert und verschiedene Aspekte der VUCA-Führung aufgezeigt. Abschließend wird noch einmal vertieft in die als potenziell vielversprechend eingestufte synergetische Führung eingestiegen. Unter der Überschrift „Anpassungsbedarf im synergetischen Führungsverständnis aus transformationaler und strategischer Führung“ werden zunächst die Grundlagen der synergetischen Führung dargelegt, anschließend strategische und operative Aspekte betrachtet und schließlich wird die Messung des Erfolgs von systemischer Führung in volatilen Zeiten erläutert. Der Beitrag „Disrupt or get disrupted: Handlungserfordernisse und Chancen der digitalen Transformation erkennen“ von Christian Massmann von der Firma Adstream lässt sich gedanklich in zwei Hauptteile untergliedern. Im ersten Teil wird illustriert, dass heutige Wettbewerbsvorteile und Marktpositionen eventuell morgen keine Rolle mehr spielen und Unternehmen zukünftig nur eine Chance haben, wenn sie sich der digitalen Transformation anschließen. Unter der Überschrift „Adapt or die“ erhält man einen schnellen Einstieg in die Thematik der ­digitalen Transformation anhand des Buches „Moneyball“. Anschließend wird ­erläutert, warum es sich bei der Digitalisierung weniger um eine digitale Revolution als vielmehr um eine digitale Evolution handelt. Dabei wird auch auf die ­Bedeutung der Daten eingegangen, welche anhand einiger Fallbeispiele erläutert wird. Darauf folgend wird die Disruption anhand ihrer drei Phasen beschrieben: 1. Invention, 2. Innovation 3. Transformation; diese wiederum werden mit den fünf Phasen der Unternehmenskrisen in Zusammenhang gebracht. Den ersten Teil des Betrags abschließend werden fünf Wege in den Misserfolg dargestellt. Im zweiten Teil des Beitrags wird herausgearbeitet, warum es keine sicheren Häfen vor Disruption mehr geben wird und wie sich damit umgehen lässt. Wie sich Disruption

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als Chance wahrnehmen lässt, wird in folgenden fünf Punkten dargestellt: 1. Change Leadership, 2. Technologische Innovation, 3. Innovation der Geschäftsmodelle, 4. Evolution interner Prozesse, 5. 100 % Customer-centric agieren. Ibrahim Evsan, der Gründer von Connected Leadership und gefragter Keynote Speaker, zeigt in seinem Beitrag „Die Digitale Transformation in all ihren Facetten anpacken“ auf, dass die digitale Transformation vielfältige Aufgaben für Führungskräfte mit sich bringt. Er hebt hervor, dass Unternehmen sich darüber klar werden müssen, ob sie sich diesen Aufgaben wirklich stellen und welche Motivation sie durch die digitale Transformation tragen kann, bzw. welche Hindernisse hierbei voraussichtlich auf sie zukommen. Zunächst zeigt der Autor auf, dass es einer digitalen Verantwortung bedarf. Diese betrifft zunächst Führungskräfte („Kapitäne“). Wie diese mit den steigenden Anforderungen umgehen könnten, wird andererseits aufgezeigt, indem illustriert wird, wie ggf. künstliche Intelligenz dem Manager bei dessen Aufgaben helfen könnte. Anschließend beschreibt der Autor den sich in der digitalen Transformation ändernden Umgang mit Fachwissen, d.  h. der sich neu bildenden digitalen Know-how-Kultur, und analysiert deren Einflüsse und Auswirkungen. Im nächsten Abschnitt, digitale Service-Kultur, wird ausgearbeitet, dass sich vieles ändern wird, aber eines nicht: der Kunde muss im Mittelpunkt bleiben. Weiter wird kurz auf den Wert der Daten und den Datenschutz eingegangen. Schließlich wird anhand von New Work auf die sich mit der Digitalisierung herausbildenden neuen Arbeitsweisen eingegangen. Der Autor legt hierbei dar, warum es neuer Konzepte für das Arbeiten in einer digitalen Kultur bedarf und wie sich diese eta­ blieren lassen. In einem kurzen Abschnitt zu Produkten als Service und digitalen Businessprozessen wird illustriert, wie sich bereits anhand der Prozessautomatisierung das hohe Effizienzpotenzial der Digitalisierung verdeutlichen lässt. Mit dem Verweis darauf, dass Stillstand Rückschritt ist, wird kurz auf Innovationsmanagement und einige agile Methoden als Basisbausteine für eine Weiterentwicklung eingegangen. Der Beitrag schließt mit persönlichen Konsequenzen der Digitalisierung für Manager. Anhand von Connected Leadership wird die Wichtigkeit einer digitalen Vernetzung erläutert, anhand von Personal Branding & Social Media wird dafür sensibilisiert, dass jeder Mensch eine digitale „Spur“ hinterlässt. Der Beitrag „Multilingual Online Content – wie man internationale Webseiten gestaltet und verwaltet“ von Prof. Dr. Verena Jung von der AKAD University sensibilisiert für die sprachlichen Feinheiten einer internationalen Webseite und zeigt zugleich die Möglichkeiten und Aufgaben bei deren Gestaltung und Verwaltung auf. In der Einleitung wird kurz dargelegt, wie wichtig eine global zugängliche Internetpräsenz ist. Weiter werden vier Aspekte aufgezeigt, welche die Grundlage zur Entscheidung im Aufbau und der Pflege einer internationalen Internetpräsenz darstellen. Im nächsten Kapitel, Kundenkreis und Produkte, wird anhand von Fallbeispielen

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eine praktische Herangehensweise erarbeitet, welche den Aufbau und die Pflege einer solchen Präsenz ermöglicht. Daneben wird auch aufgezeigt, wie sich Interkulturalität und Internationalität auf die Informationsgestaltung auswirken. Hierbei werden vier Aspekte aufgezeigt, welche bei der internationalen Informationsgestaltung zu beachten sind. Das erarbeitete Know-how wird anhand von tabellarischen Checklisten komprimiert zusammengefasst. In einem zweiten Teil des Beitrages geht es zunächst um die Wiederverwendbarkeit der Daten (Translation Memorys). Hier wird erarbeitet, welche Punkte Beachtung finden sollten, um die Pflege der Internetpräsenz möglichst übersichtlich und im Aufwand gering zu halten. In Bezug auf die Fragestellung des Einpflegens und Wartens der Daten wird in Kürze und anhand diverser Abbildungen die Wichtigkeit eines Content-­Management-­Systems beschrieben. Abschließend erfolgen ein Fazit und eine Zusammenfassung der ­Ergebnisse. Teil zwei dieses Buches wird durch den Beitrag „Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den Erwartungen der Studierenden einer privaten Hochschule“ abgeschlossen, welcher eine empirische Erhebung von Prof. Dr. Marianne Blumentritt, Prof. Dr. Daniel Markgraf, Prof. Dr. Torsten Olderog und Prof. Dr. Doreen Schwinger von der AKAD University beinhaltet. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen der Fernstudent und seine Erwartungen im Transformationsprozess sowie die Feinheiten eines digitalen Studienmodells. Hierbei werden sowohl verschiedene Formen des Kommunikationsaustausches zwischen Lehrenden und Lernenden als auch notwendige Betreuungs- und Unterstützungsangebote untersucht. Einleitend werden zunächst Unterschiede eines Fernstudiums gegenüber einem Präsenzstudium herausgearbeitet. Am Beispiel der AKAD University wird die Entwicklung vom traditionellen zum digitalisierten Studienmodell aufgezeigt. Daraufhin wird das Untersuchungsdesign der empirischen Erhebung erläutert. Nachfolgend befassen sich die Autoren mit der Auswertung der empirischen Erhebung. Unter anderem wurde die Einstellung zur Digitalität, d. h. die spontanen Assoziationen zum Begriff „digital“, grundsätzliche Ziele und Erwartungen der Studierenden (an ein Fernstudium), die Bewertung spezifischer Studienangebote, vom Studienbrief über diverse andere Angebote bis hin zu den Präsenzseminaren, abgefragt. Ferner wurden die Kommunikationspräferenz, d. h. wie die Befragten am liebsten mit der Fernhochschule in Kontakt treten, sowie die gewünschte Unterstützung durch die Hochschule und die Bereitschaft zum E ­ ngagement an der Hochschule durch die Studierenden abgefragt. In der Zusammenfassung, welche die Ergebnisse der empirischen Erhebung prägnant auf die Kernpunkte kondensiert, kommt in erster Linie der Wunsch der Studierenden zum Ausdruck, ihr Studium so frei als möglich und soweit als möglich zeitlich, örtlich und in Bezug auf eine Interaktion selbst steuern zu können sowie

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der sich bereits andeutende Wunsch danach, auf die Lernmittel im Sinne einer Customer-Co-Creation einwirken zu können. Im dritten Teil beschäftigt sich der vorliegende Band mit durch die Digitalisierung induzierten sozialen Entwicklungen, d. h. damit, wie die Digitalisierung auf soziale Entwicklungen einwirkt und diese umprägt. Bereits zu Beginn seines den dritten Teil des Buches einleitenden Beitrags „Digitales Soziales oder soziales Digitales?“ bringt Börries Hornemann, der Herausgeber des Buches „Sozialrevolution“, seinen Standpunkt zu den sozialen Auswirkungen der digitalen Transformation auf den Punkt, indem er diese als den radikalsten Umbruch der Menschheitsgeschichte einordnet. Nachweise erbringt der Autor in Form einer historischen Einordnung und strukturierten Aufarbeitung der sozialen Veränderungen durch die digitale Revolution. Zu diesem Zweck geht der Autor zunächst auf historisch bedeutende Umbrüche ein, angefangen mit der Zeit vor ca. 13.000 Jahren, in der man noch dem Zug der Tiere folgte, über die industrielle Revolution bis hin zu dem aktuell anstehenden Umbruch. Hierbei wird herausgestellt, dass die Überlegenheit des Industrieprinzips an seine Grenzen komme, wenn es um Individuelles, Soziales oder Natürliches geht. Anschließend arbeitet der Autor heraus, dass es im digitalen Alltag nicht darum gehe, das Verhältnis zu Wahrheit, Arbeit, Gemeinschaft und Profit zu ändern, denn das Online-­Weltwissen bringe einen der Wahrheit nicht näher. Vielmehr, so zeigt der Autor auf, komme es auf das individuelle Verständnis des einzelnen Menschen an. Auch im Bereich der Arbeit wird aufgezeigt, wie sich das soziale Verhalten und die Arbeitsweisen ändern. Dies beeinflusst letztlich auch die Gemeinschaft von Menschen, welche diverse Umbrüche erlebt hat. Hierbei bilanziert der Autor, dass das neue Normal dasjenige sei, was früher von der Norm abwich. Dies sei nicht zuletzt auch in Bezug auf den Lebensstandard zu spüren. Vieles, was früher Königen vorbehalten war, sei heute im letzten Dorf bereits Standard. So benutzten Schüler wie Milliardär häufig dasselbe Smartphone-Modell. Abschließend gibt der Autor einen Ausblick auf die hohe Rechnerleistung, die daraus resultierenden Möglichkeiten, sowie auf die soziale Veränderung durch neue technische Möglichkeiten, wie beispielsweise Social Media oder auch Blockchain. Prof. Dr. Markus Grottke, Prorektor für Forschung und Innovation an der AKAD University, stellt in seinem Beitrag „Was ist der Mensch im digitalen Zeitalter und was können private Hochschulen zu seiner Entfaltung beitragen?“ den Menschen in den Mittelpunkt der digitalen Transformation. Nach einer historisch-­philosophischen Rückschau wird analysiert, welche Wirkungen sich auf den Menschen durch die digitale Transformation abzeichnen, und was insbesondere private Hochschulen zur Entfaltung von Menschen in Zukunft leisten können. In einer ideengeschichtlichen und anthropologischen Rückschau stellt der Autor die digitale Transformation

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zunächst in den Kontext griechischer Denkschulen. Hierbei hält er fest, dass in der Literatur bisher der thematische Fokus überwiegend auf den technologischen Aspekten dieser Revolution liege. Aus Sicht von Bildungsinstitutionen sei jedoch wesentlich bedeutsamer, die Wirkungen der digitalen Transformation auf den Menschen zu erarbeiten, da diese zu bilden seien, nicht die Technologie. Darum legt der Autor einen kurzen Abriss ideengeschichtlicher Entwürfe an Wendepunkten der Menschheitsgeschichte vor und bildet einen theoretischen Bezugsrahmen, angefangen bei Platon und Aristoteles über Immanuel Kant bis hin zu Karl Jaspers. Auf dieser Basis erläutert er, welche Rolle Bildung in diesen verschiedenen historischen Verortungen spielte. Anschließend wird die Frage geklärt: Was bedeutet die Digitalisierung für den Menschen? Hierbei wird zunächst die Leistungsfähigkeit künstlicher Intelligenz an drei allgemein verständlichen Beispielen illustriert, um dann hervorzuheben, dass es für den Menschen nun darauf ankomme, sich neue eigene, bislang vernachlässigte Ressourcen zu erschließen. Es wird dargestellt, warum die eigentlichen, das Menschsein bereichernden Aktivitäten von Menschen durch die Digitalisierung nicht tangiert sind. Eine Klammer um Ideengeschichte und digitale Wirkungen bildend, wird die Bildung als Schlüssel für sinnvolles menschliches Leben im digitalen Zeitalter herausgearbeitet, wobei dem privaten Hochschulmarkt aufgrund von dessen Marktorientierung und konsequenterweise Kundenorientierung eine Schlüsselrolle beigemessen wird. Im Fazit erfolgt eine kurze Zusammenfassung. Der Beitrag „Digitalisierung geht unter die Haut  – Perspektiven eines Cyborgs“ von Enno Park, dem Vorsitzenden des Cyborg-Vereins in Berlin, widmet sich der Fragestellung, ob unsere Gesellschaft eine Cyborgisierung erlebt, was im Rahmen einer solchen technisch möglich wäre und was eher Science-Fiction bleiben wird. Zunächst wird im ersten Kapitel der Cyborg eingeführt. Dies geschieht anschaulich unter Rückgriff auf Figuren wie etwa Robocop oder die Borg bei Star Trek. Daraufhin folgt allerdings eine sehr realitätsnahe Hinwendung zu einer praktischen Anwendung unter Verweis auf den Patienten als Cyborg. Angefangen beim einfachen Herzschrittmacher über Retina-Implantate bis zu myoelektrischen Prothesen werden hier diverse Einsatzgebiete von technischen Komponenten im menschlichen Körper erläutert. Im nächsten Kapitel wird das Beispiel Cochlea-Implantat ausführlich besprochen. Deutlich wird, dass es sich hierbei nicht allein um ein Ersatzteil für ein menschliches Körperteil handelt, sondern zeitgleich um eine E ­ rweiterung der natürlichen Körperfunktionen. Eine weitere Facette der Verschmelzung von Technologie und Biologie wird anhand von Body Hacking illustriert, wie sie beispielsweise bei einem implantierten Chip als Ersatz des Schlüssels oder Portemonnaies denkbar ist. Aufbauend auf diesen passiven Formen, welche nicht in eine kybernetische Interaktion mit Körperfunktionen treten,

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folgt im nächsten Kapitel das Brain-Computer-Interface. Hier wird insbesondere betrachtet, was zum heutigen Stand der Technik möglich ist. Der Autor verweist darauf, dass bislang keine Hirnaktivitäten dekodiert werden konnten, obgleich beispielsweise Elon Musk an einer solchen Technologie arbeitet. Dann geht es um Wearables, welche in jüngster Zeit einen massiven Aufschwung erleben. Darauffolgend wird der Transhumanismus erläutert. Hier werden die Integrität des Körpers betrachtet und ethische Grenzen kurz umrissen. Inklusion und Empowerment greift schließlich die Thematik auf, dass durch ethische Grenzen und Kriminalisierung genau der Teil der Gesellschaft unterstützt und aufgewertet wird, welchen man ursprünglich gerade ausschließen wollte. Dies wird nicht zuletzt am Beispiel des Cochlea-Implantates aufgezeigt. Den dritten Teil des Buches abschließend beschäftigt sich der Beitrag von Poestges „Das Leben mit der digitalen Transformation  – eine Gratwanderung zwischen Geschäftsmodellinnovationen und Revolution der Soziokultur unterlegt mit Beispielen aus der Sprachindustrie“ mit der Gratwanderung zwischen Geschäftsmodellrevolution und Revolution der Soziokultur. Dabei gliedert sich der Beitrag in vier Teile. Zunächst wird der Weg ins digitale Zeitalter beschrieben. Illustriert wird, dass der digitale Wandel maßgeblich durch die Basisinnovationen der Informationstechnik getrieben ist. So wurde beispielsweise iTunes erst möglich durch die digitale Wiedergabe von Musik. Aufbauend hierauf wird anhand von Sprachdienstleistern nun die Grundlage für eine Fallstudie gelegt. Hierbei wird die Sprachindustrie mit ihren Feinheiten detailliert erläutert. Insbesondere wird dabei auf den Beruf des Übersetzers bzw. des Lokalisierers eingegangen. Anschließend wird darauf aufbauend beschrieben, wie der Beruf des Übersetzers zum Lokalisierer übergeht und warum dies kaum umgänglich ist. Abschließend wird darauf eingegangen, wie die sich entwickelnde Datenmasse digitales Chaos nach digitalem Impact erzeugt und welche Konsequenzen dies für die Sprachindustrie hat. Zuletzt kulminiert das Buch und stellt die für den Erfolg jedes Unternehmens wesentlichen Mitarbeiter in den Mittelpunkt. Die Artikel befassen sich eingehend mit Mitarbeiterführung, dem nötigen Kompetenzwandel der Mitarbeiter und schließlich mit der Lernkultur. Letztere ist notwendig, um sich relevante Kompetenzen in Zeiten der Digitalisierung zu verinnerlichen. Der vierte und letzte Teil dieses Buches wird durch den Beitrag „Digital Leadership  – Wie verändert die Digitalisierung die Mitarbeiterführung und was ­müssen Personalmanager bereits heute tun?“ von Prof. Dr. Wolfgang Bohlen, Studiendekan der School of Business Administration & Management. an der AKAD University, eingeleitet. Er stellt gleich zu Beginn klar, dass die Digitalisierung nicht nur Geschäftsmodelle ändert, sondern auch das Verhältnis zwischen Chef

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und Mitarbeiter beeinflusst. Zunächst wird der Begriff „Digital Leader“ definiert. Der Autor verweist darauf, dass zwar die Praxis ein hohes Bewusstsein für Digital Leadership bei Führungskräften aufweise, aber bislang in der Wissenschaft nur wenige Studien in diesem Bereich existieren. Angesichts dieser Forschungslücke wird nachfolgend der Rahmen für ein eigenes Digital-Leadership-Verständnis vorgestellt. Hierauf aufbauend erfolgt ein 7-Punkte-Modell zur Erfassung der Dimensionen der veränderten Anforderungen an Führungskräfte. Basierend auf dem VUCA-Konzept wird die Notwendigkeit zu einem veränderten Führungskräfteverhalten abgeleitet. In Reaktion auf diese Notwendigkeit werden in Form eines Skillmanagements – Anforderungen im digitalen Zeitalter – sechs wichtige Anforderungen an Führungskräfte der Arbeitswelt 4.0 umrissen. Basierend hierauf werden Auswirkungen der Digitalisierung auf das Talentmanagement dargestellt. Dabei wird die Kette vom Talente finden, über Talente binden bis Talente fördern logisch aufgebaut. Abschließend werden Voraussetzungen für ein erfolgreiches Talentmanagement im digitalen Zeitalter angesprochen. Seinen Beitrag „Digital Leadership  – Neuer Wein in alten Schläuchen“ stellt Gerhard Wächter, der CEO der Mana.mak GmbH und AKAD-Connect-Ambassador unter die Einsicht, dass dieser radikale Wandel kein Sprint ist, sondern echte Vordenker benötigt. Damit spricht er aktiv gestaltende Führungskräfte an. Das Möglichkeitenpotential zur Gestaltung illustriert er zunächst anhand der Einflussdimensionen der digitalen Transformation. Mit 3,7 Milliarden Menschen, welche das Internet nutzen, eröffnen sich ganz neue Gestaltungsspielräume. So benötigt beispielsweise die Spielindustrie nur 3,5 Tage um 50 Millionen Nutzer zu erreichen. Auf diesen Erkenntnissen aufsetzend analysiert der Autor nachfolgend Beispiele erfolgreicher digitaler Unternehmen. Ferner geht er in zwei Fallstudien, nämlich Uber und Barack Obama, auf Führungsverhalten ein. Darauf aufbauend werden ausgewählte theoretische Modelle von Leadership vor und nach dem Jahr 2000 vorgestellt und verglichen. Drei Modelle, das Leipziger Führungsmodell, das Haufe Führungsmodell und das Network Leadership Modell, werden anschließend intensiver beleuchtet. Abschließend werden Kompetenzanforderungen an einen Digital Leader formuliert, welche den komplexen Anforderungen an einen Digital Leader gerecht werden können. Diese stellen sich in ihrer Art zwar nicht widersprüchlich, wohl jedoch als höchst anspruchsvoll dar. Im Beitrag von Frank Tassone, dem Leiter der Scheer Academy & Vice President Universities des PMI Frankfurt Chapter, werden basierend auf den Grenzen der Digitalisierung und den historischen Zusammenhängen, in welchen diese steht, praktische Hinweise zum Umgang mit der Digitalisierung gegeben. Insbesondere wird der notwendige Kompetenzwandel beschrieben. Zu diesem Zweck erfolgt

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zunächst eine Standortbestimmung. Dann werden Begriffe und Begrifflichkeiten geklärt und teilweise definiert. Darüber hinaus wird auf die Symbolkraft eingegangen, welche von den aktuellen Entwicklungen ausgeht. So bemerkt der Autor, dass es durchaus ungewöhnlich ist, erstmals eine industrielle Revolution auszurufen, noch bevor sie stattgefunden hat. Darauf aufbauend hinterfragt der Autor, welche Kompetenzen notwendig sind und stellt einen Ansatzpunkt zu deren Adressierung in Form des 5-K-Prinzips vor, welches als fünf Kernkompetenzen Kennen, Können, Kümmern, Kommunizieren, Kooperieren ansetzt und diese in den Kontext der Praxis stellt. Abschließend zeigt der Autor auf, warum die Analyse des Zusammenhangs zwischen Digitalisierung und Kompetenzwandel für eine positive Gestaltung der Zukunft hochrelevant ist. In diesem Kapitel wird noch einmal dargestellt, dass dringend neue Kompetenzen und Fachexperten benötigt werden. Beispielhaft wird hier der „Data Translator“ genannt, welcher aus der nahezu unfassbaren Vielzahl von Daten, die für Entscheider wichtigen Informationen verständlich darstellen kann. Im Beitrag „Technik braucht Kultur – Lernkultur und Kompetenzentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung“ stellt Prof. Dr. Gardenia Alonso von der AKAD University die durch die Digitalisierung veränderten Kompetenzen in den Mittelpunkt. Zunächst wird als zentrale Herausforderung die unbeschreibliche Menge von Daten und Ressourcen identifiziert, welche dem Einzelnen zur Lösung seiner Probleme zur Verfügung steht. Dies kontrastiert die Autorin mit dem Stand der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen und aktuellen Herausforderungen. Hier beleuchtet die Autorin diverse Anforderungen und Facetten neuer Schlüsselkompetenzen sowohl aus bildungspolitischer und gesellschaftlicher Perspektive als auch aus Unternehmens- und Absolventenperspektive. Diese vier Perspektiven zusammenfassend wird auf die Schlüsselkompetenzvermittlung aus Hochschulperspektive eingegangen. Hierbei zeigt die Autorin auch auf, dass eine der Voraussetzungen für die Verbesserung der Schlüsselkompetenzvermittlung in der Bewahrung diverser nötiger Rahmenbedingungen für Lernende wie auch Lehrende liegt. Weiter werden die aktuellen Herausforderungen und die zu überwindenden Hürden besprochen und Lösungsansätze beleuchtet. Eine kurze Diskussion und ein Fazit schließen den Beitrag ab. Der Beitrag „Die Bausteine der digitalen HR-Transformation“ von Bernd Wiest beschließt den vierten Teil des Bandes. Der Beitrag behandelt das Thema der Auswirkungen der Digitalisierung auf die modernen Mitarbeiter und die moderne Arbeitswelt. Eingegangen wird hierbei auf fünf Bausteine der digitalen Transformation. Um die Auswirkungen der Digitalisierung zu strukturieren, erfolgt zunächst eine Heranführung an das Thema durch das EVA-Prinzip. Vom Eingangskanal über

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die Verarbeitung von Daten bis zum Ausgangskanal werden zunächst Arbeitsabläufe mithilfe einer prozessualen Sichtweise beschrieben und es wird erläutert, welche Rolle hierbei eine Personalentwicklung einnimmt. Fünf Bausteine der digitalen Transformation werden dann als Grunddeterminanten der Digitalisierung identifiziert: Raum, Zeit, Menschen, Informationen, Dinge. Die Digitalisierung bewirkt hierbei eine Entgrenzung von Raum und Zeit sowie eine Verknüpfung von Menschen, Informationen und Dingen. Zugleich identifiziert der Autor die IT als Quelle neuartiger Lösungen, Start-ups als Versuchslabore der neuen Verfahren sowie die Digital Workforce als Anforderung an die Personalentwicklung. Einen Fahrplan digitale Transformation in der Produktentwicklung gibt der Autor, indem er die Evaluierungsphase wie auch die Pilotphase näher beleuchtet. Abschließend wird nochmals aufgegriffen, welche faszinierenden Neuerungen die Personalentwicklung durch die Digitalisierung erfahren wird. In einem Ausblick wird, basierend auf den Erkenntnissen der vier Teile des Buches, vom Herausgeber noch einmal die Leitfrage des 9. AKAD Forums „Digitale Transformation = Soziale Revolution?“ aufgegriffen. Zu diesem Zweck werden die zentralen Ergebnisse prägnant zusammengefasst, im Gesamtkontext verortet und um Schlussfolgerungen einer Zukunftsperspektive der digitalen Transformation ergänzt. Die AKAD University hat im Bewusstsein des aktuell entstehenden und gerade vom Stifterverband der Deutschen Wissenschaft erneut bestätigten Bildungs- und Weiterbildungsbedarf (vgl. Kirchherr et al. 2018) bereits seit mehreren Jahren konsequent auf den Kurs der Digitalisierung gesetzt. Dies spiegelt sich nicht nur in der Digitalisierung des Fernstudiums wider, in welchem die AKAD University in Form ihres digitalen Campus neue Maßstäbe setzt, sondern immer mehr auch in dem umfassenden digitalen Bildungsangebot. Dabei werden bspw. mit folgenden innovativen Studiengänge digitale Kompetenzen vermittelt: „Digital Marketing & Social Media“, „Innovationsmanagement & Digitale Geschäftsmodelle“, „Digital Management & Leadership“, „Wirtschaftsingenieurwesen Industrie 4.0“, „Big Data Management“ und „Data Science“. Diesem Kurs liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sehr viele Führungskräfte, Arbeitnehmer und Bürger sich neue digitale Kompetenzen aneignen müssen, um die digitale Transformation für sich, die Gesellschaft und für die Unternehmen, in denen sie tätig sind, erfolgreich gestalten zu können. Nichts anderes als ein Beitrag zu diesem Ziel zu leisten, ist auch die Intention des vorliegenden Werkes. In diesem Sinne bedankt sich der Herausgeber bei allen Teilnehmern des 9. AKAD-Forums, bei allen Autoren, Kollegen und Mitarbeitern der AKAD University und insbesondere bei Annette Vöcklinghaus, Margit Schlomski und Alessandro Sibilio für den Beitrag zu diesem Band und wünscht Ihnen, liebe Leser, eine bereichernde, horizonterweiternde Lektüre.

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Literatur Autor, D., Levy, F., & Murnane, R. (2003). The skill content of recent technological change: An empirical exploration. The Quarterly Journal of Economics, 118(4), 1279–1333. Autor, D., Dorn, D., & Hanson, G. (2015). Untangling trade and technology: Evidence from local labour markets. Economic Journal, 125, 621–646. Becker, R., & Blossfeld, H.-P. (2017). Entry of men into the labour market in West Germany and their career mobility (1945–2008). Journal of Labour Market Research, 50, 113–130. Brynjolfsson, E., & McAfee, A. (2012). Research brief. Race against the machine: How the digital revolution is accelerating innovation, driving productivity, and irreversibly transforming employment and the economy. Cambridge: MIT Sloan School of Management. Frey, C. B., & Osborne, M. A. (2013). The future of employment: How susceptible are jobs to computerization? Oxford: Oxford University. Kirchherr, J., Klier, J., Lehmann-Brauns, C., & Winde, M. (2018). Future Skills: Welche Kompetenzen in Deutschland fehlen. Diskussionspapier 1. Essen: Stifterverband der deutschen Wissenschaft /Mc Kinsey Company.

Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst  ist Geschäftsführer, Kanzler und Professor der AKAD University, dem Spezialist für digitales Fernstudium neben dem Beruf. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt auf der Digitalen Transformation, Digital Leadership und digitaler Bildung. Als Vizepräsident für digitale Bildung des Fachverbands für Fernlernen und Lernmedien und im Verband der privaten Hochschulen vertritt er die deutschen Fernhochschulen. Er ist Autor und Herausgeber von Büchern mit theoretischer Substanz und praktischer Managementrelevanz, Beiträgen in Fachzeitschriften/ -konferenzen und forschte u.a. an der Anderson School of Management (UCLA) in Los Angeles. Seiner Einladung als Initiator und Herausgeber des Handelsblatt Management-Forums folgten Professorenkollegen führender Business Schools (2/3 zählen zu den Global Top 30) in Amerika (Harvard, Yale etc.), Asien (CEIBS, ISB etc.) und Europa (INSEAD, St. Gallen etc.). Seine Bücher werden von internationalen und nationalen Kapazitäten und Medien wie bspw. dem Dean der MIT Sloan School of Management, dem Harvard Business Manager oder einem Hugo Boss Vorstand rezensiert.

Teil I Theoretische und praktische Standortbestimmung der digitalen Transformation

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Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie Robert Rossberger

Inhaltsverzeichnis 2.1  E  inleitung  2.2  G  rundlagen  2.2.1  Digitale Transformation  2.2.2  Strategie  2.2.3  Kultur  2.2.4  Integration: Digitale Transformation, Strategie und Kultur  2.3  Empirische Befunde  2.3.1  Qualitativ: Fallstudie Schmuck- und Edelsteinindustrie  2.3.2  Quantitativ: MIT-Untersuchung  2.3.3  Zusammenfassung der empirischen Befunde  2.4  Implikationen und mögliche Lösungsansätze  2.5  Conclusio  Literatur 

 20  21  21  23  26  28  29  29  30  30  31  33  34

R. Rossberger (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_2

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2.1

R. Rossberger

Einleitung

Der Begriff „digitale Transformation“ ist in aller Munde. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da diese nahezu alle Brachen betrifft und sich vielfach in sehr unterschiedlichen Zukunftserwartungen widerspiegelt. Daher konnte das Thema des AKAD Forums 2017 „Digitale Transformation = Soziale Revolution? Ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und technologische Perspektiven“ wohl nicht aktueller gewählt werden. Der Titel des diesjährigen Forums spiegelt auch einen entscheidenden Faktor der digitalen Transformation wider: Es geht hier nicht „nur“ um ein wirtschaftlich relevantes Thema, sondern vor allem darum, dass „die digitale Transformation zu massiven Veränderungen der Gesellschaft über alle Schichten“ (Wallmüller 2017, S. 22) hinweg führt. Die Allgegenwärtigkeit des Themas spiegelt sich in Schlagworten wie Social Media, Internet der Dinge, Industrie 4.0 und Big Data (vgl. Kraft und Jung 2017) wider und zeigt deutlich, wie unser Leben bereits von der Digitalisierung beeinflusst wird. Statements wie „Der digitale Wandel schafft Wohlstand“ vom MIT-­ Sloan-­School-of-Management-Professor Erik Brynjolfsson führen beim reflektierten Rezipienten umgehend zur Frage: Für wen? Oder: „Bis zum Ende des Jahrzehnts wird mehr als die Hälfte der Menschheit digital vernetzt leben, lernen und arbeiten“ (vgl. Kraft und Jung 2017). Gut, aber was machen die anderen? Schnell wird klar, dass es sich bei der digitalen Transformation oft um ein von Ideologie getriebenes Thema handelt, welches sich darüber hinaus durch ein breites Interesse der Öffentlichkeit auszeichnet. Während die Digitalisierung für viele von uns bereits allgegenwärtig und zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, ist sie für andere mit weitreichenden Herausforderungen und Ängsten verbunden (vgl. Kraft und Jung 2017). Dass diese Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt unter anderem eine aktuelle Studie (vgl. Rouss 2015) der gefährdetsten Berufsgruppen in der Schweiz, welche aufzeigen konnte, dass Berufe wie z.  B.  Bürokraft, Fachkräfte, Hilfskräfte aber auch Techniker massive Veränderungen und Beeinträchtigungen durch die digitale Transformation erfahren werden. Einzig akademische Berufe und Führungskräfte können sich gemäß dieser Studie noch eher in Sicherheit wähnen. Dieser Buchbeitrag fokussiert im Speziellen die strategischen Implikationen der digitalen Transformation für Unternehmen unter besonderer Berücksichtigung kultureller Faktoren. Die Integration kultureller Faktoren in diese Überlegung hat selbst einen innovativen Charakter, da hierbei versucht wird, mittels Argumentationsstrukturen aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachbereichen eine neue Perspektive auf die Interaktion von digitaler Transformation, Strategie und Kultur zu schaffen.

2  Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie

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Dadurch ergibt sich auch, dass dieser Buchbeitrag den Charakter einer Vorüberlegung hat. Sein Zweck ist erfüllt, wenn es gelingt, den Leser zu inspirieren, bisher als bekannt angenommene Sachverhalte in verändertem Licht neu zu überdenken. Hierfür werden in einem ersten Schritt die Begrifflichkeiten digitale Transformation, Strategie und Kultur basierend auf dem aktuellen Stand der Forschung beleuchtet und in ihrer gegenseitigen Interaktion diskutiert. Anschließend wird die Praxis sowohl aus qualitativer Perspektive mittels einer Fallstudie als auch aus quantitativer Seite unter Zuhilfenahme einer aktuellen Untersuchung betrachtet. Basierend auf dieser Betrachtung wird versucht, Implikationen der untersuchten Zusammenhänge und mögliche Lösungsansätze für sich daraus ergebende Probleme und Herausforderungen abzuleiten.

2.2

Grundlagen

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Entwicklung, dem theoretischen Hintergrund, möglichen Zusammenhängen, Interaktionen und dem Spannungsfeld der drei Themenbereiche digitale Transformation, Strategie und Kultur. Als Erstes beleuchten wir den Begriff der digitalen Transformation aus verschiedenen Perspektiven, gehen kurz auf die geschichtliche Entwicklung, den Status quo und die wichtigsten Treiber der digitalen Transformation sowie die Auswirkungen dieser im wirtschaftlichen Kontext ein. Nächstes fokussieren wir strategisches Management im Lichte der digitalen Transformation. Hierbei rekurrieren wir unter anderem auf klassische Ansätze und Modelle des strategischen Managements wie den Market-Base-View, den Res­ source-­Based-View und die Transaktionskostentheorie. Drittens beschäftigen wir uns mit dem Thema Kultur. Hierbei greifen wir auf zentrale Befunde und Erkenntnisse aus der Innovationsforschung und der Führungsforschung zurück und wagen darüber hinaus den interdisziplinären Transfer aktueller Befunde. Schlussendlich integrieren und abstrahieren wir das bisher erarbeitete zu einer neuen kompakten Perspektive.

2.2.1 Digitale Transformation Aus Unternehmenssicht kann unter digitaler Transformation „im weitesten Sinne [der] Wandel hin zu elektronisch gestützten Prozessen, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen mittels Informations- und Kommunikationstechnik“ (Wallmüller 2017, S. 22) verstanden werden.

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Es geht also um die „Verwendung neuer digitaler Technologien wie z. B. Social Media, Mobile, Analytics oder integrierter Geräte, um wesentliche Geschäftsverbesserungen zu ermöglichen, wie z. B. Kundenerfahrungen (Customer Experience) zu verbessern, den Betrieb des Unternehmens effizienter zu gestalten oder neue/ erweiterte Geschäftsmodelle zu etablieren“ (Wallmüller 2017, S. 22). Die Digitalisierung verändert substantiell die Art und Weise, wie Unternehmen im Wettbewerb erfolgreich sind (vgl. Kraft und Jung 2017). Dies wird deutlich, wenn man die Veränderungen der letzten 50 Jahre betrachtet, welche in Tab. 2.1 beispielhaft dargestellt werden. Das Wesentliche bei der digitalen Transformation ist, dass es um deutlich mehr als um wirtschaftliche Faktoren geht. Letztendlich geht es um „die Übertragung des Menschen und seiner Lebens- und Arbeitswelten auf eine digitale Ebene“ (Breyer-Mayländer 2017, S. 1). Dies erklärt auch, warum die Digitalisierung in den meisten Industrien zum strategischen Wettbewerbsfaktor geworden ist (vgl. Gassmann und Sutter 2016). Die Digitalisierung der Wirtschaft betrifft alle Brachen. Der Unterschied ist lediglich, dass einige Branchen früher oder direkter von der Digitalisierung betroffen sind (z. B. Telekomunikation, Banken, Reisen, Logistik) und andere vielleicht etwas später oder indirekter (z. B. Lebensmittelhandel oder Handwerk). Prinzipiell unterliegen die Wirtschaft und die in ihr operierenden Unternehmen einem ständigen Prozess der Innovation, Evolution und Mutation. Neue Technologien wirken dabei als Treiber dieser Mutation in Unternehmen und deren Geschäftsmodellen. Dies liegt vor allem daran, dass neue Technologien neue Anwendungsmöglichkeiten schaffen, die wiederum als Grundlage für die Entwicklung neuer digitaler Technologien dienen können (vgl. Hoffmeister 2015). Tab. 2.1  Historische Entwicklung 1970–1990

1990–2000

2000–2010

Seit 2010

• Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ • Produktionsorientierte Geschäftsmodelllogik • Strategische Geschäftseinheiten, klassische Portfoliomethoden • Anfänge der industriellen Digitalisierung, E-Mails und Internet • Internet beginnt an allgemeiner Wichtigkeit zu gewinnen • Vernetzung verstärkt sich (Wissenschaft, Wirtschaft) • Megatrends (Globalisierung, Nachhaltigkeit, Urbanisierung …) • Business Transformation und Business Reengeneering • Mass Customization • End-to-End-Prozesse • Open Innovation • Big Data • Plattformen • Internet of Things

2  Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie

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Tab. 2.2  Hebel und Treiber der digitalen Transformation Digitale Daten

Vernetzung

Automatisierung

Digitale Kundenbeziehung

• Bedarfsvorhersage • Internet der Dinge • Wearables • Breitband • Cloud Computing • Smart Factory • Robotik • Autonome Fahrzeuge • Additive Fertigung • Soziale Netzwerke • Infotainment • E-Commerce • Mobiles Internet

Tab. 2.2 zeigt beispielhaft eine Unterteilung der Hebel und Treiber der Digitalisierung in die Kategorien digitale Daten, Vernetzung, Automatisierung und digitale Kundenbeziehungen. Auch hierbei zeigt sich die nahezu allumfassende Auswirkung der digitalen Transformation. Führende Ökonomen vertreten die Meinung, dass von der Digitalisierung getriebene technische Entwicklungen eine größere Wirkung haben als etwa die Erfindung der Dampfmaschine, der Elektrizität oder des Automobils (Wallmüller 2017). Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich gemäß einer Studie der Unternehmensberatung PAC quasi jedes Unternehmen in Deutschland strategisch mit dem Thema digitale Transformation beschäftigt. Insgesamt erleben zwei Drittel die Auswirkungen der digitalen Transformation als sehr deutlich, fast jedes fünfte Unternehmen beschreibt die Implikation für die Branche sogar als disruptiv (Dufft und Flug 2014). Daher ist es ebenso wenig verwunderlich, dass sich die meisten Verantwortlichen in deutschen Unternehmen darüber bewusst sind, dass ihre Geschäftsstrategien im Zuge der Digitalisierung auf den Prüfstand gestellt werden (Wallmüller 2017, S. 173).

2.2.2 Strategie Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigten auch die Bedeutung des Themas Strategie im Kontext der digitalen Transformation. Der Zweck des strategischen Managements ist die Planung und Gestaltung der zukünftigen Unternehmensentwicklung und Unternehmensziele. Mittel zur Erreichung dieser Ziele sind die strategischen Pläne und strategischen Programme. In der Praxis zeigt sich das

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R. Rossberger

strategische Management als eine der wichtigsten, aber auch eine der schwierigsten, Aufgaben1 der Unternehmensleitung. Sowohl die Breite als auch die Tiefe des Themenfelds strategischer Unternehmensführung machen es nötig, dass im Rahmen dieses Beitrags nur auf einige wenige, beispielhafte Aspekte eingegangen werden kann, um so einen ersten Zugang zum Zusammenhang des strategischen Managements mit der digitalen Transformation aufzuzeigen. Klassische Ansätze des strategischen Managements wie z. B. Sunk Costs, Economies of Scale and Scope und die klassischen Strategieansätze wie der Market-Based-View, der Resource-Based-View oder die Transaktionskostentheorie (Breyer-Mayländer 2017, 12 ff.) bieten hierbei klare Erklärungsansätze. Betrachtet man die Auswirkungen der digitalen Transformation am Beispiel des Einzelhandels unter Zuhilfenahme von Porters 5-Forces-Modell (vgl. Porter 2001) zeigt sich, dass sich fast alle fünf Marktkräfte zum Nachteil des „Offline-­ Einzelhändlers“ verschieben. So steigt zum Beispiel die Verhandlungsmacht der Kunden durch E-Commerce, da der nächste Anbieter ja nur einen Mausklick entfernt ist. Der gleiche Mechanismus wirkt vereinfacht ausgedrückt auch für die Bedrohung durch Ersatzprodukte. Die technischen Entwicklungen haben auch die Einstiegsbarrieren für neue Marktteilnehmer verringert, was sich in einer steigenden Bedrohung durch neue Wettbewerber widerspiegelt. Zieht man den Resource-Based-View (vgl. Collis und Montgomery 2005; Prahalad und Hamel 1990; Wernerfelt 1984; Barney 2011; Penrose 1995) als Erklärungsgrundlage heran, zeigt sich eine Verschiebung der strategischen Wichtigkeit physischer Ressourcen, wie z. B. eines Standortvorteils oder von ­Produktionsanlagen hin zu immateriellen Ressourcen. Ressourcen wie Wissen, organisationale Strukturen, Kultur und Management erhalten dadurch, dass sie schwerer zu kopieren sind, einen wesentliche höheren strategischen Wert und sie werden tendenziell eher zu VRIO-Ressourcen (Value – Rarity – Imitability – Organizational Explitation), welche als einzige das Potenzial besitzen, einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil zu gewährleisten.

1  Der seiner Natur nach unsichere Charakter jeglicher Strategien beruht laut Mintzberg (2013) hauptsächlich auf den drei „Trugschlüssen“ der strategischen Planung. Kurz zusammengefasst beschreiben diese das Faktum, dass erstens die Zukunft prinzipiell nicht pro­ gnostizierbar ist (fallacy of prediction), dass es zweitens eine Kluft zwischen abstrakter Strategieformulierung des Managements und der operativen Umsetzung gibt (fallacy of detachment) und dass drittens Strategien in dynamischen Umfeldern niemals formalisiert werden können (fallacy of formalization).

2  Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie

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Bemüht man Transaktionskosten (vgl. Coase 1937; Williamson 1985) zur Erklärung strategierelevanter Auswirkungen der digitalen Transformation, so zeigt sich zum Beispiel durch den leichteren Zugang zu Informationen eine tendenzielle Erhöhung der Transparenz für den Kunden. Dies spiegelt sich oft in kleiner werdenden Margen für die Unternehmen wider. Ein Beispiel hierfür ist die Einfachheit des Preisvergleichs beim Onlineeinkauf. Tab. 2.3 abstrahiert stichpunktartig am Beispiel von E-Commerce Zusammenhänge und Veränderungen, welche sich aus klassischen Ansätzen des strategischen Managements (vgl. Porter 2001; Collis und Montgomery 2005; Prahalad und Hamel 1990; Wernerfelt 1984; Barney 2011; Penrose 1995; Coase 1937; Williamson 1985) theoretisch ableiten lassen und bereits empirisch bestätigt wurden (vgl. Rossberger 2013). Diese kurzen Beispiele zeigen den staken Einfluss der digitalen Transformation auf strategierelevante Aspekte und verdeutlichen die Notwendigkeit für alle Unternehmen, sich damit zu beschäftigen. Und dies nicht nur bei der Strategieformulierung, sondern gerade auch bei der Strategieumsetzung. Während Strategien tendenziell von der Unternehmensführung entwickelt werden, sind bei der Umsetzung alle Mitarbeiter gefragt. Die durchdachteste Strategie ist wertlos, wenn sie nicht umgesetzt wird, sie fällt also mit der Akzeptanz und vor allem mit dem Kommittent der Mitarbeiter.

Tab. 2.3  Strategie und digitale Transformation • St. Galler Management-Modell

Generische Strategien

Market-Based-View

Resource-Based-View

Transaction Cost Economics

• • • • • • • • • • • • • • • • • •

▲ Tendenz zur Überregulierung und Übersteuerung > Innovationskiller ▲ Wissensträger und Innovationsträger Mensch ▲ Wichtigkeit der Ebene der Datenbeziehung ▲ Transparenz ▲ Konkurrenz ▲ Skaleneffekte ▲ Verhandlungsmacht der Lieferanten ▲ Verhandlungsmacht der Kunden ▲ Bedrohung durch neue Wettbewerber ▲ Bedrohung durch Ersatzprodukte ▲ Wettbewerb in der Branche ▼ Traditionell wertvolle Ressourcen ▲ Immaterielle Ressourcen ▲ Struktur, Management und Organisation ▲VRIO-Ressourcen werden noch wichtiger ▼ Transaktionskosten ▲ Transparenz ▼ Gewinnmargen ▲ Wettbewerb

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2.2.3 Kultur Es wäre kurzsichtig, digitale Transformation als Projekt zu sehen, das sich rasch abschließen lässt. Das wäre ein Trugschluss, denn der Wandel ist ein langfristiger, strategischer Prozess, der fortwährend betrieben werden muss. Und hier kommen Führung und kulturelle Faktoren ins Spiel: Welcher Führungsansatz erscheint bezogen auf die Anforderungen der digitalen Transformation vielversprechend? Wie muss eine (Firmen-)Kultur beschaffen sein, um solch permanenten Wandel zu ermöglichen und idealerweise zu unterstützen? Hierbei bietet es sich an, auf Erkenntnisse und Befunde des Innovationsmanagements zurückzugreifen, da es sich bei der digitalen Transformation eben um einen solchen Innovationsprozess handelt. Da auch dies ein sehr weites Feld ist, wird im Rahmen dieses Beitrags beispielhaft auf Befunde aus der Führungsforschung und auf passende Analogien der interkulturellen Innovationsforschung zurückgegriffen. Vereinfacht ausgedrückt zeigt sich, dass Innovationen, welche per Definition unsicherheitsbehaftet sind, in stark geregelten, hierarchisch strukturierten Organisationen selten erfolgreich umgesetzt werden. Dies führt allzu formalisierte Innovationsprozesse ad absurdum. Auch zeigt die Forschung, dass autoritäre Führungsstile im Innovationskontext kontraproduktiv sind. Kurz zusammengefasst kann Innovation nicht top-down befohlen werden, sondern es hat sich gezeigt, dass es vielversprechender ist, innovationsförderliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Insbesondere zeigt sich, dass sich partizipatives Führungsverhalten und das Gewähren von Freiheitsgraden positiv auf das innovative Verhalten von Mitarbeitern auswirkt (vgl. Rossberger und Krause 2015). Zieht man, im Sinne eines interdisziplinären Ansatzes, Forschungsergebnisse aus anderen Bereichen heran, erscheinen Befunde aus der interkulturellen Forschung (vgl. House 2004) und im Speziellen der interkulturellen Innovationsforschung (vgl. Rossberger und Krause 2013b, c, 2015) erfolgsversprechend. So haben diese Studien zum Zusammenhang zwischen Führungsstil, Bildung, wirtschaft­ lichen Faktoren und Kulturdimensionen auf nationaler Eben ergeben, dass fünf Dimensionen kultureller Praktiken einen signifikanten Einfluss auf das Innovationsniveau haben. Diese Dimensionen sind Zukunftsorientierung (positiver Zusammenhang), Gruppenkollektivismus (negativer Zusammenhang), institutioneller Kollektivismus (positiver Zusammenhang), Leistungsorientierung (positiver Zusammenhang) und Unsicherheitsvermeidung (positiver Zusammenhang). Betrachtet man die Struktur und Attribute dieser Dimensionen lassen sich dabei Parallelen für Unternehmen im Digitalisierungskontext ableiten.

2  Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie

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Zur Veranschaulichung sei hier der Zusammenhang anhand der kulturellen Praktikendimensionen Leistungsorientierung und Zukunftsorientierung beschrieben, da hier der Zusammenhang relativ einfach nachvollziehbar ist. Die kulturelle Praktikendimension „Leistungsorientierung“ beschreibt, inwieweit eine Gesellschaft Leistungsverbesserung und Höchstleistung ermutigt und verstärkt. Hohe Leistungsorientierung zeigt sich in der Wertschätzung von Bildung, Weiterbildung, Innovativen per se, der Übernahme von Verantwortung, dem Ergreifen von Initiative und dem Interesse an leistungsbezogenem Feedback. Es besteht ein Bedürfnis nach Leistung, Fortschritt und Kompetenz. Die tendenziell höhere interne Kontrollüberzeugung geht mit einer Affinität zu Fortschritt und Innovation einher und wird gesellschaftlich belohnt. Daher steigt mit zunehmender Leistungsorientierung das Innovationsniveau in einer Gesellschaft (vgl. Rossberger und Krause 2013b). Die kulturelle Praktikendimension „Zukunftsorientierung“ beschreibt, inwieweit in einer Gesellschaft zukunftsorientiertes Verhalten wie z. B. Planung und Investition gezeigt wird. Gesellschaften mit hoher Zukunftsorientierung zeichnen sich durch höheren ökonomischen Erfolg, höhere physische und psychische Gesundheit und eine höhere Tendenz zur Entwicklung und Umsetzung von Strategien aus. Zukunftsorientierung impliziert eine gewisse Offenheit und Geneigtheit zum Wandel und damit auch zu Innovationen. Insofern steigt mit zunehmendem Grad der Zukunftsorientierung das Innovationsniveau in einer Gesellschaft (vgl. Rossberger und Krause 2013b). Tab.  2.4 zeigt die innovationsrelevanten kulturellen Praxisdimensionen der GLOBE-Studie und auf den organisationalen Kontext ableitbare Zusammenhänge in beispielhafter Art und Weise (vgl. Rossberger und Krause 2012, 2013a, b, c, 2015). Tab. 2.4  Kulturelle Praktiken, Innovation und digitale Transformation Unsicherheitsvermeidung

Leistungsorientierung

Gruppenkollektivismus

Institutioneller Kollektivismus

Zukunftsorientierung

• • • • • • • • • • • • • • •

▲ Sicheres Regelwerk ▲ Stabile Umweltbedingungen ▲ Beides macht experimentieren möglich ▲ Leistungsmotivation ▲ Positive Haltung gegenüber Herausforderungen ▲ Kontrollüberzeugung ▼ Starre Strukturen und Hierarchien ▼ Gruppendenken ▼ Abhängigkeiten von Gruppenmitgliedern und Zielen ▲ Vertrauen in Institution ▲ Höhere wahrgenommene Gerechtigkeit ▲ Partizipationsmöglichkeiten und Empowerment ▼ Planung und Weiterentwicklung ▼ Welt wird als beeinflussbar wahrgenommen ▼ Höhere Generierung und Umsetzung neuer Ideen

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Die beiden behandelten Kulturdimensionen sowie die stichpunktartige Darstellung weiterer Dimensionen in Tab. 2.4 geben einen Hinweis auf den Zusammenhang, der den kulturellen Praktiken zugrundeliegenden Attribute und der für die digitale Transformation relevanten Disposition gegenüber Innovationen.

2.2.4 I ntegration: Digitale Transformation, Strategie und Kultur Die bisherigen Überlegungen zeigen einerseits bereits heute den fundamentalen Einfluss der digitalen Transformation und lassen die zukünftige Bedeutung erahnen. Darüber hinaus wird klar, dass es um weit mehr als eine technologische Entwicklung oder die Nutzung neuer technischer Möglichkeiten geht, sondern dass es sich vielmehr um eine nahezu alle Faktoren des menschlichen Zusammenlebens beeinflussende Veränderung handelt. Daraus lässt sich einerseits folgern, dass es aus Unternehmenssicht kaum ein wichtigeres strategisches Thema geben kann und anderseits, gerade wegen des umfassenden Charakters der digitalen Transformation und deren Auswirkungen auf nahezu alle Menschen, dass es ohne die angemessene Einbeziehung sozialer Faktoren unmöglich ist, den Prozess der digitalen Transformation erfolgreich und vor allem nachhaltig zu steuern. Tab. 2.5 fasst die Kernpunkte der bisherigen Überlegungen nochmals komprimiert zusammen. Tab. 2.5  Digitale Transformation, Strategie und Kultur Digitale • Beeinflusst wirtschaftliche und private Lebensbereiche in hohem Transformation Maße • Übertragung des Menschen, seines Lebens und seiner Arbeitswelten auf die digitale Ebene • Alle Branchen betroffen • Deutsche Unternehmen haben die Bedeutung erkannt Strategie • Planung und Gestaltung der zukünftigen Unternehmensentwicklung • Unsicherheit (Trugschlüsse) • Traditionelle Ansätze des strategischen Managements liefern Erklärungsbeiträge • Strategien stehen und Fallen mit dem Kommittent der Mitarbeiter Kultur • Digitale Transformation ist eine Innovation • Digitale Transformation ist kein Projekt, sondern ein Prozess • Befunde der Innovationforschung und der Führungsforschung sind hilfreich • Transfer aus dem interkulturellen Innovationsmanagement ist vielversprechend

2  Digitale Transformation: Kultur, Strategie und Technologie

2.3

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Empirische Befunde

Betrachtet man den untersuchten Zusammenhang empirisch, zeigen sich starke Hinweise, welche für die theoretisch abgeleiteten Zusammenhänge sprechen. Um im Rahmen dieses Buchbeitrags ein komprimiertes, aber dennoch angemessenes Bild darzustellen, wurde an dieser Stelle die Kombination der Betrachtung ­ausgewählter Aspekte einer qualitativen Fallstudie (vgl. Rossberger 2013) und eines aktuellen quantitativen Forschungsprojekts (vgl. Kane et al. 2015) realisiert.

2.3.1 Qualitativ: Fallstudie Schmuck- und Edelsteinindustrie Die betrachtete Fallstudie behandelt die digitale Transformation eines Unternehmens in der Schmuck- und Edelsteinbranche im Bereich E-Commerce. Die mit der Möglichkeit der Partizipation an E-Commerce einhergehenden Veränderungen hatten tief greifende Auswirkungen auf eine altehrwürdige und traditionsbehaftete Industrie wie die Schmuck- und Edelsteinbranche. Es zeigte sich aus dem Market-Based-View (vgl. Porter 2001), dass sich die abgeleitete Wirkung der Five Forces auf die Schmuck- und Edelsteinbrache bestätigte und diese auch über den Zeitraum der Fallstudie hinaus ihre Wirkung in der prognostizierten Art und Weise entfalteten. So konnte unter anderem nachgewiesen werden, dass die mit E-Commerce einhergehende höhere Transparenz deutlich die Verhandlungsmacht der Kunden erhöhte und dadurch die Profitabilität, also die realisierbaren Margen, für alle Händler generell verringerte. Auch die aus dem Resource-Based-View (vgl. Penrose 1995) abgeleiteten Schlüsse für das untersuchte Unternehmen haben sich in hohem Maße bestätigt. So zeigte sich, dass materielle Ressourcen, wie zum Beispiel Standortvorteile in prestigeträchtigen Innenstadtlagen oder anderen attraktiven Lokationen, stark an Wert verloren und dafür andere, tendenziell eher immaterielle Ressourcen wie Bekanntheit oder Managementkompetenzen strategisch umso wichtiger wurden. Dasselbe gilt für den Transaktionskostenansatz (vgl. Coase 1937; Williamson 1985). Klassische Grundannahmen der Transaktionskostentheorie wie begrenzte Rationalität und Opportunismus konnten erklären, warum viele kleinere Onlineshops scheiterten und warum sich die größeren bekannten, allen voran Amazon, etablieren konnten: Die Transaktionskosten für die Kunden waren bei kleineren Marktteilnehmern oft zu groß. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die aus der Theorie abgeleiteten Implikationen sehr gut mit der Empirie decken. Dies unterstützt die Forderung nach einem durchdachten strategischen Vorgehen im Zuge der digitalen Transformation. Auch verdeutlicht diese Fallstudie einen weiteren sehr wichtigen Ansatzpunkt dieses

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Buchbeitrags: Die besten Strategien können ihre angedachte Wirkung nur entfalten, wenn diese auch umgesetzt werden. Die Umsetzung solcher Strategien funktioniert nur, wenn es dafür ein starkes organisationales Kommittent gibt, eine treibende Kraft, welche die Umsetzung der Strategien gewährleistet: die Unternehmenskultur. Fehlt diese, oder werden die angedachten Strategien nicht ernsthaft von der Unternehmenskultur getragen, wird sie entweder versanden oder aber, im besten Fall, die angedachten Ziele nur partiell erfüllen. Beispielsweise werden sich für jedes Hindernis oder jede Herausforderung viele Gründe finden, etwas nicht umzusetzen. Wie bereits hergeleitet, funktionieren strategische Richtungswechsel fundamentaler Natur nur, wenn diese Entscheidungen sowohl von der Geschäftsleitung als auch von den Mitarbeitern getragen und gelebt werden.

2.3.2 Quantitativ: MIT-Untersuchung Die Beschreibung eines konkreten Einzelfalls hat den Vorteil, Zusammenhänge detaillierter nachvollziehen zu können, der Preis dafür ist allerdings die mangelnde Verallgemeinerbarkeit. Aus diesem Grund greift dieser Beitrag im zweiten Teil der empirischen Betrachtung auf eine umfangreiche aktuelle Untersuchung (vgl. Kane et al. 2015) von Forschern des MIT und von Delloite über unterschiedliches strategisches Verhalten unter Berücksichtigung des „digitalen Reifegrades“ (digital maturity) von Unternehmen zurück. nachdrücklich unterstützt und den Führungskräften gelingt es, eine Kultur zu erschaffen, welche Change-Prozessen ebenso wie Innovationen offen gegenübersteht. Diese Erkenntnisse korrespondieren größtenteils mit dem, was für bisherige technologische Evolutionen galt, allerdings zeichnet sich die digitale Transformation dadurch aus, dass sich durch den Wettbewerb digitaler fortschrittlicher Unternehmen Risikobereitschaft zu einer kulturellen Norm und zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor entwickelt. Die Studie ergab darüber hinaus, dass es für Mitarbeiter aller Altersstufen attraktiv ist, für Unternehmen zu arbeiten, welche über eine klare, konsistente und tief verankerte Digitalisierungsstrategie verfügen. Diese Erkenntnis hat unter anderem Relevanz für das Human Ressource Management.

2.3.3 Zusammenfassung der empirischen Befunde Insgesamt zeigt dieser kurze Ausflug in die Empirie, dass die theoretischen Schlüsse durchaus eine deutliche Kongruenz mit dem empirischen Relativ ­aufweisen. Tab. 2.6 fasst die wichtigsten Erkenntnisse der beiden, aus Platzgründen im Text nur kurz angerissenen, Studien stichpunktartig zusammen.

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Tab. 2.6  Zusammenfassung der empirischen Befunde • Digitale Transformation beeinflusst alle der Five Forces • Digitale Transformation beeinflusst den strategischen Wert wichtiger Ressourcen (meist Verschiebung von materiellen zu immateriellen) • Digitale Transformation verringert tendenziell Transaktionskosten • Firmen, denen es gelingt, am effizientesten Transaktionskosten zu verringern, sind tendenziell erfolgreicher • Die beste Strategie leidet oder versagt, wenn sie nicht von allen (Geschäftsführung und Mitarbeitern) getragen und gelebt wird • Kulturelle Faktoren sind hierfür essenziell • Klare Digitale Strategie fördern digitale Reife Wichtigste • Die Kraft einer Strategie zur digitalen Transformation liegt in Erkenntnisse der ihrem Fokus und ihrer Zielsetzung MIT-Untersuchung • Reife digitale Unternehmen fördern Fähigkeiten zur Realisierung der Strategie • Mitarbeiter möchten für „Digital Leaders“ arbeiten • Risikobereitschaft wird zur kulturellen Norm • Die digitale Agenda wird top-down geleitet (erfordert Führungskräfte mit digitaler Kompetenz)

Wichtigste Erkenntnisse der Fallstudie

2.4

Implikationen und mögliche Lösungsansätze

Basierend auf den bisherigen theoretischen Überlegungen und empirischen Befunden ergeben sich mehrere Implikationen für Unternehmen bezüglich digitaler Transformationsprozesse. Erstens, eine klare Digitalisierungsstrategie ist ein entscheidender Faktor für zukünftigen Erfolg. Die theoretisch abgeleiteten und empirisch aufgezeigten Veränderungen betreffen sowohl die externen Unternehmensumwelten als auch das Innenleben vieler Unternehmen. Um hier zu bestehen, bedarf es einer klaren und vor allem nachhaltigen Strategie, welche von der Unternehmensführung wie auch von den Mitarbeitern getragen und gelebt wird. Zweitens, digitale Transformation ist ein andauernder Innovationsprozess, kein Projekt. Es ist bietet sich daher an, auf die Erkenntnisse aus der Innovationsforschung und das Innovationmanagement zurückzugreifen. Drittens, wenn man die digitale Transformation als andauernden Innovationsprozess betrachtet, ist es ratsam, etablierte und bewährte Stellschrauben und gesicherte Erkenntnisse des Innovationsmanagements zu berücksichtigen: Führung (vgl. Anderson und King 1991; Rossberger und Krause 2015), Kultur (vgl. Rossberger und Krause 2013b), Bildung (vgl. Rossberger und Krause 2013a) und Personalauswahl (vgl. Krause et al. 2011, 2014).

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Einer der wichtigsten und am ehesten direkt zu beeinflussenden Faktoren ist Führung. In Theorie und Praxis zeigt sich, dass ein partizipativer, auf Vertrauen basierender Führungsstil in Verbindung mit materieller und immaterieller Unterstützung sowie die Gewähr von ausreichenden Freiheitsgraden am besten geeignet ist, innovatives Verhalten bei den Mitarbeitern zu fördern. Diese Aufgabe stellt natürlich eine Herausforderung an die Führungskräfte hinsichtlich der Rolle als Vorbild intellektueller und charakterlicher Disposition sowie ihres Welt- und Menschenbildes dar. Der nächste große Schlüssel zu erfolgreicher digitaler Transformation ist Kultur. Auch hier zeigt sich in Theorie und Praxis der starken Zusammenhang zwischen kulturellen Faktoren und erfolgreichen unternehmerischen Innovationen. Kulturelle Veränderungen sind nicht einfach zu bewerkstelligen, aber eine der effizientesten Stellschrauben ist die bereits behandelte Führung. Ein bekanntes Zitat von Edgar Schein bringt dies prägnant auf den Punkt: „Leadership and culture are two sides of the same coin“ (Schein 2004, S. 22). Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass alles was Stabilität gibt und Unsicherheit vermeidet, wie z.  B. eine glaubhafte, nachhaltig gedachte Unternehmensstrategie, in Zeiten des Wandels erhöhte Wichtigkeit erlangt. Das dritte große Einflussfeld ist Bildung. Bildung erhöht die Fähigkeit zur kompetenten Zusammenarbeit, kann neue Kreativität, neue Ideen und deren Umsetzung fördern und ermöglicht es den Mitarbeitern und den Führungskräften, die nötigen bzw. vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen. Auf einer tieferliegenden Ebene verringern Bildung und die dadurch erreichen Fähigkeiten Unsicherheit und unterstützen somit indirekt viele innovationsrelevante Prozesse (vgl. Rossberger und Krause 2015; Rossberger 2014). Viertens ist auch die Personalauswahl eine effiziente Stellschraube, um ein Unternehmen mit dem Ziel der digitalen Transformation zu unterstützen. Ein ebenfalls sehr bekanntes Zitat sagt uns: „The people make the place“ (Schneider 1987, S. 437), also die Mitarbeiter machen das Unternehmen aus. Über die Personalauswahl hat das Unternehmen einen starken Einfluss darauf, welche Fähigkeiten und vor allem Dispositionen ins Unternehmen gelangen. Hierbei sollte im Kontext der digitalen Transformation nicht nur auf fachliche Fähigkeiten geachtet werden, sondern zusätzlich auf innovationsrelevante Persönlichkeitsfaktoren, wie z. B. auf den Big-Five-Faktor „Offenheit für Neues“. Wissenschaftlich valide Personalauswahl ist natürlich mit höherem Aufwand verbunden und es bedarf entsprechendem Methodenwissen, z. B. mittels Assessmentcenter (vgl. Krause et al. 2011, 2014), aber gerade im Kontext der digitalen Transformation wäre hier ein Qualität-vor-­ Quantität-­Ansatz ratsam. Dies würde sich ebenfalls nachhaltig positiv auf den Unternehmenserfolg auswirken.

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Tab. 2.7  Implikationen und Lösungsansätze Führung

• Partizipativer Führungsstil • Vertrauen • Materielle und immaterielle Unterstützung • Gewährung von Freiheitsgraden Kultur • Sicherheit • Flache Hierarchien oder Hederichen • Glaubhafte und attraktive Zukunftsvision Bildung • Fähigkeiten und Kompetenzen • Neigung und Fähigkeit zur kompetenten Zusammenarbeit • Gibt Sicherheit (auch Selbstsicherheit) Personalauswahl • Regulation der Kompetenzen und Dispositionen, die ins Unternehmen kommen • The „People make the Place“ • „Qualität vor Quantität“ • Valide Einstellungstests bezüglich innovationsrelevanter Dispositionen Generell • Maß und Ziel • Balancemanagement

Schlussendlich lässt sich sagen, dass Innovationsprozesse in Unternehmen immer mit Maß und Ziel betrieben werden sollten und dass sich kreative Freiheit und konkrete Umsetzung die Waage halten sollten, da beides nur gemeinsam langfristig zur Zielerreichung beiträgt. Zur Vertiefung dieses Gedankens sei auf die Literatur zum Balance-Management verwiesen (vgl. Gebert 1991, 2004; Gebert et al. 2001). Tab. 2.7 fasst die wichtigsten Stellschrauben in Stichpunkten zusammen.

2.5

Conclusio

Zukunftsprognosen sind generell unsicherheitsbehaftet, aber es gibt starke Indikatoren dafür, dass die Auswirkungen der digitalen Transformation die Lebens- und Arbeitswelten der meisten Menschen beeinflussen werden. Dieser Buchbeitrag fokussierte sich auf Zusammenhänge zwischen digitaler Transformation, Unternehmensstrategie und kulturellen Faktoren. Im theoriebasierten Teil dieses Beitrags wurden als Erstes der Begriff der digitalen Transformation und seine historische Entwicklung aufgegriffen und sein Innovationscharakter thematisiert. Zweitens wurde der Begriff der digitalen Transformation im Kontext grundlegender Erklärungsmodelle des strategischen Managements beleuchtet und die Erklärungskraft dieser Ansätze aufgezeigt. Drittens wurde die Bedeutung kultureller Faktoren hinsichtlich der digitalen Transformation demonstriert,

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wobei auf verschiedene Erkenntnisse des Innovationsmanagements und der interkulturellen Forschung zurückgegriffen wurde. Schlussendlich wurde versucht, die Erkenntnisse über die untersuchten Zusammenhänge zu einem zusammenhängenden Gesamtbild zu integrieren. Im empirischen Teil der Arbeit wurde auf eine qualitative Fallstudie sowie auf eine quantitative Untersuchung zurückgegriffen. Beide Ansätze lieferten deutliche Hinweise auf eine starke Theorie-Empirie-Deckung und unterstrichen die Wichtigkeit dieser Zusammenhänge im wirtschaftlichen Kontext. Schlussendlich Letztendlich wurden, basierend auf dem aktuellen Stand der Forschung und der in diesem Beitrag abgeleiteten Implikation, mögliche Problembereiche und Handlungs- bzw. Lösungsvorschläge in den Bereichen Führung, Kultur, Bildung und Personalauswahl abgeleitet und es wurde aufgezeigt, warum ein ausgewogenes, „balanciertes“ Vorgehen erfolgversprechend erscheint. Wie bereits anfangs erwähnt, hat dieser Beitrag den Charakter einer Vorüberlegung. Es wurde versucht, den Leser zum Nachdenken anzuregen und neue ­Perspektiven aufzuzeigen. Hierzu wurden Befunde aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen verknüpft. Dieser Ansatz kann natürlich keinen über den konkreten Sachverhalt hinausgehenden Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit erheben, zeigt aber viele Wege für weitere Forschung auf. So wären zusätzliche qualitative und quantitative Untersuchungen in verschiedenen Branchen im Digitalisierungskontext zu empfehlen, um die vermuteten Zusammenhänge näher zu betrachten. Ebenso erfolgsversprechend erscheinen Untersuchungen auf verschiedenen Aggregationsstufen, z.  B. auf der individuellen, der Team-, der organisationalen und der gesellschaftlichen Ebene.

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R. Rossberger

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Prof. Dr. Robert Rossberger  ist Professor für Unternehmensführung und Internationales Management. an der AKAD University Neben umfassenden Tätigkeiten in Forschung und Lehre gründete der Goldschmied und Gemmologe eines der deutschlandweit ersten E-Commerce-Start-ups im Schmuck- und Edelsteinbereich, baute das Graduiertenkolleg der Technischen Hochschule Deggendorf auf, war Mitbegründer des Bavarian Journal of Applied Sciences und ist als Gutachter für weltweit führende wissenschaftliche Journals tätig. Zu seinen Referenzen gehören unter anderem Veröffentlichungen in Cross Cultural Research, Creativity and Innovation Management und dem International Journal of Selection and Assessment.

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Die vierte Revolution: Wie Big Data, künstliche Intelligenz und Multi-ToolAssistenten Geschäftsmodelle neu definieren Matthias Laux und Klaus Michael Vogelberg

Inhaltsverzeichnis 3.1  E  inleitung.................................................................................................................  37 3.2  D  as Ende des Alleingangs........................................................................................  39 3.3  Technologien der „unsichtbaren Revolution“..........................................................  41 3.3.1  Buchhaltung und künstliche Intelligenz......................................................  42 3.3.2  Chatbots als virtuelle Assistenten................................................................  43 3.3.3  Gemeinsam stark mit kollektiver Intelligenz...............................................  44 3.4  Die Revolution von Finanztransaktionen.................................................................  45 3.4.1  Blockchain: Buchführung im Alleingang....................................................  46 3.4.2  PSD2 und die Möglichkeiten der Cashflow-Automatisierung....................  47 3.5  Conclusio.................................................................................................................  48

3.1

Einleitung

Neue Technologieansätze überrollen unseren Alltag momentan so rasant wie selten zuvor. Internet of Things (IoT), Blockchain, künstliche Intelligenz (KI) oder Machine Learning sind längst keine leeren Worthülsen mehr. Vielmehr durchziehen diese Technologien inzwischen weite Bereiche unseres Lebens – manchmal ohne, dass wir uns dessen überhaupt bewusst sind. So ist die Nutzung von künstlicher M. Laux (*) · K. M. Vogelberg Sage GmbH, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_3

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M. Laux und K. M. Vogelberg

Intelligenz mit dem Einzug von Amazons Alexa oder Siri von Apple für viele von uns schon zur heimischen Normalität geworden. Noch extremer sind die Tendenzen im Businessbereich: Es gibt so gut wie keine Unternehmen mehr, deren Arbeitsalltag nicht bereits in der einen oder anderen Weise von Software gestützt ist – sei es beim Thema Telefonie, bei der Unternehmenskommunikation, der Datenverwaltung und -auswertung oder bei der effizienten Betreuung von Kunden oder Partnern. Und diese digitale Transformation wird sich in Zukunft noch verstärken. Nicht ohne Grund sind die fünf größten Unternehmen weltweit im Technologiesektor angesiedelt. Alleine drei von ihnen wurden erst in den letzten 25 Jahren gegründet, während andere Branchenriesen so schnell wieder in der Versenkung verschwunden sind, wie sie auftauchten. Bei einigen von diesen hätte das kaum jemand für möglich gehalten. Keine andere Branche kann eine so schnelle Entwicklung vorweisen. Und die Geschwindigkeit technologischer Disruption und Innovation steigt weiter. Einige Entwicklungen stehen aktuell noch ganz am Anfang. Manche Technologien, die heute als das Nonplusultra gelten, sind morgen vielleicht bereits wieder überholt oder so normal geworden, dass kaum jemand mehr darüber spricht. Zählte cloudbasierte Software beispielsweise noch vor zehn Jahren als Top-Innovation, gilt diese inzwischen schon als Standard. Technologien wie Blockchain werden heute von so gut wie allen namhaften Softwareunternehmen intensiv auf Geschäftspotenziale analysiert – insbesondere im Finanzsektor. Darauf basierende Start-ups entstehen so gut wie täglich. Und ebenfalls täglich kann der ultimative Durchbruch mit einer neuen „Killer-Applikation“ gelingen. Diese „digitale Revolution“ betrifft sowohl den geschäftlichen als auch den privaten Bereich und zieht radikale Veränderungen nach sich. Vor allem die Interaktion zwischen Mensch und Maschine ist davon betroffen und bietet riesiges Innovations- und Wachstumspotenzial. Der Umgang mit Software und digitalen Daten, wie wir ihn bisher kennen und gewohnt sind, wird sich in den nächsten Jahren radikal verändern: So werden beispielsweise von künstlicher Intelligenz gesteuerte, natürlich-sprachliche Schnittstellen den Browser und Mobile Apps als wichtigstes Schnittstellenparadigma ablösen. Auch manuelle Dateneingaben wird es früher oder später kaum mehr geben. Ein von künstlicher Intelligenz gestütztes „Internet der Dinge“ wird Endpunkte „intelligent“ machen und revolutionäre Kundenerlebnisse ermöglichen. Daten werden durch eine Kombination von Data Science und Gesetzgebung selbst zur disruptiven Kraft. Auch das digitale Vertrauensproblem zwischen Beteiligten einer Transaktion könnte durch neue Technologien wie Blockchain oder digitale Vermittler der nächsten Generation gelöst werden.

3  Die vierte Revolution: Wie Big Data, künstliche Intelligenz und …

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Auf diese Weise werden sich viele Geschäftsmodelle und -bereiche, sicher sogar ganze Berufe, radikal verändern, einige möglicherweise auch ganz verschwinden. Der folgende Artikel wirft einen Blick darauf, wie sich die digitale Revolution in den nächsten Jahren auf den Unternehmensalltag auswirken wird.

3.2

Das Ende des Alleingangs

Sage ist ein Technologiekonzern, dessen Ziel es ist, vor allem kleine und mittelständische Unternehmen mit intelligenter Technologie und innovativen Produkten zu unterstützen. Mit mehreren Millionen Kunden in mittlerweile 60 Ländern gehört der Spezialist für Buchhaltungs-, Lohnabrechnungs- und Bezahlsysteme zu den größten Softwareanbietern der Welt. Das Portfolio umfasst drei Segmente: Start-up (drei bis zehn Mitarbeiter), Scale-up (zehn bis 200 Mitarbeiter) und Enterprise (ab 200 Mitarbeiter) und ist aufgeteilt in drei Geschäftsbereiche: Rechnungswesen, Personalwesen und Zahlungsverkehr – drei Themenfelder, die in jedem Land an sich schon eine gewisse Komplexität aufweisen. Die weltweit rund 2500 Softwareentwickler müssen nicht nur die unterschiedlichen Voraussetzungen, Regeln und gesetzlichen Vorgaben jedes einzelnen Landes berücksichtigen. Die Systeme müssen auch technologisch stets auf dem aktuellsten Stand gehalten und weiterentwickelt werden: Eine komplexe Mammutaufgabe. Sage entschloss sich in den vergangenen Jahren dazu, eine Reihe fundamentaler Änderungen vorzunehmen und sich von einem reinen Anwendungssoftware-­ Unternehmen zu einem ganzheitlichen Technologieunternehmen umzuwandeln. Denn die Ansprüche der Kunden haben sich aufgrund der neuen Möglichkeiten und der technologischen Entwicklungen gewandelt: Gefragt sind nicht mehr nur schlüsselfertige Lösungen, sondern auch moderne, flexible Cloud-Plattformen, die es ermöglichen, je nach Bedarf multiple Software-Tools, intelligente Automation und Datenintelligenz einzubetten. Der große Vorteil dieser Plattformen besteht darin, dass sie auch kleineren Unternehmen den Zugang zu innovativen Business-Software-Lösungen und Services eröffnen, die sich die Firmen noch vor Kurzem kaum hätten leisten können. In gewisser Weise „demokratisieren“ solche Cloud-Plattformen damit den Zugang von Unternehmen zu modernen Apps und intelligenter, skalierbarer Technologie. Unternehmen erhalten die nötige Infrastruktur, um Daten jeder Art nicht nur zu verwalten, sondern auch von Kunden, Partnern oder aus dem Internet der Dinge zu empfangen, zu analysieren und andere Arbeitsweisen zu entdecken, um daraus etwas Neues und Produktives zu schaffen. In den vergangenen Jahren haben immer

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mehr Unternehmen deshalb ihre autonomen, standortgebundenen Softwaresysteme durch integrierte, cloudbasierte Lösungen ersetzt. Die Anwender erhalten dadurch Zugang zu einem reichen Bestand an Geschäftsanwendungen und den integrierten Services. Sage hat diesen Bedarf erkannt und mit der Sage Business Cloud eine Plattform entwickelt, die genau diesen Bedarf adressiert. In der Vergangenheit kaufte ein Kunde ein Produkt oder mehrere Produkte für einen Anwendungsfall, beispielsweise für die Buchhaltung und Lohnabrechnung, die dann gegebenenfalls auf dem eigenen Rechner oder bei größeren Kunden in einem Rechenzentrum betrieben wurden. In der Sage Business Cloud bezieht der Kunde Services, die genau zu den jeweiligen Anforderungen passen, miteinander integriert sind und die auch mit dem Kunden wachsen (Abb. 3.1). Die Sage Business Cloud stellt auch Schnittstellen (APIs) für Entwickler bereit, die dadurch andere Anwendungen integrieren und auf diese Weise Mehrwerte schaffen können, beispielsweise bestimmte Branchenlösungen. Natürlich liegt der zentrale Fokus der Sage Business Cloud auf den Kernkompetenzen von Sage, also auf Buchhaltung, Finanzen, Personalmanagement, Lohnabrechnung und Bezahldiensten. Die Nutzung gemeinsamer Plattformdienste erlaubt es Sage jedoch, moderne Technologien wie künstliche Intelligenz und Machine Learning

Abb. 3.1  Sage Business Cloud

3  Die vierte Revolution: Wie Big Data, künstliche Intelligenz und …

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oder Spracherkennung und digitale Assistenten beziehungsweise Bots zentral anzubieten, die dann in alle Angebote für die Kunden integriert werden können. Die Vorteile einer servicebasierten Plattform mit zentralen, gemeinsam genutzten Diensten zeigen sich also sowohl hinsichtlich der Dienste, welche die Kunden direkt konsumieren können, um ihre fachlichen Anforderungen zu erfüllen, als auch „unter der Haube“, denn der Ansatz erlaubt große Synergien in der Anwendungsintegration sowie auch bei Migrationen hin zu Anwendungen in der Cloud. Ebenso können vorhandene Anwendungen, die nicht in der Cloud existieren, trotzdem durch die entsprechenden Schnittstellen auch in der Cloud konsumiert und so Mehrwerte gewonnen werden. Dies ist bereits seit Längerem in zahlreichen Produkten von Sage umgesetzt. Um für die Kunden stets eine reibungslose Softwarenutzung sicherzustellen und zu gewährleisten, dass ihnen die modernsten Anwendungen zur Verfügung stehen, sind auch Technologieunternehmen darauf angewiesen, ihre Kompetenzen zu bündeln und mit anderen Spezialisten zusammenzuarbeiten. Denn kaum ein Unternehmen ist heute mehr in der Lage, die rasanten, grundlegenden Transformationen in allen Bereichen alleine zu bewältigen. Vielmehr muss ein kontinuierlicher Austausch zwischen allen Partnern stattfinden, um die Kernkompetenzen zu bündeln. So sind zum Beispiel Entwicklung und Betrieb der zugrunde liegenden Infrastruktur der Sage Business Cloud nicht das Kerngeschäft von Sage. Dafür gibt es Spezialisten wie Amazon oder den Cloud-Computing-Spezialisten Salesforce.com, mit dem Sage bereits seit Jahren intensiv in punkto Weiterentwicklung der Plattform-Technologie zusammenarbeitet. Weitere Innovationen werden in Kooperation mit Universitäten, Start-ups und strategischen Partnern wie Apple oder Microsoft vorangetrieben. Wo es sinnvoll ist, kauft man Technologien auch dazu, um die notwendige Expertise direkt ins Unternehmen zu holen.

3.3

Technologien der „unsichtbaren Revolution“

Die neuen Technologien, von denen einige momentan eher noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen und deren Potenzial keinesfalls vollständig erfasst ist, werden das Leben – sowohl im geschäftlichen, als auch im privaten Bereich – in Zukunft radikal verändern und vereinfachen. Fachkreise sprechen hier sogar von einer „unsichtbaren Revolution“. Die Software wird irgendwann in der Lage sein, unsere menschlichen Kommunikationsmuster und Befehle zu erkennen, zu verstehen, die Kommandos selbstständig auszuführen, dazuzulernen und sich selbst dadurch kontinuierlich weiterzuentwickeln.

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Mit API-getriebenen Plattformen, künstlicher Intelligenz, neuronalen Netzen, Big Data und Data Analytics vollzieht sich zurzeit ein Paradigmenwechsel vom „Software-lernenden Anwender“ hin zu einer „Anwender-lernenden Software“. Deshalb wird zurzeit vor allem die technologische Entwicklung von einfach zu bedienenden Anwendungen vorangetrieben, um möglichst viele Menschen in die Lage zu versetzen, mit diesen modernen Lösungen zu arbeiten. Nur so kann die Kluft zwischen Systemen und Nutzern überbrückt werden. Somit stehen künftig nicht mehr die Verbesserung der Tools für die manuelle Prozessbearbeitung und administrative Systempflege im Vordergrund, sondern wesentliche Aufgaben und Prozesse durch selbstlernende Systeme automatisiert ablaufen zu lassen. Ziel ist die minimale Interaktion mit Endnutzern, die nahtlose Integration in jeden Geschäftsprozess, User-Compliance (also wie viele Klicks werden benötigt, um ein Problem zu lösen) sowie Geschäftseinblicke in Echtzeit. Ganz oben auf der Agenda muss jedoch immer der Nutzen des Kunden stehen, dessen Probleme schließlich mithilfe der Technologien gelöst und nicht verschlimmert werden sollen.

3.3.1 Buchhaltung und künstliche Intelligenz Der technologische Veränderungsprozess macht auch vor den Bereichen Rechnungswesen und Buchhaltungspraxis nicht Halt. Bereits heute bietet Sage „smarte“ Tools zur Handhabung der Abläufe in Buchhaltung, Gehaltsabrechnung, Zahlungsverkehr und Compliance an. Um den Schritt hin zur künstlichen Intelligenz zu vollziehen, werden nun verstärkt die Arbeitsmuster eines menschlichen Buchhalters unter die Lupe genommen. So muss sich ein Buchhalter täglich mit unterschiedlichsten Aspekten auseinandersetzen, zum Beispiel dem Arbeiten mit diversen Software-Tools wie der jeweiligen Buchhaltungssoftware, Excel oder der Nutzung von Steuer- und Bankportalen. Einige dieser Tätigkeiten sind relativ einfach und wiederholen sich, andere verlangen Einfallsreichtum und Fachwissen. Ein künstlich-intelligenter Buchhalter versucht nun, viele dieser Aufgaben zu übernehmen und auf diese Weise zum Partner des menschlichen Buchhalters werden. Dies würde Produktivität auf einem bislang nicht dagewesenen Niveau ermöglichen. Dafür reicht allerdings eine Änderung des Tools für Buchhaltung oder Gehaltsabrechnung (abgesehen von gewissen Modifikationen wie Schnittstellen für relevante Interaktionen) bei Weitem nicht aus. Eine umfassende Vision wie der künstlich-intelligente Buchhalter muss vielmehr in einzelne, diskrete Services unterteilt werden, die sich jeweils einer Sache annehmen. Zum Beispiel ein „Bank-Bot“, der einen Kontoauszug herunterlädt und

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ihn kontiert, oder ein „Cashflow-Bot“, der Zahlungsflüsse verwaltet, das Ausbleiben einer regelmäßigen Zahlung erkennt und viele mehr. Die Kombination aus all diesen Einzelleistungen wird irgendwann dazu führen, dass die Vision wahr wird. Definitiv wird diese digitale Transformation das Berufsbild grundlegend ändern. Die künstliche Intelligenz wird immer mehr unterstützend in Arbeitsabläufe eingreifen oder diese sogar übernehmen und dadurch neue Wege eröffnen. Der Buchhalter kann sich dann vielmehr auf die kreative Nutzung seiner fachlichen Expertise fokussieren und daraus Mehrwerte schöpfen, wie beispielsweise Prozesse und Abläufe verbessern sowie neue Möglichkeiten erschließen.

3.3.2 Chatbots als virtuelle Assistenten Auch den Chatbots wird in Zukunft als Multitool-Assistenten eine tragende Rolle im Arbeitsalltag zukommen. Dieser neue Typ einer kommunikativen Benutzerschnittstelle basiert auf der Eingabe natürlicher Sprache plus Sensoren- und Kontextdaten und kann Routineaufgaben automatisieren. Das Konzept wird manchmal als „unsichtbare App“ beschrieben. Ohne künstliche Intelligenz sind Chatbots jedoch nicht mehr als dialogbasierte „Oberflächen“. Der von Sage für die Buchführung entwickelte Chatbot Pegg™ ist ein erster Schritt, der einen Blick auf die kommende Revolution durch künstliche Intelligenz erlaubt. Pegg ist ein virtueller Assistent, der die Kluft zwischen Messaging-­Diensten und modernen Geschäftsanwendungen überbrückt. Er ermöglicht den Anwendern, finanzielle Transaktionen innerhalb von Messaging-Apps zu erfassen und zu verwalten. Unternehmer können ihre Geschäftsvorfälle direkt in eine Textnachricht hineindiktieren. Die Informationen werden sofort während der Aufnahme in eine digitale Form umgewandelt. So ist zum Beispiel die Verwaltung von Belegen oder Reisekosten zeitaufwendig und lästig. Mit Pegg läuft der Prozess reibungslos und intuitiv ab: Die Auslagen werden einfach per Textnachricht gemeinsam mit einem Bild des Beleges an den Bot geschickt. Das mühsame Erfassen und Archivieren der Belege entfällt. Das spart Papier und Arbeitsaufwand bei der Dateneingabe sowie bei der Archivierung der Abrechnungsformulare. Der Endnutzer bekommt auf diese Weise vom Buchhaltungsaufwand kaum mehr etwas mit. Mit der Einführung von Pegg kündigte Sage gleichzeitig eine Integration mit dem Business-Messaging-Dienst Slack an, ein webbasierter Instant-­Messaging-­ Dienst zur Kommunikation innerhalb von Arbeitsgruppen. Dieser dient als Nachrichten-Übermittlungsplattform, über die Pegg den Nutzern die Informationen zur Verfügung stellt, wenn diese sie benötigen.

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Durch die Integration in Wirtschaftssysteme, KI-Plattformen und Analysetools werden Chatbots mit aggregierten Daten aus kollektiver Intelligenz bald ein Dialogniveau erreichen, auf dem Anwender kaum mehr zwischen Mensch und Maschine unterscheiden können. In Verbindung mit Voice Analytics, psychologischen Modellen und verknüpft mit Kundenhistorien werden diese innovativen Lösungen sich zukünftig kontinuierlich selbst weiterentwickeln und auch Fähigkeiten wie Empathie und Sensibilität simulieren können. Nicht nur das: Auch Emotionen, die ihren Niederschlag in der menschliche Sprache finden, und Bedürfnisse von Anwendern werden erkannt, interpretiert und sofort automatisiert im Dialog mit dem Chatbot bedient: Ist ein Anwender zufrieden oder ärgerlich? Entwickelt sich der Gesprächsverlauf positiv, benötigt der Mitarbeiter weiterführend menschliche Hilfe? Signalisiert der Kunde Kaufinteresse? Dadurch können beispielsweise Vertriebsinitiativen wie Cross-Selling erfolgreich vorangetrieben, Kundenumfragen ersetzt, interne und externe Prozesse optimiert oder, im Fall der Fälle, eine menschliche Interaktionsaufnahme angestoßen werden.

3.3.3 Gemeinsam stark mit kollektiver Intelligenz Machine Learning (maschinelles Lernen) ist eines der Schlüsselkonzepte hinter künstlicher Intelligenz und basiert auf der Idee, cleveren Algorithmen Zugriff auf Daten zu geben und sie daraus selbst lernen zu lassen, statt deterministische Regeln anzuwenden. Im Unternehmen der Zukunft sind Daten deshalb so etwas wie die „neue Währung“ und ein nicht zu unterschätzender Produktivfaktor. Das Problem ist, dass dies erst durch die Akkumulation immer größerer Datenmengen möglich wird, was insbesondere kleinere Unternehmen vor eine große Herausforderung stellt. Denn diese sind dort oft einfach nicht vorhanden und der Aufwand, diese zu generieren – geschweige denn aufzubereiten und zu analysieren – ist im Alleingang kaum zu bewerkstelligen. Auch hier ist „Teambildung“ ein durchaus legitimes Mittel. Wenn Unternehmen ihre Kräfte (unter Beachtung der gesetzlichen Datenschutzrichtlinien) bündeln und Aggregatoren wie die Betreiber von Cloud-Plattformen nicht nur Rechnerleistung und Software, sondern auch Daten strukturiert, systematisch und vor allem vertraulich bzw. anonymisiert mit anderen Unternehmen teilen, können alle gemeinsam von einem besseren und größeren Datenpool und den Erkenntnissen profitieren, die aus der gemeinsam gebündelten Datenintelligenz abgeleitet werden können. Dies wird auch als „kollektive Intelligenz“ bezeichnet. Durch die viel reichhaltigeren Informationen könnten Unternehmen besser verstehen, wie sich Kunden verhalten, was sie ihnen anbieten können und in welchen Bereichen Investitionen sinnvoll sind. Denkbare Szenarien sind Benchmarks und

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Key Performance Indicators (KPIs), mit denen zum Beispiel ein Unternehmen den Ertrag pro Kopf und die Profitabilität mit dem Branchendurchschnitt vergleichen kann oder auf deren Basis Einstiegsgehälter ermittelt werden können. Eine andere Methode kollektiver Intelligenz ist die Analyse eines großen, aus vielen einzelnen, kleineren Datensätzen bestehenden Datensatzes auf Muster, die man andernfalls nicht erkennen würde. Zum Beispiel sind auf diese Weise saisonale oder regionale Trends, Kreditrisiken oder der Einfluss externer Faktoren wie des Wetters oder der Fiskalpolitik auf das Geschäft zu erkennen. Des Weiteren kann kollektive Intelligenz auch gegen das Verstecken zweifelhafter Vorgänge zum „Schutz in der Masse“ eingesetzt werden und beispielsweise erkennen, wann verspätete Zahlungen von größeren Unternehmen das Ergebnis systematischen Missbrauchs sind. Der Erfolg kollektiver Intelligenz steht und fällt mit der Akzeptanz einzelner Unternehmen. Sie muss gezielt und bewusst eingeführt und vermittelt werden und sollte unmissverständlich auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basieren. Elementar ist auch die Einhaltung der neuen europäischen Datenschutzrichtlinien.

3.4

Die Revolution von Finanztransaktionen

Die Art und Weise, wie Menschen Geld nutzen und ihre Zahlungen von einem Konto auf ein anderes überweisen, hat sich längst tief greifend geändert: In Apps eingebundene Zahlungslösungen ermöglichen es heute, am Front-End mühelos mit einem Mausklick zu bezahlen und Waren über Mobilgeräte oder Websites zu erwerben. Diese Funktionalität ist gegenwärtig bereits in vielen Apps verfügbar. Back-End-Systeme wie Buchhaltungsprogramme sind jedoch noch nicht so anwenderfreundlich und kaum in bestehende Systemlandschaften integriert. Unternehmen haben beispielsweise nahezu keine Möglichkeit, mit einem Mausklick Zahlungen zu veranlassen oder ihre finanziellen Transaktionen zwischen Partnern, Lieferanten und ihrer Bank mühelos auf Knopfdruck zu verwalten. Dies soll sich jedoch nun ändern: Zurzeit kommen immer mehr neue Lösungen auf den Markt, die es Unternehmen ermöglichen, für Zahlungen eine ganzheitliche Wertschöpfungskette mit ihren Lieferanten und Kunden aufzubauen. Diese Tools gewährleisten jederzeit und überall sofortige Transaktionen über alle Kanäle und werden vollständig in die Finanzbuchhaltungssysteme von morgen integriert sein. Alle Parteien, wie E-Commerce-Plattformen, Banken, FinTechs oder Partner, können dann von offenen Schnittstellenstandards profitieren, die für die Schaffung neuer Dienstleistungen Verwendung finden und eine nahtlose, vollautomatische Verarbeitung von Zahlungen und Finanztransaktionen ermöglichen.

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So können die neuen Technologien beispielsweise bei der Kredit- und Kapitalvergabe an kleine Unternehmen gute Dienste leisten, indem sie Finanzentscheidungen mit Echtzeitinformationen unterstützen oder ähnliches. Schon heute sind die Tools von Sage in der Lage, dynamische Bonitätsangaben zu liefern, mit denen ein Kreditgeber genau zur richtigen Zeit Darlehensentscheidungen treffen kann.

3.4.1 Blockchain: Buchführung im Alleingang Das Thema Blockchain könnte die Geschäftsmodelle ganzer Branchen verändern. Unter dem Begriff versteht man eine kontinuierlich erweiterbare Liste von Datensätzen, genannt „Blöcke“, welche mittels kryptografischer Verfahren miteinander verkettet sind. Jeder Block enthält dabei typischerweise einen kryptografisch sicheren Hash, also quasi einen unverwechselbaren „Fingerabdruck“ des vorhergehenden Blocks, einen Zeitstempel und Transaktionsdaten. Verwaltet wird die Blockchain von einem verteilten Netzwerk von Rechnern. Bevor eine Transaktion bestätigt werden und damit tatsächlich stattfinden kann, muss diese von den Rechnern im Netzwerk validiert und bestätigt werden. Dies erfolgt verschlüsselt, um die Sicherheit zu gewährleisten. Sobald das verteilte Netzwerk ein Quorum erreicht hat und die Transaktion verifiziert wurde, wird diese in einem Block festgehalten. Der Block wird dann wiederum in die verteilte Kette (eben die Blockchain) eingefügt und an alle beteiligten Rechner verteilt, so dass die komplette Information jederzeit auf allen Rechnern in einer nicht manipulierbaren Form gespeichert und für Mitglieder des Netzwerks einsehbar ist. Im Falle der Buchführung ist eine Blockchain eine Art verteiltes Hauptbuch, das mehreren Parteien erlaubt, verifizierte Transaktionen ohne einen zwischengeschalteten, unabhängigen Broker durchzuführen. Auch wenn mehrere Akteure am Vorgang beteiligt sind, wird ein Konsens über den richtigen Zustand der Buchführung erzielt. Auf diese Weise kann das System dezentral geführt werden. Daraus ergibt sich auch das disruptive Potenzial dieser Technologie: Die Notwendigkeit einer zentralen Autorität wie einem Notar, der für die Echtheit der Daten bürgt, entfällt. Diese zentralen Vermittler oder Zwischenstellen wie Banken, Notare, staatliche Behörden oder Handelsplattformen waren bisher nötig, um den Austausch bestimmter Vermögenswerte wie digitale Besitztümer, digitale Handelswaren oder digitale Verträge zu legitimieren. Nun erlaubt die Blockchain-Technologie Einzelpersonen die Übertragung dieser Vermögenswerte untereinander in direkter, sicherer und unabänderlicher Weise. Vertrauen ist selbstverständlich vorhanden, entsteht aber verteilt und durch Konsens.

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Blockchain kann auf fast jede Transaktionsart angewandt werden. Es gibt erste Einsatzbereiche zum Beispiel für die Steuererhebung, im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr, für Grundbesitz, für Personendaten und im Gesundheitswesen. Zwar konzentriert sich die gegenwärtige Entwicklung auf Finanzdienstleistungen, aber es gibt noch viele weitere Anwendungsmöglichkeiten in der Buchhaltung, bei Steuern, im Wirtschaftsprüfungsumfeld, im Personalwesen oder bei Lieferketten im Warenverkehr. Auch auf kleine und mittelständische Unternehmen wird diese Entwicklung Auswirkungen haben  – insbesondere auf Branchen, die als Vermittler zwischen zwei Parteien agieren wie Rechtsanwälte, Auditoren, Notare, Immobilien- oder Finanzmakler. Ebenfalls könnten Buchhalter und Rechnungsprüfer davon profitieren. So würde der Einsatz dieser Technologie im Alltag eine wesentliche Entlastung bedeuten, beispielsweise bei der Kontrolle und dem Buchen von Transaktionen, der Überweisung von Geld oder dem Bezahlen von Rechnungen, die heute noch in den Aufgabenbereich dieser Berufsgruppen fallen.

3.4.2 P  SD2 und die Möglichkeiten der CashflowAutomatisierung Auch die Umsetzung der EU-Zahlungsdienste-Richtlinie Payment Services Directive 2, kurz PSD2, bietet in Kombination mit künstlicher Intelligenz enorme Chancen, bestehende Geschäftsabläufe von Grund auf neu zu definieren. PSD2 löst seit Januar 2018 die Zahlungsdienste-Richtlinie PSD aus dem Jahr 2007 ab und soll elektronische Zahlungen in Geschäften und im Internet sicherer machen. Unter PSD2 sind Banken gehalten, Datenschnittstellen für zwei neue Typen von Serviceanbietern bereitzustellen: • den Anbietern von Kontoinformationen, die Daten aus mehreren Quellen aggregieren (Account Information Service Provider, kurz AISP), • den Anbietern von Zahlungsinitiierungsdiensten (Payment Initiation Service Provider, kurz PISP). Die Einführung von PISPs ermöglicht Anwendern, Zahlungen direkt zu initiieren, ohne dabei über die derzeitigen Kartenschemata und Serviceanbieter gehen zu müssen. Das bedeutet, der Zahler weist seine Bank an, das Geld direkt an die Bank des Empfängers zu senden. PSD2 wird oft als Bedrohung der Bankenlandschaft dargestellt, aber das muss nicht unbedingt so sein. PISP eröffnet die Möglichkeit, den Mittelmann im Zahlungsablauf und die damit verbundenen Transaktions- und Verarbeitungskosten zu eliminieren.

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Die Cloud-Finanzbuchhaltungslösung AP Optimizer für Sage Financials wurde vom Finanzunternehmen US Bank in Zusammenarbeit mit Sage und MasterCard entwickelt und ist ein Beispiel dafür, wie das aussehen könnte. Unternehmen sind damit in der Lage, ihren Cashflow durch dynamische Integration mit Kunden zu automatisieren. Denn der AP Optimizer ermittelt nahezu in Echtzeit den besten Zeitpunkt zum Bezahlen von Rechnungen sowie das für die Optimierung des Cashflows geeignetste Verfahren und führt dann die Zahlung aus.

3.5

Conclusio

Die neuen technologischen Möglichkeiten wie Bots, Machine Learning, künstliche Intelligenz und Blockchain werden in Zukunft die Kosten für Transaktionsabläufe und Compliance senken. Gleichzeitig wird auch die öffentliche Hand innovative Technologien einsetzen, zum Beispiel für Echtzeitbesteuerung und neue Besteuerungsformen. Das Nettoergebnis könnte ein technologischer Rüstungswettlauf sein, ein Nullsummenspiel, das letztlich auf dem Rücken von Buchhaltungs- und Finanzabteilungen ausgetragen wird. Dennoch bietet der Einzug von moderner Technologie in alle Unternehmensbereiche deutlich mehr Chancen als Risiken für kleine und mittelständische Firmen. Wer bereits heute damit beginnt, sich selbst als ganzheitliches in die Digitalisierung eingebettetes Unternehmen zu verstehen und die Möglichkeiten aufgreift, die diese Entwicklung mit sich bringt, wird auch langfristig wettbewerbsfähig bleiben. Dazu müssen zwar viele heutige und mehr oder weniger traditionelle Arbeitsweisen hinterfragt und geändert werden, aber der Aufwand lohnt sich: Viele dieser neuen Möglichkeiten vereinfachen die heute noch komplexen betriebswirtschaftlichen Prozesse für den Anwender in Zukunft wesentlich. Und sobald Maschinen beginnen, wie Menschen zu lernen, könnten diese Abläufe sogar völlig automatisiert werden. Auf diese Weise können sich Unternehmer auf ihr eigentliches Geschäft und vor allem viel mehr auf ihre Innovationskraft und Kreativität konzen­ trieren, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, anstatt sich mit administrativen Aufgaben zu beschäftigen. Deshalb sollte sich jedes Unternehmen bereits heute die Frage stellen, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf das eigene Geschäftsmodell hat und ob es dieses in der bisherigen Form kurz- oder langfristig überhaupt noch geben wird. Denn fest steht: Nur, wer sich jetzt mit den neuesten Trends beschäftigt und die richtigen Fragen stellt, wird auch in Zukunft die Nase vorne haben.

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Dr. Matthias Laux  ist Vice President Product Engineering Sage Payroll Cloud bei der Sage Management & Services GmbH. Er verantwortet den globalen Entwicklungsbereich für Payroll Cloud-Lösungen, der in zahlreichen Ländern moderne und sehr erfolgreiche Sage-Lösungen für die Lohnabrechnung für ein breites Kundenspektrum anbietet. Der Luft- und Raumfahrtingenieur hatte zuvor die Gesamtverantwortung für die Sage S ­ oftware-­Entwicklung in Zentraleuropa. Andere Stationen führten ihn in leitenden Positionen der Softwareentwicklung zu IBM Deutschland, Sun Microsystems sowie führenden Unternehmen im Bereich Software für das Gesundheitswesen. Klaus-Michael Vogelberg  ist Vorstandsmitglied der Firma Sage und als Chief Technology Officer verantwortlich für die globale Technologiestrategie und Software Architektur. Von 2004 bis 2007 war er Director R & D für Sage UK und Irland. Er trat mit der Übernahme der deutschen KHK Software 1997 in den Sage-Konzern ein, für die er ebenfalls als Director R & D sowie als Partner tätig war. Als Software Entrepreneur gründete Vogelberg bereits mit 19 Jahren sein erstes Unternehmen, parallel zu seinem Raumfahrt- sowie ­Wirtschaftsstudium.

4

Digitale Service-Transformation: Das Ende der Dienstleistung, wie wir sie kennen? Torsten Olderog

Inhaltsverzeichnis 4.1  4.2  4.3  4.4  4.5 

 igitalisierung als neue industrielle Revolution?  D Digitalisierung und Dienstleistung  Technologie als zentraler Teil der Leitungsbereitschaft  Qualität und Integrativität elektronisch unterstützter Dienstleistungen  Digitalisierung und Dienstleistung: Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung  4.5.1  Treiber der Nutzung von Selbstbedienungstechnologien  4.5.2  Bedeutung von Risiko für die Nutzung   iteratur  L

4.1

 51  55  56  59  63  64  65  66

Digitalisierung als neue industrielle Revolution?

Futuristen, Zukunftsforscher und ganze Industrien blicken auf strategischen und technologischen Fortschritt. Hierbei zählt das Schlagwort Digitalisierung bei der Betrachtung der rasanten Veränderung von Geschäftsprozessen vermutlich zu den populärsten Begriffen unserer Zeit. Dabei muss Digitalisierung zwingend mehr als ein eher diffuser Oberbegriff verstanden werden, denn als ein T. Olderog (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_4

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T. Olderog

konkretes und scharf abgrenzbares Phänomen. Wird man sich dieser Problematik auf der Suche nach dem Wie und Warum der schnelllebigen Veränderung von Prozessen bewusst, ist die Digitalisierung dann auch keine grundlegende Verschiebung von Wertschöpfungsstrukturen, sondern vielmehr eine inkrementelle Weiterentwicklung von Prozessen in Richtung lange bekannter Optimalitätskriterien. So gilt die Digitalisierung als Grundlage für die fundamentale Steigerung von Effizienz und Effektivität – die als Desiderat lange bekannt sind. Warum versprechen sich nun die Verfechter der Digitalisierung beeindruckende Sprünge in diesen Bereichen? Wir sollten der Tatsache auf den Grund gehen, wie sich durch den Prozess der Digitalisierung eine neue industrielle Revolution ankündigt. Doch wo können wir eventuelle Parallelen zu früheren Sprüngen in Effizienz und Effektivität ausmachen? Der Beginn unserer heutigen Industriegesellschaft, eine mechanisierte Produktion und ein völliger Umbruch der sozialen Verhältnisse: Der Kern der ersten großen industriellen Revolution war die Entwicklung der Dampfmaschine und durch sie die Dezentralisation der Kraft. Durch diese frühe Form des Verbrennungsmotors war es möglich, Kraft an beliebigen Stellen des Produktionsprozesses in fast beliebiger Stärke anzuwenden – die Abhängigkeit von Energiequellen wie menschlicher Arbeit beziehungsweise Wasser- oder Windkraft war aufgehoben. Wo aber können wir Parallelen zwischen der industriellen Revolution und der heutigen Digitalisierung ausmachen? Digitalisierung ist primär ein Phänomen, das sich auf Informationen und ihren Speicherzustand bezieht. Durch Digitalisierung werden Informationen in ein Format gebracht, das deren Codierung und Decodierung durch Maschinen sowie ihre Distribution über elektro­ nische Netze erlaubt. So war es sehr früh bereits möglich, Informationen beispielsweise auf Lochstreifen oder Magnetmedien zu speichern und einer späteren Maschinenverarbeitung zugänglich zu machen. Die wahre Kraft der Digitalisierung liegt jedoch in der Distribution dieser Informationen auf der Grundlage elektronischer Netzwerke. Geschieht diese Verteilung, sind elektronische Netzwerke dann auch die Basis für eine Dezentralisation von Informationen. Durch leitungsgebundene oder drahtlose Netze können Informationen an beliebigen Orten in Echtzeit bereitgestellt und unter Zuhilfenahme von digital vorliegenden Business-Logiken in Wertschöpfungsprozesse eingebunden werden. Information und in Teilen damit auch Wissen wird durch diese Entwicklung zu einer ubiquitär verfügbaren Ressource.

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Je stärker also die Wertschöpfung eines Unternehmens vom Vorhandensein von Informationen an der richtigen Stelle und in der richtigen Art abhängen, desto grundlegender wird dieses Unternehmen von der Digitalisierung in seiner marktfähigen Effizienz und Effektivität abhängen. Eine nicht zu verachtende Tatsache von tief greifender Wirkung, die Chancen und Risiken birgt. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Traditionell hängt die Urteilskraft eines Arztes stark davon ab, ob er bei einem Patienten die richtigen Informationen sammeln und zu einer Diagnose verarbeiten kann. Hierbei entscheidet in vielen Fällen die Erfahrung des Mediziners da­ rüber, ob er in der Lage ist, die vorhandenen Symptome vollständig und korrekt zu erfassen und zu deuten. Digitalisierung verändert schon heute diesen Zusammenhang fundamental. Denn immer häufiger werden Patientendaten beispielsweise in der Krebsdiagnostik in großen Datenbanken gesammelt und Bilder von Tumoren katalogisiert. Ziel dieser Datensammlung ist es, zu bildverarbeitenden Verfahren zu kommen, die es einem Computer erlauben, ein vorhandenes Ultraschallbild auf mögliche Tumore zu untersuchen und Behandlungsvorschläge zu machen. Die jahrelange Informationsverarbeitung des Arztes, die sich in seiner Erfahrung niedergeschlagen hat, wird also durch einen digitalen Speicher ersetzt und einer breiten Masse an Patienten zugänglich gemacht. Die Hoffnung ist, durch die Digitalisierung des Diagnoseprozesses zu effizienteren (weil schnelleren) und effektiveren (weil mit geringeren Fehldiagnoseraten versehenen) Ergebnissen zu gelangen. Aber auch in Wirtschaftsbereichen, in denen man weniger Potenziale durch die Digitalisierung vermuten würde, besitzt die maschinengetriebene Informationsverarbeitung beachtliche Potenziale. Bereits heute bearbeiten viele Landwirte ihrer Felder mithilfe digitaler Satellitenbilder, um die Feldbearbeitung zu optimieren. So lassen beispielsweise Lichtreflexionen von Feldpflanzen Schlüsse darauf zu, wie gut die Pflanzen in einem Bereich mit bestimmten Nährstoffen versorgt sind. Und im Rahmen des sogenannten Smart Farmings werden die Düngergaben dann genau auf die Mangelstoffe auf einer bestimmten abgetrennten Fläche reduziert. Abb. 4.1 zeigt eine solche Flächenanalyse, die dann die Grundlage für die hochindividuelle Feldbearbeitung ist (vgl. VISTA Geowissenschaftliche Fernerkundung GmbH 2018). Wenn man sich vor Augen führt, dass beide aufgeführten Bereiche in ihrer Effizienz und Effektivität maßgeblich von der Verfügbarkeit von Informationen abhängen, kann man erahnen, welches Potenzial eine Digitalisierung themen- und branchenübergreifend bietet.

To plan your plant protection measures with an optimized risk assessment using the TF Biomass Map.

To apply a cost-efficient solution for soil probing using the satellite-based TF Zone Map

Abb. 4.1  Digitale Flächenanalyse in der Landwirtschaft

To check the success of your management decisions, including measures to promote ecological sustainability

To get valuable information for your crop management and a basis for your application maps via the TF Base Map, which shows the persistent relative fertility based on multi-year satellite images.

To optimize your econimic planning using the TF Yield Map and TF Yield Forecast.

The services enable you:

Mit Satellitendaten kann eine Vitalitätsanalyse für jedes Feld durchgeführt werden, um das Potential des Standortes zu ermitteln. Dadurch wird eine Abschätzung der ökonomischen Vorteile zukünftiger teilflächenspezifischer Bearbeitung möglich.

Satellitenbilder verschaffen Übersicht, zeigen Muster und erlauben eine Abschätzung der Heterogenität im Feld. Daher können diese Bilder Landwirte in ihren Entscheidungs prozessen unterstützen.

54 T. Olderog

4  Digitale Service-Transformation: Das Ende der Dienstleistung, wie wir sie …

4.2

55

Digitalisierung und Dienstleistung

Im Wettlauf um Effizienz und Steigerung kann sich auch die Dienstleistung der Digitalisierung nicht entziehen, mehr noch kann sie sich entwickeln und spezialisieren. Dieser Veränderungsprozess wird durch das Schlagwort der digitalen Service-­Transformation gekennzeichnet. Hierbei werden die Strukturparameter der Digitalisierung genutzt, um Dienstleistungen effizienter und effektiver entwickeln, vertreiben oder herstellen zu können. Bevor man nun einen Blick auf die Veränderungen in der Dienstleistung durch die Digitalisierung werfen kann, lohnt es sich, das Augenmerk auf die charakteristischen Merkmale von Dienstleistungen zu richten. Denn durch sie offenbart sich das Potenzial der Informationsverteilung und -verarbeitung. Das wohl offensichtlichste Merkmal von Dienstleistungen ist, dass sie nicht stofflich sind. Dies bringt eine ganze Reihe von Herausforderungen mit sich, die unter anderem im Qualitätsmanagement zu sehen sind. In enger Verbindung mit der Nichtstofflichkeit liegt die Nichtlagerbarkeit. Denn Dienstleistungen werden vom Dienstleister live erbracht und zum Zeitpunkt ihrer Entstehung bereits konsumiert. Dies wird gemeinhin als Uno-Actu-Prinzip bezeichnet (vgl. Meffert et al. 2015, S. 34). Als Folge dieses Charakterzuges lassen sich Herausforderungen im Zusammenhang mit der Kapazitätsplanung identifizieren. Denn der Dienstleister braucht in der Regel eine Infrastruktur, die er ex ante bereitstellen und vorhalten muss. Eng verwoben mit diesem Prinzip der Simultanität von Konsumtion und Produktion ist die Integration des externen Faktors in den Dienstleistungserstellungsprozess. Denn der Dienstleister ist in der Regel nicht in der Lage, seine Dienstleistung ohne Zutun des Kunden oder eines in seinem Einflussbereich befindlichen Gegenstandes zu tun. Diese Integrativität ist es auch, die Interaktionen zwischen dem Dienstleister und seinem Kunden einschließlich des Informationsaustausches notwendig machen. Und zu guter Letzt ist bei den meisten Dienstleistungen der Mensch ein zentraler Leistungsträger und damit auch wesentlicher Einflussfaktor auf die wahrgenommene Qualität der Dienstleistung. Dies kann so weit gehen, dass der Kunde eine objektiv fachlich minderwertige Dienstleistung aufgrund der menschlichen Interaktion mit den Dienstleister höher wertschätzt, als eine fachlich perfekte Dienstleistung mit einer unangenehmen Interaktion. Die Interaktion des Dienstleisters ist damit ein wesentlicher Katalysator der Qualitätswahrnehmung durch den Kunden (Abb. 4.2).

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T. Olderog

1. Externer Faktor

Dienstleistungen gehen nie alleine –der Dienstleister braucht einen externen Faktor für seine Dienstleistung (Kunde oder Sache): Will der Digital?

2. Integrativität

Der externe Faktor muss meist bei der Dienstleistung mitmachen. Dadurch hat der Kunde die Rollen KÄUFER und CO-PRODUZENT.

3. Immaterialität

Dienstleistungen haben in der Regel keinen stofflichen Teil – aber die DL kann an materiellen Dingen vollzogen werden (Haare schneiden).

4. Uno-Actu-Prinzip

Produktion und Konsum von Dienstleistungen fallen zusammen – sie können nicht gelagert werden: Fehler schlagen durch

5. Leistungsfähigkeit

Um eine Dienstleistung erbringen zu können, müssen meist bestimmte Potenziale vorgehalten werden um die Leistungsfähigkeit zu erreichen.

Abb. 4.2  Charakteristika von Dienstleistungen

Die charakteristischen Kennzeichen der Dienstleistung verdeutlichen, dass der Austausch von Informationen und deren zielgerichtete Verarbeitung einen wesentlichen Teil der Wertschöpfung ausmachen. Denn es sind Informationen, die es dem Kunden ermöglichen, die nicht stoffliche Dienstleistung überhaupt erst zu beurteilen. Und auch die simultanen Produktions- und Konsumptionsprozesse lassen sich nur durch den Austausch und die Verarbeitung von Informationen koordinieren. Anders wäre es dem Dienstleister nicht möglich, die Kunden in den Prozess der Dienstleistung einzubinden und die erforderte Leistung zu erbringen. Wenn aber Information das Rückgrat der Dienstleistung ist und Informationen durch die Digitalisierung besser als je zuvor verarbeitet und distribuiert werden konnten – was ist dann die Zukunft der Dienstleistung? Worin liegen die Chancen? Wie werden sich Dienstleistungen verändern müssen, um langfristig wettbewerbsfähig zu sein? Und was wird sich auch durch Digitalisierung nicht verändern? Diesen zentralen Fragen geht dieser Beitrag auf den Grund.

4.3

 echnologie als zentraler Teil der T Leitungsbereitschaft

Interaktionen sind ein zentraler Teil der Dienstleistung und haben einen bedeutenden Einfluss auf ihre Qualität. Denn die Art und Weise des Informationsaustausches sowie der zwischenmenschliche Kontakt bestimmen das Qualitätsurteil des Kunden maßgeblich.

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Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass das Marketing für Dienstleistungen diese Interaktionen als wesentlichen Bestandteil aufnehmen. So fokussiert das traditionelle, an Sachgütern ausgerichtete Marketing, vor allem auf die Beziehung zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden. Dieser Sichtweise liegt der immanente Fakt zugrunde, dass das Unternehmen mit seinen Mitarbeitern eine monolithische Einheit bildet und vom Kunden nicht differenziert wahrgenommen wird. Für Dienstleistungen kann aber nicht von einer solchen in sich geschlossenen und verwobenen Einheit ausgegangen werden. Vielmehr muss bedacht werden, dass der Kunde das Unternehmen als Anbieter und seine Mitarbeiter als Interaktionspartner differenziert wahrnimmt. Als Folge wird das Marketing für Dienstleistungen gerne als Dreiecksbeziehung zwischen dem Unternehmen, seinen Kunden und den Mitarbeitern des Unternehmens verstanden. Hierbei zielt das externe Marketing auf die Beziehung zwischen dem Unternehmen und dem Kunden ab und nimmt damit die traditionelle Perspektive des Sachgütermarketings ein. Die Beziehung zwischen dem Unternehmen und seinen Mitarbeitern wird demgegenüber als internes Marketing bezeichnet. Es beschreibt die Ausrichtung von Unternehmensaktivitäten auf die Mitarbeiter, um diese für die Interaktion mit den Kunden im Sinne des externen Marketings bereit zu machen. Meffert, Bruhn und Hadwich (Meffert et al. 2015) bezeichnen das interne Marketing daher auch als personalpolitisches Rahmenkonzept im Unternehmen (vgl. Meffert et al. 2015, S. 403 ff.). Die Querverbindung zwischen den Mitarbeitern und den Kunden wird dann als interaktives Marketing bezeichnet, da es die Interaktion zwischen den Mitarbeitern und den Kunden beziehungsweise deren Gestaltung im Rahmen eines Marketing-­ Gesamtkonzepts zum Gegenstand hat (Abb. 4.3). Durch die Digitalisierung kommt für die Dienstleistung eine weitere Dimension der Informationsaufnahme und der Interaktion hinzu: Kunden können nun nicht mehr nur mit den Mitarbeitern, sondern auch mit elektrischen Interfaces kommunizieren und über diese ihre Dienstleistungen empfangen. So eröffnet das Onlinebanking Kunden vollkommen neue Möglichkeiten mit Banken zu kommunizieren, Informationen abzurufen oder zu nutzen und Kernleistungen selbst zu initiieren und herzustellen. Gleichzeitig bietet die Informationsverteilung auf der Basis elektronischer Netze auch den Mitarbeitern neue Möglichkeiten, ihre Leistungen für die Kunden zu erbringen. So können Bankmitarbeiter auf die Daten eines Kunden vollumfänglich zugreifen und auf dieser Grundlage ihre Beratungsleistung optimieren.

58

T. Olderog

Dreiecksmodell des Dienstleistungsmarketing Unternehmen

Externes Marketing

Internes Marketing

Mitarbeiter

Interaktives Marketing

Kunde

Abb. 4.3  Traditionelles Dienstleistungsmarketing

Für Dienstleistungsunternehmen erwächst hieraus die Notwenigkeit, ihre technischen Schnittstellen zu Kunden und Mitarbeitern immer wieder zu überdenken und zu optimieren. Denn nur, wenn technische Schnittstellen und Oberflächen so gestaltet sind, dass Kunden und Mitarbeiter zielgerichtet mit ihnen interagieren können, sind sie eine echte Hilfestellung für die Dienstleistung und können deren Effizienz und Effektivität verbessern. In Bezug auf die obige Darstellung ergibt sich durch die technische Interkation eine Position der Technologie in der Mitte des traditionellen Dreiecks des Dienstleistungsmarketings: Unternehmen gestalten die Technologie und Kunden sowie Mitarbeiter greifen im Rahmen der Dienstleistungserstellung auf sie zurück (Abb. 4.4). Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass sich durch die fortschreitende Digitalisierung erhebliche Chancen für die Dienstleistung ergeben und auch das Dienstleistungsmarketing betroffen ist. Hierauf aufbauend stellt sich die Frage, in welcher Form wichtige Aspekte des Dienstleistungsmanagements betroffen sind und welche Gestaltungsaspekte sich aus der Digitalisierung für die Dienstleistung ergeben. Im Folgenden soll ein Blick auf zwei für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen sehr wichtige Handlungsfelder des Dienstleistungsmanagements geworfen werden: Die wahrgenommene Qualität von Dienstleistungen bei sich verändernden Kundenerlebnissen und die Integration von Kunden in den Leistungsprozess bei Dienstleistungen.

4  Digitale Service-Transformation: Das Ende der Dienstleistung, wie wir sie …

59

Dreiecksmodell des Dienstleistungsmarketing Unternehmen

Internes Marketing

Externes Marketing

Technologie

Mitarbeiter

Interaktives Marketing

Kunde

Abb. 4.4  Digitales Dienstleistungsmarketing

4.4

 ualität und Integrativität elektronisch Q unterstützter Dienstleistungen

Die wahrgenommene Qualität von Dienstleistungen spielt für die Positionierung und die Wettbewerbsfähigkeit von Dienstleistungsangeboten eine zentrale Rolle. Denn nur wenn es einem Unternehmen gelingt, seine Kunden von der Werthaltigkeit und Überlegenheit seiner Leistungen zu überzeugen, kann es langfristig bestehen. Für Dienstleistungen ist die Qualität jedoch aufgrund der Immaterialität und der Integrativität nur sehr schwer einzuschätzen. Richtungsweisende Arbeiten zu diesem Themenfeld stammen beispielsweise von Parasuraman et  al. (1985) sowie Cronin und Taylor (1992). Eine Übertragung dieser Überlegungen auf den elektronischen Handel stammt von Bauer et al. (2004). Dieser Ansatz integriert beispielsweise auch die Bedeutung der technologischen Plattform für die eigentliche Dienstleistung. Für die Evaluation des Einflusses der Digitalisierung auf die wahrgenomme Dienstleistungsqualität in etablierten Dienstleistungsbranchen  – also nicht erst durch die Digitalisierung entstandene Dienstleistungsformen, wie zum Beispiel Such- oder Aggregationsdienste im Internet – erscheint es ratsam, auf eine initiale Überlegung Parasuraman et al. (1985) zurückzugreifen, nämlich das GAP-Modell (gap, engl. Lücke). Dieses Modell skizziert die Gründe für eventuelle Unzufriedenheit von Kunden mit Dienstleistungen und führt diese auf fünf wesentliche Lücken im Leistungserstellungsprozess zurück. Abb. 4.5 stellt dieses Modell im Überblick dar.

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T. Olderog

GAP-Modell der Kundenzufriedenheit in der Dienstleistung Mund-zu-Mund Propaganda

Bedürfnisse des Kunden

Erfahrungen aus der Vergangenheit

Erwartungen des Kunden

5 Wahrgenommene Leistung Leistungserstellung

1

3

4

Leistungsdarstellung in der Werbung

Umsetzung der Erwartungen der Kunden in Anweisungen

2 Kunden-Erwartungen aus Sicht des Managements

Abb. 4.5 GAP-Modell

Ausgangspunkt des GAP-Modells sind die Erwartungen von Kunden an eine Dienstleistung, die sich aus dem über Mund-zu-Mund-Propaganda Erfahrenen, den eigentlichen Bedürfnissen sowie den Erfahrungen aus der Vergangenheit speisen. Hierbei beziehen sich die Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht ­ausschließlich auf die Erlebnisse mit einem bestimmten Dienstleistungsanbieter, sondern auch auf mit aus Sicht des Kunden vergleichbaren Erfahrungen mit Dienstleistern. Die Digitalisierung eines Anbieters determiniert also die Erwartungen des Kunden an eine gesamte Branche: Kunden, die es zum Beispiel gewohnt sind, ein Hotel über das Internet zu buchen und dann auch über das Internet einzuchecken, werden mit Unverständnis auf Anbieter reagieren, die weder das eine noch das andere anbieten. Das GAP-Modell stellt diese Erwartungen der Kunden zunächst den Wahrnehmungen des Managements eines Unternehmens gegenüber. Weichen beide voneinander ab, ist die erste Lücke gefunden: Das Unternehmen kann die Erwartungen des Marktes unabhängig von seinen Anstrengungen nicht erreichen, da das Management es in die falsche Richtung lenkt. Ist dies nicht der Fall und versteht das Management die Erwartungen seiner Kunden richtig, kommt es als Nächstes darauf an, ob das Management in der Lage ist, diese Kundenerwartungen korrekt und widerspruchsfrei in Anweisungen zu kodifizieren.

4  Digitale Service-Transformation: Das Ende der Dienstleistung, wie wir sie …

61

Denn nur dann kann die Leistungserstellung in einem Unternehmen entsprechend der Kundenerwartungen erfolgen. Weichen verstandene ­Anweisungen und Marktanforderungen voneinander ab, liegt die zweite Lücke im GAP-­Modell vor. Sind auch die Anweisungen des Managements marktkonform, kommt es auf die Leistungserstellung und die Frage, ob die Anweisungen korrekt umgesetzt werden, an. Sind die Mitarbeiter – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage, die Anweisungen korrekt umzusetzen, kommt es zur dritten Lücke. Die vierte Lücke entsteht, wenn die Darstellung der Leistung in der Werbung signifikant von der internen Leistungserbringung abweicht. Die finale Lücke im Modell von Parasuraman, Zeithaml und Berry (Parasuraman et al. 1985) ist dann die Abweichung von schlussendlicher Leistungserstellung und Erwartung durch den Kunden. Sie wird als ursächlich für Defizite in der Qualitätswahrnehmung angesehen. (Vgl. Parasuraman et al. (1985), S. 44 f.) Welchen Einfluss hat nun die Digitalisierung auf die Mechanik dieses Modells der wahrgenommenen Dienstleistungsqualität? Ganz grob kann gesagt werden, dass sie als eine Art Beschleuniger in allen Bereichen wirkt. So unterliegen die Erwartungen der Konsumenten einer nie gekannten Dynamik, welche vor allem dem schnellen Informationsaustausch primär in den sozialen Medien geschuldet ist. Gleichzeitig sorgt dieser Datenaustausch dafür, dass das Internet auch für die Marktforschung in Unternehmen als eine hervorragende Quelle zur Einsichtnahme in die Präferenzen und Sichtweisen von Kunden dient. Die Umsetzung von Anforderungen an die eigene Leistung in Anweisungen durch das Management wird durch elektronische Kommunikationsmittel in Unternehmen stark unterstützt. So können Unternehmenslenker auch von großen multinationalen Konzernen via Chats, Blogs oder E-Mails in Echtzeit mit den Mitarbeitern kommunizieren und ihre Sicht auf Leistungsanforderungen darstellen. Die Überführung der Managementanweisungen in konkrete Leistungen betrifft dann vor allem die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter. Hier gibt es schon lange das Schlagwort vom lebenslangen Lernen und der fortwährenden Anforderung an die Entwicklung der Mitarbeiter. Aber noch nie waren die Anforderungen an die Entwicklung so groß – bei gleichzeitig explosionsartig wachsenden Möglichkeiten zur Entwicklung. Die Darstellung der Leistung eines Unternehmens ist durch das Internet und die fortschreitende Digitalisierung schließlich deutlich komplexer geworden, da durch soziale Medien die Herkunft von Informationen für den Konsumenten immer schlechter zu differenzieren ist. So kann es sein, dass sich die Leistungsdarstellung für ein Unternehmen durch Bewertungen von Kunden in den sozialen Medien deutlich von der unternehmenseigenen Kommunikation unterscheidet. Unternehmen verlieren folglich teilweise die Hoheit über die eigene Leistungsdarstellung.

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T. Olderog

Diese Überlegungen zeigen wichtige Herausforderungen für Dienstleistungsunternehmen auf, die die wahrgenommene Qualität ihrer Leistung auch in Zukunft gezielt gestalten wollen. Um das Bild des Qualitätsmanagements von Dienstleistungsunternehmen zu vervollständigen, muss jedoch neben der Unternehmensleistung auch noch eine zweite Dimension betrachtet werden: Die Leistung des Kunden im Rahmen der Dienstleistungserstellung. Denn der Kunde ist aufgrund der Integrativität häufig eine Art Co-Produzent für Dienstleistungen – mit entsprechenden Konsequenzen für die Qualität. (Vgl. Haller (2017), S. 248 ff.) Als Beispiel muss man nur an eine Hochschule denken: Sie stellt für die Studierenden eine Lerninfrastruktur als Leistungspotenzial bereit – der eigentliche Lernprozess ist dann aber ohne das Zutun der Studierenden selbst nicht vorstellbar. Und auch auf das Resultat der Lehrdienstleistung haben die Studierenden vermutlich einen größeren Einfluss, als die Hochschule als Dienstleister. Dienstleistungen werden also nicht nur vom Dienstleister hergestellt, sondern sind vielmehr das Resultat einer Co-Produktion von Kunde und Dienstleister.1 Dienstleistungen stellen also immer ein Leistungsbündel dar, bei dem in einem gewissen Maße Leistungen des Dienstleisters durch Leistungen des Kunden kompensiert werden können. Den Grad der Leistungssubstitution kann man anhand einer sogenannten Iso-Leistungslinie darstellen (vgl. Meffert et al. 2015, S. 26). Der Begriff der Iso-Leistungslinie soll verdeutlichen, dass es eine Linie identischer Leistungen ist, die sich nur danach unterscheidet, wer diese Leistungen erbringt. Es wird also implizit von einer Substitutionsbeziehung zwischen Dienstleister und Kunden ausgegangen. Abb. 4.6 verdeutlich dies in Anlehnung an Meffert et al. (2015). Der Zusammenhang der Iso-Leistungslinie ist nicht neu und auch keine Konsequenz aus der Digitalisierung – allerdings erfährt das Konzept eine neue Dynamik, da der Kunde auf der Basis digitaler Technologien erheblich weiter in den Produktionsprozess eingreifen und Einfluss nehmen kann. Zugleich kann er in wesentlich größerem Maße Leistungen beisteuern, als dies früher der Fall war. Hierbei muss man nur an das Onlinebanking denken, wo der Kunde seine Überweisungen selbst eingibt und bucht. Oder aber die Datenerfassung bei Hotels oder Autovermietungen – Tätigkeitsbereiche, die früher zwangsläufig einen Mitarbeiter erforderten, übernimmt heute der Kunde wie selbstverständlich. Aber nicht nur der Kunde übernimmt Leistungen. Viele insbesondere standardisierte und auf starren Regeln basierende Dienstleistungen werden heute komplett auf der Basis digitaler Technologien erbracht. So ist das Vertragsmanagement von Versicherungen in vielen Bereichen bereits vollkommen automatisiert  Haller (2017) bezeichnet den co-produzierenden Kunden dann auch als Prosumer, um die zweiseitige Rolle zu verdeutlichen, vgl. Haller (2017), S. 248. 1

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63

Kunde als Co-Produzent: Die Iso-Leistungslinie der Dienstleistung Aktivitätsgrad des Nachfolgers

Isoleistungslinie

Anfahrt + Platzsuche + Bedienung + Speisezusammenstellung

Selbstbedienungsrestaurant Externalisierungsstrategie

Anfahrt + Platzsuche + Bedienung

Fast-Food-Restaurant Internalisierungsstrategie Klassisches Restaurant

Anfahrt

Lieferservice

Bestellung

Speisezubereitung = Mindestaktivität des Anbieters

Speisezusammenstellung + Speisezubereitung

Platzsuche + Bedienung + Speisezusammenstellung + Speisezubereitung

Anfahrt + Platzsuche + Bedienung + Speisezusammenstellung + Speisezubereitung

Aktivitätsgrad des Anbieters

Abb. 4.6 Iso-Leistungslinie

und erfordert schon regelmäßig keine Eingriffe von Menschen mehr (vgl. Grassmann und Sutter 2016, S. 100). Die Digitalisierung wird also absehbar zwei Konsequenzen für die Iso-­ Leistungslinie haben: Zum einen wird sich der akzeptierte Optimalitätspunkt in Richtung der Leistungserstellung durch den Kunden verschieben. Und zum anderen wird in zukünftiger Forschung zu klären sein, ob das Modell nicht durch eine dritte Dimension zu erweitern ist: die Technologie.

4.5

 igitalisierung und Dienstleistung: Ergebnisse der D wissenschaftlichen Forschung

Bisher wurde auf den Einfluss der Digitalisierung der Dienstleistung eingegangen und dargestellt, an welchen Stellen Steigerungen von Effektivität und Effizienz denkbar erscheinen. Voraussetzung für solche Entwicklungen ist aber, dass digitale Technologien vom Kunden im Dienstleistungsprozess akzeptiert und geschätzt werden.

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T. Olderog

In der wissenschaftlichen Forschung wird daher der Akzeptanz, insbesondere von Selbstbedienungstechnologien, große Aufmerksamkeit gewidmet. Denn sie bildet einerseits die Basis für die Verschiebung der Iso-Leistungslinie in Richtung des Kunden und zum anderen für die Digitalisierung des Kundenleistungsbeitrags und damit die Grundlage für den Einsatz digitaler Technologien in Folgeschritten der Leistungserstellung.

4.5.1 Treiber der Nutzung von Selbstbedienungstechnologien In einer weithin beachteten Studie haben sich Davis et al. (1989) bereits kurz nach dem Aufkommen von Bankautomaten damit auseinandergesetzt, wovon es abhängt, ob die Kunden die neuen technologischen Möglichkeiten nutzen. (Davis et al. 1989) Hierbei entwickelten sie eine vierstufige Wirkungskette, deren Ausgangpunkt zwei wichtige Konstrukte sind: wahrgenommener Nutzen durch die neue Technologie und wahrgenommene Einfachheit der Nutzung. Diese beiden Variablen wirken sich gemeinsam auf die Einstellung von Kunden zu Selbstbedienungstechnologien aus. So wird die Einstellung dieser um so positiver sein, je größer der erwartete Nutzen der Technologie ist und je geringer die erwarteten Schwierigkeiten sind. Gleichzeitig wirkt die Einstellung zur Technologie auf die Verhaltensabsicht, die parallel auch noch von der Nutzenerwartung direkt beeinflusst wird. Und am Ende ist es dann nicht mehr verwunderlich, dass die Verhaltensabsicht das schlussendliche Verhalten determiniert (Abb. 4.7).

Wirkungsmodell der Nutzung digitaler Selbstbedienungstechnologien

Wahrgenommener Nutzen

Einstellung Wahrgenommene Einfachheit der Nutzung

Abb. 4.7 Nutzungsdeterminanten

Verhaltensabsicht

Verhalten

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65

Auch wenn dieses Modell bereits einige Jahrzehnte alt ist, besitzt es doch erhebliche Erklärungskraft für aktuelle Entwicklungen. Denn noch heute hängt die Akzeptanz von digitalen Angeboten davon ab, ob der Kunde einen Nutzen erkennt und ob er sich die Nutzung (fachlich) zutraut. Der steigende Anteil älterer Internetnutzer lässt erkennen, dass insbesondere immer intuitivere Oberflächen und die gleichzeitig starken Netzwerkeffekte, insbesondere sozialer Medien, Nutzungsbarrieren absenken. Anbieter digitaler Dienstleistungen müssen sich also nach wie vor genau um diese beiden Aspekte kümmern: eine klare Nutzenargumentation und eine intuitive Nutzbarkeit.

4.5.2 Bedeutung von Risiko für die Nutzung In der Vergangenheit hat sich insbesondere das empfundene Nutzungsrisiko im Zusammenhang mit digitalen Transaktionen als Barriere der Diffusion erwiesen. So nehmen insbesondere ältere Menschen im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Angebote Risiko wahr und schränken daher den Umfang der Nutzung ein. Aber auch der Onlinehandel in weiten Bereichen des täglichen Bedarfs wird durch Risikowahrnehmungen im Bereich der Qualität der Waren gehemmt. In diesem Zusammenhang untersuchen Bauer et  al. (2005) die Struktur des wahrgenommenen Risikos im Zusammenhang mit Onlinebanking, um dessen Einfluss im Rahmen des Modells von Davis et al. (1989) besser zu verstehen. (Vgl. Bauer et al. 2005) Hierbei unterscheiden die Autoren vier wesentliche Arten von Risiken, die aus ihrer Sicht die Diffusion des Onlinebankings beeinflussen: • Funktionale Risiken: Das Risiko, dass gewünschte Ergebnisse mit dem Onlinebanking nicht erzielt werden (also beispielsweise Überweisungen nicht funktionieren). • Finanzielle Risiken: Das Risiko, im Zusammenhang mit der Abwicklung von Banktransaktionen über das Internet einen finanziellen Schaden zu erleiden. • Soziale Risiken: Das Risiko, dass das soziale Umfeld die Nutzung von Onlinebanking für unklug hält. • Psychologische Risiken: Das Risiko, dass die Nutzung des Onlinebankings zu Unbehagen und unangenehmer Anspannung beim Nutzer führt. Diese vier Teilrisiken vereinen sie im Rahmen einer konfirmatorischen Faktorenanalyse zu einem Risikokonstrukt und kommen zu dem Ergebnis, dass das empfundene Risiko die Absicht zur Nutzung von Onlinebanking maßgeblich beeinflusst und vor allem durch empfundene Schwierigkeiten bei der Nutzung geschürt wird (Abb. 4.8).

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T. Olderog

Wahrgenommenes Risiko im Online-Banking Wahrgenommenes Risiko

Funktionales Risiko

Finanzielles Risiko

Soziales Risiko

Psychologisches Risiko

Abb. 4.8  Wahrgenommenes Risiko

Für die Digitalisierung der Dienstleistung haben die gezeigten Studien richtungsweisende Bedeutung, denn durch den integrativen Charakter der Dienstleistung und die latente Unsicherheit bei der Qualitätsbeurteilung durch die Immaterialität spielt die Diffusion neuer Technologien eine zentrale Rolle. Während Industrieunternehmen ohne größere Rücksicht auf ihre Kunden die Digitalisierung für sich nutzen können, müssen Dienstleister ihre Kunden auf dem Weg der Digitalisierung mitnehmen. Hierbei helfen die dargestellten Erkenntnisse zur Nutzung digitaler Technologien grundsätzlich weiter. Gelingt die Diffusion von digitalen Technologien im Dienstleistungsbereich, kann die digitale Service-Transformation gelingen und erfolgreich gestaltet werden. Dann steht auch bemerkenswerten Sprüngen in Effizienz und Effektivität nichts mehr im Wege und die Dienstleistung kann ein Stück weit zur Industrieproduktion in Bezug auf die Wertschöpfung aufholen.

Literatur Bauer, H.  H., Falk, T., & Hammerschmidt, M. (2004). Messung und Konsequenzen von Servicequalität im E-Commerce  – Eine empirisch Analyse am Beispiel des Internet-­ Banking. Marketing ZFP, 26, 45–57. Bauer, H. H., Falk, T., & Kunzmann, E. (2005). Akzeptanz von Self-Service Technologien – Status Quo oder Innovation? https://ub-madoc.bib.uni-mannheim.de/42485/1/W090_ Akzeptant%20von%20Self-Service%20Technologien_Status%20Quo%20oder%20Innovation.pdf. Zugegriffen am 28.02.2018.

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Cronin, J., & Taylor, S. (1992). Measuring service quality. A reexamination and extention. Journal of Marketing, 56(3), 55–68. Davis, F. D., Bagozzi, R. P., & Warshaw, P. R. (1989). User acceptance of computer technology: A comparison of two theoretical models. Management Science, 35(8), 982–1003. Grassmann, O., & Sutter, P. (2016). Digitale Transformation im Unternehmen gestalten. München: Carl Hanser. Haller, S. (2017). Dienstleistungsmanagement. Wiesbaden: Springer Gabler. Meffert, H., Bruhn, M., & Hadwich, K. (2015). Dienstleistungsmarketing Grundlagen  – Konzepte – Methoden. Wiesbaden: Springer Gabler. Parasuraman, A., Zeithaml, V. A., & Berry, L. L. (1985). A conceptual model of service quality and its implications for future research. Journal of Marketing, 49(4), 41–50. VISTA Geowissenschaftliche Fernerkundung GmbH. (2018). Smart Farming. http://www. vista-geo.de/portfolio-items/smart-farming. Zugegriffen am 27.02.2018.

Prof. Dr. Torsten Olderog  ist Professor für Marketing und Dienstleistungsmanagement an der AKAD University. Hierbei steht die marktorientierte Ausrichtung von Dienstleistungen im Zentrum seiner Lehre und Forschung. Digitalisierung und die Kombinationen von Dienstleistungen mit Sachgütern spielen hier eine besondere Rolle. Parallel zur Hochschultätigkeit berät er zahlreiche Dienstleistungsunternehmen bei Themen rund um Vertrieb, Veränderungen durch Digitalisierung, Personalentwicklung und Weiterbildung. Zudem entwickelt und erstellt er Onlinesoftware. Als Speaker und Moderator ist er für seinen locker-launischen Vortragsstil bekannt, der Erkenntnis und Humor zielführend verbindet.

5

#digital steps are minimal steps: Mit Sensoren ins Internet der Dinge – mit Innovationsmanagement zur digitalen Strategie Markus Haid

Inhaltsverzeichnis 5.1  5.2  5.3  5.4 

5.1

Digitale Transformation...........................................................................................  69 Digitale Strategie.....................................................................................................  70 In fünf Schritten ins Internet der Dinge...................................................................  71 Die Rolle der Sensorik.............................................................................................  72

Digitale Transformation

Nach Datei-Transfer, E-Commerce und Social Media stellt das Vernetzen von Geräten die nächste Stufe des Internets dar. Dieses sogenannte Internet of Things zählt zu den wichtigsten Innovationstreibern für Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Für viele kleine und mittelständige Unternehmen sind die Bedeutung des Internet of Things und die Digitalisierung oft schwer greifbar und eine konkrete Umsetzungsstrategie einer digitalen Transformation im Unternehmen bzw. Verantwortungsbereich nicht vorhanden. Jeder Bereich, jede Abteilung und jedes Unternehmen wird über kurz oder lang eine eigene digitale Strategie mit einem konkreten Umsetzungsprozess benötigen. M. Haid (*) Hochschule Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_5

69

70

M. Haid

IoT, digitale Transformation, Internet der Dinge, Industrie 4.0! Die Begrifflichkeiten sind in aller Munde. Aber was bedeuten diese für einzelne Teams, Abteilungen und Unternehmen? Für viele Unternehmen ist dies sehr schwer umzusetzen: „Was bedeutet IoT für uns?“, „Da kümmert sich doch eine ganz eigene Abteilung bei uns drum“ oder „Wir produzieren keine Konsumerprodukte und haben nichts mit Kühlschränken zu tun, die die Butter nachbestellen“. Dies mag auf den ersten Blick stimmen und beruhigen. Allerdings werden jeder Bereich, jede Abteilung und jedes Unternehmen über kurz oder lang eine eigene digitale Strategie mit einem konkreten Umsetzungsprozess benötigen. Eine digitale Strategie, um nicht von Mitbewerbern oder neuen noch unbekannten Akteuren des Marktes überrollt zu werden. Um eine Berechtigung am Markt zu bekommen oder zu behalten. Und vor allem, um als Marktführer Marktführerschaft zu behalten. Dies gilt auch für Bereiche, die keinen Endkundenkontakt haben. Auch für Bereiche mit internen Kunden oder für Bereiche, die nicht die Endkunden bedienen, sondern als Zulieferer agieren.

5.2

Digitale Strategie

Erforderlich ist also eine digitale Strategie, um nicht von Mitbewerbern oder neuen, noch unbekannten Akteuren des Markts überrollt zu werden. Gemäß Abb. 5.1 ist eine Betrachtung des Internets der Dinge in vier Bereichen möglich. Die Digitalisierung betrachtet demzufolge die Bereiche Produkte (Smart Products), Produktion (Smart Factory), Informationsmanagement (Big Data) und den Markt (Smart Business Model). Es geht also nicht nur um intelligente Fabriken, um intelligente Produkte herzustellen, sondern langfristig vor allem um intelligente Businessmodelle. Diese intelligenten Businessmodelle sind sicherlich die entscheidende Komponente einer digitalen Strategie, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein. Gerade diese intelligenten Businessmodelle sind Chance und Herausforderung von Internet Of Things und Industrie 4.0. Auch und gerade für Marktführer. Ein erfolgsversprechender Transformationsansatz ist ein Ansatz der kleinen Schritte (#digital-steps-are-minimal-steps). Dieser Ansatz zur Umsetzung der Digitalisierung beginnt bei der Betrachtung des Marktes und führt die Digitalisierung in kleinen Schritten ins Unternehmen ein. Mit diesem Ansatz wird keine radikale digitale Transformation von null auf hundert mit einem hohen Investitionsvolumen und spätem ROI (Return on Investment) verfolgt, sondern eine schnelle überschaubare Teilumsetzung mit schnellem ROI. Dabei wird nicht die Digitalisierung eingeführt, um zu digitalisieren, sondern um neues Business zu generieren, neue Märkte zu erreichen und die Marktführerschaft zu erlangen oder zu behalten.

5  #digital steps are minimal steps: Mit Sensoren ins Internet der Dinge – mit …

71

Abb. 5.1 IoT

5.3

In fünf Schritten ins Internet der Dinge

Hierbei ist eine Umsetzung in fünf Schritten empfehlenswert: Schritt 1: Kundenbedürfnisermittlung: Eruieren, welche Bedürfnisse die Kunden haben, die derzeit nicht bedient werden. Dazu muss dort angesetzt werden, wo sich der Wettbewerb oder der Markt entscheidet – beim Kunden, beim Kundenbedürfnis. In einem Innovationsprozess werden beispielhaft gemeinsam mit den Kunden neue Bedürfnisse des Markts eruiert. Schritt 2: Businessmodellentwicklung: Daraus werden in einem methodischen Prozess entsprechende smarte Businessmodelle entwickelt und diese nach zu erwartendem Markterfolg bewertet und priorisiert. Schritt 3: Umsetzung: Das vielversprechendste Businessmodell wird umgesetzt. Denkbar wäre eine Auswertung von einzelnen Informationen in der Produktion, von Zulieferern oder aus dem Unternehmen. Die Veränderung durch die Umsetzung sollte überschaubar in der zeitlichen Realisierung und im Investitionsvolumen sein. Schritt 4: Validierung: Die konkrete Umsetzung wird validiert, der Markterfolg analysiert und der ROI gemessen. Schritt 5: Wiederholung: Nach erfolgreicher Umsetzung folgt dann der nächste Schritt mit Start bei Schritt 1 (Abb. 5.2).

72

M. Haid

Abb. 5.2  Step-by-step ins IoT

5.4

Die Rolle der Sensorik

So entstehen neues Business und Marktzugang in kleinen Schritten auf dem Weg ins Internet der Dinge. Durch Innovationsmanagementprozesse können Unternehmen so die Potenziale richtig ausschöpfen sowie passende Geschäftsmodelle entwickeln und werden dadurch digital. Sensoren können dabei eine entscheidende Rolle spielen. Sensoren stecken hinter vielen intelligenten Produkten, machen Fabriken intelligenter, sind die Lieferanten der meisten Big Data und stecken hinter vielen smarten Businessmodellen. Sensoren helfen im Innovationsmanagementprozess, Digitalisierung begreifbar zu machen. Jede Sensorapplikation im Produkt oder in der Fabrik kann somit ein Schritt auf dem Weg ins Internet der Dinge sein. „In Sensoren zu denken“ hilft dabei Unternehmen in Innovationsmanagement-­ Workshops, die Digitalisierung unternehmensspezifisch greifbar zu machen und unterstützt auch Unternehmen dabei, ihre eigenen intelligenten Businessmodelle zu finden und sich so auf den Weg zum Internet der Dinge zu machen.

5  #digital steps are minimal steps: Mit Sensoren ins Internet der Dinge – mit …

73

Prof. Dr. Markus Haid  ist seit 2008 Professor im Fachbereich Elektro- und Informationstechnik der Hochschule Darmstadt und Leiter des Kompetenzzentrums für angewandte Sensorik (CCASS – Competence Center of Applied Sensor Systems) und des LabVIEW CAS – LabVIEW Competence Center For High-Assurance System Development Darmstadt. Durch zahlreiche Veröffentlichungen und Patente gilt Prof. Haid auf diesem Gebiet der inertialen Low-Cost-Navigation im Indoor-Bereich als einer der Väter. Als Innovationsmanager begleitet Prof. Haid Unternehmen und hilft die Potenziale des Internet of Things richtig auszuschöpfen und mit den Unternehmen gemeinsam passende Geschäftsmodelle zu entwickeln. Als LabVIEW Champion im Bereich LabVIEW ist Prof. Haid ein weltweit anerkannter Experte insbesondere im Bereich Proficiency, Adoption und LabVIEW safety.

6

Management im Zeichen der Digitalisierung: Moderne Unternehmensführung abseits von Moden und Ideologien Rupert Hasenzagl

Inhaltsverzeichnis 6.1  E  inleitung  6.2  D  igitalisierung  6.2.1  Eine Arbeitsdefinition von Digitalisierung  6.2.2  Auswirkung von Digitalisierung auf die Gesellschaft und Unternehmen  6.3  „Gutes“ Management in der Next Generation Competition  6.4  Alternatives Managementverständnis  6.5  Conclusio  Literatur 

6.1

   75    78    78    80    91    97    99  101

Einleitung

Ausprägungen der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) haben in den letzten Jahrzehnten verschiedene Wellen durchlebt, in denen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Wahrnehmung des Themas nahezu explodierte, um nach mehr oder weniger kurzer Zeit wieder zu verschwinden und durch den nächsten IKT-­Trend ersetzt zu werden. Bereits Mitte der 1990er-Jahre wurde von dem IT-­Beratungsunternehmen R. Hasenzagl (*) Institute of Human Resource & Change Management an der JKU Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_6

75

76

R. Hasenzagl

Gartner Group der Hype Cycle populär gemacht, in dem IKT-Technologien mit Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung in mehrere Phasen eingeteilt werden. Die Entwicklung geht vom Hype der überzogenen Erwartungen, dem Einbruch der Wahrnehmung durch (übertriebene) Enttäuschung bis zum produktiven Plateau. Dies scheint nicht nur, wie von der Gartner Group angenommen, den Verlauf einzelner Technologien abzubilden, sondern auch ganze IKT-„Ansätze“ zu charakterisieren. Diese Ansätze können als eine Art Meta-Technologie gesehen werden, innerhalb derer verschiedene IKT-Technologien angewendet werden. Beginnend mit „Computer Integrated Manufacturing“ (CIM) in den späten 1980er-Jahren bis zur internetbasierten „New Economy“ Ende der 1990er-­Jahre war der Verlauf vom Hype über die (im Falle der New-Economy-Mode sehr teuren) Ernüchterung bis zu längerfristigen (relativ zum Hype wenig radikalen) Anwendungen gut zu beobachten. Seit Beginn der derzeitigen Dekade ist das neue Zauberwort in der Gesellschaft und in den Unternehmen: „Digitalisierung“. Abgesehen davon, dass der Begriff bisher nicht einheitlich und hinreichend definiert ist, lässt sich auch nach einer nur oberflächlichen Analyse zweifelsohne großes Potenzial in der Digitalisierung erkennen. Allerdings werden die folgenden Analysen zeigen, dass ein nicht beträchtliches Risikopotenzial damit verbunden ist, insbesondere auf gesellschaftlicher Ebene. Außerdem stellt sich die Frage, wieviel des Chancenpotenzials v. a. auf Unternehmensebene nicht bereits durch die Produktivphasen der vorhergehenden Hypes der IKT-Ansätze realisiert wurde (bei CIM und New Economy). Zudem gibt es auch einige Anzeichen, dass Digitalisierung derzeit in der Hype-Phase der Überschätzung steckt. Dazu gehört, dass eine unüberschaubare Menge an populärwissenschaftlicher Literatur zu dem Thema publiziert wird. Nicht zu vergessen sind bei dieser Art von Literatur die Unmengen an Online-Veröffentlichungen, von Blogs bis zu Homepages. Eine Google-Abfrage mit dem Stichwort „Digitalisierung“ lieferte am 24. September 2017 knapp 10 Mio. Treffer, das Stichwort „digitale Transformation“ über 22,5 Mio. Da scheint eine riesige Informationswelle zu dem Thema durchs Netz zu rollen. In der Wissenschaft hingegen findet noch eine eher spärliche Auseinandersetzung mit dem Thema statt (Becker et al. 2017, S. 291). Es dominiert also die populäre Literatur, geschrieben von Praktikern für Praktiker. Damit ist auch die Frage, welche Chancen aber auch Risiken in der Digitalisierung für Unternehmen und Branchen stecken, nicht hinreichend systematisch analysiert (Hasenzagl und Link 2016). Relativ selten finden sich auch wissenschaftliche Untersuchungen, wie sich das M ­ anagement von Unternehmen durch die Digitalisierung verändern wird und was erfolgsversprechende Maßnahmen sind, um die Potenziale der Digitalisierung in Unternehmen zu aktivieren.

6  Management im Zeichen der Digitalisierung: Moderne …

77

Antworten auf derartige Fragen finden sich in der Praktikerliteratur und werden dort meist auch sehr apodiktisch vertreten. Anstelle der Analyse von Potenzialen findet sich hier die Unausweichlichkeit der Digitalisierung von Geschäftsmodellen für Unternehmen – und man kann rauslesen, dass dies für fast alle Branchen gültig ist. Ebenso hat die Praktikerliteratur Antworten zur Hand, die Managern den Weg in und durch die digitale Welt weisen. Als Oberbegriff für derartige Managementansätze scheint sich derzeit „Agilität“ in unterschiedlichen Zusammenhängen durchzusetzen. Eine Google-Abfrage, ebenfalls im September 2017 brachte allein zum Stichwort „agile Organisation“ über 18 Mio. Treffer. Fragt man nach „Managementtheorie“, erhält man gerade mal 40,5 tausend Treffer, also etwa 0,2 % von den agilen Treffern. Hinter den agilen Ansätzen verbergen sich neben der agilen Führung und agilen Organisation auch Konzepte wie Holacracy, Kanban, Design Thinking, Scrum für Projekte und Organisationen – nur um die derzeit (2017) populärsten zu nennen. Trotz dieser Vielzahl an Konzepten zeigt sich in empirischen Studien eine Vorsicht in der Praxis bei der Einführung von Digitalisierung und damit verknüpften Konzepten (für eine Übersicht siehe Hasenzagl und Link 2016 sowie Becker et al. 2017). Aus dem in diesem Abschnitt angeführten Aspekten ergeben sich gleich mehrere Fragen: • Was kann unter Digitalisierung verstanden werden? • Welche Potenziale aber auch Herausforderungen für Unternehmen sind durch die Digitalisierung zu vermuten? • Lassen die populären agilen Ansätze das Potenzial erkennen, funktionale Möglichkeiten für die Implementierung und den Betrieb digitaler Geschäftsmodelle zu sein? • Welche anderen Optionen zur Reaktion auf die Digitalisierung gibt es noch für Manager? In der vorliegenden Arbeit werden diese Fragestellungen literaturgestützt analysiert. Zielsetzung ist dabei weniger, endgültige Antworten zu liefern, sondern den Blick auf wichtige Themenfelder zu richten, für die weitere Forschungsfragen beantwortet werden sollten und/oder für die Manager in ihren Unternehmen konkrete Antworten finden sollten. Die Arbeit richtet sich also an theoretisch interessierte Leser, aber v. a. an reflektierte Praktiker der Unternehmensführung. Sie ist daher eher in einem essayartigen Stil gehalten, um ManagerInnen Gedankenanstöße und weniger komplexe wissenschaftliche oder einfache populäre Antworten zu liefern.

78

6.2

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Digitalisierung

Digitalisierung ist ein Schlagwort, dem man sich in der öffentlichen Kommunikation, v. a. aber in der Wirtschaft kaum entziehen kann. Diskussionen bei Veranstaltungen für Manager, die immer häufiger zu dem Thema angeboten werden zeigen, dass eine relativ große Gruppe von ManagerInnen zunehmend verunsichert ist. Interessant ist dabei, dass bei vielen dieser beobachteten Veranstaltungen ebenso wie in der populären Literatur der Begriff Digitalisierung nicht oder nur oberflächlich definiert wird. Ebenso gibt es einige Begriffe, wie beispielsweise „digitale Transformation“, die in manchen Arbeiten als Synonym für Digitalisierung gelten.

6.2.1 Eine Arbeitsdefinition von Digitalisierung Als gemeinsame Basis vieler expliziter oder impliziter Definitionen von Digitalisierung ist die Speicherung von Daten in digitaler Form zu identifizieren. Digitale Form meint hier, dass bspw. physikalische Signale wie Musik oder auch analoge Medien wie Bilder in digitale Bits (entweder 0 oder 1) umgewandelt und in dieser Form abgespeichert werden. Umgekehrt können diese in digitaler Form gespeicherten Daten wieder in die ursprüngliche Form umgewandelt und wiedergegeben werden. Meist wird im Zusammenhang mit Digitalisierung nicht von Daten, sondern Informationen gesprochen. Während Daten üblicherweise als codierte Signale (bspw. als analoges Signal die Zahl 100) gesehen werden, werden bei Informationen die Daten in Kontexte gestellt (bspw. in den Kontext Temperatur, 100 bedeutet dann bspw. eine Temperatur von 100 Grad). Dieser Kontext wird, wenn es sich tatsächlich um Informationen handelt, bei der Umwandlung der digitalen Codierung als mitgeliefert vorausgesetzt. Mit dem Begriff Digitalisierung ist heute nicht nur die zunehmend digitale Speicherung von Daten gemeint, sondern auch der Einfluss auf Prozesse des täglichen Lebens, wie die Art, wie wir uns über bestimmte Dinge informieren, aber auch wie wir Informationen austauschen. Digitalisierung ist aus dieser Sicht eine Art Meta-Technologie, die auf verschiedene IKT-Technologien zurückgreift. Damit wird sie als Umfeldbedingung für die Gesellschaft oder Unternehmen begriffen, die durch Veränderungsansätze zur digitalen Transformation führen kann und damit zur digitalisierten Gesellschaft bzw. zu digitalisierten Unternehmen. ­Digitalisierung ist also v. a. aus Unternehmenssicht nicht nur eine Meta-Technologie mit hohem Anwendungspotenzial, sie ist auch das Ergebnis der organisationalen Veränderung durch Anwendung der Technologien.

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Eine Darstellung verschiedener Stufen der Digitalisierung für Unternehmen, die durchaus auch heute noch eine Strukturierung für verschiedene Formen der Digitalisierung bietet, lieferte bereits Anfang der 1990er-Jahre Venkatraman. Wenn die wesentlichen Parameter in einem Diagramm dargestellt werden, sind der Grad der Veränderung des Geschäfts durch IT auf einer Achse und das Nutzen-Potenzial, das diese Digitalisierungsstufen haben, auf der anderen Achse angeführt (Venkatraman 1994). Die Annahme ist, dass mit jeder Vergrößerung des Veränderungspotenzials entlang der Stufen auch das Nutzen-Potenzial zunimmt. Den geringsten Einfluss haben lokale Anwendungen (Localized Exploitation) und unternehmensinterne Integration (Internal Integration). Diese werden als evolutionäre Veränderungen gesehen und haben auch das geringste Nutzen-Potenzial. Die revolutionäre Veränderungsgruppe beginnt mit der Anpassung der Geschäftsprozesse an die Funktionalität der IT (Business Process Redesign). Die nächste Stufe (Business Network Redesign) verlässt die eher operative Unternehmensebene und versucht über Unternehmensgrenzen hinweg die IT-gestützte Zusammenarbeit zu optimieren. Die größte Veränderung wird auf der letzten Stufe angenommen, der Definition der Geschäftsfelder und der Wettbewerbsstrategie des Unternehmens (Business Scope Redefinition). Eine ähnliche Strukturierung, die aber auf den derzeit sehr populären Begriff „Geschäftsmodell“ zurückgreift, wird weiter unten bei der näheren Analyse der Auswirkung der Digitalisierung auf Unternehmen diskutiert. Mit dieser Strukturierung ist das Thema der Vernetzung von Daten bzw. Informationen angesprochen. Mit Vernetzung ist aber nicht nur eine Koppelung verschiedener Informationen gemeint, sondern sie greift viel tiefer auf organisatorische und strategische Fragenstellungen. Heute denken bspw. Industrie-4.0-Vertreter so weit, mithilfe digitaler Methoden der Informationsverarbeitung Objekten (wie bspw. Bauteile einer Maschine oder einem Kühlschrank) die Möglichkeit zu geben, sich mit ihrer Umgebung hinsichtlich relevanter Informationen auszutauschen. Die Vision ist, durch derartige Informationsverarbeitung und derartigen Informationsaustausch selbststeuernde Prozesse zu erhalten. Die damit verbundenen Objekte werden oft als „smart“ bezeichnet (Hasenzagl und Link 2016). Teece und Linden bringen diese Zusammenhänge auf den Punkt und liefern damit auch eine Definition von Digitalisierung: „As more and more elements of physical world become sources of digital data, software is able to analyse, control, and interact with devices, equipment, and people“. (Teece und Linden 2017, S. 1). Die Beeinflussung der Prozesse durch die Digitalisierung gilt sowohl für unsere tägliche Lebenswelt als auch für Branchen und Unternehmen. Verschiedene ­Definitionen, die die Unternehmensebene betreffen, sind mehr oder weniger detailliert in der Literatur zu finden. Wesentlich abstrakter wird meist Digitalisierung als zunehmender Einfluss von Informations- und Kommunikationstechnologie auf

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g­ esellschaftliche Prozesse definiert. Was den Definitionen von Digitalisierung vor allem auf gesellschaftlicher Ebene fehlt (und was im Detail wahrscheinlich auch nicht einfach lieferbar ist), ist ein leicht handbares Maß, welcher Grad an Digitalisierung erreicht wurde. Es gibt zwar diesbezüglich einige Indizes, wie bspw. den „Digital Economy and Society Index (DESI)“ der Europäischen Kommission, oder Indizes von internationalen Beratungsunternehmen. Der DESI ist als Summe aus mehreren Parametern definiert, so dass er einen abstrakten Wert darstellt. Allerdings sind Zeitreihenanalysen möglich, wie sie bspw. in einer Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung durchgeführt wurden (Peneder et al. 2016).

6.2.2 A  uswirkung von Digitalisierung auf die Gesellschaft und Unternehmen Um die Forschungsfrage zu bearbeiten, wie ManagerInnen auf die Herausforderungen aber auch Chancen durch die Digitalisierung reagieren können, müssen diese Herausforderungen zuerst einmal konkretisiert werden. Eine Durchsicht der Literatur hinsichtlich Veränderungspotenzial (aber auch bereits eingetretener Veränderungen) durch die Digitalisierung lässt zwei in der Einleitung bereits skizzierte Grundlinien erkennen: einerseits eine populäre (mit der primären Zielgruppe Praktiker), andererseits eine wissenschaftliche (vgl. Hasenzagl und Link 2016). Die beiden Linien unterscheiden sich hinsichtlich der Bewertung der Folgen und des Nutzen-Potenzials der Digitalisierung grundlegend. Während die populäre Linie die Digitalisierung apodiktisch und sehr generalisierend als unausweichlich sowie die Folgen als durchwegs positiv darstellt und kritische Meinungen eher selten sind, tut sich die Wissenschaft deutlich schwerer ein einheitliches Bild zu liefern. Je nach theoretischem Hintergrund sind die Analysen aber wesentlich differenzierter. Sowohl hinsichtlich Umfang der Digitalisierung als auch hinsichtlich der eingetretenen und potenziellen Auswirkungen kann man in wissenschaftlichen Arbeiten ein vorsichtig optimistisches bis negatives Bild erkennen. Natürlich gibt es auch Mischformen zwischen populärer und wissenschaftlicher Literatur.

6.2.2.1 Gesellschaftliche Auswirkungen der Digitalisierung Da der vorliegenden Arbeit ein Organisationsverständnis zugrundeliegt, das in der Tradition der soziologischen Systemtheorie nach Luhmann Organisationen als soziale Einheiten begreift, die in die Gesellschaft im Sinne einer Koppelung eingebettet sind, werden zuerst ein paar potenzielle Auswirkungen auf die Gesellschaft angeführt, bevor

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näher auf Organisationen eingegangen wird. Etwas weniger theoretisch ausgedrückt ist ein Vorgehen wohl sinnvoll, dass vorerst die potenziellen Veränderungen in wesentlichen Umfeldbedingungen für Unternehmen durch die Digitalisierung skizziert, bevor die Auswirkungen auf Organisationen selbst betrachtet werden. Hinsichtlich Gesellschaft finden sich in der populären Literatur meist auf den Menschen bezogene Aussagen, die dann zu gesellschaftlichen Merkmalen aggregiert werden. Dies ist nicht verwunderlich, in der Praxis herrscht sehr stark eine menschenzentrierte Sichtweise, die soziale Gegebenheiten fast ausschließlich durch individuelle Gegebenheiten erklärt. Da helfen auch – speziell im wirtschaftlichen Kontext  – das nahezu inflationäre Reden über „Team“ und „Kultur“ wenig, der Mensch ist und bleibt im Mittelpunkt. Zumindest beim Zurechnen der Ursache sozialer Vorkommnisse. Die Praxis findet sich damit in „guter“ Gesellschaft. Ökonomische Ansätze, insbesondere die Betriebswirtschaftslehre, hängen ähnlichen Ideologien an. Diese Ansätze negieren die Existenz jeglicher eigenständigen sozialen Einheit, eine Position, die von Wissenschaftstheoretikern „methodologischer Individualismus“ genannt wird. In dieser Sichtweise ergeben sich natürlich ganz andere Veränderungen in der Gesellschaft als in einem mehr holistischen Verständnis. Die beobachteten und erwarteten gesellschaftlichen Auswirkungen durch Digitalisierung hängen also nach diesen Überlegungen sehr stark von dem Bild ab, dass man von Gesellschaft hat. Damit sind Fragen verbunden wie: Wie kann Gesellschaft erklärt werden (als Aggregation von Menschen oder als eigenständige Einheit, die sich nicht einfach aus Menschen zusammenbasteln lässt)?, Wie lassen sich Veränderungen beschreiben?, Welche Einflussfaktoren gibt es auf die Veränderungen und wie wirken diese?, etc. Schaut man mit einer modernen Theoriebrille, die von eigenständigen (im Sinne von emergenten) sozialen Einheiten ausgeht, dann gibt es je nach konkretem theoretischen Hintergrund einige Grundlinien an Hypothesen, die hier nur kurz skizziert werden sollen. In vielen soziologischen Theorien spielen im Sozialen sogenannte Strukturen eine große Rolle. Diese sozialen Strukturen beeinflussen das soziale Verhalten von Individuen, bilden aber die mehr oder weniger latenten („unbewussten“) Richtlinien, die das Verhalten der Mitglieder einer sozialen Einheit aufeinander abstimmen und harmonisieren. Soziale Strukturen beeinflussen also Individuen, nach den modernen soziologischen Theorien gilt aber auch die umgekehrte Richtung. Individuen beeinflussen auch die Strukturbildung. Individuelle und soziale Einheiten sind miteinander gekoppelt, diese Koppelung kann sehr tief gehend sein und auf individueller Ebene nicht nur ein augenblickliches Verhalten beeinflussen, sondern stabile Verhaltensmuster bedingen. Gruppen (genauer: die sozialen Strukturen einer Gruppe) bspw. beeinflussen oft sehr stark das Verhalten ihrer Mitglieder. Auch ­gesellschaftliche Strukturen haben oft beträchtlichen Einfluss, ebenso die mit diesen

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als gekoppelt angenommenen Strukturen von Organisationen. Organisationale Strukturen werden oft in formale und informale (kulturelle) Regeln unterteilt. Die Behauptung, bspw. eine Gruppe sei „mehr“ als die Summe der Mitglieder, ist zu einfach. Zuerst muss das „Mehr“ definiert sein. Im Sinne von „besser“ ist es Ideologie. Sozialen Einheiten können andere Charakteristika zugeschrieben werden als sie durch einfache Aggregation der Charakteristika der Mitglieder entstehen würde (das wäre dann methodologischer Individualismus). Der Unterschied kann deutlich ausfallen und wird durch die Bildung eigenständiger (emergenter) sozialer Einheiten begründet. Das Verhalten von Mitgliedern sozialer Einheiten ist oft ganz anders (und oft nicht besser) als von Individuen ohne Einfluss der sozialen Strukturen. „Gemeinsam sind wir blöd!?“ hat Simon vor einigen Jahren ein Buch betitelt. Seit einigen Jahrzehnten gibt es Strömungen in der Soziologie, die eine Erosion der gesellschaftlichen sozialen Strukturen beobachten und damit eine zunehmend losere Kopplung zwischen Gesellschaft und Individuen. Eine dieser Theorieströmungen wird als „Postmoderne“ bezeichnet. Der Sozialphilosoph Axel Honneth beschäftigt sich mit diesen Entwicklungen, er sieht bei postmodernen Sozialtheorien, dass „[...] sie an der Alltagspraxis eine Auflösung jener direkten Interaktionsmedien der Kultur und der narrativen Überlieferung, über die die Subjekte sich bislang kommunikativ aufeinander zu beziehen vermochten.“ (Honneth 1995, S. 15). Diese Erosion der sozialen Strukturen wird durchaus im Rahmen der postmodernen Vorstellungen als positiv und als Ausdruck der individuellen Freiheit gesehen. Ein Individuum soll sich möglichst losgelöst von gesellschaftlichen Vorstellungen entwickeln können. Diese Forderung wird von Honneth als problematisch kritisiert, da auch bei der Identitätsbildung eine Koppelung zu gesellschaftlichen Strukturen vorausgesetzt werden kann (Honneth 1995, S. 17). Eine Diskussion über den Einfluss der Digitalisierung auf gesellschaftliche Strukturen weist aber nicht nur auf das Potenzial einer Erosion der Strukturen hin, sondern sieht auch teilweise massiven Einfluss auf kollektive soziale Übereinkünfte, was erwartbar ist (so können Strukturen auch beschrieben werden). So ist der Verlust von Privatheit durch die Digitalisierung ein Aspekt, der massive ­Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen erwarten lässt. Einige Autoren sehen bspw. durch den Verlust der Privatheit eine wesentliche Voraussetzung für die Etablierung von totalitärer Machtausübung (Welzer 2017). Welche Rolle elektronischen Medien bzw. die Digitalisierung bei der Erosion und Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen durch die zunehmende Unverbindlichkeit der digitalen Kommunikation spielen, ist derzeit wenig untersucht,1  Ein interessanter Gedanke in diesem Kontext ist die Anmerkung von Dirk Baecker, dass „die Beobachtung der Beobachtung, das eigentliche Futter der Kommunikation“ sei. Beobachtung

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zumindest hat sie kaum Einfluss auf eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. In der Wissenschaft müssen kritische Stimmen über den Einfluss von Kommunikationsmedien viel früher als bei der Digitalisierung angesetzt werden und findet sich bspw. prominent bereits in den 1950er-Jahren bei Günther Anders in seiner Medienkritik. Hinweise auf (massive) Auswirkungen der elektronischen Medien auf die Gesellschaft finden sich also in wissenschaftlichen Arbeiten durchaus. So wird bspw. die Konstruktion von zunehmend fiktionalen Wirklichkeiten durch Individuen aufgegriffen (Honneth 1995). Um eine stabile individuelle Identität auszubilden, bedarf es verbindlicherer Kommunikationen mit der sozialen Umwelt als in der digitalen Welt mit ihren virtuellen Realitäten geboten werden.2 Durch die Koppelung der „fiktionalen“ Individuen und die (auch damit verbundene) zunehmende Unverbindlichkeit digitaler Kommunikation wird die Aushandlung sozialer Strukturen massiv verändert.3 Weitere Themen mit Einfluss auf Individuen und Gesellschaft, die durchaus kritisch diskutiert werden, sind Fragen der Ethik und der Moral (Spiekermann 2015). Gerade ethische Fragen – für die gesellschaftliche Strukturbildung auch als Sitte und v. a. Moral interessant – scheinen durch die digitale Kommunikation und wegen der gesellschaftlichen Unreflektiertheit des Themas ein massives Problempotenzial zu haben. Auch wenn nicht gleich die Zerstörung der Gesellschaft herbeigeredet werden soll, diese grundlegenden Fragen treffen den Kern der gesellschaftlichen Entwicklung. Da dürfte man bspw. schon so etwas wie eine fundierte multidisziplinäre Technikfolgenabschätzung erwarten. Auch könnte erwartet werden, dass Förderungen nicht nur für „technologische“ Industrie-4.0-Vorhaben reichlich fließen, sondern durchaus auch für Projekte, die sich mit gesellschaftlichen Auswirkungen systematisch beschäftigen. Die derzeitige Förderpolitik ist ein Hinweis darauf, dass dieses Thema der Gesellschaft und damit auch der Politik (eine Unterscheidung und Bezeichnung) liefert eben Unterschiede und damit Informationen. Die Beobachtung der Informationskonstruktion und der Mitteilungshandlung lässt sich in elektronischen Medien wesentlich weniger bis gar nicht beobachten. Mag sein, dass dies ein weiterer Faktor der Unverbindlichkeit digitaler Kommunikation ist. 2  Honneth (1995, S. 14) zitiert den Begriff von „innerlich verflachten Subjekten“ durch die Fiktionalisierung der elektronischen Medienwirklichkeit. Das haben mittlerweile auch die Zeitungen übernommen, wenn sie postulieren, dass in sozialen Medien v. a. Selbstinszenierung zählt und über Folgen berichten, wenn „Blogger“ „zu realistisch berichten“. 3  Eine der renommiertesten Forscherinnen auf diesem Gebiet ist die MIT-Professorin Sherry Turkle. Sie beschäftigt sich in ihren Büchern mit der Problematik des individuellen Selbstbildes in digitalen Zeiten, die auch Rückwirkungen auf die Gesellschaft hat.

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ziemlich egal ist. Selbst wenn das so ist, wird weiter unten gezeigt, dass die vermutete gesellschaftliche Entwicklung der Erosion von etablierten Strukturen sowie der dynamischen postmodernen individuellen Neuerfindung und die ständige Dekonstruktion von Entscheidungen durchaus auch beträchtliche Auswirkungen auf die Führung in Unternehmen hat. Diese wird aber zu wenig erkannt und deshalb ist das Problembewusstsein auch bei der Wirtschaftsseite gering ausgeprägt. Etwas häufiger und durchaus auch von den reflektierten Teilen der Gesellschaft wahrgenommen, sind volkswirtschaftliche Untersuchungen über die Auswirkung der Digitalisierung. Diese Analysen behandeln ein Teilsystem der Gesellschaft (die Wirtschaft) und sind von den theoretischen Grundannahmen wesentlich kommensurabler mit der Mainstreamforschung und den Sichtweisen von Praktikern als die komplexen geisteswissenschaftlichen Analysen. Dabei sind es wieder einige wenige Fragestellungen, die in den Veröffentlichungen häufig anzutreffen sind, bspw. die Bedeutung der Digitalisierung für die Arbeitswelt und die Produktivität sowie für das Wachstum von Volkswirtschaften. Die Kernergebnisse der volkswirtschaftlichen Analysen sind kurz zusammengefasst: Man kann es nicht genau sagen. Die Entwicklung der Arbeit durch Digitalisierung spiegelt sich meist in Fragestellungen zu Anzahl und Qualifizierung der zukünftig benötigten MitarbeiterInnen wider. Eine Fraunhoferstudie gibt bspw. im Zusammenhang von Industrie 4.0 für Deutschland eine Beschäftigtenanzahl von 7,7 Mio. in Produktionsunternehmen an und erwartet eine Veränderung in einer Bandbreite von +/− 1,5 Mio. in der Zukunft (Ganschar et al. 2013, S. 46). Der Zeithorizont ist nicht näher spezifiziert, hat aber bei diesen vagen Schätzungen kaum große Bedeutung. Sowohl Zuwachs als auch Rückgang der Produktionsbeschäftigung ist möglich, man kann es eben nicht sagen. Für einen mittelfristigen Horizont sieht es eine Bertelsmannstudie ähnlich: Basierend auf verschiedenen Studien sieht der Autor gegenläufige Tendenzen, langfristig vermutet er aber beträchtliche Arbeitsplatzverluste (Petersen 2017, S. 183). Hinsichtlich Qualifikation gehen die meisten Autoren von einer Höherqualifikation der verbleibenden Arbeitskräfte aus. Eine Hypothese, die im Personalmanagement bei der Analyse der Auswirkung des Technologieeinsatzes im Personalmanagement nicht unumstritten ist (Hasenzagl und Link 2016). Eine Hauptursache für die divergierenden quantitativen aber auch qualitativen Ergebnisse ist, dass die Zukunft der Arbeitswelt von vielen Faktoren abhängt und volkswirtschaftliche Modelle durch ihre Komplexitätsreduktion nur schlecht geeignet sind, komplexe soziale Geschehnisse abzubilden. Außerdem sind die notwendigen Prognosezeiträume relativ lang und diese sind natürlich mit erheblichen Unsicherheiten verknüpft.

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Dies gilt auch für andere Kenngrößen, wie bspw. das Wirtschaftswachstum, das auf die Digitalisierung zurückgeführt werden kann. Auch hier sieht die Bertelsmannstudie divergierende Einflüsse. Kurz- bis mittelfristig scheinen eher wachstumsfördernde Impulse von der Digitalisierung auszugehen, langfristig sieht der Autor eher wachstumshemmende Effekte. Ebenso heterogen sind Studien zum Produktivitätswachstum durch Digitalisierung. Insbesondere Anhänger des amerikanischen Ökonomieprofessors Robert Gordon gehen davon aus, dass die in den letzten Jahren schwächelnde Produktivitätssteigerung durch fehlende Innovationen zustande kam. OECD-Statistiken zu der sogenannten Totalen Faktorproduktivität lassen vermuten, dass Produktivitätssteigerungen durch Innovationen in den letzten Jahren eher rückläufig sind (Peneder et al. 2016). Ohne auf die Diskussionen unter Ökonomen näher einzugehen (bspw. zu Gordons Thesen und ob diese überhaupt in Europa anwendbar sind), zeigt sich doch, dass viele wissenschaftliche Studien ein eher optimistisches Bild über die gesamtwirtschaftliche Wirkung der Digitalisierung zeigen. Die WIFO-Studie sieht bspw. deutliche Vorteile von Regionen mit hohem Digitalisierungsgrad hinsichtlich volkswirtschaftlicher Kennzahlen und schließt daraus, dass „die Digitalisierung ein unabdingbarer Bestandteil leistungsfähiger Wirtschaftssysteme ist.“4 (Peneder et al. 2016, S. 2) Aus den Erkenntnissen des Abschnitts über gesellschaftliche Auswirkungen der Digitalisierung lassen sich folgende Hypothesen herauskristallisieren: • Digitalisierung hat unbestritten ein großes Potenzial, eine rasche Verbreitung, zumindest von Informationen (und nicht wie oft verwechselt von Wissen), zu ermöglichen. Globale Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten schaffen hohes Potenzial auch für die nicht wirtschaftlichen Bereiche der ­Gesellschaft. • Dem steht ein beträchtliches Risiko gegenüber, wenn bspw. die Informationsverarbeitung zu Wissen nicht funktioniert (diese Wissensbildung setzt bereits Wissen voraus!). Viel größer ist nach Ansicht einiger Sozialwissenschaftler aber, dass die Informationsschwemme und die Qualität der Kommunikation durch die Digitalisierung die Desintegration der Gesellschaft zumindest fördern. Eher sozialpsychologisch orientierte Forscher streichen auch die Auswirkungen auf die individuelle Identitätsbildung heraus, die durch ihre Fiktionalität wiederum Auswirkungen auf die Stabilität der gesellschaftlichen Strukturen haben können.  Es kann aber auch die These vertreten werden, dass Regionen die wirtschaftlich gut dastehen, sich mehr Digitalisierung leisten. 4

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• Volkswirtschaftlich scheint zumindest mittelfristig bei günstigen Rahmenbedingungen (rechtlich, politisch, soziale Entwicklungen, Bildung) das Potenzial für einen positiven Einfluss auf Indikatoren wie Beschäftigung, Wachstum, aber auch Produktivität vorhanden zu sein. Die Rahmenbedingungen sind aber keine Selbstläufer. Die EU stellt sich bspw. derzeit als ökonomisch orientierte, bürokratische Veranstaltung dar,5 die ziemlich blind für soziale Auswirkungen zu sein scheint. Und die Bildungssysteme stehen derzeit auch nicht im Ruf, den zukünftigen Anforderungen einer höherqualifizierten digitalen Welt besonders gerecht zu werden. Ob dies Rahmenbedingungen sind, die auf eine Aktivierung der Potenziale der Digitalisierung förderlich wirken, darf zumindest zur Diskussion gestellt werden. • Die Hauptprobleme bei der volkswirtschaftlichen Betrachtung liegen v. a. darin begründet, dass Analysen von vielen Variablen abhängen. Diese Komplexität kann in den quantitativen volkswirtschaftlichen Modellen nur durch massive Reduktion der Variablen erfolgen. Dadurch ist es schon methodisch schwierig, kausale Zusammenhänge zu identifizieren. Die anderen teilweise wesentlich tiefergehenden Vereinfachungen der ökonomischen Ansätze werden dabei noch gar nicht miteinbezogen.

6.2.2.2 Auswirkungen auf Unternehmen Etwas überschaubarer, aber  – zumindest aus wissenschaftlicher Sicht  – immer noch mit einer beträchtlichen Komplexität behaftet, stellen sich die potenziellen Auswirkungen durch die Digitalisierung auf Unternehmensebene dar. Zuerst ist eine Differenzierung der neuen Anforderungen notwendig. Auf Branchen- bzw. Unternehmensebene sind nicht nur die Digitalisierung als Meta-­ Technologie oder gesellschaftliche Auswirkungen auf die Digitalisierung relevant, sondern auch andere Veränderungen im Wettbewerbsumfeld, die von den digitalen Technologien entweder ausgelöst oder massiv beeinflusst werden. Teece und ­Linden nennen das Wettbewerbsumfeld „Next Generation Competition“6 (Teece und Linden 2017, S. 2). 5  Versuche in die Gesellschaftspolitik einzugreifen, haben bekannterweise in den letzten Jahren zu einer Zerreißprobe der EU geführt. 6  Zunehmende Dynamik, Globalisierungseffekte, zukünftig deutlich komplexere Produkte bestehend aus einer Reihe von Erfindungen, unternehmensübergreifende „Business Ecosystems“ zur Erstellung der Leistung sowie ein Fokus auf organisationale Fähigkeiten sind Elemente dieser Next Generation Competition (Teece und Linden 2017). Diese Aspekte sind entweder durch Digitalisierung ausgelöst oder die Digitalisierung ist zumindest ein wesentlicher Ermöglicher der neuen Wettbewerbsfaktoren.

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Wobei die Art und Stärke der Auswirkung wiederum von der Sichtweise auf Organisationen abhängt. Beispielsweise werden in neueren Systemtheorien Organisationen als ein Typus von sozialen Systemen gesehen, die für die Gesellschaft bestimmte Zwecke erfüllen (im wesentlichen Komplexität reduzieren und eine Aufgabe erfüllen, die die Gesellschaft als nützlich ansieht). Folgt man diesem theoretischen Vorverständnis, ist eine Koppelung von Organisationen und Gesellschaft an mehreren Punkten erkennbar. Einerseits ist es die Gesellschaft, die von Organisationen Nutzen empfängt und so Einfluss auf Organisationen nehmen kann (z. B.: Diese Leistung erwarten wir zu jenen Bedingungen und diese nicht). Andererseits versucht die Gesellschaft mehr oder weniger verdeckt Einfluss darauf zu nehmen, wie Organisationen diese Zwecke und Leistungen erbringen. Gesellschaftliche Vorstellungen hinsichtlich der Gestaltung von Beziehungen haben Einfluss, auch auf die Beziehungen in Organisationen. Dirk Baecker formuliert zu dieser Koppelung, dass die Gesellschaft seit der französischen Revolution verschiedene Emanzipationserwartungen entwickelt hat (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit u. ä.) (Baecker 2003, S. 235). Ob sich diese Emanzipationserwartungen in der Gesellschaft auch wirklich beobachten lassen, sei einmal dahingestellt. Aber diese gesellschaftlichen Erwartungen irritieren Organisationen und regen zu einer Angleichung der Strukturen an (vorsichtig formuliert). Das funktioniert so lange kein Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Erwartungen hinsichtlich Nutzen der Leistungen der Organisation und den erwarteten Emanzipationsbestrebungen besteht. Folgt man der oben beschriebenen These der postmodernen Strukturauflösung, heißt das für Organisationen, dass der Druck zur Selbstbestimmung der Mitarbeiter – womöglich mit einer ständigen Neukonstruktion seiner Identität – für die heutigen Erwartungen an die Leistungen und den Zweck von Organisationen problematisch ist. Wenn – wie oben angedeutet – Digitalisierung den Emanzipationsbestrebungen der Mitarbeiter durch Verfall bspw., der hierarchischen Strukturen raschen Vorschub leistet, hat das massive Auswirkungen auf Organisationen (ähnlich argumentiert der Organisationssoziologe Stefan Kühl (2017). Dirk Baecker (2003) sieht es als eine Funktion des Managements, diese beiden widersprüchlichen Anforderungen zu managen. Diese Forderung kann man selbstverständlich auch anders sehen. Die Frage ist nur, welche Vorstellungen durch die soziale Realität als passend honoriert wird und wer die Macht hat, diese Passung zu interpretieren. Derzeit ist diese Passungsdiskussion in der Praxis kaum von wissenschaftlichem Störfeuer irritiert. Verlässt man diese – für die Praxis zweifelsohne theoretische Ebene der Koppelung Gesellschaft und Organisationen – können im Wesentlichen in Unternehmen durch die Digitalisierung alle Stufen des Models von Venkatraman (1994)

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betroffen sein, beginnend von den beiden internen (evolutionären) Stufen über die externe Stufe „Prozess Redesign“ und „Vernetzung“ bis zur Definition der Geschäftsfelder (Venkatraman 1994). Heute werden Veränderungen durch Digitalisierung gerne mithilfe von Geschäftsmodellen dargestellt. Was sich hinter dem Begriff Geschäftsmodell verbirgt, ist wiederum sehr heterogen in der Literatur zu finden. Im Kern geht es um einen Ausschnitt strategischer und operativer Fragestellungen. Teece und Linden geben drei Hauptkategorien an, die in Geschäftsmodellen beinhaltet sind (Teece und Linden 2017, S. 5). In Anlehnung an diese Definition können die häufig genannten Inhalte von Geschäftsmodellen kurz zusammengefasst werden: • Nutzenmodell: Welcher Nutzen wird für welches Kundensegment in Form von Produkten und Leistungen angeboten? • Wertschöpfungsmodel: Aufbau der Wertkette (inkl. Vernetzung mit externen Partnern) sowie Ressourcen, Kanäle und Formen der Kundenbeziehung, Fähigkeiten und Kompetenzen, die zur Verfügung stehen; • Erlösmodell: Preismodell (Wofür wird was verrechnet?), Kostenstruktur. Die heterogenen Modelle in der Literatur verwenden unterschiedliche Abgrenzungen, aber diese drei Teilmodelle des Geschäftsmodells sind meist die gemeinsame Basis. Diskutiert wird in der Literatur die Abgrenzung zu anderen Managementfeldern wie bspw. Strategie. In der vorliegenden Arbeit wird Strategie als das übergeordnete Managementfeld verstanden, in dem im Wesentlichen auf Basis der normativen Vorgaben (Zweck und Werte des Unternehmens) und strategischer Analysen die Geschäftsfelder festgelegt werden, die das Unternehmen braucht, um Erfolgspotenzial zu haben. Außerdem wird bereits in der Strategie auf abstrakter Ebene festgelegt, wie das Unternehmen mit den einzelnen Geschäftsfeldern im Wettbewerb bestehen möchte (strategische Positionierung). Diese so erstellten Strategien stellen in dem vorliegenden Verständnis den Input für die Formulierung von Geschäftsmodellen dar. Die Schnittstelle wird aber durchaus iterativ durchlaufen, d. h. Informationen aus der Business-Model-Formulierung (wie Geschäftsmodelle im Beraterdeutsch gerne bezeichnet werden) können die Strategie beeinflussen. Geschäftsmodelle sind also in dieser Sichtweise eine vereinfachte umsetzungsorientierte Darstellung der Strategie. Diese Abgrenzung wird in der Wissenschaft diskutiert bspw. Teece (2010), in der populären Praktikerliteratur wird sie aber gerne vernachlässigt. Ganz im Sinne der nach Vereinfachung strebenden Praxis werden in den populärwissenschaftlichen Quellen Geschäftsmodelle als checklistenartige Werkzeuge gehandhabt, mit deren Hilfe die dem strategischen Management inhärente Komplexität vermieden werden soll.

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Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der tendenziell verkürzten Sichtweise der Praxis lassen sich die Einflüsse der Digitalisierung auf Unternehmen anhand der Geschäftsmodelle gut abgrenzen. Im Wesentlichen können in den drei Teilmodellen Nutzenmodell, Wertschöpfungsmodell und Erlösmodell die Änderungen auftreten. Der höchste Grad an Veränderung ist dabei bei einer notwendigen Anpassung der Unternehmensstrategie und damit hervorgerufenen Anpassung des Nutzenmodells zu erwarten. Das tritt dann auf, wenn die IKT-Technologien zu vollkommen neuen Produkten und Leistungen führen und/oder neue Marktsegmente mit stark unterschiedlichen Anforderungen bearbeitet werden. Ganz typisch sind im Zusammenhang mit Digitalisierung aber Produkt-/Leistungsveränderungen, die durch IKT-Technologien ausgelöst werden. Alte Technologien werden durch die neuen substituiert, die daraus entstandenen Leistungen können alle drei Submodelle des Geschäftsmodells massiv beeinflussen. Im Extremfall kann mit dem Ersetzen des alten Angebotes durch ein neues Nutzenmodell ein vollkommen neuer Typ von Unternehmen notwendig sein. Branchen, die von derartigen strategischen Veränderungen teilweise massiv betroffen sind, sind Handelsunternehmen, von Medien- und Verlagshäusern bis zu Taxiunternehmen und Hotels. Der Grad der Betroffenheit ist wieder heterogen. Eine schlagartige Substituierung alter Technologien ist nur in Extremfällen zu erwarten. Oft wird eine Koexistenz am Markt durchaus auch längerfristiger bestehen. Aber häufig kann beobachtet werden, dass sich durch die digitale Konkurrenz die Anforderungen der Marktsegmente verändern und dadurch das Wertschöpfungsmodell massiv beeinflusst wird. Auch neue Nutzenangebote am Markt, wie bspw. Buchungsbörsen mit inkludierten Leistungsbewertungen für Hotels oder andere Dienstleistungen, haben oft Auswirkungen auf die Erstellung des alten Produkt- und Leistungsangebots. Diese Auswirkungen bilden sich daher bei den meisten Geschäftsmodellen im Wertschöpfungsmodell ab. Interne IT-Nutzung, die Optimierung interner Geschäftsprozesse und externer Vernetzungen können betroffen sein, um die veränderten Anforderungen am Markt abzudecken. Dies kann bspw. zum Aufbau einer echten Supply Chain (also externe Verflechtungen auf strategischer und operativer Ebene) führen, aber auch Auswirkungen auf Innovationsvorhaben etc. haben. Mit einer echten Supply Chain ist hier eine tiefergehende Verflechtung der Prozesse über Unternehmensgrenzen hinweg gemeint, die nicht nur eine Harmonisierung üblicher Planungssysteme beinhalten, sondern bis zu einer ausgewogenen strategischen und finanziellen Zusammenarbeit reicht. Dies ist zwar nicht neu in den theoretischen Modellen und in der populären Literatur, aber meist finden sich derartige tief gehend gekoppelte „Business Ecosystems“ (Teece und Linden 2017) nur ansatzweise, wenn derzeit von Supply Chain Management (SCM) gesprochen wird.

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Im Zusammenhang mit der Optimierung der Wertschöpfungskette ist noch zu beachten, dass es sich dabei um Ausprägungen von Prozessinnovationen und kaum Produktinnovationen handelt. Letztgenannte sind eher dann zu vermuten, wenn auch das Nutzenmodell im Geschäftsmodell davon betroffen ist. Folgt man nun der Hypothese, dass in Europa ein Großteil der Technologien, auf denen die erstellten Produkte und Dienstleistungen basieren, reif sind, dann besteht die Gefahr, dass eine übermäßige Verlängerung eines Lebenszyklus v. a. für Produkte erfolgt. Die Exploitationsphase (also Produkte basierend auf alter Technologie werden „ausgebeutet“) wird verlängert, kann aber eine überfällige Explorationsphase (Produktinnovationen mit oft radikalen Veränderungen) nicht ersetzen (Hasenzagl und Link 2016). Die technologische Ausgangslage einer Wirtschaftsregion wird sich dadurch zunehmend verschlechtern. Veränderungen auf Unternehmensebene, die direkt oder indirekt durch die Digitalisierung ausgelöst werden, können also beträchtliche Auswirkungen auf Unternehmen haben. Einerseits ist zur Konzeption und Implementierung dieser organisationalen Änderungen ein Veränderungsmanagement notwendig. Andererseits lassen die Radikalität der Veränderungen durch die Next Generation Competition auch ein ganz neues Management- und Führungsverständnis für das operative Tagesgeschäft vermuten. Der letzte Punkt, die Forderung nach grundlegend neuen Annahmen auf denen Managementansätze beruhen, ist nicht neu. Bereits seit einigen Jahrzehnten wird bspw. in der St. Galler Managementschule vor den Grenzen des derzeit in der Praxis und in der „Mainstreamforschung“ dominierenden naturwissenschaftlich mechanistischen (ökonomischen) Ansatz gewarnt. Diese Diskussion hat bisher wenig in der Managementpraxis ausgelöst, außer dass seit Anfang der 1990er-Jahre eine Managementmode die andere ca. im Dreijahresrhythmus abgelöst hat. Diese Moden (von CIM, Lean über BPR zu TQM und teilweise wieder zurück) basierten im Wesentlichen auf den naturwissenschaftlich mechanistischen Weltbildern und wurden deshalb dankbar von der Praxis angenommen. Seit einigen Jahren deutet sich aber eine Änderung in der Praxis der Unternehmensführung an. Auch wenn immer noch die meisten Unternehmen (v. a. die größeren) bürokratisch nach ökonomischen Vorstellungen geführt werden (also auf Basis des alten Weltbildes), scheint doch zunehmend Verunsicherung zu herrschen, ob mit diesem klassischen „Managementverständnis“ den zukünftigen Anforderungen durch die Next Generation Competition genügt werden kann. Bei aller Kritik an der Euphorie und bei Beachtung der Risiken der Digitalisierung für Branchen und Unternehmen, lässt sich doch ein beträchtliches Potenzial in der Digitalisierung vermuten. Was weitgehend fehlt, ist eine theoretische Unterfütterung der neuen Art von Management, die notwendig ist, um die Potenziale der Digitalisierung und der Next Generation Competition zu realisieren (Hasenzagl und Link 2016). Wie funktioniert „gutes“ Management in den neuen Zeiten?

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„ Gutes“ Management in der Next Generation Competition

Derzeit scheint es in der populärwissenschaftlichen Literatur auf die Frage nach gutem Management in Zeiten der Digitalisierung nur eine Antwort zu geben: agil! Zumindest wenn man die Angebote am Buchmarkt, die sich an Praktiker richten, betrachtet. Eine Literaturanalyse zeigt aber grob drei Strömungen, in denen Agilität eine Rolle spielt: eine wissenschaftlich orientierte Richtung, eine Strömung mit Projektmanagement im Vordergrund und populärwissenschaftliche Literatur v. a. von Beratern (Hasenzagl und Link 2017). Während sich die an wissenschaftliche Leserschaft gerichtete Literatur schwerpunktmäßig mit Produktionsunternehmen und zunehmend mit IT-Projekten beschäftigt, haben die beiden letztgenannten Literaturrichtungen hauptsächlich Managementpraktiker als Zielgruppe. Im vorliegenden Zusammenhang des „guten“ Managements in Zeiten der Digitalisierung ist v. a. die letzte Gruppe, kurz als „Beraterliteratur“ bezeichnet, dominant. Hinsichtlich Definition von Agilität finden sich sowohl in der wissenschaftlichen Literatur7 als auch in der Beraterliteratur einige Kernmerkmale agiler ­Organisationen: Rasche Reaktionsfähigkeit auf (unvorhergesehene) Umweltveränderungen, meist mit Schwerpunkt auf Marktveränderungen (Kundenfokus), aktive und proaktive Handlungsfähigkeit des Unternehmens, Fokus auf Chancen (opportunities), oft auch unternehmensübergreifende Wertkettenorientierung.

Je nachdem welche theoretische Basis Wissenschaftler verwenden und welche Geschäftslogik Berater anbieten, liegen die Schwerpunkte oft bei unterschiedlichen Merkmalen. Trotz ähnlicher Kernaspekte von Agilität gibt es einige Diskussionen hinsichtlich des Verhältnisses von Agilität zu anderen Managementansätzen oder -konzepten, bspw. zu dem Konzept Lean Management. Andere – insbesondere innovationsorientierte Konzepte – werden in agile Unternehmensführung integriert. Kennern der Managementliteratur fällt ein Näheverhältnis der obigen angeführten agilen Kernmerkmale zu Definitionen von Corporate Entrepreneurship (CE) auf. CE-Anhänger haben versucht, sich in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich von benachbarten Forschungsfeldern abzugrenzen. Eine Abgrenzung von CE zu Management klingt immer noch „sehr bemüht“, hier wird also die Grenze von CE und Management eher als eine „künstliche“ gesehen. Auf alle Fälle hat CE bei  Für eine Übersicht wissenschaftlicher Definitionen: Hasenzagl und Link (2016).

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Weitem nicht die Attraktivität bei Beratern (inklusive Buchautoren und Weiterbildungsanbietern) erlangt, wie agiles Management. Die Frage ist nun, was den Praktikern konkret unter agiler Unternehmensführung angeboten wird, die allen anderen Ansätzen insbesondere der derzeit vorherrschenden Managementpraxis als überlegen geschildert wird.8 Außerdem beinhalten die Angebote der Beraterliteratur meist auch einen (den besten?) Weg der Umsetzung des agilen Unternehmens. Ein Muster ist der Einstieg in das Thema, in dem zuerst der heutige Managementstil als hierarchiegetrieben, langsam und innovationsfeindlich, überplant, ohne Einbindung der Mitarbeiter, dominiert vom Topmanagement etc. geschildert wird. Mit agiler Unternehmensführung wird nun eine grundlegende Änderung von Management versprochen, das dann den neuen, v. a. digitalen Herausforderungen gewachsen ist. Auf den ersten Blick finden sich diese Kritikpunkte an den klassischen Managementansätzen aus den populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen auch in zeitgemäßen Managementtheorien, wie bereits weiter oben erwähnt. Auf den Punkt bringt Dirk Baecker diese Kritik mit der Anmerkung „Wir haben uns daran ­gewöhnt, beim Stichwort ‚Organisation‘ sofort Routine, Hierarchie, Frustration und Unentrinnbarkeit mitzuhören.“ (Baecker 2003, S.  21). Bei näherer Betrachtung fallen aber deutliche Unterschiede zwischen der agilen Problemanalyse und der wissenschaftlichen Kritik auf, die v. a. in der theoretischen Tiefe und Kohärenz der Argumentation liegen. Anders als in rezenten Managementtheorien sind die Analysen in den populärwissenschaftlichen Darstellungen für viele Mitglieder der Praktikerzielgruppe sofort leicht nachvollziehbar. Das liegt auch an der fehlenden theoretisch fundierten Argumentation, die weiter unten noch eingehender diskutiert wird. Allerdings  – und das könnte die derzeitige „agile“ Bewegung von vergangenen Hypes unterscheiden – scheint zum ersten Mal bei Praktikern die bereits oben erwähnte Verunsicherung hinsichtlich der derzeitigen Grundlagen des Managements zumindest ansatzweise beobachtbar. In diese Bereitschaft, die maßgeblich durch eine nicht zu übersehende Marketingmaschine der IKT-nahen Wirtschaft zum Thema „Digitalisierung“ und von mindestens ebensolchen Marketinganstrengungen von Beratern, Buchautoren und Ausbildungsunternehmen beflügelt wird, stoßen die Angebote diverser Anbieter  Interessant dazu ist eine Anmerkung von Dirk Baecker auf seine selbstgestellte Frage, Wie liest man ein Schlagwort?: „Fast alle Schlagworte der Managementphilosophie haben eine polemische, zumindest aber normative Komponente. Indem sie für etwas werben, wenden sie sich gegen etwas anderes“ (Baecker 2003, S. 89). 8

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von agilen Ansätzen. Die Frage ist nur, ob die erhofften „grundlegenden“ Veränderungen – die folgerichtig aus der massiven Kritik an den bestehenden Verhältnissen folgen – mit dem neuen Ansatz erreichbar sind und die Vertreter der agilen Ansätze ihren Ansprüchen an sich selbst gerecht werden können. Was Unternehmen ändern müssen, um dem agilen Managementverständnis gerecht zu werden, unterscheidet sich in den verschiedenen praxisbezogenen Arbeiten – oft aber nur in Detailaspekten. Eine Kurzfassung ist: maximale Kundenorientierung bei maximaler Mitarbeiterorientierung. Sehr oft berufen sich die Autoren auf die Werte des „agilen Manifestes“ und die daraus abgeleiteten „agilen Prinzipien“ (für eine Beschreibung siehe bspw. Hasenzagl und Link (2017). Diese Werte und Prinzipien wurden zwar 2001 von Softwareentwicklern unterzeichnet, werden aber – oft um zusätzliche Werte erweitert – auch als Basis für agile Unternehmensführung verkündet. Aus den Werten und Prinzipien ergeben sich einige zentrale Aspekte, die sich immer wieder in den agilen Konzepten finden: • Individuen stehen im Mittelpunkt, daraus folgt eine spezifische Form der Führung (bzw. die Forderung nach „Selbstführung“), • Selbstorganisierende Teams, • Damit: Schaffung der Voraussetzungen für selbstverantwortliche Mitarbeiter und selbstorganisierte Teams, • Große Nähe zu den Bedürfnissen des Kunden, • Innovationsfähigkeit, Veränderungsbereitschaft und rasche (erste) Ergebnisse. Mit diesen zentralen Aspekten, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben, soll charakterisiert werden, was unter „agilem Management“ verstanden werden soll. An sich würden viele Manager und noch mehr Mitarbeiter diesen zentralen Aspekten zustimmen, je nach Betroffenheit wird die Zustimmung in unterschiedlichen Ausprägungen zu finden sein. Hinter diesen zentralen Aspekten der agilen Unternehmensführung stecken aber handfeste – meist altbekannte Grundannahmen, von denen einige beispielhaft diskutiert werden. Um die oben genannten Kernaspekte agiler Unternehmen zu erfüllen, ist für die meisten Vertreter agiler Praktikeransätze die Ablehnung von Hierarchie ein zentraler Punkt. Allerdings setzt sich ein Großteil der Autoren nicht differenziert mit dem Hierarchiebegriff auseinander. Abgelehnt wird, so ist aus vielen Arbeiten zu lesen, ein Hierarchieverständnis, in dem das Topmanagement alle Entscheidungen trifft (strategisch und operativ im Tagesgeschäft) und diese den Mitarbeitern anweist. An sich ist ein dieser Diagnose entsprechendes  – und heute noch überraschend häufig zu findendes – Managerverhalten durchaus problematisch für den

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nachhaltigen Unternehmenserfolg. Aber um ein neues Managementverhalten zu ermöglichen, reicht es nicht, das alte zu kritisieren – noch dazu mit theoretisch wenig fundierten Argumenten. Wenn das ökonomische Zielsystem, das unser Wirtschafts- und auch das europäische politische System weitgehend dominiert, derart verankert in der westeuropäischen Wirtschaftskultur ist, dann wirken Appelle von Buchautoren und Beratern in Richtung partizipativer Werte, Selbstverantwortung und Selbststeuerung (auch von Teams) wie eine Spielzeuggießkanne bei einem Großbrand. Außerdem ist Hierarchielosigkeit bei undifferenzierter Sichtweise nicht die Lösung. Nach rezenten Organisationstheorien – wie bspw. der Systemtheorie nach Luhmann9 – sind Organisationen dadurch gekennzeichnet, dass sie Hierarchien ausprägen. Undifferenzierte Sichtweise meint, dass mit der Kritik am Hierarchieverständnis durch Vertreter agiler Ansätze an sich ein wesentlicher Punkt aufgegriffen wird, dies aber theoretisch auf zu wackeligen Beinen steht. Der Hierarchiebegriff ist zu wenig differenziert, sondern einseitig negativ belegt. Die Dynamik und ­Emotionalität dieser Diskussion in der unternehmerischen Praxis ist auch eine Auswirkung der oben diskutierten Emanzipationserwartungen der Gesellschaft. Ebenso halten weitere, stillschweigend als absolut richtig angenommene Vo­ raussetzungen der agilen Konzepte einer Überprüfung auf Basis rezenter Theorien kaum stand. Der in den „agilen Bibeln“ mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Annahme des selbstmotivierten Menschen (McGregor XXXX) stehen heute wesentlich differenziertere Konzepte von Menschen gegenüber. Die Annahme, Mitarbeiterziele und Organisationsziele seien ad hoc deckungsgleich, ist eine Grundlage für intrinsische Motivation des selbstmotivierten Menschen und ist a.) nicht neu und b.) sehr umstritten. Sie ist insoweit nicht neu, als sie eine zentrale Annahme der „klassischen“ menschenorientierten Organisationsentwicklung mit der Hochblüte etwa in den 1970er-Jahren war. Umstritten ist diese von vielen Beratern apodiktisch vertretenden These der Kongruenz von (sozial-emotionalen) Mitarbeiterzielen und (ökonomischen) Organisationszielen aus unterschiedlichen Gründen (Wübbenhorst und Staudt 1982). Organisationsziele sollten die gesellschaftlichen Nutzenerwartungen widerspiegeln, sind aber sehr häufig zumindest

9  Für Luhmann überraschend klar formuliert, findet sich in dem Buch „Organisation und Entscheidung“ folgendes Zitat: „‚Alternatives to hierarchies‘ […] sind kaum zu finden – oder allenfalls dann, wenn man Hierarchie durch autoritative Praxis definiert.“ (Luhmann 2000, S. 21); zu verschiedenen Hierarchieverständnissen und deren Funktion für Organisationen siehe bspw. Hasenzagl (2012).

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offiziell ökonomischen Vorstellungen unterworfen.10 Abgesehen davon, dass in der heutigen heterogenen Gesellschaft kaum jeder Mitarbeiter das gleiche Nutzenverständnis für die Gesellschaft hat, sind in den mechanistisch geprägten ökonomischen Vorstellungen die sozialen Aspekte ein vollständig unbeobachtetes Feld. Zu erklären, wie da Mitarbeiterziele deckungsgleich mit Organisationszielen sein können, bleiben die Anhänger einer radikalen Mitarbeiterpartizipation schuldig. Dass es Organisationen geben mag, die zumindest gute Stories (die meist ohne systematische Methoden erhoben wurden) über Vorgesetztenwahlen und selbstbestimmte Mitarbeiter erzählen, ist dabei unbestritten. Aber eine Verallgemeinerung ist derzeit bei den beobachtbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen zumindest sehr problematisch. Nicht zuletzt zeigen schon frühe Forschungsergebnisse, dass Arbeitszufriedenheit (als Resultat der Erfüllung von Mitarbeiterzielen) und Leistung (angenommen als Indikator für die Abdeckung der Unternehmensziele) keinen einfachen kausalen Zusammenhang zeigen – so sehr dieser auch gewünscht wurde (Six und Eckes 1991). Außerdem zeigt die neuere Motivationsforschung, dass eine Form der intrinsischen Motivation mit einem internen Selbstkonzept, wie diese Leistung erbracht werden soll, verbunden ist (Barbuto und Scholl 1998). Werden diese internen Vorstellungen nicht vorgefunden und die Gründe in die Organisation a­ ttribuiert, sind Frustration und schwere Konflikte mit der Organisation vorprogrammiert. Derartige Mitarbeiter sind offenbar schwer in Organisationen zu integrieren. Es soll nicht bestritten werden, dass es Mitarbeiter gibt, die an den Zielen der Organisation interessiert sind und deren internes Selbstkonzept mit den organisationalen Vorstellungen, wie Leistung erbracht werden soll, nicht anecken. Es ist nur sehr voraussetzungsreich und kann nicht – wie in den oben erwähnten und jetzt im Kontext „agiler Ansätze“ wiederauftauchenden Ideologien – als trivial vorausgesetzt werden. Ein weiterer Kritikpunkt an vielen agilen populärwissenschaftlichen Arbeiten ist ein einseitiges Teamverständnis. Auch hier tauchen alte Ideologien von Gruppen auf (als soziale Voraussetzung leistungsorientierter Teams gesehen), die selbstorganisiert sind und in Richtung organisationaler Ziele streben. Dass dies sehr voraussetzungsreich ist und selten in dieser Form erwartet werden kann, wird ebenfalls häufig ausgeblendet. Zu den Grundannahmen hinter den agilen Vorstellungen, wie gutes Management in digitalen und dynamischen Zeiten aussehen muss, bietet die agile Literatur  Es gibt einige Theorieströmungen, die Organisationen eher als Machtarenen und weniger als rationale Optimierer sehen. Die Mitarbeiterziele spielen weder bei der Machtarenen-Metapher, noch im ökonomischen Bild eine Rolle.

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auch eine Reihe von Werkzeugen und teilweise auch Konzepte an, die Organisationen beim „Agilsein“ unterstützen sollen. Die Schwerpunktsetzung erfolgt in verschiedenen Quellen unterschiedlich, bekannte Konzepte sind: • Scrum, an sich für Projektmanagement gedacht, wird heute für Organisationen „skaliert“, • Design Thinking (ein Prozess und Werkzeuge für dynamische und kundenbezogene Innovationen), • Holacracy (Steuern von Organisationen über Rollen sowie Werkzeuge zum Meetingmanagement und zur Entscheidungsfindung) und • Kanban (in Dienstleistungsorganisationen v.  a. zur Visualisierung und Steuerung von Prozessen). • Eine Sonderrolle nimmt die Arbeit von Laloux (Reinventing Organizations) (Hasenzagl und Link 2017) ein und wird hier nur kurz erwähnt. In diesen Konzepten finden sich verschiedene Werkzeuge, die teilweise auch alleinstehend oder in Gruppen propagiert werden und v. a. für das Generieren und Durchsetzen innovativer Ideen dienen. Beispiele dafür sind altbekannte Beraterwerkzeuge der „Teambildung“, aber auch Moderationswerkzeuge etc. Interessant sind die strengen Meeting- und Entscheidungsregeln des Holacracy-Konzeptes von Robertson. Auch hier gilt, dass offenbar viele dieser Konzepte und Werkzeuge gut für die Problembearbeitung in Organisationen passen, die nach mechanistischen ­Vorstellungen geführt werden. Aber auch die Werkzeuge greifen wiederum viel zu kurz, um eine grundlegende Änderung im Managementverständnis herbeizuführen. Manager sind ihr ganzes Leben sozialisiert, für operativ inhaltliche Entscheidungen die Verantwortung zu treffen und haben v. a. Kosten im Fokus. Meist haben sie auch nur kostenrechnungsorientierte Controllingsysteme zur Verfügung. Außerdem sind in vielen Unternehmen kulturelle Strukturen zu vermuten, die sehr dominant die Machtverhältnisse schützen. Mit einem Werkzeug ändert man derartige Strukturen nicht. Um die einleitende Frage zu beantworten, ob die agilen Ansätze und Konzepte einen grundlegenden Wandel im Managementverständnis in der digitalen Welt ermöglichen (mit all den Next Generation Competition-Entwicklungen) muss auf Basis obiger Analysen ziemlich eindeutig mit „Nein“ geantwortet werden. Als Hauptbegründung wird gesehen, dass die agilen Ansätze keinen wirklichen Paradigmenwechsel – im Sinne von Änderung des Weltbildes, das den Ansätzen zugrunde liegt – beinhalten (Hasenzagl und Link 2017). Damit ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass diese Ansätze und Konzepte Organisationen nur an der Oberfläche irritieren, obwohl durchaus viele für Unternehmen hilfreiche Elemente in den agilen Ansätzen und den Konzepten und Werkzeugen zu stecken scheinen.

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6.4

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Alternatives Managementverständnis

Folgt man dem letzten Gedankengang, dass durch die agilen Ansätze kein Paradigmenwechsel im Managementverständnis ermöglicht wird, stellt sich die Frage nach potenziellen Alternativen. Die Frage nach einem Managementweltbild, das Unternehmensführern eine passende theoretische Basis bietet, um mit der Komplexität im neuen Wettbewerbsumfeld angemessen umgehen zu können, wird schon lange diskutiert und wurde weiter oben auch schon angesprochen. Außerdem ist die Frage nach alternativen Ansätzen eigentlich relativ einfach zu beantworten. In der sogenannten „Mainstreamforschung“ dominieren naturwissenschaftlich mechanistische Organisationsmetaphern, die auf ein naturwissenschaftliches Weltbild zurückgreifen. Zahlreiche Autoren argumentieren seit Jahrzehnten, dass dieses Weltbild starke Vereinfachungen beinhaltet und wesentliche soziale Aspekte in Organisationen nicht bearbeiten kann. Der Stanforder Professor Jeffrey Pfeffer stellt im Zuge einer akademischen Diskussion sogar die Frage: „Why do bad Management Theories persist?“ (Pfeffer 2005). Es liegt nach diesem theoretischen Diskussionsstrang v.  a. am naturwissenschaftlich mechanistischen Weltbild, wie es weiter oben schon im Zusammenhang mit der St. Galler Sichtweise oder der Managementtheorie auf Basis der Systemtheorie nach Luhmann angedeutet wurde. Dieses Weltbild führt fast zwangsläufig zu den – durch die agilen Vertreter kritisierten – bürokratischen Entwicklungen in Organisationen. Bekannte Lebenszyklusmodelle zeigen das auch deutlich, sie sprechen manchmal sogar von einer Bürokratiekrise. Moderne Lebenszyklusmodelle gehen davon aus, dass die Überwindung der Bürokratiephase ohne Wechsel der zugrunde liegenden theoretischen Basis nicht möglich ist (Hasenzagl 2011). Stimmt man dieser Annahme zu, folgt der oben zitierte Schluss, dass agile Ansätze zu sehr an der Oberfläche bleiben, um einen derartigen grundlegenden Wechsel auszulösen und dauerhaft zu implementieren. Ein Hinweis auf Werte oder philosophische Betrachtungen in den agilen Publikationen ersetzt nicht eine klare wissenschaftstheoretische Position und konsistente theoretische Grundannahmen hinsichtlich Organisationen, Individuen und deren Interaktion sowie die Koppelung mit Umfeldsystemen. Derartige (meta-) theoretische Positionen haben bspw. keinen Platz für apodiktisch vorgebrachte Menschen- oder Teambilder und vereinfachte Hierarchieverständnisse. Moderne Managementtheorien bspw. auf Basis der neueren Systemtheorie bieten derartige gut reflektierte paradigmatische Positionen, die sich deutlich von den „klassischen“, meist nur implizit vorhandenen Weltbildern im Management unterscheiden. Aber gerade systemtheoretische Ansätze zeigen, dass es nicht reicht, sich an der Oberfläche mit „systemischen Interventionen“ zu schmücken, sondern tief gehende Auseinandersetzung mit den theoretischen Positionen und viel Erfahrung

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im Praxistransfer notwendig sind. Wird das noch mit spezifischen Managementkonzepten11 angereichert, ist man bei einem echten akademischen Managementstudium angelangt. Die Hypothese, dass eine echte akademische Ausbildung (also eine auf rezenten Theorien und nicht Praktikermodellen basierte) für eine Professionalisierung einer Tätigkeitsgruppe unabdingbar ist, zeigt seit Jahrzehnten die soziologische Professionalisierungsdiskussion (siehe dazu Hasenzagl 2011). Eine gute akademische Ausbildung verbunden mit Praxiserfahrung ist nach dieser Sichtweise die einzige systematische Möglichkeit, mit den heute auftretenden Dysfunktionalitäten in der Managementpraxis zu brechen. Es drängt sich sofort die Frage auf, warum es nicht klappt, wenn alles so klar ist? Zur Diskussion dieser Frage können in einem ersten Ansatz einige Stakeholder betrachtet werden, die Interesse daran haben, wie Management funktioniert. Da ist zuerst einmal die Praxis der Wirtschaft zu betrachten, also das relevante Umfeld der Managementpraktiker. Praxis unterscheidet sich ganz massiv von Wissenschaft. Sucht Wissenschaft ohne starken Zeitbezug Antworten auf For­ schungsfragen, um der „Wahrheit“ möglichst nahe zu kommen, tickt Praxis nach einer vollkommen anderen Logik. Ein Manager, der wie ein Wissenschaftler arbeitet, wird nicht lange Manager sein. Praxis sucht schnelle Antworten, um die Handlungsfähigkeit unter einem (teilweise selbstauferlegten) Zeitdruck aufrecht zu erhalten. Und es muss sich mit diesen Handlungen Erfolg konstruieren lassen. Erfolgskon­ struktion ist aber nach Sichtweise moderner Theorien mehr eine Frage der Macht, die jemandem zugeschrieben wird, als von „Richtigkeit“ der Handlung oder irgendeiner Form von „Wahrheit“. Da sind einfache Zusammenhangsmodelle (Alltagstheorien), die gut für die Argumentation der eigenen Entscheidung und Erfolgskonstruktionen taugen, wichtiger als das Verstehen komplexer Zusammenhänge. Eine andere Stakeholdergruppe sind die akademischen Ausbildungsstätten (siehe dazu auch Pfeffer 2005). Akademische Ausbildungen sind starken Umfeldeinflüssen ausgesetzt, die eher weg von einer theoriebasierten Bildung hin zu sehr „praxiskompatiblen“ Ausbildung führen. Außerdem zwingt die zunehmende Ökonomisierung der akademischen Bildung auch zu hohem „Praxisbezug“, der nicht gerade zu einer theoretisch fundierten Ausbildung führt. Beide Hypothesen sind sehr pointiert. Es gibt sehr theorieaffine Manager und es gibt auch noch echte akademische Ausbildungen. Aber der Trend scheint ganz deutlich in Richtung zunehmender Vereinfachung zu gehen.  Unter Managementkonzepten werden hier Vorgehensweisen und deren Grundlagen für verschiedene Ebenen des Managements verstanden. Konkret sind das bspw. auf der normativen Ebene Konzepte zur Leitbilderstellung oder auf strategischer Ebene Konzepte für strategische Analysen und Strategieformulierung.

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Damit ist aber ein Paradigmenwechsel nicht wahrscheinlich, der moderne Managementansätze ermöglicht, um die hochkomplexen Next Generation Competition-Anforderungen in Organisationen zu integrieren oder in der Organisation zu absorbieren. Bei dieser Prognose zu warten, bis Management professionalisiert ist, also u. a. eine echte akademische Ausbildung für Manager verbreitet ist, hilft derzeit den Managern in der Praxis wenig. Hilfreich kann aktuell sein, altbekannte Managementkonzepte konsequent ein- und umzusetzen. Wichtig dabei ist, zwischen Managementkonzepten und Managementmoden zu unterscheiden. Es muss nicht alles besser sein, nur weil es plötzlich mit einem neuen Namen (bestenfalls noch einem englischen) bezeichnet wird. Misstrauen Sie schnellen Lösungsansätzen, auch wenn sie sofort plausibel scheinen. Unterschätzen Sie die Zeit nicht, die organisationale Veränderungen brauchen. Wenn Organisationen lernen, sich also tief gehend verändern, dauert es meist die zehnfache Zeit als angenommen. Das liegt v. a. darin, dass Manager dazu neigen, ihre Konzepte als die logische und rational nachvollziehbare Lösung zu sehen. Und wer wird schon eine rationale Lösung nicht implementieren wollen? Dass die Annahme einer „Weltrationalität“ eine ziemliche Zumutung ist, wird leider häufig ignoriert. Um diese Punkte wirksam zu implementieren, ist eine mechanistische Sichtweise natürlich nicht hilfreich. Aber es haben schon Unternehmen geschafft, durch Managementweiterbildungen mit angemessener Komplexität (und nicht mit schnellen Moden), über Jahre in der Organisation tatsächlich das Weltbild und damit die Managementansätze zu ändern. Aber es ist kein einfacher Weg und bedarf komplexerer Konzepte als sie in der Praxis üblicherweise gekauft werden.

6.5

Conclusio

Folgt man den Überlegungen dieser Arbeit, zeigt sich, dass in der Digitalisierung sowohl für die Gesellschaft als auch für Branchen und v. a. Unternehmen sehr viele Chancen liegen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen ein eher unklares Bild, v. a. auf Ebene der Gesellschaft scheinen viele Risiken in der öffentlichen Diskussion ausgeblendet zu sein. Die Anhänger der Digitalisierung argumentieren oft mit dem Hinweis, dass schon bei der Erfindung der Eisenbahn Skeptiker vor unabdingbaren Schäden beim Menschen durch die rasante Reisegeschwindigkeit gewarnt haben und überhaupt die Gesellschaft an der Eisenbahn zugrunde geht. Zahlreichen in populären Schriften (nicht nur dort!) angeführte derartige Irrtümer zur Immunisierung der „digitalen Revolution“ vor Kritik, kann ein Argument im Geiste des Philosophen Günther Anders entgegengestellt werden: Wir haben viele Ansätze neuer Energiequellen gebraucht, die meist als die große

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Lösung gelobt wurden, bis wir zur Atombombe kamen. In der Hand der vielen „Nicht-­Theory-­Y-Menschen“ kann sie, basierend auf der vor einigen Jahrzehnten hochgelobten Atomenergie, die ganze Welt vernichten. Was ist, wenn die Digitalisierung die Atomenergie der Gesellschaft ist? Im Angesicht des Risikopotenzials für die Gesellschaft und auch einiger problematischer Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Individuen soll weder die Digitalisierung pauschal kritisiert werden, noch der Versuch gebremst werden, die zahlreichen Potenziale zu aktivieren. Aber es scheint allerhöchste Zeit, eine strukturierte und wissenschaftlich orientierte Auseinandersetzung mit den notwendig erscheinenden und in der vorliegenden Arbeit diskutierten Fragestellungen zu forcieren. Eine ähnliche Sichtweise wird bezüglich Auswirkungen auf Unternehmen vertreten. Auch disruptive Innovationen, die eine Sprengkraft haben, ganze Branchen zu verändern, hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben. Bei der Vielfalt an äußerst sinnvollen, aber auch problematischen Möglichkeiten, die eine Digitalisierung bietet, scheinen noch viele theoretisch fundierte unternehmerische Analysen notwendig, um echte Chancen herauszuarbeiten. Teure „­ Pseudoinnovationen“ müssen also von echten Chancen unterscheidbar sein.12 Die diskutierten agilen Ansätze und Werkzeuge neigen zu einem unreflektierten einseitigen Verhältnis zu Kundennutzen („maximale Kundenorientierung“ wird ausgerufen). Die Gefahr, Innovationen, denen nicht wirklicher Nutzen gegenübersteht, zu forcieren, sind durch die relativ leichte Realisierbarkeit mit IKT-Technologien und dem raschen Prototyping durchaus erwartbar. Trotz laufender IKT-Innovationsmaschinerie steigt die totale Faktorproduktivität der Volkswirtschaften ziemlich langsam. Es stellt sich die Frage, ob nicht viele (IKT-)Pseudoinnovationen dahinterstehen. Eine ganz große Chance für Unternehmen wird in der derzeitigen zumindest ansatzweisen Verunsicherung im Management bezüglich der heutigen naturwissenschaftlich mechanistischen Weltbilder mit den bürokratischen Auswirkungen gesehen. So hilfreich agile Ansätze im Detail beispielsweise bei der Gestaltung von innovativen Entscheidungsprozessen sein können, greifen sie in aller Regel doch zu kurz, um echte tief gehende Veränderung im praktischen Management zu erreichen. Echte, paradigmatische Veränderungen bedürfen – so zumindest die hier vertretene Diskussionslinie in der Literatur – echter akademischer Ausbildung. Zieht man die Einstellung der Praxis, vielmehr noch die Entwicklungen im akademischen Bildungssystem in Betracht, wird eine Veränderung der Weltbilder wohl nicht so rasch erfolgen.  Die Wirtschaftsinformatikprofessorin Spiekermann-Hoff sieht bei einem Vortrag beim Peter Drucker Dialog am 7. September 2017 in Wien die „Ausgangsherausforderung“ in zahlreichen Innovationen, die durch die IT-Marketing-Maschinerie initiiert sind.

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R. Hasenzagl

Prof. Dr. Rupert Hasenzagl,  bis Ende 2017 Lehrtätigkeit als Management Professor an der AKAD University, private Hochschule in Stuttgart. Derzeit ist er neben der akademischen Lehrtätigkeit in Österreich (bspw. wissenschaftliche Leitung eines MBA Studiengangs bei der LIMAK, der Business School der Linzer Universität JKU) verstärkt in der Management- und Beratungsforschung am Institute of Human Resource & Change Management an der JKU Linz und bei der Forschergruppe Neuwaldegg sowie als Unternehmensberater tätig.

Teil II Management der digitalen Transformation

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Unternehmensführung in einem volatilen Umfeld: Ist strategische Führung in Zeiten von VUCABedingungen obsolet? Corinna Ludwig

„Die eigene Wirkung lebt fort im Handeln der Anderen“ G.W. Leibniz (1646–1716)

Inhaltsverzeichnis 7.1  E  inleitung...............................................................................................................  106 7.2  H  istorie und Grundlagen........................................................................................  106 7.3  Die Führungsaufgabe in der VUCA-Welt..............................................................  107 7.3.1  Synergetische Führung als Handlungsmaxime..........................................  108 7.4  Anpassungsbedarf im synergetischen Führungsverständnis aus transformationaler und strategischer Führung.......................................................  111 7.4.1  Grundlagen der synergetischen Führung...................................................  111 7.4.2  Strategische Aspekte der synergetischen Führung.....................................  113 7.4.3  Operative Aspekte der synergetischen Führung........................................  114 7.4.4  Messung des Erfolgs von systemischer Führung in volatilen Zeiten........  115 Literatur...........................................................................................................................  117

C. Ludwig (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_7

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7.1

C. Ludwig

Einleitung

Klassische Managementlehre bewertet unternehmerische Anforderungen oder zu lösende Probleme aus der Perspektive der Planbarkeit und Rationalität. Sie lassen sich mit dem richtigen Expertenwissen steuern, so dass für Kontinuität und Überschaubarkeit gesorgt ist. In der volatilen Welt bilden jedoch viele Einflussgrößen ein vernetztes, sowohl in seinen Einzelteilen als auch im Zusammenhang wenig überschaubares, Ganzes. Diese Systeme sind komplex und lassen sich nur in konkreten Kontexten verstehen. Erfolgreiches Handeln kann hier nicht mehr mit Expertensteuerung und Planbarkeit gemeistert werden. Es werden Mitarbeitende benötigt, die mit Ungewissheit und Widersprüchlichkeiten umgehen können. Erfolgreiches Handeln benötigt hierbei also hoch motivierte und kreative Mitarbeitende, die in einer Kultur des Vertrauens lösungsorientiert denken und selbstverantwortlich Entscheidungen treffen. Das erfordert eine Organisation bzw. einen Organisationstyp, der agiles Handeln fördert, ohne dass die Organisation ihre Stabilität und Identität verliert.

7.2

Historie und Grundlagen

Welche Aspekte werden die Unternehmensführung in naher Zukunft stark beeinflussen? Schnelle, überlegte Reaktionen auf sich verändernde Situationen – in einem Wort: Agilität. Dieser Begriff nimmt in jüngster Vergangenheit immer mehr Raum in der Praxis ein und verdrängt damit klassische Begriffe wie Flexibilität (Scherber und Lang 2015) aus dem Führungsumfeld. Das Thema Agilität findet sich auch verstärkt im Fokus der führenden Wirtschaftsberatungsunternehmen, die sich in Veröffentlichungen intensiv mit dem Thema befassen. Zusätzlich kann man einen starken Fokus der angelsächsisch geprägten Management- und Führungslehre an Universitäten in qualitativen wie quantitativen Erhebungen hin zu diesem Thema beobachten (PMI 2012). Die, durch Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, langjährig geführte Diskussion zum Thema Agilität fand allerdings bislang nur wenig Berücksichtigung in der praktischen Unternehmensführung. Die klassische Organisationslehre beschäftigt sich allerdings schon seit fast 25 Jahren intensiv mit dem Begriff, der jedoch nur in diesem Rahmen erforscht, erweitert und angepasst wird (Förster und Wendler 2012). Neue Dynamik hat die Diskussion in kürzester Vergangenheit

7  Unternehmensführung in einem volatilen Umfeld: Ist strategische Führung …

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durch verschiedene Aspekte der Globalisierung erlangt und gewinnt so in einer immer schneller und komplexer werdenden Umwelt an Bedeutung. Dies ist allerdings nur ein Aspekt, der für die Zukunft relevanten Kernkompetenzen eines erfolgreichen Managements. Die Welt wirkt unmittelbarer, unvorhersehbarer und schneller auf das Management eines Unternehmens ein.

7.3

Die Führungsaufgabe in der VUCA-Welt

Globalisierung und Digitalisierung fordern Unternehmen in allen Bereichen der Wertschöpfungskette. Krisen haben in jüngster Vergangenheit dazu beigetragen, die Diskussion anzuregen, wie sich Unternehmen auf ein Umfeld einstellen, das sich sehr schnell verändert. Diese neuartige Umweltsituation wird oft mit den Adjektiven „volatility, uncertainty, complexity, ambiquity“  – kurz: VUCA  – umschrieben. Der Aspekt Komplexität (complexity) ist hierbei der ausgeprägteste. Muster sind dabei nicht wiederholbar, Akteure nicht kontrollierbar, es bestehen vielschichtige Dimensionen, und Auswirkungen sind nicht voraussagbar (Mack et al. 2016). Zusammenhänge sind somit unklar, widersprüchlich oder mehrdeutig (ambiquity), obwohl eine gewisse Logik zugrunde liegt. Der Zeitpunkt und Einfluss der Herausforderung ist unklar (uncertainty) und kommt zudem unerwartet oder kann zeitlich nur schwer eingeschätzt werden (volatility). Entscheidungen zur strategischen Unternehmensführung unterliegen daher ständig eines Abgleichs mit der aktuellen Situation, einer flexiblen Anpassung und kurzfristigen Umplanung, wenn die Situation neu bewertet werden muss. Dies kann allerdings, besonders bei der strategischen Entscheidungsfindung, zu widersprüchlichen Entscheidungsgrundlagen oder Situationsbewertungen führen (Abb. 7.1). ihre Grenzen und sichern nicht mehr den maximalen Erfolg des Unternehmens. Das an die Zukunft ausgerichtete Unternehmen handelt innovationsorientiert, generiert ständig neue Ideen und passt sich an schnell ändernde Marktbedingungen an. Dies erfordert ein Höchstmaß an Aufmerkkeit und Wachsamkeit und den starken Willen zur Zusammenarbeit und Vernetzung von Wissen. Der Managementfunktion kommt hierbei eine zentrale Rolle zu. Der Führungsprozess stellt das zentrale Element in Kommunikationsprozessen dar. Kommunikation und Führung sind unabdingbar in der weiteren Betrachtung miteinander verknüpft.

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C. Ludwig

Abb. 7.1  Charakteristika der VUCA-Welt

7.3.1 Synergetische Führung als Handlungsmaxime Die strategische Führung in ihrem Selbstverständnis beschreibt sich als die Führungsform durch Komplexität. Sie kombiniert Aspekte unternehmerischer Überlegungen mit dem Blick auf Märkte und dem Gespür für Entwicklungen und Trends. Diese Art der Führung fordert sehr viel Beobachtung und die Fähigkeit, mehrere Aspekte gleichzeitig im Blick zu haben. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass jemand, der unternehmerisch denkt und handelt, nur unzureichend gleichzeitig völlig in seiner Führungsaufgabe auf die Mitarbeiter konzentriert ist, und jemand, der andere entwickelt, hat gar nicht die Zeit, sich mit unternehmerischen Strategien zu beschäftigen. Das passt zuweilen schwer zusammen. Die Lösung kann hierbei die synergetische Betrachtung der normativen bzw. strategischen Führung und der transformationalen Führung als Handlungsmaxime sein. Im Sinne einer Stärkenorientierung in Management und Führung würde dies zu einer multipersonalen Führungsverantwortung führen, die es ermöglicht, verschiedene Managementfunktionen durch verschiedene handelnde Personen auszufüllen. So entstehen beispielsweise Führungstandems oder Führungstrios, die die Führungsverantwortung nach Inhalten aufteilen.

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7.3.1.1 Normative Aspekte der VUCA-Führung Grundsätzlich gilt es, die im Rahmen der vorangegangenen Betrachtung vorhandenen Hierarchien durchlässiger zu machen. Ressourcen, ob personell oder materiell, werden bestmöglich im Sinne der Maximierung des Unternehmenserfolgs kombiniert. Die themenstellungsabhängigen, virtuellen und auch projektbezogenen Einheiten, die dabei entstehen, kombinieren hierbei positive Aspekte klassisch hierarchischer und heterarchischer Organisationsformen. Besonders zu nennen sind hierbei die positiven Einflüsse auf das Kommunikationsverhalten, das intensiver, situativer und damit qualitativ besser wird. Als Ergebnis stehen hier Netzwerkorganisationen mit teilautonomen Einheiten, die auf Basis von Grundregeln und -werten zusammenarbeiten. Hierbei müssen allerdings einige Bedingungen im Rahmen des normativen Managements erfüllt sein bzw. geschaffen werden. Besonders die Verankerung in der Unternehmenskultur dieses neuen Führungsverständnisses ist hier zu nennen. Des Weiteren müssen das Bewusstsein und die Akzeptanz von Kontingenz und ungeplanten Richtungswechseln durch das Management geschaffen werden. Die Vernetzung von Wissen und Kollaboration muss gefördert werden und der Freiraum für eigenständiges Handeln geschaffen werden. Die Wachsamkeit gegenüber Umweltveränderungen wird geteilt und multipliziert, die Deutungshoheit über die Kernbotschaften muss im Management verankert bleiben.

7.3.1.2 Strategische Aspekte der VUCA-Führung Der Einfluss auf die Strategiefindung und -realisation ist in der weiteren Konzeption ebenfalls nicht zu unterschätzen. Während in der Vergangenheit die strategische Führungsarbeit klar aus den klassischen vier Aspekten des Managementregelkreises bestand – Analyse, Planung, Durchführung und Kontrolle –erstreckt sich das strategische Management in VUCA-Zeiten stärker auf die Betrachtung der Interaktion zwischen den einzelnen Bereichen Ziele, Pläne, Strategie und Durchführung. Die einzelnen Aspekte folgen nicht mehr logisch aufeinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Es wird somit notwendig, die einzelnen Elemente in häufigeren und kleiner werdenden Entscheidungen immer im vorliegenden K ­ ontext neu zu bewerten. Zentrale Elemente einer erfolgreichen strategischen Führung werden hier die Elemente Wertevermittlung, proaktive und systematische Reflexion von Sachverhalten und der Mut zu schnellen Entscheidungen sein. Strategische Aspekte werden somit dynamischer und orientieren sich dennoch im Gegenzug stärker an normativen Aspekten der Unternehmensführung wie Werten oder der Vision.

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7.3.1.3 Transformationale Aspekte der VUCA-Führung Professor Waldemar Pelz (2012, 2017) erläutert, wie die ideale transformationale Führung erreicht werden kann. Ergänzend um den Aspekt der strategischen Komponenten ergeben sich daraus grundlegende Orientierungen der Führung.

• Positive Feedbackkultur schaffen: –– Stetige stetige Verbesserungen anstreben, –– Beste beste Lösungen suchen, –– Anerkennung der Leistungen, –– Lob, –– Optimismus ausbauen. • Teamindividualität und Offenheit stärken: –– Fokus auf die gemeinsame Zukunft und Aufgabe, –– Klarheit über und Selbstvertrauen in die individuellen Stärken der Teammitglieder, –– Interesse am anderen wecken, –– Vertrauen schaffen, –– Stolz auf Tätigkeit.

Wenn man sich die oben genannten Aspekte genauer ansieht, stellt man fest, dass es hier vorwiegend um die Interaktion des Teams selbst geht und dass der Idealzustand nur durch das direkte Zusammenwirken der Beteiligten stattfinden kann. Die Führungsaufgabe, der es hier bedarf, ist an dieser Stelle vielmehr die eines Coaches oder Moderators, der die Teams begleitet. Philip M. Podsakoff und Kollegen (1990, 1996) beschreiben in ihrer Konzeption sechs Dimensionen der transformationalen Führung, die auch im volatilen Umfeld relevant sind und durch das jeweilige Führungsteam ausgefüllt werden. Vorbildfunktion: Die Führungskraft ist jederzeit Vorbild für ihre Mitarbeiter und richtet ihr Verhalten vollständig an den gemeinsamen Zielen aus. Bandura (1977) beschreibt den Effekt der Führung im Rahmen der sozialen Lerntheorie damit, dass Menschen das Verhalten anderer, insbesondere wenn sie diese respektieren und bewundern, nachahmen. Zukunftsvision: Die inspirierende Visionsvermittlung durch die Führungskraft für die Mitarbeiter ist hierbei Kernpunkt und motiviert, Ziele zu

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erreichen, die vielleicht bisher als unerreichbar galten. Eine erfolgreiche Vision zeichnet sich durch eine emotionale, positive Vermittlung aus; sie ist bildhaft und löst bei den Mitarbeitern Begeisterung aus. Individuelle Unterstützung: Die Führungskraft erkennt die Ziele, Potenziale und Probleme des einzelnen Mitarbeiters und fördert, coacht und motiviert individuell. Förderung von Gruppenzielen: Die Mitarbeiter stellen für eine höhere gemeinschaftliche Mission ihre eigenen egoistischen Interessen zurück. Der Mensch als soziales Wesen strebt nach Harmonie und Gruppenzusammenhalt. Durch die Schaffung gemeinsamer Ziele wird dieses Bedürfnis befriedigt, so dass das Wohlbefinden und dadurch wiederum die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter positiv beeinflusst werden. Intellektuelle Anregung: Die Führungskraft regt die Mitarbeiter zu innovativen Ideen und Veränderungen an. Die Mitarbeiter sehen sich somit kontinuierlich herausgefordert, Problemlösungen zu entwickeln. Hohe Leistungserwartung: Die Führungskraft hat fordernde, auf jeden Mitarbeiter abgestimmte, Erwartungen und bringt Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter ein.

Grundsätzlich wird ein aktives Beobachten und Handeln der Führungskräfte hierbei vorausgesetzt um den Veränderungsbedarf frühzeitig identifizieren können und Veränderungsprozesse erfolgreicher zu realisieren.

7.4

 npassungsbedarf im synergetischen A Führungsverständnis aus transformationaler und strategischer Führung

„Denn die Dinge, die wir erst lernen müssen, bevor wir sie tun, lernen wir beim Tun.“ Aristoteles

7.4.1 Grundlagen der synergetischen Führung In Zeiten von VUCA wird Führung mehr und mehr von mehreren Personen gemeinsam ausgeübt, die bei ihren Entscheidungen auf Big-Data-Analysen und Trendvorhersagen zurückgreifen können. Diese strategischen Führungskräfte

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profitieren ihrerseits von Teamcoaches oder -moderatoren, die die Teammitglieder zusammenhalten und – wiederum – das Beste aus ihrer gemeinsamen Arbeit auf operativer Ebene herausholen (Rooke und Torbert 1998, 2005). Die Coach-/Moderatorenrolle übernimmt hierbei besonders die Aufgaben, sowohl etablierte Denkmuster aufzubrechen und neue Einsichten zu vermitteln als auch eine faire Kommunikation zu gewährleisten. Gleichzeitig kann sie Aspekte der strategischen Orientierung übernehmen, wie das des integren Vorbildes und die Vermittlung von Sinn und Motivation. Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, würden dadurch die oberen Führungsebenen entlastet. Sie wären nicht gezwungen, alle Bereiche der Führung abzudecken, sondern könnten sich auf ihre persönliche Kernkompetenz fokussieren. Ein Teil der Führungscrew könnte so am Unternehmen arbeiten und andere, die besser coachen oder moderieren können oder wollen, im Unternehmen handeln. Grundsätzlich gibt es einen Anpassungsbedarf bei dieser erfolgsorientierten Neuausrichtung dieser Konzeption von Führung auf die folgenden Aspekte, die sowohl im normativen Management, wie z. B. in den Führungsgrundsätzen, als auch in operativen Einheiten der Unternehmung, wie z. B. in der Personalentwicklung, verankert werden müssen: • • • •

Kompetenzerhöhung, Schnelligkeit, Flexibilität, Und daraus resultierend eine erhöhte Reaktionsfähigkeit.

Die Kompetenzerhöhung stellt hierbei die größte Herausforderung dar. Im Rahmen dieser geht es darum, Mitarbeiter zu befähigen, selbstständig und selbstbewusst Entscheidungen zu treffen, die strategische Vision muss ankommen und als Handlungsmaxime verstanden werden. Zusätzlich bedarf es einer proaktiven Personalentwicklung der Mitarbeiter und Führungskräfte. Durch die schneller werdende Umwelt müssen auch Reaktionen des Unternehmens gegenüber Mitarbeitern und Marktveränderungen sehr zeitnah erarbeitet werden bzw. vorliegen. Konsequent zeitnahes und konstruktives Feedback sind hierbei ein Muss, um die Schnelligkeit zu erhöhen. Die Flexibilität mit unklaren Situationen umzugehen, muss geschult werden. Die Offenheit gegenüber Verbesserungsvorschlägen, Hinterfragen von Situationen und das Finden von unkonventionellen Lösungswegen sind hier zu nennen. Als Ergebnis aus den oben genannten Punkten ergibt sich dann die erhöhte Reaktionsfähigkeit, die Veränderungen identifizieren kann und darauf zeitnah r­ eagiert und dem Mitarbeiter letztendlich eine Handlungsfähigkeit auch unter Unsicherheit gewährleistet.

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7.4.2 Strategische Aspekte der synergetischen Führung Betrachtet man die VUCA-Welt in den in Abb. 7.2 gezeigten Quadranten mit den jeweiligen Ausprägungen ergeben sich darauf basierend auch entsprechende Hauptaktionsfelder der strategischen Führung, die ich nachfolgend näher beschreiben möchte (Hackl und Gerpott 2014): Volatilität: Bearbeitung durch Visionsvermittlung Wie bereits im Abschn. 7.3.1.1 erwähnt, ist es für das Gelingen der Führung, besonders im Umfeld der Unsicherheit wichtig, durch die starke Ausrichtung und Orientierung des Unternehmens und seiner Einheiten auf Visionen und Werte, Selbstsicherheit in den Entscheidungen des Unternehmens und der Mitarbeiter zu schaffen. Aufgrund von geteilten Führungsaufgaben wird es zunehmend wichtiger, die emotionale und intuitive Intelligenz jedes Einzelnen zu entwickeln, zu fordern und zu fördern. Funktionierende Netzwerke innerhalb des Unternehmens unterstützen hierbei den Prozess zu mandatsunabhängiger Führung. Unsicherheit: Bearbeitung durch Verständnis- und Wissensschaffung Um mit vorliegenden Informationen ein möglichst differenziertes Bild auf die Gesamtsituation zu erhalten, müssen weitere Informationsressourcen gefunden werden. Situationen lassen sich durch diesen zusätzlichen Informationsgewinn

Abb. 7.2  Bearbeitung der VUCA-Faktoren

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besser einordnen und validieren. Um unvorhergesehene Aspekte besser zu bearbeiten und zu bewerten, ist es nötig, einen Ressourcenpuffer für Schwankungen in der Organisation zu berücksichtigen. Die Komplexität der Informationslage liegt nicht nur im Unternehmen vor, sondern muss auch auf die Betrachtung des Marktes ausgedehnt werden. Marktwissen kann hierbei durch strategische Partnerschaften geschaffen, erweitert und verbessert werden. Ambiguität: Bearbeitung durch Schaffen von Klarheit Werden Führungsaufgaben durch verschiedene Personen im Team übernommen, ist es umso wichtiger klar zu benennen, um welche Führungsaufgaben es sich dabei handelt. Klare Aufgabenstrukturen und -aufteilungen müssen zu einer ausgeprägten Transparenz der übernommenen Rollen führen. Die Autonomie der einzelnen Gruppenmitglieder muss durch das Festlegen von einheitlichen und gemeinschaftlichen Kommunikations- und Entscheidungsregeln getragen werden. Die strategische Deutungshoheit der Teamergebnisse obliegt jedoch der formalen, strategischen Führungskraft, um Mehrdeutigkeiten und Missverständnisse zu vermeiden. Komplexität: Bearbeitung durch den Ausbau der Agilität der Organisation Abschn.  7.2 beschrieb den Begriff der Agilität bereits grundlegend. Schnell agierende und reagierende Organisationen und Systeme müssen geschaffen werden, deren Führungskräfte es beherrschen, Führungsstile effektiv an wechselnde Sachverhalte anzupassen. Zusätzlich müssen Selbststeuerungssysteme etabliert werden und eine kurzfristige, situationsabhängige Führung möglich und akzeptiert zu machen.

7.4.3 Operative Aspekte der synergetischen Führung Strategische Vorgehensweisen scheitern häufig in der operativen Bearbeitung. Hier sind es oft das Verhalten oder Verhaltensmuster, die zum Scheitern oder Gelingen einer Strategie beitragen. Somit beeinflusst das individuelle Verhalten auch strategische Ergebnisse. In seinem Buch „Einführung in die Systemtheorie und den Konstruktivismus“ beschreibt der Mediziner und Soziologe Fritz Simon (2015) Gebote, die es zu berücksichtigen gilt, um komplexe Sachverhalte individuell zu betrachten, bewerten und auf deren Basis Entscheidungen zu treffen.

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Da sich Gebote nur einschränkt für die Einbindung in ein Unternehmensumfeld eigenen, habe ich diese nachfolgend für den Fokus auf das Thema Führung in einem volatilen Umfeld angepasst. 1. Nichts ist objektiv! Jeder Mensch hat seine Erfahrungen, blinde Flecken und Interessen, die einzelne Perspektiven auf etwas Neues zeigen. 2. Beschreibungen sind keine Tatsachen! Dinge sind oft nicht so, wie sie beschrieben werden. 3. Informationen kategorisieren und in Wechselwirkung zueinander bringen. 4. Beobachtungen von Erklärungen und Bewertungen trennen. 5. Erklären des IST-Zustandes – in verändernden Systemen muss die aktuelle Situation beschrieben werden. 6. Elemente, Systeme und Umwelten unterscheiden – um Komplexität zu reduzieren bedarf es der Abgrenzung und Identifikation des Einflussbereichs. 7. Soziale Systeme als Kommunikationssysteme beobachten  – Beobachte und analysiere die kleinste Einheit (von Kommunikation). Diese Systeme funktionieren nicht über handelnde Personen, sondern über die Kontinuität der Kommunikationselemente. 8. Eine Einheit ist immer ein System mit relevanten Umwelten. Die Grenzen dieses Systems sind seine Umwelten. 9. Handeln an wiederholbaren Mustern orientieren! Intensitätslevel und Dauer entstehen durch die Wiederholung von Mustern in Prozessen. Diese kurze Zusammenfassung zeigt auf Verhaltensebene einfach und eindrücklich, wie die Kombination aus strategischen und transformationalen Führungsaspekten auch auf Mitarbeiterebene und zu einem nachhaltigen Modell der Führung entwickelt wird.

7.4.4 M  essung des Erfolgs von systemischer Führung in volatilen Zeiten Die stetige Komplexität bekommen Führungskräfte im VUCA-Umfeld nur in den Griff, wenn sie die konkrete Arbeitswelt – zusammen mit den Mitarbeitern – unter Berücksichtigung von Zukunftsorientierung, Produktivität und Motivation konzeptionell gestalten (Thunderbird School of global Management 2016) (Abb. 7.3).

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Abb. 7.3  Grobentwurf einer Balanced Scorecard in VUCA-Zeiten

Der Engpass in der Führungsaufgabe besteht darin, den Kombinationsprozess (Ziele – Mitarbeiter und Team – Aufgaben und Prozesse) im Griff zu behalten. Aufgrund zunehmender Veränderungsdynamik – ausgelöst durch Innovationschancen, Kostendruck, komplexere Fachaufgaben, veränderte Erwartungen der Mitarbeiter und einer stärker werdenden dezentralen Führungsverantwortung – ist es nötig, Entscheidungen und Prozesse ständig zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen. Hierbei kann ein Balanced Scorecard Konzept helfen, das sich auch den Bereichen Ziele, Team/Mitarbeiter, Aufgaben und Prozesse mit entsprechenden Key Performance Indicators hinterlegen lässt. Um die Verteilung der Führungsarbeit im Verantwortungsbereich effektiver und motivierender zu gestalten, ist die Nutzung der Key Performance Indicators zur Einschätzung und Erfassung des Zeitbedarfs und des Arbeitsfortschritts empfohlen. Zeitbedarf und Arbeitsfortschritt werden jedoch von den fachlichen Fähigkeiten und der Motivation der Mitarbeiter bestimmt. Darüber hinaus hängt der Zeitbedarf wesentlich von der Güte der Arbeitsmittel und der Prozessqualität ab.

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Da allerdings immer mit der Hypothese gearbeitet wird, dass die Mitarbeiterkapazität immer zu knapp ist, sollte zuerst die Frage beantwortet werden, wie viel Zeit überhaupt in eine Aufgabe investiert werden soll. Die Bedeutung der Aufgaben muss klar sein. Das setzt voraus, dass die Ziele geklärt sind, denn Aufgaben sind Schritte zur Zielerreichung.

Literatur Bandura, A. (1977). Social learning theory (Prentice-Hall series in social learning theory). Englewood Cliffs: Prentice Hall. Förster, K., & Wendler, R. (2012). Theorien und Konzepte zu Agilität in Organisationen. Dresdner Beiträge zur Wirtschaftsinformatik. Dresden: Technische Universität Dresden/ Fakultät Wirtschaftswissenschaften. Hackl, B., & Gerpott, F. (2014). HR 2020 – Personalmanagement der Zukunft: Strategien umsetzen, Individualität unterstützen, Agilität ermöglichen. München: Vahlen. Mack, O., Khare, A., Kramer, A., & Burgartz, T. (Hrsg.). (2016). Managing in a VUCA world. Cham: Springer International Publishing. Pelz, W. (2012). Kompetent führen: Wirksam kommunizieren, Mitarbeiter motivieren. Heidelberg: Gabler. Pelz, W. (2017). Transformationale Führung. http://www.transformationale-fuehrung.com/ Transformationale-Fuehrung-Umsetzung.html. Zugegriffen am 10.09.2017. PMI. (2012). Organizational agility. http://www.pmi.org/-/media/pmidocuments/public/pdf/ white-papers/org-agility-where-speed-meets-strategy.pdf. Zugegriffen am 15.09.2017. Podsakoff, P. M., MacKenzie, S. B., Moorman, R. H., & Fetter, R. (1990). Transformational leader behaviors and their effects on followers’ trust in leader, satisfaction, and organizational citizenship behaviors. The Leadership Quarterly, 1, 107–141. Podsakoff, P. M., MacKenzie, S. B., & Bommer, W. H. (1996). Transformational leader behaviors and substitutes for leadership as determinants of employee satisfaction, commitment, trust, and organizational citizenship behaviors. Journal of Management, 22(2), 259–297. Rooke, D., & Torbert, W. R. (1998). Organizational transformation as a function of CEO’s developmental stage. Organization Development Journal, 16(1), 11–28. Rooke, D., & Torbert, W. R. (2005). Seven transformations of leadership. Harvard Business Review, (April), 41–59. https://hbr.org/2005/04/seven-transformations-of-leadership. Zugegriffen am 04.04.2019. Scherber, S., & Lang, M. (Hrsg.). (2015). Agile Führung: Vom agilen Projekt zum agilen Unternehmen. Düsseldorf: Symposium. Simon, F.  B. (2015). Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg: Carl-Auer. Thunderbird School of Global Management. (2016). Adaptive leadership for the VUCA World: A tale of two managers. https://thunderbird.asu.edu/knowledge-network/adaptive-leadership-vuca-world. Zugegriffen am 04.04.2019.

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C. Ludwig

Dr. Corinna Ludwig  ist als Managerin und Führungskraft seit fast 20 Jahren in der Chemieindustrie tätig und hat im Rahmen ihrer Tätigkeiten in internationalen Change Projekten sowie im Marketing & Sales Bereich Veränderungen im Bereich der Digitalisierung in großen und kleinen Unternehmen aktiv initiiert und mitgestaltet. Zusätzlich ist sie seit mehr als fünf Jahren als Dozentin für die AKAD University sowie an weiteren privaten und staatlichen Hochschulen mit dem Schwerpunkt Unternehmensführung und Marketing tätig.

8

Disrupt or get disrupted: Handlungserfordernisse und Chancen der digitalen Transformation erkennen Christian Massmann

Inhaltsverzeichnis 8.1  8.2  8.3  8.4 

„ Adapt or die“ (Michael Lewis)  Digitale Evolution  Disruption  Fünf Wege in den Misserfolg  8.4.1  Selbstzufriedenheit  8.4.2  Eindimensionaler Radar  8.4.3  Eindimensionale Ziele  8.4.4  Innovationsresistenz  8.4.5  Fehlende Kundenorientierung  8.4.6  Fazit  8.5  Disruption als Chance wahrnehmen  8.5.1  Change Leadership  8.5.2  Technologische Innovation  8.5.3  Innovation der Geschäftsmodelle  8.5.4  Evolution interner Prozesse  8.5.5  100 % Customer-centric agieren  8.5.6  Fazit  Literatur 

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C. Massmann (*) Adstream, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_8

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8.1

C. Massmann

„Adapt or die“ (Michael Lewis)

In seinem dokumentarischen Buch „Moneyball“ beschreibt Michael Lewis (2004) den Versuch des finanziell zweitklassigen Baseballteams Oakland Athletics, mit den großen Teams der Liga wie den New York Yankees mitzuhalten. Da das Spielerbudget bei weniger als einem Drittel der großen Teams lag, war es nicht möglich, auf dem seinerzeit üblichen Weg ein wettbewerbsfähiges Team aufzubauen. Der General Manager des Teams, Billy Beane, führte statistische Analysen und mathematische Methoden zur Bewertung von Spielern ein, die es den Oakland Athletics ermöglichten, unterschätzte Jungtalente zu akquirieren und später mit hohem Gewinn weiterzuverkaufen. Das Team erreichte auf Basis dieses datengetriebenen Ansatzes vier Jahre in Folge die Play-offs der Major League Baseball. Die Oakland Athletics haben aus einer Underdog-Position heraus Bewertungs- und Einkaufsprozesse systematisch und nachhaltig verändert und damit eine grundlegende Transformation des Sportmanagements im Baseball ausgelöst. In ähnlicher Weise müssen Unternehmen den Status quo regelmäßig herausfordern, Gegebenes hinterfragen und neue Wege gehen. Die Nutzung von Daten und mathematischen Algorithmen sind hierbei ebenso wichtig, wie die grundlegende Bereitschaft für Veränderung auf emotionaler Ebene, die Veränderung von Organisationstrukturen, Vertriebskanälen und Marketingmodellen.

8.2

Digitale Evolution

„Es ist nicht die stärkste Spezies die überlebt, auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.“ (Charles Darwin)

Entgegen des allgemeinen Sprachgebrauchs ist die Digitalisierung keine Revolution. Eine Revolution kann eher verstanden werden als ein grundlegender und nachhaltiger struktureller Wandel eines oder mehrerer Systeme, der meist abrupt oder in relativ kurzer Zeit friedlich oder aber gewaltsam erfolgt. Die Digitalisierung ist weder ein abrupter noch ein in kurzer Zeit erfolgender Prozess. Unabhängig davon, ob man den Beginn der Digitalisierung mit dem Beginn des kommerziellen Internets Anfang der 1990er-Jahre festlegt oder mit dem Zeitpunkt, in dem es zum ersten Mal möglich war, mehr Informationen digital als analog zu speichern (2002) ist die Digitalisierung ein langjähriger und nicht endender Prozess. Es ist daher angezeigt, von einer digitalen Evolution anstelle einer Revolution zu sprechen.

8  Disrupt or get disrupted: Handlungserfordernisse und Chancen der …

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„Aus dem Kampf der Natur, aus Hunger und Tod geht also unmittelbar das Höchste hervor, das wir uns vorstellen können: die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Wesen.“ (Darwin 1990, S. 538). Auf diese Weise muss auch die Weiterentwicklung von Unternehmen im Rahmen der digitalen Evolution betrachtet werden. Konkurrenzkampf, Erfolgsdruck, das Sterben von und die Geburt neuer Unternehmen sorgen für eine fortwährende Entwicklung und immer performantere, erfolgreichere Unternehmen und Geschäftsmodelle. Auf technischer Ebene gibt es zwei Wachstumstreiber der digitalen Evolution: Konnektivität und Daten. Das Internet of Things beschleunigt und prägt die Digitalisierung der Wirtschaft maßgeblich. Im Jahr 1992 waren weltweit rund 1 Millionen Devices mit dem Internet verbunden, 2017 waren es bereits 28,4 Milliarden, 2020 werden es voraussichtlich 50 Milliarden sein. (Jaap van Till 2018) Die Verknüpfung physischer Geräte mit dem Internet ermöglicht die Kommunikation von Menschen und technischen Systemen und die Verbindung unterschiedlichster Informationsquellen. Hiermit einher geht ein immenser Zuwachs an Daten. Das jährlich global generierte Datenvolumen belief sich im Jahr 2005 auf 130 Exabyte, 2015 lag es bei 8591 Exabyte, 2025 wird es voraussichtlich bei 175.000 Exabyte liegen. (Statista 2019) Zur Einordnung: ein Exabyte entspricht 859 Milliarden Büchern oder 301.068 Jahren Film, fünf Exabyte entsprechen allen Worten, die je von Menschen gesprochen wurden. (Klinkenborg 2003, S. 11 f.) Aus dem exponentiellen Wachstum des Internet of Things und des globalen Datenvolumens ergeben sich – verknüpft mit immer präziseren Algorithmen und KI – eine Beschleunigung der digitalen Evolution und die Basis für massive Veränderungsprozesse der Wirtschaft. Digitale Transformationsprozesse haben nicht jede Industrie von Beginn an und in gleichem Maße betroffen. So traf es zwischen 1995 und 2010 insbesondere die Musikindustrie, Verlage, den Handel und Nischenmärkte wie die Video Rental Branche. In der TV-Branche erfolgte in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre ein massiver Ausbau von non-­ linearen Angeboten durch Unternehmen wie Netflix (einem ehemaligen Video Rental Anbieter), Amazon, Hulu oder Apple TV. Hiermit einher ging ein Veränderungsprozess von Nutzungsgewohnheiten der TV-Zuschauer in Richtung eines verstärkt non-linearen Konsums, insbesondere in Form des sogenannten Binge Watchings. Gleichzeitig begannen viele Anbieter, Content nicht mehr nur zu lizenzieren, sondern verstärkt auf qualitativ hochwertige, Binge-Watching-kompatible Eigenproduktionen zu setzen und damit etablierte TV-Sender unmittelbar in ihrem eigenen Terrain unter Druck zu setzen. Der Veränderungs- und Verdrängungsprozess ist

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hier bei Weitem noch nicht abgeschlossen und viele TV-Sender unterschätzen die Bedrohung durch ihre digitalen Konkurrenten immer noch massiv. Netflix war im Mai 2018 kurzzeitig an der Börse mehr wert als Disney. (Albert 2018) In gleichem Maße verändern sich die Finanz- und Versicherungsbranche, das Gesundheitswesen, FMCG-, Logistik- und Reisebranche und selbstredend der Automobilsektor. Die Musikindustrie hat bereits ihre zweite digitale Transformation erfahren und durchläuft die Veränderung von transaktionsbasierten zu subskriptionsbasierten Modellen. Sukzessive wird jede Industrie einer digitalen Transformation und damit einer Disruption unterworfen sein. Es wird keine Ausnahmen geben.

8.3

Disruption

Wie aber verläuft Disruption? Grundsätzlich lässt sich jeder disruptive Prozess in drei Phasen einteilen: Phase 1: Invention In dieser Phase entwickeln digitale Pioniere neue Technologien. Unternehmen, die von dieser neuen Technologie – positiv wie negativ – betroffen sein können, haben diese Entwicklung meist entweder nicht auf dem Radar oder es fehlt ihnen die Fantasie und Weitsicht, zu erkennen, dass diese Technologie Relevanz haben kann und wird, beispielsweise weil diese noch keine Gefahr darstellt (Christensen 1997). Phase 2: Innovation Dieses Stadium ist dadurch gekennzeichnet, dass Innovatoren und Start-ups die Relevanz der neuen Technologie für sich erkennen. Sie umarmen die Technologie und entwickeln erste Anwendungen und Produkte sowie neue – meist disruptive – Geschäftsmodelle. Nicht innovationsgetriebene Unternehmen erkennen das Risiko nicht, das mit diesen Produkten und Geschäftsmodellen für ihr eigenes Geschäftsmodell entsteht. Ihre Blindheit oder Ablehnung gegenüber Neuem führt gleichzeitig auch dazu, dass sie die für sie entstehenden Chancen nicht nutzen. Phase 3: Transformation In dieser Phase haben neue Produkte und Geschäftsmodelle eine hohe Marktdurchdringung erreicht und einen Verdrängungsprozess für die ehemals etablierten und erfolgreichen Marktanbieter eingeleitet. Unternehmen, die sich bis dahin nicht angepasst haben, erleben massive negative Auswirkungen auf ihr Geschäftsmodell und gehen oftmals unter.

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Diese drei Phasen der Disruption treffen im jeweiligen Unternehmen dann auf die durch das Institut für Wirtschaftsprüfer in den Standardanforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6) definierten fünf Phasen der Unternehmenskrise (Crone und Werner 2013): Stakeholder-Krise > Strategie-Krise > Produkt-und-Absatz-Krise > ­Erfolgskrise > Liquiditätskrise In der Stakeholder-Krise geht es dem Unternehmen noch sehr gut. Es fehlt indes eine einheitliche Strategie und eine Übereinstimmung hinsichtlich der zukünftigen Ausrichtung des Unternehmens. Wichtige Entscheidungen werden nicht getroffen oder hinausgezögert. In der Strategie-Krise werden Geschäftsmodelle und Produktportfolio nicht zukunftsorientiert weiterentwickelt. In dieser Phase ist die Speed-to-Market extrem langsam, es gibt keine bis wenig Produktinnovation und keine markt- oder kundenorientierte Evolution der Vertriebs- und Marketingstrategien. In der Produkt- und Absatzkrise wird die Krise erstmals für das Unternehmen spürbar. Umsätze gehen zurück, Mitbewerber gewinnen Marktanteile. Investoren beginnen, nervös zu werden. In vielen Fällen allerdings wird selbst dieses Stadium nicht ernst genommen. Wunschdenken und Wirklichkeitsverdrängung – z. B. „das ist kein struktureller, sondern ein temporärer Umsatz- und Ergebniseinbruch“ – auf Managementebene dominieren. In der Erfolgskrise erlebt das Unternehmen einen erheblichen Umsatz- und Gewinneinbruch. Unternehmen reagieren mit Kosteneinsparungsprogrammen und Stellenabbau. Wegen des Fehlens einer Produkt- und Marktstrategie fallen die Umsätze und reduzieren sich Marktanteile jedoch weiter. Die Liquiditätskrise ist gekennzeichnet durch reaktives Management, meist in Form von Chaos-Management. Es gibt keinen Plan, keine Linie, keinen Fokus. Finanzielle Lücken werden durch das Generieren neuer Lücken gefüllt. Investoren und Banken reduzieren oder stoppen die Finanzierung. Ohne eine wasserdichte Turnaround-Strategie und ein klares Kommittent der Investoren ist die Folge meist die Insolvenz des Unternehmens. Unternehmen, die sich der Disruptions- und Krisenphasen bewusst sind, hierauf Antworten und Maßnahmen entwickeln und diese im Sinne des Regelkreises (vgl. grundlegend zur Regelkreistheorie Simon et al. 1954) Führung einer permanenten Kontrolle und iterativen Entwicklung unterwerfen, sind jedoch gut gewappnet. Zu diesem Prozess gehört – nicht zuletzt mit Blick auf Disruptionsphasen 1 und 2  – auch die Auseinandersetzung mit wichtigen Zukunftstrends. Unternehmen müssen die Mega- und Makrotrends der Digitalisierung kennen. Die Fokussierung auf den Konsumenten und seine Bedürfnisse und die Verwendung von Daten und Trendanalysen, um Produktentwicklung, Marketing- und Vertriebsprozesse für eine ideale Customer Journey immer weiter zu verbessern und Konversionsraten,

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Kundenbindung und Markenloyalität zu erhöhen, sind entscheidend für den unternehmerischen Erfolg. Es gibt weltweit eine Vielzahl von Unternehmen, die Trendanalysen erarbeiten. Das deutsche Trendforschungsunternehmen TRENDONE wertet globale Trendsignale aus und definiert auf dieser Basis Mega- und Makrotrends, die Unternehmen wertvolle Insights und Impulse für die Zukunft geben können. Zu den wichtigen Zukunftstrends gehören laut TRENDONE (o. J.): • • • • • • • • • • • • • • • •

Artificial Intelligence Attention Economy Connected World Data Era Distrust Society Food Culture Future Work Health Style Individualisation Industry 4.0 Outernet Seamless Commerce Sustainability Transhumanism Urbanisation Virtual Experiences

8.4

Fünf Wege in den Misserfolg

Die digitale Evolution erfordert ein Umdenken und eine Evolution von Unternehmen. Nur wer sich anpasst und fortwährend weiterentwickelt, überlebt. Unternehmensführer müssen bereit sein, ihre Denk- und Lösungsansätze einer permanenten Veränderung zu unterwerfen, Gelerntes zu verwerfen und neue Blickwinkel einzunehmen. „The illiterate of the 21st century will not be those who cannot read and write but those who cannot learn, unlearn and relearn.“ Um Erfolg zu ermöglichen, hilft es, Gründe für ein Scheitern zu verstehen. Betrachtet man die Gründe für ein Scheitern von Unternehmen wie Nokia, Kodak, Polaroid, Blockbuster, BlackBerry, Borders und anderen, lassen sich fünf Hauptursachen ausmachen, die meist kumulativ auftreten.

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Die fünf Hauptursachen für das Scheitern von Unternehmen sind: 1. 2. 3. 4. 5.

Selbstzufriedenheit, eindimensionaler Radar, eindimensionale Ziele, Innovationsresistenz, fehlende Kundenorientierung.

8.4.1 Selbstzufriedenheit „Success breeds complacency. Complacency breeds failure. Only the paranoid survive.“ (Andy Grove, Co-founder Intel)

Nokia, einst uneinholbar erscheinender Weltmarktführer mit einer Milliarde Kunden, wurde im Jahr 2007 vom Forbes Magazine als der Cell Phone King bezeichnet. Sechs Jahre später, 2013, teilte der damalige CEO Stephen Elop auf einer Pressekonferenz mit: „We didn’t do anything wrong but somehow we lost.“ Sich nach dem Scheitern eines Unternehmens und dem Zerstören eines Weltmarktführers noch auf den Standpunkt zu stellen, man habe nichts falsch gemacht, ist ein kaum zu überbietender Fall von Selbstzufriedenheit. Das Unternehmen hatte systematisch auf seiner Marktposition beharrt, Innovationen von Mitbewerbern und die Entwicklung des Smartphones ganz grundsätzlich ignoriert und als in die falsche Richtung gehend abgetan. Apples iPhone und Herstellern von auf Googles Betriebssystem Android basierenden Smartphones wurde das Feld kampflos überlassen. Das oberste Management hatte sich, in einem Elfenbeinturm sitzend und unterstützt von Ja-Sagern auf der zweiten Führungsebene, als unangreifbar und uneinholbar gesehen. 2008 erzielte Nokia noch 50,7 Milliarden EUR Umsatz, 2013 wurde die Mobilfunksparte für nur 5,4 Milliarden EUR an Microsoft verkauft. Selbstzufriedenheit im Management lenkt den Blick von Entwicklungen des Marktumfelds und den Bedürfnissen der Kunden ab, sorgt für eine signifikante Schwächung der Innovationskraft und ist der erste Schritt in den Misserfolg.

8.4.2 Eindimensionaler Radar Unternehmen mit einem eindimensionalen Radar fokussieren sich bei der Marktbeobachtung auf ihr unmittelbares Wettbewerbsumfeld. Sie ignorieren, dass ein ernst zu nehmender neuer Mitbewerber aus einer gänzlich anderen – und oft unerwarteten – Richtung kommen kann.

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Diese schmerzliche Erfahrung hat der Handel mit Amazon machen müssen. Sie widerfährt verstärkt auch TV-Sendern, die erleben müssen, dass non-lineare Dienste wie Netflix, Hulu, Amazon und YouTube nicht nur das Medienkonsumverhalten nachhaltig verändern, sondern dass ihre eigene Relevanz als Programmanbieter merklich zurückgeht. Dies kann sich perspektivisch zu einer existenziellen Bedrohung entwickeln. Hotelketten wie Hilton und Hyatt waren sich nicht bewusst, dass der 2008 gegründete Online-Marktplatz für Übernachtungen AirBnB sich zu einer ernst zu nehmenden Alternative für Hotelübernachtungen entwickeln könnte. Bis 2028 will der AirBnB eine Milliarde Übernachtungen pro Jahr vermitteln (vgl. AirBnB Roadmap 2028). heute nutzen 300 Millionen Reisende AirBnB (AirBnB Pressebereich). Ein weiteres Beispiel für Unternehmen, die einen neuen Mitbewerber einfach nicht haben kommen sehen, sind Gillette und Wilkinson. Die auf Rasierer und Zubehör spezialisierten Unternehmen hatten ihre Produkt-, Marketing- und Vertriebsstrategien auf den jeweils anderen ausgerichtet. Im Jahr 2011 gründeten Michael Dubin und Mark Levine das Unternehmen Dollar Shave Club. Im Gegensatz zu Gillette und Wilkinson bot Dollar Shave Club seine Rasierer und Zubehör zu sehr günstigen Preisen in einem monatlichen Abomodell an. Die Produkte wurden den Abonnenten per Post geschickt. Das neue Geschäftsmodell, verbunden mit einer sehr erfolgreichen Marketingkampagne  – der YouTube-Spot „Our Blades Are F***ing Great“ mit CEO Michael Dubine wurde mit über 24 Millionen Views bis Februar 2017 zu einem viralen Hit – machte Dollar Shave Club in kurzer Zeit zu einem sehr ernst zu nehmenden Konkurrenten für Gillette und Wilkinson. Das Unternehmen hat 3,2 Millionen Abonnenten (Colvin und Derausseau). Gillette strengte sogar eine Patentverletzungsklage gegen Dollar Shave Club an (Woolhouse 2015). Das Unternehmen wurde im Jahr 2016 für eine Milliarde USD von Unilever übernommen (Fortune 2016).

8.4.3 Eindimensionale Ziele „If you always do what you did you’ll always get what you always got.“ (Mark Twain)

Für viele Unternehmen steht kurzfristiges Wachstum im Fokus. Die Konditionierung von Unternehmen, Management und Mitarbeitern, nur auf kurzfristiges Wachstum zu achten, führt dazu, dass nur bekannte Pfade beschritten werden. Ein Festhalten an tradierten und eindimensionalen Zielen verhindert jedoch, dass Unternehmen neu und frisch denken. Es verhindert, einen Schritt zur Seite

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zu gehen, sich das Wettbewerbsumfeld  – mehrdimensional  – anzusehen und dementsprechend mehrdimensionale Ziele zu definieren. Hierbei verschließen sich langfristig attraktive Entwicklungsmöglichkeiten. Das Unternehmen XEROX hatte beispielsweise seinen Fokus über viele Jahre auf das Kopiergeschäft gerichtet. Eine Vielzahl an Innovationen, die im Unternehmen entwickelt worden waren, aber nicht auf das Wachstum des Kopiergeschäfts einzahlten – Mouse, Laserdrucker, Windows-/Icon-basierte User Interfaces  – wurden an Apple, Microsoft und HP weggegeben. Diese Unternehmen haben Milliarden damit verdient. Die Zieldefinition geht einher mit der Frage nach der Positionierung von Unternehmen im Markt. Betrachtet man Firmen wie Uber und Lyft, die in unmittelbarem Konkurrenzverhältnis zu Taxi- und Mietwagenunternehmen stehen und diesen ­erhebliche Marktanteile wegnehmen, erkennt man, dass hier neue Formen der Positionierung gewählt wurden. Uber und Lyft bieten einen Mix aus Transport, Convenience und Lifestyle – kombiniert mit Social-Community-Elementen – an. AirBnB ist nicht lediglich als Vermietungsplattform für Übernachtungen positioniert, sondern als Social Community Platform, Convenience-, Lifestyle- und Erlebnis-­Anbieter. Würden Taxi-, Mietwagen- und Hotelindustrie sich mit den Potenzialen einer moderneren und mehrdimensionalen Positionierung auseinandersetzen, erschlössen sie sich Potenziale für neue Zielgruppen, eine neue Form der Kommunikation und Interaktion mit diesen Zielgruppen und die Entwicklung für sie passender zusätzlicher Produktangebote. Eindimensionale Ziele verhindern neue Wege, Kundenbedürfnisse zu bedienen, die Wachstum in der Zukunft ermöglichen.

8.4.4 Innovationsresistenz Unternehmen mit im Vergleich zu ihren Mitbewerbern unterdurchschnittlichen Innovationsraten gehen in der digitalen Evolution unter. Unternehmen sind oft zu sehr fixiert, die gerade stattfindenden Schlachten zu gewinnen. Sie konzentrieren sich auf das, was derzeit erfolgreich ist. Sie sind nicht offen für neue Ideen und sie verfolgen keine konsequenten Produktentwicklungsstrategien. Sie vergessen Innovationen und Veränderungen von innen heraus. Und dies obwohl sie – solange sie noch erfolgreich sind – alle Möglichkeiten hätten, Innovationen für morgen zu schaffen. Kodak, Blackberry, Nokia sind nur drei Beispiele für Unternehmen, die technologische Entwicklungen nicht ernstgenommen und gänzlich falsch eingeschätzt

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haben. Ihre Unfähigkeit, die Zeichen der Zeit, z.  B. in Form schwacher Signale (Ansoff 1976), zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen, die sie zukunftssicher machen, hatte fatale Auswirkungen.

8.4.5 Fehlende Kundenorientierung Viele Unternehmen sind nicht kundenorientiert, sondern ichbezogen. Ichbezogene Unternehmen interessiert nicht, was ihre Kunden wirklich wollen. Sie sind der festen Überzeugung, dass Kunden brauchen, was sie produzieren. Sie produzieren nicht, was Kunden brauchen. Sie stellen sich nicht die Frage, welches Kundenproblem sie tatsächlich lösen und ob sie es durch neue Wege nicht besser lösen können. Musikindustrie, Handel, Verlage, TV-Sender, Autohersteller, Reisebranche, Gastronomie, Banken und viele andere Branchen haben über lange Zeit die Bedürfnisse ihrer Kunden vollständig ignoriert. Dies rächt sich in Zeiten, in denen Marken- und Produktloyalität von Konsumenten – insbesondere in der Zielgruppe der Millennials – erheblich nachlässt. Konsumenten haben heute eine hohe Bereitschaft, neue Marken auszuprobieren und das Feedback in sozialen Medien beeinflusst ihre Entscheidungen (Ernst und Young 2016). Die Personalisierung der Ansprache und das Schaffen von Mehrwerten in der Kommunikation werden daher immer bedeutender. Der stärker werdende Wettbewerb des Menschen mit sich und seinem Umfeld hat die Konsequenz, dass eine Abgrenzung in Nischen und durch personalisierte Produkte und Dienstleistungen immer wichtiger werden (Reinartz 2018). In einer Welt der Uniformität von Produkten und Botschaften streben Menschen nach einer Personalisierung der Ansprache und dem Schaffen von Mehrwerten durch Individualisierung von Produkten (Goldhausen 2018). Erfolgreiche Beispiele der Personalisierung von Produkten sind NikeID und MI Adidas im Bereich Apparel wie auch mymuesli und Coca-Cola im Bereich FMCG.

8.4.6 Fazit Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass heute existierende Wettbewerbsvorteile und Marktpositionen bereits morgen keine Geltung mehr haben können. Sie werden von technischen Entwicklungen und disruptiven Geschäftsmodellen nicht verdrängt, wenn sich Unternehmen nicht permanent hinterfragen und sich konsequent weiterentwickeln. Die Verweigerung von Veränderung führt in der digitalen Evolution zu Redundanz und Irrelevanz. Dieser Lernprozess ist ungleich teurer und härter als freiwillige Transformation.

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8.5

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Disruption als Chance wahrnehmen

Unternehmen, die bereit sind, neu zu denken und Veränderung zu umarmen, sind für Evolutionsprozesse gut gerüstet. Fünf Grundprinzipien können helfen, Veränderungsprozesse erfolgreich zu gestalten: 1. Change Leadership 2. Technologische Innovation 3. Innovation der Geschäftsmodelle 4. Evolution interner Prozesse 5. 100 % Customer-centric agieren

8.5.1 Change Leadership CEOs und die gesamte Unternehmensführung müssen digitale Veränderungsprozesse pro-aktiv anführen. Dies schließt auch Aufsichtsgremien ein, die Veränderungsprozesse bewusst einfordern und positiv begleiten müssen. Digitale Leader müssen Gewohntes authentisch und mit Nachdruck in Frage stellen. Sie müssen bereit sein, neue Wege zu beschreiten, Komfortzonen zu verlassen und auch Risiken einzugehen. Es genügt jedoch nicht, von sich und seinen Mitarbeitern neues Denken und neue Ansätze zu fordern. Vielmehr muss auch Input und Know-how von außen kommen, um gewohnte Pfade verlassen zu können. Mehr denn je ist es erforderlich, digitale Talente und Querdenker zu rekrutieren und an das Unternehmen zu binden. Daneben sollten Unternehmen es ihren Mitarbeitern ermöglichen, unbekanntes Terrain zu erkunden, ohne die Gesamtorganisation unmittelbar in Frage zu stellen. Wenn bis zum Big Bang im Sinne des Zeitpunkts, in dem die jeweilige Branche disruptiert wird, noch Zeit ist, ist langfristiges Denken und Handeln dringend anzuraten. Übereilte Entscheidungen und Change Prozesse ohne klare Strategie und die Mitnahme der Mitarbeiter sind ebenso gefährlich, wie nicht zu handeln. Daher: Think & act longterm!

8.5.2 Technologische Innovation Unternehmen müssen die Innovationsgeschwindigkeit an die technologische Entwicklung und die Speed-to-Market des Wettbewerbs anpassen.

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Sie müssen überprüfen, welche technischen Innovationen höhere Kundenzufriedenheit oder das Erschließen neuer Kundengruppen ermöglichen. Im Sinne einer Beschleunigung dieser Prozesse unter gleichzeitiger Reduktion von Investitionsrisiken ist ein Lean-Start-up-Ansatz hilfreich (vgl. dazu Ries 2011). Sinnvoll sind Minimum-Viable-Product-Launches mit iterativen Entwicklungsschritten unter Einbeziehung des Feedbacks der Produkt-Zielgruppen. Dies hilft, das Go-to-Market ohne lange Vorlaufzeiten zu dynamisieren und gleichzeitig bei Investitionen nicht „all eggs in one basket“ zu legen. Hilfreich ist ferner das Öffnen von Unternehmen für Technologie-Partnerschaften. Nicht jede Entwicklung und jedes Produkt muss im Zeitalter der digitalen Evolution aus dem Unternehmen selbst kommen. Die zunehmende Komplexität von Technologie und der Bedarf an Spezialisten kann von den wenigsten Unternehmen durchgängig intern abgedeckt werden. Dies ist auch nicht sinnvoll. Zur Transformation gehört auch die Anpassung der IT-Infrastruktur an die Notwendigkeiten der vom Unternehmen angepeilten Märkte und die Bedürfnisse in den Bereichen Marketing und Vertrieb. Sofern z. B. Smart Data oder KI für die Entwicklung von Produkten, das Erschließen neuer Märkte, die Optimierung der Customer Experience oder die Erhöhung von Konversionsraten erforderlich sind, muss die IT-Infrastruktur des Unternehmens zwingend hierauf ausgelegt sein. Auch hier gilt: Nicht alles muss ausschließlich intern entwickelt werden. In vielen Fällen sind externe SaaS-Lösungen die bessere Wahl.

8.5.3 Innovation der Geschäftsmodelle Unabdingbare Voraussetzung für die Prüfung der Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens ist das Durchführen von Stresstests für alle aktuellen Geschäftsmodelle. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse sind die Basis für die weitere strategische Planung. Erforderlich ist ferner ein Denken „Outside the Box“. Dies betrifft zum einen Marketing, Vertriebswege, Produkt-Konfiguration und die Supply Chain des Unternehmens. Gleichzeitig sind aber auch Preismodelle – z. B. transaktionsbasiert, subscription-based, share, freemium – einer Überprüfung zu unterziehen. Akzeptanztests können ggfs. unter anderem Branding durchgeführt werden. Zur Innovation der Geschäftsmodelle gehört außerdem der Blick auf das Unternehmen und die Branche von außen – verbunden mit der Prüfung, ob die derzeitige Marktpositionierung noch zeitgemäß ist. Hierzu gehört z. B. die Frage, ob das Geschäftsmodell tatsächlich (noch) im Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen bestehen sollte, oder ob bei einem Paradigmenwechsel neue Absatzchancen entstehen können.

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8.5.4 Evolution interner Prozesse Einer der wichtigsten aber gleichzeitig schwierigsten Schritte bei der Evolution interner Prozesse ist der Abbau von Silos. Silos können IT, Workflows, Organisationseinheiten, Berichtslinien, Kommunikationskanäle, KPIs etc. sein. Über viele Jahre und Jahrzehnte haben sich in vielen etablierten Unternehmen Unmengen an Insellösungen entwickelt, die sich schlicht nicht miteinander verbinden lassen. In vielen Fällen dominieren manuelle und damit langwierige und fehleranfällige Prozesse. Die Fragmentierung von Prozessen und Unternehmenseinheiten verhindert eine konsequente Transformation. Da interne Prozesse nur selten ausschließlich durch Top-down-Ansätze erfolgreich implementiert werden können, müssen Wege definiert werden, um interne Akzeptanz bei allen Prozessbeteiligten zu schaffen. Ohne ein Aufzeigen der Mehrwerte neuer Prozesse und Lösungen für die unterschiedlichen Stakeholder wird eine konsistente Umsetzung nur schwer gelingen. Der Innovationskraft der Mitarbeiter kommt ebenfalls eine hohe Bedeutung zu. Incentives für interne Ideen für effizientere und effektivere Prozesse können helfen, Transformation von innen heraus erfolgreich umzusetzen.

8.5.5 100 % Customer-centric agieren In Unternehmen, die gewappnet sind für die digitale Evolution, steht der Kunde im absoluten Mittelpunkt aller Unternehmensaktivitäten. Erfolgreiche Produktentwicklung, Marketing- und Vertriebsstrategien setzen sich zum Ziel, einerseits die Customer Journey maßgeblich und Ende-zu-Ende zu vereinfachen. Dies beinhaltet z. B., dem Konsumenten den Zugang zum Produkt und die Nutzung so einfach wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig verfolgen sie das Ziel einer Maximierung der User Experience (Holland 2018). Diese sorgt für hohe Kundenbindung, geringe Churn Rates und hohe Weiterempfehlung – persönlich und in den sozialen Netzwerken. Der Einsatz von Smart Data und KI wird hierbei immer wichtiger, da direkte Kundenbefragungen weniger valide Ergebnisse bieten, als die Betrachtung von tatsächlichem Nutzungsverhalten und die KI-basierte Vorhersage des künftigen Verhaltens. Für jede Produktentwicklung und jedes Vertriebsmodell müssen sich Unternehmen fragen: • Welches Kundenproblem lösen wir? • Kann das Unternehmen diese Probleme besser lösen als die Konkurrenz? • Hilft uns neue Technologie, das Problem besser zu lösen als bislang?

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8.5.6 Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es keine sicheren Häfen vor Disruption mehr geben wird. Die digitale Evolution fordert jedes Unternehmen heraus. Es gibt jedoch für jedes Unternehmen die Möglichkeit, Transformation erfolgreich zu gestalten. Dies fordert neue Denkweisen, Strategien und Managementmethoden. Und es erfordert das Umarmen der Digitalisierung anstelle des Einnehmens einer Verweigerungshaltung. Transformation ist kein Prozess, der über Nacht machbar ist. Es ist aber für jedes Unternehmen ein Prozess, der begonnen werden und konsequent mit Mut und unternehmerischer Weitsicht gegangen werden muss.

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Christian Massmann  begleitet seit über 16 Jahren digitale Strategie-, Transformationsund Wachstumsprozesse in der internationalen Medien- und Technologiebranche. Der zugelassene Rechtsanwalt ist Managing Director mehrerer europäischer Gesellschaften von Adstream, eines globalen Marktführers für Software für die Werbebranche. Zuvor hat er als Geschäftsführer einer international operierenden mittelständischen Technologiegruppe und als Geschäftsführer von ZDF Digital zahlreiche Veränderungs- und Innovationsprozesse erfolgreich gestaltet. Als Leiter des Weltvertriebs hat er die internationale Vermarktung des größten europäischen TV-Senders auf die globale Digitalisierung der Medienbranche vorbereitet und auf langfristigen Wachstumskurs gebracht.

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Die digitale Transformation in all ihren Facetten anpacken Ibrahim Evsan

Inhaltsverzeichnis 9.1  Digitale Verantwortung........................................................................................  136 9.2  Digitale Know-how-Kultur............................................................................... 138 9.3  Digitale Servicekultur................................................................................................ 139 9.4  New Work............................................................................................................  141 9.5  Produkte als Service......................................................................................... 143 9.6  Digitale Businessprozesse....................................................................................... 143 9.7  Automatisierung................................................................................................  144 9.8  Digitale Infrastruktur...........................................................................................  146 9.9  Innovationsmanagement......................................................................................  147 9.10  Connected Leadership...................................................................................................  148 9.11  Personal Branding & Social Media.................................................................  150 9.12  Fazit................................................................................................................. 152 Literatur...................................................................................................................  152

Unternehmen stehen vor einer großen Umbruchphase. Die Digitalisierung wirkt sich auf sämtliche Bereiche aus – zum Beispiel auf die Art zu arbeiten, Mitarbeiter zu finden, Marketing zu machen und Geld zu verdienen. Für Unternehmen ist es also höchste Zeit, sich mit der digitalen Transformation auseinanderzusetzen. Wer jetzt

I. Evsan (*) Connected Leadership, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_9

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immer noch nicht handelt und die Digitalisierung ignoriert, der wird mittelfristig ganz sicher den Anschluss verpassen. Wer jetzt stattdessen in die Digitalisierung investiert und sich Gedanken darüber macht, wie die neuen technischen Möglichkeiten genutzt werden können, der wird die Konkurrenz nicht an sich vorbeiziehen sehen. Die Digitalisierung ist ein Konzept der Gegenwart, das die Zukunft von Unternehmen sichert. Aber was bedeutet digitale Transformation eigentlich für Unternehmen und mit welchen Themen sollten sie sich im Detail beschäftigen? Die digitale Transformation umfasst viele Aspekte – von der digitalen Verantwortung über New Work bis hin zur digitalen Infrastruktur, Personal Branding und Social Media. Ich möchte auf diese und weitere Aspekte näher eingehen und auf den folgenden Seiten erläutern, welchen Aufgaben sich Unternehmen aus meiner Sicht jeweils stellen müssen. Die Digitalisierung ist sozusagen nicht mehr aufzuhalten. Mit den ersten Großcomputern und Arbeitsplatzrechnern, die Prozesse digitalisierten, die vorher manuell erledigt wurden, nahm sie ihren Anfang. Zusammen mit den Möglichkeiten des Internets, wie cloudbasierten Programmen, und stetig steigenden Nutzerzahlen, bestimmen digitale Prozesse zunehmend den Alltag. (Vor 20 Jahren gab es weltweit 35 Mio. Internetnutzer, heute sind es 3,4 Mrd.). (Keese 2016) Sei es zum Beispiel in der Fotografie, Kommunikation, Medizin oder Produktion. Ob Partnerwahl, Shopping oder Fabrikfertigungen (etwa in der Automobil- oder Elektrobranche)  – die Digitalisierung ist bereits Teil unseres Lebens. Jeden Tag.

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Digitale Verantwortung

Jedes Schiff braucht jemanden, der die Verantwortung übernimmt und es sicher und kompetent lenkt. Bei der digitalen Transformation ist die Führungskraft der Kapitän und übernimmt das Ruder. Das ist eine verantwortungsvolle Rolle, darüber müssen sich Führungskräfte bewusst werden. Natürlich gehen mit dieser digitalen Verantwortung einige Anforderungen und neue Aufgaben einher. In erster Linie braucht es Führungskräfte, die ein grundlegendes Verständnis von der Digitalisierung und ihren Folgen sowie ein digitales Urteilsvermögen haben. Das müssen sie sich bewusst aneignen und sich hierfür weiterbilden. Das Gleiche gilt auch für die Entwicklung diverser Soft Skills, die über das grundlegende digitale Verständnis hinausgehen. Führungskräfte müssen zu richtigen Digitalexperten werden. Wir haben 122 Komponenten ausgemacht, die ein Digitalexperte erlernen und wissen muss. Um einige zu nennen: Es ist beispielsweise das wichtige Thema Social Selling – also Onlinemarketing, die Art und Weise, wie wir Innovationen schaffen oder wie wir uns vernetzen. Und auch das kollaborative Arbeiten mit

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entsprechenden Tools ist ein relevantes Thema, um die Produktivität und Zusammenarbeit im Unternehmen zu stärken. Die Digitalexpertise ist eine Voraussetzung dafür, um als Unternehmen in der digitalen Welt erfolgreich werden zu können. Nur 25 % der Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft in Deutschland sind bereits digitalisiert, sprich sie haben adäquate Technologien implementiert, Kommunikations- und Produktionssysteme entsprechend umgestellt und nutzen zu großen Teilen automatisierte Arbeits-, Bestell- und Verwaltungsprozesse (BMWi 2017). Diese Zahl ist erschreckend klein. Ein elementarer Bestandteil der digitalen Verantwortung ist also darüber hinaus das Erarbeiten und Etablieren einer Digitalstrategie. Sie dient für Unternehmen als Leitbild, an dem sich sowohl Mitarbeiter als auch das Management orientieren können. Das sorgt während des Transformationsprozesses für Klarheit bei allen Beteiligten. Diese ist wichtig für einen reibungslosen Ablauf. Zu den wichtigen Elementen einer Digitalstrategie gehören vor allem die Werte, Vision und Mission des Unternehmens. Sie definieren, wofür es steht, welches Ziel es langfristig verfolgt und warum es das überhaupt macht – abseits finanzieller Interessen. Damit diese und weitere Teile der Unternehmensidentität definiert und in der Digitalstrategie festgehalten werden können, müssen Führungskräfte Methoden kennen, wie sie all das Schritt für Schritt erarbeiten können. Denn der Markt ist groß. Hinter der digitalen Transformation verbirgt sich großes Potenzial: Laut der Europäischen Kommission wäre ein digitaler Binnenmarkt denkbar, der 415 Mrd. EUR jährlich zur Wirtschaftsleistung der europäischen Union beisteuert (BMWi Weißbuch 2017, S. 1). Von den tief greifenden Veränderungen durch die Digitalisierung sind selbstverständlich auch die Geschäftsmodelle betroffen. In der Start-up-Welt lässt sich gut beobachten, wie unterschiedlich die Finanzierungsmodelle der jungen, aufstrebenden Unternehmen im Vergleich zu denen der traditionellen Firmen sind. Für Führungskräfte ist es also eine wesentliche Aufgabe, sich einen Überblick über die neuen Geschäftsmodell-Muster zu verschaffen, um sie später für digitale Produkte oder Services nutzen zu können. Anhand von Beispielen wie Netflix, mymuesli, DriveNow oder 99designs sollten sie sich anschauen, wie diese Geschäftsmodelle genau funktionieren, welche Vor- und Nachteile sie haben und was das eigene Unternehmen davon lernen kann, um das ein oder andere davon später adaptieren zu können. In diesem Zusammenhang gibt es ein Thema, das aktuell nicht nur bei Start-ups sehr im Trend liegt, aber kein kurzzeitiger Hype bleiben wird: die künstliche Intelligenz. Geräte und Anwendungen werden immer mehr vernetzt und intelligent – in jeglichen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft. Unternehmen kommen an dieser Entwicklung nicht vorbei und müssen sich deshalb auf dem Laufenden halten über die Big Player im Markt und potenzielle Anwendungsszenarien. Wichtig ist aber vor allem, das Veränderungspotenzial von Unternehmen durch künstliche

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Intelligenz zu begreifen und mögliche Einsatzfelder im eigenen Unternehmen zu erörtern. Das könnten zum Beispiel Entscheidungsprozesse sein, die durch künstliche Intelligenzen gestützt werden. Wie all das in der Praxis funktioniert, wird auch durch die Unternehmenskultur beeinflusst. Auch sie muss sich im Zuge der Digitalisierung verändern, damit ein langfristiger, tief greifender Wandel geschehen kann. Führungskräfte stehen an dieser Stelle deshalb vor der Herausforderung, die Kultur im Unternehmen nachhaltig neu zu gestalten. Eine digitale Unternehmenskultur beinhaltet zum Beispiel eine transparente und dialogorientierte Kommunikation auf Augenhöhe und mehr örtliche und zeitliche Flexibilität beim Arbeiten. Remote Working ist eines dieser Trends. Auch eine Fehlerkultur ist wichtig. Scheitern sollte bewusst erlaubt sein, um neue, innovative Projekte nicht von Anfang an auszubremsen. (Foegen und Kaczmarek 2016) Eine wichtige Aufgabe für Führungskräfte ist zudem die Planung einer Digital Governance, die festlegt, wie die digitale Transformation gestaltet werden soll. Es geht hier sowohl um formelle Dinge wie die Aufsicht und Regulierung, ohne die ein solcher Prozess nicht möglich ist. Es geht aber auch konkret um die Erarbeitung von Zielen, denn nur durch eine gut formulierte Zielsetzung läuft der Prozess nicht ins Leere und kann jederzeit überprüft werden. In eine Digital Governance gehören darüber hinaus Aspekte wie zum Beispiel die Förderung von Mitarbeitern durch spezielle Anreize. Mitarbeiter zu begeistern und zu motivieren, sie an das Unternehmen zu binden und ein Arbeitsklima zu schaffen, in dem es Freude macht, der Tätigkeit nachzugehen, all das ist ein echter Erfolgsfaktor. Damit all das und die digitale Transformation insgesamt aber überhaupt möglich ist, braucht es hierfür entsprechende finanzielle Mittel. Die Unternehmensführung muss sich also intensiv mit der Budgetplanung für die digitale Transformation auseinandersetzen. Es braucht in diesem Zusammenhang unter anderem einen Überblick über notwendige Investitionen in Systeme, Apps, Personal und in die Umsetzung von neuen Arbeitskonzepten, Stichwort New Work.

9.2

Digitale Know-how-Kultur

Die Digitalisierung ist für Führungskräfte und Mitarbeiter in erster Linie eines: neu. In sämtlichen Bereichen geht es um neue Tools und Services. Das Verständnis für diese neuen Technologien ist naturgemäß nicht bei allen sofort vorhanden. Deshalb muss in Unternehmen die Weiterbildung eine zentrale Rolle bei der digitalen Transformation spielen. Zunächst müssen Führungskräfte neue digitale Angebote verstehen lernen und erkennen, wie es um das Verständnis der Mitarbeiter steht.

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Auf dieser Basis sollten gezielte Weiterbildungsmaßnahmen eingeführt werden, um die Wissensdefizite zu beheben. Schwierigkeiten gibt es bei den deutschen Unternehmen noch unter anderem bei der Akzeptanz der Belegschaft (29 % Unternehmen gaben das als Hürde an), sowie Mangel an Fachkräften mit Digitalkompetenz (28 Prozent). (Bitkom 2017) Unternehmen brauchen also zwingend eine digitale Know-how-Kultur. Das bedeutet in erster Linie, dass eine stetige Weiterbildung für Führungskräfte und Mitarbeiter als fester Bestandteil im Unternehmen etabliert werden muss. Es darf keine Option bleiben, sondern muss zur Routine werden. Es geht um die Haltung, dass Lernen kein Einmal-Ereignis ist, sondern ein dauerhafter Prozess. Wenn Wissensvermittlung ein Teil des beruflichen Alltags wird, braucht es neben klassischen Workshop-Formaten auch neue, digitale und somit ortsunabhängige Möglichkeiten des Lernens. Dazu gehören beispielsweise Webinare, interne Blogs und weitere E-Learning-Plattformen. Lernen im Unternehmen ist jedoch keine Selbstverständlichkeit. Führungskräfte beziehungsweise die Verantwortlichen für den Weiterbildungsbereich müssen sich also Gedanken darüber machen, welches Wissen ihre Mitarbeiter schon haben, welches sie noch brauchen und welche Online- und Offlineformate hierfür geeignet sind. Abseits der konkreten Inhalte müssen sich Führungskräfte auch überlegen, wie sie ihre Mitarbeiter zur Teilnahme an Weiterbildungsformaten motivieren. Das ist schließlich eine Grundvoraussetzung dafür, dass Mitarbeiter wirklich nachhaltig etwas lernen und dabei Spaß haben. Eine erfolgsversprechende Möglichkeit könnten beispielsweise Belohnungssysteme sein, Stichwort Gamification. Das Unternehmen kann unter anderem spezielle Zertifikate für die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen entwickeln.

9.3

Digitale Servicekultur

Der Kunde ist König. Dieses altbekannte Sprichwort bringt auf den Punkt, was im Unternehmen im Fokus stehen sollte: eine Servicekultur, in deren Mittelpunkt stets der Kunde steht. Die Digitalisierung verändert zwar vieles, aber eines bleibt gleich: Unternehmen müssen ein leistungsfähiger und bequemer Partner sein – mit einfach zu nutzenden Services, einer transparenten Beratung und einem modernen und innovativen Kundenerlebnis über alle Kontaktpunkte hinweg. Bei der Ausgestaltung dieser Services, Beratungsangebote und Kontaktpunkte spielen die neuen Technologien wiederum eine große Rolle. Unternehmen müssen sich damit auseinandersetzen, wie sie eine Servicekultur ins Digitale überführen können.

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Dazu gehört beispielsweise ein gut durchdachtes und vernetztes CRM-System (CRM, Customer Relationship Management), in dem alle Kundenkontakte wiederzufinden sind. Ob der Kunde telefonisch, per Mail, über einen Messenger oder direkt in der Filiale Kontakt mit dem Unternehmen hatte, es sollte dank einer guten Datenpflege für die Kundenberater, den Vertrieb und die Social-Media-Manager schnell nachvollziehbar sein, sodass der Kunde problemlos zwischen den Kanälen hin- und herwechseln kann. Denn für den Kunden ist die Zeitersparnis ein zentraler Faktor in der Kommunikation mit dem Unternehmen. Das muss bei sämtlichen Touchpoints beachtet werden. Dies gilt vor allem für die Datensouveränität: Daten haben einen Wert, besonders personenbezogene Daten. Nicht nur Name, Wohnort oder soziodemografische Angaben wie der Familienstand – auch Standort, Gesundheitszustand, (Handlungs-) Aktionen und abgeleitete Informationen sind von Belang. Vor allem für Unternehmen. Dies sieht man beispielsweise am Bedarf von Big-Data-Lösungen. Allein in Deutschland wird für das Jahr 2018 mit einem Umsatz von 6,4 Milliarden  Euro gerechnet. (Statista 2018) Ob, von wem, wo, wofür, wie gespeichert, weitergegeben, wie genutzt? – Meine Daten werden erfasst, gesichert und genutzt. Doch darüber sollten der souveräne Bürger, der Staat, das Unternehmen, die Organisation usw. in der Regel selbst ­entscheiden dürfen. Ohne Einwilligung – keine Daten. Doch so einfach ist das leider nicht: Einige Daten (im Strafregister, beim Finanzamt, etc.) werden auch ggf. ohne Einwilligung eingesehen. Davon abgesehen ist das unautorisierte Verwenden von Daten allerdings das größere Problem. Datenschutz ist ein komplexes Thema, das national und international, wirtschaftlich und privat durchaus unterschiedlich gewertet und behandelt wird. Autorisierung und Teilhabe sind in diesem Zusammenhang zwei wichtige Schlüsselbegriffe, geht es doch zum einen vor allem darum, steuern zu können, wer wessen Daten wie (mit wessen Erlaubnis?) nutzt und zum anderen in Zukunft mehr und mehr darum, wie der Datenlieferant an der Erfassung/Verwendung seiner Daten ökonomisch partizipieren kann. Schließlich verdient die Wirtschaft Milliarden mit dem Datengeschäft: Für 2020 hat die Europäische Kommission für den Handel mit Daten ein Volumen von bis zu 650 Milliarden in Europa prognostiziert. (BMWi 2017, S. 45) Innovative Unternehmen sollten auch neue, moderne Kanäle testen und zur Servicekommunikation nutzen. Allen voran spielen hier WhatsApp und der Facebook-­ Messenger eine zentrale Rolle. Doch auch die Kommunikation per E-Mail, ein vermeintlich alter digitaler Kanal, sollten Unternehmen nicht unterschätzen. Darüber ist eine sehr persönliche und personalisierte Ansprache mit umfangreichen Datenauswertungen möglich. Wichtig ist bei allen anderen Kanälen, dass sie nicht zu reinen Werbeschleudern verkommen.

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Bei all den externen Tools wie Facebook, Twitter, WhatsApp und Co sollte nicht vergessen werden, dass die eigene Website die wichtigste Schnittstelle ist. Sie bildet sozusagen die Homebase und ist der wichtigste unabhängige Kanal, den ein Unternehmen komplett selbst in der Hand hat. Wie im echten Leben gilt auch bei all den Kanälen – von der Website über den Newsletter bis hin zu Facebook – der erste Eindruck. Dafür ist eine Corporate Identity essenziell. Sie ist wichtig, damit sich Unternehmen von anderen unterscheidbar machen können. Egal auf welchem Kanal ein Nutzer landet, er sollte sofort erkennen, um welches Unternehmen es sich handelt, denn nur wer einen hohen Wiedererkennungswert hat, bleibt bei potenziellen Kunden auch im Gedächtnis.

9.4

New Work

Nine-to-Five-Jobs, Anwesenheitspflicht, hierarchische Strukturen, Stellenanzeigen in Tageszeitungen und vieles mehr – all das war in Unternehmen Alltag und ist es sehr häufig auch noch. Mit New Work wird eine neue Epoche bezeichnet, wie Arbeit verstanden und gelebt wird. Es geht bei New Work allerdings nicht etwa um die komplette Digitalisierung der Arbeitswelt oder nur um das Homeoffice. New Work bedeutet, dass klassische Konzepte von Arbeit heute neu gedacht werden müssen. Es geht dabei viel um Haltung, Kultur und Führung, um Wertschätzung, Teilhabe, Flexibilität und Sinnstiftung. Dieser umfassende Wandel wird durch die Digitalisierung noch mal beschleunigt und ermöglicht zum Beispiel ein papierloses Büro und eine moderne Arbeitsplatzgestaltung, die in dieser Form vorher nicht möglich gewesen ist. Es geht um beschleunigte Ergebnisse in der Art und Weise wie wir uns austauschen und zusammenarbeiten wollen. Denn Ergebnisse sind ein verbessertes Produkt, das schnell auf dem Markt ist. (Universität St. Gallen 2015, S. 15) New Work bringt natürlich für Führungskräfte viele Änderungen mit sich, allen voran beim Führungsstil. Ein sehr zentraler Begriff hierbei ist Agilität. Agile Führungskräfte sind vielmehr ein wertschätzender, motivierender, inspirierender und empathischer Coach und ein Vorbild für die Mitarbeiter und weniger ein Chef, der getreu einem hierarchischem System von oben herab entscheidet. New Work bedeutet in erster Linie mehr Flexibilität. Unternehmen müssen zum einen bereit sein, Entscheidungen auch kurzfristig zu revidieren und einen anderen Weg einschlagen zu können, um sich den Entwicklungen anzupassen. Zum anderen zeigt sich die Flexibilität aber auch in Form der Arbeit in Teams, die sich je nach Zweck spontan zusammenfinden und dafür bestenfalls eigene Räumlichkeiten nutzen können. Unternehmen müssen sowohl zeitliche und physische Räume für Kreativität und Innovation als auch Rückzugsorte schaffen und das bei der Arbeitsplatzgestaltung bestenfalls von Anfang an bedenken (Abb. 9.1).

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Abb. 9.1  Google Dublin

Ein weiterer wichtiger Aspekt von New Work ist die Weiterentwicklung der Human Resources und des Recruitings. Viele Unternehmen haben zunehmend damit zu kämpfen, richtig gutes Personal zu finden – zumal, wenn das Unternehmen nicht im Web sichtbar ist und darüber nach Mitarbeitern sucht. Firmen werden deshalb nicht mehr an Employer Branding vorbeikommen, also an der Stärkung der Arbeitgebermarke. Heute müssen nicht nur die Bewerber den Unternehmen etwas bieten können – allen voran Digitalkompetenz –, sondern auch umgekehrt. Das zeigen Bewertungsportale wie kununu sehr eindrücklich. Nicht nur der Bewerbungsprozess an sich verändert sich durch die Nutzung digitaler Tools. Auch die Suche nach passenden Kandidaten wird dadurch erleichtert und teilweise sogar automatisiert – großen Datenschätzen sei Dank. Eine große Veränderung kommt auf Unternehmen in Bezug auf völlig neue Jobs zu. Zwar wird öffentlich häufig von der Digitalisierung als Jobkiller gesprochen, aber natürlich sorgt die zunehmende Digitalisierung auch für viele neue Jobs. Beispiele dafür sind die Bereiche Social Media, Suchmaschinenoptimierung, Onlinemarketing generell, Big Data, Mobile-Entwickler, Manager für die digitale ­Transformation und viele mehr. Unternehmen müssen sich also intensiv damit auseinandersetzen, welche neuen Jobs sie künftig brauchen werden und ob es Möglichkeiten gibt, selbst das Personal für einige solcher neuen Berufe auszubilden.

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Gute Mitarbeiter mit entsprechenden Digitalkompetenzen werden immer stärker nachgefragt sein und im Unternehmen eine immer tragendere Rolle spielen – selbst dann, wenn sich das Unternehmen bisher noch nicht vorstellen kann, hier tätig zu werden.

9.5

Produkte als Service

Die Digitalisierung sorgt für komplett neue Möglichkeiten, was die Gestaltung der Kundenprozesse angeht. Nie zuvor konnten Kunden so gut begleitet und Angebote so passgenau präsentiert werden, wie jetzt im digitalen Zeitalter. Die neuen technologischen Lösungen ermöglichen zudem die Entwicklung neuer digitaler Produkte, die als Services verstanden werden müssen. Dieses ganze Potenzial müssen Unternehmen nutzen, um zukunftsfähig zu bleiben. Eine wichtige Aufgabe für Unternehmen ist, die Kundenprozesse zum einen kanalübergreifend einheitlich zu gestalten und zum anderen so zu gestalten, dass der Kunde möglichst viel selbst erledigen kann, wie zum Beispiel Formulare he­ runterzuladen und online auszufüllen. Neben klassischen Kontaktformularen sollten Unternehmen auch modernere Formen der Kontaktaufnahme in Erwägung ziehen, wie beispielsweise Live-Chats oder Video-Chats. Eine große Zeitersparnis können Unternehmen durch eine automatisierte oder teilweise automatisierte digitale Auftragsabwicklung mit Kunden und Lieferanten erzielen. Das beginnt beim Marketing und der Auftragsannahme und geht über die Bearbeitung und Produktion bis hin zum Versand. Dabei können Roboter, Tools und das Internet der Dinge gut unterstützen. Positiver Nebeneffekt hierbei ist das Entstehen großer Datenmengen, die für das Optimieren der Kundenprozesse und Personalisieren der Kundenansprache genutzt werden können.

9.6

Digitale Businessprozesse

Häufig sind es die vielen kleinen Prozesse im Alltag eines Unternehmens, die viel Zeit kosten. In solchen Fällen kann die Digitalisierung ein wahrer Segen kann. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, ihre bislang analogen Businessprozesse in digitale Prozesse zu überführen oder mithilfe digitaler Hilfsmittel zu optimieren. Eines dieser Hilfsmittel ist das sogenannte Process Mining, wofür es zahlreiche digitale Tools und Services gibt. Damit werden die tatsächlichen Abläufe eines Prozesses rekonstruiert und visualisiert. Der Vorteil hierbei ist eine volle Transparenz. Es ist dadurch jederzeit nachvollziehbar, ob es Schwachstellen und

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Abweichungen gibt und wo Verbesserungspotenzial vorhanden ist. Dadurch können Unternehmen ihre Prozesse deutlich effizienter gestalten. Das Gleiche gilt für die Nutzung diverser Business Process Management Systeme – vom CRM-System über ein ERP-System bis hin zur Robotic Process Automation, eine aus der klassischen Prozessautomatisierung hervorgehenden Technologie. Besonders in der Kommunikation mit Kunden gibt es inzwischen viele neue Möglichkeiten durch neue technologische Entwicklungen. Eine davon sind Chatbots. Das sind Chat-Systeme, die automatisiert mit Nutzern kommunizieren – und zwar genau so, wie es vorher eingestellt worden ist. Hier kann man beispielsweise mit vordefinierten Fragen und Antworten arbeiten oder mit automatisierten Reaktionen auf bestimmte Begriffe, die ein Nutzer im Chat erwähnt. Vor allem für den Facebook Messenger gibt es inzwischen eine große Auswahl an Tools, um Chatbots zu erstellen. Aber auch für WhatsApp, Mails und ganz neue Kanäle wie den Amazon Echo gibt es mittlerweile spannende Möglichkeiten für Unternehmen, um zum Beispiel einen Teil der Kundenberatung über Chatbots abzuwickeln, indem etwa automatisiert Fragen beantwortet werden oder auf den passenden Abschnitt im Hilfe-Bereich auf der Website verlinkt wird. Aber auch komplexere Anwendungsszenarien sind möglich, zum Beispiel das Buchen von Event-Tickets oder eine Fahrplanauskunft. Das spart nicht nur jede Menge Zeit, sondern ermöglicht auch ein Filtern, bevor eine Anfrage gegebenenfalls an einen echten Mitarbeiter weitergeleitet wird. Damit Chatbots gut funktionieren und gerne genutzt werden, braucht es eine umfangreiche Vorbereitung im Unternehmen. Ein Beispiel dafür ist der Gesprächs-Designer, der sich vorab Gedanken über einen ruckelfreien, automatisierten Gesprächsverlauf machen muss. Und auch die Vernetzung der gewonnenen Daten über den Chatbot mit anderen Systemen und Tools muss geklärt werden.

9.7

Automatisierung

Welches Unternehmen möchte schon keine Zeit sparen? Zeit ist schließlich Geld. Voraussetzung sollte aber sein, dass die Qualität trotz der Zeitersparnis aufrechterhalten oder sogar noch gesteigert wird. Mithilfe von automatisierten Prozessen wird das Realität. Vor allem die Vernetzung von Geräten und riesige Datenmengen machen solche automatisierten Prozesse möglich. Big Data steht sozusagen über allem. Beim Internet der Dinge können Geräte aufgrund ihrer Vernetzung mit dem Internet selbstständig darüber kommunizieren und Aufgaben erledigen. Hinter dieser Funktionsweise, die auch im Smart Home verwendet wird, steckt ein großes Potenzial für Unternehmen. In Filialen oder anderen Räumen können durch sogenannte Beacons – kleine, vernetzte Funksender – zum Beispiel automatisiert Angebote an

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Kunden versendet werden, per Push-Nachricht. Das ist das sogenannte Location-based Marketing. Und man kann sich vorstellen: Wenn Geräte mit dem Internet und anderen Geräten verbunden sind, entstehen dadurch auch viele Daten – über Kunden, Lieferanten, Transaktionen, Kommunikation und so weiter. Mithilfe von Sensorik ist sogar noch mehr möglich. Wie man es zum Beispiel vom Smartphone oder Fitnesstracker kennt, können Sensoren auch Temperatur, Beschleunigung, Position, Feuchtigkeit, Druck und vieles mehr messen. Schon heutzutage lassen sich mit dem Smartphone viele Dinge online und unterwegs erledigen, zunehmend auch Bankgeschäfte. In zehn Jahren, so einer Umfrage nach, werden 74 % der Bankgeschäfte mit dem Smartphone erledigt, bis hin zu Kreditanträgen über Apps. (Bitkom Research 2017, S. 42) „All diese Daten sollten Unternehmen sammeln und auswerten, um Prozesse noch effektiver zu gestalten, Kunden noch bessere Angebote machen zu können oder komplett neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Vernetzte Roboter z. B. ersetzen Menschen heute schon am Fließband, intelligente Sensoren optimieren Materialflüsse und Logistikströme, eine Rekombination der Supply Chain verkürzt Liefer-, Produktions- und Vertriebsprozesse. Dieser Fokus auf Prozessoptimierung und Effizienzsteigerung hat den spezifisch deutschen (und auch chinesischen) Schwerpunkt auf „Industrie 4.0“ hervorgebracht, während z. B. in den angelsächsischen Staaten im sehr viel umfassenderen Sinne vom Internet der Dinge („Internet of Things“) die Rede ist.“ (Berger 2016, S. 13) Welche Kraft das Internet der Dinge haben kann, zeigt sich in Kombination mit der sogenannten Blockchain. Dabei handelt es sich um spezielle Datenbanken, in denen Transaktionsdaten gespeichert werden. Das Besondere ist, dass keine zentrale Kontrollinstanz existiert, sondern vollkommene Transparenz herrscht. Sichere Transaktionen können also erfolgen, ohne dass es einen Mittelsmann wie eine Bank oder einen Notar gibt. Der wohl bekannteste Anwendungsfall einer Blockchain ist die Kryptowährung namens Bitcoin. Aber das Potenzial der Blockchain ist auch über Kryptowährungen hinaus riesig. In Verbindung mit dem Internet der Dinge sind zum Beispiel Smart Contracts möglich, also smarte, intelligente Verträge, die automatisch abgewickelt werden, sicher vor Manipulationen sind und in Echtzeit überwacht werden. Eine Automatisierung und umfassende Auswertung ist tatsächlich in vielen Bereichen des Unternehmens möglich, speziell im Controlling. So lassen sich beispielsweise im Personalwesen die Arbeitszeiten tracken und automatisch auswerten, Vertriebstätigkeiten lassen sich in CRM-Systemen dokumentieren und analysieren und Webanalyse-Tools sowie Tracking-Pixel können das Besucherverhalten umfassend auswerten. Noch einen Schritt weiter führt die empirische Methode namens Data Mining. Mithilfe von Algorithmen, Statistik und Programm werden riesige

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Datenmengen gesammelt und zielführend ausgewertet, um zum Beispiel das Verhalten der Kunden zu ermitteln, zur idealen Ausrichtung des Angebots. Aber nicht nur Unternehmen sollen von Automatisierungen profitieren, sondern auch die Kunden  – was wiederum auf die Zufriedenheit mit dem Unternehmen einzahlt. Das funktioniert, indem Serviceprodukte automatisiert werden. Beispiele dafür sind Konfigurationssysteme, wie man sie etwa bei der Zusammensetzung des Wunschautos kennt, oder Tracking-Systeme wie die Nachverfolgung von Paketsendungen. Kunden bekommen hier einen transparenten, tollen Service, während dieser von Unternehmen automatisiert abgewickelt wird – eine Win-Win-Situation.

9.8

Digitale Infrastruktur

Sowohl vor Ort im Unternehmen als auch virtuell im Web – die digitale Infrastruktur sollte als ein wichtiger Baustein der digitalen Transformation betrachtet werden. Ein Teil davon ist die serviceorientierte IT- und Anwendungsarchitektur. Unter diesem etwas sperrigen Begriff versteht man ein Architekturmuster, in dem verschiedene IT-Services zusammengesetzt werden, um einen neuen Dienst entstehen zu lassen. Ein Beispiel dafür ist ein Onlineshop, in dem mehrere Komponenten einen flüssigen Prozess bilden – von der Produktauswahl über die Bestellung bis hin zur Auslieferung. Ein wichtiger Bestandteil der digitalen Infrastruktur ist auch die komplette Server-­ Architektur. Heutzutage findet vieles nicht mehr auf lokalen Speicherkapazitäten statt, sondern auf Servern in der Cloud. Server beziehungsweise die Cloud sind inzwischen in sehr vielen Bereichen des Unternehmens im Einsatz  – zum Beispiel Mail-Server, API-Management-Server, Datenbank-Server, Analytics-Server, App-Server und viele mehr. Außerdem liegen viele Anwendungen und Tools nur noch in der Cloud. Das Thema ist also umfangreicher als zunächst vielleicht vermutet. Cloud ist zudem nicht gleich Cloud. Es gibt verschiedene Cloud-Modelle – private, public und hybrid –, aus denen sich ein Unternehmen je nach Anforderungen und Einsatzzweck bedienen kann. Eine entsprechende Cloud-Management-Software hilft bei der Einrichtung und Verwaltung einer eigenen Cloud. Beispiele für webbasierte Tools sind Enterprise-Resource-Planning-Systeme und Digital-Asset-Management-Systeme. Ein ERP-System dient – wie der ausgeschriebene Name schon verrät – der Ressourcenplanung im Unternehmen. Dazu gehören zum Beispiele Bereiche wie die Materialwirtschaft, die Produktion, das Finanz- und Rechnungswesen, Verkauf und Marketing und vieles mehr. Es kommt bei der Wahl des richtigen ERP-Systems also ganz darauf an, welchen Bedarf ein Unternehmen hat. Der Umfang reicht nämlich von eher knapp für kleine Unternehmen bis zu sehr

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umfangreich für Konzerne. Ein anderes webbasiertes Tool ist eines für das Digital-Asset-Management. Das ist ein System, um zu jederzeit von überall auf alle wichtigen Dateien zugreifen zu können. Vor allem die Struktur und Durchsuchbarkeit – auch die Durchsuchbarkeit von Metadaten – sind ein Pluspunkt von DAM-Systemen. Zu den Dateien, die darin verwaltet werden, zählen vor allem Texte, Copyrights, Grafiken, Videos und Musikdateien. Bei der digitalen Infrastruktur spielen auch sogenannte APIs eine wichtige Rolle. Hierbei handelt es sich um Programmierschnittstellen, die mithilfe eines API-Managements in einer sicheren Umgebung veröffentlicht, optimiert und ­kontrolliert werden. Besonders in der App-Ökonomie sind solche Schnittstellen relevant, weil erst durch sie eine sichere Verknüpfung und Integration von Systemen möglich sind. Ein gutes API-Management sorgt unter anderem dafür, dass die Entwicklung gut dokumentiert und nachvollziehbar gemacht wird und Unternehmen Einblicke in Nutzungsstatistiken erhalten. Natürlich gehören zu einer digitalen Infrastruktur aber auch die eher offensichtlichen Aspekte, zum Beispiel eine stabile WLAN-Umgebung für Mitarbeiter und Gäste, eine moderne PC-Ausstattung sowie Beamer, eventuell Tablets und auch Dinge wie eine Nutzungserlaubnis für Social Media. Ein wichtiger Aspekt ist hier auch die Digital Security. Durch die zunehmende Digitalisierung entstehen auch mehr potenzielle digitale Sicherheitslücken und -gefahren. Damit sollten sich Unternehmen konsequent beschäftigen – zum einen zur eigenen Sicherheit und zum anderen wegen dem Vertrauensverhältnis zu den Kunden. Wenn klar ist, worauf es hier genau ankommt, müssen Unternehmen klären, welche Maßnahmen in ihrem speziellen Fall erforderlich sind, um mögliche Sicherheitsrisiken zu minimieren und um im Falle eines Cyberangriffs bestmöglich reagieren zu können.

9.9

Innovationsmanagement

„Stillstand bedeutet Rückschritt“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Das gilt natürlich auch für Unternehmen. Sie sollten deshalb darum bemüht sein, die Entwicklung von Innovationen zu fördern. Dafür braucht es ein fest etabliertes Innovationsmanagement. Voraussetzung dafür ist zunächst eine digitale Marktforschung, die sich mithilfe von bestimmten Tools online sehr gut umsetzen lässt. Den Markt zu ergründen ist für Unternehmen wichtig, um Trends frühzeitig erkennen zu können und darauf aufbauend entsprechende, bestenfalls innovative Produkte und Services zu schaffen. Nur so können sie sich vom Markt abheben, ihre Kunden begeistern und neue Kunden gewinnen.

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Wenn ein Unternehmen die Entwicklung von Innovationen fördert, gehört dazu auch, mehr Raum für Kreativität zu schaffen und spezielle Kreativitätstechniken zu kennen und anzuwenden. Dazu gehört zum Beispiel die Walt-Disney-Methode oder Mindmapping. Aber im Zusammenhang mit Innovationen braucht es noch mehr Techniken, nämlich konkrete Innovationsmethoden. Zu den bekannteren Methoden zählen beispielsweise Design Thinking, Scrum und die Lean-Start-up-­ Methode. Wenn neue Ideen entstehen, dann sollten sie getreu dem Lean-Start-up-Ansatz schnell getestet werden. Ein guter Ansatz, um die Gebrauchstauglichkeit von ­Produkten und Anwendungen zu überprüfen, ist ein Usability-Test. Das ist das Mittel der Wahl, um aussagekräftige Erfahrungsberichte von Nutzern zu erhalten und die eigenen Produkte dadurch zu verbessern. Ein solcher Usability-Test findet häufig in einem Labor statt und bedient sich Methoden wie dem Eye-Tracking, also dem Verfolgen des Blickes eines Nutzers, um herauszufinden, welche Bereiche einer Website oder App die Aufmerksamkeit zuerst auf sich ziehen. Usability-Tests sind also eine gute Lösung, um das eigene Produkt unter realen Bedingungen zu testen und dementsprechend zu optimieren.

9.10 Connected Leadership Digitalisierung bedeutet mehr als eine Homepage zu haben und seine Mitarbeiter mit Smartphones auszustatten. Vielmehr stehen wir heute vor der übergreifenden Aufgabe, die Unternehmenskultur insgesamt digital zu denken und unsere Konzepte von Unternehmensführung und Management an das digitale Zeitalter anzupassen. Die Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist, dass wir Menschen und Systeme miteinander vernetzen müssen. Connected Leadership ist deshalb ein zentrales Skill für Manager und Führungskräfte. Das bedeutet ebenfalls, das Ausprobieren der digitalen Entwicklungen. „Das Silicon Valley setzt eine Kultur des Ausprobierens dagegen. In Zeiten des stürmischen Wandels ist das die bessere Strategie“, sagt der Autor von „Silicon Germany“, Christoph Keese (2016, S. 62). Kunden, Mitarbeiter, externe Experten, potenzielle Talente, Geschäftspartner oder die eigenen Konkurrenten  – sie alle nutzen die unterschiedlichsten Social-­ Media-­Plattformen, um ihre Netzwerke zu erweitern, Kunden und Mitarbeiter zu finden oder sich als Personenmarke zu präsentieren. Dieser Realität müssen sich Führungskräfte und Manager heute nicht nur stellen – sie sind aufgefordert, das darin steckende Potenzial für ihr Unternehmen zu nutzen. Denn Social Media als Teilaspekt von Connected Leadership und digitaler Transformation zu begreifen, hat weitreichende Konsequenzen und geht weit über Facebook und Twitter hinaus.

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Es geht darum zu begreifen, dass Sales heute Social Selling bedeutet, und dass Kundengewinnung, Kundenbindung und Kundenzufriedenheit ohne eine in den Social Media verankerten Customer Journey nicht mehr zu denken ist. Ein Hotel, das zwölf schlechte Bewertungen von Kunden auf Yelp & Co. bekommt, wird reale Umsatzeinbußen verzeichnen, wie zahlreiche Studien verdeutlichen. (BrightLocal 2018) Die Online-Reputation spielt auch für Unternehmen als Arbeitgeber eine Rolle. Mitarbeiter bewerten Firmen auf kununu und suchen ihre zukünftigen Arbeitgeber auf LinkedIn. Unternehmen, die dort nicht mit einem gelungenen Auftritt vertreten sind, haben beim „War for Talents“ schlechte Karten. Die Digitalisierung verändert unser Informationsverhalten, unser Konsumverhalten, unser Kommunikationsverhalten und unsere Wahrnehmung grundlegend. Dabei erleben wir heute erst die Anfänge von einer umfassenden Transformation unserer Gesellschaft und der Wirtschaft, die mit einer ungeahnten Geschwindigkeit vonstattengeht. Führungskräfte müssen daher schnellstmöglich den Wert von Daten (Big Data), Connection (APIs) und neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI) erkennen und mit der Verwandlung von Daten in Werte beginnen. Über Mustererkennung zum Beispiel kann die anwendungsbasierte künstliche Intelligenz bei der Datenauswertung wertvolle Dienste leisten, damit die Fülle an Daten strukturiert und genutzt werden kann. (Helm 2018) Die Wettbewerbsvorteile, die sich daraus ergeben, können jedoch nur die Digital Leader nutzen, die frühzeitig eine digitale Infrastruktur aufgebaut haben. Eines muss dabei aber klar sein: Eine digitale Infrastruktur, die nicht „connected“, also konsequent auf Vernetzung ausgelegt ist, ist eine veraltete Infrastruktur. Die Führungsaufgaben und die -fähigkeiten, die Führungskräfte und Manager heute zu einem erfolgreichen Unternehmenslenker machen, sind andere als noch vor wenigen Jahren. In einem agilen Unternehmen arbeiten die Menschen in hybriden Teams, nutzen Kollaborationsplattformen und cloudbasierten Lösungen, um connected zu sein. Im Zeitalter von New Work kommt es dadurch immer mehr zu einer Abkehr von der Präsenzkultur und dem Nine-to-Five-Arbeitstag. Digital Leader müssen daher verstehen, wie die neuen Technologien und Tools funktionieren, um all ihre Implikationen zu verstehen, sie für ihre Zwecke einzusetzen und Auswirkungen abschätzen zu können. Was wir in den letzten Jahren mit den Entwicklungen im Bereich Internet of Things (IoT) und Industrie 4.0 beobachten können, ist eine zunehmende Vernetzung des digitalen Zeitalters. Die neuen Treiber sind Trends wie zum Beispiel mobile Anwendungen, Chatbots und künstlich-intelligente Systeme wie IBMs „Watson“. All diese Maschinen und Services sind ein Teil des Konzepts von Connected Leadership. Führungskräfte müssen heute verstehen, wie sie diese Systeme automatisieren, in ihre Businessprozesse integrieren, für sich nutzen und arbeiten lassen

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können. Ein wichtiger Schlüssel dazu lautet: API-Management. Die neuen Technologien verändern nicht nur die Geschäftsmodelle von Unternehmen und steigern Umsätze und Kundenzufriedenheit. Durch die Nutzung solcher Systeme verändert sich auch die gesamte Führungskultur in Unternehmen. Führung in einem digital vernetzten Unternehmen bedeutet, diese Tools und Services zu nutzen, um das eigene Unternehmen konsequent zu connecten, damit neue Ideen und agile Arbeitsweisen entstehen. Die Zukunft ist digital, sie ist connected, sie ist komplex und ein Lebensgefühl. Schenkt man Expertenprognosen Glauben, werden sich Smartphone und Auto noch stärker verzahnen, ja, geradezu technisch verschmelzen. 91 % der Befragten denken, dass das Auto „Teil des digitalen Lebensgefühls“ wird. (Bitkom Research 2017, S. 25) Um alle Herausforderungen, die sich auf dem Weg zu einer digitalen Company stellen, zu meistern, muss die Transformation von der Unternehmensspitze ausgehen. Genau dafür steht die Idee von Connected Leadership. Denn am Ende gilt: „Connect yourself or die.“

9.11 Personal Branding & Social Media Social Media bietet uns heute große Chancen. Nie war Selbstverwirklichung so einfach wie heute. Nie war es so selbstverständlich, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Und noch nie war die Chance so groß, die Möglichkeiten der heutigen Zeit zu nutzen, um etwas Nachhaltiges zu schaffen, Vernetzung zu leben und eine neue Ebene auf dem Markt der digitalen Selbstpräsentation zu erreichen. Mit Personal Branding steht erstmals die Person im Vordergrund, nicht mehr nur ein bestimmtes Unternehmen oder ein Produkt. Jeder Einzelne hat dabei die Chance, seine Persönlichkeit, seine Kompetenzen und seine Leistungen erfolgreich nach außen zu kommunizieren. Der digitale Wandel eröffnet dabei neue Möglichkeiten und stellt zugleich bestehende Strukturen infrage: Künftig lassen sich Expertenstatus und Meinungsführerschaft nur mithilfe einer entsprechenden Online-Reputation erreichen. Führungskräfte und Mitarbeiter sollten sich als stabile Personenmarke über Social-­Media-Kanäle etablieren, die Wissen verbreitet, Werte vorlebt, seine Botschaften vermittelt, Wiedererkennungswert genießt und damit nicht nur für sich eine gewinnbringende Positionierung erreicht, sondern durch ihre Qualität und Besonderheit auch für andere eine große Vorbildfunktion und eine wichtige Orientierungshilfe darstellt.

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Wer sich über strategische Maßnahmen zum Aufbau einer Personenmarke Gedanken macht, sollte sich mit dem eigenen Wesenskern und den persönlichen Ansprüchen und Präferenzen beschäftigen. Erst wenn der eigene Standpunkt klar definiert wurde, eine Motivation für das Konzept und eine Überzeugung von sich und seinen Fähigkeiten besteht, können konkrete strategische Überlegungen angestellt werden. Social-Media-Kanäle spielen für Personenmarken eine elementare Rolle, da sie nicht nur dem Fachkundigen als Plattform zur professionellen Veröffentlichung seiner Themen und Inhalte dienen, sondern auch fester Bestandteil der individuellen Personal-Branding-Strategien sind. Sie beinhalten den gezielten Imageaufbau, die Steuerung der Online-Reputation sowie Botschaften und die nachhaltige Vernetzung der Personenmarke. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Tools, die eine erfolgreiche Onlinedarstellung und eine nachhaltige Präsenz im Social Web ermöglichen und erleichtern. Dazu gehören nicht nur LinkedIn, Xing, Facebook, YouTube, Twitter oder Instagram, sondern auch eine suchmaschinenoptimierte Website mit diversen Landingpages und einem Blog, um die eigene Expertise durch hochwertige Inhalte zu zeigen. Eine eigene Website ist besonders wichtig, weil sie vor allem der Bereich im Internet ist, der von einem selbst reguliert und gesteuert werden kann. Die Veröffentlichung oder das Löschen von Daten liegt bei einem selbst und das schafft viel Unabhängigkeit. All diese Tools bieten die Möglichkeit, sich im Social Web zu etablieren, die Bekanntheit zu erweitern und langfristig einen festen Platz im digitalen Geschehen zu sichern. Besonders wenn man neue Produkte und Geschäftsmodelle eta­ blieren möchte. „Geschäftsmodelle: Das Wie entscheidet über den Erfolg. Technologie allein reicht nicht für die digitale Transformation. Ebenso wichtig ist die richtige Methode das Produkt an die Kunden zu bringen.“ (Keese 2016, S. 110) Es kommt nicht allein darauf an, welches Produkt verkauft wird, sondern wie es verkauft wird. Und das geht nun mal am besten mit Geschichten aus dem echten Leben. Ein Tool also alleine reicht jedoch nicht aus, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Umgekehrt ist es auch nicht sinnvoll, auf allen Plattformen gleichzeitig eine Rolle spielen zu wollen. Vielmehr geht es darum, zuerst eine solide Basis der Onlineaktivität zu schaffen und positive Erfahrungen mit den Medien zu sammeln. Diese Erfahrungen können dann nach und nach erweitert werden, um die Bekanntheit und den Wirkungskreis auszubauen. Die Strategien des Personal Brandings und das professionelle Kommunikationsmanagement tragen dann dazu bei, die komplette Eigendarstellung durch Geschichten zum Erfolg werden zu lassen.

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9.12 Fazit Wie wir sehen, sind viele Aufgaben zu erledigen. Hierzu gilt es, sich die Fragen zu stellen, ob man sich das auch wirklich zutraut und ob man es wirklich möchte. Welche Motivation treibt Sie an und welche Hindernisse stehen Ihnen im Weg? Externe Motivation ist ein gutes Hilfsmittel zur Unterstützung, denn die intrinsische Motivation greift lediglich dann, wenn der Mensch an Entscheidungsprozessen teilnehmen kann und sich als aktiv gestaltendes Mitglied in seinem Wirkungsbereich erlebt. (Kniesel 2013, S. 61) Das müssen Sie genau abwägen. Eines ist jedoch klar: Wer sich nicht auf dem Weg macht, der wird einfach abgehängt. Sie haben es in der Hand.

Literatur Berger, R. (2016) In (Hrsg.), Deutschland digital. Sieben Schritte in die Zukunft, (S.  13). München: Internet Economy Foundation. Bitkom. (2017). Digitale Transformation der Wirtschaft läuft noch nicht rund. https:// www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Digitale-Transformation-der-Wirtschaft-laeuft-noch-nicht-rund.html. Zugegriffen am 04.04.2019. Bitkom Research. (2017). Digitale Transformation der Wirtschaft (2. Aufl., S. 42). Berlin: bitkom research. BMWi Grafik. (2017). https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/digitalisierung.html. Zugegriffen am 21.02.2017. BrightLocal. (2018). Brighton, Kiew, Valentina. https://www.brightlocal.com/learn/local-consumer-review-survey/. Zugegriffen am 21.06.2018. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). (2017). Weißbuch Kurzfassung (S. 1). Berlin: BMWi. Foegen, M., & Kaczmarek, C. (2016). Organisation in einer digitalen Zeit: Ein Buch für die Gestaltung von reaktionsfähigen und schlanken Organisationen mit Hilfe von Scaled Agile & Lean Mustern. Darmstadt: wibas. Helm, V. (2018). KI im Marketing – Drei Beispiele aus der Praxis, Ein Gastbeitrag. https://onlinemarketing.de/news/ki-im-marketing-drei-praxisbeispiel. Zugegriffen am 04.04.2019. Keese, C. (2016). Silicon Germany: Wie wir die digitale Transformation schaffen. München: Albrecht Knaus. Kniesel, H. (2013). Moderne Vergütungspraxis: Anforderungen an die Gestaltung und Implementierung und die Umsetzung variabler Entgeltsysteme (S. 61). Hamburg: Diplomica. Statista, Das Statistik-Portal. (2018). https://de.statista.com/statistik/daten/studie/257976/ umfrage/umsatz-mit-big-data-loesungen-in-deutschland/. Zugegriffen am 21.06.2018. Universität St. Gallen (Institut für Wirtschaftsinformatik). (2015). Digital Maturity & Transformation Studie – Über das Digital Maturity Model: Prof. Dr. Andrea Back (S. 15). St. Gallen: Sabine Berghaus.

9  Die digitale Transformation in all ihren Facetten anpacken

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Ibrahim Evsan  zählt zu Deutschlands bekanntesten Serial Entrepreneuren und ist ein Digital-­Vordenker der ersten Stunde. Als Social Media Speaker hat er bisher auf über 300 Events und Kongressen gesprochen. Seine Unternehmensberatung Connected Leadership ist spezialisiert auf alle Themenbereiche der digitalen Transformation. Ibrahim Evsan lebt die Digitalisierung. Er steckt sein Publikum mit dieser Begeisterung an, wenn er ihm die Chancen von Social Media vermittelt und sein Wissen über die digitale Transformation mit ihm teil.

Multinlingual Online Content – wie man internationale Webseiten gestaltet und verwaltet

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Verena Jung

Inhaltsverzeichnis 10.1  E  inleitung.............................................................................................................  156 10.2  K  undenkreis und Produkte...................................................................................  156 10.2.1  Fallbeispiele unterschiedlicher Grade der Internationalisierung............  157 10.2.2  Chancen und Risiken der internationalen Ausrichtung von Firmen und Hochschulen.......................................................................  160 10.3  Interkulturelle und internationale Informationsgestaltung...................................  162 10.3.1  Explizitierung.........................................................................................  162 10.3.2  Globalisierung........................................................................................  162 10.3.3  Redundanz..............................................................................................  166 10.3.4  Zielgruppenorientierung.........................................................................  167 10.4  Wiederverwendbarkeit der Daten (Translation Memorys)   168 10.4.1  Inhouse-Übersetzung oder Übersetzungsagentur?   169 10.4.2  Begriffsplanung und Abstimmung, konsistente Pflege..........................  170 10.4.3  Verbindung der EN-Webseite mit der deutschen Seite..........................  171 10.5  Einpflegen und Warten der Daten........................................................................  173 10.6  Fazit und Zusammenfassung der Ergebnisse.......................................................  175 Literatur...........................................................................................................................  176

V. Jung (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_10

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10.1 Einleitung Durch die Globalisierung ist es immer wichtiger geworden, international präsent zu sein. Das hat für viele deutsche Firmen, aber auch für viele deutsche Hochschulen, dazu geführt, dass sie zusätzlich zu ihrer deutschen Webseite auch eine englischsprachige Webseite aufgebaut haben. Manche bieten ihre Webseite oder Teile ihrer Webseite sogar in mehreren Sprachen an. Dabei gibt es jedoch eine Reihe von wichtigen Entscheidungen im Aufbau und in der Pflege zu treffen. Vier Aspekte sind hier relevant: 1 . Kundenkreis und Produkte, 2. interkulturelle und internationale Informationsgestaltung, 3. Wiederverwendbarkeit der Daten (Translation Memorys etc.), 4. Einpflegung der Daten. Im Folgenden sollen die wichtigsten Aspekte, die es beim Aufbau einer internationalen und/oder multilingualen Webseite zu beachten gilt, kurz dargestellt und anhand von Beispielen diskutiert und analysiert werden.

10.2 Kundenkreis und Produkte Zum einen muss man sich ganz genau überlegen, welche Kunden man mit der fremdsprachigen Seite ansprechen will und welche Produkte man für diesen Kreis zugänglich machen möchte. Es ist nicht sinnvoll, alle Produktinformationen zu übersetzen, wenn man einige Produkte nicht ins Ausland verschicken möchte oder fest davon ausgehen kann, dass ein bestimmtes Produkt im Ausland nicht zugelassen oder nicht sinnvoll ist. So lohnt es sich auch für eine international tätige Bäckereikette normalerweise nicht, im Ausland Weckmänner anzubieten. Es sei denn, man wendet sich an eine Expatriat Community. Die Kundenrelevanz als Prinzip gilt natürlich auch für Hochschulen. Wenn bestimmte Studiengänge nicht auf Englisch vorliegen und nicht auf Englisch studiert werden können, macht es keinen Sinn, detailliert auf Englisch aufzuführen, wann und wo die nächste Vorlesung Frühpädagogik stattfindet, wenn diese nicht auf Englisch läuft. Es kann jedoch durchaus sinnvoll sein, darzustellen, dass eine Hochschule Archäologie anbietet und in diesem Bereich forscht, auch wenn die Veranstaltungen nur auf Deutsch stattfinden, weil ein interessierter Forscher so Kontakt zu einem Kollegen aufnehmen kann, der in einem ähnlichen Bereich arbeitet.

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10.2.1 Fallbeispiele unterschiedlicher Grade der Internationalisierung Die RWTH Aachen hat zum Beispiel in ihrem Webseitenaufbau das Prinzip aufgestellt, dass alle Seiten und Unterseiten immer doppelt vorhanden sind, einmal auf Englisch (Abb. 10.1) und einmal auf Deutsch (Abb. 10.2). Dabei hat sie sich auf dazu entschlossen, dass zwischen den beiden Versionen EN und DE jederzeit und überall gewechselt werden kann, ohne dass die Seitenbesucher auf die Hauptseite zurückgeschickt werden (Merenda 2015). Alles, was auf der Hauptseite angelegt wird, wird sofort übersetzt, bevor es live geht. Für eine Firma oder eine Hochschule, die grundsätzlich international auftreten möchte, ist ein solcher Doppelansatz zu empfehlen. Diese Entscheidung hat dann aber auch Folgen für Punkt 4, Wartung und Pflege. In meiner Arbeit als Hochschulübersetzerin an der FH Südwestfalen wurde dagegen die Entscheidung getroffen, nur einzelne Aspekte des Hochschullebens auf

Abb. 10.1  RWTH Aachen

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Abb. 10.2  RWTH Aachen, deutsch

Englisch anzubieten, aber eben speziell alle Veranstaltungshinweise für die Studierenden eines englischen Studiengangs auf Englisch anzubieten. Bestimmte Institute der Hochschule, die besonders international vernetzt waren, haben dabei konsequent dieselbe Strategie gefahren wie die RWTH Aachen. Das Competence Center E-Commerce (CCEC 2018) und das Wirtschaftsförderungsinstitut SWICE (2016) haben konsequent auf den zweisprachigen Aufbau aller Inhalte gesetzt (Abb. 10.3, 10.4 und 10.5). Noch andere Bereiche, wie etwa der Bachelor Studiengang Business Administration oder der International Master in Information Systems haben dabei entschieden, die meisten Inhalte nur auf Englisch bereitzuhalten (CCEC 2018). Doch wenn eine Hochschule oder Firma eine englische Webseite aufbaut, birgt dies sowohl Chancen als auch Risiken. Eine Chance ist der Zugang zu neuen Märkten und Zulieferern, Risiken liegen in den Kosten, der Qualitätssicherung und den daraus entstehenden Verpflichtungen. Diese Aspekte werden im folgenden Absatz noch detaillierter behandelt.

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Abb. 10.3  CCEC Competence Center E-Commerce, deutsch

Abb. 10.4  CCEC Competence Center E-Commerce, englisch

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Abb. 10.5  SWICE, englische Seite. (Quelle: Englische Seite von SWICE, South Westphalia International Center for Entrepreneurship)

10.2.2 Chancen und Risiken der internationalen Ausrichtung von Firmen und Hochschulen Wie in Tab. 10.1 dargestellt, kann eine internationale Onlinepräsenz sehr viele Vorteile und Chancen mit sich bringen. Die erste Chance ist natürlich, dass ein neuer Kundenkreis gewonnen wird, aber auch neue Geschäftspartner, neue Zulieferer und neue Produktideen können durch eine internationale Onlinepräsenz gewonnen werden. Eine internationale Zusammenarbeit auf allen Ebenen einer Unternehmung, der Einkauf von Inhalten, Zulieferung von Materialien aus einem internationalen Pool wie auch das Liefern von Produkten und Leistungen an einen internationalen Markt wird dabei allerdings nicht von allen Firmen und Hochschulen angestrebt werden. Wenn eine solche Internationalisierung auf allen Ebenen angestrebt wird, müssen natürlich auch viel mehr Bereiche der Webseite international sichtbar sein, also nicht nur der Vertrieb und die Kundenansprache, sondern auch der Einkauf etc.

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Tab. 10.1  Chancen und Risiken der internationalen Ausrichtung von Webseiten Chancen EN-Webseite bringt neue Märkte EN-Präsenz bringt neue Forschungs- und Geschäftsbeziehungen Neue Kundenkontakte bringen neue Geschäftsideen Neue Produktideen durch Kollaboration Lieferantenkontakte und Joint Ventures durch EN-Präsenz

Buy- statt Make-Optionen, Einkauf von günstigen Inhalten und Services durch Online-EN-Präsenz

Risiken EN-Webseite fehlerhaft, unklar, deshalb kein Erfolg EN-Webseite erfordert, dass alle Kundenkontakte auf Englisch erfolgen können, Bestellungen, Beschwerden, Rückfragen Neuer Kundenkreis zu teuer zu bedienen, Auslieferung oder Rücknahmen oder Telefonkosten zu hoch Produkt kann aus rechtlichen oder logistischen Gründen nicht international angeboten werden Mehr als eine EN-Webseite notwendig, wenn verschiedene Kundenkreise mit unterschiedlichem Rechtsstatus angesprochen werden (z. B. EU-­ Bürger und Nicht-EU-Bürger), Vorwahlen, Hotline-Informationen Kennzeichnung und Formulierung der EN-Webseite werden von einigen Kunden abgelehnt oder sind kontraproduktiv (z. B. hot December days, amerikanische Fahne, kanadische Fahne etc.)

[Tabelle zu Chancen und Risiken der Internationalisierung]

Bei diesem Punkt angelangt bewegen wir uns auch schon auf die Nachteile zu, dass der Aufwand der Internationalisierung dann aber erheblich höher liegen kann als eine einmalige Übersetzung der Webseite ins Englische. Wenn diese Zusammenarbeit auf allen Ebenen funktionieren soll, dann müssen auch alle Ebenen zugänglich sein. Das bedeutet aber auch, dass sich Kunden nicht nur auf Englisch über eine Firma informieren können sollen, sondern dass sie auch auf Englisch mit dieser Firma in Kontakt treten können müssen. Dazu gehören Anfragen, aber eben auch Beschwerden und Reklamationen, auch Rechnungen und Mahnungen müssen dann auf Englisch ausgestellt werden können. Und auch Zulieferer müssen ihre Bedingungen auf Englisch der Einkaufsabteilung übermitteln können. Deshalb ist es für eine Firma oder Hochschule auch ganz wichtig, sich genau zu überlegen, welche Arten der internationalen Kollaboration sie anstreben und nicht mehr und nicht weniger auf Englisch anzubieten, als sie sich an Markt und an Mitarbeit wünschen. Bei den Hochschulen gibt es hierbei noch eine Reihe von rechtlichen Aspekten zu beachten (Merenda 2015), dass nämlich das Versenden einer deutschsprachigen Exmatrikulationsbescheinigung für einen englischsprachigen Studiengang nicht zulässig ist, d. h., der Vorgang hat nicht stattgefunden.

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10.3 I nterkulturelle und internationale Informationsgestaltung Beim Versuch, eine international ausgerichtete Webseite zu gestalten, ist es wichtig, vier Aspekte der internationalen Informationsgestaltung zu beachten, die aus einer in eine bestimmte Region eingebetteten Variante des Englischen eine Version von ELF machen (Seidlhofer 2005; Albl-Mikasa 2010, S. 126–148; House 2003), also Englisch als Verkehrssprache, als Lingua Franca. Diese vier Aspekte sind • • • •

Explizitierung, Globalisierung, Redundanz, Zielgruppenorientierung.

10.3.1 Explizitierung Dieser Aspekt bezieht sich auf eine Formulierung im Englischen, die so deutlich und explizit ist wie möglich (Mauranen 2012). Damit verbindet sich fast automatisch auch der Aspekt der Globalisierung, aber nicht immer zwingend. Das bedeutet, dass nicht ein freundliches aber unklares Idiom gewählt wird, wie etwa: Go ahead! sondern You can download the information now. Oder You can upload your information here. Zur Explizitheit gehört auch, dass es rein softwaretechnisch für jeden Vorgang auf der Webseite auch eine explizite Rückmeldung gibt, wie etwa Upload successful oder Thank you for downloading our brochure. Das bedeutet, je deutlicher etwas ausgedrückt wird, desto wahrscheinlicher ist, dass diese Information verstanden wird.

10.3.2 Globalisierung Außerdem ist es aber auch wichtig, die Formulierungen so zu wählen, dass sie wirklich international sind. Das bezieht sich zum einen auf die Sprache, die Version des Englischen, die gewählt wird (Gramkow Andersen 1993). Dabei ist die oft praktizierte Unterscheidung zwischen britischem und amerikanischem Englisch noch nicht wirklich die wichtige Entscheidung. Wichtiger ist, zwischen ELF und

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EMT zu unterscheiden (Crystal 2003), also English as Lingua Franca und English Mother Tongue. Dabei sollte sich ein Firma bewusst für ELF und gegen ein noch so elegantes EMT entscheiden. Dies gilt besonders für den reinen Informationsgehalt der Seiten, eine Liste der Produkte etc. Innerhalb dieser ELF kann dann je nach Kundenkreis entschieden werden, ob die gewählte ELF eher die britische oder die amerikanische Schreibweise präferiert. Dies hängt auch vom Punkt Kundenorientierung ab. Das folgende Zitat ist ein Auszug bzw. ein Konglomerat aus Formulierungen deutscher Hochschulen. Working practice-oriented and in small groups, XYZ University of Applied Sciences offers high-quality study programs with a clear orientation towards current and future market requirements. The young team is practically experienced. From the start, great importance is attached to project-oriented working. Creativity and communication are important factors required to prepare experts in engineering sciences, natural sciences, computer sciences and economy for the future. (Denglisch einer Hochschule, Hervorhebung der Autorin)

Die fett markierten Passagen machen deutlich, dass hier im Grunde genommen deutsche Satzstellung mit englischen Wörtern praktiziert wird. Das ist nicht mit ELF gemeint und auch nicht mit Globalisierung. Es ist schon wichtig, dass die internationale Seite einer Firma von einem Autor mit hoher Kompetenz in der englischen Sprache verfasst wird und sich die Seite wie Englisch und nicht wie übersetztes Deutsch, Türkisch oder Russisch liest. Aber sie muss von kompetenten Englischssprechern aller Nationen verstanden werden. Bei Globalisierung ist es auch wichtig, Formulierungen kontext-neutral zu halten. Ein Beispiel hierfür ist der Unterschied zwischen der Formulierung Get our swimwear for those hot December days. und Hot new swimwear for days on the beach. Die erste Formulierung macht nur für Australier und Neuseeländer Sinn, die zweite Formulierung ist international geeignet. Es ist also wichtig, die eigene Kultur global zu betrachten (Bundeszentrale für politische Bildung 2016), in der Auswahl der Formulierungen. Umgekehrt ist es nicht sinnvoll, den nur für Deutsche und Österreicher ersichtliche Werbespruch Rechtzeitig zu Nikolaus Ins ins Englische zu übertragen. Das muss dann relativ neutral mit Now available for short time only … übertragen werden.

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Die Orientierung einer Webseite als ELF oder EMT sollte sich auch auf die terminologische Auswahl niederschlagen. Ich selbst wurde als Hochschulübersetzerin mit diesem Problem konfrontiert, weil ich für den deutschen Begriff Urlaubssemester eine geeignete ELF-Formulierung für meine Hochschule suchte. Der damals von der Hochschule verwendete Begriff war holiday semester, was zwar geeignet war auszudrücken, dass die Studierenden aktuell nicht an Vorlesungen etc. teilnahmen, aber ausgesprochen unpassend war für Situationen, in denen die Studierenden wegen Krankheit, Elternzeit oder der Pflege eines Angehörigen nicht aktiv studieren konnten. Ebenso wenig eignete sich der Begriff für Studierende, die gerade ein Auslandssemester absolvierten. In allen diesen Fällen wurde dieser ungeeignete englische Begriff holiday semester jedoch zu diesem Zeitpunkt eingesetzt. Bei der Begriffsprüfung fiel mir sofort die Formulierung meiner britischen Universität ein, da hieß diese Situation suspension of studies. Dies war also ein Begriff, der in EMT und in GB sehr geläufig war. Dabei hatte ich jedoch die Befürchtung, dass dieser Begriff bei Studierenden, die selbst Nichtbriten oder Nichtmuttersprachler des Englischen waren, Angst und Schrecken auslösen könnte, da sie diesen Begriff mit Suspendierung, also der von der Hochschule oder vom Arbeitgeber erzwungenen Abwesenheit, assoziieren könnten. Mithilfe des Hochschulübersetzer-netzwerks konnte dann ein dritter, ELF-geeigneter Begriff gefunden werden. Die RWTH Aachen wie auch einige andere deutsche und internationale Universitäten verwenden hier den Begriff academic leave oder study leave, der ausdrückt dass die Studierenden aktuell nicht aktiv studieren, aber weder am Strand liegen noch suspendiert sind. Es lohnt sich, bei einigen kritischen Begriffen, wie etwa Produktnamen, Produkteigenschaften oder Services zu untersuchen, ob der gewählte Begriff global verständlich ist und in ELF oder anderen Sprachen keine negativen Assoziationen auslöst. Globalisierung ist nicht nur für die gewählten Formulierungen, Namen und Terminologie von Bedeutung, sondern sie hat auch Auswirkungen auf die grafische Gestaltung der Webseite. Ein wichtiges Thema ist hier die Internationalität der Icons. Während viele Icons durch global eingesetzte Verkehrsschilder und Emojis immer globaler verstanden werden, gibt es aber noch wichtige Ausnahmen. Eine erste Frage wäre hier die Frage des Layouts einer Seite. Eine Vorher-­ Nachher-­Darstellung, bei der links der schlechte vorherige Zustand und rechts die Verbesserung präsentiert ist, ist für Kulturen, die von rechts nach links lesen nicht ebenso deutlich. Dies gilt es allerdings vor allem bei einer hebräischen, japanischen oder arabischen Webseite zu beachten, denn eine EN-Webseite, also eine

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Webseite in internationalem Englisch-ELF muss im Grunde genommen davon ausgehen, dass die Leser gewohnt sind, zumindest Englisch von links nach rechts zu lesen. Allerdings ist auch hier eine Lösung, die Unterschiede zwischen Vorher und Nachher explizit noch durch andere Aspekte, durch eine Überschrift, eine andere, positiv assoziierte Farbe zu kennzeichnen etc. Doch wie kommen die Webkunden auf Ihre englische Seite? In vielen Fällen wird eine amerikanische oder britische Flagge genutzt, dies wird jedoch vom W3Consortium (Ishida 2016), einer gemeinnützigen Webnutzerberatung ausdrücklich nicht empfohlen. Ein Kunde aus Saudi-Arabien oder der Türkei möchte keine britische oder amerikanische Fahne anklicken, um Zugang zum internationalen Inhalt einer deutschen Firma oder Hochschule zu erhalten. Deshalb empfiehlt das W3Consortium ausdrücklich eine verbale Sprachnennung, das international für Englisch anerkannte Kürzel EN.  Bei anderen Sprachen, wie Französisch, wo es ebenfalls mehrere frankophile Länder gibt, sollte man auch eher FR verwenden als eine französische Fahne. Denn eine kanadische, belgische oder Schweizer Fahne wäre genauso angebracht. Daher ist FR die einfachste Lösung. Andere Icons, die nicht unbedingt in anderen Sprachen funktionieren oder nicht immer die gewünschte Wirkung haben, sind die Icons für Haken und Ankreuzen (Abb. 10.6). Der Haken wird im Deutschen wie im Englischen als erledigt oder positives Signal gesehen, aber das rote X ist ein Problem. Im Deutschen benutzen wir den

Abb. 10.6  Green Tick vs. X

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Begriff ankreuzen, also hat das X die gleiche Wirkung wie ein Haken, auf Englisch bedeutet das X jedoch immer Ablehnung, das Download hat nicht geklappt, etwas wurde nicht eingereicht etc. Durch den grünen Haken und das rote X wird auch den meisten Deutschen klar, dass das X hier nicht positiv besetzt ist, da die Ampelsymbolik international gilt. Aber eine ELF-Webseite sollte Ankreuzen nicht als please cross the chosen products formulieren, da auf Englisch die Formulierung cross out bedeutet, dass man etwas durchstreicht, also ein Produkt nicht wählt. Am neutralsten wäre wahrscheinlich die Formulierung Select. Damit wird gleichzeitig auch eine explizitere Formulierung gewählt, denn Ankreuzen ist ja im Sinne von „Auswählen“ gemeint.

10.3.3 Redundanz Redundanz ist eine wichtige Möglichkeit, die internationale Verständlichkeit von Webseiten und Angeboten deutlich zu erhöhen und potenzielle Schwächen in der Explizitheit und der Globalisierung der eigenen Darstellung zu kompensieren. Um mögliche Fehler in Formulierungen und in fehlende Explizitheit zu ersetzen, empfiehlt es sich, eine Information gleichzeitig verbal und durch Icons darzustellen. Dabei sollte das Icon aber nicht ausdrücklich missverständlich sein. Also: Select your chosen payment und dabei noch einen ausgefüllten Kreis oder einen Haken wählen. Laut W3Consortium (Ishida 2016) kann allerdings der Haken auf Japanisch als Ablehnung verstanden werden. Insofern ist dann ein leerer oder ein ausgefüllter Kreis eventuell die bessere Option. Redundanz muss auch in der Software programmiert werden, also Eingangsbestätigung schicken und auf dem Bildschirm anzeigen, dass etwas erfolgreich eingegangen ist. Außerdem kann der Vorgang in einem Log gespeichert werden. Auch bei Eingabemasken sollte der Abschluss eines Vorgangs möglichst immer verbal und als Icon folgen. Eine international tätige Firma oder Hochschule muss auch darauf achten, dass automatisch versandte E-Mails ebenfalls auf Englisch und auf Deutsch vorliegen. Redundanz bedeutet auch eine grundsätzliche Zweisprachigkeit aller Informationsnachrichten. Und Redundanz kann durch bewusste Doppelung der Informationen und ihrer medialen Darstellung erreicht werden, zum Beispiel, indem die Kaufbestätigung ein Bild oder eine Skizze des gekauften Gegenstands enthält. Dann kann ein potenzielles Begriffsmissverständnis noch durch das Bild ausgeräumt werden.

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10.3.4 Zielgruppenorientierung Wie oben schon angesprochen, muss eine internationale Webseite entweder auf eine bestimmte, klar definierte internationale Zielgruppe ausgerichtet sein (zum Beispiel nur auf englischsprachige EU-Bürger) oder aber auf eine möglichst breit international angelegte Zielgruppe. Im ersten Fall kann eine Webseite sich auf den in der EU verwendeten Sprachgebrauch des Englischen konzentrieren, muss aber zusätzlich noch berücksichtigen, dass viele EU-Bürger auch amerikanisches Englisch verwenden oder in der Schule gelernt haben. Im zweiten Fall muss sich die EN-Webseite einer deutschen Firma oder Hochschule bewusst auf ELF-Sprecher aus allen Ländern der Erde einstellen. Das ­bedeutet, dass alle Begriffe so deutlich und explizit dargestellt werden, wie möglich. Eventuell sollten deutsche Begriffe, die zwei gleich häufige englische Versionen in verschiedenen Varianten des Englischen haben, durch beide Begriffe dargestellt sein (z.  B.  Wasserhahn, tap, britisches Englisch, faucet, amerikanisches Englisch). Aber Sie können sich auch für eine Version entscheiden und die Identifizierung des Produkts durch ein Bild erleichtern. Doch nicht nur die gewählten Formulierungen und Begriffe, auch der dargestellte Inhalt muss klar und explizit an eine Zielgruppe gerichtet sein. Wenn Ihre internationalen Kunden Ihre Produkte ohne Mehrwertsteuer einkaufen können, Ihre europäischen Kunden aber nicht, dann darf nicht einfach auf Englisch dastehen: You can order this product VAT free from our website. Sondern es müssen beide Optionen mit ihrer Gültigkeit dargestellt werden. Für Hochschulen und Dienstleistungsfirmen ist es auch noch sehr notwendig, möglichst frühzeitig auf Zugangsvorausetzungen einzugehen. Wenn ein Studiengang nur mit deutschem oder europäischem Hochschulzugang zugelassen ist, muss das früh deutlich werden, damit potenzielle internationale Kunden Bescheid wissen. Besonders zu beachten sind auch rechtliche Unterschiede im Zugang und praktische Unterschiede. Wenn Sie ein Produkt in ein Land verkaufen wollen, in dem andere Haftungsbestimmungen gelten, müssen Sie deutlich machen, wie das deutsche Recht ist. Besonders relevant ist hier auch, wenn Sie ein Produkt nicht ins außereuropäische Ausland versenden wollen und kein Rückgaberecht außerhalb Europas oder Deutschlands haben. Diese Information muss deutlich und direkt bei der Produktsuche sichtbar sein. Wie schon beim Thema Globalisierung oben erwähnt, muss ein entsprechender Kundenservice mit der international gestalteten Webseite einhergehen. Anfragen, Bestellungen, Reklamationen, Rechnungen, Mahnungen etc. müssen auf Englisch

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Tab. 10.2  Checkliste Internationalisierung der EN-Webseite Explizitierung

Globalisierung

Redundanz als Merkmal der Internationalisierung

Zielgruppenorientierung

• Optionen, Menüs und Sprachhinweise so deutlich wie möglich gestalten (W3Consortium Internationalisierung) • Eine lockere, aber unklare Aufforderung spricht zu wenig Kunden an • Icons müssen global gewählt werden (vgl. Beispiel in Abb. 10.6) • Formulierungen, Syntax und Wortwahl müssen international verständlich gewählt werden • Fahnen repräsentieren ein Land, nicht die Sprache • Explizitheit vermeiden, z. B. Icon plus Ausformulierung • Redundanz muss auch in der Software programmiert werden • Bestätigung mit Bild und Begriff • Begriffe passend zur Zielgruppe wählen • Rechtliche Bestimmungen für Zielgruppen deutlich machen • Leistungen, die nicht fürs fernere Ausland gelten, klar ausnehmen • Nur valide Kontaktoptionen in der EN-Webseite angeben (Hotline?)

verfasst, bearbeitet und verwaltet werden können. Die rechtlichen Einschränkungen für bestimmte Länder müssen den Mitarbeitern vertraut sein. Wenn auf der Webseite eine Hotline eingerichtet wurde, muss diese auch im Ausland funktionieren oder es muss ausdrücklich erwähnt werden, dass die Hotline nur in Europa/nur in Deutschland gilt. In Tab. 10.2 sind einige der wichtigsten Überlegungen zur Internationalisierung noch einmal zusammengefasst.

10.4 W  iederverwendbarkeit der Daten (Translation Memorys) Wenn sich Ihre Firma oder Hochschule dazu entschlossen hat, eine EN-Webseite aufzustellen, müssen Sie eine Reihe wichtiger Entscheidungen treffen. Dabei müssen drei Punkte Beachtung finden: • inhouse oder an eine Agentur geben, • Begriffsplanung und Abstimmung, konsistente Pflege, • Verbindung der EN-Webseite mit der deutschen Seite.

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10.4.1 Inhouse-Übersetzung oder Übersetzungsagentur? Das Projekt Internationalisierung muss von einer Firma oder Hochschule genau durchdacht und konzipiert werden. Dabei sollte vor allem auch eine klare Z ­ ielgruppe definiert werden und die in Auftrag gegebene englische Übersetzung sollte in Wortwahl und Gestaltung auf die identifizierte Zielgruppe ausgerichtet werden. In keinem Fall wird es sich wirklich um einen einmaligen Übersetzungsauftrag ohne Nachspiel handeln. Aber in einigen Fällen, wo die deutsche Webseite nicht sehr umfangreich ist, ist es durchaus vorstellbar, dass die Übersetzung von einer externen Agentur erstellt wird und dann durch Inhousemitarbeiter anschließend weiter gepflegt wird. Eine einmalige Übersetzung ohne anschließende Pflege ist in keinem Fall sinnvoll. Denn wenn Internationalisierung als Strategie betrieben wird, muss die EN-Webseite mindestens dieselbe Pflege erfahren wie die deutsche Webseite. In den 90er-Jahren kam es noch vor, dass selbst große Firmen Aufträge für Produktkataloge jedes Jahr an eine andere Agentur gaben, jedes Jahr an den niedrigsten Bieter. Wie wichtig Kontinuität und die Pflege eines Translation Memorys ist, war vielen Firmen dabei noch nicht klar. Aber es sollte heutzutage allen Firmen und Hochschulen klar sein, dass die Pflege der Unternehmenskommunikation, die Planung von Produktnamen und Formulierungen, die Überlegung, wie ein Kunde angesprochen werden soll, mindestens ebenso für die internationale Webseite gilt. Einige Firmen und Hochschulen erzielen mehr Umsatz mit ihrer internationalen Verkäufen als auf dem deutschen Absatzmarkt. Einige deutsche Hochschulen haben stärkere Zuwachsraten internationaler Studierender als einheimischer Studierender. In dem Moment, wo die Internationalisierungsstrategie langfristig gedacht wird, gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Es wird eine Inhouseabteilung beauftragt, welche die Übersetzung und Pflege übernimmt. Zur Fortführung der englischen Webseite wir ein Translation Memory eingesetzt. 2. Es wird eine externe Agentur beauftragt oder eine externe Übersetzerin, welche die Übersetzung übernimmt. Entweder wird dann auch ein Vertrag zur Pflege vereinbart, oder die Agentur schickt das Translation Memory an die Kommunikationsabteilung zur weiteren Verarbeitung und Pflege. Eine dritte Möglichkeit, jedes Jahr neu verschiedene Übersetzungsagenturen jeweils einen Abschnitt übersetzen zu lassen, verbietet sich von selbst und wird langfristig die Firma oder Hochschule durch Fehlübersetzungen, Inkonsistenzen oder unklare Formulierungen teuer zu stehen kommen. Ebenso verbietet es sich, einen Studenten oder Praktikanten die Übersetzung machen zu lassen, ohne Einbindung in die Webredaktion. Wenn eine Inhouseabteilung beauftragt wird, m ­ üssen darin

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auch wirklich ausgebildete Übersetzer und kompetente ELF-Autoren eingesetzt werden. Auch wenn Muttersprachler des Englischen normalerweise eine hohe Qualität garantieren können, sind kompetente ELF-Sprecher auch eine Möglichkeit, weil sie gut beurteilen können, welche Englischkenntnisse das internationale Publikum mitbringt. Ganz wesentlich ist auch, dass die gewählte Agentur oder Übersetzerin das fachliche Wissen hat, die Produkte und Dienstleistungen der Firma so zu erfassen, dass sie diese auch auf Englisch abbilden kann. In den meisten Hochschulen sind deshalb fast nur Muttersprachler des Deutschen als ELF-Übersetzer tätig, in einigen Fällen gibt es ein Doppelteam aus Deutsch- und Englischmuttersprachlern (Merenda 2015; Neudorfer 2016; Bundeszentrale für politische Bildung 2016).

10.4.2 Begriffsplanung und Abstimmung, konsistente Pflege Egal ob eine Übersetzungsagentur beauftragt wurde oder ein Inhouseteam, Rücksprache mit der Kommunikationsabteilung oder der Abteilung, die das relevante Produkt, den relevanten Studiengang anbietet und Beratung und Besprechung der Strategie ist ein ganz wesentlicher Faktor der Erstellung einer internationalen Webseite. Wie in dem Beispiel von der Übersetzung des Begriffs Urlaubssemester angesprochen, muss der Firma klar sein, welche Konsequenzen die Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Begriff hat. Neudorfer hat 2017 detailliert dargelegt, wie sorgfältig die Universität Hohenheim Kernbegriffe ihrer Hochschule diskutiert hat. Dazu wurden allen Stakeholdern, also Mitarbeitern relevanter Abteilungen, Zugang auf eine von der Übersetzungsabteilung erstellte Termliste gegeben, so dass diese sich zu einzelnen Wahlmöglichkeiten äußern konnten (Abb. 10.7). So sollte eventuell der Leiter der Verkaufsabteilung wie auch der Leiter der Herstellungsabteilung konsultiert werden, wenn eine deutsche Firma sich entscheiden muss, ob sie die Wasserhähne in ihrem Katalog nun als taps oder faucets beschreiben wollen, oder beide Begriffe verwenden wollen. Wenn klar ist, dass die meisten Kunden in Kanada oder den USA leben, kann man getrost faucets verwenden. Wenn die Herkunft der Kunden unklar ist, sollen beide Begriffe im Katalog zu finden sein. Aber auch Formulierungen von wiederkehrenden Aspekten, wie die Bestätigung des Bestellungseingangs etc., sollen von einem Team getragen werden. Wichtig ist auch die Einbindung des Übersetzers in das Kommunikationsteam insgesamt und die Weitergabe der Webseitenformulierungen an die Übersetzer des Katalogs und an die Bearbeiter von Reklamationen, die KDV (Kundendatenverarbeitung), aber auch die ­Werbebroschüren. Deshalb bietet sich insgesamt die Verwendung eines Content Management Systems nicht nur für die Webseite, sondern auch für alle Dokumenterstellungen an.

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Abb. 10.7  Begriffsdiskussion im Intranet der Universität Hohenheim

Ein Übersetzungsauftrag, bei dem diese Folgekosten, aber auch bereits geleistete Formulierungshilfen nicht an die Firma oder die Hochschule zurückfließen, kann dem Unternehmen kein Geld gespart haben, sondern hat ihm eine Chance zur Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs genommen. Um zu zeigen, warum es sich lohnt, ein Translation Memory zu verwenden, hier ein Beispiel aus einer englisch-deutschen Übersetzung, bei der bereits ein 100 %-Match auftritt, das bedeutet, diese Formulierung ist vorher schon aufgetreten, und dabei so übersetzt worden (Abb. 10.8). Wenn ein Translation Memory für eine Firmenwebseite verwendet wird, hat das nicht nur den Vorteil, dass die Übersetzung konsistent ist, schneller geht und billiger wird, sondern auch den Vorteil, dass diese Formulierungswiederholungen für andere Textsorten der Firma übernommen werden können, zum Beispiel für Anschreiben, Reklamationen, Werbebriefe etc.

10.4.3 Verbindung der EN-Webseite mit der deutschen Seite Wie oben schon erwähnt, muss die Übersetzung oder das Übersetzungsteam in die Dokumentation an sich eingebunden sein. Die gewählten englischen Begriffe sollten zu den deutschen Begriffen passen, aber eben international ausgerichtet sein. Dabei können und sollen für internationale Kunden nichtrelevante Aspekte der deutschen Webseite auch weggelassen werden.

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Abb. 10.8  Beispiel für eine Übersetzung mit einem 100 %-Match

Aber vor allem ist wichtig, dass die EN-Webseite dynamisch mit der DE-­ Webseite verbunden ist, und alle Überlegungen, die in die Gestaltung und Verbesserung der DE-Webseite einfließen, müssen auch an die englische Webseite zurückfließen. Es kann aber auch durch Ideen bei der englischen Webseitengestaltung etwas in die Struktur der deutschen Seite zurückfließen. Ganz problematisch ist jedoch, wenn diese Verbindung nicht gepflegt wird. Wenn etwa ein Preisrabatt nur in der deutschen, nicht aber in der englischen Webseite erscheint. Oder wenn ein Rabatt erscheint, der aber dem internationalen Pu­ blikum nicht zusteht. Vor allem muss aber alles, was inhaltlich in der deutschen Seite geändert wurde, auch in der EN-Webseite umgestaltet werden. In einigen Fällen müssen dann parallel entweder mehrere fremdsprachige Seiten gepflegt werden oder es ist auch möglich, dass zwei EN-Webseiten gepflegt werden müssen, eine für EU-Bürger und eine für Nicht-EU-Bürger. In allen diesen Fällen ist es wichtig, dass Änderungen der DE-Webseite automatisch kommuniziert werden

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und dass die Struktur der Webseite vom Content Management System her so gestaltet ist, dass genau das entsprechende Segment der EN-Seite identifiziert werden kann, die Änderung vorgenommen und ebenso automatisch wieder eingepflegt werden kann. Mit diesem Thema beschäftigt sich das nächste Kapitel.

10.5 Einpflegen und Warten der Daten In ihrem Vortrag beim Hochschulübersetzernetzwerk 2016 beschäftigte sich Neudorfer genau mit der Frage der Pflege einer englischen Webseite bzw. der aufeinander abgestimmten Pflege einer deutschen und einer englischen Webseite. Die Aspekte der Pflege hängen zum einen von der Verwendung eines Translation Memorys ab, aber auch von der Verwendung eines Content Management Systems (CMS). Neudorfer (2016) beschreibt den Einsatz der L10N Extension des TYPO3 Content Management Systems (Abb. 10.9). Dabei stellt das Content Management System, hier TYPO3, 1. die Plattform zur Verfügung, in der gearbeitet wird, 2 . das Translation Memory liefert die relevanten Textbausteine, 3. die L10N Extension identifiziert den Abschnitt und fügt die Übersetzung automatisch wieder in das CMS bzw. die Webseite ein (Abb. 10.10).

Abb. 10.9  Änderung eines Webseiteninhalts in TYPO3

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Abb. 10.10  Übersetzung mit Translation Memory

Abb. 10.11  L10N Extension in TYPO3

Die Redaktionsextension L10N managt sowohl die Identifizierung der zu ändernden Passagen als auch den Wiedereinbau in die Webseite (Abb. 10.11). Es gibt natürlich zahlreiche andere Content Management Systeme und auch andere Redaktionssysteme, in die Sie Ihre Webseitenstruktur einbetten können. Wichtiger für Ihre Firma oder Ihre Hochschule sind nicht unbedingt die Vorteile des einen

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oder anderen Programms, sondern vor allem, dass die Konzeption, Pflege, Erstellung, Veränderung und Anpassung einer internationalen Webseite viel Engagement, Mitarbeiterzeit und Mitarbeitereinsatz erfordert und sowohl eng mit der deutschen Webseite als auch mit der gesamten Unternehmenskommunikation und der Abteilung Kundenservice und Kundenmanagement verbunden sein muss. Diese Verbindung sollte durch Abstimmung von Mitarbeitern, aber auch durch Absprache von Terminologie und durch gemeinsamen Zugang zu einer zweisprachigen Dokumentation und zu Formulierungen und Texten aus Translation Memorys gestützt sein. Firmen, die schon lange mit Content Management Systemen arbeiten, nutzen diese nicht nur für die Überwachung adäquater Übersetzungen, sondern auch für die konsistente Gestaltung der deutschen Webseite sowie für die Überprüfung der konsistenten Verwendung von Formulierungen der deutschen Webseite. Das Worst Case Szenario, das ich aber leider auf zahlreichen Firmen- wie auch Hochschulseiten erlebt habe, ist eine EN-Webseite, bei welcher der gleiche Tatbestand auf ein und derselben Seite unterschiedlich ausgedrückt wird und auf drei verschiedenen Seiten, die jeweils von unterschiedlichen Abteilungen betreut werden, völlig unterschiedlich bezeichnet ist. Egal ob es sich dabei um tap und faucet für Wasserhahn oder um degree program, degree course und nur course für Studiengang handelt, eine solche EN-­ Webseite wird international nicht gut ankommen.

10.6 Fazit und Zusammenfassung der Ergebnisse In diesem Artikel wurden Strategien zur Konzeption und Pflege einer internationalen Webseite für eine Firma oder Hochschule aufgezeigt. Dabei wurde zunächst vor allem auf die sprachliche Gestaltung der Seite hinsichtlich einer international verständlichen Form des Englischen, ELF, eingegangen. Es wurden wichtige Charakteristika des internationalen Englisch im Allgemeinen aufgezeigt und auf bewusste Entscheidungen hinsichtlich Begriffswahl und Formulierung angesichts der identifizierten Zielgruppenorientierung eingegangen. Bei der Auswahl der Übersetzungsagentur und der Pflege der Übersetzung sowie der übersetzten Texte muss unbedingt auf eine langfristige Verwendbarkeit und Wiederverwendbarkeit der Übersetzungen geachtet werden. Dies kann am besten durch ein Übersetzungsprogramm mit Translation Memory gestaltet werden, wobei die Begriffswahl – und eventuell auch Terminologielisten – mit allen Mitarbeitern, die mit dem beschriebenen Produkt, Prozess oder der Dienstleistung oder mit internationalen Kunden zu tun haben, besprochen werden sollte und ihnen das Ergebnis auch zur Verfügung gestellt werden sollte. Die zweisprachige Translation Memory Datei sollte

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zudem als Formulierungshilfe allen Mitarbeitern, die auf Englisch Texte formulieren müssen oder auf englischsprachige Kundenanfragen reagieren müssen, zur Verfügung gestellt werden. Zu guter Letzt ist es außerdem ganz wesentlich, dass Veränderungen der deutschen Webseite an die englische Webseite weitergegeben werden und dass die Gestaltung der englischen wie auch der deutschen Seite über ein Content Management System geht, das wiederum direkt mit dem Translation Memory verbunden ist. Dann kann die englische Webseite flexibel auf Rabatte, neue Produkte und neue Ideen der deutschen Webseite reagieren und immer up to date sein. Und dann kann die englische Webseite all die Chancen erfüllen, die in Abschn.  10.2 angesprochen wurden, Kontakt zu neuen Märkten, Joint Ventures, neue Zulieferer und neue Produktideen, ohne das Risiko einzugehen, durch unverständlichen Jargon und unklare Produktinformation vom internationalen Markt ignoriert zu werden.

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Neudorfer, K (2017). Terminologiearbeit der Universität Hohenheim. Vortrag beim 4. Hochschulnetzwerktreffen Mannheim 2017. Seidlhofer, B. (2005). English as lingua franca. Key concepts in ELT. ELT Journal, 59(4). https://docs.ufpr.br/~clarissa/pdfs/ELF_Seidlhofer2005.pdf. Zugegriffen am 28.02.2018. SWICE. (2016). Englische Seite von SWICE, South Westphalia International Center for Entrepreneurship. https://www4.fh-swf.de/de/home/ueber_uns/standorte/so/fb_eet/doz_eet/ profs_eet/gerlach/swice/index.php. Zugegriffen am 28.2.2018.

Prof. Dr. Verena Jung  ist seit März 2017 Professorin für Fachkommunikation Englisch an der AKAD University. Sie hat in anglistischer Linguistik und Übersetzungswissenschaft promoviert, an verschiedenen deutschen und britischen Universitäten Übersetzen und Linguistik unterrichtet und ist außerdem als Fachübersetzerin tätig.

Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den Erwartungen der Studierenden einer privaten Hochschule

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Marianne Blumentritt, Daniel Markgraf, Torsten Olderog und Doreen Schwinger

Inhaltsverzeichnis 11.1  Einleitung   180 11.2  Vom traditionellen zum digitalisierten Studienmodell dargestellt am Beispiel der AKAD University   181 11.3  Untersuchungsdesign der empirischen Erhebung   183 11.4  Merkmale der Befragten der Onlineuntersuchung   184 11.5  Einstellung zur Digitalität   188 11.6  Grundsätzliche Ziele und Erwartungen der Studierenden (an ein Fernstudium)   188 11.7  Bewertung spezifischer Studienangebote   191 11.8  Kommunikationspräferenzen   192 11.9  Gewünschte Unterstützung durch die Hochschule   195 11.10  Bereitschaft zum Engagement an der Hochschule   196 11.11  Zusammenfassung und Ausblick   200 Literatur   202

M. Blumentritt (*) · D. Markgraf · T. Olderog · D. Schwinger AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_11

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M. Blumentritt et al.

11.1 Einleitung Die Entwicklung und Verbreitung neuer Technologien auf Basis des Internets führt zur zunehmenden Digitalisierung, auch von Hochschulen. Private Fernhochschulen mit langjähriger Erfahrung beim Angebot von selbstorganisierten und kooperativen Bildungsprozessen sowie Blended-Learning-Ansätzen gehen als Pioniere bei der Etablierung von digitalen Studienmodellen voran. In dem sich vollziehenden Transformationsprozess vom traditionellen zum digitalen Studienmodell verändern sich Lehrmethoden und -prozesse. Gleichzeitig verändert sich auch die Beziehung zwischen Studierenden und Hochschule. Die Interaktionen im digitalisierten Fernstudium erfolgen selten von Angesicht zu Angesicht wie beispielsweise in Präsenzseminaren oder Sprechstunden vor Ort, sondern vorwiegend über Kanäle, die räumliche und zeitliche Distanzen überbrücken. Auf der einen Seite gehen hierdurch einzelne Kontaktdimensionen wie z.  B.  Augenkontakt, Gestik und Mimik verloren. Dies stellt hohe Anforderungen an die Kommunizierenden und erfordert in Lehrsituationen (wie Onlinetutorien) den Einsatz von speziellen Methoden und Techniken, die diesen Mangel lindern. Auf der anderen Seite ermöglicht die Digitalisierung der Kommunikation und der Inhalte erst ein ortsungebundenes und zeitlich flexibles echtes Fernstudium. Das Fernstudium ist keineswegs weniger persönlich als ein konventionelles Präsenzstudium. Im Gegenteil: die Datenspuren, die die digitale Kommunikation hinterlässt, liefern die Basis für eine individuelle Ansprache des einzelnen Studierenden. Die Kanalvielfalt ermöglicht passgenaue Problemlösungen für Personenkreise, die an klassischen Präsenzhochschulen eher unterrepräsentiert sind (insbesondere Berufstätige und sonstige Zielgruppen, wie Eltern, Behinderte etc.). Eine funktionierende Beziehung zwischen Hochschule und Studierenden ist für beide Seiten wichtig: Der Studierende wird nur dann seine Lernziele erreichen und in seinem Studium zügig vorankommen, wenn er die Studienangebote wahrnimmt. Kontakte zu Lehrenden und Kommilitonen tragen zur individuellen Förderung und Motivation bei. Er lernt besser und kann sein Studium schneller und erfolgreicher abschließen. Eine von Vertrauen, Engagement und Goodwill geprägte Beziehung erhöht nicht nur die Zufriedenheit des Lernenden, sondern auch die des Lehrenden. Die Interaktion mit dem Lernenden gibt Hinweise für die Optimierung von Bildungsprozessen und der Entwicklung von neuen Studienangeboten. Dies dient der Qualitätsverbesserung der Lehre und dem Renommee der Hochschule. Nicht zuletzt verringert eine starke Verbundenheit der Studierenden mit ihrer Hochschule das Risiko des Studienabbruchs, erhöht die Weiterempfehlungsbereitschaft und sichert damit auch den wirtschaftlichen Erfolg der Hochschule.

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

181

Für Studierende und Hochschule stellt eine intensive Verbundenheit somit eine echte Win-Win-Situation dar. Sie stellt sich jedoch nur dann ein, wenn der Studierende mit den Leistungen der Hochschule (Lehrangebot, Betreuung) zufrieden ist und seine Studienziele in der geplanten Zeit erreicht. Die Zufriedenheit hängt ab vom Ergebnis eines individuellen Vergleichsprozesses zwischen Erwartungen, die durch Vorinformationen aufgebaut wurden, und den Erfahrungen während des Studiums.1 Die Erwartungen an die Hochschule ändern sich zwangsläufig mit den sich ändernden Studienbedingungen und insbesondere mit den sich weiter entwickelnden Kommunikationstechnologien. Dieser Beitrag beschäftigt sich nun zunächst mit den grundsätzlichen Erwartungen von Studierenden an ein digitalisiertes Fernstudium. Er basiert auf einer empirischen Untersuchung an der AKAD University, einer privaten Fernhochschule, und behandelt folgende Leitfragen vor dem Hintergrund der digitalen Transformation des Fernstudiums: • Welche Einstellung haben die Studierenden zur Digitalisierung? • Welche konkreten Ziele verfolgen die Studierenden in einem Fernstudium? • Wie wichtig sind die verschiedenen Lehrangebote im Fernstudium für die Studierenden? • Wie möchten die Studierenden mit Lehrenden, Betreuern und Kommilitonen kommunizieren? • Welche Betreuungsleistungen werden von der Hochschule erwartet? Im Folgenden wird zunächst der Übergang vom traditionellen zum digitalisierten Studienmodell dargestellt, bevor auf die Ergebnisse der empirischen Untersuchung eingegangen wird.

11.2 V  om traditionellen zum digitalisierten Studienmodell dargestellt am Beispiel der AKAD University Die AKAD University – Hochschule Stuttgart ist eine staatlich anerkannte Privathochschule mit einem speziell auf Berufstätige zugeschnittenen F ­ ernstudienkonzept. Gegründet wird die deutsche AKAD 1959 als Teil der Schweizer AKAD-­ Gruppe in Stuttgart. Mit einem damals revolutionären Bildungsangebot (Fernund Präsenzunterricht) bereitet die AKAD in den Anfangsjahren zunächst Berufstätige auf das Abitur vor. In den 70er-Jahren wird das Angebot auf Sprach- und  Vgl. zum Konfirmations-Diskonfirmations-Paradigma Homburg (2017, S. 45)

1

182

M. Blumentritt et al.

IHK-­Lehrgänge ausgeweitet. Es folgen die Gründungen eigener Hochschulen. 1980 erhält als erste deutsche Fernhochschule die AKAD-FH Rendsburg (ab 2002 in Pinneberg, Schleswig-Holstein) die staatliche Anerkennung. In den Jahren 1991 und 1992 werden die AKAD Hochschulen Lahr (Baden-Württemberg) und Leipzig (Sachsen) gegründet. 2014 vereint die AKAD-Hochschulgruppe die Aktivitäten ihrer bisherigen drei Hochschulen in Pinneberg, Leipzig und Stuttgart in einer großen Hochschule, der AKAD University of Applied Sciences mit Sitz in Stuttgart. Das Studienprogramm der AKAD University umfasst diverse Bachelor-, Masterund MBA-Fernstudiengänge in den Bereichen Wirtschaft, Technik & Informatik sowie Kommunikation & Sprachen. Es wendet sich an berufstätige Erwachsene, die sich unabhängig vom Lebensalter und vom bisherigen schulischen Werdegang zielorientiert weiterbilden oder akademische Abschlüsse erwerben wollen. Das gesamte Studienmodell der AKAD Hochschule Stuttgart ist traditionell auf die Vereinbarkeit von Beruf und Studium ausgerichtet. In den Anfangsjahren des Fernstudiums wird der Fokus auf die Erstellung von für das Selbststudium geeigneten Lernmitteln (v. a. die sogenannten Studienbriefe) sowie auf die Konzeption von begleitenden Präsenzveranstaltungen und Betreuungsleistungen gelegt. Die räumliche Präsenz an verschiedenen Hochschulstandorten und deutschlandweiten Studienzentren sorgt dabei für Kundennähe. Mit der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien verbessern sich die Möglichkeiten des orts- und zeitunabhängigen Studierens. Der Anteil des Onlinestudiums wird erhöht. Vor-Ort-Präsenz wird substituiert durch Onlinepräsenz. Mit einer neuen Version der zentralen Lernplattform der Hochschule, dem AKAD-Campus, steht den Studierenden ein modernes Interaktions-, Kommunikations- und Lernsystem zur Verfügung. Parallel dazu wird das Angebot der fachlichen Studienbetreuung durch Dozenten ausgebaut, um die individuelle Unterstützung auf dem Weg zum Studienerfolg zu verbessern. Neben den Studienbriefen stehen den Studierenden Onlineübungen, Web-based Trainings und Einsendeaufgaben zur Verfügung, um das Erlernte anzuwenden, zu wiederholen und zu prüfen. Zur flexiblen Vorbereitung auf die Modulprüfungen werden den Lernenden Onlinecoachings und Onlinetutorien angeboten. Für den fachlichen Austausch steht in jedem Modul ein Fachtutor bereit. Er unterstützt die Studierenden bei ihren Fragen und betreut die Fachdiskussionen in der Lerngruppe. Das 2015 reformierte Studienmodell der AKAD University basiert heute im Wesentlichen auf folgenden Bausteinen, die ständig weiterentwickelt und ergänzt werden (AKAD Hochschule Stuttgart 2016, S. 64): • räumliche Unabhängigkeit durch Fernstudium mit Onlinestudienelementen und Fokus auf asynchronen Studienelementen, • umfangreiche organisatorische Unterstützung des Studiums durch Onlinecampus und Studienbetreuung,

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

183

• • • • •

Minimierung der Besuche am Hochschulort, Möglichkeit des jederzeitigen Beginns des Studiums, individuelle Gestaltbarkeit des Studienablaufs und der Studiendauer, räumliche Nähe zum Wohn-/Arbeitsort durch 33 Prüfungszentren deutschlandweit, Möglichkeit individueller Lösungen für Projekte, Prüfungen und Assignments bei Auslandstätigkeit, • Möglichkeit der Unterbrechung des Studiums (Urlaubssemester). Mit der dynamischen Weiterentwicklung der Kommunikationstechniken entwickelt sich auch das Studienmodell stetig weiter. Richtungsweisend sind dabei die Erwartungen der Studierenden, die in folgender Untersuchung erhoben wurden.

11.3 Untersuchungsdesign der empirischen Erhebung Für die Untersuchung wurde die Methode der schriftlichen Befragung unter Verwendung des Umfragetools www.umfrageonline.com gewählt. Die Befragung fand vom 20. August 2017 bis 9. Oktober 2017 statt. Der Link zum Fragebogen wurde vor allem im Onlinecampus der AKAD University veröffentlicht, aber auch per E-Mail an AKAD-externe Adressaten versandt. Insgesamt beteiligten sich 376 Personen an der Befragung. Davon konnten 375 Fragebogen ausgewertet werden. Im Vorfeld der Befragung fand ein Pretest statt. Dieser Pretest erfolgte vom 10. bis 14. August 2017. Hieran nahmen neun Befragte teil. Auf Basis der Ergebnisse und des Feedbacks der Befragten wurde der Fragebogen nochmals überarbeitet. Insgesamt behandelt die Untersuchung Fragen zu sechs Themenfeldern: • zur persönlichen Einstellung zur Digitalisierung (als Einstieg, Frage 1), • zu den grundsätzlichen Zielen und Erwartungen der Studierenden an ein Fernstudium (Frage 2), • zur Wichtigkeit verschiedener Lehrangebote im Studium (Frage 3), • zu den Kommunikationspräferenzen (Fragen 4 und 5), • zu den gewünschten Betreuungsangeboten der Hochschule (Frage 6) sowie • zur Bereitschaft des persönlichen Engagements an der Hochschule (Frage 7). Am Ende der Befragung werden mit Frage 8 persönliche Merkmale erhoben (Stadium im Studium, Geschlecht, Alter, Berufstätigkeit, Wohnort). Darüber hinaus wird in einer offenen Frage die Gelegenheit für weitere Kommentare und Anregungen geboten.

184

M. Blumentritt et al.

Die Fragen 2, 3 und 6 werden auf einer fünfer Ratingskala (sehr wichtig (1) bis unwichtig (5)) erhoben. Hier wird angenommen, dass die zugrunde liegenden Abstände zwischen den Antwortmöglichkeiten der Skala gleich groß sind und es sich daher um eine Intervallskala handelt. (Vgl. Backhaus et  al. 2016, S. 12) Frage 1 ist ordinalskaliert, die Fragen 4, 5, 7 sowie die Fragen zur Person sind nominalskaliert. Einzig die Angabe des Geburtsjahres ist wiederum intervallskaliert. Am 7. Oktober 2017 fand im Rahmen des AKAD Forums ein Workshop zum Thema „Kundenbindung im digitalen Raum  – Gestaltung der Kundenbeziehung zwischen Bits und Bytes“ statt. An diesem Workshop nahmen 20 Interessierte teil. Hier wurden zentrale Untersuchungsergebnisse validiert. Einige der im Workshop diskutierten Aspekte fließen in die folgende Auswertung ein.

11.4 Merkmale der Befragten der Onlineuntersuchung Zunächst erfolgt eine Charakterisierung der Befragten. Insgesamt studieren derzeit 97 % der Befragten (363). Zehn Befragte haben ihr Studium bereits abgeschlossen. Ein Befragter gab ausdrücklich an, noch nicht studiert zu haben und einer machte zu dieser Frage keine Angaben. Damit beziehen sich die folgenden Angaben bezüglich des Studiums auf die 373 Befragten, die derzeit studieren bzw. bereits ein Studium absolviert haben. Diese werden künftig als Studierende bezeichnet (auch wenn hier ehemalige Studierende subsummiert werden). 357 der Befragten studieren an der AKAD University bzw. haben hier studiert. Dies entspricht einer relativen Häufigkeit von 95,7 % der Studierenden. Dies verwundert aufgrund der Verbreitungswege des Links zur Onlinebefragung nicht. Acht Befragte studieren nicht bei der AKAD. Weitere acht Studierende beantworteten diese Frage nicht. Nimmt man eine fachliche Zuordnung der von den Befragten absolvierten Studiengänge bzw. Zertifikate vor, so ergibt sich folgende Einteilung: 140 der Studierenden (37,5 %) können dem Wirtschaftsbereich, 38 (10,2 % der Studierenden) dem Sprachen- bzw. Kommunikationsbereich und 120 (32,2 % der Studierenden) dem Technik- sowie 48 (12,9 % der Studierenden) dem Informatikbereich zugeordnet werden. 27 Studierende machten keine Angaben zum möglichen Studiengang. Diese Aufteilung der Befragten entspricht in etwa der Verteilung der Studierenden an der AKAD University Ende September 2017. Zu diesem Zeitpunkt studierten ca. 43  % der Studierenden im Wirtschaftsbereich, knapp 10 % im Sprachen- und Kommunikationsbereich, ca. 31 % im Technikund knapp 16 % im Informatikbereich.

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

Ich habe studiert 11(3%)

185

Ich studiere und bin frisch dabei 71(19%)

Ich studiere und bin fast fertig 96(26%)

Ich studiere und habe schon einige Module absolviert 194(52%)

Abb. 11.1  Stadium des Studiums (N = 373 Studierende; keine Angabe: 1)

Im Kreisdiagramm in Abb. 11.1 ist aufgezeigt, in welchem Stadium des Studiums sich die Studierenden derzeit befinden, ein Studierender machte diesbezüglich keine Angaben. Abb. 11.2 zeigt, welcher Abschluss von den Studierenden angestrebt wird bzw. bereits erreicht wurde. Hinsichtlich der Berufstätigkeit zeigt sich folgendes Bild. Insgesamt sind 91 % der Befragten berufstätig und absolvieren das Studium neben dem Beruf. Immerhin gut Dreiviertel der Befragten ist sogar vollzeitberufstätig (Abb. 11.3). An der Befragung nahmen 218 Männer (58,1 %) und 148 Frauen (39,5 %) teil. Neun Befragte machten keine Angaben zum Geschlecht. Zum Vergleich betrug an der AKAD University die Frauenquote der Studierenden Ende 2016 knapp 35 %. (Vgl. AKAD Hochschule Stuttgart 2017) Die Altersstruktur aufgrund der Angabe des Geburtsjahres der Befragten (zu Klassen zusammengefasst) wird in Abb. 11.4 dargestellt. In Abb.  11.5 wird die Verteilung der Befragten nach ihrem Wohnort aufgezeigt. Die Mehrheit der Befragten (25 %) wohnt im PLZ-Bereich 7, nämlich in dem Bereich, in dem auch der Hauptsitz der AKAD University beheimatet ist, gefolgt von den Postleitzahlbereichen 8 (16  % der Befragten), 9 (10  %) und 6 (9 %). Insgesamt stimmen die Ausprägungen der erhobenen Merkmale der Befragten weitgehend mit den Daten der Hochschulstatistik überein.

186

M. Blumentritt et al.

Keine Angabe 42 (11%)

Zertifikatsabschluss 33 (9%)

Master 85 (23%)

Bachelor 188 (50%)

Diplom 25 (7%)

Abb. 11.2  (angestrebter) Studienabschluss (N = 373 Studierende)

Ich bin nicht berufstätig 23(6%)

keine Angabe…

Ich bin teilzeitberufstätig 56(15%)

Ich bin vollzeitberufstätig 285(76%)

Abb. 11.3  Berufstätigkeit (N = 375 Befragte)

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

keine Angabe 17 (4%)

1951 -1960 2 (1%)

1961 -1970 16 (4%) 1971 -1980 50 (13%)

1991 -2000 89 (24%)

1981 -1990 201 (54%)

Abb. 11.4  Altersstruktur nach Geburtsjahr (N = 375 Befragte)

Ausland 2 (1%)

keine Angabe 12 (3%)

PLZ-Bereich 0 23 (6%)

PLZ-Bereich 1 8 (2%)

PLZ-Bereich 9 36 (10%)

PLZ-Bereich 2 32 (8%)

PLZ-Bereich 8 60 (16%)

PLZ-Bereich 3 28 (7%) PLZ-Bereich 4 19 (5%)

PLZ-Bereich 5 30 (8%) PLZ-Bereich 7 93 (25%)

PLZ-Bereich 6 32 (9%)

Abb. 11.5  Wohnorte nach Postleitzahlengebiet (N = 375 Befrage)

187

188

M. Blumentritt et al.

11.5 Einstellung zur Digitalität Um die grundsätzliche Einstellung der Studierenden zum Thema Digitalität zu erfahren, wurden die Befragten nach ihren spontanen Assoziationen zum Begriff „digital“ aufgefordert. Die Einstiegsfrage diente der Hinführung und Einstimmung auf das Thema. Den Befragten wurden diverse Gegensatzpaare vorgelegt. Diejenigen, die vornehmlich positive Assoziationen mit digital verbinden, wurden der Gruppe der digital Affinen zugeordnet. Dagegen setzt sich die Gruppe der digital Nicht-Affinen aus Befragten zusammen, die eher negative Begriffe mit „digital“ assoziieren. (vgl. Abb. 11.6) Mit 184 Personen ist die Gruppe der digital Affinen etwas größer als die Gruppe der digital Nicht-Affinen (167 Personen), was angesichts der Zugehörigkeit der Befragten zu einer Fernhochschule mit einem digitalen Studienmodell kaum verwundert. Interessanterweise unterscheiden sich die beiden Gruppen kaum hinsichtlich der erhobenen Merkmale (Geschlecht, Alter bzw. Stadium im Studium) (Abb. 11.7).

11.6 G  rundsätzliche Ziele und Erwartungen der Studierenden (an ein Fernstudium) Ein zentrales Anliegen der Untersuchung war die Erhebung der grundsätzlichen Ziele und Erwartungen der Studierenden. Warum entscheidet man sich zu einem berufsbegleitenden Studium, welche konkreten Ziele werden damit verfolgt und welche Erwartungen werden an eine Fernhochschule im Digitalzeitalter gestellt? Auskunft darüber gibt Abb. 11.8. interessant kommunikativ Gegenwart heiß

uninteressant

effizient

digital affin

flexibel bedeutend

unkommunikativ

individuell direkt

Zukunft kalt

sympathisch

eher

Einstellung zu „digital“

Abb. 11.6  Messmodell Digitalität

digital nicht -affin unflexibel unbedeutend eher

ineffizient standardisiert indirekt unsympathisch

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

digital Affine

relative absolute Häufigkeit der Häufigkeit der Nennung Nennung

189

digital Nicht-Affine

relative absolute Häufigkeit der Häufigkeit der Nennung Nennung

Unterscheidung nach Geschlecht

männlich weiblich

111 69

61.67% 38.33%

95 68

58.28% 41.72%

51 81 32

31.10% 49.39% 19.51%

Unterscheidung nach Stadium im Studium

fast fertig einige Module neu dabei Geburtsjahr (Mittel)

42 96 35

24.28% 55.49% 20.23%

1986.3

1985.1

Abb. 11.7  Merkmalsverteilung der Einstellungsgruppen zur Digitalität

Wissen erwerben

98.39%

fachliche Zusammenhänge erkennen und besser verstehen

96.52%

berufliche Weiterentwicklung

95.99%

von jedem Ort aus studieren

92.51%

Lerntempo selbst bestimmen

91.96%

praktische Relevanz des Gelernten erkennen

90.37%

Zugang zu Literatur, Datenbanken und Software

84.76%

Wissen in Übungen und Fallstudien anwenden

80.65%

viele Wahlmöglichkeiten (Spezialisierung im Studiengang)

73.80%

Professoren und Experten kennenlernen

58.06%

Netzwerk schaffen

46.51%

Spaß haben

45.84%

Vergünstigungen aufgrund des Studentenstatus

41.29%

andere Studierende treffen

36.46%

Angebot von Auslandsaufenthalten

21.45%

Möglichkeit der Mitarbeit in Hochschulgremien

14.48%

0%

20%

40%

60%

80%

100%

relave Häufigkeit der Nennungen

Abb. 11.8  (Sehr) wichtige Erwartungen an das Fernstudium (N = 375 Befragte)

Besonders wichtig ist den Befragten, „Wissen erwerben“ und „fachliche Zusammenhänge erkennen und besser verstehen“, also Basiserwartungen an jedes Studium. Daraufhin wird die „berufliche Weiterentwicklung“ als wichtig bis sehr

190

M. Blumentritt et al.

wichtig eingestuft. Dies war zu erwarten, denn ca. 91 % der Befragten sind berufstätig, die allermeisten (mehr als Dreiviertel) arbeiten in Vollzeit. Lediglich für fünf Befragte ist die berufliche Weiterentwicklung gar nicht wichtig.2 Es folgen typische Erwartungen an das Fernstudium, nämlich „von jedem Ort aus studieren“ und „Lerntempo selbst bestimmen“. Die „praktische Relevanz des Gelernten erkennen“ und der unproblematische „Zugang zu Literatur, Datenbanken und Software“ wird von den Befragten ebenfalls als vergleichsweise wichtig eingeordnet. Für eher studienferne Bereiche scheint für die meisten kaum Zeit zu sein. Nicht einmal die Hälfte der Befragten findet es wichtig, sich ein Netzwerk zu schaffen oder erwartet Spaß im Studium. Kommilitonen zu treffen, erhofft gut ein Drittel der Befragten. Nur für etwas mehr als ein Fünftel scheint das Angebot von Auslandsaufenthalten wichtig zu sein. Ganz hinten steht die Mitarbeit in Hochschulgremien (Vgl. Abschn. 11.10). Unterscheidet man die Befragten nach dem Stadium des Studienfortschritts, so zeichnet sich ein etwas anderes Bild: Ein Großteil der frisch immatrikulierten Studenten möchte sehr wohl Spaß haben (58  %) bzw. sich ein Netzwerk schaffen (55 %), wogegen diese Erwartungen im Laufe des Studiums erheblich nachlassen. Spaß finden nur noch 44 % der Fortgeschrittenen und am Studienende nur noch 41 % der Studierenden wichtig. Interessanterweise erwarten vor allem die älteren Befragten Spaß im Studium. Dies könnte damit zusammenhängen, dass viele Ältere ein Studium aufnehmen, um den Bildungshorizont zu erweitern oder um sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen und mit der Weiterbildung nicht primär die berufliche Weiterentwicklung verfolgen. Insgesamt zeigt sich, dass die Erwartungen bzw. Ziele, die unmittelbar mit dem Studienabschluss oder der Weiterentwicklung im Beruf zusammenhängen, besonders wichtig eingestuft werden. Interessanterweise haben Frauen insgesamt höhere Erwartungen an ein Fernstudium als Männer (vgl. Abb. 11.9). Dagegen konnten keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Erwartungen der digital Affinen zu den digital Nicht-­ Affinen festgestellt werden.

 Berufstätige Studierende sind trotz oder gerade wegen friktionsreicher Lernbiografien in hohem Maße motiviert. Wenngleich die Berufstätigkeit das Zeitbudget für das Studium eingrenzt, so begünstigt die praktische Perspektive die Auseinandersetzung mit dem Lernstoff. Vgl. Alonso et al. (2017), S. 93–109. 2

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

sehr wichtig

5.00

4.82 4.85

4.61

4.74

4.60

4.41 4.47

4.00

3.99

4.74

4.52

191

4.77 3.87 4.21

4.20

3.00 2.33

2.89

männlich

Ausland

Wahlmöglichkeiten

Tempo bestimmen

ortsunabhängig

Wissen anwenden

Relevanz erkennen

1.00

Zusammenhänge erkennen & verstehen

unwichtig

Wissen erwerben

2.00

weiblich

Abb. 11.9  Analyse der Mittelwerte: Erwartungen an ein Fernstudium getrennt nach Geschlecht (N = 367 Befragte)

11.7 Bewertung spezifischer Studienangebote Zur Unterstützung der Studierenden umfasst das Fernstudienmodell einen Mix an Instrumenten. Klassisch wird im Fernstudium über Studienbriefe und begleitende Präsenzseminare sowie über Sprechstunden mit dem Tutor gelehrt. Welchen Stellenwert und Nutzen die verschiedenen Lehrinstrumente bei den Studierenden einnehmen, zeigt Abb. 11.10. Ganz oben steht immer noch der traditionelle Studienbrief. Dieser ist für fast 98 % der Befragten wichtig oder sehr wichtig. 88 % der Befragten empfinden Onlinevideos als wichtiges oder sehr wichtiges Angebot im Fernstudium, und erst danach werden der AKAD-Campus (83  %) und Onlineveranstaltungen (80  %) genannt. Hier kann abgelesen werden, inwieweit die Transformation des S ­ tudienmodells beim Studenten angekommen ist. Gewünscht werden deutlich mehr Onlineelemente, während die klassischen Präsenzseminare nur von gut der Hälfte der Studierenden als wichtig oder sehr wichtig erachtet werden. Je nach Fachrichtung wird den Präsenzseminaren eine unterschiedliche Bedeutung zugemessen. Im Technikbereich halten 59 % der Studierenden Präsenzseminare

192

M. Blumentritt et al.

Studienbriefe (für das Selbststudium didaktisch aufbereitetes Lernmaterial)

97.06%

Onlinevideos (Aufzeichnungen von Vorlesungen oder Erklärungen zu speziellen Fachthemen)

87.70%

Virtuelle Lernplattform (AKAD-Campus) mit Fachforen, wo man Fragen stellen und diskutieren kann

83.16%

Onlineveranstaltungen (Live-Veranstaltungen mit Dozenten und Studenten via Internet)

79.68%

Sprechstunde mit Tutor (Gespräch zwischen Dozenten und Studenten via Telefon oder Skype)

68.72%

Präsenzseminare (Zusammentreffen von Dozenten und Studenten an einem gemeinsamen Ort)

52.41% 0%

20%

40%

60%

80%

100%

relave Haufigkeit der Nennungen

Abb. 11.10  (Sehr) wichtige Angebote im Fernstudium (N = 375 Befragte)

für wichtig bis sehr wichtig, wohl auch aufgrund der in diesen Studiengängen nötigen Laborveranstaltungen. Interessanterweise trifft dies auf den Informatikbereich nicht in dem Umfang zu (50 % der Befragten aus dem Informatikbereich bewerten Präsenzveranstaltungen als wichtig bis sehr wichtig), hier scheinen die Laborveranstaltungen auch online möglich zu sein. Für 51 % bzw. 53 % der Befragten des Wirtschaftsbereiches bzw. des Kommunikations- und Sprachenbereiches sind Präsenzveranstaltungen wichtig oder sehr wichtig.

11.8 Kommunikationspräferenzen Mit der rasanten Entwicklung der Kommunikationstechnologien haben sich die Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren vervielfacht. Mit welchen Personengruppen an der Hochschule über welche Kanäle vorzugsweise kommuniziert wird, zeigt der folgende Abschnitt. Auf die Frage, mit welchen Personengruppen sie Kontakt haben möchten, wünschen sich fast alle Befragten (99 %) einen Austausch mit dem Lehrpersonal, dicht gefolgt von dem Kontakt zur Studienbetreuung (94 %) und zu anderen Studierenden (92  %). Auf einen Austausch mit ehemaligen Studierenden legen 61  % der Befragten wert, Kontakt zur Hochschulleitung wünschen dagegen nur 26 %. Im

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

193

offenen Frageteil wurde darüber hinaus öfters sowohl Kontakt zu Betreuern von Projektberichten und Abschlussarbeiten als auch explizit zu Studierenden des gleichen Studienganges gewünscht. Welche Kommunikationskanäle dabei von den Befragten präferiert werden, zeigt Abb. 11.11. Hierzu wurden über die Personengruppen hinweg alle Nennungen der Kommunikationsmedien/Kommunikationskanäle aufsummiert, wodurch die an der X-Achse abgetragenen Werte nicht relevant sind. Die Relation der Balken hingegen zeigt folgende Zusammenhänge. Fernstudenten sind nach wie vor recht konservativ eingestellt: Mit Abstand kommunizieren die meisten am liebsten per E-Mail, schließlich ist dieser Kommunikationskanal auch im beruflichen Alltag Standard. Im Studium mag die ­Beliebtheit von E-Mails auch an deren Zeitunabhängigkeit und der Möglichkeit zur Dokumentation liegen: Die kommunizierenden Partner müssen nicht synchron zusammenkommen, sondern jeder kann in seinem Rhythmus arbeiten, was für berufstätige Fernstudenten besonders wichtig ist. Darüber hinaus kann auf die Informationen immer wieder zugegriffen werden.

E-Mail AKAD-Campus telefonisch persönlich per Skype/Adobe Connect WhatsApp Facebook 0

200

400

600

800

1000

1200

aufsummierte absolute Nennungen

Abb. 11.11  Relevanz der Kommunikationskanäle (N = 375 Befragte)

1400

1600

194

M. Blumentritt et al.

100%

76%

72%

74% 67% 52% 59%

53%

59% 38%

41%

16% 16%

WhatsApp

Facebook

Skype

AKAD-Campus

persönlich

E-Mail digital Affine

5%

egal

3%

2% 3%

0%

Telefon

Anteil, die den Kommunikationsweg wünschen

Diese beiden Vorteile bietet auch der AKAD-Campus als zentrales Medium der Hochschule, der an zweiter Stelle folgt. Mit dem telefonischen und dem persönlichen Kontakt folgen zwei Kommunikationswege, die zwar synchron erfolgen müssen, aber so auch die Möglichkeit der direkten Interaktion geben. Beide Vorteile vereinen Skype und Adobe Connect auf dem fünften Rang. Diese Kanäle werden jedoch von allen Befragten vornehmlich für die Kommunikation mit Lehrenden in Onlineveranstaltungen gewünscht. Über WhatsApp und Facebook kommunizieren die Studierenden allenfalls mit Kommilitonen.3 Als Kommunikationskanal im Rahmen des Lernprozesses eignen sich WhatsApp und Facebook somit für die Hochschule zum aktuellen Zeitpunkt eher nicht, sondern diese Kanäle sind dem Austausch zwischen Kommilitonen, unter Ausschluss des Lehrkörpers, vorbehalten. Hinsichtlich der Kommunikationskanäle haben digital Affine andere Präferenzen als digital Nicht-Affine, wie Abb.  11.12 beispielhaft demonstriert. Bei den

digital Nicht-Affine

Abb. 11.12  Kommunikationswege zu Tutoren/Dozenten getrennt nach Digitalisierungspräferenzen (N = 351 Befragte)  So nutzen die Studierenden v. a. WhatsApp derzeit als geschützten, privaten und eigeninitiierten Kommunikationsraum meist innerhalb von Studiengängen, schwierigen Modulen und/ oder weiteren spezifischen Interessenbereichen (Auslandsprogramm California States, Fahrgemeinschaften etc.). 3

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

195

digital Nicht-Affinen ist die telefonische, vor allem aber die persönliche Kommunikation deutlich beliebter als in der Gruppe der digital Affinen. Daraus kann geschlossen werden, dass diejenigen, die eher ablehnend gegenüber Digitalität eingestellt sind, bei dem Lernprozess über digitale Kanäle zusätzlich auf ein persönliches Zusammentreffen mit den Lehrenden z. B. im Seminar Wert legen. Auch je nach Geschlecht zeigen sich Unterschiede hinsichtlich der Kommunikationspräferenzen. Der AKAD-Campus ist besonders bei weiblichen Studierenden beliebt. Deutlich mehr Frauen (77 %) als Männer (68 %) bevorzugen bei der Kommunikation mit Dozenten und Tutoren den AKAD-Campus. Auf die offene Frage, welche weiteren Kommunikationskanäle gewünscht wurden, nannten mehrere Befragte eine Chatfunktion sowie Alternativen zu den genannten sozialen Netzwerken, wie z. B. XING, LinkedIn, Slack.

11.9 Gewünschte Unterstützung durch die Hochschule Jeder, der sich bei einer privaten Hochschule immatrikuliert, erwartet eine individuelle Behandlung und Betreuung. Da er monatlich für sein Studium zahlt, betrachtet er sich selbst nicht nur als Student, sondern auch als Kunde und erwartet dafür eine entsprechende Gegenleistung. Nicht zuletzt wird diese Erwartungshaltung durch Marketingversprechen der Hochschule geschürt. Abb. 11.13 zeigt, wie der Nutzen verschiedener Betreuungsangebote der Hochschule durch die Studierenden eingeschätzt wird. Es zeigt sich, dass (z. T. deutlich) mehr als die Hälfte der Befragten Hilfsangebote durch die Hochschule als wichtig bis sehr wichtig erachtet. Vor allem nach einer nicht bestandenen Prüfung wünschen sich 84 % der Befragten mehr Hilfsangebote in Form von zusätzlichen Übungsaufgaben oder Beratungsgesprächen. „Nachbesprechung oder zusätzliches Onlinetutorial nach schlechten Klausuren“, „ich würde gerne mehr Unterstützung bei der Prüfungsvorbereitung erhalten“, „mehr Musterklausuren“ und ähnliche Aussagen im offenen Antwortfeld zeigen, dass sich viele Studierende unsicher bei der Prüfungsvorbereitung fühlen und sich grundsätzlich mehr Beistand durch die Hochschule wünschen. Hilfsangebote sollen vorzugsweise online angeboten werden: „Vor jeder Klausur einen Prüfungsvorbereitungskurs online“, „die angebotenen Tutorien/Onlineübungen sollten weiter ausgebaut werden“, „mehr Lernvideos“. Explizit sprachen 20 Studierende im offenen Antwortteil die gewünschte Unterstützung im Rahmen der Prüfungsvorbereitung zu einer Klausur an. Mehr Transparenz und Informationen über den Studienfortschritt oder das eigene Leistungsniveau im Vergleich zum Durchschnitt sind 77  % bzw. 56  % der

196

M. Blumentritt et al.

Wenn es einmal nicht so gut gelaufen ist, würde ich gern Hilfsangebote bekommen (zusätzliche Übungsaufgaben, Termin für Sprechstunde mit Tutor etc.)

83.96%

Ich fände einen aktuellen Überblick über meinen Studienfortschritt hilfreich

77.21%

Wenn ich aus irgendwelchen Gründen in meinem Studium langsamer vorankomme, wünsche ich einen kleinen Schubs von der Studienbetreuung

57.10%

Ich würde gern wissen, wie ich im Vergleich zu meinen Kommilitonen abschneide

56.42%

Ich wünsche mir mehr Angebote zum Selbst-/Zeitmanagement, damit ich disziplinierter und organisierter studieren kann

51.21%

42.47%

Ich würde mich über ein Lob bei sehr guten Leistungen freuen

0%

20%

40%

60%

80%

100%

relative Häufigkeit der Nennungen

Abb. 11.13  (Sehr) wichtige Unterstützung durch die Hochschule (N = 375 Befragte)

Befragten wichtig. „Online kenntlich machen, welche Module gerade bearbeitet werden“, „immer aktuelle Gesamtnote anhand Studienfortschritt und Übersicht der erreichten Credits“ sind weitere Nennungen der Befragten. Einen Motivationsschub durch die Studienbetreuung fände in schwierigen Studienphasen mehr als die Hälfte der Befragten (57 %) hilfreich, und ein Lob bei sehr guten Leistungen erwarten 42  % der Studierenden. Ein wohlgemeinter „Push“ stößt jedoch nicht bei jedem auf Gegenliebe: „Ich möchte alleine gelassen werden, denn ich bin ein erwachsener Mensch. Ich will nicht zu meinem Erfolg oder Misserfolg gegängelt werden.“ Am Anfang des Studiums sind die Erwartungen an Betreuungsangebote eher höher als im weiteren Verlauf des Studiums, wie Abb. 11.14 zeigt.

11.10 Bereitschaft zum Engagement an der Hochschule Werden Studierende nicht nur als Rezipienten von Bildungsdienstleistungen gesehen, sondern auch als Mitglieder der Hochschule, von denen schöpferische Impulse auf Lehr- und Lernprozesse ausgehen, stellt sich die Frage nach dem Grad der Bereitschaft zum Engagement an der Hochschule. Abb. 11.15 zeigt eine Übersicht von Aktivitäten, die über Lernprozesse im Studium hinausgehen. Hinweise für die Weiterentwicklung von Lernmaterialien oder im Rahmen einer Evaluation Feedback zu bestimmten Bildungsangeboten zu geben, können sich die

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den … sehr wichtig

197

5.00 4.26

4.25 4.03

4.00

4.11 3.39

4.22 3.61

3.54 3.23

3.43

3.71

3.38

3.39

3.00

4.09

3.44

3.03

3.31

2.96

frisch dabei

Schubs von HS

Hilfsangebote

Lob bei Leistung

Vergleich mit anderen

1.00

Studienfortschritt

unwichtig

Selbst-/ Zeitmanagement

2.00

einige Module bearbeitet

fast fertig

Abb. 11.14  Analyse der Mittelwerte: Unterstützung durch die Hochschule getrennt nach Stadium des Studiums (N = 362 Befragte)

Hinweise geben zur Weiterentwicklung von Lernmaterialien Feedback geben für Bildungsangebote (wie z.B. Veranstaltungen) 40.75%

27.54%

Studiengänge / Vertiefungen mitentwickeln

28.07%

selbst Medien für Mitstudenten produzieren 18.18% (z.B. Lernvideos)

0%

32.44% 33.42%

31.28%

selbst als Mentor Studienanfänger unterstützen

als Studentenvertreter im Senat

24.93%

58.45%

an einem Coaching-Programm teilnehmen an einer Lerngruppe (Studentische Selbsthilfegruppe) teilnehmen

24.87%

63.37%

34.76% 32.62%

21.93%

Ja

Vielleicht

20.11% 20%

40%

60%

80%

100%

relative Häufigkeit der Nennungen

Abb. 11.15  Ich könnte mir vorstellen, an der Hochschule aktiv zu werden (N  =  375 Befragte)

198

M. Blumentritt et al.

meisten Befragten vorstellen. Dies verwundert nicht, werden doch die Studierenden regelmäßig zur Evaluation aufgefordert.4 Dagegen möchten an einem Coachingprogramm aber nur 41 % der Befragten gerne teilnehmen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die meisten Studierenden ihren Studienverlauf weitgehend selbst steuern möchten. Auffallend ist, dass vor allem Frauen an einem Coachingprogramm interessiert sind: Fast die Hälfte der weiblichen Befragten würde sich hieran beteiligen, dagegen nur 35 % der männlichen Befragten. Scheinbar lernen die meisten Befragten auch vorzugsweise allein, denn nur knapp ein Drittel könnte sich vorstellen, einer Lerngruppe beizutreten. Umso erstaunlicher ist, dass immerhin fast 30 % der Befragten sich vorstellen können, als Mentor Studienanfänger zu unterstützen, weitere 35  % können sich dies nur vielleicht vorstellen. Aufgrund des zur Verfügung stehenden Zeitbudgets der Befragten ist dies ein sehr beeindruckendes Ergebnis. Insgesamt zeigt sich hier das zeitliche Problem vieler Studierender. Aufgrund der beruflichen und/oder familiären Verpflichtungen scheint es den Studierenden nicht oder schwer möglich zu sein, aktiv weitere über das eigentliche Studium hinausgehende Aktivitäten wahrzunehmen. Je weiter sich die zusätzliche Aktivität vom eigentlichen Studium entfernt, umso geringer wird die Bereitschaft hieran mitzuwirken. Die Bereitschaft selbst an der Hochschule aktiv zu werden, ändert sich während des Studiums (siehe Abb. 11.16 und 11.17). Während alle Befragten es etwa gleich wichtig erachteten, Feedback und weiterführende Hinweise zu geben, so zeigen sich je nach Stadium im Studium Unterschiede bei den weiteren Aktivitäten. Lerngruppen finden vor allem Studienanfänger wichtig. Dagegen messen weit fortgeschrittene Studierende den Themen Coaching und Mentoring mehr Bedeutung zu als die Studienanfänger. Die Bereitschaft aktiv zu werden, steigt grundsätzlich mit dem Fortschritt im Studium, wie die folgenden Abbildungen zeigen. Immerhin kann sich mehr als ein Fünftel der älteren Semester vorstellen, selbst Medien für Mitstudenten zu produzieren, sogar fast ein Drittel wäre bereit zu einer Mitarbeit bei der Entwicklung von Studiengängen bzw. von Vertiefungen. Damit zeigt sich eine bemerkenswert hohe Bereitschaft zum Engagement bei der Gruppe der fortgeschrittenen Studierenden und lässt auf eine starke Identifikation mit der Hochschule schließen. Eine Ausnahme stellt die Bereitschaft als Studienvertreter im Senat mitzuwirken dar, hierin sehen Studierende gegen Ende des Studiums weniger Sinn als Studienanfänger. 4  Gleichzeitig steigt damit auch die Erwartung, dass die im Rahmen von Evaluationen monierten Mängel (z. B. Fehler in den Studienmaterialien) umgehend beseitigt werden. Darauf wird im offenen Antwortteil mehrfach hingewiesen.

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

199

64%

64% 57%

66% 58%

58%

46%

42% 32%

38% 39%

Hinweise Weiterentwicklung frisch dabei

an Lerngruppen teilnehmen

0%

Coachingprogramm

28%

Feedback geben

Anteil derer, die sich beteiligen würden

100%

einige Module bearbeitet

fast fertig

Abb. 11.16  Bereitschaft an der Hochschule aktiv zu werden (I) getrennt nach Stadium des Studiums (N = 362 Befragte)

34% 27%

14%

21% 29% 11%

18%

7%

frisch dabei

Studiengänge entwickeln

Medien herstellen

0%

31% 22%

Mentor

22%

einige Module bearbeitet

4%

Studentenvertreter

Anteil derer, die sich beteiligen würden

100%

fast fertig

Abb. 11.17  Bereitschaft an der Hochschule aktiv zu werden (II) getrennt nach Stadium des Studiums (N = 362 Befragte)

200

M. Blumentritt et al.

11.11 Zusammenfassung und Ausblick Insgesamt zeigt die empirische Untersuchung, dass Fernstudenten von ihrer Hochschule Studienbedingungen und Unterstützungsformen erwarten, die ihnen ein Studium neben dem Beruf ermöglichen und erleichtern. Sie erwarten nicht nur gut aufbereitete Lerninhalte, sondern auch Unterstützung im Lernprozess, in der Prüfungsvorbereitung sowie im Zweifel auch in der Prüfungsnachbereitung. Wenngleich der traditionelle Studienbrief immer noch das wichtigste Lehrinstrument für Fernstudenten darstellt, nimmt für sie die Bedeutung von digitalen Lerninhalten und Lehrinstrumenten zu. Auch im Austausch mit Lehrenden und Betreuern werden moderne internetbasierte asynchrone Kommunikationsformen bevorzugt. Dennoch schätzen weiterhin viele Befragte den persönlichen Austausch mit den Lehrenden, wobei dieser nicht zwangsläufig von Angesicht zu Angesicht erforderlich ist, sondern auch per Telefon, Skype oder Adobe Connect erfolgen kann. Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass die meisten Befragten mit dem digitalen Studienmodell zufrieden sind und sich während ihres Studiums zunehmend mit der Hochschule identifizieren. Dies drückt sich deutlich in der hohen Bereitschaft der älteren Semester zum Engagement an der Hochschule aus. Hier bieten sich verschiedene Möglichkeiten für die Hochschule, die Integration der Studierenden zu intensivieren. So können die Studierenden aktiv in die Weiterentwicklung von Studiengängen und -inhalten einbezogen werden, aber auch Unterstützung für Studierende früherer Semester bieten. Gelingt es, diese Aktivitäten in den individuellen Lernprozess einzubinden, ergibt sich eine Win-Win-Win-Situation für Studierende früher und hoher Semester sowie für die Hochschule. Honoriert wird im offenen Antwortteil vor allem die Betreuungsqualität sowie die kontinuierliche Weiterentwicklung des Studienmodells. Dies stellt aber auch gleichzeitig eine hohe Erwartung der Befragten an die Hochschule dar: „Digital ist super, solange dies gepflegt wird und der aktive Informationsaustausch stattfindet.“ Auf der Wunschliste der Studierenden stehen auch „mehr Transparenz über den Studienfortschritt“ und vor allem mehr Unterstützung bei der Prüfungsvorbereitung. Diese sollte vornehmlich in Form von zusätzlichen Online-Studienangeboten erfolgen. Viele der hier gewonnenen Anregungen und Erkenntnisse fließen direkt in die Weiterentwicklung des AKAD-Campus ein und bestätigen geplante Anpassungen. So können künftig die Module von den Studierenden selbstständig aktiviert werden, um einen besseren Überblick im Lernfortschritt zu ermöglichen, Lernfortschritte werden dokumentiert und Lernhinweise gegeben. Die Lehrinhalte werden

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

201

direkt mit interaktiven Elementen, Forendiskussionen und Lernfortschrittskontrollen verknüpft, so dass die Studierenden einen besseren Überblick über ihren aktuellen Lernstand haben. Durch die Angabe des Wohnortes des Studierenden in seinem Kurzprofil wird z.  B. die Initiierung regionaler Lerngruppen oder auch Fahrgemeinschaften unterstützt.5 Die digitale Kommunikation wird einerseits durch eine Chatfunktion zum informellen Austausch und andererseits durch eine geplante Skype4Business-Integration unterstützt. Studierende können somit zukünftig sowohl synchron als auch asynchron zusammenarbeiten und sich mit Tutoren abstimmen. Auch für weitere Entwicklungen des AKAD-Campus wird sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Studierenden orientiert. Beispielsweise arbeitet die Hochschule an einem optimierten Betreuungsprozess im digitalen Studienmodell. Mit der Lernfortschrittskontrolle werden hier die ersten Schritte umgesetzt, weitere folgen sukzessive. Der Betreuungsprozess folgt dabei dem Ansatz des Service-­Blueprint und stellt den Studierenden als Kunden in den Mittelpunkt. Hierbei werden je nach Stadium des Studiums und persönlichem Bedarf des einzelnen Studierenden Unterstützungsleistungen zur individuellen Verbesserung des Lernfortschritts angeboten. Diese Unterstützungsleistungen betreffen nicht nur den AKAD-Campus, sondern umfassen alle Kanäle zwischen Hochschule und ­Studierenden. Damit stellt die Hochschule einen kontinuierlich weiterentwickelten und weiter zu entwickelnden Rahmen für eine funktionierende Beziehung zwischen allen Beteiligten zur Verfügung. Insgesamt müssen diese Angebote aber von den Studierenden auch angenommen werden, um einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Dass dies möglich ist, zeigen die vielen erfolgreichen Absolventen der AKAD University, auch während der digitalen Transformation des Studienmodells. Dementsprechend loben im offenen Antwortteil viele Befragte ihre Hochschule ausdrücklich: „Nachdem ich sowohl an einer Präsenzhochschule, an der FernUni Hagen und an der AKAD University Erfahrungen sammeln durfte und Studiengänge abgeschlossen habe, bin ich vom Konzept der AKAD University und der Durchführung/Implementierung meines Studiengangs voll überzeugt und empfehle regelmäßig das Studium hier. Meines Erachtens eines der fortschrittlichsten Modelle für Studierende, das größtmögliche Flexibilität bei gleichbleibend hoher Wissensvermittlung vereint.“  Diese Anzeige in den persönlichen Einstellungen ist zum Schutz der Privatsphäre im AKAD-Campus durch den einzelnen Studierenden deaktivierbar. Durch weitere Einstellungen kann der Studierende entscheiden, wie viel er von sich preisgibt, um den individuellen und gemeinsamen Lernprozess zu unterstützen. 5

202

M. Blumentritt et al.

Literatur AKAD Hochschule Stuttgart. (2017). Jährlicher Statusbericht zum Gleichstellungskonzept, Dezember 2017, Stuttgart AKAD Hochschule Stuttgart. (2016). Selbstbericht der AKAD Hochschule Stuttgart im Rahmen des Reakkreditierungsverfahrens durch den Wissenschaftsrat, Stuttgart. Alonso, G., Blumentritt, M., Olderog, T., & Schwesig, R. (2017). Strategien für den Lernerfolg berufstätiger Studierender: Empirische Analysen zum Lernverhalten. Wiesbaden: Springer. Backhaus, K., Erichson, B., Plinke, W., & Weiber, R. (2016). Multivariate Analysemethoden: eine anwendungsorientierte Einführung (14. Aufl.). Berlin: Springer Gabler. Homburg, C. (2017). Marketingmanagement. Strategie – Instrumente – Umsetzung – Unternehmensführung (6. Aufl.). Wiesbaden: Springer Gabler.

Prof. Dr. Marianne Blumentritt  ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Unternehmensführung und International Management an der AKAD University Stuttgart. Nach ihrer Promotion zum Thema „Imagepolitik gesetzlicher Krankenversicherungen“ an der Universität zu Köln (1993) übernahm sie die Geschäftsleitung eines mittelständischen Unternehmens. Sie wirkte als Lehrbeauftragte bei mehreren Instituten und Weiterbildungsträgern und verfügt über eine langjährige Lehrerfahrung in den Bereichen marktorientierte Unternehmensführung, internationales Management und Marketing. Gemeinsam mit Prof. Dr. Schwinger beschäftigt sie sich mit Betreuungs- und Motivationsansätzen Studierender im berufsbegleitenden Online-Studium. Außerdem forscht sie im Bereich Lernerfolgsstrategien. Neben ihrer Lehrtätigkeit an der Hochschule ist sie als Unternehmensberaterin tätig. Sie berät Mittelstandsunternehmen und Non-Profit-Organisationen in den Themenfeldern Unternehmensführung, Marketing, Internationalisierung und Weiterbildung. Prof. Dr. Daniel Markgraf  ist Direktor des Instituts IDEA – Institute for Digital Expertise and Assessment – an der AKAD University und hat darüber hinaus die Professur für BWL mit den Schwerpunkten Marketing, Gründungs- und Innovationsmanagement inne. Neben allen Bereichen des Marketings und der Unternehmensgründung interessiert er sich vor allem für die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung und deren Einfluss auf Innovationen, Geschäftsmodelle und Menschen. Er ist darüber hinaus als Berater, Redner und Autor tätig und sitzt dem Aufsichtsrat der foundervision AG vor. Prof. Dr. Torsten Olderog  ist Professor für Marketing und Dienstleistungsmanagement an der AKAD University. Hierbei steht die marktorientierte Ausrichtung von Dienstleistungen im Zentrum seiner Lehre und Forschung. Digitalisierung und die Kombinationen von Dienstleistungen mit Sachgütern spielen hier eine besondere Rolle. Parallel zur Hochschultätigkeit berät er zahlreiche Dienstleistungsunternehmen bei Themen rund um Vertrieb, Veränderungen durch Digitalisierung, Personalentwicklung und Weiterbildung. Zudem entwickelt und erstellt er Onlinesoftware. Als Speaker und Moderator ist er für seinen locker-launischen Vortragsstil bekannt, der Erkenntnis und Humor zielführend verbindet.

11  Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den …

203

Prof. Dr. Doreen Schwinger  hat an der AKAD University die Professur für allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Schwerpunkt Unternehmensführung und Logistik inne. Nach dem Studium und ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Merseburg übernahm sie die Geschäftsführung in einem traditionsreichen mittelständischen Unternehmen. Während dieser Zeit promovierte sie extern an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg zum Thema „Unternehmensnetzwerke und virtuelle Unternehmen als Wettbewerbsstrategie für kleine und mittelgroße Logistikunternehmen der neuen Bundesländer“ (2010). Neben der Betreuung vor allem materialwirtschaftlicher und logistischer Module und Themenstellungen an der AKAD University begleitet sie das Amt der Gleichstellungsbeauftragte und befasst sie sich gemeinsam mit Prof. Dr. Blumentritt intensiv mit Betreuungs- und Motivationsansätzen Studierender im berufsbegleitenden Online-Studium.

Teil III Soziale Entwicklungen induziert durch die Digitalisierung

Digitales Soziales oder soziales Digitales?

12

Börries Hornemann

Inhaltsverzeichnis 12.1  U  mbrüche  12.2  D  igitaler Alltag  12.2.1  Wahrheit  12.2.2  Arbeit  12.2.3  Gemeinschaft  12.2.4  Profit  12.3  Ausblick  Literatur 

 208  210  210  211  213  214  217  219

Gibt es eine Revolution, die keiner mitbekommt? Ist es dann überhaupt eine Revolution? Eine unter anderen Vorzeichen? Es ist eine Tatsache, die digitale Revolution verläuft weitgehend still, gleichwohl wirkt sie tief greifend und umfassend. Kaum einer bekommt sie in ihrer vollen Reichweite mit. Sie passiert, weltweit. Und wir? Wir pennen. Dabei sind wir gleichzeitig selbst die Treiber. Es ist der

B. Hornemann (*) Neopolis Network e.V., Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_12

207

208

B. Hornemann

radikalste Umbruch der Menschheitsgeschichte. Aber wie so oft merkt man erst im Nachhinein, was vor sich ging. Das hängt mit diversen Parallelprozessen zusammen, von denen einige hier geschildert werden sollen, um anschließend auf Möglichkeiten zu blicken, die sich daraus fürs soziale Miteinander ergeben.

12.1 Umbrüche Versetzen wir uns in die Zeit vor ca. 13.000 Jahren, als die Menschheit noch keinen festen Wohnsitz kannte, sondern dem jahreszeitlichen Zug der Tiere folgte, so können wir erahnen, welcher Umbruch es war, sich auf eine feste Bleibe einzustellen. Den Umbruch zur Sesshaftigkeit nennt man „neolithische Revolution“. Sie veränderte alles. Der feste Wohnsitz ist nur eine Auswirkung der gesamten Neugestaltung des Miteinanders. Es mussten nicht nur Anbaumethoden für Nahrung, sondern auch soziale Strukturen neu ge- oder erfunden werden. Die gesamte Gesellschaft, die Fragen des Wie und Wo, des Wer mit Wem, Wieviel und Warum veränderten sich fundamental. Es entstanden Orte, um die herum die Wälder und Felder nach Regeln genutzt werden mussten. Fast alle sozialen Gegebenheiten mussten grundlegend neu gedacht und gemacht werden. Dieses neue Lebensmodell des festen Ortes wurde zum Erfolgsmodell und setzte sich nach und nach weltweit durch. Die nomadisch lebenden Völker konnten keine entsprechenden Fortschritte in der Entwicklung ihrer Kulturtechniken aufweisen und gerieten langfristig ins Hintertreffen. Diese neolithische Revolution brachte technische Errungenschaften mit sich, welche wiederum die neue Zeit prägten und manifestierten. Einen ähnlich radikalen Umbruch markierte die industrielle Revolution. Auch hier ist das Bild einer Dampfmaschine, durch welche die Massenproduktion Einzug hielt, nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. Das alte Modell einer großteils sich vor Ort selbstversorgenden Gesellschaft, welches mit der Sesshaftigkeit und manchem Hin und Her über eine sehr lange Zeit stabil funktionierte, geriet im 19. Jahrhundert in fundamentale Schieflage – auf allen Ebenen. Früher hatten die Menschen in (zumeist) kleineren Gemeinschaften für sich und für die Ihren gesorgt. Ein kleiner Teil (beispielsweise den Zehnten einer Ernte) wurde an eine übergeordnete Instanz (König, Fürst oder ähnliches) abgegeben, durch welche größere Verwaltungsaufgaben geleistet wurden. Mit der Industrialisierung verloren diese sozialen Einheiten die Männer an die Fabriken, wo sie als hauptsächlichen Ausgleich für die Arbeitsleistung Geld bekamen, aber nicht mehr so stark in eine familiäre Gemeinschaft eingebunden und von dieser Gemeinschaft getragen waren. Zudem wurde es für ländliche Regionen schwieriger, da eine Landflucht einsetzte und im Gegenzug Städte zunehmend

12  Digitales Soziales oder soziales Digitales?

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wuchsen. Erstmals gab es Phänomene wie „Arbeitslosigkeit“, denn zuvor in der landwirtschaftlichen Subsistenzgesellschaft gab es für alle immer etwas zu tun. Weitgehend alle Lebens- und Arbeitsmodelle änderten sich. Familie und Beruf trennten sich zunehmend. Es galt nunmehr, eine Balance zu finden zwischen Arbeit und Leben. So entstanden neue Modelle, um das soziale Feld neu zu gestalten. Arbeiter organisierten sich in Form von Gewerkschaften; Versicherungen entstanden, um sich gegenseitig in der Not aushelfen zu können – was früher durch die familiäre Nähe nicht nötig war. Vereine formten sich, um die „Freizeit“ zu gestalten. Zudem bildeten sich politische Systeme, die wegführten von der durch Geburt gegebenen, lebenslangen Führer- oder Gefolgschaft. Bei all diesem bedingten und ermöglichten sich technische und politische Umbrüche stets gegenseitig. Auch wenn es für die Einzelphänomene jeweils bereits Vorläufer gab, so werden der Durchbruch und die radikale Neugestaltung der Gesellschaft erst mit den industriellen Neuerungen offensichtlich, die bis heute ihre Auswirkungen zeigen. Hierfür ist wichtig zu verstehen, dass das Prinzip der Industrialisierung heißt, dass von einem Teil eine exakte Replik erzeugt werden kann. Es ist ein Prinzip des massenhaften Kopierens. Dieses Prinzip hat sich seit Beginn der Industrialisierung in alle Bereiche des Lebens fortgetragen. Während es anfangs mit Webstühlen und den daraus entspringenden Erzeugnissen begann, so finden wir es heute selbst in Form von Bildungsabschlüssen, die Normen entsprechen und die Lernleistung vergleichbar zu machen suchen, oder bei der Abrechnung im Gesundheitswesen in Form von Fallpauschalen für Krankheiten, wo versucht wird, den Verlauf einer Krankheit normativ zu bestimmen. Die Industrialisierung hat demnach auch vor dem Menschen nicht Halt gemacht. Das Prinzip der identischen Gestaltung kann an jedwedem Massenprodukt gut beobachtet werden. Der Kugelschreiber einer bestimmten Marke wird einem anderen derselben Marke absolut gleichen. Das macht viele Prozesse sehr viel einfacher und günstiger. Hinzutretende Normen und Standards machen die Welt erwart- und einfacher gestaltbar. Eine Schraube der Größe xy wird mit einer entsprechenden Mutter zusammenpassen, selbst wenn die Marken verschieden sind und die Produktion in einer ganz anderen Weltgegend stattgefunden hat. Heute kommt die Überlegenheit des Industrieprinzips an seine Grenzen, wenn es um Individuelles, Soziales oder Natürliches geht. So wird bspw. beim Fällen eines Baumes, aus dem gleichmäßige, gerade Hölzer geschnitten werden, immer ein Teil als Überschuss wegfallen. Aus diesen geraden Hölzern wiederum gestaltet später ein Designer geschwungene Möbel, wodurch wieder ein überschüssiger Teil übrigbleibt. (Vgl. Hasler 2017) Könnte das nicht besser gelöst werden, sodass ­weniger Abfall entsteht? Könnte nicht ein zukünftiger Scanner schon beim Baum sehen, wie er geschnitten werden muss, damit möglichst wenig Abfall entsteht?

210

B. Hornemann

Eine mögliche Antwort darauf bietet die nächste Revolution, in deren Mitte wir aktuell stehen. Auch hier gibt es seit einiger Zeit Vorläufer, aber aktuell erleben wir auf vielen Ebenen Durchbrüche – gleichwohl die Zeit der Industrie noch fortwirkt.

12.2 Digitaler Alltag Die digitale Revolution wird ähnlich gravierende Umbrüche nach sich ziehen, wie die beiden zuvor geschilderten. Die offensichtlichste Entwicklung liegt in der Erfindung des Computers, der mit der internationalen Vernetzung durch das Internet einen vorläufigen Höhepunkt erlebte – wenngleich diese Entwicklung durch starke wirtschaftliche Konzentration bereits wieder rückgängig sein könnte.1 Mit der rasanten Ausbreitung und Vormachtstellung des Internet gehen Probleme einher, die im Folgenden umrissen werden.2

12.2.1 Wahrheit Verflixt! Jetzt müssten wir es doch endlich finden können. Zack, den richtigen Begriff in eine Suchmaschine eingeben und die Fakten purzeln heraus. Aber Pustekuchen. Die latente Sehnsucht entpuppt sich als Scheinversprechen. Das Online-­ Weltwissen bringt mich der Wahrheit nicht näher. Ich muss die Dinge weiterhin selbst verstehen und Verstehen heißt immer: selbst interpretieren. Es ist ein Denkfehler, dass es ohne mein Denken ein Denken gäbe. Die Wahrheit aus der Suchmaschine als Mediator zwischen rechthaberischen Hitzköpfen versagt. Auch im digitalen Zeitalter gilt: Wirklichkeit gibt es nicht ohne mich. Nirgendwo ist die Sache an sich zu finden. Das sind alte Vorstellungen. Fake News. Fakten bringen uns der Wirklichkeit nicht näher  – genauso wenig unseren Mitmenschen. Aber:  Eine Schwierigkeit ist die zunehmende wirtschaftliche Verdichtung auf einige wenige Firmen. So schreibt André Staltz: Google and Facebook now have direct influence over 70 %+ of internet traffic. Mobile internet traffic is now the majority of traffic worldwide (https:// www.statista.com/statistics/306528/share-of-mobile-internet-traffic-in-global-regions/) (28.11.2017) and in Latin America alone, Google and Facebook services have had 60 % of mobile traffic in 2015, growing to 70 % by the end of 2016. The remaining 30 % of traffic is shared among all other mobile apps and websites. Mobile devices are primarily used for accessing Google and Facebook networks. Siehe https://staltz.com/the-web-began-dying-in2014-heres-how.html (27.11.2017). 2  Teile der folgenden Darstellungen wurden veröffentlicht unter: Hornemann, Börries und Philip Kovce: Schöne neue Arbeitswelt. Info 3, Ausgabe Juli/August 2017. 1

12  Digitales Soziales oder soziales Digitales?

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Das Digitale kommt daher, als verweise es auf eine scheinbar an-sich existierende Wahrheit. Mittlerweile wissen wir um die politischen Konsequenzen der Echokammern unseres beschränkten Denkens. Die Bestätigungen innerhalb unserer Filterblase macht uns glauben, wir wären in der Sphäre der Wahrheit. Deswegen wirken Andersmeinende grotesk auf uns und es wird schwierig, ein Verständnis für sie aufzubringen. Das zeigt: Die Technikwunder haben eine Schattenseite im Sozialen, gleichwohl sie vordergründig die Menschen so viel näher zusammenbringen. Diese digitale Welt umgibt uns – rund um den Globus und hat einen grundlegenden Einfluss auf die Menschheit. Wie die TIME berichtete, ist die Aufmerksamkeitsspanne laut einer Studie zwischen den Jahren 2000 und 2015 von zwölf auf acht Sekunden zurückgegangen. (McSpaddan 2015) Bücher, die nicht zumindest mit uns reden oder deren Helligkeit wir verändern können, werden fad und langweilig. Die Menge an Reizen scheint zunehmen zu müssen, damit wir weiterhin angesprochen werden. Die sozialen Konsequenzen: Wir brauchen Apps, die uns wieder mit unseren Mitmenschen ins Gespräch bringen, weil wir selbst die Kompetenz zum spontanen Gespräch zu verlieren drohen. Wahrscheinlich wird es uns, wenn wir in einigen Dekaden auf heute zurückblicken, ähnlich lächerlich erscheinen, dass wir heute überall auf Bildschirme starren, so wie es absurd erscheint, die Fotoaufnahmen von Sekretärinnen hinter Schreibmaschinen in den 50er-Jahren zu sehen.

12.2.2 Arbeit Große Schwierigkeiten zeigen heute die weltweiten Arbeitszusammenhänge. Mit Philip Kovce stellte ich bei einem Vortrag in München die Frage, wer ohne digitale Hilfe den Weg zur Veranstaltung gefunden habe. Dabei zeigten nur vier von 150 Menschen auf. Alle anderen waren ihren Smartphones gefolgt – und hatten dabei Daten produziert. Die Telefone von 146 Menschen hatten Signale gesendet, die anderen künftig besser den Weg weisen. Das ist auf den ersten Blick ein solidarisches Prinzip: Wir liefern uns gegenseitig die Daten; mit jeder Handlung produzieren wir neue – alle bringen sich für alle ein. Mit jedem Schritt, jedem Telefonat, jeder Suchanfrage. GoogleMaps kann so exakt angeben, wie der Verkehr sein wird, weil mein Gerät übermittelt, dass ich mich gerade mit dieser bestimmten Geschwindigkeit auf eben jener Straße bewege. In Verbindung mit anderen Smartphones ergibt dies bereits heute ein nahezu lückenloses Bild. Schöne neue Welt. Aber: Computer müssen solche Rechenleistungen lernen. Wenn sich ein Tesla selbstständig den Kurven der Straße anpasst und mikrosekündlich nachjustiert, so hat er dies gelernt. Doch ein Tesla „lernt“ nicht. Künstliche Intelligenz heißt immer,

212

B. Hornemann

dass jemand menschliche Intelligenz aufgebracht hat, um Sensoren und Technik so aufeinander abzustimmen, dass kein Unfall passiert. Was dabei die Wenigsten wissen: Diese Arbeit betrifft nicht nur die Ingenieure der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, sondern es bedarf sehr viel mehr ungesehener Arbeit. Menschen außerhalb unseres Blickfelds leisten diese – grob gesagt: im globalen Süden. Wenn man so will: in den Forschungs- und Entwicklungsländern. Hier arbeiten nicht die Erfinder, aber die Lehrer der Algorithmen. Sie klicken irgendetwas an, damit unser Navi gut funktioniert, Siri bessere Antworten gibt und alle Autos bald selbstfahrend ans Ziel kommen. Unschöne neue Welt. Denn bis jetzt blieb die Hoffnung unerfüllt, dass die Anbindung ans weltweite Netz zu mehr Reichtum der Armen führt. Die Jobs für Maschinentraining sind schlecht bezahlt  – und die wenigen vergebenen Jobs stehen in keinem Verhältnis zum großen Andrang. Das Oxford Internet Institute hat nachgerechnet (Graham 2016), dass jährlich 46 Millionen neue Arbeitskräfte auf den Weltarbeitsmarkt strömen – der Zuwachs der Weltbevölkerung insgesamt beträgt jährlich 83 Millionen. (Statista 2018) Keineswegs übernehmen also nur Roboter die repetitive Arbeit; noch sind es vor allem andere Menschen, die diese Prozesse in Systeme einspeisen  – und davon kaum leben können. Unser Wohlstandsleben ist ohne diese Menschen, die geografisch völlig ungebunden am Computer für unsere Digitalwelt arbeiten, kaum denkbar. Und unsere Automatisierung bedeutet für sie ein modernes Sklaventum; es bedeutet lokale Entwurzelung und nur scheinbare Globalisierung. Denn Profiteure sind weiterhin nur wenige. Wie bei eBay und Amazon irgendwelche Dinge, so werden über Arbeitsplattformen Dienstleistungen und Jobs vermittelt. Da es sich meistens um kurzfristige Projekte handelt, nennen die Amerikaner das „Gig-Arbeit“, also eine Arbeit, die ähnlich wie ein Auftritt abläuft. Diese „Gig-Ökonomie“ wächst rasant, jährlich um rund 25 Prozent. Aktuell sind weltweit etwa 50 Millionen Menschen auf solchen Arbeitsplattformen registriert. Die weltgrößte Arbeitsplattform heißt Upwork. Sie hat zwei Millionen regis­ trierte Arbeiter, kann derzeit aber weniger als 100.000 Jobs vergeben. Der Rest schaut in die Röhre und hofft auf Besserung. Für ein Land wie die Philippinen heißt das laut Oxford Internet Institute: 221.100 Menschen führen einen aktiven Account, aber nur 32.800 Jobs wurden bereits vergeben. Also haben 188.300 Philippiner aktiv auf der Plattform nach Arbeit gesucht – ohne fündig zu werden. Diese Digitalarmee des globalen Südens erinnert stark an die europäischen Umbrüche zur Zeit der industriellen Revolution, die sich im 20. Jahrhundert in Fernost in abgewandelter Form wiederholt hat. Auch jetzt wieder haben die Menschen ihre Subsistenzwirtschaft aufgegeben, sind vom Land in die Stadt gezogen, aber finden trotz Internet keinen Anschluss an die Weltwirtschaft und vor allem kein Gig-­Einkommen. Sie marschieren früher oder später als nächste Flüchtlingswelle zu uns, wenn wir keine Ideen entwickeln, diese Situation zu verbessern.

12  Digitales Soziales oder soziales Digitales?

213

Die Gig-Ökonomie ist bei uns ebenfalls auf dem Vormarsch. Nicht nur die Mietwohnung wird weitervermietet oder die Autofahrt durch Mitfahrer geteilt, auch andere Dienstleistungen erhalten eine Plattform. Eines der am stärksten wachsenden Start-ups ist www.wirkaufendeinauto.de, das durch algorithmische Unterstützung den Auto-Weiterverkauf standardisiert. Aber auch solche praktischen Tätigkeiten wie ein Umzug, wickelt heute eine Plattform ab. Als ich kürzlich ein Umzugsunternehmen suchte, fand ich Move24.de, die Aufträge annehmen und abwickeln, ohne selbst viele Umzugswagen zu besitzen. Das sah konkret so aus, dass die Plattform für den Umzug brutto 2800 € kassiert, während das Umzugsunternehmen, welches tatsächlich tätig wird, davon nur 1800 € brutto erhielt. Das bedeutet, die Gewinnmarge der Vermittlungsdienstleistung (plus Umzugsmaterial für ca. 100 Euro) ist wesentlich höher als bei den tatsächlich handwerklich Tätigen. Da die technische Expertise der gewöhnlichen Umzugsunternehmen nicht so ausgereift ist, tragen sie die Last der Arbeit bei geringerem Verdienst. Sie zahlen die Rechnung – und der Kunde. Denn auf den ersten Blick ist die Kundenrechnung günstiger, aber bei etwaig auftretenden „widrigen Umständen“, sollte für den anberaumten Tag kein ausführendes Unternehmen gefunden werden, hat der Kunde per Unterschrift zubilligt, dass der Umzug auch an einem anderen Tag stattfinden kann. Die Macht liegt beim Vermittler. Das ähnelt den Maschinenbesitzern der Industriezeit. Würden sich die kleinen Unternehmen dagegen wehren und selbst eine solche Plattform anbieten, könnten sie schnell den Wettbewerbsvorteil der reinen Plattform ausbooten. Ähnliches gilt für Plattformen wie Uber oder Airbnb, wo ebenfalls die Plattform überdimensional stark verdient, während die ausführenden Personen oder Firmen in Abhängigkeiten geraten können, aus welchen sie sich zwar einfach befreien könnten, wenn sie sich denn zusammentäten, um eine eigene digitale Lösung anzubieten. Aber das scheint schwieriger getan als gedacht.

12.2.3 Gemeinschaft Die neuen Herausforderungen zeigen sich auch beim Gesellschafts- oder Sozialvertrag. Die vergangenen 150 Jahre trieb die industrielle Revolution die Menschen (vor allem die Männer) in Unternehmen, um dort, fern vom Privaten, den ­Lebensunterhalt zu verdienen. Die Anstellung in einer Firma über einen langen Zeitraum samt anschließender ausreichender Rente, galt als ein erstrebenswerter Normalzustand. Die familiäre Aufteilung in einen arbeitenden Familienvater und eine die Haus- und Pflegearbeit (Erziehung und Altenpflege) verrichtende Frau war ein ungeschriebenes Gesetz. Davon sind heute nur mehr Überbleibsel geblieben. Das neue Normal ist das, was früher von der Norm abwich – individuelle Verhältnisse. Die Arbeitsplatzfluktuation

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B. Hornemann

ist gestiegen, die Ehe für alle ist Realität, allerorten wird der Kündigungsschutz gelockert, um den Jobwechsel oder -einstieg zu erleichtern. Weiterhin gilt die allgemeine politische Anstrengung der Schaffung von Arbeitsplätzen. Aber wie sehen diese neuen Arbeitsplätze aus? Zum großen Teil sind es wenig qualifizierte Arbeitsplätze, die neu entstehen. (Hornemann 2016) Bei diesen Arbeiten ist die Robotisierung zudem wahrscheinlich, was die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu einem vorübergehenden Phänomen werden lässt. Auch andere Treiber verschärfen die Lage am Arbeitsmarkt. Beim weltgrößten Händler Alibaba sieht heutige Logistik nicht mehr so aus, wie wir es aus Lagerhallen kennen, bei denen die Regale in einem festen System angeordnet sind, sondern jedes Regal hat einen fahrbaren Träger, der von einem Roboter manövriert wird und so jederzeit zu einer der Ausgabestellen fahren kann, wo wiederum andere Roboter die Ware aus dem Regal nehmen, welche sie durch intelligente Sensoren erkennen und zum Versand fertig machen. Dieses Bild der ständig verfügbaren und maximal flexiblen Warenhäuser steht pars pro toto für weite Teile unserer zukünftigen Arbeitsverhältnisse. Allerdings bleibt eine grundsätzliche Schwierigkeit, dass die digitalen Prozesse, die zunehmend darauf hinsteuern, eigenständig zu agieren, ihre Erkenntnisse einzig aus statistischen Daten der Vergangenheit gewinnen. Eine „neue“ Zukunft, wie sie beispielsweise Martin Heidegger gedacht hat, die aus der Zukunft auf die Gegenwart zukommt (vgl. Heidegger 1993), ist so nicht denkbar. Das könnte, wenn es ins Extrem gedacht wird, zu einer vernagelten Zukunft führen, die sich einzig aus der Vergangenheit speist.

12.2.4 Profit Es sind paradoxe Zeiten. In einem Beitrag (Hornemann 2017) zu Fragen der Erziehung habe ich dargestellt, dass wir in unseren Breiten mehr oder weniger alle von der Digitalisierung profitieren – und doch scheint die allgemeine Zufriedenheit nicht zuzunehmen. Vieles, was früher Königen vorbehalten war, ist heute im abgelegensten Dorf bereits Standard. Eine eigene Sekretärin etwa – mittlerweile u­ mgeben uns überall digitale Assistenten, denen wir unsere Korrespondenz diktieren können, die uns den Weg erklären und helfen, die Einkaufsliste zu erstellen. Dem Lebenskomfort nach ist es wahrscheinlich heute angenehmer, ein armer Mensch zu sein als ein König vor 200 Jahren. Die meisten Milliardäre benutzen (mutmaßlich) das gleiche Mobiltelefon wie ich – Technik nivelliert die Standesunterschiede. In anderen Bereichen bestehen gravierende Unterschiede offensichtlich weiterhin. Zudem bringt die neue Welt neue Fragen mit sich.

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Bereits heute steht in Ansbach eine vollautomatische „Speedfactory“ eines bayrischen Sportartikelherstellers, in welcher Maschinen eigenständig Schuhe herstellen. Ein Novum. Bisher wurde 97  % der Herstellung in Asien getätigt. Dabei brauchte es 18 Monate vom Entwurf bis zur Ladentheke. Das kann nun deutlich verkürzt werden. Schon jetzt laufen die ersten Digital-made-in-Germany-Schuhe vom Band. Aber – in der Produktion arbeiten so gut wie keine Menschen mehr. Nachdem im 20. Jahrhundert die Arbeitsplätze nach Fernost abgewandert waren und Kleidung anschließend eine Schiffsreise von sechs bis acht Wochen vor sich hatte, kommt die Herstellung Jetzt wieder zurück und es wird vor Ort produziert – just-in-time. Das trifft den Nerv konsumaffiner Kunden, die den letzten Schrei noch schneller beziehen können. Am meisten aber profitiert der Hersteller, bei dem mehr Gewinn bleibt. Dafür kommt weniger beim Staat an, da die Roboter schwarzarbeiten und alle Steuern nun wegfallen, die gewöhnlich im Arbeitsprozess anfallen und vom Staat für die Umverteilung eingenommen werden. Diese neue Form der Produktion braucht schlicht weniger Menschen. Das schürt Angst. Aus Oxford kamen vor fünf Jahren Forscherstimmen die prophezeiten, dass es nur zehn bis 20 Jahre dauern würde, bis 47 Prozent der aktuellen Jobs in den USA durch neue Maschinen ersetzt würden. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Und selbst wenn die mediale Hysterie den Studien abgezogen wird – es bleibt eine reale Frage, Welche die Digitalisierung an den heutigen Arbeitsmarkt stellt. Schon heute gibt es nicht genügend Einkommensarbeitsplätze – in Europa ist die Jugendarbeitslosigkeit von Frankreich mit 24 Prozent bis Spanien mit über 50 Prozent ein gigantisches Problem, dessen tatsächliche soziale Folgen erst noch auf uns zukommen werden. Wenn jedem zweiten jungen Menschen eines Landes nach seiner Ausbildung oder seinem Studium gesagt wird, dass seine Arbeitskraft nicht gebraucht wird, ist das ein Problem. Aber – ein genauerer Blick zeigt: Selbstverständlich gibt es genug Arbeit. Auch Rationalisierung und Automatisierung lösen das nicht in Nichts auf. Es ist nur so, dass in vielen Feldern langfristig Roboter günstiger sind, weil sie fehler- und steuerfrei rund um die Uhr arbeiten können. Außerdem sind von ihnen keine Streiks zu erwarten und Lohnforderungen ausgeschlossen. Das macht sie billig, plan- und berechenbar. Fraglich ist also nicht die Arbeit, sondern das Einkommen. Das ist die eine Seite – sie umgibt uns schon jetzt überall. Die andere Seite fragt danach, wie wir in diesen Gegebenheiten leben wollen. Wo braucht es uns? Wofür leben und lernen wir, wenn weite Teile des Arbeitsprozesses automatisiert ablaufen? Bei allem Berechenbaren sind wir den Algorithmen auf kurz oder lang unterlegen. Was also macht uns als Menschen aus? Allerorten heißt es, Bildung sei entscheidend. Die jungen Menschen müssten lernen, unternehmerischer zu denken. Nur, wie können Lehrer helfen, Unternehmertum

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zu lehren? Hier stehen abgesicherte Staatsbeamte vor den Kindern. Die Lehrer haben sich ja gerade für das Gegenteil, für den „sicheren Hafen“ entschieden. Schon in der Schule grassiert die Sorge unter Schülern, später einmal nicht gebraucht zu sein. An den Unis leiden aktuell 53 Prozent der Studierenden unter einem hohen Stresslevel und sind damit gestresster als Arbeitnehmer (laut einer Onlinebefragung der AOK). Das deutet darauf hin, dass wir weiterhin das Hamsterrad lehren. Aber gerade da werden die Roboter uns Menschen am schnellsten überholen. Eine zukunftsweisende Debatte befasst sich mit der Frage, wie wir alle Menschen ökonomisch so absichern, dass sie keine Angst haben müssen. Wie gelingt es, das Geld so zu verteilen, dass jeder das Unbedingte bedingungslos bekommt? Heute spricht die halbe Welt über ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Ergebnisse großer Feldversuche werden zeigen, ob und wie eine Einführung gelingen kann. Klar scheint, dass wenn die Leistungsgesellschaft so weitermacht, entweder bald die Menschen den rasenden Robotern dienen, um sich zwischendurch ausgebrannt dem letzten Rest Natur zur Regenerierung hinzugeben, oder aber es gelingt, dass die Arbeitsmaschinen immer mehr Menschen freistellen – frei zum Mensch-­ Sein. Das wiederum bringt dann die eigentlichen Fragen auf den Tisch – die Fragen nach uns selbst. Aktuell aber zeigt die Kehrseite der Digitalisierung, dass diese Fragen zugunsten des Konsums nicht ins Bewusstsein dringen. Die besten Kunden sind wir, wenn wir die digitalen Maschinen permanent mit unserer Aufmerksamkeit füttern. Bloß keine Zeit verlieren, bloß keinen Moment ohne Unterhaltung sein, bloß nichts verpassen. Früher gab es viele Orte der Dauer, an denen Menschen sitzen und warten. Heute verschwinden Warteräume aus unserer Wahrnehmung. Beim Behördengang oder in der Arztpraxis bekomme ich via SMS mitgeteilt, wann ich an der Reihe bin. Am Flughafen und Bahnhof wird das Warten schon längst vom Konsum verdrängt. Zwischen dem Einfahren der S- oder U-Bahnen halten große Bildschirme uns auf dem Laufenden. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Sie halten unser permanentes Rasen aufrecht. In öffentlichen Verkehrsmitteln tragen Bildschirme dazu bei, dass wir weniger nach draußen oder in die Gesichter anderer Menschen blicken. Selbst die Kasse beim Bäcker strahlt einen kurzen Werbeclip aus, bevor die zu entrichtende Summe angezeigt wird. Als wäre Langeweile Frevel. Das Wort Langeweile gibt es erst seit dem 13. Jahrhundert, damals mit der neutralen Bedeutung, die es in sich trägt: eine lange Weile. Dauer war kein Negativkriterium. Noch bis ins 20. Jahrhundert wurde der Langeweile mithilfe von ausufernden Romanen gefrönt. Nun aber, im gehetzten Dauerlauf statt verweilender Dauer, fällt es uns zunehmend schwerer, Dauer als eine sinnstiftende Erfahrung zu

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erleben. Die Ethik des bürgerlichen Tätig-Seins hängt eng mit der heutigen Koppelung zwischen Sinn und Arbeit zusammen. Während ethisch-religiös der Calvinismus die Langeweile als Vergehen an Gott auszumerzen suchte, stampfte die Industrialisierung sie mit Maschinenkraft kurz und klein und die Digitalisierung scheint sie mit ihrer exponentiellen Beschleunigung nun final auszutreiben. Forscher des Bonner „Menthal Balance“-Projekts, die über eine App das Verhalten von 60.000 Smartphone-Nutzern beobachteten, haben herausgefunden, dass die Nutzer 88-mal das Smartphone einschalten – pro Tag; 35-mal, um auf die Uhr zu blicken oder nachzuschauen, ob eine neue Nachricht eingetroffen ist; 53-mal zum Surfen, Chatten oder um eine andere App zu nutzen. Das heißt, alle 18 Minuten unterbrachen die freiwilligen Probanden der Studie ihre Tätigkeit, um online zu sein. Es gibt Gegenbewegungen. Ich kenne erfolgreiche Unternehmer, die ihr Smartphone gegen ein normales Handy eingetauscht haben  – weil sie es sich zeitlich nicht leisten können und ehrlich zugeben, den Versuchungen nicht gewachsen zu sein. Außerdem bildet sich ein neuer Wohlstandsbegriff. Die Fixierung auf finanziellen Reichtum erweist sich als zu eng gedacht. Greta Taubert zeigt in ihrem Buch „Im Club der Zeitmillionäre“, wie in der Vielfalt heutiger Lebensentwürfe der Zeit-Reichtum zu einem wesentlichen Wohlstandsfaktor wird. Der Risikoinvestor Albert Wenger, eine Größe der Start-up-Welt, weil er in etliche bekannte Firmen als Erster investierte, schreibt in seinem online frei verfügbaren Buch „World after Capital“ (Wenger o.  J.), wie Geld zunehmend irrelevant wird und wir heute bereits in postkapitalistischen Zeiten leben – auch wenn das bisher nicht für alle Menschen gilt. Entscheidend ist, dass wir der Dominanz der digitalen Möglichkeiten neue Fähigkeiten gegenüberstellen. Das geht nicht von heute auf morgen. Auch bei der industriellen Revolution hat es über hundert Jahre gebraucht, um einen sozialen Wohlfahrtsstaat aufzubauen. Heute muss es schneller gehen, eine adäquate Antwort auf die digitale Revolution zu finden, aber es wird ebenfalls Zeit brauchen – und ebenso grundsätzliche Erneuerungen fordern. Dabei, während wir die Gesellschaft neu erfinden, müssen auch wir uns selbst neu finden, denn noch größer als die digitalen Möglichkeiten sind diejenigen, welche wir in uns tragen. Dafür braucht es innere Ruhe, Willen und Beharrlichkeit.

12.3 Ausblick Ein großartiges Ergebnis der digitalen Techniken ist die hohe Rechenleistung und die mögliche Verbindung zwischen Menschen – über ehemalige und bestehende Grenzen hinweg. Durch die Server-Konzentration auf einige wenige Firmen aber

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gerät gerade dieses Gut heute in Gefahr, denn die Firmen können unsere Erfahrungen nach ihren Bedingungen beeinflussen. Früher gab es E-Mail-Verbindungen, die ausschließlich innerhalb von Firmen funktionierten. Erst, als sich alle beteiligten Anbieter auf SMPT (Simple Mail Transfer Protocol) als gemeinsames Protokoll einigten, konnte der Siegeszug der Onlinekorrespondenz beginnen. Heutige Protokolle, beispielsweise vom Facebook-Messenger, funktionieren nur unternehmensweit und werden höchstens mit anderen Diensten gekoppelt, die von Facebook aufgekauft und ebenfalls ins Unternehmensnetzwerk übernommen wurden. Das schränkt ein und fördert Abhängigkeiten. Die Entwicklung zu einem neuen Internet, basierend auf tatsächlichen dezen­ tralen Peer-to-Peer-Netzwerken, wie es Ethereum oder Blockchain ermöglichen, sind ein positiver Ausblick auf digitales Neuland. Das Prinzip hinter Peer-to-Peer bildete vor der Sesshaftwerdung den gesellschaftlichen Kern, ausgerichtet auf eine bestimmte Gruppengröße, in der die Aufgaben in einer bestimmten Weise mitei­ nander erledigt wurden. Zu einer solchen Form des Miteinanders können wir wieder mit technischen Unterstützungen finden. Unterwegs aber werden fundamentale Fragen auftreten, die unsere aktuelle Gesellschaftsform massiv erschüttern und infrage stellen. Ideen wie eine allgemeine finanzielle Sicherheit durch ein bedingungsloses Grundeinkommen können dabei der erste Schritt hin zu einem „Sozialvertrag der post-kapitalistischen Gesellschaft“3 sein. Aber keineswegs ist sicher, dass wir beispielsweise weiterhin mit dem aktuellen Bankensystem leben werden, dass Staaten als Verwaltungsgebilde weiterhin ihre Hoheitsrechte haben werden und dass Lebensläufe so strukturiert sind, wie es die vergangenen 150 Jahre die Regel war. Diese Aufbrüche markieren die positive Revolution, in welcher wir aktuell leben. Wir können sie begrüßen. Denn die Welt ist an unendlich vielen Stellen aus den Fugen geraten. Von den ca. 200 Staaten sind weit über 90 % in unseren Augen ohne adäquate Regierung, ohne funktionierende Verwaltung und korrupt. Die Idee „Staat“, wie sie aus der Kolonialzeit geprägt in die Zukunft zu retten versucht wird, bedarf eines Updates. Heute haben private Firmen ein Vielfaches an finanzieller Kraft. Der größte Fonds (Black Rock) hat ein Volumen von fünf Billionen Dollar. Sogar das deutsche Bruttoinlandsprodukt liegt mit drei Billionen weit darunter. Hier herrscht ein großes Ungleichgewicht. Zudem sehen wir in den USA eine sinkende Lebenserwartung für eine weiße US-Amerikanerin ohne Hochschulabschluss. In Deutschland gibt es einen neuen Höchststand von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Jedes fünfte Kind in Deutschland 3  In: The Next Era, Everything You Ever Wanted to Know About Universal Basic Income, Demos Helsinki, 05.07.2017, https://futurism.com/everything-you-ever-wanted-to-knowabout-universal-basic-income/, Zugegriffen am 26.03.2019.

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lebt in Armut. Ein Dauerzustand, wie die Süddeutsche Zeitung kürzlich titelte.4 Die Armutsquote von Rentnern stieg zwischen 2005 und 2015 von 10,7 auf 15,9 Prozent, also um 49 Prozent. Das schreit nach grundsätzlichen Veränderungen. Noch haben die Wortführer unserer Gesellschaft das Gefühl, davon zu profitieren, wenn es noch ein bisschen so weitergeht wie bisher. Dabei verlieren wir aus dem Blick, wie wir alle zu Leidtragenden der Umbrüche werden, wenn wir nicht jetzt die Weichen neu stellen.

Literatur Graham, M. (2016). Internet Society, https://livestream.com/internetsociety/platformcoop2016/ videos/141626048. Zugegriffen am 30.09.2017. Hasler, G. (2017). Wenn Dinge zu Daten werden. Alanus Hochschule, Alfter, 28.05.2017. https://vimeo.com/220292581. Zugegriffen am 31.01.2018. Heidegger, M. (1993). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. Hornemann, B. (2016). Zeit (online), http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-07/bedingungsloses-grundeinkommen-usa-andrew-stern. Zugegriffen am 31.01.2018. Hornemann, B. (2017). Zeit – Unsere wertvollste Ressource. Erziehungskunst, (Mai 2017). Hornemann, B., & Kovce, P. (2017). Schöne neue Arbeitswelt. Info 3 – Anthroposophie im Dialog, (Ausgabe Juli/August 2017), 23–24. McSpaddan, K. (2015). http://time.com/3858309/attention-spans-goldfish/. Zugegriffen am 27.11.2017. Statista Das Statistik-Portal. (2018). https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1816/umfrage/zuwachs-der-weltbevoelkerung/. Zugegriffen am 31.01.2018. Wenger, A. (o.J.). World after capital, www.worldaftercapital.org. Zugegriffen am 28.01.2017.

Börries Hornemann  ist Philosoph, Unternehmer und Freelance-Akademiker. Er forscht zu sozialen Auswirkungen einer Gesellschaft 4.0 und unternimmt neue Formen sozialer Sicherungen. Für die Schweizer Volksabstimmung über ein bedingungsloses Grundeinkommen hat er die medienwirksame Kampagne mitgestaltet. Mit der Herausgabe des Buches „Sozialrevolution!“ (CAMPUS) mit u. a. Yanis Varoufakis, Gerald Hüther und Erik Brynjolfsson legt er Ideen für ein neues soziales Miteinander dank technischer Innovationen vor.

 http://www.sueddeutsche.de/leben/kinderarmut-kinderarmut-ist-in-deutschland-ein-dauerzustand-1.3720478, Zugegriffen am 23.10.2017. 4

Was ist der Mensch im digitalen Zeitalter und was können private Hochschulen zu seiner Entfaltung beitragen?

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Markus Grottke

Inhaltsverzeichnis 13.1  E  inleitung ............................................................................................................  221 13.2  W  as ist der Mensch? – Ein kurzer Abriss ideengeschichtlicher Entwürfe an Wendepunkten der Menschheitsgeschichte ....................................................  222 13.3  Was bedeutet die Digitalisierung für den Menschen? .........................................  228 13.4  Bildung als Schlüssel für sinnvolles menschliches Leben im digitalen Zeitalter....... 235 13.5  Fazit .....................................................................................................................  239 Literatur ..........................................................................................................................  239

13.1 Einleitung Die bereits seit einigen Jahren sich andeutende, nunmehr aber immer schneller sich vollziehende digitale Transformation stellt ohne Zweifel nicht nur einen fundamentalen Wandel im Wirtschaften, sondern auch im menschlichen Leben dar. Vergleichbar ist ein solcher Wandel beispielsweise mit dem Entstehen des Abendlandes in Form der griechischen Denkschulen, mit der auf das Mittelalter folgenden Aufklärung oder mit der Mechanisierung der Produktion im Zuge der industriellen Revolution. All diese Momente hatten durchgreifende Wirkungen auf die Selbstdefinition des Menschen. M. Grottke (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_13

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Häufig konzentrieren sich die Darstellungen der Wirkungen der digitalen Transformation im Moment auf technologische Aspekte, seien es Aspekte wie denjenigen der autonom fahrenden Autos, der digitalen Fabrik mit ihren Fertigungsinseln, der digitalen Plattformökonomie, der Verfügbarkeitsgeschäftsmodelle oder der Datenalgorithmik, wie sie sich in der Nutzung der Daten sozialer Netzwerke manifestiert. Aus Sicht von Bildungsinstitutionen indes ist wesentlich bedeutsamer, zu verstehen, welche Wirkungen die digitale Transformation auf den (zu bildenden) Menschen hat und welche Konsequenzen sich hieraus für eine (private) Bildungsinstitution ergeben. Hier deuten sich umfassende Änderungen an, die im folgenden Beitrag angedeutet werden sollen. Dazu wird wie folgt vorgegangen. Zunächst wird in einem Rückgriff auf die großen anthropologischen Würfe an ähnlichen Wendepunkten in der Geschichte versucht, den Boden für einen weiteren Wendepunkt in der Selbstdefinition des Menschen zu bereiten. Dann wird darauf eingegangen, welche Aspekte des digitalen Menschen sich abzeichnen und wie diese mit den vergangenen Entwürfen im Zusammenhang stehen. Zuletzt wird darauf eingegangen, welche Anforderungen sich hieraus (gerade) für (private) Bildungsinstitutionen ergeben. Ein kurzes Fazit schließt den Beitrag.

13.2 W  as ist der Mensch? – Ein kurzer Abriss ideengeschichtlicher Entwürfe an Wendepunkten der Menschheitsgeschichte Nicht ohne Grund wird in der Regel die Wiege des Abendlandes in Griechenland, und dort in der griechischen Philosophie, gesehen, wie sie sich insbesondere bei Platon und Aristoteles findet. In der Tat hat Platon einen ersten historisch p­ rägenden Entwurf eines Menschenbildes vorgelegt. Er verortet in seiner Politeia die anthropologische Grundstruktur des Menschen in drei Kräften: der Vernunft, dem Willen als einer Kraft zur Umsetzung der Vernunft und einer Vielfalt von Begierden und Lüsten, die es im Sinne der Vernunft durch den Willen zu zähmen gilt (vgl. Platon 2005c, 434d–441a, S. 329–349). Nur wenn diese drei Kräfte in richtiger Ordnung sind, d.  h. die Vernunft über den Willen und die Begierden herrscht, kann der Mensch zur Entfaltung seines eigentlichen Menschseins gelangen (vgl. Platon 2005c, 441c–443e, S. 349–359). In Unordnung gebracht, folgt der Mensch z. B. seinen Begierden und Lüsten, welche die Vernunft zum bloßen Verstand und den Willen zum ausführenden Organ herabwürdigen, um exzessive Lustbefriedigung zu erlangen.

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In weiteren Schriften verdeutlicht Platon die Rolle von Bildung anhand der sogenannten Maieutik, einer dialogischen Form der (Selbst-)Prüfung eigenen Handelns darauf, ob sie zu der intendierten menschengerechten Ordnung in Form einer Tugendhaftigkeit führe oder in Wahrheit anderen Zwecken diene. Maieutik arbeitet im Dialog aus des Dialogpartners Thesen über menschliches Verhalten jeweils die Implikationen dieser Thesen, die jeweiligen Denkvoraussetzungen heraus. Nicht wie ein Koch im Sinne des Kallikles, der leckere, indes ungesunde Speisen bereitet, um eines Kindes Begierde nach Süßem zu befriedigen, sondern wie ein Arzt müsse Bildung z. B. vorgehen, welche dem Patienten die Gesundheit bewahren wolle, auch wenn dies lediglich über einen harten Weg möglich sei (vgl. Platon 2005b, 521d, S. 489). Nicht der Mensch an sich ist das Maß aller Dinge, wie dies Protagoras meint, sondern nur derjenige Mensch, der gelernt habe, angemessene Abwägungen zu treffen, d. h. jeder Lust, jeder Handlung den ihr gemäßen Platz zuzuweisen (vgl. Platon 2005a, 353c–358e, S. 195–209). Für Platon ist der Mensch gemäß dem Prometeusmythos im Politikosdialog ein Mängelwesen (vgl. Platon 2005d, 274a–d, S. 461), welches nur durch fortwährendes, lernendes Denken seine eigene Natur und Bestimmung, seinen Platz, entdecken kann (vgl. z. B. den Aufstieg im berühmten Höhlengleichnis der Politeia, Platon 2005c, 514a–518b, S. 556–567). Ähnlich fundamental wie Platon hat erst Immanuel Kant im Rahmen der sogenannten zweiten kopernikanischen Wende zu Beginn der Aufklärung und diese auslösend wieder das Selbstbild des Menschen hinterfragt. In seinen Schriften beantwortete er drei menschliche Urfragen neu (Was kann ich wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen?, vgl. Kant 2018, S. 25), welche gemeinschaftlich eine Beantwortung einer vierten Frage „Was ist der Mensch?“ zulassen. Auch Kant stellt fest, dass der Mensch ein besonderes Wesen ist, weil er alle eigene Vollkommenheit aus sich selbst, d. h. durch seine Vernunft hervorbringen müsse, ihm diese Vollkommenheit indes nicht von vornherein als Istzustand, sondern nur als P ­ otenzial gegeben ist (vgl. Kant 1999a, S. 24). Dieses menschliche Potenzial des Einzelnen auszureizen, bedarf des Rückgriffes auf die eigene Vernunft: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 2004, S. 5). Menschen dazu zu befähigen, die ihnen gegebene Freiheit zur Nutzung des eigenen Verstandes einzusetzen, ist indes Aufgabe einer aufklärenden Erziehung: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt.“ (Kant 2004, S. 5).

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Was ist nun aber dieses Potenzial, welches nur in Freiheit ausgereizt werden kann? Kant, der die Fragen, was kann ich wissen, in Bezug auf die Endfragen menschlichen Seins radikal zertrümmert, verortet dieses Potenzial in der Sittlichkeit, die allein den Menschen unter allem anderen herausstechen lasse und in eine qualitativ andere Dimension hebe: „Alles hat entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.  i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d.  i. eine Würde. Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“ (Kant 2000, S. 87)

Kant meint hiermit etwas, was wir heute wohl als Werteorientierung auffassen würden, wie aus den nachfolgenden Beispielen deutlich wird, anhand derer er Preis und Würde unterscheidet: „Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreis; dagegen Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinkt) haben einen inneren Wert. Die Natur sowohl als Kunst enthalten nichts, was sie an ihre Stelle setzen könnten; denn ihr Wert besteht nicht in den Wirkungen, die daraus entspringen, im Vorteil und Nutzen, den sie schaffen, sondern in den Gesinnungen, d.i. den Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu offenbaren bereit sind. Diese Handlungen stellen den Willen, der sie ausübt als Gegenstand einer unmittelbaren Achtung dar. Diese Schätzung gibt also den Wert einer solchen Denkungsart als Würde zu erkennen und setzt sie über allen Preis unendlich weg, mit dem sie gar nicht in Anschlag und Vergleichung gebracht werden kann […] Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ (Kant 2000, S. 89).

Der letzte Satz des vorliegenden Zitates lässt einen Brückenschlag zu dem menschlichen Potenzial und der Notwendigkeit von Freiheit zu, welche notwendig ist, um dieses Potenzial zu entfalten. Wenn auto nomos, d. h. Selbstgesetzgebung, das Ziel jeden Individuums ist, dann muss dieses individuelle Selbst frei sein, die ihm eigenen Gesetze zu finden, und gleichzeitig führt der Aspekt des Selbst dazu, dass eine Unvergleichbarkeit herrscht, d. h. der einzelne Mensch niemals in einer Gleichung mit anderem aufgeht, mit diesem anderen gleichgesetzt werden kann. Zugleich sieht auch Kant, dass mit der Möglichkeit, das eigene menschliche Potenzial zu verwirklichen, nicht dessen faktische Verwirklichung bereits gesetzt ist. Kant weist in der Schrift „Der Streit der Fakultäten“ daraufhin, dass die Mischung aus guten und schlechten Eigenschaften in jedem Menschen dazu führe,

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dass man diesem vielleicht sagen könne, was er tun solle, nicht indes voraussagen könne, was er tun werde (vgl. Kant 1999c, S. 188). Oft wisse noch nicht einmal der jeweilige Mensch selbst, was er tun wird (vgl. Kant 1999c, S. 188). So ist Kant hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten eines ureigenen Selbst anders als Platon bereits viel bescheidener und sieht diese wesentlich als beschränkt an: „Weisheit, d. i. praktische Vernunft in der Angemessenheit ihrer dem Endzweck aller Dinge, dem höchsten Gut, völlig entsprechenden Maßregeln, wohnt allein bei Gott; und ihrer Idee nur nicht sichtbarlich entgegen zu handeln, ist das, was man etwa menschliche Weisheit nennen könnte.“ (Kant 1999b, S. 169). Einer solchen Angemessenheit könne der Einzelne nur durch Versuche und stete Anpassung seiner Pläne nachjagen; wobei zugleich achtgegeben werden müsse, dass ein Nachjagen nicht mit der Einbildung verwechselt werde, man habe auf eine solche Weisheit tatsächlich Zugriff (vgl. Kant 1999b, S. 169). Aus dieser notwendigen Unvollkommenheit menschlicher Natur folgt für Kant auch, dass der Einzelne sich eines sittlichen Wettbewerbs enthalten muss, i. e. von einer Verurteilung anderer Abstand nehmen sollte: „Welcher Mensch kennt sich selbst, wer kennt Andre so durch und durch, um zu entscheiden: ob, wenn er von den Ursachen seines vermeintlich wohlgeführten Lebenswandels alles, was man Verdienst des Glücks nennt, als sein angebornes gutartiges Temperament, die natürliche größere Stärke seiner obern Kräfte […], überdem auch noch die Gelegenheit, wo ihm der Zufall glücklicherweise viele Versuchungen ersparte, die einen Andern trafen; wenn er dies Alles von seinem wirklichen Charakter absonderte […]; wer will dann entscheiden, sage ich, ob vor dem allsehenden Auge eines Weltrichters ein Mensch seinem innern moralischen Werte nach überall noch irgend einen Vorzug vor dem andern habe, und es so vielleicht nicht ein ungereimter Eigendünkel sein dürfte, bei dieser oberflächlichen Selbsterkenntnis zu seinem Vorteil über den moralischen Wert […] seiner selbst sowohl als Anderer irgend ein Urteil zu sprechen?“ (Kant 1999b, S. 169).

Kant verweist zudem darauf, dass insbesondere die freie Aufnahme des Willens eines andern unter dessen eigenen Maximen, d. h. gemäß des ihm innewohnenden auto nomos ein unentbehrliches Ergänzungsstück zu dieser Unvollkommenheit der menschlichen Natur sei: „denn was einer nicht gern tut, das tut er so kärglich, dass man auf diese Triebfeder kaum zählen kann“ (Kant 1999b, S. 179). Indes schränkt Kant bei einer solchen Aufnahme den Willen anderer ein: „Nicht um den Willen, wie er ist, sondern so wie er wäre, würde sich der Andere darauf hin prüfen, was er wirklich wolle, komme es an“ (Kant 1999b, S. 179). Wenngleich Kant Bildung als einen Schlüssel für das Gelangen zu wahrem Menschsein ansieht, ist er sich zugleich sehr wohl dessen bewusst, dass eine solche Erziehung das größte Problem und das Schwierigste ist, was dem Menschen

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aufgegeben werden kann. Anders als Platon, welcher noch an eine klare Abmessung des tugendhaften Menschen glaubte, sieht Kant auch und gerade wegen der Unerreichbarkeit dieser Sittlichkeit de facto und der Unvollkommenheit Einzelner Vorsicht dabei angebracht, über andere zu urteilen und die Notwendigkeit, bewusst andere in ihrem Handeln und Wollen in das eigene Kalkül aufzunehmen. Als letzter Denker, welcher seinerseits letztlich die industrielle Revolution nach ihrem Vollzug reflektierte sei hier Karl Jaspers angeführt. Dieser beschreibt in seiner Schrift „Die geistige Situation der Zeit“ aus dem Jahre 1931 die Situation einer hochspezialisierten Massengesellschaft, in welcher die einzelnen Menschen beinahe ausschließlich durch ihre arbeitende Funktion bei der Versorgung dieser Massengesellschaft sowie einer auf Erholung bzw. Freizeit ausgerichteten sonstigen Zeit definiert werden. Hierbei sieht er, dass nichts vor dieser versachlichenden Rationalität halt macht, unter der der eigentliche Mensch verschwindet, als Individuum gleichsam in seiner regelhaften durch die Technik vordefinierten Funktion, z. B. als Arbeiter am Band, in ein Allgemeines aufgelöst werde, weil er beliebig und schnell durch andere Menschen ersetzt werden kann (vgl. Jaspers 1931, S. 16, 43). Die Trennung von funktionalisierter Arbeit und belangloser spießbürgerlicher Freizeit sorgt zudem dafür, dass dem einzelnen Menschen kein Funke an Einzigartigkeit noch verbleibt und alles in einer riesigen Maschinerie aufgeht (vgl. Jaspers 1931 S. 43, 46), in der der Einzelne gleichgültig gegen den Gang der Ereignisse wird, gewissermaßen frühzeitig innerlich kündigt. Gleichzeitig führt diese Funktionalisierung mit ihrer Entzauberung der Welt dazu, dass eine Öde und Leere aufgrund fehlender Sinngebung entsteht; alles Seiende auf dem Planeten scheint zu dessen zweckbezogener Ausnutzung funktionalisiert, neben der nichts Bedeutungsvolles mehr verbleibt (vgl. Jaspers 1931, S.  21). Selbst Verantwortung löst sich in einer Vielzahl von vergemeinschafteten Entscheidungsmechanismen auf und lässt selbst denjenigen, welcher sich noch um eine solche bemüht, gleichsam in einem dichten Nebel mit ungewissem Ausgang stochern (vgl. Jaspers 1931, S. 53). Unklar ist, welches Ergebnis angezielt werden soll, da aus Sicht des Einzelnen unberechenbar wird, wie Ergebnisse außerhalb des Funktionalisierten eintreten werden. Nur vereinzelte Berufe, wie Arzt, Pfarrer und Erzieher, sind nach Jaspers noch von dieser Situation ausgenommen (vgl. Jaspers 1931, S. 59). Und doch betont Jaspers, dass gerade in einer solchen Maschinerie dem Menschen etwas Entscheidendes fehlt, weil der Mensch in einer rein funktionalen Betrachtung als nur noch eines Mittels zum Zweck nicht aufgehe und nicht seinen Sinn finden könne (vgl. Jaspers 1931, S. 75). Ganz im kantischen Sinne fehlen ihm hier Wert und Würde seines Menschseins. Jaspers hebt indes hervor, dass der Motor für eine Veränderung im Menschen selbst liegt, dass das menschliche Bewusstsein durch sein Wissen von sich selbst in Bewegung gesetzt, dadurch verändert

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wird und sich so in immer neuer Gestalt präsentiert (vgl. Jaspers 1931, S.  11). Gerade eine solche Zeit der Maschinisierung und Automatisierung rufe förmlich dazu auf, sich als Mensch dazu zu verhalten (vgl. Jaspers 1931, S. 22). Es gilt, nicht von den funktionalisierten Zusammenhängen aufgesogen zu werden und außerhalb dieser, bei unklaren Wirkungen und Verantwortlichkeiten, wenn das Ziel des Handelns in seinen Wirkungen unüberschaubar wird, bereits durch das Wie, d. h. die Handlung an sich zu überzeugen (vgl. Jaspers 1931, S. 99). Zugleich sieht Jaspers auch beim Was, dass allein Menschen diesem funktionalen Dasein Wendepunkte einpflanzen können (vgl. Jaspers 1931, S. 51). Weiterhin liege es an dem Einzelnen, was er ist: „Der Mensch […] ist das Wesen, das nicht schon als Dasein restlos erkennbar ist, sondern frei noch entscheidet, was es ist“ (Jaspers 1931, S.  7). „Keine Vergangenheit kann ihm sagen, wie er sich zu verhalten habe. […] im Lichte erinnerter Vergangenheit hat er es selbst zu entscheiden.“ (Jaspers 1931, S. 201). Die größte Sachkunde bewirkt nichts, wenn sie nicht von Menschen sinnvoll als Instrument eingesetzt wird (vgl. Jaspers 1931 S. 161). Und die Quelle, aus welcher dieser Sinn entsteht, muss notwendigerweise ein einzelnes Menschsein sein (vgl. Jaspers 1931, S. 181). Zugleich sieht Jaspers noch stärker als Kant eine Unmöglichkeit, dasjenige zu fixieren, was den Menschen ausmache (vgl. Jaspers 1931, S. 163). Es geht darum, dass Menschen sie selbst sind, im Unterschied zu ihrer reinen Funktion außerhalb derer nur noch Leere ist (vgl. Jaspers 1931, S. 192). Ob diese jedoch im Einzelnen erwacht, sich der einzelne Mensch seines Menschseins bewusst wird, hängt maßgeblich von der Erziehung ab (vgl. Jaspers 1931, S. 81). Auch diese sieht Jaspers in der Krise: Die Jugend bekomme ein zu großes Gewicht, sie, die Orientierung von der älteren Generation erwarte, werde von dieser, die selbst nicht genau wisse, mit welchem Ziel sie ausbilde, was in Zukunft gefragt sei, mit einem Mitspracherecht versehen, welches sie nicht tragen könne (vgl. Jaspers 1931, S. 102). So bleiben den Jugendlichen die großen, prägenden Eindrücke aus, die in ihrem Leben handlungsleitend sein können (vgl. Jaspers 1931, S. 105). Wahre Bildung, so Jaspers, wolle sich indes lieber mit einem Minimum prägender Bildung begnügen, denn sich in der großartigsten Welt verlieren (vgl. Jaspers 1931, S. 122). Es gehe ihr nicht um die endlose Ansammlung von Fakten, sondern darum, die Orte eigentlicher Entscheidungen zu identifizieren, an denen sich der Gang der Geschichte manifestieren kann (vgl. Jaspers 1931, S. 206). Jaspers betont die Notwendigkeit, Bildung aus einer Sinngebung heraus zu betreiben, welche der Endlosigkeit des Wissbaren etwas entgegensetze (vgl. Jaspers 1931, S. 135). Ferner betont Jaspers die Wichtigkeit menschlicher Bindungen, nicht im Sinne einer funktionalisierten Herstellung durch eine gezielte Zusammenwürfelung von Einzelnen, sondern im Sinne eines Entstehens von Bindung durch Verständnis zwischen eigenständig

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agierenden Individuen (vgl. Jaspers 1931, S. 187), die Beziehung zwischen bereits für sich selbst seienden Menschen (vgl. Jaspers 1931, S. 194), die sich wechselseitig in ihrer Existenz die Sinnhaftigkeit des Menschseins spürbar werden lassen. Betrachtet man die drei hier nur kurz skizzierten anthropologischen Entwürfe des Menschen von Platon, Kant und Jaspers, so wird deutlich, dass alle eine Eigenheit teilten, nämlich den Menschen als ein Wesen aufzufassen, welches sich selbst erst noch realisieren, gleichsam definieren muss und dies aus sich selbst heraus vollziehen muss. Zugleich wurde gerade dieser Fähigkeit zur Selbstdefinition ein besonderer Wert zugemessen, der in platonischer Sittlichkeit, kantischer Würde und Jaspers’scher Selbstseiendheit zwar unterschiedlich bezeichnet, aber doch gleichermaßen erkennbar wurde. Andererseits zeigt sich auch, dass mit zunehmender Zeit die Frage nach dem Menschen immer schwieriger zu beantworten wurde, weil dieser immer mehr in seiner Rolle als Funktion aufzugehen schien und gleichzeitig immer weniger in der Lage schien, eigenständig aus sich heraus sinnhaft zu handeln. Gleiches galt von der Erziehung, die schon bei Kant schwierig, bei Jaspers ohne Fixierung endgültig unmöglich zu werden schien. Zudem schien der Aspekt einer klaren Vorstellung von Sittlichkeit sich abzuschwächen und durch den Aspekt der Eigentlichkeit und der Beziehungen bei Jaspers abgelöst zu werden. Wenn es nun schon die Aufklärung bzw. industrielle Revolution derart erschwerten, anthropologische Grundkonstanten zu identifizieren und das Ziel von Erziehung bzw. Bildung festzulegen, was wird dann erst die Digitalisierung auslösen?

13.3 Was bedeutet die Digitalisierung für den Menschen? Um die Wirkung der Digitalisierung auf den Menschen abzuschätzen, sei zunächst die Leistungsfähigkeit künstlicher Intelligenz an drei allgemeinverständlichen Beispielen illustriert. Das erste Beispiel betrifft die Funktionsfähigkeit semantischer Suchalgorithmen, wie sie z. B. in dem System Watson von IBM Verwendung finden. Hier galt bereits im Jahre 2011, dass Watson seine menschlichen Kontrahenten bei einem Spiel, bei welchem Fragen zu gegebenen Antworten zu formulieren waren, haushoch aus dem Feld schlug (vgl. zur Live-Sendung Jeopardy 2011). Mittlerweile findet Watson in einer Vielzahl von Bereichen Anwendung; unter ihnen Rechtsgebietsabfragen oder Recherchen. Zu erwarten ist, dass dieses oder ähnliche Systeme in wenigen Jahren auf Smartphones verfügbarer Standard werden. Wenn aber ein solches System bereits Fragen auf Antworten und Antworten auf Fragen über gigantische Wissenskorpora erzeugen kann, was wird dann aus den Menschen, welche sich zuvor über

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ihre funktionalen Leistungen im Beantworten der Fragen anderer Menschen innerhalb der Massenversorgungsgesellschaft definierten? Das zweite Beispiel betrifft hochkomplexe Brettspiele, wie z. B. das koreanische Spiel Go, in dem z. T. eine künstliche Intelligenz in der Lage ist, Züge zu vollziehen, welche nicht nur die weltbesten, ein Leben lang trainierenden Spieler schachmatt setzen, sondern welche zudem, gemessen an dem heutigen Stand, vollkommen neuartige Lösungen repräsentieren (vgl. die Website zu AlphaGo 2017). Hinzu kommt, dass die Systeme der künstlichen Intelligenz immer schneller und auf Basis von immer weniger notwendigen externen Daten lernen. So genügte der künstlichen Intelligenz AlphaZero im Dezember 2017 eine Lernzeit von 24 Stunden, sowie ein Input allein der Schachregeln, um im Training gegen sich selbst zum besten Schachprogramm zu werden und das weltweit beste Schachprogramm vernichtend zu schlagen (vgl. Silver et al. 2017). Alle drei Systeme werfen die Frage auf, was geschieht, wenn eine Massentauglichkeit dieser Technologien erreicht worden ist. Folgt man vergangenen Entwicklungen in Form des sogenannten Zuboff’schen Gesetzes, demzufolge alles auch digitalisiert wird, was digitalisiert werden kann, alles mit künstlicher Intelligenz gelöst wird, was mit dieser (billiger) gelöst werden kann (vgl. Zuboff 1988), so scheint eine Welt sichtbar zu werden, in der nicht mehr nur die Welt der Dinge automatisiert wird, sondern zuletzt durch die vollumfängliche digitale Abbildung menschlicher Handlungen auch noch der letzte Rest an menschlicher Psyche, ­sofern von außen durch Menschen beobachtbar, verobjektiviert, in einer Dimension eines Algorithmus künstlicher Intelligenz erfasst wird. Dies scheint umso wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass die Anzahl an Kontaktpunkten, bei denen menschliches Verhalten digitalisiert wird, exponentiell ansteigt, wie sich in dutzenden Feldern von den Smartphones, über Smarthomes, über Smartfactories beobachten lässt. Digitalisierung bedeutet schon heute, dass jeder Mensch unendlich viele Spuren seines Handelns hinterlässt. Die Dinge liegen darum fundamental anders als in einer früheren Realität, als solche Spuren allein mündlich überliefert und darum dem Vergessen von einzelnen Menschen anheimgestellt wurden. Die Dinge liegen auch fundamental anders als in einer Zeit des Buchdrucks, als man in den Büchern vielleicht Spuren hinterließ, aber diese Spuren endlich waren, an die Endlichkeit ihrer (physischen) Dokumente gebunden. Mit den heutigen Speicher- und Resetmöglichkeiten hingegen, nähert man sich einem Zustand an, in welchem derartige Spuren ewig sein können, jedenfalls das eigene Leben weit und in unfassbarer Masse überdauern können. Dies bedeutet nicht nur: Jugendsünden können einen (jeden von uns) jederzeit wieder einholen, denn sie sind gespeichert, ubiquitär und nach Zeit und Ort abrufbar. Dies bedeutet vor allem, dass nahezu jede denkbare menschliche Reaktion nicht nur einmal geschieht, sondern

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mehrfach aufgezeichnet wird. Wenn man heute in eine Straßenbahn, einen Bus oder eine Bahn einsteigt, wird man mit einem merkwürdigen Bild konfrontiert. Weitestgehend stumm und teilnahmslos sitzen die Menschen nebeneinander. Die Kommunikation ist ersetzt durch ein kleines rechteckiges elektronisches Gerät, auf welches alle diese Menschen, jeder auf seines, starren und mit Vehemenz eintippen. Und mit diesem Gerät, dem Smartphone, lässt sich viel bewerkstelligen: Dies belegen schon die tausende von Apps, welche man herunterladen kann und die immer neue Anwendungen ermöglichen. Wie stark diese Vernetzung mittlerweile ausfällt, wie viele Daten hier anfallen, erläuterte mir einmal ein Studierender. Bis zu 8000 Whatsapp-Nachrichten könnten pro Tag schon zusammenkommen. Angesichts solcher Überlegungen ist die bekannte Oxforder Studie von Frey und Osborne (2013), derzufolge in einer Vielzahl von Berufen ein Wegfall heutiger Tätigkeiten im Umfang zwischen 90 % und 99 % zu erwarten ist, nicht von der Hand zu weisen. Die Datenmassen, um künstliche Intelligenzen zu trainieren, liegen jedenfalls vor, fraglich ist allein, ob die Fragestellungen spezifisch genug im Sinne von Input-Output-Beziehungen formuliert werden können und ob die Rückübersetzung in die Sphäre des Menschen nicht nur mittels Information, sondern auch unter Einsatz von Aktoren gelingt. Die Möglichkeiten des Digitalen sind hiermit allerdings immer noch unzureichend beschrieben. So besteht ein Kernelement nicht allein darin, menschliches Verhalten zu analysieren, sondern vielmehr darin, die (virtuelle) Realität darauf auszurichten, dieses Verhalten zu beeinflussen. Anders als die Natur, ist diese virtuelle Realität vermittelt und darum vollständig beeinflussbar, d. h. wir sehen, was wir sehen sollen (vgl. Grottke und Boll 2017, S. 17). Durch entsprechende Gestaltung der virtuellen Welt auf Basis digitaler Daten kann insofern gelenkt werden, was der Mensch ist und denkt, wie eine berühmte Passage aus der Kriminalgeschichte „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ von Edgar Allan Poe eindrücklich illustriert: „Wir schlenderten eines Abends durch eine lange schmutzige Straße in der Nähe des Palais Royal. Da wir beide ganz mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt waren, hatten wir schon länger als eine Viertelstunde keine Silbe miteinander gesprochen. Plötzlich brach Dupin ganz unvermittelt in die Worte aus: „Er ist wirklich ein sehr kleiner Kerl, das ist wahr! Er würde besser für das Varieté passen.“ „Zweifellos“, erwiderte ich unwillkürlich, und ich war so ganz in meine Gedanken vertieft, daß ich im ersten Augenblick nicht merkte, in wie seltsamer Weise seine Worte mit meinem Gedankengang übereinstimmten. Das fiel mir erst einen Augenblick nachher auf, und da war ich allerdings ziemlich verblüfft. „Dupin“, sagte ich in ernstem Tone, „das geht über mein Verständnis. Ich zögere nicht, Ihnen zu gestehen, daß ich aufs höchste verwundert bin und meinen Sinnen kaum zu trauen vermag. Wie ist es nur möglich, daß Sie wissen konnten, daß ich gerade dachte an …?“ Ich hielt inne, um mich zu überzeugen, ob er wirklich den

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Namen wisse. „An Chantilly natürlich“, sagte er; „warum halten Sie inne? Sie dachten doch gerade darüber nach, daß seine kleine Gestalt ihn wirklich untauglich zum Tragöden mache.“ Damit hatten meine Gedanken sich wirklich beschäftigt. Chantilly war ein Flickschuster aus der Rue St. Denis, der, von einer wahren Leidenschaft für das Theater ergriffen, es durchgesetzt hatte, in der Rolle des Xerxes in Crébillons gleichnamiger Tragödie aufzutreten, der aber natürlich durchgefallen war und für all seine Mühe nur Hohn und Spott geerntet hatte. „Sagen Sie mir um des Himmels willen“, rief ich aus, „nach welcher Methode Sie vorgegangen sind – wenn hier überhaupt von einer Methode die Rede sein kann –, um so in meiner Seele lesen zu können!“ Ich war in der Tat noch viel verblüffter, als ich ihm zeigen wollte. „Es war der Obsthändler“, antwortete mein Freund gelassen, „der den Gedanken in Ihnen anregte, daß der Flickschuster für die Darstellung eines Xerxes und ähnlicher Rollen nicht die nötige Figur habe.“ „Der Obsthändler! Sie setzen mich in Erstaunen! Ich weiß nichts von einem Obsthändler.“ „Ich meine den Mann, der gegen Sie anrannte, als wir in die Rue C. einbogen; es ist kaum eine Viertelstunde her.“ Ich erinnerte mich jetzt daran, daß, als wir aus der Rue C. in den Durchgang einbogen, in dem wir uns jetzt befanden, ein Mann, der einen großen Korb mit Äpfeln auf dem Kopfe trug, so heftig gegen mich anrannte, daß ich beinahe umgefallen wäre. Aber was das mit Chantilly zu tun haben sollte, war mir unerfindlich. Dupin hatte auch nicht die Spur von Scharlatanerie an sich. „Ich werde Ihnen das erklären“, sagte er einfach, „und damit Sie mich ganz verstehen, wollen wir den Gang ihrer Gedanken von dem Augenblick an, wo ich zu Ihnen sprach, bis zu dem, wo der Obsthändler gegen Sie anrannte, zurückverfolgen. Die Hauptglieder dieser Gedankenkette sind folgende: Chantilly, Orion, Dr. Nichols, Epikur, Stereotomie, das Straßenpflaster, der Obsthändler …“ Es gibt wenig Personen, denen es nicht in irgendeiner Periode ihres Lebens Vergnügen gemacht hätte, den Stufengang zurückzuverfolgen, auf dem ihr Geist zu gewissen Schlüssen gelangte. Diese Beschäftigung kann sehr interessant sein; wer es zum ersten Male versucht, ist erstaunt über die scheinbar unendliche Entfernung zwischen dem Ausgangspunkte und dem Endpunkte und über den scheinbaren Mangel jeden Zusammenhangs zwischen beiden. Man denke sich daher mein Erstaunen über das, was der Franzose nun zu mir sagte, da ich zugeben mußte, daß er die Wahrheit sprach. Er fuhr fort: „Wir hatten, wenn ich mich recht erinnere, in der Rue C. von Pferden gesprochen. Das war unser letztes Gesprächsthema. Als wir in diese Straße hier einbogen, kam uns der Obsthändler mit einem großen Korbe auf dem Kopfe entgegen; er war sehr in Eile und stieß Sie gegen einen Haufen von Pflastersteinen, die an einer Stelle, wo die Straße ausgebessert werden sollte, aufgeschüttet lagen. Sie traten auf einen lose liegenden Stein, glitten aus und verstauchten sich leicht den Fuß, was Sie zu verstimmen schien, denn Sie murmelten ein paar Worte, blickten ärgerlich auf den Haufen Steine und setzten schweigend ihren Weg fort. Obwohl ich Ihnen durchaus keine besondere Aufmerksamkeit schenkte, ist mir doch das Beobachten in letzter Zeit zur anderen Natur geworden. Ich bemerkte, daß Sie den Blick zu Boden gesenkt hielten und mit verschlossener Miene die vielen Löcher und Unebenheiten der Straße betrachteten. Ich sah also, daß Sie noch immer an die Steine dachten. Erst als wir die kleine Lamartinegasse erreichten, deren Pflasterung versuchsweise mit fest ineinander greifenden Holzblöcken hergestellt ist, erhellte sich der Ausdruck Ihres Gesichts, und Ihre Lippen murmelten das Wort ‚Stereotomie‘, eine etwas anspruchsvolle Bezeichnung für diese einfache Art der Pflasterung. Ich wußte, daß Sie dieses Wort nicht denken könnten,

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ohne danach an Atome und an die Lehre Epikurs denken zu müssen. Hatten wir uns doch vor nicht langer Zeit über solche Dinge unterhalten, und ich äußerte damals, wie seltsam es sei, daß die vagen Vermutungen dieses tiefsinnigen Griechen durch die neuesten Entdeckungen der Nebel-­Kosmogonie eine so glänzende und dennoch so wenig beachtete Bestätigung gefunden hätten. Ich erwartete also jetzt mit Bestimmtheit, daß Sie zu dem großen Nebel des Orion aufblicken würden. Sie taten dies wirklich, und ich war nun meiner Sache sicher und wußte, daß ich Ihren Gedankengang richtig verfolgt hatte. In der abfälligen Kritik, die gestern im ‚Musée‘ über Chantilly erschien, machte der Verfasser sich auch über die Namensänderung lustig, die der Flickschuster beim Besteigen des Kothurn für nötig gehalten, und zitierte einen lateinischen Spruch, über den wir oft gesprochen haben: ‚Perdidit antiquum litera prima sonum‘. Ich hatte Ihnen gestern gesagt, daß diese Zeile sich auf den Orion, früher Urion genannt, bezöge, und da ich bei dieser Gelegenheit ein paar bissige Bemerkungen gemacht hatte, glaubte ich sicher zu sein, daß Sie sich unserer Unterhaltung erinnern würden. Es war daher gewiß, daß Sie nicht verfehlen würden, die beiden Begriffe Orion und Chantilly miteinander zu verbinden. Daß Sie dies wirklich taten, ersah ich aus dem Lächeln, das um Ihre Lippen spielte. Sie dachten an das tragische Geschick des armen Flickschusters. Bis dahin war Ihre Haltung nachlässig gebückt gewesen, nun sah ich, wie Sie sich plötzlich zu Ihrer vollen Höhe aufrichteten. Ich war ganz sicher, daß Sie an die kleine Gestalt Chantillys dachten. Ich unterbrach Ihren Gedankengang mit der Bemerkung, daß er wirklich ein kleines Kerlchen sei, dieser Chantilly, und daß er besser daran täte, wenn er zum Varieté ginge.“ (Poe 1978, S. 16–19).

Die Passage aus der Geschichte von Edgar Allan Poe beschreibt hier ein Phänomen, welches Menschen in ihrem Handeln durch externe Stimuli lenkt. Nun gilt in der realen Welt, dass die fraglichen Stimuli einer Gestaltbarkeit weitgehend entzogen sind. Nicht so in der virtuellen Welt. Was passiert nun, wenn man beides zusammennimmt? Da ist zum einen die zunehmende, menschlichem Verhalten täuschend ähnliche Rekonstruierbarkeit und damit Verobjektivierbarkeit von menschlichem Verhalten, welche zumindest an der Oberfläche digitaler Spuren zeigt, dass auch der Mensch nicht mehr ist als die Summe seiner digitalisierten Äußerungen, zusammensetzbar durch die digitalisierten vergangenen abermillionenfachen Äußerungen von Abermillionen anderer Menschen. Da sind zum anderen die zunehmenden Möglichkeiten der Beeinflussbarkeit menschlichen Verhaltens durch die Anpassung virtueller Realitätsdarstellung in real time in Reaktion z.  B. auf den Gesichtsausdruck, die Herzfrequenz sowie die psychografischen Profile des Nutzers (instruktiv diesbezüglich z. B. Matz und Netzer 2017). Legt nicht beides zusammen nahe, dass es zunehmend denkbar scheint, anzunehmen, dass mit der anwachsenden Digitalisierung und digitalen Vorhersehbarkeit menschlicher Regungen aller Couleur, zuletzt die Dispositionen verschwinden, welche den Menschen als ein immer auch distanziertes, anderes, sich zur Welt verhaltendes Wesen, ermöglichen? Gälte dann nicht, ganz im Sinne Foucault (2011), S. 462:

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„Wenn diese Dispositionen [nicht digital erfassbaren menschlichen Verhaltens, Ergänzung M.G.] verschwänden […], dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“

Anders als zu Zeiten einer industriellen Revolution ist es hierbei nicht mehr die funktionale Anpassung des Menschen an die technischen Gegebenheiten, die dem Menschen sein Menschsein über den funktionalen Zweck hinaus vergessen lässt, sondern vielmehr die technische Reproduktion des Menschseins in der digitalen Sphäre, welches ihm das Menschsein als solches zu rauben und letztlich selbst die ureigenen menschlichen Entscheidungen als Ergebnis von Reiz-Reaktions-Schemata subtiler Stimuli zu entlarven droht. Ist denn dann noch etwas anderes übrig, für das sich Mensch zu sein lohnte? Oder lässt sich bald bis auf karge Randgebiete alles ersetzen und reduzieren, alles billiger und besser durch Maschinen, ausgestattet mit künstlichen Intelligenzen erledigen?, so lautet die bange Frage. Einher gehen derartige drohende Entwicklungen mit zwei menschlichen Reaktionen, einerseits dem steigenden Gefühl einer Sinnlosigkeit von eigener verstärkter Anstrengung, um Ziele zu erreichen und sich Idealen anzunähern und andererseits einer verstärkten Ablenkung in Form von Zerstreuung. So gaben in einer kürzlich erfolgten Umfrage in LinkedIn 67 Prozent der deutschen Arbeitnehmer zu Protokoll, bereits vor ihrem 30. Geburtstag an einer handfesten Lebenskrise, einer Sinnkrise gelitten zu haben – Zeichen einer Verunsicherung von Erwachsenen, die vor dem Eintritt in ihr Berufsleben oder am Anfang von diesem stehen (Friese 2018). Es scheint, dass das vielfach von Viktor Frankl bereits in den Siebziger- und Achtzigerjahren diagnostizierte Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins noch weiter um sich greift. Gleiches spiegelt sich in anekdotischen Bemerkungen besorgter Eltern, in denen immer wieder festgestellt wird, dass der eigene Nachwuchs nicht genau wisse, wo er hinwolle, dieses oder jenes ausprobiere, aber dies nicht mit Herzblut tue. Eigentlich ist das kaum verwunderlich, wem fällt es nicht schwer, sich zu motivieren, wenn der Vergleichsmaßstab eine künstliche Intelligenz zu werden droht, welche sich mühsam erworbene Fachkompetenzen in Windeseile aneignet. Hinzu kommt das vielfältig beobachtbare Phänomen der Ablenkung und Zerstreuung. Auch dieses erscheint verständlich angesichts von Algorithmen, welche darauf ausgerichtet sind, die Zeit des Nutzers im entsprechenden Medium dadurch zu verlängern, dass diesem gezeigt wird, womit er selbst Zeit verbringen will (gemessen an vergangenen Reaktionen). Wen wundert dann noch eine ganze Reihe von Studien mit dem Ergebnis, dass zu viel Zeit vor dem Smartphone verbracht wird, zu viel emotionale Abhängigkeit von diesem herrscht und zu viel Zeit darauf verwendet wird, neue Nachrichten zu checken (z. B. Motorola 2018). Twenge et al. (2018)

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finden hierbei, dass mit erhöhter Nutzung neuer Medien (Social Media) und elek­ tronischer Geräte (Smartphones) auch ein erhöhtes Ausmaß an depressiven Symptomen und Selbstmordraten unter US-Jugendlichen einhergehen. Scheinbar bringt die algorithmisch maximierte Erfüllung aller Wünsche in der virtuellen Welt keine Befriedigung mit sich, sondern bestätigt eher Wilhelm Busch, welcher bereits wusste: „Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt, kriegt augenblicklich Junge.“ (Busch 1960, S. 406). Und dennoch gilt, bei Licht besehen, dass die Digitalisierung nicht alle Arbeitsplätze besetzen wird und viele neue erzeugen wird. Gleich anderen industriellen Revolutionen gestaltet sie nur in fundamentaler Weise um, welche Form der Arbeit in welcher Form ökonomisch am Markt wertgeschätzt wird. Hierzu muss man sich nur vergegenwärtigen, dass auch mit dem Ersatz von manueller Feldarbeit durch den Traktor einst eine fundamentale Umgestaltung vor sich ging. Während auf dem Feld Kraft, Durchhaltewillen bei körperlicher Arbeit und körperliche Belastbarkeit von hoher Bedeutung waren, konnte einen Traktor auch ein schmächtiges Männlein bedienen, welches der vorherigen Belastung nicht gewachsen gewesen wäre, während es der belastbare Hüne ohne Führerschein nicht mehr konnte. So wird auch durch die Digitalisierung zwar die Definition von Leistung im Sinne eines umfangreichen, lexikalischen Fachwissens und von Routinen abnehmen, im Sinne eines zielgerichteten und effizienten Gebrauchs von Fachwissen und von neuartigen Problemlösungen hingegen zunehmen. Es verbleibt für den Menschen und menschliche Arbeit dann ein Anwendungsfeld, welches durch die Volatilität unvorhergesehener Anforderungen, komplexer Probleme, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit gekennzeichnet ist. Wirkung einer solchen Welt ist, dass Fachwissen und sich etablierende Routinen für den Menschen immer mehr nur für eine kurze Dauer wertvoll sein können, da sie sich schnell durch künstliche Intelligenz reproduzieren lassen, bestenfalls in Mensch-Maschine-Kombinationen vorübergehend effizienter lösen lassen. Die korrespondierend immer weiter Verbreitung findenden agilen Organisationen (vgl. z. B. Borg und Hill 2018) bedeuten indes gerade für Menschen mit einer Vielzahl von Talenten und Interessen, dass sie diese in immer wieder wechselnden Teamkonstellationen ausleben dürfen. Gleichzeitig werden Menschen mit den digital auch weiterhin nicht oder schwer reproduzierbaren Kompetenzen im Bereich Sozialkompetenz, Entscheidungskompetenz, Kreativität und Selbstkompetenz an Bedeutung gewinnen (vgl. Frey und Osborne 2013). Gerade die bewusste Selbstkompetenz ist hier zu nennen. Der Mensch, wie er selbst durch seine unterdeterminierte Erfassung der reellen Möglichkeiten sein Dasein definiert, führt durch diese Definition wiederum dazu, dass er sich verändert und nicht mehr zu den ihm immer erst nach seiner Selbstdefinition nachjagenden Mechanismen künstlicher Intelligenz passt. Letztlich scheint auf diese Weise ein besonders spannendes, schönes und erfülltes Arbeitsleben möglich, in dem ebenso wie einst die manuelle Arbeit auf dem Feld, lediglich die unangenehme, zeitraubende und

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nervtötende geistige Kärrnerarbeit dann durch künstliche Intelligenz abgenommen wird, wenn sie droht, langweilig zu werden. Wie aber lässt sich die Brücke zwischen einer desillusionierten, Sinnlosigkeit empfindenden Masse an Menschen, welche ihre Zeit vielfach mit belangloser Zerstreuung verbringt einerseits und dem Potenzial, welches Digitalisierung für den Menschen an Konzentration auf die eigentlich schönen Seiten seines Menschseins eröffnet andererseits, schließen?

13.4 B  ildung als Schlüssel für sinnvolles menschliches Leben im digitalen Zeitalter Ob derartige Möglichkeiten ergriffen und bewusst ausgebildet werden oder der Einzelne in Sinnlosigkeit und Zerstreuung versinkt, ob Digitalisierung als Mittel zum Zweck der Entfaltung des Menschen oder der Mensch zum Mittel einer u­ biquitären Digitalisierung degeneriert, ist eine Frage der Bildung und insbesondere, so wird hier die These vertreten, einer Bildung auf dem privaten Hochschulmarkt. Nicht ohne Grund hat der private Hochschulmarkt in den vergangenen Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung mit Wachstumsraten von 446 % zwischen den Jahren 2000 und 2010 erlebt (vgl. Stifterverband 2013, S. 20). Sicher nicht der einzige Grund, für die vorliegende Aufgabe indes wesentlich, erscheint hierbei, dass für private Hochschulen seit jeher gilt, was in Sprichworten, wie „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ oder „Wer zahlt, schafft an“ zum Ausdruck kommt. Gemeint ist damit, dass private Hochschulen aus eigenem Existenzinteresse gar nicht anders können, als sich wirklich an ihren zahlenden Studierenden auszurichten und deren Bedürfnisse ernst zu nehmen. Gerade darum können sie eine besonders hervorgehobene Rolle dabei spielen, Lösungsansätze für die Herausforderungen Studierender mit den geschilderten Wirkungen zu entwickeln. Schließlich gilt: Je besser sie die Herausforderungen ihrer Studierenden bewältigen, mithilfe von Bildung einen sinnerfüllten Platz im (Arbeits-)Leben zu finden, desto eher sind sie selbst auch wirtschaftlich nachhaltig erfolgreich. Wie aber könnte eine solche Lösung aussehen? Ein Weg, eine solche Lösung zu skizzieren, kann darin liegen, in der Vergangenheit nach vergleichbaren Situationen zur Digitalisierung oder gar wesentlich größeren Herausforderungen zu suchen, und die damaligen Lösungsansätze für die heutige Situation zu adaptieren. Eine weit aussichtslosere Situation wurde z. B. von dem Arzt und Begründer der Logotherapie Viktor Frankl positiv gewendet. Ähnlich, wenn auch nicht vergleichbar mit der Frage nach dem Sinn eines Menschen, welcher sich plötzlich als vollständig digital reproduziert und reproduzierbar und durch Maschinen besser ersetzbar antrifft, ist die von Frankl geschilderte Situation eines Gefangenen, dessen

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Leben, Einzelschicksal, Geschichte und Namen buchstäblich auf ein Nichts, allein auf eine Nummer reduziert ist (vgl. Frankl 2009, S. 124 f.). Aus dieser Zeit her rühren Frankls Forschungen nach dem Warum, seine Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens, der Frage, welche nach seiner Auffassung das humanum humanissimum repräsentiert, das eigentlich Menschliche, in dem die Frage „Was ist der Mensch?“ kulminiert (Frankl 2017). Bemerkenswert ist, dass Frankl sich mitnichten einer Sinnlosigkeit ergibt, nein, er betont (Frankl 2009, S. 150): „Und mögen es auch nur wenige gewesen sein – sie haben Beweiskraft dafür, daß man dem Menschen […] alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein „So oder so“! Und jeder Tag und jede Stunde […] gab tausendfältige Gelegenheit, diese innere Entscheidung zu vollziehen, die eine Entscheidung des Menschen für oder gegen den Verfall an jene Mächte der Umwelt darstellt, die dem Menschen sein Eigentliches zu rauben drohen  – seine innere Freiheit  – und ihn dazu verführen, unter Verzicht auf Freiheit und Würde zum bloßen Spielball und Objekt der äußeren Bedingungen zu werden und sich von ihnen […] umprägen zu lassen.“

Es ist also auch bei ihm diese bereits bei Kant aufscheinende Freiheit, aus der Sinn herrührt, jenes eigenständige innere Verhalten zu äußeren Umständen anstelle eines Hinnehmens, einer Akzeptanz, welche Sinnhaftigkeit erzeugt. Wie auch immer die Herausforderungen, es gibt ein „So oder so“, ein „Wie“, wie der Einzelne die Situation angeht und besteht. Und dies bedeutet in Zeiten der Digitalisierung für Bildungsinstitutionen, zu bildende Studierende dafür zu sensibilisieren, dass es für sie auch in Zukunft auf ihre eigenen Entscheidungen ankommt, darauf, sich ein eigenes Verhalten zu den Phänomenen der Digitalisierung zu bewahren bzw. eine Position zu erarbeiten, von der aus ein solches Verhalten möglich ist. Frankl (2009, S. 170) macht zudem klar, dass es auf eine Wendung weg von dem Verantwortlichmachen externer Umstände für die eigene sinnlose Situation, hin zu dem Verhalten des Einzelnen zu diesen Umständen ankommt: „Was hier not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, daß es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet! [Und] so zwar, daß wir nicht mehr einfach nach dem Sinn des Lebens fragen, sondern daß wir uns selbst als die Befragten erleben, als diejenigen, an die das Leben täglich und stündlich Fragen stellt – Fragen, die wir zu beantworten haben, indem wir nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde.“ (S. 170)

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Dabei betont er (Frankl 2009, S. 171), diesbezüglich eine doppelte Einzigartigkeit von Situation und Mensch, welche es ausschließt, ersetzbar zu werden: „Diese Forderung, und mit ihr der Sinn des Daseins, wechselt von Mensch zu Mensch und von Augenblick zu Augenblick. Nie kann also der Sinn menschlichen Lebens allgemein angegeben werden, nie läßt sich die Frage nach diesem Sinn allgemein beantworten – das Leben, wie es hier gemeint ist, ist nichts Vages, sondern jeweils etwas Konkretes, und so sind auch die Forderungen des Lebens an uns jeweils ganz konkrete. Diese Konkretheit bringt das Schicksal des Menschen mit sich, das für jeden ein einmaliges und einzigartiges ist. Kein Mensch und kein Schicksal läßt sich mit einem andern vergleichen; keine Situation wiederholt sich. Und in jeder Situation ist der Mensch zu anderem Verhalten aufgerufen. Bald verlangt seine konkrete S ­ ituation von ihm, daß er handle, sein Schicksal also tätig zu gestalten versuche, bald wieder, daß er von einer Gelegenheit Gebrauch mache, erlebend (etwa genießend) Wertmöglichkeiten zu verwirklichen, bald wieder, daß er das Schicksal eben schlicht auf sich nehme. Immer aber ist jede Situation ausgezeichnet durch jene Einmaligkeit und Einzigartigkeit, die jeweils nur eine, eine einzige, eben die richtige „Antwort“ auf die Frage zuläßt, die in der konkreten Situation enthalten ist.“

Es ist zugleich doppelte Einzigartigkeit aus Situation und Mensch aus welcher eine nicht wegzudelegierende Verantwortung für den einzelnen Menschen folgt (Frankl 2009, S. 177): „[…] jene Einmaligkeit und Einzigartigkeit, die jeden einzelnen Menschen auszeichnet und jedem einzelnen Dasein erst Sinn verleiht, […] ist jedoch das, was – zu Bewußtsein gebracht – die Verantwortung, die der Mensch für sein Leben […] trägt, so recht in ihrer ganzen Größe aufleuchten läßt. Ein Mensch, der sich dieser Verantwortung bewußt geworden ist, […] ein solcher Mensch wird nie imstande sein, sein Leben hinzuwerfen. Er weiß eben um das „Warum“ seines Daseins – und wird daher auch fast jedes „Wie“ zu ertragen vermögen.“

Es gibt aber nicht nur ein Wie, sondern auch ein Warum. Frankl (2017) nennt in einer Rede vier Möglichkeiten, generell zu einem sinnhaften Verhalten zu finden: • Sinn durch eine gestaltende Tat setzen, durch das Schaffen eines Werkes, durch die Arbeit um einer Sache willen, • Sinn durch Erleben schaffen, beispielsweise in den Bereichen Natur, Kultur oder Musik, • Sinn durch Begegnungen mit anderen Menschen schaffen, hierbei im Gegenüber den Menschen sehen und als weitere Stufe im anderen die Person sehen, • Sinn durch das Sichtbarwerden eigener Haltung, d. h. durch das Durchstehen von Leiden oder schwierigen Situationen.

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Übertragen auf die Digitalisierung, zeigt Frankl damit auf, dass der Mensch nicht zum Lückenbüßer dessen wird, was die Digitalisierung als noch nicht reproduzierbar übrig gelassen hat. Vielmehr gilt in merkwürdiger Kongruenz zwischen den Möglichkeiten zu sinnhaftem Verhalten und nicht digital reproduzierbarer Kompetenzen, dass gerade dort, wo Sinn für den Menschen schon immer und gerade für den digitalen Menschen auch heute noch wurzelt, nicht nur heute, sondern auch in Zukunft keine Digitalisierung vordringen wird. Das eigentliche Menschliche ist durch die Digitalisierung eben weiterhin nicht zu reproduzieren: „Of course, we speak about autonomy, machine learning, independence in terms of decisions. But let us not forget that if there is any problem behind what robots do or will do, it will be a human problem. What I’m worried about are not the robots and therefore their dignity, I’m worried about the human development and use of robots when done in the wrong way. So, robot’s dignity, it will be like the dignity of my fridge.“ (Floridi 2018)

Eine Verzweiflung und Sinnlosigkeit aus der heutigen Situation, ein Verlieren in der Belanglosigkeit überflüssiger digitaler Ablenkung, ist selbstverschuldete Unmündigkeit, die scheinbar ubiquitäre digitale Kommunikation vergötzt. Die Aufgabe von Bildung ist es darum, bewusst zu machen, dass es auch heute noch für jeden Einzelnen darauf ankommt, sich zu der Situation der Digitalisierung richtig zu verhalten, in die er oder sie gestellt ist, um so den Ausgang aus dieser Unmündigkeit zu ermöglichen. Digitalisierung ist hierbei lediglich ein Instrument, welches es gestaltend zu nutzen gilt. Die Möglichkeiten, dieses in einer Hochschule zu zeigen, sind vielfältig. Sie liegen in Forschern, welche gestaltend sinnvolle Werke setzen, d. h. mithilfe der Digitalisierung kreativ neue Möglichkeiten erschließen, um aus dieser Wirklichkeit etwas zu machen. Sie liegen in der Erschließung von Erlebnissen, bei denen sich die virtuelle und die reale Welt für Studierende sinnhaft ergänzen (Floridi 2018), die deren Leben veredeln und die so einprägsam sind, dass sie sich an diese auch noch lange nach dem Studium erinnern. Sie liegen in Lehrern und Verwaltungsangestellten, die ihren Studierenden in prägender Weise durch ihr Verhalten begegnen, indem sie ihre Studierenden in Lehrveranstaltungen, in jedem persönlichen Gespräch, in jeder E-Mail niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandeln. Und zuletzt liegen sie in der Haltung jedes Einzelnen, mit der dieser seine persönlichen Situation an der Hochschule und dem, womit er konfrontiert wird, sichtbar begegnet. Hier Beispiel zu sein und als Vorbild voranzugehen, wird ein Schlüssel für Studierende repräsentieren, ihren weiteren Lebensweg ebenfalls sinnvoll und bewusst als Menschen auch in einem digitalen Zeitalter zu gestalten.

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Bildungsinstitutionen, die dergestalt ihren Studierenden dienen, werden ihre Studierenden dankbar sein. Sie werden auch wirtschaftlich erfolgreich sein, doch nicht wirtschaftlicher Erfolg wird ihr höchstes Ziel darstellen, sondern der Ausgang möglichst vieler Menschen aus einer nur scheinbar digital verschuldeten ­Unmündigkeit.

13.5 Fazit Die digitale Transformation wird eine umwälzende Umgestaltung der menschlichen Realität in den nächsten Jahren bewirken. Schlüssel für ein Verständnis der Konsequenzen einer solchen Transformation für Institutionen höherer Bildung ist, zu fragen, was diese Transformation für den zu bildenden Menschen bedeutet. Der vorliegende Aufsatz zeichnet darum zunächst nach, wie an drei zentralen Wendepunkten der Menschheitsgeschichte, der Entstehung Griechenlands als einer Wiege des Abendlandes, der Aufklärung als einer conditio sine qua non des modernen Menschen und der industriellen Revolution als einer prägenden Kraft der Arbeitswelt, philosophisch auf Transformationen reagiert wurde. Hernach isoliert er Kernelemente der digitalen Transformation, welche geeignet sind, den Menschen erneut umzuprägen, bevor er aufzeigt, welche Rolle Hochschulen für die Bildung des Menschen in einem digitalen Zeitalter spielen könnten.

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Prof. Dr. Markus Grottke,  Jahrgang 1978. 2000–2005 Studium der Betriebswirtschaftslehre mit Abschluss als Diplom-Kaufmann und 2002–2007 Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft mit Abschluss als Magister, beides an der Universität Passau mit jeweils Bestnote. 2012 interdisziplinäre Promotion zum Dr. rer. pol. zum Thema der Lageberichtsanalyse an der Schnittstelle zwischen Rechnungswesen, Strukturalismus und Kriminalistik. 2011 bis 2013 Startup vI verbal Intelligence Gmbh zur Umsetzung der in der Dissertation entwickelten Analysemethodik in Software. Kumulative Habilitation an der Universität Passau von 2012 bis 2018 an den Lehrstühlen für Taxation und Controlling mit Schwerpunkten in Komplexität und Digitalisierung. Von 2016 bis August 2018 tätig an der SRH Hochschule Heidelberg (Campus Calw) als Professor für ABWL mit Schwerpunkt Controlling & Digitalisierung. Seit September 2018 Prorektor für Forschung und Innovation und Professor für ABWL mit dem Schwerpunkt Digital Business an der AKAD University.

Digitalisierung geht unter die Haut – Perspektiven eines Cyborgs

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Enno Park

Inhaltsverzeichnis 14.1  14.2  14.3  14.4  14.5  14.6  14.7  14.8 

Der Cyborg ..........................................................................................................  243  er Patient als Cyborg.........................................................................................  244 D Beispiel Cochlea-Implantat .................................................................................  245 Bodyhacking........................................................................................................  247 Brain-Computer-Interfaces..................................................................................  249 Wearables.............................................................................................................  250 Transhumanismus................................................................................................  251 Inklusion und Empowerment...............................................................................  252

14.1 Der Cyborg Der Begriff des Cyborgs wurde erstmals 1960 vom Neurophysiologen Manfred Clynes und dem Psychiater Nathan S.  Kline im Kontext der Raumfahrt geprägt. Sie schlugen die technische Modifikation des Menschen zum Zwecke des Überlebens im Weltraum vor. Das Raumschiff wird dabei als kybernetisches System betrachtet und der Mensch als Teilsystem, das darin zu funktionieren hat. Solange der begriffliche Schwerpunkt beim Funktionieren in einem kybernetischen System lag, war der Cyborg ein zutiefst totalitärer Begriff, was sich auch in zahlreichen Cyborg-­Figuren der E. Park (*) Cyborg Verein Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_14

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Popkultur niederschlug, etwa Robocop oder den Borg bei Star Trek. In vielen dieser Geschichten erkennen die Cyborgs, dass sie Werkzeuge sind und lehnen sich auf mehr oder weniger subversive Art gegen das System auf, dessen Teil sie sein sollen. Das geschieht nicht durch Ablegen der Technik, sondern durch ihre gezielte Nutzung und gipfelte in den Cyberpunk-Fantasien der 1980er-Jahre. Die Nutzung implantierter Technik wird in diesen Geschichten von einem Akt der Unterdrückung zu einem Akt der Emanzipation. 1985 deutete die Philosophin Donna Haraway den Begriff um. Sie verwendet den Cyborg als Metapher für ein Wesen, das sich selbst modifizieren und somit auch definieren kann. Ein Cyborg unterläuft gängige Dualismen, wie „männlich vs. weiblich“, „Technik vs. Natur“ oder „Subjekt vs. Objekt“, und erreicht dadurch einen besonderen Grad an Freiheit. Mit Aufkommen der Vorstellungen eines Anthropozäns, in dem der Mensch grundlegend die Umwelt gestaltet, gewinnt die Idee des Cyborgs an Popularität. Statt die Umwelt zu verändern, solle der Mensch sich selbst verändern. Der Cyborg ist eine Betrachtungsweise des Menschen als ein Wesen, das in biologische, soziale und technische Systeme eingebettet ist. Statt biologische, soziale und technische Bindungen zu verneinen, macht sich ein Cyborg diese Einbettung bewusst. Er bekämpft sie nicht im Sinne einer vergeistigten Weltverachtung, einer individualistisch-neoliberalen Verneinung des Gesellschaftlichen oder eines technikfeindlichen Luddismus, sondern erkennt diese vielfachen Bindungen an und versucht, sich selbst und die Systeme, in die er eingebettet ist, emanzipatorisch zu manipulieren – man könnte vielleicht sagen: zu hacken.

14.2 Der Patient als Cyborg Betrachtet man die Fortschritte in Prothetik und Implantationsmedizin, scheint der Cyborg jenseits philosophischer Überlegungen als im Wortsinne technisch-­ menschliches Mischwesen zum Greifen nah. Tatsächlich behandelt die moderne Medizin immer mehr Erkrankungen und Behinderungen im Stile einer technischen Reparatur mit Ersatzteilen und beschränkt sich dabei längst nicht mehr auf Spenderorgane. Eine der ältesten Techniken dieser Art ist der Herzschrittmacher, der längst nicht mehr einfach nur per elektrischem Impuls dem Herzen einen Takt vorgibt, sondern den Puls misst, drahtlos von außen programmierbar ist und über das Internet einen Notruf absetzen kann, sollte die Herzfunktion des Patienten alarmierende Muster aufweisen. Insulinpumpen ersetzen die Funktion der Pankreas und versorgen den Körper kontinuierlich mit der nötigen Menge Insulin. Fortgeschrittene Modelle reagieren dabei automatisch auf Werte wie den Blutzuckerspiegel. Hier handelt es sich

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um einen geschlossenen, automatischen Regelkreis und somit um ein klassisches kybernetisches System, ähnlich wie der automatischen Regelung einer Heizungsanlage. Ohne eine solche Interaktion mit dem Körper übernehmen passive Ersatzteile die Funktionen des Skeletts, etwa künstliche Hüftgelenke oder auch Zahnimplantate. Besonders aufsehenerregend sind Implantate, die mit dem Nervensystem interagieren: Retina-Implantate bestehen aus einem Fotochip, ähnlich wie in einer Digitalkamera. Sie werden direkt in den Augapfel implantiert. Allerdings erlauben sie nach heutigem Stand nur ein rudimentäres Sehen in sehr geringer Auflösung und in Schwarzweiß. Und schließlich mildern Hirnimplantate per tiefer Hirnstimulation die Symptome einer Parkinsonerkrankung und in seltenen Fällen auch einer Depression. Experimentelle Hirnschnittstellen erlauben es außerdem, ersten vollständig gelähmten Patienten einen Roboterarm zu steuern. Auf ähnliche Weise funktionieren myoelektrische Prothesen. Künstliche Gliedmaßen, die beispielsweise amputierte Hände ersetzen, können bereits von den Patienten ähnlich wie ihre natürliche Hand bewegt werden. Dabei werden allerdings nur in Ausnahmefällen Hirn- oder Nervenimpulse ausgewertet, sondern elektrische Impulse in der Restmuskulatur, etwa des Armstumpfes. Die Agilität solcher Prothesen kommt aber bei Weitem nicht an das natürliche Vorbild heran, reicht aber, um sich etwa die Schuhe zuzubinden. Immerhin bieten erste Modelle einen Feedbackkanal, der es den Trägern einer Prothese erlaubt, mit ihr nicht nur zu greifen, sondern auch zu spüren. All diese Entwicklungen beflügeln die Fantasie für eine mögliche Cyborgzukunft, die dem Menschen nicht nur medizinische Ersatzteile zur Verfügung stellt, sondern irgendwann auch technische Erweiterungen des Körpers zur Steigerung der Leistungsfähigkeit. Betrachtet man, wie sich eine Handprothese, anders als die natürliche Hand, wie ein Akkuschrauber permanent um 360 Grad drehen lässt, erlebt man erste Anklänge einer solchen möglichen C ­ yborgzukunft.

14.3 Beispiel Cochlea-Implantat Das vielleicht prominenteste Beispiel für die Implantation von Ersatzteilen in den menschlichen Körper ist schon wegen seiner weiten Verbreitung das Cochlea-­ Implantat. Ein Elektrodenträger wird operativ in die Cochlea des gehörlosen oder schwerhörigen Patienten eingeführt. Er ist mit einem Empfänger verbunden, der in einer Aussparung Platz findet, welche in den Schädelknochen gefräst wird. Dieser Empfänger nimmt elektrische Signale drahtlos von einem Soundprozessor entgegen, der wie ein Hörgerät hinter dem Ohr getragen wird. Dieser Prozessor nimmt permanent den Umgebungsschall auf und konvertiert ihn in elektrische Impulse.

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Mehrere Elektroden stimulieren die in der Cochlea aufgefächerten Enden des Hörnervs elektrisch und ersetzen so die natürliche Stimulation durch die Haarzellen. Auf diese Weise lassen sich zahlreiche Formen von Hörverlust behandeln, solange der Hörnerv selbst noch intakt ist. Das künstliche Hören wird von den Patienten als fremdartig, roboterhaft oder sphärisch empfunden. Allerdings benötigen die Patienten eine Gewöhnungszeit, die oft mit intensivem Hörtraining einher geht. Wenn das Gehirn sich an das neue, zunächst fremdartige Signal gewöhnt hat, können viele Patienten den Höreindruck des Cochlea-Implantates kaum noch vom natürlichen Hören unterscheiden und besuchen beispielsweise mit Genuss Musikkonzerte. Einen solchen Hörerfolg erzielen jedoch nicht alle Patienten. Insbesondere gehörlos geborene Menschen erreichen auch mit Cochlea-Implantat nur selten ein ausreichendes Sprachverständnis. Das liegt daran, dass sich die zur Verarbeitung des Gehörten notwendigen Hirnstrukturen im auditiven Cortex während der frühkindlichen Entwicklung wegen ausgebliebener Stimulation nicht entwickeln konnten. Trotz der allgemeinen Plastizität des Gehirns ist diese Entwicklung von den meisten Menschen im Erwachsenenalter nicht mehr aufzuholen. Interessant ist das Cochlea-Implantat, weil es sich nicht um eine einfache Hörprothese handelt, die eins zu eins den Umgebungsschall auf den Hörnerv überträgt. Der Prozessor verwendet beim Konvertieren der Schalleindrücke in elektrische Reize ein psychoakustisches Modell. Es soll dafür sorgen, dass insbesondere Sprache gut verstanden wird. Diverse Filter erlauben die Veränderung des Höreindruckes, etwa das automatische Unterdrücken von Störschall oder auch das Anheben besonders leiser Töne. Die verschiedenen Einstellungen werden individuell zu vier Programmen zusammengestellt, zwischen denen die Träger eines Cochlea-­ Implantates wechseln können. Hinzu kommt die Möglichkeit, permanent die Lautstärke nach eigenen Bedürfnissen anzupassen oder auch das Implantat ganz abzuschalten, um die Stille zu genießen. Ein Cochlea-Implantat ist also nicht als einfaches Ersatzteil zu betrachten, sondern als Enhancement, als Erweiterung der natürlichen Körperfunktionen. Dieses Enhancement ist allerdings kein schlichtes „Supergehör“. Einschränkungen bei der Klangqualität, der Dynamik und im hörbaren Frequenzspektrum führen dazu, dass ein Träger eines Cochlea-Implantates verglichen mit dem natürlichen menschlichen Gehör behindert bleibt, sein Gehör aber in einigen Situationen dem eines Normalhörenden überlegen sein kann. An dieser Stelle zeigt sich die Ambivalenz des Enhancements. Vorteile werden immer auch mit Nachteilen erkauft. Betrachtet man jenseits des Cyborg-Hypes moderne Implantate und Prothesen, werden deren Mängel deutlich. Sie sind weiterhin auf eine externe Stromquelle angewiesen, statt über den biologischen Stoffwechsel mit Energie versorgt zu werden. Anders als natürliche Körperteile können sie im Fall von Beschädigungen nicht heilen, allerdings ist der Austausch eines

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Ersatzteiles im Falle von Defekten oftmals wesentlich einfacher als eine medizinische Behandlung. Obwohl sie in Teilbereichen ein Enhancement darstellen, würde kaum jemand auf die Idee kommen, ein gesundes Körperteil zur Leistungssteigerung durch eine Prothese oder ein Implantat zu ersetzen. Die genannten Mängel sind so fundamental, dass sich trotz der rasanten technologischen Entwicklung auf Jahre und Jahrzehnte hinaus daran wenig ändern dürfte. So sehr aktuelle Prothesen an die Verwirklichung von Cyberpunk-Visionen erinnern, bleiben letztere bis auf weiteres Science-Fiction.

14.4 Bodyhacking Der ernüchternde Stand der Technologie hält allerdings diverse Hackergruppen nicht davon ab, Bodyhacking zu betreiben. Gruppen wie Grindhouse Wettware in Pittsburgh oder Bionyfiken in Stockholm experimentieren mit nicht medizinischen Implantaten. Deren Funktionsumfang lässt derzeit noch zu wünschen übrig. Am meisten verbreitet sind reiskorngroße passive RFID- oder NFC-Implantate (RFID engl.: radio-frequency identification, NFC engl.: Near Field Communication) die mit geringem Aufwand und Risiko unter die Haut gespritzt werden können, zumeist in das Gewebe zwischen Daumen und Zeigefinger. Diese Implantate stammten zunächst aus der Tierarzt-Praxis und erlauben die Identifikation ihrer Träger. Sie sind in der Lage, alle Funktionen zu übernehmen, für die heute passive Chipkarten genutzt werden: Identifikation, Payment, Bezahlen im öffentlichen Nahverkehr, Öffnen von Türen mit passender Schließanlage und dergleichen mehr. Die dahinter stehende Vision ist durchaus attraktiv: Der Chip ersetzt Schlüssel und Portemonnaie, die nicht mehr herumgetragen werden müssen und somit auch nicht mehr so leicht verloren gehen können. Allerdings fehlt für den sinnvollen Einsatz dieser Technik noch eine hinreichend ubiquitäre Infrastruktur. Selbst das ­Entsperren eines Smartphones ist damit eher unpraktisch, da hierfür immer beide Hände gebraucht werden. Wer mit Einkaufstüte oder Kaffeebecher unterwegs ist, hört nach einiger Zeit auf, sein Telefon mit dem implantierten Chip zu entsperren und kehrt zu Bedienungsformen zurück, für die lediglich der Daumen der Hand benötigt wird, in der das Telefon gehalten wird. Gegen die Verwendung von implantierten NFC-/RFID-Chips spricht derzeit auch die mangelhafte Sicherheit solcher Systeme. Es ist zu leicht, entsprechende Chips einfach zu kopieren. Interessant könnte es werden, sie zu verwenden, um besonders wichtige Daten quasi im eigenen Körper zu speichern. Dafür reicht die Speicherkapazität der momentan erhältlichen Chips mit wenigen hundert Byte nicht aus, was sich allerdings schnell ändern könnte.

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Beliebt als eine Form des Piercings ist ein Magnet in der Fingerkuppe. Der hilft nicht nur dabei, heruntergefallene Schräubchen aufzuklauben sondern macht elektromagnetische Felder in bestimmten Frequenzbereichen per Vibration spürbar. Das ist eine interessante Sinneserfahrung, schließlich hat der Mensch seine Umwelt mit zahlreichen solchen Feldern angereichert, ohne ein Sinnesorgan zu besitzen, diese zu erspüren. Gegen die Implantation von Magneten sprechen erste Berichte, wonach solche im Körper zerbrochen sind, was zu einer Exposition von Körpergewebe mit Schwermetallen führt. Die gesundheitlichen Folgen sind derzeit noch unbekannt. Weitere Projekte von Hackergruppen sind zeitweilig implantierte Geräte zur Überwachung von Körpertemperatur, LEDs die unter der Haut leuchten können oder die per Vibration die Himmelsrichtung anzeigen. Ihr Funktionsumfang ist derzeit noch sehr eingeschränkt. Sie dienen weniger einem konkreten Nutzen, sondern sind als Pionierleistung einer Hackerszene zu betrachten, die zeigen möchte, dass der Bau und Betrieb solcher Implantate auch jenseits gut ausgestatteter Labore in Forschungsprojekten möglich ist. Derzeit teilen fast alle nicht medizinischen Implantate die Eigenschaft, nicht in kybernetische Interaktion mit Körperfunktionen zu treten. Streng genommen sind die meisten also trotz Implantation keine Cyborg-­ Devices wie einige medizinische Implantate oder Prothesen. Deshalb wenden sich einige Hackergruppen den medizinischen Prothesen und Implantaten zu. Sie folgen dabei einer Hackerethik, wonach Information frei zu sein hat. Das gilt besonders, wenn das besagte Stück Technik permanent im oder am Körper getragen wird. Diese Gruppen interessieren sich für das Enhancement bereits bestehender Cochlea-Implantate. So sollte es beispielsweise möglich sein, ein Cochlea-Implantat so umzuprogrammieren, dass sich damit auch Ultraschall wahrnehmen ließe. Ein weiterer Fokus der Hackergruppen liegt auf möglichen Sicherheitslücken. Die Sicherheitsexpertin Marie Moe ist unzufrieden damit, die genaue Funktionsweise ihres Herzschrittmachers nicht zu verstehen und möchte ihn deshalb analysieren. Unter dem Motto „Break my heart“ rief sie die internationale Hacker-Community dazu auf, sie beim Hacken ihres Implantates zu unterstützen. Weitere Gruppen besetzen Lücken des Sozial- und Krankenversicherungssystems. Da Insulinpumpen nicht allen Diabetespatienten weltweit gleichermaßen zur Verfügung stehen, entwickelte die Betroffene Dana Lewis selbst ein solches System auf Basis eines Smartphones und veröffentlichte die Anleitung und nötige Software dazu als Open Source im Internet. Dementsprechend bieten Hackerspaces in Entwicklungsländern ohne funktionierendes Gesundheitssystem Menschen die Möglichkeit, per 3-D-Drucker selbst entworfene Prothesen für fehlende Gliedmaßen zu drucken.

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14.5 Brain-Computer-Interfaces Aufsehenerregende Verlautbarungen wie die von Elon Musk, eine Gehirn-Schnittstelle entwickeln zu wollen, täuschen über den tatsächlichen Stand der Technik hinweg. Bis heute ist unverstanden, wie Gehirn und Nerven kommunizieren. Zwar sind die zugrunde liegenden Funktionsprinzipien der Kommunikation mittels elektrischer Impulse und chemischer Botenstoffe samt passender Rezeptoren bekannt. Auch der Aufbau neuronaler Netze lässt sich im Computer imitieren, was zu erstaunlichen Erfolgen mit selbstlernenden Systemen führt. Diese Systeme als „künstliche Intelligenz“ zu bezeichnen, greift aber zu hoch, letztlich handelt es sich um automatisierte Mustererkennung. Bis heute ist es nicht möglich, Hirnaktivität zu dekodieren im Sinne des Gedankenlesens. Genauso wenig können Gedanken oder Wissen mit passenden Schnittstellen in ein Gehirn induziert werden. Die Idee einer Schnittstelle, mit der sich Kenntnisse und Fähigkeiten einfach ins Gehirn hochladen ließe, liegt genauso in weiter Ferne, wie die Vorstellung eines Mind-Uploads und das Weiterleben des Individuums als Simulation auf einem Computer. Transhumanisten, die solche technischen Möglichkeiten für die nähere Zukunft vorhersagen, setzen dafür das Auftreten einer künstlichen Hyperintelligenz zur Jahrhundertmitte voraus, die dieses Problem für uns lösen soll. Heutige Brain-Computer-Interfaces sind Hauben mit Elektroden, die Hirnströme messen können. Einfache Modelle sind auch im Design eines Stirnreifes erhältlich. Ein hinreichend schneller Computer ist heute in der Lage, in Kombination mit etwas Trainingszeit die damit ausgelesenen Hirnwellen zu verwenden, um etwa ein Computerspiel zu steuern. Dabei werden aber keine Gedanken mit ihrem Sinngehalt erfasst, sondern nur Muster verglichen. Genauer arbeiten Hirnschnittstellen, die ins Gehirn implantiert werden. Damit ist es zum Beispiel gelähmten Menschen möglich, einen Roboterarm zu steuern. Wegen der permanent offenen Wunde ist ein solches System aber bis auf Weiteres nicht alltagstauglich. Aber nicht nur lesend wird versucht, auf das Gehirn zuzugreifen, sondern auch schreibend. Implantate zur tiefen Hirnstimulation sind in der Lage, durch elektrische Impulse die Funktion bestimmter Hirnareale zu triggern oder zu unterdrücken. Dabei sind sie allerdings äußerst ungenau. Auch hier ist nicht genau bekannt, welche Information in welche Nervenzellen gegeben werden müsste. Stattdessen wird ein größeres Areal stimuliert und das Beste gehofft, was mal mehr mal weniger gut funktioniert. Auch das Cochlea-Implantat kennt nicht die Art und Weise, wie Klanginformation über den Hörnerv transportiert werden soll. Es stimuliert einfach nur Nervenenden des Hörnervs. Für einen hohen Ton werden diejenigen Nervenenden stimuliert, die eher außen in der Cochlea liegen und für hohe Töne

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zuständig sind, für tiefere Töne werden entsprechend andere Nervenenden weiter im Innern der Cochlea stimuliert. Diese Beispiele zeigen, dass die technologische Entwicklung große Fortschritte macht, wenn es um die Koppelung des Nervensystems mit elektronischen Systemen geht, die fundamentalen Fragen dabei aber ungeklärt sind und dies auch bis auf Weiteres bleiben. Ob und wann sich das ändert, kann derzeit niemand seriös beantworten. Big-Data-Systeme mit starker Mustererkennung sind sicherlich ein Schritt hin zur Dekodierung der Kommunikation im Nervensystem. Die gängigen Vorstellungen, die mit Hirn-Schnittstellen einhergehen, bleiben jedoch auf lange Sicht Science-Fiction.

14.6 Wearables Die Implantation von Technik ist keine Voraussetzung dafür, einen Menschen als Cyborg zu betrachten, sondern seine Einbettung in technische Systeme. Vielleicht ist das der Grund, warum sich jenseits des medizinischen Bereiches bisher keine nennenswerten Implantate oder Prothesen auf dem Markt finden. Der Markt stellt sie durchaus bereit, allerdings in Form von Wearables. Zum einen werden Sensoren etwa von Fitnessarmbändern genutzt, um permanent Körperdaten zu gewinnen, anhand deren Auswertung das Verhalten optimiert werden soll. Zum anderen erweitern technische Geräte die Sinne und verlieren dabei den Charakter eines punktuell einzusetzenden Werkzeugs. Das Gerät der industriellen Revolution war die Armbanduhr. Sie wurde nötig, als die industrielle Taktung der Zeit einen verfeinerten Zeitsinn erforderlich machte, den der Mensch von Natur aus so nicht besitzt. Die Armbanduhr verschafft dem Menschen diesen Zeitsinn. Sie wurde zumindest tagsüber permanent von nahezu allen Menschen getragen, was sich in dem Ausmaß über kein anderes nicht medizinisches, technisches Gerät sagen lässt. Erst die digitale Revolution bringt wieder ein solches ständig getragenes Gerät hervor: das Smartphone, das zugleich auch die Armbanduhr weitgehend wieder verdrängt. Auch das Smartphone kann als externes Sinnesorgan betrachtet werden. Nicht nur für die Zeit, sondern auch für das Internet mit seinen vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten. Wie die Armbanduhr für Pünktlichkeit sorgte, die im Sozialleben seit der Industrialisierung eine große Rolle spielt, ist auch das Smartphone schon fast eine Voraussetzung zur Teilnahme am Sozialleben einer digitalisierten Gesellschaft. Fällt das Smartphone aus, stellt sich ein Unwohlsein ein, das mit den Begriffen Sucht und Entzug nur unzureichend beschrieben ist.

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Betrachtet man diese Wearables, wird schnell deutlich, dass Implantation fast immer eine schlechte Designentscheidung ist. Energieversorgung, Reparatur, Ersetzen durch neuere Modelle sind ohne chirurgische Eingriffe nicht möglich. Implantation scheint nur dann Sinn zu ergeben, wenn man tatsächlich an Funktionen des menschlichen Körpers herankommen möchte, die von außen nicht zugänglich sind. In allen Bereichen außer dem medizinischen, ist also nicht das Implantat, sondern die Prothese das Vorbild für den Bau von Cyborg-Devices. Auch für die Entwickler und Anbieter ergibt Implantation wirtschaftlich meist wenig Sinn. Zwar ließe sich per Implantation ein ungeahntes Ausmaß an Kundenbindung erzielen, was Hersteller von Cochlea-Implantaten durchaus für ihre Preisgestaltung ausnutzen. Allerdings sind Implantationen dauerhafter Natur und werden aus naheliegenden Gründen des chirurgischen Eingriffs nur selten durchgeführt. Energieversorgung und Informationsaustausch mit dem Implantat wären durchaus drahtlos per Induktion denkbar, aber Anbieter von technischen Geräten müssen nicht nur solche Probleme lösen und Kosten der Implantation einkalkulieren, sondern nehmen sich auch die Möglichkeit, regelmäßige Upgrades und Nachfolgemodelle zu verkaufen. Der einzige nennenswerte Markt bildete sich um RFID-/NFC-Implantate, von denen in Deutschland einige tausend verkauft und implantiert wurden. Diesen Implantaten fehlen aber im Moment noch Geschäftsmodelle zur weiteren Monetarisierung jenseits des Verkaufs des eigentlichen Implantates. Die Schaffung einer Infrastruktur, etwa in Form von Payment-Lösungen und passenden Schließanlagen an jeder Tür, ließen sich zwar schaffen, müssten aber allumfassend sein. Erst wenn man wirklich gar keinen Schlüssel oder anderen Gegenstand mehr bei sich tragen muss, fängt der Chip in der Hand an, für dessen Träger bequem zu werden. Kunden, die sich darauf einlassen, verlieren Flexibilität. Eine RFID-Karte, die den Zutritt zu einem Gebäude oder die Fahrt im ÖPNV erlaubt, kann zur Not weitergegeben werden, auch wenn dies nicht gestattet ist. Mit einem Chip geht das nicht. Die Kontrollmöglichkeiten steigen also, ohne dass dem ein gesteigerter Nutzen für die Kunden gegenüberstünde.

14.7 Transhumanismus Mit weitergehenden technischen Möglichkeiten des Human Enhancement gehen massive politische und gesellschaftliche Herausforderungen einher. Bestimmend für die Diskussion ist die Sorge, dass alle gezwungen werden, mitzumachen, um mithalten und am Sozialleben teilnehmen zu können. Schon wenn es um Implantation geht, stößt der Gedanke an eine ethische Grenze, weil viele Menschen einen

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starken Sinn für die Integrität ihres Körpers haben, die nicht verletzt werden soll. Wer selber kein Problem mit der Implantation von Technik hat, muss dennoch den Mitmenschen zubilligen, dass sie ein Problem damit haben. Transhumanistische Visionen der immer weiter gehenden Optimierung und womöglich Selbstüberwindung des Menschen lassen eine tief gehende Spaltung von Gesellschaften befürchten, sollten sie wahr werden: Eine Oberschicht, die die technischen Mittel besitzt, sich zu enhancen und zu optimieren und eine Unterschicht, die das nicht kann oder will. Das wäre keine neue Entwicklung. Tatsächlich sind Wohlstand, Bildungschancen und soziales Kapital heute schon so ungleich verteilt, dass nur noch bedingt von allgemeiner gesellschaftlicher Teilhabe gesprochen werden kann. Diese Schere dürfte sich mit der Verbreitung von Enhancement-­Techniken noch weiter öffnen. Mit dieser möglichen Entwicklung beschäftigt sich die heterogene Denkrichtung des Transhumanismus. Doch statt Antworten auf die hier und heute bestehenden Fragen zu den gesellschaftlichen Folgen von Technik zu geben, beschäftigt er sich vor allem mit der möglichen Transzendenz des Menschen in ein trans- oder posthumanes Wesen. Sozialen Fragestellungen wird überwiegend mit einem technischen Solutionismus begegnet. Im Fall von ungelösten technischen Problemen wird auf die Zukunft verwiesen und da insbesondere auf das Eintreten der technologischen Singularität, die quasi alle technischen Probleme samt ihrer sozialen Folgen lösen soll. In ihrer Heilserwartung ähneln die Singularitaner einer religiösen Bewegung. Die Vorstellungen vom Eintreten der technologischen Singularität, den sich anschließenden paradiesischen Zuständen und der per Mind-Upload erzielten Unsterblichkeit ähneln stark christlichen Ideen der Apokalypse, der Wiederkehr des Reich Gottes und des ewigen Lebens im Paradies. Dabei ist auffällig, dass es sich beim Transhumanismus, gemessen an seinen Vertretern um ein Projekt der weißen, männlichen Mittel- und Oberschicht handelt. Insbesondere die Auswirkungen auf sozial benachteiligte Schichten und ihre Probleme werden weitgehend ausgeblendet. Wer hier Antworten auf die Fragen erwartet, die die konkreten Folgen technologischer Entwicklung aufwerfen, wird eher enttäuscht.

14.8 Inklusion und Empowerment Eine einfache Antwort könnte das Verbot aller oder bestimmter Enhancements sein. Solche Verbote sind jedoch kritisch einzustufen, unterbinden sie doch den technischen Fortschritt, verhindern sie die emanzipatorische Nutzung von Technik und führen per Kriminalisierung dazu, dass nur diejenigen sich illegalerweise enhancen, von denen die Gesellschaft das am wenigsten möchte. Für die Lösung

14  Digitalisierung geht unter die Haut – Perspektiven eines Cyborgs

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dieses Dilemmas lassen sich Konzepte der Disability Studies auf die Gesamtgesellschaft anwenden: Inklusion und Barrierefreiheit. Hier besteht die Aufgabe für die Gesellschaft darin, behinderten Menschen eine möglichst umfängliche, selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen. Dies passiert mit einer Mischung aus Emanzipation und technischen Hilfsmitteln, Assistenz und barrierefreier Umgestaltung des öffentlichen Raumes. Dabei stehen sich die beiden Grundgedanken Empowerment und Inklusion scheinbar unversöhnlich gegenüber. Während das Ideal der Inklusion ist, alle Menschen so zu inkludieren wie sie sind, setzt Empowerment darauf, den Menschen so zu verändern, dass er zum eigenständigen Handeln ermächtigt wird. Der Konflikt zwischen diesen beiden Denkarten lässt sich anhand des Cochlea-Implantates sehr gut beobachten. Das Cochlea-Implantat ist ein Instrument des Empowerments. Die Gehörlosen sollen damit selber (wieder) hören und auf diese Weise am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Inklusiv ist der Gedanke allerdings nicht. Der inklusionistische Ansatz wäre die Bereitstellung von Assistenz: Möglichst überall sind Gebärdensprache-Dolmetscher einzusetzen, Medien müssen mit Untertiteln versehen werden usw. Dieser Streit, der unter anderem von Gehörlosen jahrelang sehr konkret geführt wurde, kann nicht in die eine oder andere Richtung entschieden werden. Untertitel und Gebärdensprache werden den Bedürfnissen vieler Spätertaubter genauso wenig gerecht wie ein Cochlea-Implantat den meisten gehörlos geborenen Menschen. Die Antwort kann nur ein gleichberechtigtes Nebeneinander beider Ansätze sein, gepaart mit individuellen Wahlmöglichkeiten. Auch wenn die Umsetzung von Inklusion, Barrierefreiheit und Empowerment für behinderte Menschen stark zu wünschen übrig lässt, ließe sich das Konzept dennoch auf eine Gesellschaft übertragen, die ein Nebeneinander von qualitativ wie quantitativ unterschiedlich enhancten Menschen, gar nicht enhancten Menschen bis hin zu körperlich eingeschränkten und behinderten Menschen organisieren muss. Auf Behinderte bezogen umfassen diese Konzepte beispielsweise Zusatzleistungen wie Untertitel, Designentscheidungen wie Rampen und Aufzüge und Bereitstellung von Assistenz. Sie müssten gesamtgesellschaftlich erweitert werden auf die Nutzung sämtlicher Infrastrukturen, auch durch Menschen, die ein Enhancement verweigern oder bei denen ein Enhancement nicht möglich ist. Eine technische Einrichtung muss in diesem Sinne immer so gestaltet werden, dass sie auch ohne weitere Hürden von behinderten Menschen, Menschen ohne Smartphone oder Menschen ohne Chip-Implantat genutzt werden können. Oder es muss eine alternative technische Einrichtung vorhanden sein, auf die bestimmte Personengruppen ausweichen können. Dieses Konzept betrifft nicht nur Technik, sondern ist auf sämtliche gesellschaftliche Bereiche auszudehnen: Bildung, Arbeit, Politik, Kultur, Sozialleben. Zwar ist Inklusion bereits heute und in Bezug auf behinderte Menschen ein

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Ideal, das niemals ganz erreicht werden kann, aber das ist auch nicht nötig. Es wird immer Teilbereiche geben, die nicht allen zugänglich sind, so wie es Berufe gibt, für die Menschen bestimmte körperliche Voraussetzungen mitbringen müssen. Wichtig wäre bei der Gestaltung einer solchen Gesellschaft nur, hinreichend viele Alternativen zu schaffen, die ein selbstbestimmtes Leben für alle Teilnehmer ermöglichen. Ein solches gesellschaftliches Umfeld würde es allen ermöglichen, sich individuell frei für oder gegen den Einsatz von Technik und die Art ihrer Verwendung in allen möglichen Aspekten immer neu zu entscheiden.

Enno Park  ist seit 2013 Gründungsmitglied und Mitvorsitzender des Cyborgs e.V. Er war zwischen 2000 und 2012 als Anwendungsentwickler und Consultant im IT-Bereich tätig und arbeitet seit 2013 journalistisch und publizistisch zu den Schwerpunktthemen Digitalisierung, Technikkultur, Mensch-Maschine-Beziehung sowie Post-/Transhumanismus und Inklusion. Seit 2016 studiert Enno Park zudem Kultur und Technik, Kernfach Philosophie an der Technischen Universität Berlin.

Das Leben mit der digitalen Transformation – eine Gratwanderung zwischen Geschäftsmodellinnovation und Revolution der Soziokultur unterlegt mit Beispielen aus der Sprachindustrie

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Axel Poestges

Inhaltsverzeichnis 15.1  U  nser Weg ins digitale Zeitalter  15.2  Willkommen bei den Sprachdienstleistern  15.2.1  Vom Übersetzer zum Computer Aided Translator  15.2.2  Vom Computer Aided Translator zum Lokalisierungsmanager  15.2.3  Vom Lokalisierungsmanager zum Post Editor  15.3  Auf der Suche nach neuen Perspektiven  15.4  Digitales Chaos nach digitalem Impact?  Literatur 

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Der digital induzierte Wandel in einem weitgehend unbekannten Marktsegment. Übersetzungsdienstleister haben gelernt, den „Digital Impact“ als Innovationstreiber und Geschäftsmodellinnovator zu nutzen – ungewöhnliche Dinge aus einer unbekannten Branche. A. Poestges (*) Hochschule Pforzheim, Pforzheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_15

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15.1 Unser Weg ins digitale Zeitalter Gar keine Frage, wir sind längst mitten drin in der digitalen Transformation – und jeder nutzt deren Annehmlichkeiten und verwahrt sich gegen mögliche Verkomplizierungen seines Lebens. Der digitale Wandel ist aber letztlich nur die anhaltende Folgewirkung eines längerfristigen Veränderungsprozesses, der schon in den 80er-Jahren seine Wurzeln hat. Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew hat bereits 1926 festgestellt, dass die Weltkonjunktur in langen Wellen funktioniert und dass am Beginn einer jeden Welle ein Paradigmenwechsel steht (Kondratjew 1926, S. 573–609). Schumpeter konkretisierte dies später dahingehend, dass die Initialzündung für einen neuen Kondratjew-Zyklus durch sogenannte Basisinnovationen bei Schlüsseltechnologien ausgelöst wird (Schumpeter 1961). So wurde zum Beispiel der zweite Kondratjew-Zyklus (ca.1830–1890) mit der Erfindung der Dampfmaschine ausgelöst. Wir sind zwar nicht mehr ganz im fünften Kondratjew-Zyklus, der in den 80er-Jahren mit Basisinnovationen der Informationstechnik begann, aber die Phase der digitalen Transformation ist das unmittelbare Kielwasser dieses Zyklus. Insofern ist das wohl ein relativ einfach zu erklärender Sachzusammenhang. Wären da nicht die vielschichtigen Wechselwirkungen. Die haben sich nämlich im Vergleich zum Einfluss der Erfindung der Dampfmaschine auf die Arbeitswelt exponentiell vervielfacht. Genau diese zahlreichen Wechselwirkungen machen aber das Leben und Arbeiten unter dem Einfluss des digitalen Wandels so komplex und schwierig handhabbar. Ein Smartphone zum Beispiel wurde möglich, weil die Steigerung der Leistungsdichte bei gleichzeitiger Miniaturisierung der elektronischen Komponenten dies erlaubt hat. Soziale Plattformen, zunehmende Onlinezeiten, die Durchdringung des täglichen Lebens mit smartphonelastigen Aktivitäten sind logische Konsequenzen. Die Analyse des Nutzungsverhaltens der Smartphonebenutzer ermöglicht Unternehmen völlig neue Formen des Marketings. Individualisierung und Personalisierung aller Kommunikationskanäle sind Indikatoren dafür. Es ließen sich noch sehr viel mehr solcher Wirkungsfaktoren aufzeigen. Tatsache ist, dass die Basisinnovationen der Informationstechnologie dazu geführt haben, dass die Phase der digitalen Transformation von einem hochkomplexen Wirkungsgeflecht gekennzeichnet ist, das eine Beschreibung, geschweige denn eine Beherrschung, der Zusammenhänge schlechterdings unmöglich macht. Abb.  15.1 macht den (unzureichenden) Versuch, die maßgebenden Elemente der Phase der digitalen Transformation zu erfassen. Einfluss nimmt natürlich alles, was Technologieträgerschaft hat. Das können eigenständige Systeme ebenso wie sog. Embedded Systems sein. Denken Sie z. B. daran, dass ein kleiner Chip im Laufschuh eines Joggers Daten über dessen Laufverhalten bereitstellen kann, die der Schuhhersteller dann für die Produktentwicklung

15  Das Leben mit der digitalen Transformation – eine Gratwanderung …

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Abb. 15.1  Digitale Transformation – Treiber und Wirkungspfade

nutzt. Oder nehmen wir des Deutschen Lieblingskind, das Automobil. Kein anderes Produkt liefert – mit oder ohne unser Zutun – derart viele Daten, die zu den unterschiedlichsten Zwecken genutzt werden. Dann gibt es die Dinge, die neue digitale Chancen eröffnen bzw. ermöglichen, die sog. Enabler. Soziale Netze erfordern höhere Onlinezeiten. Diese sind aber nur durch entsprechende Akkulaufzeiten in den Geräten darstellbar. Die Lithium-­ Ionen-­Technologie hat das ermöglicht. Schließlich gibt es Entwicklungen, die wie ein Auslöser oder Trigger wirken. Das Apple-Geschäftsfeld iTunes wurde erst möglich durch die digitale Wiedergabe von Musik und die Entwicklung der entsprechenden Audiostandards. Die vorgenannten Einflussfaktoren wirken sich (die Beispiele haben es bereits angedeutet) je nach Fokus und Intensität unterschiedlich aus. Ein wichtiges Zielareal sind natürlich die Produkte und Dienstleistungen selbst. Ohne Smartphones keine Displayreparaturstores, keine Handyläden aber auch kein Betrieb von elek­ tronischen Bezahlsystemen. Sehr viel kritischer sind da schon die Auswirkungen auf unser persönliches Umfeld und die Prozesse, mit denen wir uns umgeben. Ohne Internet kein Onlinehandel und ohne Onlinehandel keine Renaissance der Paketdienste. Oder ohne Smartphone kein Ersatz der guten alten Armbanduhr oder des Taschenkalenders. Schließlich muss auch unsere soziokulturelle Infrastruktur betrachtet werden. Die Verbreitung von Wissen funktioniert anders, die klassischen Bildungswerte werden mit Wikipedia in Frage gestellt. Seit Einzug des flächendeckenden E-Mail-Verkehrs sind die bisher gültigen Regeln der schriftlichen Kommunikation zumindest teilweise außer Kraft gesetzt, und seit es SMS gibt, tauschen jüngere Zeitgenossen nur noch kryptische Informationen aus, deren Inhalte sich der älteren Generation nicht unmittelbar erschließen.

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Sicher ironisiert und überzeichnet, aber es wird deutlich, wie komplex das Ursache-­Wirkungs-Gefüge in der Phase der digitalen Transformation wirklich ist. Um die Folgewirkungen in unserer, durch Globalisierung gekennzeichneten Businesswelt, greifbarer zu machen, bietet sich ein Beispiel an, das zumindest vom Hörensagen den meisten Lesern geläufig sein dürfte.

15.2 Willkommen bei den Sprachdienstleistern Die Welt der Sprachdienstleister ist übersichtlich und man denkt auf den ersten Blick, dass der Digital Impact dieses Marktsegment verschont oder vielleicht auch vergessen hat. Das ist eher unwahrscheinlich bei einem Marktvolumen von etwa 40 Mrd. $ (DePalma et al. 2016). Bis heute geht noch vieles per Post und „mit der Hand am Arm“. Langsam aber sicher bekommen die Teilnehmer in diesem Markt den frischen digitalen Wind zu spüren. Jeder hat schon irgendwo, irgendwie einmal mit Übersetzungen zu tun gehabt. Jedes exportorientierte Unternehmen, jeder Dienstleister, der die Grenzen seines Heimatlandes überschreiten möchte, jeder, der irgendwo schon einmal auf europäischer Ebene gearbeitet hat, kennt das Pro­ blem, dass bestimmte Dokumente zwingend in die Sprache des Ziellandes übersetzt werden müssen. Das Ergebnis muss „wasserdicht“ sein, weil ja zum Beispiel das Thema Haftung des Systemintegrators bei Komponenten verschiedener Ursprünge eine besondere Relevanz hat. Wir haben vielleicht schon einmal die Erfahrung mit merkwürdig kryptisch übersetzten Gebrauchsanleitungen für ein in Asien gefertigtes Produkt gemacht. Jeder hat sich selbst eine Meinung gebildet über die Bedeutung sachlich richtiger Übersetzungen. Wie erfolgskritisch eine in den angemessenen rechtlichen Hintergrund eingebettete Übersetzung ist, kann man leicht an der Schadensersatz-Rechtsprechung in Nordamerika ablesen. Wie wichtig im Rahmen der digitalen Transformation zum Beispiel die Richtigkeit, Angemessenheit und Aktualität von Webseiten ist, weiß jeder. Wer im Supportbereich einer digitalen Präsenz nach Antworten, entweder in den FAQ (häufig gestellte Fragen) oder im Downloadbereich, gesucht hat und irgendwann bei mehrere hundert Seiten starken PDF-Dokumenten in Quellsprache gelandet ist, hat Produktund Webseitenverantwortliche gleichermaßen verflucht. Kurz und gut, die Notwendigkeit, Content – egal ob in digitaler oder analoger Form – zu übersetzen hat es gegeben, sobald der Wirkungsbereich eines Unternehmens oder Dienstleisters international geworden ist. Die Folgen der digitalen Transformation haben sich hier stärker als Komplexitätstreiber bemerkbar gemacht. Die Vielzahl der Content-Typen, das breite Spektrum der Content-­Volatilität, Formatstandards und sonstige Standards usw. haben das Leben für die Übersetzer nicht

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gerade vereinfacht. Die nachfolgenden Beispiele erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zeigen aber doch recht anschaulich, welche Wirkungsbreite und -tiefe die digitale Transformation mit direkten und indirekten Wirkfaktoren selbst in solch überschaubaren Marktsegmenten wie der Language Service Industry erzeugt.

15.2.1 Vom Übersetzer zum Computer Aided Translator Der Übersetzer ist in der Regel ein geisteswissenschaftlich vorgeprägter und gebildeter Mensch, der eine oder mehrere Fremdsprachen nahezu perfekt beherrscht. Bewaffnet mit einem Fremdsprachen-Wörterbuch und einem Handbuch der fremdsprachlichen Grammatik ist er in der Lage, gegen ein Entgelt ein Stück Content, meist in Papierform, in eine Zielsprache zu überführen. Entlohnt wird er üblicherweise auf Basis der Anzahl übersetzter Zeilen oder Seiten oder der für die Übersetzung aufgewendeten Zeit. Qualität ist ein Kriterium, aber meist reduziert sich das auf die Einhaltung von Liefertermin und kalkuliertem Preis, denn den fremdsprachlichen Text kann der Auftraggeber ja meist nicht beurteilen. Die digitale Transformation hat hier – man wird es kaum glauben – ganz massiv zugeschlagen. Hat früher zum Beispiel ein einfaches Textverarbeitungsprogramm gereicht, um die Übersetzungsaufgabe zu erfüllen, so hat es auf dem Markt der Language Service Provider ganz nachhaltige Veränderungen gegeben. Der Übersetzer ist zum Lokalisierer geworden. Er übersetzt nicht nur bestimmte Content-­ Elemente aus einer Quell- in eine Zielsprache, sondern er muss auch dafür Sorge tragen, dass der übersetzte Content (Abbildungen und Tabellen natürlich eingeschlossen) den Anforderungen des soziokulturellen Hintergrundes im Zielland sowie den formellen Regeln der Zielsprache gerecht wird. Insofern ist die initiale massive Veränderung natürlich der Schritt vom Übersetzen zum Lokalisieren von Content. Dieser Schritt hat seinen Ursprung in der Globalisierung und erst in zweiter Linie im Digital Impact. Konnte ein Übersetzer früher mit einem einfachen Textverarbeitungsprogramm, einem Wörterbuch und einem Grammatik-Duden seine Arbeit bewältigen, so wird er heute von einem Computer-Aided-Translation-Arbeitsplatz unterstützt. Seine Aufträge bekommt er via Internet/E-Mail. Abb. 15.2 zeigt ein Bildschirmfoto des erfolgreichsten und am weitesten verbreiteten CAT-Programmes. Nahezu 90 % aller professionellen Übersetzer nutzen weltweit mittlerweile dieses Programm. Ein solches Programm verfügt quasi über ein eigenes Gedächtnis und vergisst nichts, was schon einmal in einer bestimmten Paarung von Quell- und Zielsprache übersetzt worden ist. Das sogenannte Translation Memory ist das Kernstück jeder Form von informationstechnischer Unterstützung des Übersetzers. Darüber hinaus

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Abb. 15.2  Computer Aided Translation – Innovation des Übersetzerarbeitsplatzes

gibt es eine Datenbank mit ebenfalls nach Sprachpaaren sortierten Begrifflichkeiten. Diese sogenannte Terminologiedatenbank enthält sämtliche Termini, die verbindlich akzeptiert und in einem bestimmten Marktsegment üblich oder gar Standard sind. So sind Unklarheiten bei der Begriffswahl während des Übersetzungsvorganges eher selten. Der computerunterstützte Arbeitsplatz des Übersetzers erleichtert natürlich die Übersetzungsarbeit enorm. Bereits am Anfang wird bei einem Übersetzungsprojekt ermittelt, was denn tatsächlich neu zu übersetzen ist und was in diesem Sprachpaar bereits übersetzt wurde und somit im Translation Memory für eine weitere Verwendung zur Verfügung steht. Somit bekommt der Übersetzer für sein Übersetzungsprojekt eine Übersicht des fertig vorsegmentierten, das heißt in einzelne Abschnitte zerlegten Textes, bei dem genau ausgewiesen ist, wie die bereits ­übersetzten Textsegmente verwendet werden können. Dabei wird gleich zu Beginn überprüft, ob der Kontext stimmt, ob die Wortwahl gering oder stärker abweicht und so weiter. Diese geringen sprachlichen Abweichungen werden in Quell- und Ziel-Content kenntlich gemacht. Wenn neue Abschnitte hinzukommen, so werden diese als weiße Felder ausgewiesen und der Übersetzer hat sich lediglich auf diese weißen Felder zu konzentrieren, um seinen Übersetzungsauftrag erfolgreich abzuwickeln. Das hat natürlich zur Folge, dass nur noch diejenigen Übersetzungen auch tatsächlich bezahlt werden, die neu oder auf der Basis vorhandener Übersetzungsergebnisse erarbeitet worden sind. Somit sind die Zeiten, in denen großzügig seitenweise,

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zeilenweise oder auch nach Zeitbedarf mit dem Auftraggeber abgerechnet werden konnte, endgültig vorbei. Die Margen der Übersetzer schrumpfen dadurch nachhaltig und es ist keineswegs ungewöhnlich, wenn die tatsächlichen Übersetzungskosten bei der Verwendung einer Translation Memory Technologie und einer Terminologiedatenbank in nur wenigen Jahren auf 20 % des Ausgangswertes sinken. Das muss nun nicht heißen, dass viele der Übersetzungsdienstleister in den Ruin getrieben werden. Es bedeutet aber, dass die Digitalisierung der Übersetzungstätigkeiten weitreichende Folgen auf das Tätigkeitsportfolio der Übersetzer hat. Aus Übersetzung wird Lokalisierung, aus Papier wird digitaler Content, aus Postversand wird File Transfer, Sprachgefühl wird durch Datenbanken abgesichert und so weiter. Wie im virtuellen Unternehmen muss der Übersetzer auch nicht mehr zwangsläufig an einem Ort in der Nähe seines Auftraggebers sitzen. Ihm reicht der Zugriff auf das Internet und die Existenz einer entsprechenden E-Mail-Adresse, um seine Aufträge zu erhalten und seine Übersetzungsergebnisse an seinen Auftraggeber weiterzuleiten. Das ist schon eine ziemlich einschneidende Änderung der Tätigkeitsstrukturen, bzw. ohne zusätzliche Ertragsmöglichkeiten sieht die Welt des klassischen Übersetzers nachhaltig schlechter aus – zumindest wirtschaftlich.

15.2.2 Vom Computer Aided Translator zum Lokalisierungsmanager Die nächste Stufe der digital induzierten Veränderung für Lokalisierung und Übersetzung heißt Zentralisierung von Translation Management System (TMS) und Terminologiedatenbank. Im Regelfall arbeiten zahlreiche Übersetzungsdienstleister und Freelancer mit unterschiedlicher Diversifizierung/Spezialisierung in Themen und Sprachen. Diese Tatsache ergibt sich zwangsläufig aus der Vielzahl von Produkten (Hardware, Software, Service etc.), der Präsenz in unterschiedlichen Märkten (Europa, Asien, Amerika etc.) und den Anforderungen der einzelnen ­Unternehmensfunktionen (Vertrieb, Service, Recht etc.). Neben der Tätigkeit als Übersetzer und Lokalisierer arbeiten diese Dienstleister vielfach auch als Reviewer zur Sicherstellung von technischer, soziokultureller oder rechtlicher Compliance. Abb.  15.3 zeigt die typische Benutzerschnittstelle eines Translation Management Systems. Der Bildschirminhalt macht schon deutlich, dass es hier mehr um das Management einer Vielzahl unterschiedlicher Lokalisierungsprojekte geht und nicht um die einzelne Übersetzung. Deswegen haben viele Unternehmen, die ein Translation Management System eingeführt haben, auch einen entsprechend qualifizierten Übersetzer aus den eigenen Reihen zum Localization Project Manager gemacht. Er ist die Schnittstelle zwischen den internen Content Ownern und den

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Abb. 15.3  Translation Management System – typische Benutzerschnittstelle

externen Sprachdienstleistern. Da der größte Teil der Abläufe vom TMS selbst ausgeführt wird (Content Analyse und Abgleich mit Translation Memory und Terminologiedatenbank, Update von TMS und Terminologie, Anstoß der Workflows und Kommunikation mit den kommerziellen und Content Management Systemen etc.) ist das Tätigkeitsprofil eines Localization Managers sehr stark von Management und Application-Handling geprägt. Der Vorteil für ehemalige Übersetzer, die in diese neue Funktion hineinwachsen, ist der Umstand, dass ihnen die Besonderheiten von Übersetzung und Lokalisierung geläufig sind. Der umgekehrte Weg ist deutlich schwieriger. Ein Translation Management System bietet prinzipiell die gleichen technologischen Optionen wie ein Computer-Aided-Translation-Arbeitsplatz. Der ­Unterschied besteht lediglich darin, dass ein TMS als zentralisiertes, führendes und integriertes System im Unternehmen mit allen anderen Systemen, die Content speichern, bereitstellen oder weiterleiten, zusammenarbeitet. Ein Enterprise Content Management System ist ein gutes Beispiel. Zentral und dezentral gepflegter Content muss zuverlässig, in der richtigen Zielsprache an der richtigen Stelle, z. B. in einer mehrsprachigen Bedienungsanleitung platziert werden. Das Translation Management System hat zusätzlich zu den Komponenten Translation Memory und Terminologiedatenbank eine weit reichende Workflow-­ Funktionalität. Diese erlaubt es, die Vorgänge, die für Übersetzung bzw. Lokalisierung relevant sind, vollständig, verlustfrei und ohne Medienbrüche in die

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geschäftsrelevanten Abläufe des Unternehmens einzubinden. Das bedeutet im Klartext, wenn ein neues Webseiten-Element im Web Content Management System freigegeben wurde, wird automatisch für die entsprechenden Zielsprachen ein Übersetzungsprojekt angelegt. Das Translation Management System weiß bereits, welche Übersetzungs-/Lokalisierungsdienstleister für den entsprechenden Content-­Typ, das relevante Marktsegment und die betreffende Zielsprache festgelegt worden sind. Weiterhin sind die aus einem Service Level Agreement vorhandenen Qualitätsanforderungen, Preisfestlegungen und Lieferzeiten bekannt, so dass aufgrund eines vorliegenden Rahmenabkommens der Auftrag angestoßen und im Gutschriftenverfahren die Leistungen des Sprachdienstleisters bezahlt werden. Die Abb. 15.4 und 15.5 zeigen schematisch den Ablauf eines Prozesses mit und ohne Einsatz eines zentralisierten Translation Management Systems. Die Nutzung von TMS-Systemen, gerade in global aufgestellten Unternehmen, hat eine Vielzahl von Vorteilen. Im Regelfall werden im Rahmen der Einführung solcher Systeme gleichzeitig auch die Portfolien der verschiedenen Übersetzer, mit denen eine Geschäftsbeziehung in den einzelnen Ländern besteht, radikal überarbeitet. Nicht selten bleiben von mehreren 100 Übersetzungsdienstleistern nur noch 30 oder 40 übrig. Oft ist die durchschnittliche Rechnungssumme für deren Dienstleistungen

Abb. 15.4  Ablauf (schematisch) vor einer TMS-Einführung

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Abb. 15.5  Ablauf (schematisch) nach einer TMS-Einführung

geringer als die entsprechenden Kosten für den internen Abwicklungsprozess. Für die Selektion werden sowohl informationstechnische und organisatorische Kriterien als auch Qualität und das Preis-Leistungs-Verhältnis betrachtet. Es bleibt also festzuhalten, dass die digitale Transformation für viele insbesondere kleine Übersetzungsdienstleister einige Überraschungen bereithält. Trotzdem haben sich viele der Übersetzungsdienstleister, sowohl technologisch als auch mit Blick auf die neuen ablauforganisatorischen Rahmenbedingungen, entweder spezialisiert oder sich mit anderen gleich gelagerten Anbietern zusammengetan, um durch die entsprechende Größe eine Beeinflussung der Kosten zu ermöglichen. Es gibt keinen Business Case für die Einführung eines Translation Management Systems, der nicht ausgesprochen positiv wäre – geldwert wie auch strategisch.

15.2.3 Vom Lokalisierungsmanager zum Post Editor Wie die beiden vorangegangenen Beispiele gezeigt haben, hat die Sprachindustrie keine Sonderrolle, was die Auswirkungen der digitalen Transformation anbelangt. Neben den direkten Folgewirkungen, die meist unmittelbar mit der treibenden technologischen

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Veränderung (CAT- und TMS-Einführung etc.) zusammenhängen, gibt es indirekte Folgewirkungen, die das soziale und kulturelle Umfeld der Betroffenen nachhaltig verändern. Ein gutes Beispiel dafür ist der Einfluss der Translation Management Systeme auf das Arbeitsumfeld der Übersetzungs- bzw. Lokalisierungsdienstleister. Arbeitsinhalte, Arbeitsabläufe, Arbeitsplattformen und letztlich auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Dienstleister haben sich nachhaltig geändert – und das nicht ausschließlich zum Vorteil der handelnden Personen. Es gibt aber noch weitere interessante Beispiele aus diesem Marktsegment, die den Einfluss des Digital Impact deutlich machen. Die Nutzung eines Translation Memory bewirkt, dass der Übersetzer nicht bei jedem Übersetzungsprojekt wieder bei null anfangen muss, sondern er kann sich auf diejenigen Abschnitte des zu übersetzenden Dokumentes konzentrieren, die neu sind bzw. angepasst werden müssen. Zugleich sieht er an seinem Arbeitsplatz, ob die Verwendung der Terminologie angemessen und nach bestehenden Standards erfolgt. Damit deutet sich bereits an, dass die Anforderungen an den Übersetzer eine strukturelle Veränderung durchlaufen haben, die durch den Einfluss der Digitalisierung auf sein Arbeitsumfeld gestartet wurde. Was sich hier abzeichnet, ist eine Trennung von einfacher sprachlich und grammatikalisch determinierter Übersetzung und solchen Aufgaben, die mehr inhaltliche, fachliche Kenntnisse erfordern. Es gab ja bereits in der Vergangenheit Ansätze, die einfach strukturierte Übersetzungstätigkeit mit entsprechender Software nicht nur formal, sondern stärker inhaltlich unterstützen zu lassen. Im ersten Anlauf hat man zwischen Inhalten also dem, was in einem Wörterbuch hinterlegt ist, unterschieden und Regeln, wie sie im Grammatik-Duden zu finden sind. Die ersten Ansätze für eine Software zur maschinellen Übersetzung waren regelbasiert. Diese ersten Exemplare maschineller Übersetzungssoftware waren noch relativ inflexibel und blieben weit hinter dem Ergebnis einer Übersetzung durch qualifizierte Experten zurück. Es zeigte sich aber, dass der Schlüssel zu mehr Produktivität und mehr Qualität zukünftig in der maschinellen Übersetzung zu suchen ist. Der nächste Schritt hin zu in der Praxis nutzbarer maschineller Übersetzung war der sogenannte statistikbasierte Ansatz. Wurde vorher versucht, Inhalt und Regelwerk abzubilden, so wird bei der statistischen Methode ein möglichst großer zweisprachiger Text dahingehend analysiert, wie häufig bestimmte Konstellationen von Worten in Quell- und Zielsprache vorkommen. Aufgrund dieses Ergebnisses können per Software ein vergleichbares Regelwerk für Grammatik und die Wörter in Quell- bzw. Zielsprache extrahiert werden. Der aktuelle Stand der maschinellen Übersetzung basiert auf der Theorie der neuronalen Netze. Auch hier werden, wie bei der statistisch basierten Methode, Texte mit großem Volumen in der Quell- und Zielsprache mithilfe neuronaler

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Netze analysiert. Die Verhältnisse der verschiedenen ausgangs- und zielsprachlichen Konstellationen werden dann in die nötige Softwarefunktionalität umgesetzt. Ebenso wie bei der statistischen Methode ist der Weg zum Zieltext nicht nachvollziehbar. Dieser Umstand signalisiert schon, dass hier ohne eine Nachbearbeitung durch den Menschen ein bestimmtes Qualitätsniveau nicht überschritten werden kann. Über diese Notwendigkeit einer Nachbearbeitung maschinell übersetzter Texte wird noch zu sprechen sein. Der große Vorteil dieser neuen Technologie ist der Umstand, dass man Erkennungsgenauigkeit und Zielgruppenfokus sowie sonstige Standards anhand vorliegender Dokumente in der Quell- und Zielsprache trainieren kann. Die Treffgenauigkeit der Übersetzung nach einem Training mit entsprechend geeigneten Dokumenten wird sukzessive und signifikant besser. Im laufenden Betrieb ist die maschinelle Übersetzungssoftware ebenfalls fähig zu lernen, was bedeutet: Je mehr maschinell übersetzt wird, umso besser werden die Übersetzungsergebnisse. Abb. 15.6 zeigt eine typische Benutzerschnittstelle einer maschinellen Ü ­ bersetzungssoftware. Solche Anwendungen sind frei verfügbar (Google Translator etc.) oder werden als eigenständige oder Cloud-Anwendung angeboten (SDL Enterprise Translation Server etc.). Neben der statischen Trainierbarkeit, mit der via Customizing die Grundeignung einer maschinellen Übersetzungssoftware für eine gestellte Aufgabe abgesichert wird, ermöglicht die Einbindung solch einer Applikation in die Umgebung eines Translation Management Systems auch ein dynamisches Lernen. Alle Inhalte, die im Rahmen von Übersetzungsprojekten im Translation Memory abgespeichert werden, dienen der maschinellen Übersetzungssoftware als Content, mit dem sie die Übersetzungsqualität verbessert. Neuer, maschinell übersetzter Content durchläuft

Abb. 15.6  Benutzerschnittstelle zu maschineller Übersetzungssoftware

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Quality Gates, bevor er im Translation Memory abgespeichert wird. Diese Konfiguration einer intelligenten Übersetzungssoftware beschleunigt Prozesse, setzt Ressourcen frei und sichert zugleich ein reproduzierbares Qualitätsniveau der Übersetzungsergebnisse. Abb. 15.7 zeigt schematisch, wie statisches und dynamisches Lernen der maschinellen Übersetzungssoftware in einem geschlossenen Prozess realisiert werden können. Es wäre allerdings vermessen zu glauben, dass man das gleiche Qualitätsniveau erreichen kann, wie bei einer humanen Übersetzung. Heute ist man durchaus in der Lage, mit maschineller Übersetzung Ergebnisse zu erzielen, die bis zu 80  % der Qualität von Humanübersetzungen bieten. Stellt man diese Perspektive in Relation zu den Content-Typen und der Content-­Volatilität, dann wird sehr schnell deutlich, dass es ein breites Anwendungsfeld für die maschinelle Übersetzung in nahezu jedem Unternehmen gibt. Abb. 15.8 zeigt exemplarisch bekannte Content-Typen die unterschiedlich volatil und zeitkritisch sind. Nimmt man die beiden extremen Beispiele E-Mail-­Support und Werbung, dann werden die unterschiedlichen Anforderungen recht schnell deutlich. Beim E-Mail-Support kommt es darauf an, dass ein Problem schnell gelöst wird, auch wenn Helpdesk und User nicht die gleiche Sprache sprechen. Der Geschwindigkeitsvorteil, den maschinelle Übersetzung hier bietet, überwiegt die Nachteile einer möglicherweise nicht perfekten Wortwahl oder eines Grammatikfehlers um ein Vielfaches. Marketing Content spricht gezielt einen Kundentyp in der Umgebung eines ganz speziellen Touchpoints und über einen bestimmten Kommunikationskanal an. Wenn diese Ansprache nicht die komplette formelle und informelle Erwartungshaltung des Adressaten trifft, verpufft u. U. die gesamte

Abb. 15.7  Trainierbarkeit für maschinelle Übersetzungssoftware (schematisch dargestellt)

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Abb. 15.8  Anwendungsfälle für maschinelle Übersetzung abhängig von Content-Typ und -Volatilität

Aktion. Hier muss ein Lokalisierer, Markt- und Produktexperte ran – da kann die maschinelle Übersetzung, wenn überhaupt, nur leichte Produktivitätsvorteile bieten. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass sich Tätigkeitsspektrum und Arbeitsumfeld der Übersetzungsdienstleister noch einmal sehr nachhaltig und tiefgreifend verändern werden. Hat der Schritt von der Übersetzung zur Lokalisierung eine umfassende Kenntnis der Sprache und des soziokulturellen Hintergrundes im Zielland notwendig gemacht, so bringt die Nutzung der maschinellen Übersetzung weitere einschneidende Konsequenzen. Einerseits wird die individuelle Leistungsmöglichkeit des einzelnen Übersetzers durch die Anwendung der maschinellen Übersetzung weiter beschnitten. Auf der anderen Seite stellt die Nutzung maschineller Übersetzung zugleich auch höhere Anforderungen an die Qualifikation des Übersetzers. Es ist nicht mehr alleine die Beherrschung der fremden Sprache gefordert, sondern durch die maschinelle Übersetzung wird eine tief greifende Kenntnis von Produkten und Marktspezifika notwendig, die es dem Übersetzer ermöglicht, den maschinell übersetzten Content so zu überarbeiten, dass er den gestellten Anforderungen in jeder Hinsicht gerecht wird. Das bedeutet, wir werden in nicht ferner Zukunft ein durch die digitale Transformation stark verändertes Berufsbild der Übersetzer bzw. Lokalisierer sehen. Die Übersetzer müssen sich zwingend mit den Besonderheiten der Dienstleistungen, Produkte und Zielmärkte ihrer Auftraggeber auseinandersetzen. Nur so werden sie in der Lage sein, eine qualifizierte Nachbearbeitung (Post-Editing) maschinell

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übersetzter Texte durchzuführen. Mit der konsequenten Einführung maschineller Vor-Übersetzung und qualifiziertem Post-Editing ergeben sich ablauforganisatorisch und technologisch völlig neue Perspektiven für das betrachtete Marktsegment. Die Folgewirkungen werden weit über die Grenzen der betroffenen Unternehmen hinausgehen. Entsprechende gesellschaftliche Veränderungen werden induziert werden, die von innovativen Qualifikationsmaßnahmen über Konzentrationen im Bereich dieses Dienstleistungssegments bis hin zu allgemeiner (Crowd-) Nutzbarkeit dieser Technologie reichen werden. Wenn maschinelle Übersetzung als frei nutzbare Software zur Verfügung steht, ergeben sich daraus auch wieder neue Risiken. Kein Unternehmen möchte z. B., dass betriebliche Geheimnisse oder Best Practices auf dem Umweg über ein freies Übersetzungsportal von Mitarbeitern ungewollt im allgemein zugänglichen Informationskosmos verteilt werden und so weiter.

15.3 Auf der Suche nach neuen Perspektiven Die Beispiele haben deutlich gemacht, wie sich die digitale Transformation auch in einem bisher von digitalen Einflüssen wenig veränderten Marktsegment nachhaltig und tief greifend ausgewirkt hat. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie repräsentieren auch nicht den letzten technologischen Stand in diesem Marktsegment. Sie geben alleine betrachtet auch keine Anhaltspunkte für die generelle zukünftige Entwicklung in der Branche der Sprachdienstleister weltweit. Natürlich gibt es Szenarien, die versuchen, Entwicklungsmöglichkeiten für große, mittelständische und kleine Übersetzungsdienstleister zu skizzieren. Diese reichen von Überlebensstrategien (Crowdsourcing etc.) bis hin zu Expansionsmöglichkeiten (Join the Big Five etc.) oder auch die Besetzung von Nischen inhaltlicher, sprachlicher oder struktureller Natur (Die Experten für EU-Recht etc.). Schaut man sich eine Branche, wie die Mikroelektronik oder speziell die Hersteller von Smartphones an, dann ist eigentlich für die meisten klar, dass die digitale Transformation dort unmittelbar greift. Dort sind Technologie, Hardware und gesellschaftliche Verlinkung Tatsachen, die man nicht wegdiskutieren kann. Spricht man über Übersetzungsdienstleister, dann hat diese Branche erst auf den zweiten oder dritten Blick etwas mit dem Digital Impact zu tun. Greift man aus der Vielzahl der aktuell propagierten Megatrends (Hansen 2017) nur einmal die Aspekte der Wechselwirkungen von fortschreitender Digitalisierung, Veränderung der Arbeitswelt und zunehmender Mobilität heraus, dann lässt sich daran ablesen, dass bei einem weiteren Fortschreiten der digitalen Transformation kein Marktsegment von diesen Konsequenzen verschont bleiben wird. Die

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Branche Sprachdienstleistungen dient lediglich als Beispiel dafür, dass selbst in kleinen und in weiten Teilen unbekannten Marktsegmenten digital induzierte Veränderungen ablaufen, die nicht nur unsere Arbeitsinhalte, sondern auch das unmittelbare Arbeitsumfeld und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern. Digitale Transformation ist nicht gleichbedeutend mit mehr Kommunikation, Technologie oder intelligenteren Nutzungsformen der Informationstechnik. Die digitale Transformation wird der kommenden Generation sehr viel mehr Flexibilität und Leistungsfähigkeit abverlangen, als das bei den vorangegangenen Generationen der Fall war. Viele dieser neuen Anforderungen werden durch den Umstand kompensiert, dass die kommende Generation mit vielen Elementen der digitalen Veränderung groß geworden ist und diese wie selbstverständlich akzeptiert bzw. nutzt. Trotzdem werden die Anforderungen durch digital induzierte Veränderungen wachsen. Folgt man der Theorie der Komplexitätstreiber (Schoeneberg 2014), dann wird die digitale Transformation mit einer Vielzahl an Wirkungsnetzen unser Leben verändern und zwar so nachhaltig und so tief greifend, dass viele Vertreter der älteren Generation sich diesen Herausforderungen nicht mehr unbedingt stellen wollen. Übersetzer und Lokalisierer wird es auch in der Zukunft geben. Sie werden aber nicht mehr das Gleiche tun, was sie in der Vergangenheit getan haben, und auch nicht mehr mit den bekannten Hilfsmitteln. Es wird eine mächtige Bereinigungswelle geben, die dieses Marktsegment komplett umstrukturieren wird. Wir haben ähnliche, auch digital induzierte Veränderungen in einzelnen Marktsegmenten schon in der Vergangenheit beobachten können. Denken wir nur an die instrumentelle und organisatorische Veränderung der Logistikdienstleister, hervorgerufen durch den verstärkten Internethandel und durch die extreme Individualisierung, die sich als eigenständiger Megatrend in Zukunft weiter fortsetzen wird. Auch mit dem Beispiel aus der Sprachdienstleistungsbranche lässt sich nicht belastbar ­entscheiden, ob die digitale Transformation als Fluch oder Segen zu sehen ist. Betrachten wir in der Retrospektive all die Dinge, die im fünften Kondratjew-Zyklus passiert sind und die durch technologische Innovation der Informationsverarbeitung ermöglicht worden sind, so sehen wir eine Vielzahl von Veränderungen individueller, gesellschaftlicher und sozialer Art, ohne die unser Leben so wie wir es heute praktizieren, nicht möglich wäre. Eine Verweigerungshaltung gegenüber der digitalen Transformation würde zu digitalem und sozialem Einsiedlertum führen. Das stünde im krassen Gegensatz zu dem Umstand, dass die digitale Transformation dafür gesorgt hat, dass wir gesellschaftlich alle näher zusammenrücken – und sei es nur dadurch, dass wir versuchen 24 Stunden kontinuierlich in sozialen Netzen unterwegs zu sein.

15  Das Leben mit der digitalen Transformation – eine Gratwanderung …

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15.4 Digitales Chaos nach digitalem Impact? Viele kennen Goethes Ballade vom Zauberlehrling. Der Meister hat gerade erst das Haus verlassen und wir denken schon darüber nach, wie wir uns mit ihm messen können. Nur in der digitalen Transformation gibt es mehr Eimer, sie sind besser gefüllt und sie kommen unaufhörlich mit rasender Geschwindigkeit. Das wird unser Problem werden. An jedem Tag kommen zu einem bereits bestehenden, schier unübersehbaren Berg an strukturierten und unstrukturierten Daten 2.500.000.000.000.000.000 Bytes hinzu. Bereits 2020 werden die gespeicherten Daten auf ein Volumen von 170.000.000.000 Terabytes (TB) angewachsen sein. Die gespeicherten Informationen wachsen etwa vier- bis fünfmal schneller als die Weltwirtschaft. Die globale Datenkommunikation lag 1992 bei 100 GB/Tag. Heute liegt dieser Wert bei nahezu 50.000 GB/Sekunde. Heute sind etwa 3.000.000.000.000 Menschen im Internet unterwegs – so viele Menschen lebten 1960 auf der ganzen Erde (Invitation Digital o. J.). Was bedeutet das? Die digitale Transformation erzeugt Lebens- und Arbeitsumstände (und das nicht nur für Sprachdienstleister), die für alle einen Paradigmenwechsel erfordern. Daten sind frei verfügbare Handelsware. Jeder kann in Google Daten abrufen. Informationen daraus zu machen ist eine Kunst, die leider nur wenige beherrschen und die wohl zunehmend auch den Manager im digitalen Zeitalter auszeichnen wird. Bleiben wir aber ruhig beim Beispiel der Sprachdienstleister und dem Druck, der sich im Kielwasser digital induzierter Veränderungen für ihr Arbeits- und Sozialumfeld ergibt. Das Volumen an Daten wächst exponentiell schnell. Die Fähigkeit, aus Daten Informationen zu extrahieren, ist nicht jedermann gegeben. Kommt der Aspekt der Globalisierung hinzu, so fällt den Lokalisierern und Übersetzern künftig mehr denn je die wichtige Aufgabe zu, hier zu unterstützen. Die technischen und methodischen Hilfsmittel der digitalen Transformationsphase helfen ihnen, den Anforderungen durch die neuen Aufgaben gerecht zu werden. Mit dem neuen Zauberwort „Customer Experience Management“ ist nichts anderes gemeint, als relevanten Content (spricht interessante Informationen und eben nicht nur Daten) an eine Zielgruppe heranzubringen und zwar im richtigen Format, über die richtigen Kommunikationskanäle, auf den richtigen Plattformen, unter Nutzung der richtigen Technologie, in der richtigen Sprache und in den richtigen soziokulturellen Hintergrund eingebettet. Mit nur 14 verschiedenen Sprachen sind Unternehmen in der Lage, etwa 90  % der wirtschaftlich aktiven Weltbevölkerung zu erreichen. In vielen Ländern gilt nach wie vor der Grundsatz „can’t read – won’t buy“ (DePalma et al. 2014). In Ländern wie z. B. Japan oder Frankreich besteht eine starke Präferenz für die Muttersprache. Eine fremdsprachige Broschüre oder gar Bedienungsanleitung bedeutet ein abruptes Ende der

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Kaufüberlegungen. In zahlreichen Ländern Südamerikas, Indiens und Asiens gibt es die klare Unterscheidung zwischen Business-Sprache, Webseiten-Sprache und für den Notfall sog. Fall-back-Sprachen. Das sind wichtige Indizien für den digital induzierten Paradigmenwechsel bei den Sprachdienstleistern. Bereits 2020 wird es mehr als sechs Milliarden Smartphoneverträge geben. Sechs Milliarden potenzielle Kunden, mit denen in irgendeiner Art und Weise zu kommunizieren ist. Informationsmenge, Multilingualität, höhere Geschwindigkeiten usw. verändern die Welt der Sprachdienstleister. Die Weiterentwicklung der maschinellen Übersetzung wird die Lokalisierer nicht arbeitslos machen, im Gegenteil. Aber sie müssen zukünftig systematisch an der Innovation ihres Geschäftsmodells arbeiten. So wie die Logistikdienstleister wichtige Teile der Wertschöpfungskette übernommen haben, so werden die Sprachdienstleister zukünftig wichtige Aufgaben des Marketings und Customer Experience Managements übernehmen. „Die Digitale Transformation bezeichnet einen fortlaufenden, in digitalen Technologien begründeten Veränderungsprozess, der die gesamte Gesellschaft und insbesondere Unternehmen betrifft“ (Wolan 2013). Quod erat demonstrandum – die Sprachdienstleister sind nur ein kleines Beispiel der vielschichtigen Wechselwirkung von Technologie, Informationen, Geschwindigkeit und Vernetzung. Der digitale Wandel ist hochkomplex. Ihn mit „Computereinsatz“ abhandeln zu wollen, wird der Sache nicht gerecht. Gesellschaftsstrukturen wandeln sich ebenso wie Berufsbilder und Anforderungen. Man ist geneigt zu sagen, „... die kommenden Generationen haben es nicht leicht …“ – richtig, aber sie haben auch ganz andere Chancen und Perspektiven.

Literatur DePalma, D.  A., Stewart, R.  G., & Hegde, V. (2014). Can’t read, Won’t buy. Cambridge, MA: Common Sense Advisory, Inc. DePalma, D. A., Pielmeier, H., Henderson, S., & Stewart R. G. (2016). The language services market. Cambridge, MA: Common Sense Advisory, Inc. Hansen, J. (2017). Zukunft Digitalisierung: Der Wettlauf zum Weltbetriebssystem: Warum wir neue Visionen für Wirtschaft, Staat und Sicherheit brauchen. Hansen-Consulting GmbH Verlag, Langerwehe. Invitation Digital Ltd. (o.J.). Bristol. www.vouchercloud.de. Zugegriffen am 04.04.2019. Kondratjew, N. D. (1926). Die langen Wellen der Konjunktur. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 56, 573–609. Schoeneberg, K.-P. (Hrsg.). (2014). Komplexitätsmanagement in Unternehmen. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Schumpeter, J. A. (1961). Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wolan, M. (2013). Digitale Innovation: Schneller. Wirtschaftlicher. Nachhaltiger. Göttingen: BusinessVillage.

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Dr.-Ing. Axel Poestges  hat als Analyst und Berater viele Jahre Erfahrung in den Bereichen Sprachtechnologie und Content. Als Senior Business Consultant betreute er zahlreiche namhafte internationale Unternehmen bei der Einführung Sprachtechnologie, der Umsetzung von Customer Experience- und Digitalisierungsstrategien. Er arbeitet heute als Lehrbeauftragter an der Hochschule Pforzheim.

Teil IV Kompetenzwandel und erforderliche Personalentwicklung

Digital Leadership – Wie verändert die Digitalisierung die Mitarbeiterführung und was müssen Personalmanager bereits heute tun?

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Wolfgang Bohlen

Inhaltsverzeichnis 16.1  16.2  16.3  16.4 

 efinition des Begriffs Digital Leadership  D Bewusstsein für Digital Leadership bei Führungskräften  Digital-Leadership-Studie  Veränderte Anforderungen an Führungskräfte (7-Punkte-Modell)  16.4.1  Kommunikation und Information  16.4.2  Disruption und Agilität  16.4.3  Neugier und Flexibilität  16.4.4  ENTSCHEIDUNG Entscheidung unter Unsicherheit  16.4.5  Innovation und Entrepreneurship  16.4.6  Neue Arbeitsformate und -Orte  16.4.7  Anforderungen der Generation Y  16.5  VUCA-Konzept  16.6  Skillmanagement – Anforderungen im digitalen Zeitalter  16.7  Auswirkungen der Digitalisierung auf das Talentmanagement  16.8  Voraussetzungen für ein erfolgreiches Talentmanagement  Literatur 

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W. Bohlen (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_16

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Der Begriff Digitalisierung ist in aller Munde. Schon vor einigen Jahren wurde dieser Trend sichtbar. In den letzten zwei bis drei Jahren ist daraus jedoch ein Megatrend geworden, der bereits jetzt viele Bereiche des gesellschaftlichen und beruflichen Lebens prägt und weiter prägen wird. Experten gehen davon aus, dass die Digitalisierung der Megatrend der kommenden Jahre sein wird. Die Digitalisierung wird durch technologische Entwicklungen getrieben und führt zu Transformationsprozessen in Unternehmen. Diese Veränderungsprozesse können so umfassend sein, dass sich dadurch nicht nur die Strategie eines Unternehmens ändert, sondern auch große Teile der Organisationsstrukturen. Davon betroffen ist letztendlich auch die Unternehmenskultur, denn Veränderungsprozesse (auch digitale Veränderungsprozesse) gelingen nur mit den Mitarbeitern. Aber nicht nur die Veränderung hin zu stärker digitalen Geschäftsprozessen, sondern auch die langfristige Etablierung dieser digitalen Geschäftsprozesse hat einen Einfluss auf die Art und Weise, wie Führung in Zukunft erfolgt. Das heißt, die Digitalisierung verändert nicht nur Geschäftsmodelle und Vertriebskanäle in Unternehmen, sondern auch das Verhältnis zwischen Chef und Mitarbeiter. (Unger 2017) Dies bedeutet wiederum: Wenn sich die Mitarbeiterführung ändert, dann hat dies auch eine Rückwirkung auf das Talentmanagement im Unternehmen. Diese Zusammenhänge werden im Folgenden näher beleuchtet. Folgendes sei jedoch bereits jetzt angemerkt: Es zeigt sich, dass durch die Digitalisierung Veränderungen und Erneuerungsprozesse in Unternehmen in immer kürzeren Zeitabständen passieren. Führungskräfte können daher nicht mehr alles genau planen und vorgeben. Ferner wird durch die Digitalisierung alles immer komplexer und transparenter, so dass Führungskräfte nicht mehr alles alleine wissen und entscheiden können und in diesem Zusammenhang noch stärker auf das Expertenwissen ihrer Mitarbeiter angewiesen sind. Parallel zur Digitalisierung gibt es auch eine Werteverschiebung. Mitarbeiter wollen heute viel stärker mitwirken. Partizipation ist damit ein zentrales Stichwort im Rahmen der Digitalisierung. Alle skizzierten Aspekte stellen gute Gründe dar, verstärkt eine vertrauensbasierte Unternehmenskultur aufzubauen. Veränderungen fordern von Führungskräften in der Zukunft mehr denn je eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Mitarbeitern. Keine Delegation von Aufgaben gelingt erfolgreich ohne Vertrauen. Auf diese und andere Aspekte wird im Folgenden näher eingegangen. (Unger 2017) Die skizzierten Aspekte zeigen bereits jetzt, wie umfassend Veränderungen auch im Führungsverhalten sein können. Die Digitalisierung ist damit Veränderungsmotor des gesellschaftlichen und beruflichen Lebens der nächsten Jahre.

16  Digital Leadership – Wie verändert die Digitalisierung die …

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16.1 Definition des Begriffs Digital Leadership Im Kontext der Digitalisierung hat sich in den letzten Jahren ein neues Schlagwort etabliert  – Digital Leadership. Auf dieses Thema wird im Folgenden ausführlich eingegangen. Die differenzierte Beschäftigung mit dem Begriff Digital Leadership macht zunächst vor allem eines deutlich, dass es aktuell noch keine eindeutige und griffige Definition gibt. Grundsätzlich kann jedoch gesagt werden, dass Digital Leadership sich aus zwei Worten zusammensetzt, nämlich digital und dem englischen Begriff für Führung. Im Kern geht es um einen Führungsverständnis, das für die künftigen Herausforderungen im Kontext der Digitalisierung als unerlässlich angesehen werden kann. (Rassek 2016) Letztendlich wird unterstellt, dass die Digitalisierung so tiefgreifende Veränderungen der Arbeitsbedingungen hervorrufen wird, dass das bestehende Führungsverständnis und die bisherigen Führungsinstrumente an Grenzen stoßen. Das heißt, Digital Leadership kann als ein wissenschaftlicher Ansatz zur Definition der Aufgaben und Werkzeuge der Führung in Zeiten der Digitalisierung allgemein und in Phasen der digitalen Transformation im Speziellen verstanden werden. (Wikipedia 2017) Andere Vertreter sehen in dem Thema Digital Leadership weit mehr. Oftmals wird hierin die Zukunft der Mitarbeiterführung in Unternehmen gesehen. (van Dick et al. 2016) Es kann daher zusammenfassend festgestellt werden, dass der Begriff Digital Leadership – trotz der hohen Bedeutung – noch nicht einheitlich definiert wird. Ob es sich hierbei um einen neuen Führungsstil oder ein neues Führungsverständnis handelt, wird im Folgenden weiter geklärt. Zunächst muss herausgestellt werden, dass dem Begriff Digital Leadership oftmals eine immense Bedeutung für die Zukunft zugesprochen wird. Es ist auch zu betonen, dass dem Thema offenbar eine hohe Relevanz zugestanden wird, ohne genau zu definieren, was damit eigentlich gemeint ist. Die Spannbreite der Einschätzungen ist daher sehr umfassend. Der Begriff Digital Leadership wird für einige Autoren im Grunde als Neuauflage der Eigenschaftstheorie verstanden. Als eigener Führungsstil hingegen bisher nicht. Besonders deutlich wird eine Anlehnung an die Eigenschaftstheorie bei der Definition der Initiatoren des Digital Leader Award: Hier wird darauf hingewiesen, dass der Digital Leader als Führungsperson stellvertretend für die erfolgreiche Digitalisierung des eigenen Unternehmens steht und über Leadership-Skills, ein fundiertes Wissen im Bereich der Digitalisierung, sowie eine ausgeprägte Digital-First-Denkweise verfügt. Hier geht es also um die Zuschreibung spezifischer Eigenschaften. Der Digital Leader führt mit einem hohen Partizipationsgrad, regt Innovationen an und geht für den digitalen Fortschritt mutig neue,

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unbekannte Wege. (Digital Leader Award o. J.) Die Initiatoren vergeben jährlich einen eigenen Award. (Ebd.) Mit dem Digital Leader Award werden – so die Initiatoren – in einem Wettbewerb Unternehmenslenker und Führungspersönlichkeiten ausgezeichnet, die die digitale Transformation in ihrem Unternehmen beispielgebend gestalten. Insgesamt sollen mit dem Award Leistungen im Rahmen der Digitalisierung der Organisation honoriert und die verantwortlichen Leader geehrt werden. (Ebd.) Dieser Ansatz ist sinnvoll, um sich dem Thema weiter zu nähern. Gerade bei neuen Themen ist nicht davon auszugehen, dass alles in einer logischen Sekunde definiert ist. Aus dem Prozess der Beschäftigung, der Reflexion und Diskussion sowie der nachhaltigen Forschung zu diesem Themenfeld wird es zu einer fundierten Weiterentwicklung und Festigung des Begriffs Digital Leadership kommen. Andere Autoren gehen sehr pragmatisch mit dem Thema um und definieren Digital Leadership als schnelle (agile), hierarchieübergreifende und teamorientierte Führung und verbinden dies insbesondere mit einer Notwendigkeit zur Abkehr von traditionellen, hierarchischen Strukturen zugunsten einer flexiblen und dezentral organisierten netzwerkartigen Organisationstruktur. (Hollmann 2016) Meist werden hierfür auch Voraussetzungen definiert. Im Mittelpunkt steht hier oft die glaubwürdig gelebte Vertrauenskultur. Dies ergibt sich daraus, dass wenn Kontrolle abgegeben wird, Vertrauen in der Führung stärker an Bedeutung gewinnen muss. In diesem Zusammenhang werden dann oft auch Stichworte wie Vernetzung, Offenheit, Partizipation und Agilität immer wieder genannt. Hierfür bedarf es – so die Schlussfolgerung – Führungskräfte, die Wandel, Dissens und Widersprüche bejahen und in Verschiedenheit und Unsicherheit eine Chance statt einer Gefahr sehen und dabei stets ihre Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellen. (Ebd.) Klar ist jedoch bereits jetzt, dass aufgrund der nachhaltigen strukturellen Änderungen in Organisationen Führungskräfte gebraucht werden, die Führungsqualitäten für die digitale Ära mit ihren ganz eigenen digitalen Prozessen und Medien besitzen. (Wurnig o. J.) Einzelne Autoren gehen sogar so weit, dass Unternehmen Strukturen und Organisation, Führungsprinzipien und Mitarbeiterbeteiligung verändern werden müssen, um den digitalen Anforderungen und Entwicklungen gerecht zu werden. Im Kern bedeutet dies auch, sich selbst als Führungskraft im Zuge dieser Änderungen ggf. in nie gekannter Weise verändern zu müssen. (Ebd.) Da die Digitalisierung erst im Anfangsstadium ist, gibt es naturgemäß noch wenig konkrete Aussagen und Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen auf die Mitarbeiterführung. Folgendes muss jedoch beton werden: Problematisch ist, dass in vielen Unternehmen die Digitalisierung mit Fokus auf IT-Prozesse gesehen wird und der Faktor Mensch bzw. Mitarbeiter vernachlässigt wird. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu betonen, dass die Mitarbeiter einen wichtigen Erfolgsfaktor im digitalen Wandel darstellen. (Teichmann 2016) Der Einfluss der Digitalisierung auf Zusammenarbeit und Führung ist jedoch ein insgesamt noch zu wenig thematisierter Erfolgsfaktor,

16  Digital Leadership – Wie verändert die Digitalisierung die …

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wobei er eng mit dem Erfolg der Digitalisierung von Unternehmen verknüpft ist. Im Kern ist digitaler Wandel viel mehr als ein technischer Wandel – digitaler Wandel kann vielmehr als ein Kulturwandel beschrieben werden. (Ebd.) In Unternehmen wird schneller und transparenter gearbeitet, Mitarbeiter sind veränderungsbereiter und agiler. Sogar Fehler zu machen, ist erwünscht. Mehr und mehr zeigt sich, dass die alten Erfolgsprinzipien wie Hierarchie und Linienorganisation nicht mehr funktionieren. Die Entwicklung einer neuen Führungskultur wird heute vielfach unterschätzt und in Unternehmen noch zu wenig gefördert. Unternehmen, die begreifen, dass die digitale Transformation von den Menschen im Unternehmen abhängig ist, investieren in ihre Mitarbeiter. (Ebd.) Dies hat dann wiederum umfassende Auswirklungen auf das Talentmanagement im Unternehmen. Denn nur mit qualifizierten Mitarbeitern wird auch der Kulturwandel gelingen. Es ist jedoch bereits jetzt absehbar, dass bei diesen Qualifizierungsanstrengungen die Führungskräfte und ihre Führungsqualitäten im Mittelpunkt stehen werden.

16.2 B  ewusstsein für Digital Leadership bei Führungskräften Aktuell gibt es noch zu wenige Studien, die sich mit Digital Leadership befassen und die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Mitarbeiterführung erforschen. In ersten Studien wird oftmals darauf hingewiesen, dass das Thema in den Unternehmen noch nicht angekommen ist. Ein Ergebnis wie „… Digital Leadership ist für über 50 Prozent der Befragten kein Thema“, ist durchaus nicht unüblich. (van Dick 2016) Darüber hinaus gibt es auch aktuell noch ein recht knappes und zudem noch wenig strukturiert aufgebautes Angebot an Qualifizierungen in diesem Bereich. Seminare zum Thema Digital Leadership sind nicht immer leicht zu finden. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass sich dieses zweifelsohne wichtige Thema noch nicht ausreichend etabliert hat. Ein sinnvoller Schritt in Richtung verbesserter Strukturierung kann es daher sein, die veränderten Anforderungen an Führungskräfte zu analysieren, um daraus im Rückschluss dann mögliche Veränderungen im Führungsverhalten abzuleiten. Zuvor soll jedoch kurz auf erste Forschungsergebnisse eingegangen werden.

16.3 Digital-Leadership-Studie Die Deutsche Gesellschaft für Personalführung hat in Kooperation mit anderen Partnern im Jahr 2016 erstmals zu diesem Thema eine Erhebung durchgeführt. (Schmidt 2016) Als Ergebnis kann zusammengefasst werden, dass die Bedeutung

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von Digital Leadership von vielen der 325 Befragten als hoch angesehen wird. Gleichwohl sehen sich die Befragten noch relativ weit von diesem Wandel und den betroffenen Veränderungen bzw. Herausforderungen entfernt. Dieses Ergebnis korrespondiert mit der aktuell noch unklaren Definition des Begriffs Digital Leadership. Ferner hat die Studie gezeigt, dass das Thema Digital Leadership in den Unternehmen bislang noch kein zentrales Thema ist. Auch dies korrespondiert mit den Erkenntnissen zu den aktuellen Angeboten an Qualifizierungsmaßnahmen im Bereich Digital Leadership. Wie gezeigt, gibt es wenig Angebote an Seminaren oder Workshops zu diesem Themenfeld. Darüber hinaus zeigte die Studie auf, dass den meisten Befragten nicht klar ist, welche Kompetenzen wie auf- oder ausgebaut werden sollten. Auch dieses Ergebnis korrespondiert mit bisher angeführten Erkenntnissen zum Thema Digital Leadership. Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass es einerseits noch zu wenig Forschung und Forschungsergebnisse gibt, aber anderseits das Thema Digital Leadership im Bewusstsein von Personalmanagern angekommen ist. Aus diesem Widerspruch heraus leiten Personaler aktuell noch keine Handlungsempfehlungen ab. Nachfolgend wird versucht, die veränderten Anforderungen an Führungskräfte aus den Aspekten der Digitalisierung heraus abzuleiten, um daraus im Rückschluss dann mögliche Veränderungen im Führungsverhalten abzuleiten.

16.4 V  eränderte Anforderungen an Führungskräfte (7-Punkte-Modell) Ein sinnvolles Vorgehen stellt die Auflistung von Anforderungen dar, denen sich Führungskräfte in der Zukunft verstärkt gegenüber sehen. Die skizzierte Auflistung anhand eines 7-Punkte-Modells ist ein erster Versuch, das Thema Digital Leadership weiter zu strukturieren. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Folgende Punkte können herausgehoben werden:

16.4.1 Kommunikation und Information Die Rahmenbedingungen der Kommunikation und Information haben sich in den letzten Jahren durch das Internet und die sozialen Netzwerke tief greifend geändert. Insbesondere der Informationsfluss und die Informationsdichte haben weiter stark zugenommen. Mitarbeiter erhalten heute mehr Informationen (per E-Mail oder in anderer Form) und durch die zunehmende Komplexität auch in einer ­höheren Dichte.

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Für Führungskräfte bedeutet dies, geeignete Formen zu finden die Informationen zu kanalisieren und ggf. auch zu verdichten. In jedem Fall müssen Führungskräfte die eigene Kommunikations- und Informationsstrategie ggf. anpassen und entsprechend umfassend und auch schnell kommunizieren, ohne dabei zu überfrachten. (Wurnig o. J.) Das, was für soziale Medien und die öffentliche Information und Kommunikation gilt, also z. B. die schnelle Verfügbarkeit von Informationen, gilt letztendlich auch für den betrieblichen Kontext. Wenn Führungskräfte nur die formellen Kanäle nutzen (wöchentliche Jour Fixe/Besprechungen etc.) kann dies ggf. nicht mehr den neuen Notwendigkeiten genügen. Es ist davon auszugehen, dass auch die Kommunikation und der Informationsaustausch weiter an Bedeutung zunehmen werden. Als Führungskraft wird es damit immer wichtiger werden, auch geeignete und insbesondere moderne Diskussions- und Reflexionsflächen zu bieten. Die Kommunikationskompetenz von Führungskräften wird im Rahmen der Digitalisierung von Unternehmen damit wahrscheinlich zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor werden.

16.4.2 Disruption und Agilität Im Zusammenhang mit Digitalisierung fällt immer wieder der Begriff Disruption. Eine Entwicklung, ein Trend, der disruptiv ist, kann mit den Worten zerstören oder unterbrechen umschrieben werden. Technologisch gesehen steht der Begriff für neue Entwicklungen oder Produkte, die unerwartet auf den Markt gebracht werden. Diese sind oftmals noch nicht ausgereift und zunächst kaum für den Kunden interessant. Wenn diese Produkte kontinuierlich weiterentwickelt werden und Vorteile gegenüber bekannten Produkten aufweisen, haben sie das Potenzial, eine Marktführerschaft zu erlangen. (Brandes-Visbeck 2016) Der zweite Begriff, der im Zusammenhang mit Digitalisierung oft fällt, ist der Begriff Agilität, was so viel bedeutet wie Wendigkeit oder auch Vitalität. Für Führungskräfte heißt dies, verstärkt unternehmerisch zu denken. Im Kern bedeutet dies, nicht jede noch so kleine Entscheidung von der obersten Führungsebene absegnen zu lassen, sondern selbst Verantwortung zu übernehmen. In vielen Unternehmen müssen Entscheidungen oftmals von Gremien oder vom Management explizit freigegeben werden. Naturgemäß verpuffen hier immer wieder gute Ideen oder es dauert schlicht zu lange. Für Führungskräfte könnte dies bedeuten, auch ohne  Rücksicht auf Befindlichkeiten im Hause innovative Ideen zu prüfen  und schnell umzusetzen. (Ebd.) Dies bedeutet Mut und kann – je nach Organisation – auch die Unternehmenskultur durcheinander bringen. Entscheidungsprozesse haben immer auch mit dem inner-organisationalen Machtgefüge zu tun. Treffen

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­ ührungskräfte auf nachgelagerten Hierarchieebenen eigenständig Entscheidungen, F dann kann dies für höhere Führungsebenen auch als Machtverlust interpretiert werden. Der Punkt Agilität ist jedoch noch tief greifender: Agilität meint die Fähigkeit, proaktiv mit einem Höchstmaß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auf Veränderungen zu reagieren. (Besken und Dietz o. J.) Dies kann deshalb problematisch sein, da ein Höchstmaß an Flexibilität immer auch ein Durchdenken von Optionen beinhaltet. Dies wiederum bindet Ressourcen, die naturgemäß immer knapper werden.

16.4.3 Neugier und Flexibilität Durch die Digitalisierung können Branchennewcomer bestehende Geschäftsfelder schneller verändern als vorher. In Unternehmen wird dies nicht nur neue Geschäftsmodelle und neue Produkte hervorbringen, sondern zeitgleich auch die Vermarktung, die Kommunikation, die Logistik und viele andere Bereiche r­ evolutionieren. Digitale Transformation wird zum Innovationsmotor der kommenden Jahre. Neue und junge Unternehmen können mit guten Ideen neue Märkte eröffnen oder bestehende umkrempeln. Etablierte Big Player verändern sich oder werden verändert. Für Führungskräfte bedeutet dies, sich den Herausforderungen positiv zu stellen und Veränderungen mit entsprechender Neugier zu begegnen und diese nicht als Bedrohung zu begreifen. Lebenslanges Lernen wird zum absoluten Muss, um auch technisch am Ball zu bleiben. (Wurnig o. J.) Dies bedeutet, dass sich Führungskräfte nicht nur mit betrieblichen Fragestellungen auseinandersetzen, sondern auch ihr Interesse an gesellschaftlichen und sozio-kulturellen Entwicklungen ausbauen. Die Teilnahme z. B. an Foren, Konferenzen und anderen Dialogflächen bewusst zu anderen Themen, als „nur“ zu den betrieblich geforderten Themenstellungen, kann in diesem Zusammenhang ein sinnvoller Schritt sein. Lebenslanges Lernen und Veränderungen mit Neugier zu begegnen, bedeutet eben auch, offen zu sein für anderes und dies bedeutet auch, sich mit anderen Themenstellungen zu beschäftigen. Anregungen aus anderen Bereichen aufzunehmen, fördert letztendlich den leichteren Umgang mit Veränderungen und auch eine Steigerung der eigenen Innovationsfähigkeit. Naturgemäß führen Zeitrestriktionen immer wieder dazu, dass genau dies nicht geschieht. In einer digitalen Welt kann aber genau dies ein wesentlicher Impuls für Innovation und Veränderung sein.

16.4.4 ENTSCHEIDUNG Entscheidung unter Unsicherheit Perfektionismus ist out und wird vom Experimentieren abgelöst. Die Devise „Einfach mal machen“ wird wahrscheinlich langwierige und komplexe Entscheidungsprozesse ablösen.

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Für Führungskräfte bedeutet dies, eine 80/20-Entscheidung zu treffen. Auch Fehler in Kauf zu nehmen wird wahrscheinlich eine stärkere Bedeutung bekommen, als lange nach der 150 %-Lösung zu suchen. (Ebd.) Entscheidungsprozesse in einer „digitalen Welt“ sehen damit anders aus als in einer „analogen Welt“. Klassische hierarchische Abstimmungs- und Genehmigungsprozesse kommen im Rahmen der Digitalisierung an ihre Grenzen. Naturgemäß sind diese zeit- und ressourcenaufwändig. Da Schnelligkeit ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist, müssen Führungskräfte Entscheidungen schneller treffen als bisher. Wenn die bestehenden Abstimmungs- und Genehmigungsprozesse abgeschafft werden, kann es sein, dass naturgemäß auch Fehlentscheidungen getroffen werden. Dies bedingt anderseits auch die Notwendigkeit, eine andere Fehler- und Führungskultur zu entwickeln.

16.4.5 Innovation und Entrepreneurship Eine Grundlage für Innovation ist, ungewöhnliche Gedanken zuzulassen und nicht sofort als Unsinn abzuwerten. Das heißt, ein „dummer Gedanke“ und eine geniale Idee können durchaus ganz nah beieinander liegen. Leider ist Querdenken und das Stellen von ungewöhnlichen Fragen in vielen streng durchstrukturierten Unternehmen für Mitarbeiter tabu. (Brandes-Visbeck 2016) Für Führungskräfte bedeutet dies, offen für andere Standpunkte zu sein bzw. sich mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen und diese nicht gleich abzutun. Wenn Ideen, die rechts und links von bisherigen Entscheidungen liegen, verworfen werden, bedeutet dies im Umkehrschluss naturgemäß auch keine Abgabe der Kontrolle als Führungskraft zuzulassen. Führungskräfte können in der heutigen Welt i. d. R. das durchsetzen, was sie für richtig halten. Sie müssen sich nicht mit Dingen auseinandersetzen, die nicht in ihr Weltbild passen. Offenheit gegenüber ungewöhnlichen Ideen, Ideen deren Potenzial wenig einschätzbar ist und ggf. Ideen, auf die man nie selbst gekommen wäre, zu befürworten ist eine Fähigkeit, die in einer digitalen Welt eine hohe Bedeutung bekommt. Letztendlich bedeutet auch dies eine Abkehr von tradierten Führungsparadigmen.

16.4.6 Neue Arbeitsformate und -Orte Homeoffice und Desksharing werden wahrscheinlich zunehmend normal werden. Mitarbeiterführung „auf Distanz“ eher alltäglich und persönliche Anwesenheit im Unternehmen eher geringer werden. (Wurnig o. J.) Es kommt zu einer stärkeren Virtualisierung von Kollaboration und Kommunikation. (Kienbaum o. J.) Dies kann auch noch eine länderübergreifende Kollaboration und Kommunikation beinhalten,

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denn im Rahmen der Digitalisierung können nicht nur Callcenter in andere Länder verlagert werden. Dies würde auch interkulturelle Herausforderungen inkludieren. Für Führungskräfte bedeutet dies, sich zunächst auf eine stärker virtualisierte Kollaboration und Kommunikation einzustellen. Hier gibt es bei Führungskräften oftmals Vorbehalte. Dies könnte dazu führen, dass Führungskräfte den Einsatz von kommunikativen Kontrollinstrumenten einfordern. Wichtiger scheint jedoch der Aufbau und Ausbau einer guten, stabilen und vertrauensvollen Kooperation zu sein. In diesem Zusammenhang müssen Führungskräfte noch stärker auf die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter vertrauen. Letztendlich müssen sie Vertrauen weiter aufbauen und Kontrolle abgeben.

16.4.7 Anforderungen der Generation Y Der Begriff Generation Y hat sich mittlerweile nicht nur in personalwirtschaftlichen Büchern etabliert. Die Generation Y findet flache Hierarchien, Teamarbeit und Partizipation insgesamt sehr wichtig. Führungskräfte sollen unter sich permanent verändernden Bedingungen Orientierung bieten, aber gleichzeitig Raum zur Entfaltung des Einzelnen geben. (Besken und Dietz o. J.) Für Führungskräfte bedeutet dies, an den klassischen Soft Skills wie Informationsund Kommunikationsfähigkeit sowie Dialogfähigkeit und Empathie weiter zu arbeiten. Die Generation Y stellt i. d. R. keine unerfüllbaren Anforderungen an Führungskräfte. Diese Mitarbeitergruppe fordert eher konsequent den Teamgedanken ein.

16.5 VUCA-Konzept Es bleibt abzuwarten, ob das oben genannte 7-Punkte-Modell in der Zukunft das Führungsverhalten verändern wird oder nicht. Die aufgelisteten Punkte sind Aspekte, die immer wieder in Zusammenhang mit der Digitalisierung angeführt werden. In diesem Kontext hat sich bereits ein erstes Modell etabliert. Das sogenannte VUCA-Konzept schreibt der Digitalisierung vier Aspekte zu und leitet daraus die Notwendigkeit zu einem veränderten Führungsverhalten ab. (Todoric und Gassner 2017) Der Begriff Digital Leadership leitet sich daher aus dem VUCA-Konzept unmittelbar ab. Die vier Buchstaben (VUCA) stehen für folgende Stichpunkte: • Volatility bedeutet Unbeständigkeit. Das heißt, Veränderungen finden immer häufiger, schneller und radikaler statt. • Uncertainty bedeutet Ungewissheit. Das heißt, die Vorhersehbarkeit über zu erwartende Ereignisse verringert sich.

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• Complexity bedeutet Komplexität. Das heißt, die Welt und die betriebliche Welt ist voller Komplexität. Es gibt immer mehr Abhängigkeiten. • Ambiguity bedeutet Mehrdeutigkeit. Das heißt, es wird immer komplizierter, zutreffende und präzise Erkenntnisse zu erhalten. Was bedeutet dies nun für Führungskräfte? Diese zentrale Frage leitet letztendlich zu dem Thema der geänderten Anforderungen an Führungskräfte über. Das Skillmanagement im Unternehmen steht damit im Fokus.

16.6 S  killmanagement – Anforderungen im digitalen Zeitalter An dieser Stelle muss betont werden, dass eine Definition, welche Anforderungen genau auf Führungskräfte zukommen, noch nicht als geklärt angesehen werden kann. Die Spannbreite der „neuen“ Anforderungen ist demzufolge relativ groß. An dieser Stelle soll ein Versuch unternommen werden, eine Zielliste aufzustellen, also eine Zielliste der Anforderungen an Führungskräfte im Kontext der Digitalisierung. Einige Autoren bezeichnen dies auch als Schlüsselkompetenzen für Führungskräfte in der Arbeitswelt 4.0. (Besken und Dietz o. J.) Die angeführten ­Anforderungen nehmen auch Bezug auf das zuvor skizzierte 7-Punkte-Modell und die dort angeführten Anforderungsänderungen an Führungskräfte. Insgesamt können folgende Punkte als Anforderungen für Führungskräfte in der Arbeitswelt 4.0 angeführt werden: Die Fähigkeit, … 1. Unsicherheiten auszuhalten (Ambiguitätstoleranz) und daraus den notwendigen Wandel abzuleiten und zu gestalten (Change-Management-Kompetenz). 2. komplexe Stationen zu managen (Komplexitätsmanagement) sowie die damit verbundene Mehrdeutigkeit auszuhalten (Diversitätskompetenz und Resilienz). 3. eigenes Verhalten zu reflektieren (Fähigkeit zur Selbstreflexion) sowie eigene Verhaltens- und Reaktionsweisen anzupassen (Lernbereitschaft und Lernfähigkeit). 4. neue Ideen für Geschäftsfelder und Innovationen zu entwickeln (Unternehmertum und Innovationsfähigkeit). 5. Kontakte herzustellen und zu pflegen (Fähigkeit zur Vernetzung) und Fähigkeit zu kooperativem Verhalten (Kooperationsfähigkeit). 6. Vertrauen aufzubauen durch Empathie, Sinnvermittlung und Glaubwürdigkeit. Ergänzend sei noch auf Folgendes hingewiesen: Im Rahmen des digitalen Wandels verändern sich zunehmend auch die Anforderungen an die technische Ausstattung

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im Unternehmen. Dies impliziert auch, wie gezeigt, dass sich die Anforderungen an die Führungskräfte ebenfalls verändern. (Ebd.) In diesem Zusammenhang kommt der Rolle des Talentmanagements in Unternehmen eine neue Geltung zu. Die Bedeutung steigt stark an. Nur wenn Personalabteilungen es schaffen, den skizzierten Führungs- und Unternehmenskulturwandel zu gestalten, können auch die Transformationsprozesse im Rahmen der Digitalisierung zu erfolgreichen Projekten werden. Personalabteilungen müssen daher eine aktiv-gestaltende Rolle einnehmen. Reaktives Agieren der Personalabteilung kann in Zeiten der Digitalisierung schnell zu Engpässen führen. Im Umkehrschluss heißt dies auch, nicht in Hektik zu verfallen, sondern bei allem Zeitdruck nachhaltige Entwicklungen anzustoßen.

16.7 A  uswirkungen der Digitalisierung auf das Talentmanagement Die Digitalisierung wird in den kommenden Jahren auch Personalabteilungen zunehmend verändern. Wie schon skizziert, reicht es nicht mehr aus, eine eher passiv-­ reaktive Personalpolitik zu betreiben, vielmehr müssen Personalabteilungen ein pro-aktives Talentmanagement betreiben. Bevor auf die Instrumente des Talentmanagements im Rahmen der Digitalisierung eingegangen wird, soll der Begriff Talentmanagement umrissen werden: Der Begriff Talentmanagement hat sich letztendlich aus den Herausforderungen des Personalmanagements entwickelt und ist eng mit dem Slogan „War for Talents“ verbunden. Ursprünglich war Talentmanagement auf die erfolgreiche Rekrutierung von Nachwuchskräften fokussiert. In der jüngeren Vergangenheit hat sich aus dieser spezifischen Auslegung ein viel breiterer Querschnittsansatz modernen Personalmanagements abgeleitet. Talentmanagement wird oft mit der Devise „Talente finden, binden und fördern“ umschrieben. Die Instrumente des Talentmanagements können daher analog in die Bereiche „Talente finden“, „Talente binden“ und „Talente fördern“ eingeordnet werden. Im Folgenden sollen diejenigen Bereiche des Talentmanagements kurz betrachtet werden, die im Rahmen der Digitalisierung wahrscheinlich eine größere Bedeutung erlangen werden: 1. Zunächst soll auf den ersten Bereich (Talente finden) eingegangen werden: Die Talente eines Unternehmens, also seine wichtigsten Mitarbeiter, sind gleichzeitig die knappste Ressource, wenn es um den Unternehmenserfolg geht.

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Aus diesem Grund zählt Talentmanagement im Kampf um qualifizierte Mitarbeiter, dem sogenannten „War for Talent“, zu einer der wichtigsten Aufgaben von Unternehmen, gerade in Zeiten der Digitalisierung. Typische Instrumente sind folgende: Employer Branding, Führungs- und Unternehmenskultur, Portfolio-­Konferenz sowie das Kompetenz- und Skillmanagement. In diesem Zusammenhang wird im Rahmen der Digitalisierung wahrscheinlich der Veränderung der Führungs- und Unternehmenskultur sowie dem Skillmanagement eine herausgehobene Rolle zukommen. 2 . Im zweiten Bereich (Talente binden) kann folgendes hervorgehoben werden: Schlüsselpersonen zu gewinnen, ist eine sehr wichtige Aufgabe im Rahmen des Talentmanagements. Damit gewonnene Talente auch im Unternehmen bleiben und sich engagieren, ist die Bindung von Talenten von gleich hoher Bedeutung. In diesem Zusammenhang dominierte früher oftmals der Begriff Mitarbeiterbindung. Durch eine verbesserte Mitarbeiterbindung sollte die Fluktuation abgebaut werden. Heute ist es in Personalabteilungen eher üblich von Bindungsmanagement oder teilweise auch von Retentionmanagement zu sprechen. Typische Instrumente sind: Nachfolgeplanung, Karriere- und Kompetenzmanagement, Sozialleistungsmanagement sowie Leadership Training und Führungskräfteentwicklung. In diesem Zusammenhang wird im Rahmen der Digitalisierung wahrscheinlich der Leadership- und Führungskräfteentwicklung eine wichtige Rolle zukommen. 3. Für den dritten Bereich (Talente fördern) kann Folgendes skizziert werden: Firmen durchlaufen heute immer häufiger Change-Management-Prozesse. Selbst für mittelständische Unternehmen werden Veränderungsprozesse mehr und mehr zu einem zentralen Thema im Alltag. Solche Transformationsprozesse  – gerade wenn es sich um digitale Transformationsprozesse handelt – können Mitarbeiter schnell überfordern. Neue Aufgaben können verunsichern. Dies gilt insbesondere dann, wenn Veränderungen häufig stattfinden. Im Rahmen eines nachhaltigen Talentmanagements müssen die Mitarbeiter mit Coaching- und/oder Teamentwicklungsmaßnahmen auf ihre neuen Aufgaben v­ orbereitet und später begleitet werden. Letztendlich gelingen Transformationsprozesse nur mit gut qualifizierten und gut motivierten Mitarbeitern. Dies sicherzustellen ist eine wichtige Aufgabe im Rahmen des Talentmanagements. Typische Instrumente sind: Personalentwicklungsmaßnahmen (on-the-job oder off-the-job), Trainee-/Förderprogramme, Mentoring-­Programme oder Coaching-Programme. In diesem Zusammenhang wird im Rahmen der Digitalisierung wahrscheinlich Führungskräfte-Coaching-­ Programmen eine herausgehobene Rolle zukommen.

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16.8 V  oraussetzungen für ein erfolgreiches Talentmanagement Abschließend sollen noch Voraussetzungen für ein erfolgreiches Talentmanagement skizziert werden. Diese Voraussetzungen stellen die Grundlage für die erfolgreiche Nutzung der oben skizzierten Instrumente im Talentmanagement dar. Sie bilden wiederum eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Unternehmen auf die sich aus der Digitalisierung heraus ergebenden Konsequenzen personalpolitisch erfolgreich reagieren können. Die erfolgreiche Implementierung von Talentmanagement ist nur dann möglich, wenn sich der Einsatz der Instrumente an der zukünftigen Entwicklung des Unternehmens orientiert. Ein gemeinsames Verständnis von einem nachhaltigen Talentmanagement ist hier besonders wichtig. Personalabteilungen müssen daher zunächst Grundlagenarbeit leisten. Ferner muss Talentmanagement ein Teil der Unternehmensstrategie werden. In diesem Zusammenhang müssen sich Personalabteilung, Führungskräfte und Management für Talentmanagement und die daraus abgeleiteten Maßnahmen auch verantwortlich fühlen und das Thema strategisch richtig priorisieren. Dies schließt ein entsprechendes Budget ein. Ferner sind auch Freiräume zur Umsetzung zu schaffen. Dies führt anderseits auch zu Notwendigkeiten, im Bereich der Personalabteilungen ggf. Änderungen zu initiieren. Über viele Jahre dominierte die klassische Funktionsaufteilung in vielen Personalabteilungen. Diese Einheiten waren für einen klar abgrenzbaren Bereich verantwortlich und bearbeiteten alle bereichsrelevanten Fragestellungen. Ergebnis dieser Organisationsstrukturen waren oft kompetente Experten, die jedoch oftmals keinen ganzheitlichen Ansatz verfolgten. Dies wird jedoch einem modernen und integrativen Talentmanagement nicht gerecht. Talentmanagement zu implementieren kann daher schon daran scheitern, dass die organisationalen Strukturen hierfür nicht stimmen. Eine Organisation, die sich stärker an Prozessen ausrichtet, kann hier eine sinnvolle und notwendige Weiterentwicklung darstellen. Dies impliziert auch die Schaffung bzw. Sicherstellung spezieller unternehmenskultureller Voraussetzungen. Wenn eine Kultur der Förderung von Talenten im Alltag gelebt wird, kann Talentmanagement auch gelingen. Hierfür müssen sich alle Beteiligten engagieren. Die Führungskräfte nehmen dabei eine zentrale Rolle ein und Personaler sollten aktiv agieren und nicht lediglich Vorgaben der Geschäftsführung reaktiv umsetzen. Die allgemeinen Herausforderungen des Personalmanagements zu mesitern, ist per se eine komplexe Aufgabe für alle Beteiligten. Talentmanagement in diesem Kontext zu gestalten ist richtig und notwendig. Je stärker die Auswirkungen der Digitalisierung jedoch ausfallen und je fragiler sich die diesbezüglichen Veränderungen entfalten, desto bedeutender wird das Thema Digital Leadership und in

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diesem Zusammenhang auch das Themenfeld Talentmanagement. Die sich aus der Digitalisierung heraus ergebenden Konsequenzen werden sich weiter ausdifferenzieren. Ein verändertes Führungsverhalten kann nur durch ein funktionierendes Talentmanagement im Unternehmen gestaltet werden. Damit ist und bleibt Talentmanagement ein zentraler Erfolgsfaktor für Unternehmen – heute und in Zukunft.

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Prof. Dr. Wolfgang Bohlen  ist an der AKAD University Professor für Personalwirtschaftslehre und Organisation. Er ist Studiendekan der School Business Administration and Management, Studienleiter für den Bereich Personalmanagement sowie Leiter des Studiengangs Talentmanagement und im Expertenteam Talentmanagement Award des Handelsblatts. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre, einem MBA im Bereich Bildungsmanagement und einer Promotion arbeitete er zunächst viele Jahre als Personalreferent. Anschließend war er über zehn Jahre als selbstständiger Personal- und Organisationsentwickler tätig. Seit 2011 ist er Professor an der AKAD University.

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Inhaltsverzeichnis 17.1  E  influssfaktoren der digitalen Transformation  17.2  Erfolgreiche digitale Unternehmen  17.2.1  Case Study: Unternehmen Uber  17.2.2  Case Study: Führungsverhalten Barack Obama  17.3  Leadershipmodelle gestern und heute  17.3.1  Ausgewählte Leadershipmodelle vor 2000  17.3.2  Ausgewählte Leadershipmodelle nach 2000  17.4  Kompetenzanforderungen an einen Digital Leader  Literatur 

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17.1 Einflussfaktoren der digitalen Transformation Die Internationalisierung im Internet schreitet nach wie vor in Riesenschritten voran. Schon bei der Globalisierung haben wir uns mit dem enormen Wachstum der Internetcommunity beschäftigt. Abb. 17.1 zeigt auf, dass Ende 2017 etwa 3,7 ­Milliarden Menschen Zugriff auf das Internet hatten, ob über Smartphone, Notebooks oder Desktoprechner. Bis zum Jahre 2020 rechnen die Zukunftsforscher mit über 50 Milliarden Internet of Things (IoT). G. Wächter (*) manamak, Neufahrn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_17

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Abb. 17.1  Menschen mit Internetzugang 2017 weltweit

Abb. 17.2  Menschen mit Interzugang 2017 Deutschland. (Quelle: https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/36146/umfrage/anzahl-der-internetnutzer-in-deutschland-seit-1997/)

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Wir erleben schon heute, dass Daten von allen Geräten produziert werden und der Verarbeitung bedürfen. Logistikströme werden berechnet, Verkehrsströme optimiert – selbst wenn wir es auf den deutschen Straßen nicht immer wahrnehmen. Abb. 17.2 zeigt die Anzahl der Internetnutzer in Deutschland Ende 2017 über 13 Jahre. Wir schauen pro Tag 2500 Mal auf unser Smartphone und beobachten, ob wir Nachrichten über welche Kanäle auch immer erhalten haben. Bei der Frage nach den Auswirkungen der digitalen Transformation auf die Beschäftigungseffekte unterstellen 55 % die Entstehung neuer Tätigkeitsfelder, 41 % gehen davon aus, dass die Flexibilisierung bei den Beschäftigungsverhältnissen weiter zunimmt, aber 21 % haben die Befürchtung, dass die Kernmannschaften der Unternehmen drastisch verkleinert werden. Welche Hemmnisse gibt es bei der digitalen Transformation? 75 % aller Befragten sehen die hohen Investitionskosten, 53  % nach wie vor den Mangel an Fachkräften, nur für 7 % ist der Nutzen unklar. In Abb.  17.3 sehen 53  % die Anpassung der Führungskultur an die flexiblen Arbeitsmodelle als die größten Herausforderungen bei der digitalen Transformation, 44 % sehen die Kulturveränderungen als größte Herausforderung und 32 % sehen die Integration der Kundenanforderungen als notwendige Aufgabe. Die Bereitschaft, Kundenanforderungen in der digitalen Transformation zu berücksichtigen, ist unterentwickelt. Die Notwendigkeit, gemeinsam mit den Kunden veränderte Services und Produkte zu definieren und zu entwickeln, hat spätestens zum Ende des letzten Jahrhunderts begonnen und nimmt immer mehr Fahrt auf. Um die Differenzierung zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation zu verdeutlichen, sei auf den Versuch einer Definition und Abgrenzung verwiesen.

Abb. 17.3  Herausforderungen der digitalen Transformation für die Arbeitsorganisation. (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/682289/umfrage/umfrage-zu-herausforderungen-der-digitalen-transformation-fuer-die-arbeitsorganisation/)

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Die Digitalisierung ist ein permanenter Prozess, der schon Jahrzehnte zu immer höheren Automatisierungen in den Unternehmen, der öffentlichen Verwaltung und der Gesellschaft geführt hat. Die digitale Transformation ist der Transfer bisheriger Businessmodelle in neue, veränderte Geschäftsmodelle, um neue Anwendungsfelder zu erschließen, die ohne die Digitalisierung nicht erschließbar sind. cc Digitalisierung  Die Digitalisierung umfasst die Veränderung der Prozesse, Abläufe und Produkte durch den Einsatz von IT-Technologie in Hard- oder Software und die damit verbundene Performanceverbesserung der internen Ablauforganisation und der Kommunikation mit externen Partnern. cc Digitale Transformation  Die digitale Transformation umfasst die strategische Entwicklung eines Unternehmens, das die informationstechnischen Entwicklungen (also die Digitalisierung) im wesentlichen Umfang für Entwicklung eigener neuer Produkte und Dienstleistungen einsetzt und damit neue Geschäftsmodelle entwickelt. Neben der Definition neuer Produkte und Dienstleistungen als Folge der digitalen Transformation spielt die Erschließung neuer Märkte eine wesentliche Rolle. Wie schnell gelingt es, Nutzer für die entwickelte Dienstleistung zu gewinnen? Wie gelingt es, diese Nutzer zu halten? Wie kann ein Unternehmen mehrere Milliarden Nutzer mit Informationen versorgen? Einige Anbieter handeln inzwischen mit mehreren tausend Produkten und legen nach wie vor rasante Wachstumszahlen vor. In Abb. 17.4 ist die Bedeutung der Geschwindigkeit der Kundengewinnung in den letzten hundert Jahren deutlich ablesbar. Zur Gewinnung von 50 Millionen

Abb. 17.4  Wie lange benötigt ein Unternehmen zur Gewinnung von 50 Millionen Anwendern? (Quelle: Christoph Keese, CEO Axel Springer hy GmbH [email protected] Vortrag am 19.09.2017, Tagung Digitale Transformation in der TU München)

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Nutzer von Telefonen wurden 75 Jahre benötigt, nach nur 3,5 Tagen hatte das Spiel Pokemon Go! von Nintendo ebenfalls 50 Millionen Anwender. Nur durch die Geschwindigkeit der Produktauslieferung über das Internet konnten diese enormen Nutzerzahlen in so kurzer Zeit erreicht werden.

17.2 Erfolgreiche digitale Unternehmen Die Bewertung einzelner Personen und Führungskräfte als Außenstehender durchzuführen ist sehr schwierig. Welche Eigenschaften und Kompetenzen die Führungsmannschaft der jeweiligen Unternehmen im Detail besitzt, kann nur durch persönliche Interviews mit den handelnden Personen gewonnen werden. Bei der meiner Bewertung habe ich in erster Linie zugängige Sekundärliteratur als Quelle herangezogen. Die wesentlichen Kriterien für den Erfolg der Unternehmen habe ich aus dem Aktienkurs der Unternehmen und der Marktkapitalisierung abgeleitet, wohl wissend, dass dies nur eine Facette eines erfolgreichen Unternehmens darstellt. Ausgangspunkt der Überlegungen war dabei, dass sich die Plattformunternehmen in den letzten Jahren als die Gewinner herauskristallisiert haben. In Abb. 17.5 zeigen die zehn größten Plattformunternehmen insgesamt eine Bewertung von mehr als 2700 Milliarden $, die zehn größten Dax-Unternehmen etwas weniger als 800 Milliarden $. Daran ist sehr deutlich erkennbar, dass sich in den letzten 15 Jahren eine massive Verschiebung hin zu digitalen Unternehmen ergeben hat. Die spannende Frage dabei bleibt: Ist der Erfolg der Plattformunternehmen nur von den innovativen Ideen der Gründer abhängig oder spielen auch veränderte Kompetenzanforderungen an die verantwortlichen Führungskräfte und Digital Leader ein Rolle?

52 % der Unternehmen sind in den vergangenen 15 jahren aus dem S&P 500 verschwunden

Die durchschnittliche Verweildauer sank von 61 auf 17 jahre

Die 10 größten Plattformunternehmen haben einen Börsenwert von 2.736 Mrd.$, die 10 größten Dax Unternehmen von 797 Mrd. $

Abb. 17.5  Bewertung der Unternehmen Plattform versus Dax. (Quelle: Christoph Keese, CEO Axel Springer hy GmbH [email protected] Vortrag am 19.09.2017, Tagung Digitale Transformation in der TU München)

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17.2.1 Case Study: Unternehmen Uber Die Uber-Statements: 1 „Die einfachste Art, ans Ziel zu kommen: Auf Knopfdruck kommt ein Fahrzeug direkt zu dir. Steige ein – dein Fahrer kennt den Weg genau. Am Zielort steigst du einfach wieder aus. Die Zahlung erfolgt ganz automatisch und unkompliziert. Überall, jederzeit: Tägliches Pendeln. Besorgungen in der Stadt. Der Flug am frühen Morgen. Drinks am späten Abend. Was auch immer anliegt, mit der Uber App kommst du immer an dein Ziel, ohne vorher reservieren zu müssen. Von günstig bis luxuriös: Wagen der Economy-Klasse zu normalen Preisen stehen immer zur Verfügung. Wenn du zu besonderen Anlässen oder einfach nur so mit einem stilvollen Auto fahren möchtest oder mal ein bisschen mehr Platz brauchst, bestelle einen schwarzen Wagen oder ein SUV.“

Das Unternehmen Uber ist ein erfolgreiches Unternehmen, das den Markt des Personentransports innerhalb kürzester Zeit dramatisch verändert hat. Travis Kalanick ist ein Visionär und hat existierende Strukturen im Fahrdienstbereich weltweit aufgebrochen. Uber ist inzwischen in über 600 Städten, wie beispielsweise in Abb. 17.6 dargestellt, weltweit vertreten.

Abb. 17.6  Uber auf den Philippinen. (Quelle: shutterstock_659809438.jpg)  Die genannten Statements stammen von der Internetseite www.uber.com/de.

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Und doch haftet der Erfolgsstory ein Makel an. Travis Kalanick war aus der Sicht der direkt Beteiligten, der Aktionäre, der Kunden und der Mitarbeiter, kein erfolgreicher Digital Leader. Damit wird in erster Linie die mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Menschen verstanden. Travis Kalanick hat selbst sein Defizit im sozialen Verhalten zugegeben. Das hat ihn allerdings nicht davor bewahrt, seine Vorstandsposition aufgeben zu müssen. Zudem ist Uber in vielen Ländern mit Gerichtsverfahren konfrontiert. Dies ist bei solchen Umwälzungsprozessen durchaus nachvollziehbar. Veränderungsprozesse sind immer schwierig zu managen und erfordern Kompetenzen, die mit den klassischen Managementmodellen und Kulturen nicht bewältigt werden können. Etwas von digitalen Geschäftsmodellen zu verstehen, reicht nicht aus. Digitale Kenntnisse verbunden mit den Kompetenzen, die den Anforderungen an einen Digital Leader entsprechen, werden die Voraussetzung für den erfolgreichen, akzeptierten und nachhaltig erfolgreichen Manager bilden.

17.2.2 Case Study: Führungsverhalten Barack Obama Das Management des White House verfolgte den Einsatz zur Festsetzung Osama bin Ladens am 1. und 2. Mai 2011 in Pakistan. Es war in der Beobachtung der militärischen Aktion eingebunden und über Kommunikationskanäle direkt mit dem Team vor Ort verbunden. Barack Obama als Präsident der Vereinigten Staaten war ebenfalls anwesend. Als oberste Führungsinstanz hat er über mehrere Hierarchieebenen hinweg das Geschehen verfolgen können. Nach allen Informationen, die uns heute über diesen Vorgang vorliegen, hat er nicht in die Details dieser Aktion eingegriffen, obwohl er als oberster Befehlshaber theoretisch diese Befehlsgewalt hätte ausüben können (Abb. 17.7). Die vollständige Digitalisierung der Kommunikation in der Kombination mit direkt übertragenen Bildern der konkreten Situation hätte Auswirkungen auf das Führungsverhalten des Managements haben können. Nicht die Möglichkeit der Einflussnahme war hier angezeigt, sondern die Zurückhaltung der Führung. Die Verantwortung und die Durchführung der Aktion lagen in den Händen der Einsatztruppe vor Ort. Die dafür benötigten Kompetenzen der Führungsmannschaft spiegeln sich in den geforderten Kompetenzen eines Digital Leader: Vertrauensbereitschaft, sozial hochkompetent und mutig.

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Abb. 17.7  Führungsmannschaft White House beim Militäreinsatz Osama bin Laden. (Quelle: https://edition.cnn.com/2013/09/09/world/death-of-osama-bin-laden-fast-facts/index.html)

17.3 Leadershipmodelle gestern und heute Die Leadershipmodelle haben sich in den letzten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts nur in ihren Ausprägungen geändert. Wesentliche Weiterentwicklungen oder auch ganz neue revolutionäre Ansätze konnte ich während meiner Berufslaufbahn nicht feststellen. Vor allem die Management-by-Techniken habe ich – beginnend mit der Managementausbildung bei einem großen Automobilunternehmen  – in sehr vielen Facetten kennengelernt. Eine gemeinsame Definition des Begriffes Leadership habe ich nachfolgend zusammengefasst (Lies o. J.). Leadership 1. Begriff: Leadership (Führung) bezeichnet  – nicht einheitlich definiert  – die menschen-, verhaltens-, eigenschafts-, interaktions- und/oder motivationsorientierten Aufgaben des Managements. 2. Bedeutung: Während Management in der Tradition der Betriebswirtschaft vor allem analytische Fähigkeiten zur Planung von Organisation, Struktur, Prozessen und Kapazitäten erfordert, machen krisenhafte Situationen und Phasen des tief greifenden Wandels besonders deutlich, dass nicht nur die Herleitung, sondern vor allem die Durchsetzung von Entscheidungen eine zentrale Manage-

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mentherausforderung sein kann. Entsprechend beinhaltet Leadership einerseits Eigenschaften (z.  B.  Charisma, Persönlichkeit, Sympathie) und andererseits Fähigkeiten (z. B. Motivationsfähigkeit, Rhetorik, Überzeugungskraft), die in eine interaktionsbezogene und verhaltensbeeinflussende Managementkompetenz als zentrale Charakteristika von Leadership münden. Damit wird deutlich, dass neben den Managementtechniken, die traditionell eher auf die harten Faktoren des Managements eingehen, die Soft Skills des Managers immer stärkeren Einfluss auf die Umsetzung der strategischen Ziele des Unternehmens nehmen. Darüber hinaus wird durch die Integration von Frauen und Männern, die zuhören können und Überzeugungskraft besitzen, die interaktionsbezogene Kompetenz als zentraler Kristallisationspunkt für die positive Bewältigung der anstehenden Führungsaufgaben wichtiger denn je. Führungsstile bezeichnen, basierend auf den Forschungen von Kurt Lewin et al. (1939, S. 271–301), Max Weber (1922) sowie Blake und Mouton (1964), die Umsetzung und konkrete Anwendung des Führungsverhaltens. Autoritärer und hierarchischer Führungsstil, demokratischer oder auch kooperativer Führungsstil, patriarchalischer Führungsstil sowie autokratischer oder bürokratischer Führungsstil prägten die Führungsstile der Vergangenheit. Diese Stile sind rückwärts orientiert und gestatten keine systemische und systematische Personalentwicklung der Führungskräfte. Das liegt unter anderem daran, dass die konkrete Situation, in der sich Mitarbeiter und Führungskraft befinden, immer unterschiedlich sein wird. Deshalb wird in der Führungsausbildung verstärkt die Entwicklung zielbezogener Führungsund Managementkompetenzen forciert, um situativ die richtige Managementtechnik, gepaart mit dem authentischen Verhalten der Führungskraft, anwenden zu können.

17.3.1 Ausgewählte Leadershipmodelle vor 2000 Management by Objectives, Management by Alternatives, Management by Results, Management by Exception, Management by Delegation, Management by Crisis, Management by Decision Rules, Management by Systems. Diese Managementtechniken beschreiben den zielgerichteten, auf die Strategie des Unternehmens ausgerichteten Umgang zwischen Management und Mitarbeiter. Auffällig hierbei ist, dass sich beispielsweise Kundenorientierung nur in der operativen Umsetzung wiederfindet und keine Verankerung der Kundenbedürfnisse in den Führungsmodellen zu finden ist. In dem Modell Management by Objectives beispielsweise vereinbaren Management und Mitarbeiter gemeinsame Ziele für den Mitarbeiter. So werden die Vertriebsziele, die im Rahmen von Management by Objectives zu erfüllen sind, auf den einzelnen Kunden übertragen, es gibt aber keine Feedbackschleife mit den Kundenanforderungen im Vorfeld, ob diese Ziele nachhaltig erreichbar sein werden.

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Abb. 17.8  Kompetenzausprägung der Manager vor 2000

Betrachten wir die benötigten Kompetenzen in Abb. 17.8, finden wir in den Führungsstilen und in den Management-Modellen einige der Kompetenzen, die schon in den vergangenen Jahren die Basis für eine erfolgreiche Managementkarriere waren. patriarchalisches Führungsmodell geprägt. Wenn man nur seinem Vorbild folgt und versucht in die Fußstapfen des Vorbildes zu treten, können keine eigenen Spuren hinterlassen werden. Entscheidungen zu fällen, ergebnisorientiert zu führen und gemeinsame Ziele zu vereinbaren, aber keine Freiräume einzuräumen, wird durch die Veränderung der Gesellschaft und vor allem durch die Wertevorstellungen jüngerer Generationen immer häufiger in Frage gestellt. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass mit der Jahrtausendwende und der Generation Y neue Führungsmodelle einwickelt wurden.

17.3.2 Ausgewählte Leadershipmodelle nach 2000 Albert Einstein wird das Zitat zugeschrieben: „Probleme lassen sich nicht durch die gleiche Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind!“2 Vorhandene Strukturen und Prozesse gilt es aufzubrechen und neu zu gestalten (Königes 2018). Aus Sicht der Organisationsentwicklung ist es notwendig, dass Veränderungen immer wieder stattfinden. Sowohl die Hard Facts wie Prozesse, Strukturen oder Systeme werden sich ändern, als auch Soft Facts wie das persönliche Verhalten, die Beziehungen im Unternehmen, die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen und Vorgesetzten – darüber hinaus sind Leadership und Managementprinzipien diesem Wandel unterworfen. Rahmenbedingung dafür ist einerseits der Wechsel der Generationen und damit veränderte Wertevorstellungen, andererseits die Zusammenarbeit mit Personen aus anderen Kulturkreisen, beispielsweise beim Aufbau internationaler Konzerne.  Albert Einstein (1879–1955).

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Abb. 17.9 Leipziger Führungsmodell, schematische Darstellung

17.3.2.1  Das Leipziger Führungsmodell Das Leipziger Führungsmodell (Kirchgeorg et  al. 2017) stammt von der HHL Leipzig Graduate School of Management, stellt den Einzelnen in der Organisation stärker in den Mittelpunkt und hat damit einen großen Fokus auf den Menschen als handelndes Wesen. Gleichzeitig ist der Mensch in diesem Modell sehr innovationsorientiert und unternehmerisch. Das in Abb. 17.9 dargestellte Führungsmodell hat folgende vier Ausprägungen: 1. Mit der Dimension Purpose (Absicht) wird die Zweck-Mittel Relation in der Führungsarbeit hervorgehoben. Die Frage nach dem Warum, dem Ziel und Zweck einer Aufgabe und der daraus ableitbaren Legitimation eines Geschäftsmodells stehen hierbei im Vordergrund. Erst wenn es gelingt, überzeugend eine durchgängige Argumentationskette aufzubauen, werden alle beteiligten Personen an dem berühmten gemeinsamen Strick ziehen. 2. Mit der Dimension Unternehmergeist beschreibt das Leipziger Modell die unternehmerisch-­orientierte Führung. Das sich immer wieder „neu Erfinden“, die Erneuerung von Organisationen und die Entwicklung unserer Gesellschaft zur Bewältigung neuer, bisher nicht bekannter Anforderungen erfordern Innovationsfähigkeit in allen Bereichen. 3. Mit der Dimension Verantwortung ist eine unabdingbare Eigenschaft der Führung beschrieben. Eine Absicht, die realisiert werden soll oder auch muss, wird

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immer mit der Verantwortung für dieses Vorhaben verknüpft sein. Wenn es nicht gelingt, einen Verantwortlichen für diese Absicht, für diesen Purpose, zu finden, beschädigt dies das Management und die Umsetzung des Führungsmodels. 4. Die Dimension Effektivität ist eine der wichtigsten des Leipziger Führungsmodells. Die Auswahl des richtigen Weges zur Realisierung der geplanten Vorhaben bestimmt den Erfolg dieses Vorhabens überproportional. Diese Dimension übersetzt unternehmerische Entscheidungen unter Einbeziehung der Verantwortlichkeit in zielgerichtete Strategien sowie Strukturen und Prozesse.

17.3.2.2  Das Haufe Führungsmodell Der erste Eckpunkt des Haufe Führungsmodells (Haufe Akademie 2018) ist der Markt des Unternehmens. Jedes Unternehmen muss die Bedürfnisse der Kunden erkennen und verstehen und für diesen Markt das passende Geschäftsmodell, die daraus abgeleitete Unternehmensstrategie sowie die richtige Organisationsform entwickeln. Der Manager ist damit Führungskraft und Leader, da seine Verantwortung als Unternehmer darin besteht, die Bereichsstrategie und die Bereichsorganisation zu entwickeln und die Veränderungsprozesse zu initiieren und zu steuern (Abb. 17.10). Der zweite Eckpunkt ist der unternehmerische Erfolg. Ziele, Delegation, Steuerung und Feedback sind Kernaufgaben des Managements. Das Unternehmen soll sicherstellen, dass durch die Implementierung eines Performance Managements Abb. 17.10 Haufe Führungsmodell, schematische Darstellung

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das passende Reporting aufgebaut wird. Über die Mitarbeitergespräche werden die vereinbarten Ziele, die quantifizierbar sein müssen, abgeglichen. Das ist Grundvoraussetzung für die Möglichkeit der Messung des unternehmerischen Erfolgs. Der dritte Eckpunkt ist die Unternehmensprägung. Leitbilder und ein zur Unternehmenskultur passendes Wertesystem, die Auswahl der richtigen Mitarbeiter und Führungskräfte, die Entwicklung der Führungskräfte und Führungsleitlinien tragen dazu bei, dass die Führungskultur zum Markt und zur Prägung des Unternehmens passt. Damit kann die Führungskraft an ihrer Persönlichkeitsentwicklung arbeiten und die Basis für weitergehende Führungsrollen legen. Der vierte Eckpunkt ist das Mitarbeiterengagement. In der Beziehung zu den Mitarbeitern hat die Führungskraft für nachhaltige Beziehungen, für Motivation und für die Entwicklung der Mitarbeiter sowie für ein funktionierendes Team zu sorgen. Regelmäßige Mitarbeitergespräche als Ergänzung zu den Zielgesprächen sorgen für eine andere Qualität und Atmosphäre.

17.3.2.3  Network Leadership Modell Das Network Leadership Modell (Wala und Lebok 2017), dargestellt in Abb. 17.11, gilt im Moment als eines der aussichtsreichsten Führungsmodelle der Zukunft. ­Networking, also der Aufbau tragfähiger, vertrauensvoller Beziehungen als Modell

Abb. 17.11  Network Leadership, schematische Darstellung

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zwischen den Menschen, und projektorientiertes Arbeiten sind für die Unternehmen lebenswichtig. Projektarbeit ist in den Unternehmen häufig Triebfeder für Innovationen. Mit dem Prinzip Network Leadership können die Unternehmen effizienter und schneller in sich dynamisch ändernden Umgebungen agieren. Netzwerke und Teams entstehen gemäß der Anforderungen der Kunden und des Unternehmens. Klassische hierarchische Strukturen bremsen die Unternehmen aus. Die erfolgreichen Projektleiter von morgen sind diejenigen, die gut vernetzt sind. Führungseignung wird mehr mit den durchgeführten erfolgreichen Projekten verknüpft. Titel alleine genügen nicht mehr den Ansprüchen an die Führungskraft und an die Führungspersönlichkeit. In der permanenten Veränderung muss sich auch die Führungskraft immer wieder beweisen und sich gemeinsam mit dem Unternehmen, dem Markt und den Mitarbeitern weiterentwickeln. Alte Anreizsysteme mit hohen Gehältern und Statussymbolen, wie Eckzimmer oder Firmenwagen, kommen bei der jungen Generation immer weniger positiv an. Die Mitarbeiter fordern Freiraum und Vertrauen in die persönliche Leistungsfähigkeit. Empathie ist hier das Schlüsselwort. Technische Weiterentwicklungen in der Kommunikation verändern die Kommunikation an sich. WhatsApp oder Slack sind prägnante Beispiel für diese Veränderungen. Direkte Kommunikation, um Fragen und Antworten schnell und ohne formale Rahmenbedingungen auszutauschen. Persönlichkeiten wollen auch im Unternehmen honoriert werden. Das Führungsmodell und die daraus resultierenden Konzepte werden sich diesen Anforderungen anpassen, wenn das Unternehmen auch zukünftig wettbewerbsfähig bleiben möchte. Wie können Unternehmen unter diesen Bedingungen Bindung zu den Mitarbeitern aufbauen? Die Zauberwörter heißen Akzeptanz und Respekt. Unternehmen müssen wieder lernen, Mitarbeiter und Kunden ernst zu nehmen, zuzuhören und alle als erwachsene, leistungsfähige und leistungsbereite Partner wahrzunehmen und zu akzeptieren. Auch in großen Unternehmen ist die Kommunikation über alle Hierarchieebenen hinweg einfach möglich. Die Zeiten des „Information Hiding“ sind vorbei. Zwar wird diese Veränderung nicht in allen Unternehmen vorgelebt, aber einige Beispiele wie die Dieselaffäre oder einige Finanzinstituten zeigen, dass The Old Way nicht mehr funktioniert. Augen zu verschließen und nicht zu kommunizieren ist in unserer Medienlandschaft keine Alternative. Manager sind angehalten, ihren Führungsstil zu ändern. Misstrauenskultur und permanente Überprüfung der Produktivität, der Zielerreichung und der Effizienzverbesserung passen nicht zur neuen Population von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Kommunikation läuft überwiegend in Echtzeit, Nachrichten haben

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oftmals nur Tweetlänge, sind aber dafür häufiger pro Tag. Starre Kommunikationsstrukturen sind auf dem Rückzug und geben dem lebendigen und digitalisierten Netzwerkorganismus den Raum. Selbst traditionelle Unternehmenslenker aus der Automobilbranche sind entschlossen, die bisherigen Verhaltensweisen im Unternehmen nachhaltig zu verändern.

17.4 Kompetenzanforderungen an einen Digital Leader Ausgehend von dem Kompetenzmodell aus dem 20. Jahrhundert ist es unabdingbar, sich den neuen Entwicklungen in der Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiter und Führungskraft zu stellen. Die nachrückende Generation lässt sich nicht so einfach in eine Richtung schieben, sondern möchte immer wieder in die sie betreffenden Entscheidungsprozesse mit eingebunden sein. Gehört zu werden und gleichzeitig auch Verantwortung für das persönliche Handeln zu übernehmen, ist gewünscht, selbst wenn die Projekte nicht immer sofort zu Erfolgen führen. Dafür ist das Zusammenspiel zwischen Management und Führungskraft, aber auch zwischen Management und allen anderen Stakeholdern verantwortlich. Kompetenzen der Vergangenheit haben sich teilweise überlebt, Kompetenzen für die Zukunft werden gerade entwickelt. Es ist aber nicht so, dass wir alle Kompetenzen, die ein Digital Leader benötigt, neu erfunden haben. Auch im letzten Jahrhundert gab es schon erfolgreiche Unternehmen, die mit der Digitalisierung gut umgehen konnten und mit Neugründungen oder digitaler Transformation neue Geschäftsfelder aufgebaut oder zum Portfolio hinzugefügt haben. Inzwischen ist die Kompetenzanforderung an einen Digital Leader geschärft. Von einem Leader des Digitalisierungszeitalters werden heute zahlreiche Kompetenzen erwartet, teilweise mehr als die Manager erfüllen können. Die Kompetenzanforderungen sind zwar nicht widersprüchlich, aber höchst komplex (Abb. 17.12). Dem Change Management aufgeschlossen und entschlossen in der Vorgehensweise, sozial hochkompetent im Team und mutig im Vorangehen, disruptiv in der Infragestellung alles bisher Gedachten und Gelebten, innovativ im Zulassen von neuen Ideen zu Produkten, Dienstleistungen und Prozessen, vertrauensbereit gegenüber dem Team und dem Management sowie bereit, die Verantwortung für die gestellten Aufgaben und Projekte zu übernehmen. Und darüber hinaus muss der Digital Leader in der Lage sein, das Unternehmen in die digitale Transformation zu führen und den Wandel aktiv zu gestalten. Dazu ist es notwendig, dass der Digital Leader auch sattelfest in dem bisherigen Businessmodell des Unternehmens ist und seinen Mitarbeitern und Teammitgliedern Rede und Antwort stehen kann. Oder praktikabler: Nicht der Oberbuchhalter ist

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Abb. 17.12  Kompetenzanforderung an den Digital Leader. (Modell nach Christiane Bauder-­Visbeck: Netzwerk schlägt Hierarchie, Christiane Brandes-Visbeck, Ines Gensinger)

gewünscht, sondern der sozialkompetente Manager, der seinen Mitarbeitern die richtigen Fragen stellt, um damit Lösungen und neue Wege zu ermöglichen. Er muss Digitalisierung verstehen. Aber nicht der Programmierer ist gefragt, sondern der Programmgestalter. Medienkompetenz wird dabei immer wichtiger. Das bedeutet, dass die Form zurücktritt und der Inhalt punktet. Wenn es etwas zu erzählen gibt, ist es immer sehr viel spannender, darüber zu sprechen, als auf Hochglanzfolien Plattitüden zu präsentieren. Als zusätzliche Rahmenbedingung gilt, dass der Digital Leader bereit und fähig sein muss, sein Team zusammenzustellen und seine Mannschaft aufzubauen. Vielleicht geht das nicht immer kurzfristig, aber mittelfristig ist das unabdingbar. Und die besten Teammitglieder kommen nicht unbedingt nur aus dem eigenen Kulturkreis. Diversity ist hier das Zauberwort. Damit das Zusammenwirken funktioniert, ist hierbei ein sozial hochkompetentes Verhalten mit Mut und Entschlossenheit notwendig. Übrigens nicht nur vom Digital Leader, sondern von allen Teamkollegen und Mitarbeitern. Welches der beschriebenen Führungsmodelle des 21. Jahrhundert in einem Unternehmen implementiert wird, hat keinen grundsätzlichen Einfluss auf die Kompetenzanforderungen an einen Digital Leader. Die vorgestellten Führungsmodelle sind in Unternehmen implementiert und haben den Erfolg der Unternehmen nicht verhindert, wenn die Manager in der Lage sind, die Kompetenzanforderungen an einen Digital Leader – zumindest teilweise – zu erfüllen.

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Wir sollten uns verabschieden von der Idee, dass wir nur genügend Digital Leader ausbilden müssen und anschließend innerhalb kurzer Zeit ganz viele erfolgreiche Champions in der Unternehmenslandschaft haben. Diese Veränderungsprozesse dauern lange, weil sich die Verhaltensweisen der Menschen verändern müssen. Dies ist kein Kurzstreckenlauf, sondern eine Mitteldistanz. Ein Drei- bis Fünfjahresprojekt. Die Unternehmen werden dafür Budget zur Verfügung stellen müssen. Es würde aus meiner Sicht nicht schaden, wenn auch unsere Lehrkräfte  – gleichgültig in welcher Schulform – etwas mehr von den Kompetenzen eines Digital Leader annehmen. Damit legen wir die Basis für die nächsten Digital Leader eventuell schon in der Schule. Die Führungskräfte des 20. und 21. Jahrhunderts werden in der Lage sein, sich fehlende Kompetenzen anzueignen. Voraussetzung dafür ist die Veränderungsbereitschaft, das heißt der Mut, etwas Neues zu probieren, und die Veränderungsfähigkeit der Manager, diesen Change aktiv zu gestalten. Es gibt genügend gute Bildungsexperten und Coaches, die in der Lage sind, die Manager und Führungskräfte in diesem Prozess und auf diesem Wege zu begleiten.

Literatur Blake, R., & Mouton, J. (1964). The managerial grid: The key to leadership excellence. Houston: Gulf Publishing Co. Haufe Akademie. (2018). Haufe Führungsmodell. https://www.haufe-akademie.de/themenwelt/fuehrung-leadership/haufe-fuehrungsmodell/. Zugegriffen am 04.04.2019. Kirchgeorg, M., Meynhardt, T., Pinkwart, A., Suchanek, A., & Zülch, H. (2017). Das Leipziger Führungsmodell. Leipzig: HHL Academic Press (ISBN 978-3-9818509-2-5). Königes, H. (2018). Die Erwartungen an die neuen Chefs sind hoch. Computerwoche. https:// www.computerwoche.de/a/die-erwartungen-an-die-neuen-chefs-sind-hoch,3544085. Zugegriffen am 04.04.2019. Lewin, K., Lippitt, R., & White, R. K. (1939). Patterns of aggressive behavior in experimentally created social climates. Journal of Social Psychology, 10, 271–301. Lies, J. (o. J.). Leadership. Gabler Wirtschaftslexikon. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/ definition/leadership-54083/version-277137. Zugegriffen am 04.04.2019. Wala, H., & Lebok, U. (2017). Hierarchie war gestern: Warum Network-Leadership das Führungsmodell der Zukunft ist. Focus online Money. https://www.focus.de/finanzen/experten/wala/zeit-zum-umdenken-hierarchie-war-gestern-warum-network-leader­ship-dasfuehrungsmodell-der-zukunft-ist_id_6627373.html. Zugegriffen am 04.04.2019. Weber, M. (1922). Kapitel III: Die Typen der Herrschaft. Wirtschaft und Gesellschaft. http://www.zeno.org/Soziologie/M/Weber,+Max/Schriften+zur+Wissenschaftslehre/ Die+drei+reinen+Typen+der+legitimen+Herrschaft. Zugegriffen am 04.04.2019. Weber, M. (1922). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen. (VA: Schlüsselwerke der Politikwissenschaft Springer 5. Aufl., Hrsg. Johannes Winckelmann, Tübingen 1980)

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Gerhard Wächter  ist seit vier Jahren Geschäftsführer und Gesellschafter der Manamak GmbH und seit zwei Jahren CEO der Digital Learning GmbH in Neufahrn. Der studierte Informatiker mit Managementausbildung im VW-Konzern, Vertriebsausbildung und Projektmanagement-Basisausbildung PM verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung in verschiedenen Management-Positionen diverser Unternehmen. Darunter zehn Jahre als Abteilungsleiter bei Audi in Ingolstadt sowie international als Geschäftsführer der Integrata AG in Österreich, Frankreich und der Schweiz. Er hält seit Jahren Vorträge zum Thema Change Management, Digitale Transformation und Digital Leadership, Personal- und Organisationsentwicklung, Betriebliches Gesundheitsmanagement und Demografie sowie im Bereich der Entwicklung des Trainingsmarktes und neuester inhaltlicher IT-Trends.

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Inhaltsverzeichnis 18.1  E  inordnung: Wie verstehen wir es?  18.2  Industrialisierung: Anforderung und Anpassung  18.2.1  Begriffe und Begrifflichkeiten  18.2.2  Semantik und Symbolik, aber auch Substanz  18.2.3  Aufbruch und Angst  18.3  Kompetenzen und das 5-K-Prinzip  18.3.1  Beschäftigung jenseits der Beschwichtigung  18.3.2  Kompetenzentwicklung: Ganzheitlichkeit und Gemeinschaftsaufgabe  18.3.3  Ist der Wandel möglich?  18.3.4  Ist ein genereller Kompetenzwandel nötig?  18.3.5  Die Elemente eines zukunftsträchtigen Kompetenzmodelles  18.4  Digitalisierung und Kompetenzwandel – our future  Literatur 

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G. Frank (*) exprobico, Ottersberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_18

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18.1 Einordnung: Wie verstehen wir es? Als die Bundesregierung im April 2016 das Schlagwort „Arbeiten 4.0“ prägte, klang es in vielen Ohren wie Zukunftsmusik. Die im Grünbuch des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) hervorgehobene Bezeichnung erlangte, sogar gewissermaßen in Echtzeit, eine geradezu globale Tragweite. Dabei stieß sie aber nicht überall auf Resonanz. Der Kernidee des Konzeptes, heutige Arbeitsprozesse grundlegend an die Möglichkeiten der digitalen Welt anzupassen, wird auch mit Skepsis begegnet. Ausgerechnet zu Hause in Deutschland, Innovationsstandort ersten Ranges und Heimat der technologischen Kompetenzentwicklung, ruft Arbeiten 4.0 nicht lediglich Euphorie, sondern auch Existenzängste hervor. Eine repräsentative Befragung, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) jüngst durchführte, lässt aufhorchen. Denn 46 % der insgesamt 10.000 befragten Beschäftigten geben an, dass ihre Arbeitsbelastung durch die Digitalisierung bereits größer geworden sei. Nicht wenige befürchten, dass die physischen beziehungsweise psychischen Auswirkungen des erhöhten Druckes schließlich zu ihrer Berufsunfähigkeit führen könnten. Andere sind davon überzeugt, dass sie – selbst im gesunden Zustand  – ohnehin durch die fortschreitende Automatisierung am Arbeitsplatz ersetzt werden könnten, und zwar eher früher als später. Gerade in Anbetracht dessen war die Bundesregierung offenbar darauf bedacht, Dialoge zwischen Gewerkschaften, Unternehmen, Wissenschaft und Politik anzustoßen und zwar zwecks der Entstehung nachhaltiger Empfehlungen. Die Schlussfolgerungen fanden dann Einzug in ein Weißbuch, welches das BMAS im November 2016 ebenfalls mit dem Titel Arbeiten 4.0 herausgab. So weit, so gut. Mit der Veröffentlichung der Vorschläge ist es jedoch nicht getan. Die erhoffte Utopie lässt sich alleine mit der Herausgabe wohlgemeinter Weißbücher am grünen Tisch kaum herstellen. Mittlerweile beschäftigt die Thematik übrigens zahlreiche Wirtschaftsführer und Wissenschaftler, Informatiker und Ingenieure, Politiker und sogar Philosophen rund um den Globus. Erforscht ist in dieser Hinsicht schon so Einiges, aber die Umsetzung in die alltäglichen Berufs-, Arbeitsund Studienwelten scheint nicht einfach zu handhaben. Woran ermangelt es denn? Im Angesicht der zukunftsträchtigen Aufgaben, die uns bevorstehen, ist es wichtig, Kassandrarufe und konstruktive Kritik auseinanderzuhalten, und zwar auch und gerade unter Berücksichtigung historischer Erfahrungen. Diese kleine Abhandlung wird zeigen, wie das hierin erläuterte 5-K-Prinzip uns dafür wappnen könnte, die Herausforderungen von Arbeiten 4.0, beziehungsweise Industrie 4.0 angemessener zu beherrschen. Dieser Umbruch muss nicht den apokalyptischen Anfang des Endes bedeuten, sondern er kann ein erfolgsversprechendes Ende des Anfanges beinhalten. Anstatt über den Abbau der Arbeitsplätze zu lamentieren,

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sollten wir leidenschaftlich mit der Kultivierung der Kompetenzen beginnen, damit der Mensch – und nicht der Mikrochip – weiterhin im Mittelpunkt steht.

18.2 Industrialisierung: Anforderung und Anpassung 18.2.1 Begriffe und Begrifflichkeiten Die Bezeichnung Arbeiten 4.0 ist nicht etwa in einem Vakuum entstanden. Sie war von Anfang an und bleibt nach wie vor ein integraler Bestandteil des Gefüges, das als Industrie 4.0, ähnlich prägnant und ähnlich prägend, die Runde macht. Der Nexus dürfte sich logischerweise von selbst verstehen. Denn die Genesis der Arbeitsprozesse ist spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem industriell-­technologischen Wandel eng verzahnt. In diesem Sinne kündigt das Schlagwort Industrie 4.0 – nomen est omen – nichts weniger als die vierte industrielle Revolution an. Bei der ersten industriellen Revolution, die anno 1850 in England in die Wege geleitet wurde, drehte es sich um die durch Dampf- und Wasserkraft vorangetriebene Mechanisierung der Produktionsmethoden. Wie ein Lauffeuer verbreitete sie sich quer durch Europa und die Vereinigten Staaten, aber auch in Japan und weiten Teilen Asiens. Somit ereignete sich, folgenreich und nicht zuletzt folgenschwer, der Übergang von der Agrarwirtschaft in die Industriegesellschaft. Soziale und auch politische Verhältnisse wurden wie durch eine Dampfwalze überrollt und umgestaltet. Die zweite industrielle Revolution ließ nicht allzu lange auf sich warten. Sie entfaltete sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert breitflächig und wurde durch die arbeitsteilige Massenfertigung, vor allem durch den Siegeszug der Elektrifizierung und die Nutzung von elektrischem Strom und damit einhergehende Fließbandmontagen, eindeutig charakterisiert. Mit der dritten industriellen Revolution, deren konkreter Anfang auf die 1970er-Jahre taxiert wird, begann die nicht minder umwälzende Nutzung digitaler Technik und darauf beruhender Technologien. Im Verlaufe dessen kamen Elektronik, Robotik und verwandte Informationstechnologien in sukzessiven Schritten zum Einsatz, namentlich in der Form von speicherprogrammierbarer Steuerung. Diese ermöglichten die Automatisierung der Produktion: ein weiterer Quantensprung. In einer geradezu nahtlos anmutenden Anknüpfung daran wurde die Bezeichnung Industrie 4.0 aus der Taufe gehoben. Als Urheber des Begriffes gelten Henning Kagermann, Wolf-Dieter Lukas und Wolfgang Wahlster, drei Wissenschaftler, die der Forschungsunion der Bundesregierung vorstanden. Kagermann, Physiker und Manager, Lukas, Bundesministerialdirektor und ebenfalls Physiker, und Wahlster, Informatiker und Experte für

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künstliche Intelligenz, trugen gemeinsam den Begriff bereits April 2011 auf der Hannover-Messe in die Öffentlichkeit. Anderthalb Jahre später wurden Umsetzungsempfehlungen an die Bundesregierung übergeben. Dann, im April 2013, erschien der Abschlussbericht mit Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, und zwar ebenfalls auf der Hannover-Messe. Vorsitzende des Arbeitskreises waren Kagermann, mittlerweile ehrenamtlicher Chef der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, und der Physiker und Manager Siegfried Dais, Gesellschafter der Robert Bosch Industrietreuhand KG. Auch nach Vorlage des Berichtes blieb die zuständige Promotorengruppe weiterhin aktiv. Diese Tätigkeit erfolgte zunächst im Rahmen der Plattform Industrie 4.0, eines Zusammenschlusses, den der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (Bitkom), der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. (VDMA) und der Zentralverband Elektrotechnikund Elektronikindustrie e.V. (ZVEI) bildeten.

18.2.2 Semantik und Symbolik, aber auch Substanz Die Plattform Industrie 4.0 wird inzwischen vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Tandem geleitet. Auf ihre Fahne schreibt sie sich die intensivierte Verschmelzung der IT-Technologien mit den Produktionstechnologien. Infolgedessen sollten stets innovativere Produkte und Dienstleistungen ermöglicht werden. Ein hehres Ziel, und ebenda liegen Herausforderung und Hoffnung dicht beieinander. Ist Hype jedoch auch eine Komponente? Sind wir wirklich so weit gekommen, dass wir schon wieder ernsthaft über ein neues Industriezeitalter reden können? Dass wir bislang drei industrielle Revolutionen zu verzeichnen haben, wird ziemlich universell akzeptiert. Ist die Bezugnahme auf diese vorangegangenen Revolutionen dennoch übertrieben? Stecken wir womöglich einfach weiterhin inmitten der dritten industriellen Revolution? Das ist unter anderem die Ansicht des Mathematikprofessors Wolfgang Halang, der die Bezeichnung Industrie 4.0 wörtlich als „sicher vermessen und unseriös“ kritisiert. Halang bezieht sich dabei auf Rainer Drath, der als Professor für Mechatronische Systementwicklung argwöhnisch kommentiert: „Bemerkenswert ist die Tatsache, dass erstmals eine industrielle Revolution ausgerufen wird, noch bevor sie stattgefunden hat.“ Somit sehen Halang und Drath den Ausruf der Industrie 4.0 in erster Linie als Selbstreklamation seitens der Initiatoren. In dieser Hinsicht kann man unterschiedlicher Meinung sein, wobei die Einwände durchaus erwähnenswert sind. Dieser

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Nebenschauplatz der Auseinandersetzungen zeigt übrigens, dass Semantik und Symbolik nicht unbedeutsam sind, zumal sie in puncto Wahrnehmung seitens der Öffentlichkeit – und somit auch seitens aller potenziell Betroffenen – als richtungsweisend betrachtet werden können. Die Etikettierung Industrie 4.0 geschieht auf alle Fälle in bewusster Anlehnung an die bei der Software-Herstellung gewöhnliche Versionsunterscheidung. So wird die erste Ziffer der Bezeichnung um Eins erhöht, während die zweite Ziffer auf null zurückgestellt wird. Auf diese Weise werden traditionell signifikante Änderungen im Leistungsniveau angekündigt. Insofern ist die gleiche Herangehensweise bei der Etikettierung dieses Industriezeitalters nicht als Etikettenschwindel zu verstehen, geschweige denn zu verurteilen. Sie hat Substanz. Denn die Digitalisierung hat bei Lichte besehen eine neue Dimension erreicht. Es ist ebenjene Dimension, in der cyber-physische Systeme (CPS) zum Tragen kommen werden. Aus dem Konzept des Internet of Things (IoT), also dem Internet der Dinge hervorgehend, werden physische, beziehungsweise bautechnische, elektromechanische sowie auch biologische Komponenten gekoppelt, und mittels einer Datenstruktur sollten sie miteinander in Echtzeit kommunizieren. Über Proximity-Sensoren nehmen sie ihre lokale Umwelt wahr, durch Aktuatoren beeinflussen sie ihre physische Umgebung. Demzufolge werden die Überwachung und die Steuerung höchstkomplexer Anlagen in einem bislang nie dagewesenen Umfang ermöglicht. Zu den anvisierten Einsatzbereichen zählen die industrielle Produktionssteuerung (Smart Factory), die Verkehrssteuerung (Smart Mobility) und die Anwendung medizinischer Geräte (Smart Health). Im Privaten sowie auch in Businesskontexten findet auch Smart Home rasant Einzug. „Alexa sagt das auch …“, sagt meine Enkelin, wenn ich mit ihr in eine Diskussion trete über Fakten, die sie anders versteht als ich. Doch damit nicht genug: Diese Zukunftsmusik wird jetzt schon gespielt, und den Takt bestimmen die Technologien selbst. Die Plattform Industrie 4.0 beschränkt sich also nicht auf Prognosen und Prophezeiungen hinsichtlich kommender Innovationen. Nein, sie beinhaltet auch eine Protokollierung bereits eingetretener Verhältnisse. Fakt ist, dass diese Innovationen in demokratischen, weltweit agierenden Spitzentechnologieländern kaum aufzuhalten sind. Digitale Fortschritte folgen erst recht nicht der politischen Gesetzgebung, sondern ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Ausschlaggebend in dieser Hinsicht ist das Mooresche Gesetz, das zum Einmaleins der Informatik zählt. Demnach verdoppelt sich die Komplexität integrierter Schaltkreise bei niedrigen Komponentenkosten alle zwölf bis 24 Monate. Die Innovationswellen werden also nicht verebben, damit wir sie dem einen oder anderen Industriezeitalter in aller Ruhe zuordnen können. Der Tsunami, der uns hoffentlich nicht überrollt, ist schon zu spüren, denn, wie Forscher der Universität Bremen herausfanden, können wir ihn vorhersagen und uns entsprechend darauf einstellen.

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18.2.3 Aufbruch und Angst Schritt für Schritt werden die cyber-physischen Zukunftsvisionen auf eine unverkennbare Weise zur Gegenwartsrealität. In der Industrie, sowohl bei alteingesessenen Herstellern und Dienstleistern als auch bei blutjungen Start-ups, treiben Entrepreneure und Entwickler die Digitalisierung der Industrie begeistert voran. An der Basis erfasst diese Welle des Enthusiasmus jedoch noch lange nicht alle. Das ist problematisch. Denn die Digitalisierung kann schließlich nur dann erfolgreich werden, wenn sie als interdisziplinäre und interkulturelle Gemeinschaftsaufgabe begriffen wird. In diesem Sinne empfiehlt die Global Human Capital Trendstudie 2017 die konsequente parallel laufende Umsetzung der folgenden Ziele: • • • • • •

Digitalisierung der HR-Prozesse (in der Industrie, aber auch in der Verwaltung), Workforce 4.0 (Freelancer, Schwarmintelligenz, Technologie als Arbeitskraft), People Analytics als Fahrpläne für die Zukunft, Employee Experiences (Mitarbeiter im Fokus mit Rundumversorgung), Performance Management, Karriere und Lernen.

Bislang können nur wenige der Punkte in angepasster Form verwirklicht werden. Wir kennen es zwar, können es aber offenbar noch nicht als High Performer realisieren. In den Bereichen Kümmern, Kooperieren und Kommunizieren sind wir also noch nicht so weit fortgeschritten, wie es erforderlich wäre. Diesbezüglich kann man von einer gewissen Trägheit reden. Trägheit als der Widerstand gegen äußere Veränderungskräfte ist weit über die klassische Physik hinaus anzutreffen. Das „Beharrungsvermögen“ ist bei großen gesellschaftlichen Veränderungen ein bekanntes Phänomen. Gleichwohl sind Menschen keine unbelebten Objekte, die wie IoT reagieren, weil sie Impulse erhalten haben. Darüber hinaus stellt die offensichtliche Unnachgiebigkeit der Menschen in dieser Hinsicht nicht notwendigerweise eine inhärente Abneigung gegen die Technologie dar. Im Gegenteil, in ihrem sogenannten Privatleben zum Beispiel sind sie mehrheitlich sehr aktiv im Web und sehr darauf bedacht, die alleraktuellsten Apps und Updates ohne Umschweife herunterzuladen. Als interaktive Nutzer in sozialen Medien sind sie längt zu Prosumenten geworden, ihren eigenen Content erstellend. Gerade in diesem Rahmen agieren sie autonom. Doch sie fürchten um ihre Autonomität und nicht zuletzt um ihr Wohlbefinden, wenn sie an die cyber-physische Erneuerung ihres abhängigen Arbeitsplatzes denken.

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Nahezu die Hälfte der zehntausend befragten DGB-Mitglieder tendiert dazu, wie eingangs erwähnt, das Konzept Industrie 4.0 mit Sorge zu betrachten. Sie wüssten noch nicht, wie sie damit auf der Arbeit zurechtkämen. Vielmehr: Sie fürchten, dass sie gerade deswegen eines Tages plötzlich nicht mehr zur Arbeit kommen könnten – oder kommen dürften. Eine Studie der ING DiBa sagt voraus, dass bis zu 18,3 Millionen der Arbeitsplätze in Deutschland bis 2025 ersetzt werden könnten. Die Zahl entspricht beinahe 59  % der heute erwerbstätigen Bevölkerung. Gemäß der Analyse sind die folgenden fünf Berufe am meisten gefährdet: • Büro- und Sekretariatskräfte (1,9 Millionen Arbeitsplätze), • Hilfskräfte für Post- und Zustelldienste sowie Lagerwirtschaft (1,5 Millionen Arbeitsplätze), • Verkäufer (1,2 Millionen Arbeitsplätze), • Hilfskräfte in der Reinigung (1,1 Millionen Arbeitsplätze), • Gastronomieservicekräfte (661.570 Arbeitsplätze). Alleine in diesen fünf Berufen wären 6,3 Millionen Erwerbstätige betroffen. Sicherlich muss diese Prognose, so objektiv sie auch sein mag, letztendlich relativiert werden. Denn sie verrät eine wichtige Sache eben nicht: Praktisch gleichzeitig werden zahlreiche neue Arbeitsplätze entstehen. Das lehrt uns schon die Geschichte. In vergangenen Industriezeitaltern verhielten sich Arbeitnehmer und deren Vertreter auch anfangs ziemlich skeptisch, was die potenzielle Auswirkung technischer Innovationen auf ihre Weiterbeschäftigung anbelangte. Das Aufkommen des Automobils beförderte Pferdekutscher schlagartig und scharenweise in die Arbeitslosigkeit. Dennoch gelang es vielen von ihnen, die Zügel binnen Kurzem gegen das Steuerrad auszutauschen. Sie fuhren also weiter hinaus, und zwar mit einer wesentlich erhöhten Pferdestärke, einer gestiegenen Verantwortung und nicht zuletzt etwas mehr Geld in der Tasche. Es ist ein klassisches Beispiel. Ein Klischee aber zugleich. Wie tauglich ist es allerdings im 21. Jahrhundert? Damals war das Pferd durch das Auto ersetzt worden, aber der Mensch blieb als Lenker unmittelbar im Spiel. Der heutige Taxifahrer jedoch empfindet technologische Entwicklungen, die seinen Bereich betreffen, als nicht äußerst trostreich. Im Inselstaat Singapur werden selbstfahrende Taxis auf offener Straße getestet. Das Emirat ordert schon 200 Roboter-Taxis von Tesla, dem Platzhirsch aus Palo Alto. General Motors und Google zählen erwartungsgemäß ebenfalls zu den Schwergewichten, die bezwecken, in absehbarer Zeit autonome Taxidienste anzubieten. Der Konzern Bosch schreibt sich auf die Fahne, selbstfahrende Taxis bereits 2018

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hervorzubringen. Der Unternehmen Uber, das mit seinen Online-Vermittlungsdiensten zur Personenbeförderung die traditionelle Taxizunft ohnehin in Aufruhr versetzt, will auch seinen Anteil an selbstfahrenden Taxis. Existenzängste, ob sie sich bei einer möglichst objektiven Analyse als übertrieben oder als durchaus plausibel kategorisieren lassen, müssen wahr- und auch ernst genommen werden. Denn sie sind reell existierende Ängste. Eine sozialpsychologische Sensibilisierung in dieser Hinsicht darf zudem nicht als sabotierend abgestempelt werden, was die Belange des Marktes betrifft. Auch und gerade am Arbeitsplatz der vierten industriellen Revolution ist es erforderlich, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Früher oder später wird er zwar nicht aktiv am Steuerrad hocken – aber als Denker kann er weiter lenken.

18.3 Kompetenzen und das 5-K-Prinzip 18.3.1 Beschäftigung jenseits der Beschwichtigung Eine Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), „Arbeitswelt 4.0 – Stand der Digitalisierung in Deutschland, 2016“, bestätigt den drohenden Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen durch die Digitalisierung. Sie betont jedoch zugleich, dass das Risiko, in der vierten industriellen Revolution arbeitslos zu werden, stets sinken werde. Zweckoptimismus? Der Clou besteht in der Veränderung, und sie ist in der Kompetenzentwicklung zu erreichen. Das Glas ist halbvoll, kann man optimistisch resümieren, aber es gibt trotzdem viel Luft nach oben. In genau dieser Lage befinden wir uns zurzeit. Doch die Zeit fliegt dahin. In der Wirtschaft müssen allerspätestens jetzt wichtige Weichenstellungen eingeleitet werden. Allerdings ist nicht lediglich die Industrie in der Pflicht. Um den Herausforderungen der Digitalisierung in puncto Arbeit 4.0 Herr zu werden, muss quer durch die Gesellschaft ein Umdenken stattfinden. Die Aufgabe, den Menschen weiterhin im Mittelpunkt zu behalten, sollte eigentlich näher präzisiert werden. Denn in etlichen Arbeitsbereichen muss der Mensch zuerst einmal wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. In der Mehrzahl bergen Menschen, deren Tätigkeit nicht so im Mittelpunkt der tradierten Wertschätzung liegt, nach wie vor viel Potenzial in sich. Sie könnten und müssten zurück in die Mitte der Gesellschaft geholt werden. Dabei sollte der Schwerpunkt freilich nicht auf reine Beschwichtigungsmaßnahmen gelegt werden. Denn diese zeigen nicht den Weg in die Zukunft.

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18.3.2 Kompetenzentwicklung: Ganzheitlichkeit und Gemeinschaftsaufgabe Die sozial verträglichste Option, die es angesichts der arbeitsmarktlichen Herausforderungen der Digitalisierung gibt, besteht darin, Erwerbsfähigen und Selbstständigen einen erfüllenden, zukunftsträchtigen und nicht zuletzt entsprechend gut dotierten Job zu geben beziehungsweise zu bezahlen. Das lobenswerte Vorhaben ist allerdings nicht im Alleingang zu erreichen. Weder Politiker noch Wirtschaftsbosse noch Wissenschaftler können diese Aufgabe isoliert stemmen. Und ohne den Arbeitnehmer, den Menschen der in jedweder Form seinen Lebensunterhalt erarbeitet, ginge es sowieso nicht. Alle müssen bereit sein, Kompetenzen zu entwickeln und kontinuierlich zu erweitern. Das 5-K-Prinzip ist darauf bedacht. Es setzt sich aus den folgenden Elementen zusammen: • • • • •

Kennen, Können, Kümmern, Kommunizieren, Kooperieren.

Wer seine Kompetenzen kennt, wer seine Profession beherrscht und es kann, kann sich in veränderten Umgebungen kümmern, er muss Wissen teilen und kooperieren und dafür benötigt er umfassende Kommunikationskompetenzen. Ehe wir uns mit diesen 5 Ks näher befassen, sollten wir einem zusätzlichen K unsere Aufmerksamkeit widmen. Wir reden die ganze Zeit über Kompetenz, aber wie definieren wir das Wort? Die Kompetenz einer Person ist ihre Möglichkeit zum selbstverantwortlichen und selbstorganisierten Handeln in konkreter Situation zum Erreichen einer erwarteten Wirkung in einem jeweils definierten Kontext.

18.3.3 Ist der Wandel möglich? Kann es tatsächlich durch Digitalisierung einen Wandel in Kompetenzen geben? Bei den klassischen Fachkompetenzen ist diese Frage eindeutig mit einem Ja zu beantworten. Denn neue Technologien, neue Werkstoffe, neue Verfahren, wie mit ihnen umzugehen ist, wie sie zu nutzen sind, bedürfen neuer Kompetenzen. Neue

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Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten sowie Wissensgenerierung im komplexen Umfang erfordern ebenfalls neue Kompetenzen und Skills. Rollen und Skills wandeln sich beziehungsweise benötigen ergänzende Kompetenzen. Informatiker brauchen Data Analysts, Praktiker benötigen Data Translators und Data Transformers, um vorhandene oder noch nicht vorhandene Daten und Informationen nutzbar zu vernetzen. Data Diagnostics Experts sind gefragt, um die komplexe Wirkung vernetzter und digital gesteuerter Systeme einzuschätzen, Zusammenhänge zu erkennen und um klärend aktiv werden zu können. Die disruptiven Technologien und daraus abgeleitete neue Geschäftsprozesse sind diagnostisch zu betrachten und gut in und an vorhandene Systeme anzudocken. Natürlich benötigen wir für diese digital zusammengeführten Bereiche aus Wirtschaft und individuellem Dasein Data Logistic Service Experts. Menschen mit Kompetenzen, die sich kümmern können und helfen werden. Technik und Mensch sind nicht frei von Fehlern, denn auch die müssen zunächst einmal gemacht werden, um Neues zu erkennen und zu erfahren. Das Know-how der Digitalisierung ist zu pflegen und gut integriert zu nutzen. Es wird neue Arbeitsformen geben, neue Aufgaben und andere, bisher wenig genutzte, und viele neue Inhalte wie zum Beispiel digitales Erfahrungswissen, den digitalen Footprint, das Handlungsgeschick in automatisierten Welten, Emotionalität, Freude und Spaß, wenn Roboter oder andere Maschinen mit Menschen gemeinsam etwas leisten oder Arbeiten verrichten. Jeder klassische Maschinenbediener, der Biker, spricht von „seiner Maschine“, Formel-1-Fahrzeuge erhalten Namen und werden umarmt und geküsst, Technik und auch digitale Technik hat auch eine „Seele“. Das dürfen wir nicht vergessen oder aus den Augen verlieren und wir sollten diese Emotionalität positiv für den Umgang mit Neuem nutzen. Der Pilot steuert ein Flugzeug mit seinem erfahrenen „Sitzgefühl“, das Empfangspersonal an der Rezeption steuert das Verhalten mit dem Gefühl vom ersten Blickkontakt zum Gast usw. Wenn diese Werte nicht verloren gehen sollen, dann brauchen wir einen digital begründeten Wandel der Fachkompetenzen. Denn die Symbiose aus Technik, Technologien und Erfahrung wie Emotionalität ist der Nährboden für neue Kompetenzen und digitale Technologien, die helfen, „Neues und Anderes“ abzubilden, was der menschschlichen Fantasie, dem Erfindergeist, der Vorstellungskraft und dem Gefühl entspringt.

18.3.4 Ist ein genereller Kompetenzwandel nötig? Was aber die Digitalisierung betrifft, so geht es bei der Kompetenzumschreibung um komplexere Ansichten. Kompetenz wird von Experten definiert als ein „alignment of multivariables – the eyes, the ears, the numbers“ (Svahn et al. 2017) – die

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Kompetenz eines ganzheitlichen Denkens und Handelns, des Zusammenarbeitsvermögens, des schnellen Entscheidens, des flexiblen Agierens. Der Kontext in Forschung und Entwicklung, in Bildung und in der Wirtschaft sowie im Alltagsleben ändert sich durch die Digitalisierung. Kompetenzen, welche die Menschen in die Lage versetzen, mit Folgen der Digitalisierung umzugehen, ändern sich nur wenig. Ohne große Schulungs- und Ausbildungsprogramme für die gesamte Bevölkerung hat sich der Internethandel etabliert, sind Smartphone und Tablet ganz normale Kommunikations- und Informationsmittel für junge wie auch ältere Menschen geworden. Bei der Telefonie haben wir unsere Verhaltensmuster, unsere Kompetenz gewandelt: vom Rufen und Hören mit Hörtrichter über das Wählen hin zum Tippen, zum Wischen und dann zum audio-visuellen Format des Telefonierens. Die Kompetenzen der Lernbereitschaft und der Lernfreude sowie das lebenslange Lernen sind schon immer alltagsnotwendig gewesen, sonst käme keine Innovation „zum Fliegen“. Was aber in uns Menschen schlummert an situativem und selbstverantwortlichem Handeln in ganz bestimmten Zusammenhängen, die eigenes Entscheidungsvermögen verlangen, um effizienter oder anders eine erwartete Wirkung zu erzielen, muss gehoben und breiter genutzt werden. Die Kompetenzeinbringung der Menschen benötigt auch Menschen, die dies wollen und zulassen, die anerkennen und fördern. Erst wenn unangepasstes, nonkonformes Verhalten aus einem Schattendasein in den Vordergrund tritt, wird Veränderung möglich. Die Technik macht uns schneller, informierter, aber auch chaotischer, deshalb brauchen wir die Kompetenzen wie • • • • • • •

Organizational Development with the Whole Thinking Approach, Cross Boundaries Networking, Collaboration and Communication, Interdisciplinary Teamwork, Decision Making on the Spot, Management by Digital Requirements, Performance of Emotionality.

18.3.5 Die Elemente eines zukunftsträchtigen Kompetenzmodelles Jegliche berufliche Kompetenz bedarf zu ihrer effektiven Entwicklung eines entsprechenden Modelles. Wenn wir über Kompetenzmodelle sprechen, reden wir also genauer genommen über Referenzsysteme, welche die einschlägigen Qualifikationsrahmen für die jeweiligen Fachbereiche festlegen sowie den erwarteten

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Outcome an Handlungsvermögen in der jeweiligen Employability beschreiben. Diese schaffen eine Grundlage für die Bewertung der Lehr- und Lernergebnisse und somit für die Beurteilung von Leistungen. Zu diesem Zweck wurde der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) (Büchter et al. 2012) entworfen und spezifisch definiert. Dieser umfasst sämtliche formale Qualifikationen des deutschen Bildungssystems auf den Ebenen der Allgemeinbildung, Hochschulbildung und Berufsbildung, und zwar jeweils einschließlich der Weiterbildung. Der im Mai 2001 in Kraft getretene DQR verfolgt dabei das Ziel, die Mobilität, die Transparenz und die Vergleichbarkeit sowohl innerhalb Deutschlands als auch quer durch die Europäische Union zu erhöhen, und so existiert er parallel zum Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR). Der DQR unterteilt die erforderlichen Befähigungen diverser Bildungsbereiche in acht verschiedene Stufen, die durch Lernergebnisse charakterisiert werden und Lehranforderungen definieren. Mit Bezug auf Fachkompetenzen differenziert der DQR dabei zwischen „Fertigkeiten“ und „Wissen“. Personale Kompetenzen werden zudem in „Selbstständigkeit“ und „Sozialkompetenzen“ untergliedert. Wobei diese sehr schwammige Begriffe sind, die einen schmalen oder sehr weiten Interpretationsrahmen definieren. Die Diversität in der Wahrnehmung sozialer Kompetenzen ist sehr groß beziehungsweise meist auf Kommunikationsvermögen und Teamfähigkeit reduziert. Dennoch wurde der DQR nicht ohne Kritik implementiert, und zwar auch und gerade wegen der Einzelheiten seiner Strukturierung. Der Teufel steckt natürlich im Detail, und die Realisierung ist stets schwieriger als die reine Planung. Einer der Streitpunkte bezieht sich auf den Anspruch eines bildungsbereichsübergreifenden Rahmens. Ist der DQR tatsächlich im Stande, diesen Anspruch einzulösen? Die Frage ist durchaus gerechtfertigt. Denn „die Existenz relevanter Lernprozesse außerhalb von Schulen und Universitäten, Volkshochschulen und organisierter Weiterbildung wird plausibel, wenn das Feld konkret beschrieben wird“, (Overwien 2011). Allerdings war es bislang nicht immer gelungen, arbeitsbezogene Qualifikationen, ob aus der beruflichen Aus- oder Weiterbildung, ob aus allgemeinen Schulabschüssen beziehungsweise Hochschulabschlüssen stammend, mit den auf dem Arbeitsmarkt herrschenden Praktiken zu harmonisieren. Obwohl die gleichwertige Anerkennung des informellen Lernens gelobt wird, klingt das Lob häufig wie Lippenbekenntnisse, wenn es darauf ankommt, die Formen solcher Anerkennung verbindlich zu definieren. Überdies erschienen interkulturelle und soziale, sogar „demokratierelevante“ Kompetenzen nirgendwo in den ersten DQR-­ Entwürfen. Infolgedessen ist es nicht überraschend, dass die Frage der Integration der betroffenen Lehrformate und daraus resultierende Lernergebnisse nach wie vor eine Baustelle innerhalb der DQR-Gremien beinhaltet.

18  Digitalisierung und Kompetenzwandel – Erfolg durch Transformation: Das … 323

Diese ersten Erfahrungen bezeugen, dass die Einführung eines Kompetenzmodelles nicht als eine schnell abgehakte, eine für alle Male definierte Angelegenheit betrachtet werden sollte. Ein erfolgreiches Kompetenzmodell ist nicht statisch, sondern dynamisch. Es ist vielmehr eine Modellstruktur, welche die Möglichkeit bietet, mit den erwartbaren – und den vermeintlich nicht so voraussagbaren – He­ rausforderungen zu wachsen, ohne auseinanderzubrechen oder in sich zusammenzustürzen. Gerade in Anbetracht der digitalen Innovationen am Arbeitsplatz beziehungsweise in der Industrie und Verwaltung ist es vonnöten, belastbare Kompetenzmodelle zu errichten. Der Mensch befindet sich in einer VUCA-Welt, die durch volatility, uncertainty, complexity and ambiguity geprägt ist. (Bennett und Lemoine 2014; Mack et al. 2016) Schnelle Veränderlichkeit beziehungsweise Flüchtigkeit von Ereignissen und Produkten, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit lauern überall. Und die Zeit flieht scheinbar, obwohl 24 Stunden immer noch 24 Stunden sind, die sich sehr konstant wiederholen. In diesem Sinne sind die folgenden Aspekte absolut essenzielle Elemente eines zukunftsträchtigen Kompetenzmodelles (hier mit einigen Beispielen beschrieben): Fähigkeiten • • • • •

physische und psychische Gegebenheiten, sprachliche Voraussetzungen und Nutzungsmöglichkeiten, Gedächtnisleistung, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Beanspruchungsmaßstab.

Fertigkeiten • • • • •

handwerkliches Geschick (Drehen, Bohren, etc.), Routinen im Ausführen bestimmter Arbeiten (Programmieren), Ausführung von Präzisionsarbeiten (z. B. Messen), Zeichnung lesen, Methoden nutzen.

Talente • • • •

Organisieren, Musizieren, Reden und Präsentieren, Körperliche körperliche Geschicklichkeit (Ballgefühl).

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G. Frank

Persönlichkeitsmerkmale • • • • • •

Aufgeschlossenheit, Loyalität, Durchsetzungsvermögen, Einfühlungsvermögen, Ambiguität – Umgang mit Mehrdeutigkeiten, Umgang mit Belastung und Beanspruchung (Stressresistenz).

Auch das ist gewissermaßen nur als flexibler Framework zu verstehen. Aber nur in solch einem Rahmen kann das 5-K-Prinzip effektiv funktionieren, und das ist das Entscheidende. Denn Kennen, Können, Kümmern, Kommunizieren und Kooperieren bilden das Fundament, das dem Gebilde (Kompetenzmodell) die Stabilität verleiht, um am Anfang der vierten industriellen Revolution und inmitten der VUCA-Welt den gerade seismisch anmutenden Erschütterungen nicht lediglich Stand zu halten, sondern vielmehr um in dem geschäftlichen und nicht zuletzt gesellschaftlichen Umfeld der Umwälzungen ausgesprochen solide wachsen zu können. Bei dem erforderlichen Umdenken muss der Tunnelblick der Technikgläubigkeit endlich der Vergangenheit gehören. Wir müssen nicht ausschließlich die Technik verstehen, sondern auch ihre Wirkung. Blaupausen aus der Ära der eingemeißelten digitalen Prozesse müssen verworfen werden. Stattdessen muss der Glaube an den Menschen als Lenker der Technologien gestärkt werden. Denn es steht dem Menschen zu, die Autonomie trotz – und auch gerade wegen – der Automatisierung seines Arbeitsplatzes zu behalten. In seinen neuen, erweiterten Aufgaben kann er eigenverantwortlich und situativ handeln – und sich dabei wohl fühlen und auch gerade dadurch die erwarteten und notwendig gut qualifizierten Ergebnisse erbringen.

18.4 Digitalisierung und Kompetenzwandel – our future Was wir noch nicht erfasst haben, ist eine Art von allgemein getragenem Grundverständnis von Digitalisierung: Diese neuen Technologien werden zwar „besprochen“ – über sie wird geredet – sie sind aber noch nicht tiefgründiger in der Wirtschaft und gesellschaftlichen Organisation genutzt, so dass ihr Wert allgemein verstanden wird. Begeisternde Lösungen sind zu wenig kommuniziert und werden nicht im Kontext der Vereinfachung, Erleichterung, neuen Freude bei der Arbeit, des spielerischen Bearbeitens von Problemlösungen in der Arbeits- und Bildungswelt vorgestellt. Was ist die Ursache dafür? Es werden Experten und Kompetenzträger benötigt wie beispielsweise Data

18  Digitalisierung und Kompetenzwandel – Erfolg durch Transformation: Das … 325

Translators (Velten et al. 2015), Fachexperten, die in der Lage sind, die Daten, die erfasst sind und erfasst werden müssen, auch richtig in ihrer Wirkungsweise einzuordnen, zu interpretieren und Entscheidern die Wirkung der digitalen Zusammenhänge zu übersetzen. „Digital Leadership ist etwas Neues im Beratermarkt. In Unternehmen wird mittels der Reifegradmodell-Methodik geprüft, ob es vorhanden ist oder nicht“ (Brady et al. 2017). Die Entscheider in der neuen digital unterstützten Arbeits- und Servicewelt müssen sich für die digitalisierte Arbeitswelt in ihren Kompetenzen entwickeln. Sie übernehmen die Rolle als Coach, Supervisor, Partner in der Pro­ blemlösung usw. Es ist nach der Deloitte-Trendstudie mehr und mehr erforderlich, den verantwortlichen Entscheidern nahezubringen, was die Datenvernetzung und -nutzung für eine komplexe Wirkung zeigt: wo und wie Entscheider in digitaler Umgebung handeln können. Das ist dringend notwendig, aber benötigen wir dafür andere, neue Kompetenzen? Die Antwort ist Nein. Führungsverantwortliche Menschen, die Unternehmen in die Zukunft der Digitalisierung führen, müssen nicht diese neuen IT-­ Technologien, digitale Fachkompetenzen besitzen, sondern ihre eigenen Führungskompetenzen so ausprägen und entwickeln, dass Unternehmen und die Menschen, die davon betroffen und an der Digitalisierung beteiligt sind, diesen Weg nicht mit Angst, sondern mit Zuversicht und Freude gehen. Führungskompetenz, die High Performer hervorbringt, kommuniziert Visionen, entwickelt Strategien gemeinsam mit den Fachexperten, beteiligt Betroffene, delegiert Verantwortung und ist nicht an Hierarchie im herkömmlichen Sinn interessiert, sondern an interessanten nutzbaren Problembeschreibungen und darauf aufbauenden Problemlösungen. Die Digital Leader haben die Verantwortung, eine neue, agile digitale Umwelt zu organisieren und Gestaltungs- und Umsetzungsfreiräume zu schaffen und zu sichern. Die Kompetenzen, die sich ausbilden und weiter ausbilden müssen, um entsprechende Wirkungen der Digitalisierung zu nutzen, finden sich zusammen unter der Überschrift „People Business“. Denn immer werden Menschen mit digitalen Werkzeugen neue digitale Technologien entwickeln, sie werden steuern und eingreifen, sie werden ausprobieren und Nutzungsmöglichkeiten definieren. Daher muss es in diesem Zusammenhang, der mit Digitalisierung global umschrieben wird, der sich sehr weit ausbreiten und Einfluss nehmen wird, Wegbereiter für neue soziale Beziehungsgeflechte, Werteverständnisse und Integration geben. Die Anpassung der digitalen Umgebung an Nutzer darf nicht nur über „Betriebsanleitungen“ passieren. Sie muss produkt- und prozessimmanent sein und natürlich selbsterklärend, einfach und verständlich ausgedrückt. Digitalisierung

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G. Frank

Kompetenzwandel e probico durch Digitalisierung?

Die Experten für Profession, Bildung und Kompetenz

Data Data Data Data Data

Analysts Diagnostics Experts Translators Transformers Logistics and Security Specialists

www

Given Competencies

DATA

Whole Thinking Approach Cross Boundary Networking Collaboration and Communication Interdisciplinary Teamwork Decision Making on the Spot

NO

New Skills

YES

87%

FUTURE People Business Enabling Social Performance Adapting to Users Creating Sustainability all over the World Understanding English Cutting Fears

Grafik & Design: © Tina Wahren www.anleitungsdesigner.de Prof. Dr.–Ing. Gudrun Frank www.exprobico.de – Die Experten für Profession, Bildung und Kompetenz

Abb. 18.1  Kompetenzwandel durch Digitalisierung?

www.exprobico.de

18  Digitalisierung und Kompetenzwandel – Erfolg durch Transformation: Das … 327

ermöglicht es, weltweit und nachhaltig zu agieren. Aber, die Welt muss auch überleben können, Chancen bekommen und Potenziale nutzen lernen, vielleicht und besonders auch durch andere kulturelle Erfahrungen, die digitale Zusammenhänge emotional einschätzbarer machen. Der Trend ist da und auch sprachlich wird sich die Digitalisierung durchsetzen, dabei hat die englische Sprache eine gewisse Lead-Funktion. Sprach- und Verständniskompetenzen sind erforderlich und sehr wichtig. Was ist darunter zu verstehen? Was ist die Bedeutung hinter der Bedeutung, wie nutze ich Begriffe wie beispielsweise posten, twittern oder bloggen und so viele andere neue Wörter? Um die digitale Zukunft einordnen zu können, benötigen wir die Sprachkompetenzen, wie auch das Verständnis unserer eigenen Sprachtiefe und Schönheit. Was wir nicht brauchen, ist Angst vor Neuem. Hätte nicht Konrad Zuse den ersten Rechner erfunden, hätte es ein anderer getan. Er hat damit die Digitalisierung sozusagen auf den Weg gebracht und das nicht schlecht und in sehr kurzer Zeit. Nutzen wir unsere kreative Neugier bewusst und kompetent. Wer seine Schwächen kennt, kann mit den Stärken arbeiten. The Problem Isn’t Technology – It’s People! „The rapid pace of technological innovation is not the key problem posed by digital disruption. The real challenge is the uneven rates of assimilation of these technologies into different levels of human organization. As such, companies will effectively navigate the challenges posed by digital disruption by undertaking initiatives that are far more organizational and managerial than technical.“1 Menschen sind wiederum die Lösung. Nur mit einer in jeglicher Hinsicht menschlichen Einstellung kann es einen Wandel der Kompetenzen durch Digitalisierung geben (Abb. 18.1).

Literatur Bennett, & Lemoine. (2014). Managing in a VUCA world. Heidelberg/New York: Springer. Mack, O., Khare, A., et  al. (2016). Managing in a VUCA world. Heidelberg/New York: Springer. Brady, C., Ford, M., & Chadwick, S. (2017). Why your company need data translators. MITSloan Management Review. http://sloanreview.mit.edu/article/why-your-company-needsdata-translators/. Zugegriffen am 04.04.2019.

1  Gerald C. Jerry Kane is a professor of information systems at the CarrollSchool of Management at Boston Collage and the MIT Sloan Management Review guest editor for the digital Business Initiative.

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G. Frank

Büchter, K., Dehnbostel, P., & Hanf, G. (Hrsg.). (2012). Der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR). Ein Konzept zur Erhöhung von Durchlässigkeit und Chancengleichheit im Bildungssystem? Bielefeld: W. Bertelsmann. Global Human Capital Trendstudie. (2017). https://www2.deloitte.com/de/de/pages/human-capital/articles/human-capital-trends-deutschland-2017.html. Overwien, B. (2011). Informelles Lernen in einer sich globalisierenden Welt. In A. Scheunpflug & W.  Sander (Hrsg.), Politisdche Bildung in der Weltgesellschaft (S. 259–277). Bonn: BDP. Svahn, F., Mathiassen, L.,Lindgren, R., & Krane, G. C. (2017). MITSloan Management Review. http://sloanreview.mit.edu/article/mastering-the-digital-innovation-challenge/. Zugegriffen am 04.04.2019. Velten, C., Janata, S., Hille, M., & Michel, J. (2015). Digital Leader Leadership im digitalen Zeitalter Ergebnisse einer empirischen Studie in Kooperation mit Dimension Data Deutschland. Kassel: Crisp research AG.

Prof. Dr. Gudrun Frank  ist Maschinenbauingenieurin, Arbeitswissenschaftlerin und Fa­ brikplanerin sowie CEO von exprobico – Die Experten für Profession, Bildung und Kompetenz – ein Certified Member bei WEConnect International. Ihr Engagement als HR Managerin und Beraterin in internationalen Organisationen inspirierte sie zur Entwicklung eines innovativen Kompetenzmessverfahrens und eines darauf aufbauenden Kompetenzcoachings und -managements. Sie wirkt aktiv in Beiräten, u. a. an der RWTH Aachen im Forschungsbeirat des FIR e.V., im KVD e.V. und an der TU Ilmenau im ZIB e.V. Sie ist zudem Absolventin der Gestalt OD Master Class.

Technik braucht Kultur – Lernkultur und Kompetenzentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung

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Gardenia Alonso

The illiterates of the 21st century will not be those who cannot read but those who cannot learn, unlearn and relearn. Alvin Toffler

Inhaltsverzeichnis 19.1  P  roblemstellung  19.2  S  tand der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen und aktuelle Herausforderungen  19.2.1  Schlüsselkompetenzen aus bildungspolitischer und gesellschaftlicher Perspektive  19.2.2  Kompetenzanforderungen für die Zukunft aus Sicht der Unternehmen  19.2.3  Kompetenzanforderungen im Beruf aus der Absolventenperspektive  19.2.4  Schlüsselkompetenzvermittlung aus Hochschulperspektive  19.3  Voraussetzungen für die Verbesserung der Schlüsselkompetenzvermittlung  19.3.1  Nötige Rahmenbedingungen für die Lernenden  19.3.2  Rahmenbedingungen und Voraussetzungen auf Seiten der Lehrenden  19.3.3  Aktuelle Herausforderungen und zu überwindende Hürden  19.3.4  Lösungsansätze  19.4  Diskussion und Fazit  Literatur 

 330  331  331  332  333  336  337  337  338  339  340  343  344

G. Alonso (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_19

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330

G. Alonso

19.1 Problemstellung Können Hochschulen und Universitäten im Zeitalter der Digitalisierung garantieren, dass sie ihre Studierenden zu kompetenten Fachkräften ausbilden? Das digitale Zeitalter eröffnet uns den Zugang zu einer unbeschreiblichen Menge von Daten und Ressourcen und bietet uns individuell oder durch Networking in nationalen und internationalen Kontexten1 eine Vielfalt von Möglichkeiten zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und neues Wissen zu schaffen. Die daraus resultierenden neuen Arbeitsformen steigern in hohem Maße die Komplexität und sind Chance und Risiko zugleich. Diese Entwicklungen stellen neue Anforderungen an unsere Kompetenzen und an unser Lernen. Das rasant anwachsende Wissen, die zunehmende Komplexität sowie die sich stetig verändernden Anforderungen, die aus dem Wandel gesellschaftlicher (vgl. Bauman 2009) und ökonomischer (vgl. Voß und Egbringhoff 2004) Rahmenbedingungen resultieren, stellen uns persönlich sowie Unternehmen vor die Herausforderung den Anschluss nicht zu verpassen. Auch Hochschulen und Universitäten stehen somit vor der großen Aufgabe, zielgerichtete Maßnahmen zu ergreifen, um eine adäquate Ausbildung garantieren zu können.2 Es hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen, der in unterschiedlichsten Bildungskontexten zu kontroversen Diskussionen über „Qualifikationen“ und „Kompetenzen“ geführt hat. Heyse stellt hierbei infrage, dass Absolventen durch den Erwerb einer Hochschulqualifikation auch tatsächlich kompetente Fachkräfte sind, die komplexe Probleme im Beruf selbstständig und kreativ lösen können. (Vgl. Heyse 2014, S. 202) Heyse gibt zu bedenken, dass Qualifikationen häufig für die adäquate Bewältigung von offenen, komplexen Arbeitskontexten nicht ausreichen, da in solchen Situationen kein vorgefertigter Weg zum Ziel führt, sondern ­unterschiedliche Kompetenzen zur kreativen Lösungsfindung benötigt werden. Heyse fordert daher von den Hochschulen die Entwicklung von Fachwissen und Kompetenzen in Einklang zu bringen. (Ebd., S. 201 ff.) Dass dieser Forderung nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis nachgekommen werden muss, lässt sich gut begründen: Das Hochschulrahmengesetz nimmt die Hochschulen in die Pflicht, neben der wissenschaftlichen Bildung auch auf berufliche Tätigkeiten vorzubereiten. (Vgl. HRG § 2 Abs. 1 Satz; vgl. auch Kohler 2004, S. 5) Auch der Europarat und die Europäische Kommission stellen die Forderung auf, die Hochschulausbildung in Einklang mit einem 1  Zur Bedeutung der interkulturellen Handlungskompetenzen für Techniker und Ingenieure siehe Thomas (2017). 2  Eine kritische Betrachtung zu Qualitätsfragen bei der Internationalisierung der Hochschulbildung findet sich bei Heyse (2014).

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e­ uropäischen Verständnis von Mobilität und Beschäftigungsfähigkeit zu bringen, und insbesondere die Studierenden selbst erhoffen sich dadurch bessere Berufsund Lebenschancen. Die Operationalisierung und systematische Umsetzung stellt allerdings trotz jahrelanger Bemühungen in vielen Bereichen noch immer eine Herausforderung für die Hochschulen dar. Es soll beleuchtet werden, wie dieser Herausforderung begegnet werden kann, um zukünftig in der Vermittlung von Schlüsselkompetenzen für eine digitalisierte Arbeitswelt erfolgreicher zu sein. Es wird daher ein Modell vorgestellt, welches den Ansprüchen von Studierenden gerecht wird, aber auch ihre individuellen Lernstile und -präferenzen berücksichtigt. Dieses Lehr-Lernszenario ist hochschuladäquat, aber auch für Unternehmenskontexte geeignet, da es komplexe Problemlösungen in den Fokus stellt. Eine der zentralen Fragen ist somit: Gibt es Faktoren bei deren Beachtung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit positive Effekte bei der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen erzielt werden können?

19.2 S  tand der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen und aktuelle Herausforderungen Seit Einführung der Bologna-Reform sind zahlreiche Studien durchgeführt worden, die Wünsche und Anforderungen in puncto kompetenzorientierter Ausbildung auf Basis unterschiedlicher Projekte aus diversen Perspektiven – Bildungspolitik (vgl. DeSeCo Studie, OECD 2005), Studierende/Absolventen (vgl. Schaeper und Briedis 2004; Little et al. 2008), Hochschulen (vgl. Gayk 2005), Arbeitgeber (vgl. ebd.)  – beleuchten. Ergebnisse dieser Studien sollen im Folgenden in knapper Form betrachtet werden.

19.2.1 Schlüsselkompetenzen aus bildungspolitischer und gesellschaftlicher Perspektive Selbstverständlich müssen Schlüsselkompetenzen (siehe Forderungen der OECD) nicht nur als Aufgabe der Bildungspolitik, sondern auch als eine gesellschaftliche Verantwortung gesehen werden. Schlüsselkompetenzen sollen hierbei als erwerbbare interdisziplinäre Wissensbestände, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen betrachtet werden, die die situationsangemessene Realisierung von persönlichen und beruflichen Anforderungen in vielfältigsten Anwendungsbereichen ermöglichen.3  In Anlehnung an die Definition von Orth (1999), S. 107.

3

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Das Projekt „Definition and Selection of Competencies“ (DeSeCo) initiierte mit zahlreichen Wissenschaftlern, Experten (aus Wirtschaft, Politik und Interessensvertretungen) und Organisationen die Entwicklung eines theoretischen und konzeptionellen Rahmens für Schlüsselkompetenzen. Hierbei war die anforderungsorientierte Ausgangsfrage, welche Kompetenzen zu persönlichem Erfolg und zu einer gut funktionierenden demokratischen Gesellschaft führen. In diesem Konzept werden Schlüsselkompetenzen in drei Kategorien unterteilt, die allerdings als Zusammenspiel zu sehen sind: 1 . selbstverantwortliche autonome Handlungsfähigkeit, 2. Anwendung von Medien und Hilfsmitteln wie z. B. Sprache und Informationstechnologien mit dem Ziel einer erfolgreichen Interaktion sowie 3. Interaktion mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und sozial heterogener Gruppen. (OECD 2005, S. 7) Die definierten Schlüsselkompetenzen basieren auf der Reflexion von Handlungsprozessen, die eine Basis für Veränderungsbereitschaft, kritisches Denken und verantwortungsbewusstes Handeln schaffen. Die ermittelten Kompetenzgruppen lassen sich weiterhin in die aktuell im deutschsprachigen Raum geläufige Terminologie (1) Selbstkompetenzen, (2) Methodenkompetenzen und (3) Sozialkompetenzen übersetzen. Die Ergebnisse der DeSeCo-Studie sind an zahlreichen Hochschulen bereits operationalisiert worden – jedoch steht eine empirische Überprüfung vielfach noch aus.

19.2.2 Kompetenzanforderungen für die Zukunft aus Sicht der Unternehmen Die durch den digitalen Wandel bedingten neuen Arbeitsformen erfordern laut Angaben von über 50 % der befragten Unternehmensvertreter in der Studie von Prümper et al., dass diese Arbeitskontexte sehr viel höhere Anforderungen an die Schlüsselkompetenzen der Mitarbeiter stellen. Fast 80  % der Unternehmensvertreter geben an, dass insbesondere Selbstkompetenzen in deutlich höherem Maße benötigt werden. Die von der Digitalisierung geprägten Arbeitswelt stellt erhöhte Anforderungen an Selbstständigkeit, Flexibilität, Kreativität, Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft, aber darüber hinaus auch an die sozialen Kompetenzen. (Vgl. Prümper et al. 2016, S. 22) Diese Ergebnisse decken sich in hohem Maße mit anderen Studien. (Vgl. hierzu z. B. Deloitte 2017) Eine zentrale Schlüsselkompetenz des digitalen Zeitalters ist jedoch die Lernkompetenz selbst und beinhaltet die Fähigkeit, die Chancen der Digitalisierung

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auch intelligent nutzen zu können. Durch die weiter voranschreitende Automatisierung und Digitalisierung werden in Zukunft insbesondere die Kompetenzen weiter an Bedeutung gewinnen, die schwer zu automatisieren sind. Als besonders relevant für die Zukunft sind somit die Kompetenzen, die auch in den nächsten Jahrzehnten nicht von einer Software oder einer Maschine übernommen werden können. Personen mit ausgeprägten Kompetenzen in diesem Bereich werden auf dem Arbeitsmarkt stark nachgefragt sein. (Vgl. Deloitte 2017, S. 24) In erster Linie wird in der Deloitte-Studie die Sprachkompetenz als zentraler Bedarf herausgestellt. Für bestimmte Berufe wird ebenfalls das Fachwissen im Bereich Psychologie genannt. Für über die Hälfte aller neu zu schaffenden Stellen werden Fachkompetenzen im Bereich Computer und Elektronik prognostiziert. (Vgl. ebd., S. 26) Fazit der Studie ist, dass diejenigen besonders gut für die Zukunft gewappnet sind, die neben Fachkenntnissen und den Grundkompetenzen4 ein hohes Maß an Kreativität (insbesondere komplexe Problemlösungsfertigkeiten) gepaart mit sozialer Intelligenz aufweisen. Zu letzterer zählen insbesondere soziales Wahrnehmungsvermögen, Überzeugungs- und Verhandlungsfertigkeiten, d.  h. die Fähigkeiten Emotionen wahrzunehmen und adäquat damit umgehen zu können. (Vgl. Deloitte 2017, S. 34 f.) Als Fazit bleibt, dass der Mensch durch seine sozialen und kreativen Kompetenzen und seine situationsadäquate Flexibilität und Kommunikationsfähigkeit auch in Zukunft nicht durch Maschinen ersetzt werden kann. (Vgl. ebd., S. 40)

19.2.3 Kompetenzanforderungen im Beruf aus der Absolventenperspektive Ein weiterer Zugang zur Evaluierung der Schlüsselkompetenzvermittlung an Hochschulen ist die Befragung von Absolventen: Wie schätzen Absolventen die erworbenen Kompetenzen ein und welche Erwartungen und Anforderungen stellt die Berufspraxis an sie. Eine Befragung der HIS5 (HIS Hochschul-­Informations-­System eG) hat ergeben, dass Fachkompetenzen für den beruflichen Erfolg aus Sicht der Absolventen nur ein Baustein sind und darüber hinaus personale, soziale und methodische Kompetenzen von besonderer Bedeutung für ihr berufliches Handeln sind. Sowohl die HIS-Studie als auch die internationale Cheers-Studie ergaben übereinstimmend, dass die Absolventen sich gute Methodenkompetenzen attestierten, 4  Im Bereich der Grundkompetenzen sind die sprachlich-kommunikativen Fertigkeiten zu verorten. Sie sind absolut essentiell, bieten aber in Zukunft nicht den absoluten Schutz vor Automatisierung. Vgl. Deloitte (2017), S. 37 f. 5  Innerhalb der Studie der HIS (Schaeper/Briedis) von 2004 wurden über 8200 Absolventen im Mittel 1,5 Jahre nach ihrem Studienabschluss befragt.

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aber ihre Sozialkompetenzen vergleichsweise schwächer einstuften. (Vgl. Teichler 2007; Guggenberger et al. 2001; vgl. auch Schaeper und Briedis 2004, S. 13 ff.) Für eine professionelle Handlungskompetenz in Arbeitsbereichen von Hochschulabsolventen werden neben den bereichsspezifischen Fachkenntnissen und einem breiten Grundlagenwissen insbesondere Methodenkompetenzen (z. B. selbs­ tständiges, konzentriertes Arbeiten und Problemlösungsfähigkeit), Selbstkompetenzen (z. B. Organisations- und Zeitmanagement, die Fähigkeit sich auf Veränderungen einzustellen) sowie Sozialkompetenzen (z. B. Kommunikationsfähigkeit, Übernahme von Verantwortung und Kooperationsfähigkeit) und Präsentationsfähigkeit (in Form von hervorragender schriftlicher und mündlicher Ausdrucksfähigkeit) benötigt. (Vgl. Schaeper und Briedis 2004, S. 36 ff.) Hinsichtlich der Kompetenzniveaus der Absolventen ergab sich aus der Studie ein heterogenes Bild. Die Erhebung ermittelte, dass rund drei Viertel der Absolventen ihre Methodenkenntnisse (Organisationsfähigkeit, Problemlösungskompetenz, kritisches Denken, Zeitmanagement, analytische Fähigkeit) als hoch einstufen. Etwa die Hälfte schätzen ihre Präsentationskompetenzen und ihr Selbstmanagement als gut ein. Ihre persönlichen Sozialkompetenzen beurteilen die Absolventen jedoch nicht so positiv. Insgesamt schätzen sich Fachhochschulabgänger in den meisten Schlüsselkompetenzbereichen etwas schlechter ein als die Universitätsabsolventen. Sie attestierten sich jedoch in den Bereichen EDV, Rechts- und Wirtschaftskenntnisse bessere Kenntnisse. (Vgl. ebd. S. 16 ff.) Die internationale REFLEX-Absolventenbefragung ermittelt folgende Kompetenzanforderungen von Hochschulabsolventen: Über drei Viertel der befragten Hochschulabsolventen, der in 2008 veröffentlichten Erhebung, erachteten die in der Studie aufgeführten Kompetenzen als sehr relevant für die erfolgreiche Ausübung ihrer aktuellen Berufstätigkeit. Hierbei wird selbstverständlich auch die Fachkompetenz genannt, aber insbesondere werden nach ihren Aussagen fachübergreifende Kompetenzen, wie • • • •

effizientes Zeitmanagement und unter Zeitdruck arbeiten zu können, sich selbstständig neues Wissen aneignen zu können, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit und gute Computer- und Internetkenntnisse benötigt.6

Im Wesentlichen decken sich die Kompetenzen der deutschen Absolventen mit den Anforderungen, die sie in ihrem Beschäftigungsfeld vorfinden. In manchen Bereichen, wie z. B. im Hinblick auf ihre Fremdsprachenkenntnisse und ihre Fähigkeit  Vgl. Little et al. (2008), S. 73 zur internationalen Absolventenbefragung REFLEX.

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unter Druck leistungsfähig zu arbeiten, schneiden deutsche Absolventen in dieser internationalen Befragung sehr gut ab. Die größten Defizite sehen die Absolventen selbst im Bereich des Zeitmanagements, ihrer Durchsetzungsfähigkeit und ihrer Verhandlungskompetenz. Schaeper und Briedis identifizierten im Rahmen der HIS-Studie vier unterschiedliche Formen der Arbeitsstruktur: (1) modern-globalisiert, (2) kunden­ orientiert-­eigenverantwortlich, (3) projektorientiert-kundenfern und (4) unmodern-­ hierarchisch.7 Über den Vergleich der Arbeitskontexte lassen sich typische Anforderungen und Annahmen über Kompetenzprofile für bestimmte Arbeitsbereiche treffen. Aus der Analyse der Daten lässt sich ableiten, dass die Kompetenzanforderungen in den teamorientierten, interdisziplinären und internationalen Arbeitskontexten (1) sowie in den Kontexten, in denen Kundenorientierung und Eigenverantwortung (2) eine große Rolle spielen, deutlich höher sind als in den kundenfernen (3) und hierarchischen (4) Arbeitsstrukturen. Durch Trends wie die zunehmende Bedeutung des Dienstleistungssektors sowie die stets weiter voranschreitende Digitalisierung werden die Kompetenzanforderungen auch in Zukunft weiter steigen. (Vgl. hierzu Stifterverband 2016, S. 26 ff.) So geht ein hoher Anteil der Naturwissenschaftler in die Forschung und hier ist die Methodenkompetenz insbesondere im Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens von hoher Relevanz und wird in Zukunft durch Big Data und neue Formen der Auswertung von Daten etc. insbesondere in akademischen Berufen noch weiter ansteigen. (Vgl. ebd., S.  14  ff.) Im primären/sekundären Sektor8 sowie im Dienstleistungssektor9 sind ebenfalls gute Methodenkenntnisse, aber auch ein hohes Maß an Selbst- und Sozialkompetenzen gefordert. (Vgl. ebd., S. 41 ff.) Auch die Bedeutung der Fremdsprachenkenntnisse im primären und sekundären Sektor lässt aufgrund der Internationalisierung nicht nach. Fazit der Studie von Schaeper und Briedis ist, dass Schlüsselkompetenzen in hohem Maße von Hochschulabsolventen verlangt werden und eine Korrelation zwischen Kompetenzanforderungen und beruflicher Stellung besteht. Mit der Übernahme  Die folgenden Ausführungen zu den benötigten Kompetenzen nach Arbeitsstrukturen beziehen sich auf Schaeper und Briedis (2004), S. 42 ff. 8  Diese Kategorie umfasst sowohl Land-/Forstwirtschaft, Fischerei (primärer Sektor) als auch Energie-/Wasserversorgung, Bergbau, verarbeitendes Gewerbe, Industrie, Baugewerbe (sekundärer Sektor) Vgl. hierzu Frage 5.5 auf S. 13 des Anhangs von Schaeper und Briedis (2004). 9  Diese Kategorie umfasst die Bereiche: Handel, Banken, Versicherungen, Transport, Telekommunikation, Ingenieurbüros, Softwareentwicklung, EDV-Dienstleistungen, Rechts-/ Wirtschafts-/Personalberatung, Presse/Rundfunk/Fernsehen. Vgl. hierzu Frage 5.5 auf S. 13 des Anhangs Schaeper und Briedis (2004). 7

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von Leitungs- bzw. Führungsverantwortung steigt das Maß an notwendigen Schlüsselkompetenzen erheblich. (Vgl. Minks und Schaeper 2002, S. 107) Derzeit verlassen Studierende die Hochschulen jedoch häufig nicht mit ausreichenden Kompetenzen insbesondere in den Bereichen Selbst- und Sozialkompetenzen. Absolventen wünschen sich rückwirkend einen stärkeren Praxisbezug und erfahrungsorientierte Lernszenarien, da sie der Ansicht sind, dass dies ihren Berufseinstieg erleichtert hätte. Es stellt sich daher, wie in der Einführung erwähnt, die Frage, welche Faktoren zukünftig beachtet werden sollten bzw. welches didaktische Rahmenszenario mit hoher Wahrscheinlichkeit positive Effekte bei der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen im Hochschulkontext erzielt.

19.2.4 Schlüsselkompetenzvermittlung aus Hochschulperspektive Die HIS-Studie, die sich auf Präsenzhochschulen konzentriert hat, zeigte, dass Abi­ turnote, Schulart etc. nur geringe Aussagekraft hinsichtlich der ins Studium mitgebrachten Kompetenzen liefern. Ebenso ist laut der Erhebung nur selten eine Korrelation zwischen außeruniversitären Lernfeldern (Praktika und Nebentätigkeiten etc.) und dem Kompetenzniveau zu verzeichnen. (Vgl. Schaeper und Briedis 2004, S. 22 ff.) Auf der anderen Seite zeigt sich, dass die Lehr-Lernkontexte eine entscheidende Rolle für den erfolgreichen Ausbau der Kompetenzen spielen. Statt ­einer Konkretisierung der Ergebnisse der bisherigen Studien werden Schlüsselkompetenzen jedoch innerhalb und außerhalb der Hochschulen auf völlig unterschiedlichen Abstraktionsniveaus diskutiert und es entfacht vielfach ein Streit um Inhalte und ideale Vermittlungsformen. Denn von besonderer Relevanz ist nach Aussage der Studie die Art der besuchten Lehrveranstaltungen der Studierenden für die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen. Positive Effekte in der Kompetenzentwicklung wurden z. B. durch ein projektorientiertes Studium und somit durch das Training professionellen Handelns und einen hohen Praxisbezug messbar. (Vgl. ebd., S. II) Ebenfalls als sehr relevant wurde die fachliche Qualifikation der Lehrenden sowie ihr Feedback im Hinblick auf die Weiterentwicklung von Kompetenzen bewertet. Insgesamt wurden in fast allen Kompetenzbereichen signifikant positive Effekte bei Lehr-/Lernformen erzielt, bei denen das Einüben von professionellem Handeln, Fremdsprachen und mündlicher Kommunikation im Vordergrund stand. Ähnliche Effekte konnten auch in der Studie von Alonso nachgewiesen werden. Das heißt, Ähnliche Effekte konnten auch in der Studie von Alonso nachgewiesen werden (vgl. Alonso 2009, S.189 ff.).

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Hieraus ergibt sich das Desiderat, dass die Akteure sich auf inhaltliche und didaktische Vorstellungen einigen müssen, um diese offensichtliche Anforderung der Hochschulen – die Förderung von Schlüsselkompetenzen ihrer Studierenden zur Unterstützung von Studier- und Berufsfähigkeit – auch erfüllen zu können. Es werden zwar vielfältige Konzepte der Vermittlung von Schlüsselkompetenzen an den Hochschulen neu entwickelt und erprobt, sie stecken allerdings vielfach noch immer in den Kinderschuhen. Schaeper und Briedis erachten additive Schlüsselkompetenzangebote für sinnvoll, wenn den Studierenden im weiteren Studienverlauf anschlussfähige Aufgaben zur Weiterentwicklung geboten werden. Integrative Ansätze werden bevorzugt, da sie nach Schaeper und Briedis auch direkt zu besseren Ergebnissen in den Fachkompetenzen führen können und den Praxisbezug erhöhen. In jedem Fall wird hochschuldidaktisch eine Veränderung der Lehr-/Lernkultur gefordert, um Defizite im Hinblick auf berufliche Anforderungssituationen zu minimieren. Als besonders relevant für die Umsetzung von Schlüsselkompetenzförderung im Sinne einer „employability“10 werden folgende Aspekte gesehen: • • • • •

die Betreuungsangebote, d. h. gute Beratung, Anpassung der Lehre an zeitgemäße Inhalte und Methoden, Integration von Praxisbezug, Projektstudium, sinnvolle Verknüpfung von Theorie und Praxis.11

19.3 V  oraussetzungen für die Verbesserung der Schlüsselkompetenzvermittlung 19.3.1 Nötige Rahmenbedingungen für die Lernenden Um die Ausgangsfrage wieder aufzugreifen: Welche Rahmenbedingungen müssen für Studierende geschaffen werden, um positive Effekte in der Schlüsselkompetenzentwicklung zu erzielen?  Zum Vergleich länderspezifischer Employability-Konzepte siehe Weinert et  al. (2001), S. 115 ff. 11  Schaeper und Briedis (2004), S. 58 f. Diese Aspekte sind auch für Studierende im Fernstudium von besonderer Bedeutung, da sie besonders gute Ergebnisse erzielen, wenn sie ihre Erfahrungen und Problemstellungen aus der Praxis mit den Lerninhalten des Studiums verknüpfen können. 10

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G. Alonso

Lernende sollten (1) ihr Lernen adäquat vorbereiten können (Lernziele auswählen, Vorwissen aktivieren etc.), (2) das Gelernte verstehen, behalten und anwenden können, (3) den Lernprozess regulieren können, (4) den eigenen Prozess und Leistungen reflektieren und einschätzen und (5) Motivation und Konzentration erhalten können.12 Aus den Studienergebnissen von Alonso (vgl. Alonso 2009, S. 221 f.) lässt sich ableiten, dass folgende Elemente die Schlüsselkompetenzentwicklung in Lehr-Lernszenarien begünstigen: 1 . Handlungs- und Problemorientierung des Lernkontextes, 2. Unterstützung von Lernstrategiewissen, 3. Eröffnung individueller Lernwege durch methodisch-didaktische Optionen, 4. Förderung von Selbststeuerung der Lernenden im Lernprozess, 5. Schaffung von kooperativen Arbeitskontexten, 6. Reflexion der Lern- und Entwicklungsprozesse, 7. kleine Gruppengröße, da nur bei einer kleinen Gruppe ein adäquater Austausch unter den Teilnehmern sowie die Möglichkeit zu individuellem Feedback etc. besteht.

19.3.2 Rahmenbedingungen und Voraussetzungen auf Seiten der Lehrenden Die Schaffung der zuvor genannten Rahmenbedingungen erfordert umfangreiche Kompetenzen bei den Lehrenden, um tatsächlich positive Effekte in der Schlüsselkompetenzvermittlung zu erzielen. Im Folgenden werden die im Vortrag erörterten nötigen Kompetenzen der Lehrkräfte in knapper Form zusammengefasst: 1. methodisch-didaktische Kompetenz zur Unterstützung von Handlungs- und Problemorientierung, 2. zur Unterstützung von Lernstrategiewissen und Förderung von Selbststeuerung müssen Lehrende Lernstrategien kennen und diese adäquat vermitteln können, 3. Methoden- und mediendidaktische Kompetenzen zur Eröffnung individueller Lernwege, 4. didaktische Kompetenzen, um lerngerechte Szenarien zu schaffen, 5. Selbstreflexionskompetenz im Hinblick auf die eigene Lehre, um die Lern- und Entwicklungsprozesse der Studierenden verstehen zu können und das eigene Verhalten situationsangemessen adaptieren zu können. 12

 In Anlehnung an das Phasenmodell von Simons (1992), S. 255.

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Das gute Zusammenspiel dieser Kompetenzen auf Seiten der Lehrenden ermöglicht den Lernenden ein Lernen am Modell.13

19.3.3 Aktuelle Herausforderungen und zu überwindende Hürden Es stellt sich die Frage, warum trotz aller Bemühungen, die Umsetzung bezüglich der Förderung von Schlüsselkompetenzen – insbesondere an Hochschulen und Universitäten – so schwer ist: Obwohl die Notwendigkeit nach lebenslangem Lernen und der Bewältigung neuer Anforderungen ganz außer Frage steht, herrscht an Universitäten verstärkt die Meinung, dass die Hochschulen und Universitäten für die Vermittlung von Fachkenntnissen verantwortlich sind. Dies steht auch außer Frage. Das führt jedoch u. a. dazu, dass bei der Vermittlung bzw. Prüfung der Fokus häufig auf das gelegt wird, was sich gut belegen und messen lässt.14 Somit wird die Kompetenzentwicklung vielfach nur fakultativ angeboten. Dies ist eine Konsequenz daraus, dass dem Fachwissen im Qualifikationsrahmen eine extreme Dominanz eingeräumt wird und dieses auch fast ausschließlich im Fokus der Lernziele steht. Die fachliche Ausbildung darf nicht an Qualität einbüßen. Jedoch sollte geprüft werden, wie die Schlüsselkompetenzen in adäquater Art und Weise in den Qualifikationsrahmen und in die Lernziele der einzelnen Curricula integriert werden können. Heyse kritisiert, dass das Wissen über Schlüsselkompetenzen „nach wie vor verschwommen sei“ (vgl. Heyse 2014, S. 205) und sogar Akkreditierungsagenturen der Verbindung von Fachwissen und Schlüsselkompetenzen skeptisch gegenüberstehen. Heyse führt dies auf mangelnde Veränderungsbereitschaft zurück. (Vgl. ebd.) Lehrkräfte leben diese Einheit häufig nicht vor und sind ggf. nicht adäquat für die Förderung dieser Kompetenzen ausgebildet.15 Insbesondere Professoren werden nicht nach der Vermittlungsfähigkeit von Schlüsselkompetenzen ausgewählt und in ihrer Tätigkeit in erster Linie nach ihren Forschungsergebnissen, Publikationen und Drittmitteleinwerbungen bewertet.  Bandura forschte zur Veränderung kognitiver Strukturen und entwickelte die Theorie des Lernens am Modell. Er wies auf die hohe Bedeutung der Beobachtung und somit der Vorbilder im Lernprozess hin. Vgl. hierzu Bandura (1976). 14  Vgl. Heyse (2014), S.  204. Einige Disziplinen wie z.  B. die Fremdsprachen haben sich bereits auf den Weg gemacht, die kompetenzorientierte Vermittlung und Prüfung durch die Einführung neuer Konzepte auf solide Füße zu stellen. Zu kompetenzorientierten Prüfungsformaten siehe Fischer et al. (2011). 15  Obgleich es bereits einige Best-Practice-Beispiele (hochschuldidaktische Programme etc.) z.  B. für die Einarbeitung von neuberufenen Professorinnen und Professoren gibt. Vgl. hierzu Brinker (2014), S. 216 ff. 13

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G. Alonso

Exemplarisch wurden hier ein paar Aspekte der im Vortrag erörterten aktuellen Herausforderungen genannt und es stellt sich somit die Frage, wie diese Aufgaben in Zukunft gemeistert werden können. Im Folgenden sollen daher erste Lösungsansätze exemplarisch vorgestellt werden.

19.3.4 Lösungsansätze Es gibt zahlreiche (wenn auch häufig isolierte) hervorragende Best-Practice-­ Beispiele sowohl für additive als auch für integrative Schlüsselkompetenzangebote. Nur sind diese häufig nicht systematisch in ein nachvollziehbares und gelebtes Gesamtkonzept eines Studiengangs eingebettet. Einen entscheidenden Schritt in diese Richtung wird an der AKAD University durch die Implementierung von integrierten Projektwerkstätten im Kontext der Schwerpunkte der jeweiligen Studiengänge geleistet. In einem Blended-Learning-Arrangement bearbeiten Studierende in virtuellen Teams eine wissenschaftlich anspruchsvolle Fragestellung aus der Praxis. Die Studierenden müssen hierbei problem- und zielorientiert und nach Methoden eines modernen Projektmanagements arbeiten. Das Lernarrangement bietet aufgrund der Tatsache, dass die Studierenden nicht physisch an einem Ort zusammenarbeiten, die Chance ihre Schlüsselkompetenzen in virtuellen Teams zu erproben, zu trainieren und zu reflektieren. Die Studierenden werden von einer Lehrkraft begleitet, müssen ihr Lernen jedoch selbst organisieren, Aufgaben verteilen und bearbeiten und ihre Materialien zur Problemlösung selbst recherchieren bzw. erarbeiten. Sie müssen sich im virtuellen Raum abstimmen und somit geeignete Werkzeuge zur Kooperation einsetzen, um adäquate Lösungskonzepte zu entwickeln. Abschließend müssen die Ergebnisse auf Basis wissenschaftlicher Kriterien dokumentiert und präsentiert werden. Die Studierenden bauen hier in einem integrierten Blended-Learning-Arrangement ihre Fach- und Schlüsselkompetenzen in einem praxisnahen Projekt aus, das die Anforderungen an virtuelle Teams in einer digitalen Arbeitswelt gut abbildet.

19.3.4.1  D  idaktische Lernszenarien und Faktoren zur Erhöhung des Lernerfolgs Eine Studie von Alonso zur integrativen Vermittlung von Schlüsselkompetenzen hat die Bedarfe und Wünsche von Studierenden erfasst, um darauf basierend neue Lehr-Lernszenarien zu entwickeln.16 Bei der Erhebung kristallisierte sich heraus,  Innerhalb der Studie von Alonso 2009 wurden 121 Studierende (1–6 Semester) betriebswirtschaftlicher Studiengänge einer Hochschule in Baden-Württemberg unterschiedlichen Interventionen in Lehr-Lernszenarien zur Entwicklung von Schlüsselkompetenzen unterzogen und zu ihren Erfahrungen befragt.

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dass starke Defizite u. a. im methodischen Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens insbesondere im Umgang mit Online-Ressourcen vorliegen und weiterhin Unsicherheiten im Bereich der Moderationstechniken sowie der Argumentations- und Präsentationsfähigkeiten insbesondere in den Fremdsprachen vorlagen. Die Interventionen ergaben, dass mit aktivierenden Lehr-/Lernformen unter Einsatz eines vielfältigen Methodenmixes die besten Ergebnisse erzielt wurden. (Vgl. Alonso 2009 sowie Alonso 2010) Eine der Kernkompetenzen der Zukunft ist das selbstständige Lernen, da es für viele weitere Kompetenzen eine Basis darstellt. Für dieses autonome und selbstgesteuerte Lernen gelten die folgenden Bedingungskomponenten: • die kognitiven und persönlichen Faktoren des Individuums, • das Lernszenario/die Lernsituation, • das Lernmaterial und ggf. das Lernmedium, falls Lerninhalte darauf bereitgestellt werden. Um den persönlichen Faktoren des lernenden Individuums Rechnung zu tragen, sollte das Modell des erfahrungsorientierten Lernens bei der Entwicklung von Lernszenarien für Schlüsselkompetenzangebote zugrunde gelegt werden. In hohem Maße geeignet ist das Modell nach Kolb,17 da der Lernprozess vier Phasen durchläuft, die auch den unterschiedlichen Präferenzen bzw. Stilen der Lernenden Rechnung tragen.18 Wie Abb. 19.1 zu entnehmen ist, macht der Lernende im Lernprozess nach Kolb eine konkrete Erfahrung (1), reflektiert diese, betrachtet sie aus unterschiedlichen Perspektiven (2) und erschließt sich somit Zusammenhänge durch Abstraktion und Vergegenwärtigung von Konzepten (3). Im Anschluss wird das neu Erlernte in der Praxis erprobt (4). Dies bietet die Möglichkeit der Verifizierung oder Falsifizierung der neuen Konzeptionalisierung, was neue Erfahrungen schafft. Somit kann der Lernkreislauf von Neuem beginnen. Nach Kolb bedeutet Lernen somit eine Ausdifferenzierung des Lernens durch das Durchlaufen des Lernzyklus, in den jede Person an einem unterschiedlichen Punkt einsteigen kann. Jeder Teilnehmer durchläuft alle Phasen, bringt sich jedoch je nach persönlichem Lernstil ggf. in unterschiedlicher Intensität in die unterschiedlichen Phasen ein. Eine Konsequenz der Lerntypologie ist, dass es keinen optimalen Lernweg für alle Lernenden gibt. Daher sollten die unterschiedlichen Lernpräferenzen in den unterschiedlichen Lehr-Lernkontexten berücksichtigt werden. Aber auch die weniger präferierten  Vgl. zu den Lernstilen und dem Modell des erfahrungsbasierten Lernens Kolb (2007) und Kolb (2015). 18  In einer aktuellen Studie von Alonso et al. (2017) konnten mit dem Kolb’schen Lerninventar die unterschiedlichen Lernstile nachgewiesen werden. 17

Assimilierer

Divergierer

abstrakte Begriffsbildung

Konvergierer

Akkomodierer

konkrete Erfahrung

Problemanalyse

Lösungswege entwickeln & prüfen

konkrete Problemstellung definieren

reflektierendes Beobachten

Abgleich mit der Praxis

Abb. 19.1  Lernkreislauf und Problemlösekreislauf. (In Anlehnung an Kolb zit. nach Schäfer (2004), S. 55)

Konsequenzen der Lösungswege evaluieren

Lösungsweg wählen

aktives Experimentieren

Lösungsweg umsetzen

Auswahl eines definierten Ziels

342 G. Alonso

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Formen des Lernens sollten Berücksichtigung finden, um den Lernendenn die Möglichkeit zu geben auch diese Lernstile weiter auszubauen. Erfahrungsorientiertes Lernen im Sinne des beschriebenen Lernzyklus bietet hierzu eine gute Umsetzungsmöglichkeit. Um die persönlichen Präferenzen des Lernenden mit einem für Schlüsselkompetenzen adäquaten didaktischen Konzept zu vereinen, können nun die Phasen des Lernzyklus nach Kolb mit den Schritten des Problemlösens in Bezug gesetzt werden und es entsteht das oben angeführte Modell, welches zahlreiche didaktische Potenziale und Chancen für eine erfolgreiche Schlüsselkompetenzvermittlung bietet und den Bedarfen einer digitalisierten Arbeitswelt in hohem Maße Rechnung trägt.

19.3.4.2  O  rganisatorische und hochschulpolitische Lösungsansätze Im Bereich der Hochschulen kann eine nachhaltige Implementierung und Umsetzung nur durch konsequente und durchdachte Studiengangsentwicklung erfolgen. Das heißt, die Einheit von Fachkompetenzen und Schlüsselkompetenzen muss sich in den Studiengangsordnungen und Prüfungsordnungen systematisch widerspiegeln. Weiterhin muss die Einführung neuer Vermittlungsformen, die im Einklang mit den Prüfungsformaten stehen müssen, wo nötig hochschuldidaktisch begleitet werden. (Vgl. hierzu Wildt und Wildt 2011; Roloff 2005) Es sollte ein strukturierter Austausch von Hochschulvertretern stattfinden, die die Umsetzung und Weiterentwicklung von Schlüsselkompetenzen an Hochschulen betreuen. Auch die Hochschulleitungen sollten sich diesem Thema ernsthaft stellen und Ressourcen auch langfristig zur Verfügung stellen. Weiterhin ist es von zentraler Bedeutung, Maßnahmen und Verfahren zur Qualitätssicherung und der Qualitätsentwicklung strukturell, systematisch und nachhaltig an den Hochschulen zu verankern.

19.4 Diskussion und Fazit Schlüsselkompetenzen, so zeigt die detaillierte Analyse, sind komplex und facettenreich. Trotz vielfältiger Bemühungen der Forschung diese zu erfassen und zu strukturieren, ist – wie die Diskussion des Vortrags gezeigt hat – noch kein terminologischer Konsens geschaffen worden. Es wurde in der Diskussion kritisch angemerkt, dass insbesondere das Verständnis von bestimmten Schlüsselkompetenzen außerhalb der Hochschule sehr divers ist und eine begriffliche Klarheit noch ein aktuelles Desiderat darstellt.

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G. Alonso

Das Training bzw. die Vermittlung zum Ausbau von Schlüsselkompetenzen ist mit der individuellen Übernahme von Verantwortung in einem aktivierenden situativen und sozialen Lernkontext gleichzusetzen, der Raum für kreative Problemlösungen bieten sollte. In der Diskussion des Vortrags wurde weiterhin eingebracht, dass geprüft werden sollte, ob Elemente aus dem Bereich der Gamification (vgl. hierzu Anderie 2018) einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Schlüsselkompetenzvermittlung der Zukunft leisten könnten. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass nicht nur das Gelernte, sondern insbesondere die Erfahrungen im Lernprozess relevant sind. Lehr-Lernformen an Hochschulen und Universitäten sowie in Unternehmen sollten daher Raum für das Sammeln und Reflektieren von Erfahrungen bieten, denn Kompetenzen basieren auf Werten, die durch wertvolle Erfahrungen konsolidiert werden und erst durch Motivation und Emotionen zu einer dauerhaften Verankerung führen. (Vgl. Hüther 2014, S. 69 f.; Erpenbeck und Sauter 2015)

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G. Alonso

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Prof. Dr. Gardenia Alonso  ist Professorin für International Business Communication an der AKAD University. An der Universität Göttingen leitete sie die zentrale Einrichtung für Sprachen und Schlüsselkompetenzen sowie das Zertifikatsprogramm Qualität und Kompetenz in der Lehre. Sie verfügt über langjährige Praxis- und Lehrerfahrungen u. a. in den Bereichen Fremdsprachen, Kommunikation, interkulturelles Management und Hochschuldidaktik. Sie unterstützt außerdem Wirtschaftsunternehmen, Organisationen und Hochschulen als Dolmetscherin, Trainerin, Beraterin und Coach. Referenzen sind z. B. die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, Kern Sprachendienste, SUN, Inlingua, Berlitz sowie diverse EU-Projektpartner.

Die Bausteine der digitalen Human Resources-Transformation

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Bernd Wiest

Inhaltsverzeichnis 20.1  W  as bedeutet „digitale Transformation“?   348 20.2  Die Digitalisierung der Welt   348 20.2.1  Der Eingangskanal: analog zu digital   349 20.2.2  Die digitale Welt: Datenverarbeitung pur   349 20.2.3  Der Rückkanal: digital zu analog   350 20.2.4  Digitale Prozesse: Aus der Wirklichkeit in die Virtualität und zurück   351 20.3  Die fünf Bausteine der digitalen Transformation   351 20.3.1  Entgrenzung von Zeit: Unabhängigkeit von Zeit   351 20.3.2  Entgrenzung von Raum   352 20.3.3  Verknüpfung von Menschen   353 20.3.4  Verknüpfung von Informationen   354 20.3.5  Verknüpfung von Dingen   355 20.4  Der digitale Wandel konkret   355 20.4.1  IT als Quelle der neuen Lösungen   356 20.4.2  Start-ups als Versuchslabore der neuen Verfahren   357 20.4.3  Digital Workforce als Anforderung an die Personalentwicklung   359 20.5  Fahrplan digitale Transformation in der Personalentwicklung   361 20.5.1  Evaluierungsphase   361 20.5.2  Pilotphase   363 20.6  Abschluss und nächste Schritte   364 Literatur   365 B. Wiest (*) BW Consutling, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_20

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20.1 Was bedeutet „digitale Transformation“? Derzeit sind die Digitalisierung und die digitale Transformation in aller Munde. Meist jedoch werden unter diesen Schlagworten die verschiedensten Themen, Aufgaben und Marketingkampagnen gefasst, ohne konkrete Ansätze zur Umsetzung. Fest steht lediglich, dass die Digitalisierung – ausgelöst durch die fortschreitende Weiterentwicklung von IT und Telekommunikation  – viele Branchen und Businessmodelle aus den Angeln heben wird. In der Vielzahl der Innovationen und Start-ups verbergen sich bereits heute Wettbewerber, die Ihr Unternehmen innerhalb eines Jahres aus dem Geschäft drängen könnten. In Zeiten eines so dramatischen Wandels sind vor allem die Personal- und Organisationsentwicklung gefordert, um die innerbetrieblich anstehenden Veränderungen anzustoßen und professionell zu begleiten – und sich selbst dabei ebenfalls neu zu definieren. Dabei steht jedoch noch lange nicht fest, welche Neuerungen sich zukünftig durchsetzen werden und was auch weiterhin Bestand hat. Eine schwierige Aufgabe für Personalabteilungen. In diesem Artikel finden Sie jedoch ein verständliches Fundament, um die Grundlagen der Digitalisierung als generelle Leitplanken der Veränderung zu verstehen, deren Auswirkungen zu erfassen und darauf aufbauend einen realistischen und nachvollziehbaren Fahrplan für Ihre Personalentwicklungsabteilung zu erstellen. Damit haben Sie das nötige Rüstzeug, um den digitalen Wandel in Ihrer eigenen Organisation zu initiieren und zu begleiten.

20.2 Die Digitalisierung der Welt Der Ausgangspunkt der digitalen Transformation ist schnell ausgemacht: Es sind die Informationstechnologien und mit ihnen das Internet, kurz die digitalen Medien. Diese digitalen Medien erweitern unsere wirkliche Welt, die Realität um eine zusätzliche digitale oder virtuelle Welt, die wir meist aus Computerspielen, aber auch aus digitalen Zeitschriften, Mails oder Smartphone-Apps kennen, mit denen wir interagieren. Alle Veränderungen basieren letztlich auf der Ausgestaltung und den Regeln genau dieser virtuellen Welt und der Prozesskette aus der realen Welt in die digitale Welt und zurück – oder kurz: Das EVA-Prinzip von Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe. Ein Grundverständnis für die Regeln und Limitierungen dieser Prozesskette ermöglicht bereits einen ersten Ansatz zur Bestimmung von möglichen Veränderung durch die Digitalisierung.

20  Die Bausteine der digitalen Human Resources-Transformation

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20.2.1 Der Eingangskanal: analog zu digital Der Ursprung dieser digitalen Informationsbearbeitung ist im ersten Schritt die Abbildung der Wirklichkeit in einem digitalen System. Dabei werden analoge physische Objekte oder Ereignisse bzw. deren Messwerte aus unserer Realität über entsprechende Schnittstellen in einem reduzierten bzw. diskreten (Zahlen-)Modell abgebildet. Innerhalb dieser virtuellen Welt ist – dank der Modelle – Steuerung, Informationsaustausch und Kommunikation möglich. Das Messergebnis eines analogen Quecksilber-Thermometers kann beispielsweise als eine Zahl, eine Temperaturangabe in Grad Celsius oder Fahrenheit angegeben werden. Die Helligkeit in Lux, die Windgeschwindigkeit in Metern pro Sekunde. Die einfachste und älteste Schnittstelle zur digitalen Welt ist die Tastatur. Der Druck auf eine Taste an einem bestimmten, meist beschrifteten, Platz führt zur digitalen Darstellung dieses Tastendrucks. Dieses digitale Abbild kann am Monitor – mit etwas Glück – als eben dieses Zeichen wiedererkannt werden. Weitere Eingabe-­ Schnittstellen sind Maus, Scanner, entsprechende Sensoren und neuerdings auch Ton- und Bild-/Video-Geräte sowie eine Vielzahl weiterer Sensoren. Die Grenze dieser digitalen Welt bildet jedoch immer die reduzierte Informationsmenge, das diskrete Modell. Die Bilderkennung eines Menschen kann bei entsprechend bemaltem Gesicht nicht mehr funktionieren, während wir diese Person in der realen Welt meist immer noch erkennen. Die Grenze zwischen Tag und Nacht oder Hell und Dunkel ist für uns fließend, ein Computer jedoch trifft die Hell-/Dunkel-Entscheidung aufgrund eines Grenzwertes in Lux, Lumen oder Kelvin, also klaren und diskreten Datenwerten. Dieser Tatbestand spielt für die Personalentwicklung an zwei entscheidenden Punkten eine Rolle. Zum einen stellt sich immer die Frage: Was ist in unserer Organisation digitalisierbar? Die Antwort liefert weitere Impulse für Innovationen und Veränderungsprozesse. Zum anderen ist es Aufgabe der Personalentwicklung, zu überprüfen: Was geht durch die digitale Abbildung des Geschehens verloren und wie können die Mitarbeiter auf die jeweilige Veränderung vorbereitet und begleitet werden?

20.2.2 Die digitale Welt: Datenverarbeitung pur Die einzigartige und besondere Neuerung innerhalb der digitalen Welt ist die elek­ tronische Verarbeitung, Weiterleitung und Speicherung von Daten. Das mag banal klingen, ist aber Kern der Digitalisierung. Die Auswirkung ist immens: Denn

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alles was ich digitalisieren, also in ein elektronisches Datenformat transformieren kann, ist innerhalb der digitalen Welt nicht mehr an die Gesetze der physischen Welt, sondern an die Regeln der Elektrotechnik gebunden. Die Daten können beliebig aufbewahrt oder weitergeleitet und in Elektronengeschwindigkeit beliebig verändert und verarbeitet werden. Dies ist das Fundament der im Anschluss vorgestellten Leitplanken der digitalen Welt. Die Verarbeitungsregeln können als Vorlagen, Templates oder Programme gespeichert und ausgeführt werden. Diese Programme können Daten verarbeiten, Entscheidungen treffen und Ergebnisse erstellen. Dies ist die Grundlage der automatischen Steuerung, Information und Kommunikation und damit die Basis aller Innovationen im Digitalbereich. Sobald die Verarbeitungsregeln der Daten als Programm festgelegt sind, kann der Verarbeitungsprozess in beliebiger Anzahl beliebig oft wiederholt werden – auch über Jahrzehnte hinweg.

20.2.3 Der Rückkanal: digital zu analog Die Digitalisierung ist jedoch keine Einbahnstraße. Neben Schnittstellen in die digitale Welt gibt es natürlich auch Schnittstellen aus der digitalen Welt. Digitale Modelle werden real umgesetzt. Die erste und einfachste Variante ist der Ausdruck einer Nachricht auf Papier oder die Anzeige auf dem Monitor. Darauf aufbauend kommt inzwischen auch das gedruckte Foto und neuerdings auch der dreidimensional gedruckte Gegenstand sowie die Sprachausgabe oder eine entsprechende Änderung von Maschinen und Geräten. Heutzutage können die Raumtemperatur oder das Licht mit Sprachsteuerung verändert werden. Gegenstände, wie zum Beispiel die Bauteile eines eigenen 3-D-Druckers, können mithilfe von 3-D-Druckern beliebig oft neu erstellt werden. Vor allem der 3-D-Druck wird eine weitere Innovationswelle auslösen, deren tatsächliche Auswirkungen heute noch nicht wirklich absehbar sind. Denken Sie an den Replikator aus dem Raumschiff Enterprise. Sie denken, das ist Science-Fiction? Schon heute gibt es Onlinedatenbanken mit Objekten zum Drucken der dort virtuell hinterlegten Gegenstände. Stellen Sie sich vor, Sie bestellen in einem Onlinekatalog und Ihre Bestellung wird nicht per Post geliefert, sondern direkt bei Ihnen zu Hause gedruckt? Genau das wurde bereits auf der International Space Station ISS umgesetzt. Ein 3-D-Drucker erstellt benötigte Kunststoffteile, geliefert wird lediglich das Pulver für den Drucker (vgl. Diamandis und Kotler 2015). Auch hier ist die Personalentwicklung als Impulsgeber gefragt: Welche Informations- oder Produktionsschritte könnten zukünftig durch neue Ausgabeschnittstellen ersetzt werden und was bedeutet dies für die jeweiligen Mitarbeiter. Was geht dadurch verloren und welche neuen Kompetenzen sind hierfür nötig?

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20.2.4 Digitale Prozesse: Aus der Wirklichkeit in die Virtualität und zurück Digitale Prozesse sind immer auf dieses Modell beschränkt. Im Bereich der Computertechnologie wäre dies vergleichbar mit in Maschinen eingebauten, programmierbaren Steuerungen (SPS) oder auch der digitalisierten Haussteuerung, dem Smart Home. Über die IT sind nur die Informationen abrufbar, die von dem System erfasst werden. Es können nur die Prozesse gesteuert werden, die elektronisch angebunden sind. Würde bei der Installation der Steuerung ein wichtiges Merkmal der Maschine oder der Haussteuerung vergessen, könnte eine Fehlfunktion vorliegen, ohne dass dies bemerkt oder auf elektronischem Wege beeinflussbar ist. Dies betrifft auch andere Bereiche eines Unternehmens. In Zeiten der einfachen Datenerfassung und Verwertung riesiger Datenmengen und der Automatisierung von Entscheidungsprozessen auf Basis dieser Daten sind fehlende Informationen katastrophal. Der Satz „If you can’t measure it, you can’t manage it“ (Kaplan und Norton 1996, S. 21) war noch nie so wahr wie heute – allerdings bezieht sich „measure“ inzwischen auf die digitalisierte Messung und manage auf die automatisierte Verarbeitung der Daten. Eine weitere wichtige Basis der digitalen Welt ist die fehlende Abnutzung und die verlustfreie Wiederholung. Ein einmal programmierter Vorgang kann zehnmal oder eine Million Mal exakt gleich mit exaktem Ergebnis wiederholt werden. Dabei ist es egal, ob die Wiederholungen über Jahre oder über Nanosekunden hinweg durchgeführt werden. Dies ist die Grundlage der Skalierung von Prozessen. Die Digitalisierung als Vorgang sowie das EVA-Prinzip und die verlustfreie Wiederholung sind die Grundlage des digitalen Wandels und der Schlagworte mit Versionsnummern (aktuell z. B.: Industrie 4.0 oder Bildung 4.0). Auf dieser Grundlage entstehen fünf Bausteine, die als Leitplanken des digitalen Wandels verstanden werden können. Sie werden im Folgenden vorgestellt.

20.3 Die fünf Bausteine der digitalen Transformation 20.3.1 Entgrenzung von Zeit: Unabhängigkeit von Zeit Die Transformation von Daten in die virtuelle Welt ermöglicht ein beliebig langes Speichern von Informationen, ehe sie wiederverwendet werden. Theoretisch gibt es kein Verfallsdatum. Wann mit den entsprechenden Daten weitergearbeitet wird, muss nicht festgelegt sein. Dieses Phänomen nennt sich zeitliche Entgrenzung und ermöglicht es, Dinge nicht sofort und synchron erledigen zu müssen,

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sondern asynchron, also zeitversetzt zu verarbeiten. Die Möglichkeit, Gespräche zu führen, ohne gleichzeitig anwesend zu sein. Gesprächsinformationen können gespeichert und erst zu einem späteren Zeitpunkt abgerufen werden. Das einfachste Beispiel ist ein Anrufbeantworter, der es uns ermöglicht, anderen ohne direkten Kontakt eine Nachricht zu hinterlassen. Auch E-Mails fallen in diese Kategorie. Das Neue an der Digitalisierung ist nun, dass ich diese Informationen zu Daten verarbeiten kann und Daten können nach Regeln bearbeitet werden. Ein digitaler Anrufbeantworter kann die digitalisierte Aufnahme per Mail an den Empfänger weiterleiten – bei Bedarf auch als Text-Transkript. Dies kann auch für Kommunikations- und Informationsprozesse genutzt werden. Das elektronische oder postalische Versenden von Weihnachtsgrußkarten oder Seminarkatalogen und Einladungen kann an einen gespeicherten Nutzerkreis regelmäßig jährlich, monatlich oder täglich automatisiert wiederholt werden. Der Nutzerkreis kann dabei automatisch wachsen. Die Arbeit, die geleistet wurde, stand lediglich zu Beginn – danach übernimmt die IT nach definierten Regeln.

20.3.2 Entgrenzung von Raum Da die digitale Welt elektronisch ist, können Daten über alles versandt werden, was leiten oder senden kann. Dies ermöglicht uns die räumliche Entgrenzung der Abläufe. Sie hilft uns, große räumliche Distanzen zu überwinden, indem das jeweilige Speichermedium an den Empfänger geschickt wird. Am Beispiel der automatisch weitergeleiteten Anrufbeantworter-Nachricht ist ersichtlich, dass es egal ist, ob der Empfänger im Nachbarbüro sitzt oder derzeit einen Versuch auf der International Space Station ISS durchführt. Alles, was digitalisiert werden kann, ist damit an jedem beliebigen Ort verlustfrei verfügbar. Die maximal mögliche Übertragungsgeschwindigkeit führt zwar zu einer Asynchronität, einem Zeitversatz zwischen dem tatsächlichen Ereignis, der Digitalisierung und Übertragung bis zur Verarbeitung, Speicherung oder Ausgabe – für die meisten heutigen Anwendungsfälle ist dies aber (fast) vernachlässigbar. Die räumliche Unabhängigkeit in Kombination der weiter voranschreitenden Verkleinerung der Geräte bei höherer Verarbeitungsgeschwindigkeit führt über die mobilen Geräte zu einer vollständigen Durchdringung der Welt mit Ubiquitous Computing (vgl. Weiser 1991). Damit ist die virtuelle Welt jederzeit und überall zugänglich. Dies wird zu einem Umdenken in der Nutzung von IT führen. Daten und Anwendungen werden nicht mehr auf den Geräten gespeichert und genutzt, sondern in der virtuellen Welt – der Cloud. Die Geräte sind lediglich der Zugang in diese Cloud.

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Dieses Prinzip ermöglicht es, dass Verarbeitungsprozesse von digitalen Informationen globalisiert werden können. Es ist nicht zwingend nötig, dass eine Artikelserie für eine Webseite von einem Autor an einem Ort geschrieben werden muss. Es ist möglich, und wird international durchaus genutzt, eine Artikelserie oder auch ein Buch, über 24 Stunden einmal um die Welt auf Basis von Stichpunkten und definierten Botschaften (und Quellen) fertigschreiben zu lassen. Auch die Auslagerung von kleinen einfachen Tätigkeiten, sogenannten Microtasks, wie das manuelle Eingeben einer gescannten Rechnung, kann heute auf diese Weise ausgelagert werden. Aufgrund der räumlichen Unabhängigkeit und der Automatisierungsmöglichkeiten ist hierfür keine Hilfskraft mehr nötig, sondern lediglich ein System, dass diese Aufgaben sammeln, automatisch verteilen und die Ergebnisse zurückführen kann. Diese Systeme gibt es bereits. Dank ihrer Notebooks, Smartphones und der Anbindung an das Unternehmensnetzwerk sind Informationsarbeiter, vom Programmierer bis zum Mitarbeiter am Bildschirmarbeitsplatz, heute in der Lage, von überall aus remote zu arbeiten. Dies beginnt mit gelegentlichen Homeoffice-Tagen und geht bis zu den digitalen Nomaden, die an den schönsten Orten der Welt wohnen und dort ihre Arbeit remote für ihr Unternehmen oder ihre Kunden verrichten. Diese Community hat inzwischen eigene Informationswebsites mit hilfreichen Tipps und Highlights zu den interessantesten Orten für Remote Worker. In den nächsten Jahren wird dies eine interessante Herausforderung für Personalentwicklungsabteilungen, da sowohl die Organisationskulturen auf diese verteilte Arbeit angepasst werden müssen als auch bei den entsprechenden Mitarbeitern die dafür nötigen Fähigkeiten sichergestellt werden müssen.

20.3.3 Verknüpfung von Menschen Trotz der technischen Ausrichtung der IT, Informationen werden von Menschen gemacht und genutzt. Und Menschen rücken durch die Digitalisierung näher zusammen. Menschen werden miteinander zu Kommunikationspartnern verbunden, sind füreinander erreichbar und profitieren voneinander. Angefangen bei regulären Telefonaten über Webinare bis hin zu Videokonferenzen in Gruppen oder Social-Media-Beiträgen. Enzensbergers Idee des emanzipatorischen Massenmediums (Enzensberger 1970) ist erfüllt. Mit allen Vor- und Nachteilen können wir uns weltweit mit anderen Menschen vernetzen und austauschen: Von einer Unterhaltung unter vier Augen bis zu einer anonymen Massenkommunikation, wir alle sind miteinander verbunden. Dies hat enormen Einfluss auf unser Kommunikations- und Informationsverhalten. Zunächst rückt die Verbindung zum Einzelnen wieder in den

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Vordergrund. Dies zeigt sich unter anderem in der Hinwendung zum einzelnen Kunden nach dem Motto „Menschen kaufen von Menschen und nicht von Unternehmen“ (vgl. Schüller 2009) und auch der Erkenntnis „Mitarbeiter verlassen nicht das Unternehmen, sondern ihren Vorgesetzten“ (vgl. Knoblauch 2013) oder dem Trend, Personalrecruiting über Mitarbeiter und soziale Medien zu betreiben. Diese Hinwendung zum Individuum in beliebig skalierbarer Menge und der Möglichkeit eines jeden Einzelnen potenziell jeden zu erreichen, stellt viele Informations- und Kommunikations-Geschäftsmodelle auf den Kopf. Modelle wie User Generated Content, also Lerninhalte, die von den Mitarbeitern selbst erstellt werden oder Buch-, Ton-, Videoinhalte im Eigenverlag, sind heute ebenso üblich wie Open Educational Ressources, also frei verfügbare Universitätsinhalte. Für Personalentwicklungsabteilungen bietet sich hier die Herausforderung, Angebote für jeden Einzelnen und im Austausch mit jedem Einzelnen zu erarbeiten – von der Ansprache neuer potenzieller Mitarbeiter im Recruiting bis zum innerbetrieblichen Talentmanagement und der Unternehmensreputation nach außen. Die Rolle verändert sich vom Wissenslieferanten zum Lern-Moderator und Inhalte-­ Kurator.

20.3.4 Verknüpfung von Informationen Informationen werden durch entsprechende Speicher und Organisationssysteme miteinander verbunden. Informationen sind dabei auch mit der Quelle der Information verknüpft. Auch diese Qualität ist neu: Elektronisch gespeicherte Daten können beliebig miteinander verknüpft werden – in beliebiger Menge und in beliebiger Tiefe. Das Schlagwort hierfür ist derzeit Big Data und Deep Learning. Mit zunehmender Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie der fortschreitenden Erweiterung der Datenbestände sind immer bessere Datenanalysen und Verarbeitungsprozesse möglich. Dies ermöglicht nicht nur tiefere Einsichten in Abläufe, Ereignisse und Themen der realen Welt, sondern auch die ersten Lösungen, die intelligent wirken. Systeme wie IBM Watson, Amazon Lex oder Google AI-Systeme oder Microsoft Cortana bieten die ersten Lösungen mit Spracherkennung. Die Spracherkennung ist bei allen Systemen inzwischen über 90 % korrekt. Auch Gesichts- und Bilderkennung sind bereits ausgereift und bieten entsprechende Möglichkeiten. Durch die Verknüpfung der Informationen sowie der schnellen Verarbeitung ist der Schritt zu Expertensystemen und autonomen Systemen wie Robotern, selbstfahrenden Autos oder Drohnen bereits sicher. Weitere Assistenzsysteme mit verschiedensten Schnittstellen werden folgen.

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20.3.5 Verknüpfung von Dingen Inzwischen können auch physische Objekte der realen Welt ins Internet eingebunden werden. Geräte können per Funk an die virtuelle Welt angebunden werden. Dies ist die Welt des Internet of Things (Weiser 1991). Die immer besser werdenden Assistenzsysteme können beliebige Gegenstände als Auslöser für andere Anwendungen nutzen. Unter anderem werden reale Gegenstände mit Daten aus der virtuellen Welt überlagert, was mit digitalen Medien sichtbar gemacht werden kann. Es wird also eine erweiterte Realität, eine Augmented Reality geschaffen. Zum Beispiel wird mithilfe eines Smartphones aus einem Poster ein Video oder ein sprechendes Dokument. Die Miniaturisierung der Geräte bietet darüber hinaus die Möglichkeit, Gegenstände zu taggen, ihnen eine elektronisch aus der Ferne identifizierbare Signatur zu geben und damit wieder einen Auslöser oder Trigger zu setzen. Werden diese Geräte etwas aufwändiger entwickelt, entstehen Wearables, also IT-Geräte, die am Körper getragen werden und dank der Verbindung in die virtuelle Welt verschiedenste Aufgaben übernehmen können. Der Anwendungsbereich geht von T-Shirts, die einen mit Smartphone steuerbaren LED-Aufdruck haben, bis hin zu ernsthaften medizinischen Anwendungen wie Hemden mit Puls- und Hautwiderstandsmessung. Hier werden in den nächsten Jahren vermehrt neue Wearables in den verschiedensten Bereichen mit mehr oder weniger sinnvollen Anwendungen entstehen. In der Personalentwicklung bieten sich durch das Internet der Dinge und Ubiquitous Computing neue Möglichkeiten der Interaktion mit den Mitarbeitern. Informationen und Wissen können endlich aus dem jahrhundertealten Gefängnis des Klassenzimmers ausbrechen. Es ist nicht mehr nötig, dass Lehrer und Schüler gemeinsam in einem Raum Zeit verbringen, in der vagen Hoffnung, dass damit später Probleme gelöst werden. Es wird endlich möglich, das Wissen dorthin zu verlagern, wo die Probleme entstehen. Stellen Sie sich ein Gerät vor, das von einem Servicetechniker beim Kunden gewartet wird und die Anleitung dafür bereits Schritt-für-Schritt mitliefert. Oder ein Gerät, das bei einer Fehlfunktion oder auftretenden Abweichungen schon mal vorsorglich den Kundenservice kontaktiert.

20.4 Der digitale Wandel konkret Zunächst und vor allem ist der digitale Wandel noch in vollem Gange und niemand ist in der Lage, vorherzusagen, was kommen wird und was nicht. Dieses Feld obliegt den Zukunftsforschern im wissenschaftlichen Sinne und den Wahrsagern auf der eher esoterischen Schiene. Für alle anderen ist die einzige Gewissheit, dass der

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Wandel und die Veränderung anhalten wird und die Zukunft unsicher ist. Aufgrund der für uns hohen Veränderungsgeschwindigkeit sind Methoden und Verfahren hilfreich, die sowohl die Akzeptanz der Veränderung im Sinne eines Changemanagements oder auch einer Innovationskultur beinhalten, aber auch einem Werkzeug- und Methodenkoffer für Situationen mit unsicherem Ergebnis. Hierzu finden Sie in den folgenden Kapiteln weitere Hinweise. Sicher ist jedoch andererseits, dass die oben beschriebenen Leitplanken das Grundparadigma des digitalen Wandels darstellen. Egal welche Innovationen oder Veränderungen noch kommen, sie werden weiterhin mit den oben beschriebenen Leitplanken, also dem EVA-Prinzip und den fünf Bausteinen erklärbar sein. Innovationsfelder und Veränderungsbereiche können auch mit Fragen bestimmt werden, die auf diese Bausteine abzielen. Hierfür finden Sie im Folgenden einige Beispiele.

20.4.1 IT als Quelle der neuen Lösungen Um den digitalen Wandel besser zu verstehen, ist es am einfachsten, die Veränderungen direkt an der Quelle zu betrachten. Und das ist die IT – oder noch besser: Das sind die IT-Mitarbeiter und IT-Abteilungen. Hier wurden bereits sehr früh neue Verfahren und Konzepte entwickelt, um die zunehmende Digitalisierung zu meistern. Die grundlegendste Veränderung war hier zunächst die Ablösung von prozessorientierten Verfahren durch objektorientierte Programmierung. Programmierobjekte sind im Prinzip kleine, einzelne Module oder Apps mit definierten Ein- und Ausgabeformaten. Neu ist auch die Nutzung von Frameworks  – Infrastrukturen oder Programmierumgebungen mit vorgefertigten Standardprogrammen, die in den eigenen Code eingebunden werden können. Diese kleinen Veränderungen in der Technik ermöglichen jedoch komplett neue Arbeitsmethoden. Zum einen ist verteiltes Arbeiten viel einfacher, da es möglich ist, gleichzeitig mit vielen Programmierern die einzelnen Module unabhängig voneinander parallel zu erstellen. Zum anderen können einzelne Module jederzeit ausgetauscht und verbessert werden, ohne das gesamte System ändern zu müssen. Dabei wird das eigentliche Programmieren etwas weniger wichtig, die Architektur einer guten Software-Infrastruktur  – also die Planung und Steuerung  – immer wichtiger. Da planen und steuern jederzeit auch digital möglich ist, gelten hier plötzlich die oben definierten Leitplanken der Digitalisierung. Alle besprochenen Möglichkeiten stehen den Teams zur Verfügung. Gleichzeitig erhöhen sich jedoch die Umsetzungsgeschwindigkeit und die Anforderungen der Kunden. Es wurde nötig, agile und flexible Verfahren zu nutzen, die vor allem am Kundenbedarf orientiert sind.

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Das Ergebnis waren zunächst die Übernahme der Verfahren aus der Automobilindustrie, also Kanban, qualitätsgetriebene (Test-Driven) Programmierung und die Weiterentwicklung zu agilen Verfahren wie Scrum. Inzwischen gibt es ganze IT-Unternehmen, die auf der Grundlage dieser Erkenntnisse eine alternative Organisation aufgebaut haben: „Ein Einzelner kann die Arbeit von zwei oder drei ­Personen, manchmal sogar einer ganzen Abteilung erledigen.“ (Fried und Heinemeier Hansson 2010, S. 10). Die Abkehr von stabsmäßig geplanten Wasserfall-Projekten hin zu agilen und flexiblen, kundenorientierten Programmen löste viele Probleme in der IT-­ Entwicklung. Zusätzlich wurden die Kunden möglichst frühzeitig mit in den Entwicklungsprozess eingebunden, um spätere Missverständnisse und kostenintensive Nachbesserungsschleifen zu vermeiden. Es reifte auch hier eine Erkenntnis, die in anderen Branchen bereits bekannt ist: Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Oder – um es wissenschaftlicher auszudrücken: Die Customer Experience und der kundenzentrierte Ansatz ermöglichen eine bessere Programmqualität – aus Sicht der Kunden. Um die Bedarfe des Kunden bereits vor der Entwicklung zu berücksichtigen, wurden Methoden wie Designed Thinking (vgl. Tim Brown 2008) entwickelt, die bereits zu Beginn den Kunden als Anforderer im Fokus haben.

20.4.2 Start-ups als Versuchslabore der neuen Verfahren Die oben beschriebenen Veränderungen wurden logischerweise schnell von den zu Hauf entstehenden IT-Start-ups übernommen, weiterentwickelt oder verworfen. Zu den typischen IT-Problemen sind gerade bei Start-ups zwei weitere limitierende Faktoren zu berücksichtigen: Geringes Budget und unklares Ergebnis. Das geringe Budget betrifft sowohl die finanziellen Mittel als auch die Personalressourcen. Start-ups sind zu Beginn chronisch unterbesetzt und haben zu viele parallele Aufgaben. Gleichzeitig ist unklar, ob das gedachte Angebot von Kunden gekauft wird. Hier wurden die bereits dargestellten Methoden zu systematischen Ansätzen zusammengefasst und optimiert. Ziel war es, mit möglichst wenig Aufwand und sehr schnell zu testen, ob ein neues Produkt bei den Kunden ankommt und wo nachgebessert werden muss. Hier entstanden die Lean-Startup-Methode (vgl. Ries 2017) und das Value Proposition Design (Osterwalder et al. 2015). All diese Methoden basieren auf einem ähnlichen Prozess: Zunächst wird eine grobe Produktidee oder eine Serviceidee formuliert. Daraufhin werden die Kundenbedarfe strukturiert evaluiert und als Anforderungen an das Produkt definiert. Darauf aufbauend werden mögliche Kooperationspartner und Wettbewerber erfasst

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und die Positionierung des eigenen Produkts festgelegt. Im letzten Schritt wird ein Prototyp erstellt, der optimiert ist auf den wichtigsten ermittelten Bedarf der Kunden. Anhand dieses Minimalprodukts wird das tatsächliche Kundeninteresse durch Verkaufsangebote abgefragt. Inzwischen gibt es Start-ups und Plattformen, die mithilfe von Vorbestellungen das reale Kundeninteresse ermitteln. Prominentester Vertreter dieses Modells dürfte die Firma Tesla sein, die ihr neuestes Serienmodell eines E-Automobils bereits über ein Jahr vor Fertigstellung an Kunden verkauft hat. Auch die Objektorientierung und die Idee der Frameworks wird in Start-ups zunehmend unternehmerisch genutzt. Viele Jungunternehmen erstellen nicht mehr alles selbst, sondern steuern vor allem die Wertschöpfungskette und lagern die einzelnen Tätigkeiten aus. Die Nutzung von Vertriebs- und Abrechnungsplattformen gehört ebenso in diesen Bereich wie die Verwendung von Sales- und Marketing-­Services oder auch die Beauftragung von externen Dienstleistern auf Basis klar definierter Gewerke zum Festpreis. Das moderne Start-up ist bereits zu Beginn international vernetzt und lagert Aufgaben, die nicht das Alleinstellungsmerkmal betreffen, vollständig aus. Die Gründung aus Komponenten (vgl. Faltin 2017) ist im Prinzip die betriebliche Variante der Programmier-Frameworks aus der IT. Generell zeigt sich eine Verschiebung der Priorität von der Entwicklung und Produktion hin zur Steuerung externer Tätigkeiten sowie Marketing und Sales. Dies kann im Extremfall auch zu Geschäftsmodellen führen, in denen das Start-up selbst lediglich die Zusammenstellung und Steuerung von Prozessen oder Aufgaben sowie das Marketing übernimmt, und Kooperationspartner die eigentliche Leistungserfüllung. Prominente Beispiele hierfür sind AirBnB, Uber oder auch Flixbus. Die neuen Stars in den Unternehmen sind dabei die Onlinemarketing- und Digital Sales-Spezialisten. Auch hier gelten die Leitplanken der Digitalisierung. Sobald die Zielgruppe definiert ist und klar ist, wie sie angesprochen werden kann, werden die Marketing- und Vertriebsprozesse automatisiert. Ein Hersteller eines cloudbasierten Customer Relationship Management (CRM) Systems verband Marketing-Automation und Vertrieb mithilfe des Systems so eng, dass die Kunden schrittweise durch automatische Verkaufsinhalte an das Produkt herangeführt werden konnten und erst am Ende von einem Vertriebsmitarbeiter per Telefon zum Kauf animiert wurden, wenn sie bereit für den Kauf waren (vgl. Ross und Tyler 2012). Die Grundidee ist, dass Menschen sich heute im Internet informieren, ehe sie einen Kauf tätigen. Idealerweise werden sie dabei von einem Produktanbieter in allen Stadien vom vagen Interesse bis zum Kauf begleitet und mit hilfreichen Informationen versorgt. Auf dieser Basis

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gibt es heute freie Vertriebler, die sich auf internationales Internetmarketing von digitalen Produkten spezialisiert haben und dabei Umsätze generieren, die früher größeren Mittelständlern vorbehalten waren. Für uns in der Personalentwicklung bieten sich hier sowohl Möglichkeiten als auch neue Anforderungen. Zunächst müssen die Mitarbeiter auf diesen Wandel – also auf Kundenzentrierung, Fokus auf Marketing-Automation und Outsourcing von Komponenten sowie Automatisierung der betrieblichen Prozesse – vorbereitet und darin begleitet werden. Zum anderen sind die neuen Tools und Methoden auch Kommunikationstools und -methoden, die auch in der Personalentwicklung eingesetzt werden können, um die betrieblichen Bildungsbedarfe schneller zu erfassen, entsprechende Angebote zu organisieren und die einzelnen Mitarbeiter im Sinne eines Talentmanagements zu begleiten.

20.4.3 Digital Workforce als Anforderung an die Personalentwicklung Die digitalen Medien ermöglichen die Zusammenarbeit unabhängig von Zeit und Raum. Dies spielt in der modernen und globalisierten Welt für jedes Unternehmen eine immer stärkere Rolle: Die Kunden werden ebenso internationaler wie die Partner und Dienstleister. Die Zusammenarbeit und Kommunikation mit digitalen Medien wird dabei immer wichtiger. Die vorgestellten Leitplanken, aber auch die oben dargestellten Beispiele und Ansätze sind hierbei äußerst hilfreich. Beim Aufbau einer verteilten Organisation ist es notwendig, von vornherein festzulegen, welche Informationen relevant sind, wie sie erfasst und weitergeleitet werden und wie bestimmte Prozesse gesteuert werden können. Wichtig ist ebenfalls eine möglichst genaue Kenntnis der Teile der Realität, die damit nicht erfasst werden. Damit können dann der Wirkungsbereich und die Reichweite der neuen virtuellen Welt festgelegt werden und auf das Ziel des digitalen Abbilds hin überprüft werden. Würde zum Beispiel bei der Ausstattung eines Betriebes mit Netzwerk ein Büro vergessen, wären die dort arbeitenden Personen von einem wichtigen Teil des betrieblichen Informations- und Kommunikationswesens abgeschnitten. Sie wären – wie Robinson Crusoe – isoliert, von der Welt abgeschnitten. Sie sind nicht Teil der digitalen Kommunikation und Information des Betriebes. Damit werden sie über kurz oder lang ein hohes Informationsdefizit haben. Die Reaktionsgeschwindigkeit in der Abstimmung mit Kollegen ist schlecht, die Identifikation mit der Organisation

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fällt schwerer und die Tendenz zu autonomen und unabgestimmten, individuellen Entscheidungen steigt zwangsläufig. Klingt für Sie theoretisch? Fragen Sie Vertriebsmitarbeiter, Service-Mitarbeiter und externe Dienstleister, die nicht entsprechend in Ihre Infrastruktur eingebunden sind. Sobald ein Unternehmen eine digitale und organisatorische Infrastruktur aufgebaut hat, um mit Remote Mitarbeitern zu arbeiten, entstehen neue und konkrete Personalentwicklungsbedarfe. Zum einen ist es nötig, mögliche Kompetenzlücken und fehlende Kommunikations-/Informationskanäle zu identifizieren. Hier hilft ein Frühwarnsystem für Performance-Einbrüche oder Projektverzögerungen. Die Frage ist hier: Wie kann die Performance gesteigert oder der Projekterfolg gesichert werden? Welche Lücke ist offen: Fehlen entsprechende Kommunikationstools, Prozesse oder Vorgehensleitlinien oder gibt es Kompetenzlücken, die geschlossen werden müssen? Zum anderen benötigen auch die Mitarbeiter an entfernten Standorten eine individuelle Begleitung, ein Kompetenz- oder Talentmanagement, also das gemeinsame Ermitteln der Lernbedarfe und das Zusammenstellen entsprechender Maßnahmen, die von den Mitarbeitern digital durchgearbeitet werden können. Hierbei ist es notwendig, dass auch eine Begleitung stattfindet – ein Lerner geht ebenfalls durch eine Customer Journey. Gegenüber der Geschäftsleitung ist die Aufgabe der Personalentwicklung deutlich wertschöpfender als noch vor einigen Jahren. Aufgrund der vielen messbaren Zahlen und Kennzahlen hat auch die Personalentwicklung eine Ergebnisverantwortung in Übereinstimmung mit den Geschäftszielen. Klar ist bereits heute, dass der digitale Wandel auch in hohem Maße von den digitalen Kompetenzen der Mitarbeiter abhängt. Hier geht es vordergründig natürlich um die technische Kompetenz, also den Umgang mit den jeweiligen Systemen sowie die generelle Fähigkeit, sich schnell in neue IT-Systeme einzuarbeiten. Es geht aber auch um die Medienkompetenz, beginnend mit Datenschutz und Datensicherheit über ein Grundverständnis für Urheberrecht und Compliance-Themen sowie um die professionelle Kommunikation in sozialen Medien und die adäquate Nutzung dieser Medien. Zusätzlich müssen auch die Kooperationsfähigkeit, Selbstmanagementfähigkeiten sowie generelle Führungsfähigkeiten über digitale Medien entwickelt und eingeübt werden. Für die Zeit des Wandels sind darüber hinaus die typischen Start-up-­ Themen wie Umgang mit Unsicherheit, Flexibilität und Innovationsorientierung sowie eine dazu passende Fehlerkultur ein für alle Mitarbeiter äußerst hilfreicher Organisationswandel. Dies setzt jedoch auch für Personalentwicklungsabteilungen einen hohen Digitalisierungsgrad voraus, der schrittweise aufgebaut werden muss. Diese Schritte werden im folgenden Fahrplan kurz dargestellt.

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20.5 F  ahrplan digitale Transformation in der Personalentwicklung Die neue digitale Welt bringt auch in der Personalentwicklung einen dramatischen Wandel mit sich. Kurz gesagt: Sie werden arbeitslos! Oder konkreter und weniger dramatisch formuliert: Ein Großteil Ihrer bisherigen Rollen und Aufgaben ist zukünftig unnötig. Auch hier gibt es digitale Lösungen und neue Dienstleister, die das meiste übernehmen werden. Es ist also Zeit, über Ihre eigene Zukunft nachzudenken. Und die sieht besser aus als es scheinen mag. Denn auch wenn alte Rollen und Aufgaben wegfallen, entstehen viele neue. Und diese gilt es zu entdecken, auszufüllen und aufzubauen. Beginnen Sie als Start-up im eigenen Unternehmen und machen Sie Ihre alten Rollen und Aufgaben selbst überflüssig, ehe es von außen geschieht. Der folgende Fahrplan ist hierfür ein guter Start.

20.5.1 Evaluierungsphase Die Evaluierungsphase hat drei Bereiche: Im Kern geht es zum einen um die Ermittlung der Bedarfe aus Kundensicht und zum anderen um die Überprüfung und Planung einer effizienten Infrastruktur – eines „Frameworks“ für Personalentwicklung. Die Aufgabe als Moderator und Impulsgeber für Innovations- und Changeprozesse kann als dritter Bereich mit einer ersten Evaluation begonnen werden. Nutzen Sie den Methodenkoffer der Start-ups, um die Bedarfe Ihrer Zielgruppen zu evaluieren. Hilfreiche Tools sind hier die Methoden des Design Thinking und die Value Proposition Canvas. Hier geht es nicht um eine weitere Digital Readiness-­Studie, es geht darum, Ihre Zielgruppen, von der Geschäftsleitung über die Führungskräfte bis zu den Fach- und Projektexperten in ihrer Organisation, kennenzulernen. Wichtig dabei ist vor allem, dass Lernen kein Selbstzweck ist, sondern Mittel zum Zweck – die Blackbox, die das gewünschte Ergebnis liefert oder den definierten Bedarf deckt. Die Frage ist also nicht, was Ihre Zielgruppe lernen will, sondern welche Geschäfts- und Performanceziele sie hat und welche auftretenden Hindernisse und Schwierigkeiten durch Lernprozesse gelöst werden können. Ein neuer Personalentwicklungsdienstleister ist zunächst der Dienstleister der Geschäftsleitung. Es gilt zu klären, welche Geschäftsziele zu erreichen sind und welche Personalressourcen bzw. Kompetenzen dafür nötig sind. Parallel dazu ist es hilfreich, auch auf Mitarbeiterseite zu klären, welche Kompetenzen und persönlichen Ziele die Mitarbeiter Ihrer Organisation haben.

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Ähnlich wie Xing oder LinkedIn wird Personalentwicklung zur Sammelstelle der vorhandenen Mitarbeiterkompetenzen und -ziele. Diese können dann mit den Geschäftszielen abgeglichen werden. Die zentrale Aufgabe der Personalentwicklung wird zukünftig sein, die Geschäftsziele durch Sicherstellung der dazu nötigen Kompetenzen zu unterstützen. Der eigene Erfolg wird nicht mehr am Ende einer Maßnahme gemessen, sondern anhand der Performance-Kennzahlen der Mitarbeiter oder Abteilungen. Der zweite Bereich ist die Evaluation Ihrer Infrastruktur. Hier ermitteln Sie, wie Sie Ihre oben definierten Aufgaben effizienter erledigen können. Ansatzpunkte sind hier die Fragen und Leitplanken, die Sie bei den Grundlagen der Digitalisierung kennengelernt haben. Ziel ist es, möglichst alles in digitaler Form vorliegen zu haben und auch die Schnittstellen und die Überführung in die reale Welt (im Sinne der Performance am Arbeitsplatz) aktiv zu definieren. Stellen Sie sich dabei die folgenden Fragen: In einer ideal-digitalen Welt, in der die IT die Aufgaben übernimmt und automatisiert: 1. Welche Daten sind hilfreich, um die Aufgaben gut auszuführen, wo können diese Daten erfasst werden und wie werden sie am einfachsten erfasst? 2. Welche Informations-, Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse gibt es in Ihrer Organisation und wie könnten diese digital abgebildet werden? 3. Wo müssen die Ergebnisse Ihrer Bemühungen in der Realität sichtbar werden und wie können Sie dafür sorgen, dass sie sichtbar werden? Welche Schnittstellen sind hilfreich? 4. Wie können Sie sicherstellen, dass Ihre Angebote räumlich und zeitlich unabhängig genutzt werden können? 5. Wie können Sie die Mitarbeiter Ihrer Organisation als aktive Unterstützer mit einbinden (von User-generated Content über Experten-Chats und informellen Lernstrukturen bis zum individuellen und selbstorganisierten Lernen)? 6. Wie können Sie die in Ihrem Unternehmen vorhandenen Daten so auswerten und vernetzen, dass sie für Ihre Aufgaben hilfreich sind? 7. Wie bringen Sie Wissen und Lernprozesse an die Punkte, an denen sie benötigt werden und Probleme oder kritische Vorfälle als Lernbedarf zu ihnen? Angefangen bei Geräten, die ein Training oder Serviceanleitungen beinhalten bis hin zu mobilen Lösungen für Mitarbeiter unterwegs muss der Informationsaustausch strukturiert werden. 8. Und zu guter Letzt: Wie sichern Sie den Erfolg Ihrer Maßnahmen und wie ermitteln Sie den Beitrag Ihrer Maßnahmen zu den Geschäftszielen (= Qualitätssicherung und Performancemessung)?

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Bleibt noch der dritte Bereich: Change-Agent und Impulsgeber für organisatorischen und kulturellen Wandel in Ihrer Organisation. Digitalisierung bedeutet auch eine Veränderung im Denken und Handeln. Die oben dargestellten Leitplanken oder Veränderungsbeispiele betreffen jeden Arbeitsplatz. Natürlich gibt es e­ inige Kompetenzen, die durch die Digitalisierung für jeden wichtig sind, eine digitale Kernkompetenz. Diese kann in regulären Maßnahmen vermittelt werden. Darüber hinaus ist es jedoch nötig, die Auswirkungen, Risiken und Chancen der Digitalisierung auf alle Arbeitsplätze ins Unternehmen zu tragen und die Veränderungsbereitschaft zu steigern. Es ist nötig, alle Tätigkeiten und Aufgaben der eigenen Organisation im Hinblick auf die beschriebenen Leitplanken auf Digitalisierungsmöglichkeiten zu prüfen. Hier geht es auch darum zu verdeutlichen, dass kein Geschäft mehr sicher ist: Der neueste Wettbewerber, der das bisherige Modell in Frage stellt, arbeitet bereits an seinem Businessmodell. Dieser Wettbewerber ist jung, neu, disruptiv innovativ, global aufgestellt und ggf. mit großen Venturecapital-­Budgets ausgestattet. Die Neuen kommen meist nicht aus der eigenen Branche – und haben damit keine „alten Zöpfe“ die abgeschnitten werden müssen.

20.5.2 Pilotphase Erst wenn diese Infrastruktur aufgrund Ihrer Evaluationen klar beschrieben werden kann und Sie Ihren zukünftigen Personalentwicklungsbetrieb im Detail definiert haben, können Sie über die Umsetzung nachdenken. Prüfen Sie nun, welche Teile Standardanwendungen sind, die Sie auslagern können. Lohnt es sich, für jedes Thema eigene Trainer und Angebote vorzuhalten oder gibt es externe Angebote, die genau das abdecken? Gibt es Teile der Prozesskette, die Sie auslagern können? Welche Teile können durch Software abgedeckt werden, was kann automatisiert werden? Inwieweit können Sie Self-Service-Angebote für Mitarbeiter integrieren? Welche Aufgaben bleiben als Ihre Kernaufgaben bestehen und können nicht automatisiert oder ausgelagert werden? Nehmen Sie sich einen überschaubaren Bereich vor, einen konkreten Geschäftsfall oder Use Case. Dieser Fall sollte einen möglichst starken Einfluss auf die Geschäftsziele haben, innerhalb eines Halbjahres umsetzbar und schrittweise erweiterbar sein. Gleichzeitig sollte es möglich sein, die Auswirkung auf die Geschäftsziele klar zu evaluieren, um eine Aussage treffen zu können, inwieweit die Umstellung erfolgreich war. Dieser Bereich wird dann das Pilotprojekt. Nutzen Sie dieses Projekt, um die entsprechenden Neuerungen zu testen und im Unternehmen Werbung zu machen für den nächsten Schritt. Beginnen Sie dieses Projekt mit der Mentalität eines Start-ups: Es ist besser schnell zu starten, viele

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Fehler zu machen und nachzubessern als im Vorfeld alles perfekt machen zu wollen und nie zu starten. Denken Sie nur daran, Ihre Schwierigkeiten zu dokumentieren und für die jeweils nächsten Schritte eine Umsetzungs-Blaupause zu e­ ntwickeln.

20.6 Abschluss und nächste Schritte Wie bereits erwähnt, wird es noch häufig vorkommen, dass irgendein Unternehmen beinahe aus dem Nichts auftaucht und als „der Neue“ eine weitere Branche auf den Kopf stellt. Werden Sie besser selbst dieser „Neue“ und beginnen Sie, sich selbst als Organisation immer wieder abzulösen und zu prüfen, wo Ihnen die neuen Technologien einen Vorteil verschaffen könnten, wenn Sie auf der grünen Wiese beginnen würden. Die Digitalisierung bringt viel Unsicherheit mit sich, aber wie immer bei so grundlegenden Veränderungen auch unglaubliche Chancen. Wichtig ist, die Veränderungen aktiv mitzugestalten  – ohne jeden Modetrend mitzumachen, aber auch ohne zu lange abzuwarten. Niemand kann sagen, wie oder wann die Digitalisierung unsere Welt konkret verändert. Sicher ist aber, dass sie sich im Rahmen der Leitplanken bewegen wird, die ich Ihnen dargestellt habe. Sie fragen sich sicher, wie ich mir dessen so sicher sein kann im Hinblick auf all die fortschreitenden Veränderungsprozesse und die Antwort ist einfach: Diese Leitplanken habe ich zum ersten Mal 1997 auf einer Konferenz präsentiert. Neu hinzugekommen ist lediglich die Vernetzung mit Dingen, das Internet of Things, das für mich damals noch nicht absehbar war. Neu sind natürlich auch die entstandenen Methoden, Systeme und Verfahren. Sie folgen aber seit 20 Jahren genau diesen Spielregeln. Ich kann Ihnen also nicht sagen, was das nächste große Ding ist, ich weiß aber, dass es sich innerhalb dieser Leitplanken bewegen wird und für einen bestimmten Kundenbedarf Antwort auf die oben dargestellten Fragen geben wird. Auch in der Personalentwicklung wird die Digitalisierung weitere unglaubliche und faszinierende Neuerungen mit sich bringen und das Tausende von Jahren alte Lehrer-Schüler-Modell endlich ablösen. Dabei ist es unser aller Aufgabe als Trainer und Berater sowie als Personalverantwortliche und Personalentwickler, diesen Wandel mit eigenen Innovationen aktiv voranzutreiben und neue Lösungen zu finden, die bisher nicht denkbar waren. Ich wünsche Ihnen interessante Entdeckungen auf Ihrer digitalen Reise und freue mich auf Ihre digitalen Feedbacks und Fragen.

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Bernd Wiest  ist seit über 20 Jahren Unternehmer, Experte und Autor für Digitale Transformation und Personalentwicklung. Unter anderem etablierte er im Kundenservice der T-Online/Deutschen Telekom E-Learning, Bildungscontrolling und Kompetenzmanagement, entwickelte den ersten cloudbasierten E-Learning Marktplatz, ein virtuelles Beratungsportal, eine Online Akademie und berät seither Unternehmen bei der Einführung und Nutzung digitaler Medien sowie bei der digitalen Transformation in der Personalentwicklung.

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Inhaltsverzeichnis Literatur

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Wie sich in Deutschland eine digitale Zukunft darstellen wird, hängt nicht nur davon ab, welche der drei Hypothesen – Substitutionshypothese (vgl. z. B. Brynjolfsson und McAfee 2012; Frey und Osborne 2013), Polarisierungshypothese (vgl. Fürst 2003), Komplementaritätshypothese (vgl. Fürst 2015), vgl. auch Kap.  1  – sich bestätigen wird, sondern auch ob es gelingt, sowohl in der Wirtschaft (insb. im globalen Wettbewerb, in dem Deutschland in der Digitalisierung und Digitalwirtschaft in Rückstand geraten ist) die ökonomischen Vorteile der digitalen Transformation entschieden zu nutzen, als auch die sozialen Auswirkungen dieser Transformation und der daraus resultierenden (teilw. unabdingbaren) Veränderungen in der Gesellschaft aktiv und positiv zu gestalten. Letztlich wird hierbei von allen beteiligten Akteuren in Privatwirtschaft, Politik und Gesellschaft ein verantwortungsvolles Aushandeln der Verteilung der Vorteile aus der Digitalisierung sowie des gemeinsamen Tragens und Abfederns der Risiken der Digitalisierung

R. A. Fürst (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24493-4_21

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vonnöten sein – bei gleichzeitig möglichst umfangreicher Maximierung der digitalen Potenziale. Deutlich wurde hierbei in den Beiträgen, dass Digitalisierung und digitale Transformation nicht einfach nur technisch gefasst werden dürfen, sondern dass diese insbesondere neue relevante Anforderungen an die Schlüsselposition Mensch in seiner Rolle als Führungskraft, als Mitarbeiter und als Bürger stellen, gleichzeitig aber auch die Chancen für den Menschen massiv erhöhen. So steigen zunächst die Anforderungen an Führungskräfte umfangreich Auch wenn mit Führungskräften z. B. ebenso Entscheidungsträger in politischen Ämtern und in privaten und öffentlichen Organisationen und Institutionen gemeint sind, wird der Sachverhalt im Folgenden an einer Führungskraft im Unternehmenskontext erläutert. Hier verändert sich zunächst die Aufgabe der Führungskraft in Bezug auf den Mitarbeiter. Digital Leadership stellt ein neues Führungsverständnis dar. Mitarbeiter müssen heute wesentlich mehr und schneller leisten als früher. Dies bedeutet, dass die Feedbackschleifen einer Führungskraft, welche nicht zum Bottleneck werden will, zeitlich in größeren Abständen erfolgen müssen. Dadurch müssen Führungskräfte lernen, ihre Mitarbeiter gezielter zu fördern/ entwickeln und stärker auf die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter zu vertrauen, diese zu mehr Autonomie befähigen und ihren eigenen Soft Skills, insbesondere der Fähigkeit zuzuhören sowie überzeugen zu können, einen größeren Raum bei zeitgleich zunehmender Zeitknappheit einräumen. Dies gilt auch für die Interaktion mit den Kunden der Unternehmen. So zeichnet sich ein ganz neuartiges Verhältnis zum Kunden ab, welches durch die andersartige Austarierung von Interaktion und Automation geprägt ist. Dienstleister können, z. B. über den Einsatz von Chatbots oder die Automatisierung von Prozessabläufen umfangreich digitalisieren. Gleichzeitig indes erzwingt der spezielle, stark auf eine Interaktion mit dem Kunden ausgerichtete Charakter der Dienstleistung, dass die Kunden im Rahmen der digitalen Transformation aktiv mitgenommen werden müssen, weil diese zunehmend im Rahmen einer Customer-Co-Creation in den Produktionsprozess des Unternehmens frühzeitig eingreifen und das Unternehmen an einer Vielzahl von Customer Touchpoints wissen lassen, ob sie mit den Leistungen des Unternehmens zufrieden sind. Dies beginnt bereits bei der Marke, welche einerseits Konstanz in stürmischen Zeiten bewahren muss und andererseits den schnell sich wandelnden und individualisierenden Kundenbedürfnissen („moving targets“) Rechnung tragen muss. Angesichts dieses stärkeren Flusses von Veränderungen wird auch die Kommunikation mit Stakeholdern wie Gesellschaftern und Aktionären immer ­anspruchsvoller, da es gilt gleichzeitig Sicherheit und Vertrauen in die Leistungs-

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fähigkeit des Unternehmens sowie klare Strategien zu vermitteln, während das Umfeld, in dem dies geschieht, immer unsicherer wird, Mitarbeiter immer schneller reagieren müssen und damit eine Führungskraft auch immer häufiger damit konfrontiert ist, gar nicht genau zu wissen, wie der Status quo überhaupt aussieht oder aktuell zu bewerten ist. Zuletzt steigen auch die Anforderungen an die Führungskraft in Bezug auf sich selbst. So eröffnen sich z. B. durch Social Media und vermittelte digitale Kommunikation ganz neue Herausforderungen. Führungskräfte müssen beispielsweise lernen, zusätzlich über Internet und soziale Netzwerke relevante Informationen zu verteilen. Hierbei bedarf es einer höheren Sensibilität bzgl. der Bewertung von Informationsquellen und in Bezug auf das eigene Personal Branding in Form eines Bewusstseins für die eigenen digitalen Datenspuren und deren Auswirkungen. Zusammengefasst fungiert der Manager durch seine Führung als maßgeblicher Treiber der digitalen Transformation. Er ist es, welchem die Aufgabe zukommt, zwischen Mitarbeitern, Gesellschaftern und Aktionären sowie den Kunden mit ihren zunehmend anspruchsvolleren Verhaltensweisen in der sich hier ergebenden VUCA-Welt zu vermitteln, d. h. einem sehr unsicheren, volatilen, komplexen und mehrdeutigen Umfeld Rechnung zu tragen. Er muss dem zunehmenden Phänomen stetiger Disruptionen gerecht werden und Mitarbeiter und Unternehmen durch neue Geschäftsmodelle und Anpassungen so aufstellen, dass sie in diesem Umfeld am Markt überleben sowie den Kunden im Blick behalten und den Gesellschaftern oder Aktionären Vertrauen vermitteln. Und zeitgleich muss die Führungskraft sich viel mehr als früher ihrer digital vermittelten Wirkungen bewusst sein und diese aktiv und positiv gestalten. Führungskräfte fungieren hierbei dem Grunde nach wie Kapitäne und müssen digitale Verantwortung tragen und übernehmen. Allerdings erhalten sie auch durch die neuen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz und Datenanalyse Unterstützung bei der Entscheidungsfindung. Es scheint, wenn man diese Anforderungen ernst nimmt, dass immer weniger Persönlichkeiten überhaupt derart hohen Anforderungen gewachsen sind. Da man sich allerdings diesen Anforderungen kaum wird entziehen können, wird der Bildung eine Schlüsselrolle zukommen, um künftige Führungskräfte im Sinne eines Digital Leadership optimal und kompetenzorientiert zu schulen. Auch an Mitarbeiter stellt die Digitalisierung hohe Veränderungsanforderungen So zeichnen sich fundamentale Verschiebungen im sozialen Verhalten und den in der Wirtschaft praktizierten Arbeitsweisen ab. Wenn immer mehr Routinetätigkeiten automatisiert werden, wird der Mitarbeiter zunehmend in seiner Funktion als Lösungspotenzial komplexer Aufgabenstellungen – als Arbeitnehmerkompetenz –

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normal und wertvoll, was früher von der Norm abwich, d. h. Diversity wird immer bedeutsamer. Durch die digitale Transformation werden zudem viele Arbeitsplätze eine radikale Veränderung erfahren. Illustriert wurde dies am Beispiel der Sprachindustrie. In dieser ist damit zu rechnen, dass es zukünftig kaum noch Übersetzer geben wird, da die Übersetzungsarbeit durch die Automatisierung entfällt, allerdings werden zeitgleich Arbeitsplätze als Lokalisierer notwendig werden, in denen der Mensch die Rolle eines Kontrolleurs von Qualität einnimmt. Durch die digitale Vernetzung gewinnt am Beispiel der Übersetzung wiederum auch eine Globalisierung mehr an Bedeutung und Fühlbarkeit. Dies impliziert, dass Sprache und sprachliche Feinheiten im internationalen Kontext bedeutsamer werden. Immer mehr Arbeitstätigkeiten verschieben sich von den ausführenden Tätigkeiten weg hin zu einer noch umfangreichere Fachkompetenz erfordernden Tätigkeit oder aber hin zu einer Überwachungs- und Managementaufgabe. Arbeitnehmer müssen folglich selbstständiger handeln und sich organisieren. Gleichzeitig entstehen auch neue Möglichkeiten der Unterstützung, welche im gewählten Beispiel durch eine Unterstützung durch neue digitale Technologien in Form von Translation Memory Systemen illustriert wurde. Ergänzt man diese Ergebnisse um diejenigen der Studie von Daniel Markgraf aus dem Jahre 2018 (vgl. Markgraf 2018) zum Wandel der Arbeitswelten durch Digitalisierung, zeigen sich weitere wichtige Entwicklungen. Arbeitnehmer werden der Studie zufolge zunehmend mobiler und flexibler in der Nutzung ihrer Kommunikationsmittel und -wege und setzen zunehmend auf orts- und zeitunabhängige Kommunikation, was auch die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben immer stärker verwischen lässt. Private Räume und arbeitsfreie Tage wie das Wochenende bieten so keinen eindeutigen Rückzugsraum mehr. Gleichzeitig stellt die zunehmende Dynamisierung und Beschleunigung von Entwicklungen die etablierten Kommunikationsmittel und deren Organisation vor Herausforderungen. Immer mehr kommt es zu Störungen oder Ablenkungen von der eigentlichen Arbeit. Arbeitsumfeld, Arbeitsaufgaben sowie erhöhter Abstimmungsbedarf machen die Arbeit zunehmend komplexer und es wird immer schwerer, sich konzentriert und fokussiert an die Bearbeitung der eigentlichen Aufgaben zu machen. Dies erfordert vermehrte Selbstkontrolle, strukturierte Methoden sowie eine aufgabenorientierte Planung. Stettes (vgl. Stettes 2016, S. 69) fordert in seiner Synopsis der absehbaren Änderungen der Arbeitswelt der Zukunft darum, dass gerade ältere Arbeitnehmer für veränderte Kompetenzanforderungen geschult werden müssen, wobei Schulungen, möglichst nah am Lernumfeld sein sollten. Er zeigt auf, dass sehr häufig bei stark digitalisierten Unternehmen lernförderliche Arbeitsumgebungen

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(altersgemischte und diversitygeprägte Teams, institutionalisierter Wissenstransfer) sowie eine systematische Analyse von Kompetenzprofilen und Weiterentwicklungswünschen von Mitarbeitern vorherrschen, um diese für den Wandel und die damit verbundenen Lernanforderungen zu gewinnen. Unterschiede werden sich hier zwischen großen Unternehmen und kleinen Unternehmen ergeben. Während große Unternehmen tendenziell stärker vor den He­ rausforderungen stehen, eine Vielzahl von Mitarbeitern zu organisieren und den Wissenstransfer zwischen diesen zu organisieren, stehen kleine Unternehmen vor dem Spannungsfeld, dass sich die Anforderungen an die Mitarbeiter einerseits massiv erhöhen, andererseits die Anzahl an Mitarbeitern, welche diesen Anforderungen gewachsen ist, in Zeiten eines vermehrten Fachkräftemangels gerade unter KMU (Ernst und Young (2018) spricht von ca. 80 % schwer zu besetzenden Stellen) rapide abnimmt. Auch diesen Herausforderungen wird sich wohl vor allem durch digitale und berufsbegleitende Bildung begegnen lassen. Auch an den Bürger stellt die Digitalisierung umfangreiche Anforderungen Insbesondere kommt es angesichts des mittlerweile verfügbaren Online-­ Weltwissens zu einer Rückwendung auf den Einzelnen, welcher je für sich selbst lernen und verstehen muss, wie sich die verfügbaren Informationen verstehen sowie bewerten lassen und diese sinnvoll eingesetzt werden können. Gleichzeitig kommt es zu bedeutenden Steigerungen des Lebensstandards: Vieles, was früher nur Königen vorbehalten war, ist heute bereits in ländlichen Gegenden Standard: Milliardäre wie Schüler in der Dorfschule benutzen ggf. dasselbe Smartphone. Durch diese ubiquitäre und egalisierende Wirkung des Smartphones nehmen Social Media und Smartphone-Nutzung massiven Einfluss auf persönliche Verhaltensweisen. Nicht immer sind diese uneingeschränkt positiv, in jedem Fall aber erfordern sie neue Kompetenzen bei den Menschen. Auch zeigt sich, dass externe Erweiterungen menschlicher Möglichkeiten nur die eine Seite digitaler Veränderungen beim Bürger darstellen. Interne Erweiterungen menschlicher Körper sind ebenfalls zu erwarten, wie z. B. eine Veränderung durch diverse „intelligente“ Implantate, sei dies in Form von Herzschrittmachern, Retina-Implantaten, Cochlea-Implantaten und ähnlichem. Hierbei kommt es zu Eingriffen in den Körper, welche zugleich ethischen Fragestellungen aufwerfen. Auch die politische Meinungsbildung wird immer stärker durch die Digitalisierung beeinflusst. Die Konsumption von Nachrichten aus sozialen Medien und das personalisierte Informationsangebot führen z. B. über sogenannte Echokammern zu Radikalisierungen und Polarisierungen in der Gesellschaft. Intelligente Algorithmen verstärken bei der personalisierten Informationsverteilung insbesondere emotionalisierende negative Botschaften (unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt,

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vgl. „Fake News“), weil diese stärkere Reaktionen hervorrufen (Vgl. Schmidt 2018, S.  61  ff.). Weil Bildung, insbesondere digitale Bildung, diesen Effekt abschwächt, ist insbesondere die Vermittlung digitaler Medienkompetenzen auch für die politische Bildung und Stärkung/Immunität unserer Demokratie und sozialen Marktwirtschaft von hoher Relevanz (Vgl. Hagen et al. 2017, S. 17 f.). Digitale Kompetenz und digitale Bildung spielen auch eine wichtige Rolle dabei, wie die Chancen und Risiken der digitalen Transformation politisch verhandelt und sozial verteilt werden und die Gesellschaft gestaltet wird. Somit lautet die Antwort des Autors und Herausgebers dieses Werkes auf die Leitfrage des 9. AKAD Forums „Digitale Transformation = Soziale Revolution?“, dass der digitalen Bildung und Entwicklung/Förderung digitaler Kompetenzen  – sowohl der gesellschaftlichen Elite und der Entscheidungsträger als auch einer möglichst breiten Bevölkerung – eine Schlüsselrolle dabei zukommt, ob die digitale Transformation so gestaltet und gemanagt wird, dass die Gesellschaft ohne soziale Revolution(en) weiterentwickelt wird (Vgl. Wittpahl 2016, S. 6). Um den Wandel durch Digitalisierung positiv zu gestalten, werden somit erneut Bildungsinstitutionen wie Schulen und Hochschulen eine zentrale Rolle einnehmen, wenngleich auch andere private und öffentliche Organisationen und Institutionen Verantwortung für die digitale Weiterbildung insbesondere Älterer übernehmen müssen. Fasst man also die sich durch die Digitalisierung ergebenden Notwendigkeiten noch einmal zusammen, so zeigt sich, dass digitale Bildung  – beispielsweise in Form eines Studium Digitale in Anlehnung an das fächerübergreifende Studium Generale an Hochschulen – die Klammer über alle genannten Herausforderungen bildet, da in jedem der drei erläuterten Ankerpunkte (Führungskraft, Mitarbeiter, Bürger) sich zuletzt digitale Bildung als Schlüssel dafür herauskristallisiert, den erhöhten neuen Anforderungen gerecht zu werden. So kommen der erstmaligen akademischen Bildung und der lebenslangen Weiterbildung für den Erwerb digitaler Kompetenzen bei Jung und Alt in der Gesellschaft wie Wirtschaft eine besondere Bedeutung zu, weil 1. das für die Herausforderungen einer digitalisierten Wirtschaft notwendige Personal aktuell zu knapp ist und 2. erst ein Verständnis der durch die digitale Transformation hervorgerufenen Veränderungsnotwendigkeiten sowie der Zusammenhänge, Chancen und Risiken eine nachhaltig soziale, gesellschaftliche und im globalen Wettbewerb wirtschaftlich erfolgreiche Gestaltung der digitalen Transformation möglich macht. In ihrem aktuellen Diskussionspapier Future Skills (Vgl. Stifterverband der Deutschen Wissenschaft, McKinsey 2018) erarbeiteten der Stifterverband der

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Deutschen Wissenschaft sowie McKinsey darum die in den nächsten fünf Jahren verstärkt erforderlichen Skills deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Anforderungen sieht das Papier, wie Abb.  21.1 zeigt, sowohl im Bereich der tech-spezialisierten Schlüsselqualifikationen (d. h. der Big-Data-Analyse, Robotik-­ Entwicklung) als auch im Bereich digitaler Schlüsselqualifikationen (z.  B.  Data Literacy, d. h. Umgang mit komplexen Datenmassen, Kollaboration, agiles Arbeiten und digitales Lernen) sowie nicht-digitaler Schlüsselqualifikationen (z. B. Problemlösekompetenz, Adaptionsfähigkeit, Kreativität, Durchhaltevermögen, unternehmerisches Denken, vgl. ebd., S. 4–5). Das Diskussionspapier kommt hierbei zu dem Schluss, dass in den digitalen und nicht digitalen Schlüsselqualifikationen der weitaus größte Weiterbildungsbedarf in den kommenden Jahren liegen wird. Eine Schweizer Studie bestätigt auf Basis der Schweizer Arbeitskräfteerhebung zwischen 2006 und 2015 in der quantitativen Analyse der Veränderung digitaler Kompetenzen, dass es hier zu einem Ersetzen von Routinetätigkeiten, insbesondere in Form manueller Tätigkeiten kommt (vgl. Aepli et al. 2017, S. 9), während Berufe mit einem Tätigkeitsbündel aus analytischen und interaktiven Nichtroutinetätigkeiten zunehmen. Die Studie schließt, dass als neue Kompetenzen insbesondere IT-Affinität, Datenanalyse, Prozessverständnis, überfachliche Querschnittskompetenzen (z. B. Flexibilität und Teamfähigkeit), Kreativität/Innovationsfähigkeit/Out-­ of-­the-box-Denken und Kommunikation an Bedeutung gewonnen haben. Die technische Komponente der Digitalisierung wirkt hier in Kommunikationstools, Interaktionstools, Arbeit mit digitalen Algorithmen, digitale Diagnose von Arbeitsgeräten sowie digitale Dokumentation und Data Literacy (vgl. ebd., S. 11). Letztlich waren dies die Gründe, warum die AKAD University in den vergangenen Jahren nicht nur ihr Geschäfts- und Studienmodell für Berufstätige konsequent digitalisiert hat und stetig weiter digitalisiert, sondern jüngst auch immer mehr neue Studiengänge entwickelt, mit deren Hilfe sich junge und alte Arbeitnehmer berufsbegleitend zentrale digitale Kompetenzen aneignen können (z. B. Studiengänge wie „Digitale Transformation“, „Innovationsmanagement und digitale Geschäftsmodelle“, „Digital Marketing & Social Media“, „Digital Leadership & Communication“, „Big Data Management“, „Data Science & Analytics“ oder „Digital Engineering und angewandte Informatik“). Damit dies auch neben dem Beruf beim lebenslangen Lernen möglich ist, haben wir mit der Hochschule das normalerweise grundsätzlich angebotsorientierte Studium (fester Semesterbetrieb mit vorgegebenen Studienzeiten und Terminen) unter Nutzung der technologischen Chancen zu einem nachfrageorientierten, flexiblen, stark individualisierten und digitalisierten Studium transformiert. Dadurch lassen sich die ganz individuellen und persönlichen Lebensumstände bestmöglich mit einem anerkannten Fernstudium „on the job“ verbinden.

(z. B. Adaptionsfähigkeit, unternehmerisches Denken)

Herausforderung in der Breite: Neue Arbeitsformen erfordern ein verändertes Set an Schlüsselqualifikationen bei allen Mitarbeitern

Herausforderung in der Spitze: Spezialisten für den Umgang mit transformativen Technologien werden in allen Branchen benötigt und sind eine knappe Ressource am Arbeitsmarkt

Nicht-digitale Schlüsselqualifikationen

Abb. 21.1  Future Skills. (Quelle: Stifterverband, McKinsey 2018)

(z. B. Data Literacy, Kollaboration, digitales Lernen)

Digitale Schlüsselqualifikationen

(z. B. Big Data Analysten, UX-Designer, RobotikEntwickler)

TechSpezialisten

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Dies ist zugleich unser gesellschaftlicher Beitrag für eine nachhaltige und erfolgreiche digitale Transformation in Deutschland, ein Beitrag, der das vorhandene „Humankapital“ bestmöglich weiterqualifiziert, indem auch in der nichtdigitalen Arbeitswelt berufserfahrene Mitarbeiter sich gezielt auf die neuen Herausforderungen und Anforderungen einer digitalisierten Wirtschaft vorbereiten und weiterbilden können. Gleichzeitig sollte dringend länderübergreifend eine gezielte digitale Weiterbildungsoffensive für Lehrer umgesetzt werden, damit die kommenden Generationen zukunftsorientiert im Schulsystem auch eine relevante und global wettbewerbsfähige digitale Bildung erhalten, um schon mit der Schulbildung wichtiger werdende digitale Kompetenzen zu entwickeln. Wenn Deutschland seinen Wohlstand und Lebensstandard in den kommenden Dekaden halten will, muss dringend an einem Studium Digitale (Studium Generale zu digitaler Bildung) gearbeitet werden. Je mehr Arbeitnehmer und Führungskräfte die neuen digitalen Kompetenzen zur gezielten Nutzung der Chancen und zur gezielten Vermeidung der Risiken der Digitalisierung einsetzen, desto mehr wird das Land an internationaler digitaler Wettbewerbsfähigkeit wieder aufholen und den gewohnten Wohlstand auch für weitere Generationen sichern. Auf dieser Grundlage können digital gebildete Politiker und digital mündige Bürger erfolgreicher ohne soziale Revolution(en) auch in Zukunft eine friedvolle Gesellschaftsordnung gestalten.

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Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst  ist Geschäftsführer, Kanzler und Professor der AKAD University, dem Spezialist für digitales Fernstudium neben dem Beruf. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt auf der Digitalen Transformation, Digital Leadership und digitaler Bildung. Als Vizepräsident für digitale Bildung des Fachverbands für Fernlernen und Lernmedien und im Verband der privaten Hochschulen vertritt er die deutschen Fernhochschulen. Er ist Autor und Herausgeber von Büchern mit theoretischer Substanz und praktischer Managementrelevanz, Beiträgen in Fachzeitschriften/ -konferenzen und forschte u.a. an der Anderson School of Management (UCLA) in Los Angeles. Seiner Einladung als Initiator und Herausgeber des Handelsblatt Management-Forums folgten Professorenkollegen führender Business Schools (2/3 zählen zu den Global Top 30) in Amerika (Harvard, Yale etc.), Asien (CEIBS, ISB etc.) und Europa (INSEAD, St. Gallen etc.). Seine Bücher werden von internationalen und nationalen Kapazitäten und Medien wie bspw. dem Dean der MIT Sloan School of Management, dem Harvard Business Manager oder einem Hugo Boss Vorstand rezensiert.