Schätze, an den Himmel verschleudert: Religion und Religionskritik bei Max Stirner 9783787344529, 9783787342877

Max Stirner ist kein Klassiker der Philosophie, und er wird in dieser Arbeit zudem unter einer ungewöhnlichen Fragestell

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Schätze, an den Himmel verschleudert: Religion und Religionskritik bei Max Stirner
 9783787344529, 9783787342877

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HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 74

David Borgardts

Schätze, an den Himmel verschleudert Religion und Religionskritik bei Max Stirner

HEGEL-STUDIEN BEIHEFTE

HEGEL-STUDIEN



Beiheft 74

In Verbindung mit Walter Jaeschke (†) und Ludwig Siep herausgegeben von Michael Quante und Birgit Sandkaulen

FELIX MEINER VERL AG HAMBURG

David Borgardts

Schätze, an den Himmel verschleudert Religion und Religionskritik bei Max Stirner

FELIX MEINER VERL AG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4287-7 ISBN eBook 978-3-7873-4452-9

Umschlagabbildung: © Ruth Tesmar / VG Bild-Kunst 2020 © Felix Meiner Verlag Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, ­soweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­d ruck­­papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Zwei Anarchisten: Meinen Eltern.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Worum es geht . . . . . . . . . . . . . . 2. Religion – Kritik – Religionskritik 3. Gang der Untersuchung . . . . . . .

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I.

Fromme Atheisten. Max Stirner und die Junghegelianer 1. Religionskritik nach Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Johann Caspar Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Max Stirner in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Der Verlust der Heimat. Die Junghegelianer bei Karl Löwith 1. Die Genealogie des Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Heimatlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Karl Löwith und Max Stirner . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Ein Drang, sich zu entzweien. Religion und Entfremdung 1. Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das unglückliche Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das unglückliche Bewusstsein bei Bruno Bauer . . . . 4. »Kunst und Religion« (1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

Das Jenseits in uns. Max Stirner und Ludwig Feuerbach 1. »Das Wesen des Christentums« (1841) . . . . . . . . . . 2. Entfremdung im »Wesen des Christentums« . . . . . . 3. Das Gattungsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Der Einzige und sein Eigentum« (1845) . . . . . . . . . 5. Feuerbachs Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 89 . 91 . 98 . 102 . 108 . 113

V.

Menschenopfer, unerhört. Religion und Egoismus 1. Glaube und Liebe bei Feuerbach . . . . . . . . . . 2. Egoismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Liebe und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Egoistische Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

VI. Namen nennen mich nicht ! Stirners Theorie der Person 1. Der Einzige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein Menschenleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entfremdung und Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Verdaue die Hostie und Du bist sie los! Das Heilige und das Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freiheit und Eigenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Pathologie des »Einzigen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Heilige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Kindliche Phantasien. Religionskritik als Ideologie . . . . . . . 1. Was ist Religionskritik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Manuskripte zur »Deutschen Ideologie« (1845/47) 3. Religion und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Von der Kritik zum Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IX.

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Schätze, an den Himmel verschleudert. Christentum und Alterität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theologischer Atheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Alterität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Alterität und Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stirners Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Hegel-Studien

Einleitung Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen, wenigstens in der Theorie zu vindizieren, aber welches Zeitalter wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen, und sich in den Besitz zu setzen? Georg W. F. Hegel, [Jedes Volk . . . ] 1

I

n diesen Worten des jungen Hegel vollzieht sich eine Revolution gegen den »Himmel«, die nicht oder zumindest nicht vordergründig von einer metaphysischen bzw. anti-metaphysischen Skepsis getragen ist. Ob der Himmel leer oder bewohnt ist, ob dort ein guter Vater wohnt, ein schlafender Gott oder ein böser Dämon, diese Frage stellt Hegel höchstens indirekt. Seine Frage ist eine andere. Seine Frage ist, ob es dem Menschen dient, wenn er seine »Schätze« – den Ertrag seiner Felder, den Schweiß seiner Arbeit, die schöpferische Kraft seines Geistes, die besten Stunden seines Lebens – diesem Himmel weiht. Hegels Antwort scheint eindeutig: All dies dient dem Menschen nicht, seine dem Himmel geweihten Schätze sind »verschleudert«, sie sind ohne Gegenleistung fortgegeben und verloren. Und so gilt es für den Menschen, die von ihm verschleuderten Schätze vom Himmel zurückzufordern – aber sie nicht nur zu fordern, sondern auch wirklich an sich zu nehmen. Diesem berühmten Zitat, das einem Fragment gebliebenen Text des jungen Hegel entstammt, ist der Titel für die vorliegende Untersuchung entlehnt. Zwar dürfte Max Stirner, dem Autor, dem diese Untersuchung gewidmet ist, Hegels Text und damit auch die zitierte Passage nicht bekannt gewesen sein. 2 Dennoch weist der beiläufige Ausspruch des jungen Hegel eine überraschende Nähe zur Tendenz der Religionsphilosophie seines späteren Schülers auf. Stirners gesamte philosophische Arbeit kann gelesen werden als ein ausdauernder Kampf darum, die an den Himmel der christlichen Religion verschleuderten Schätze wieder auf die Erde zurückzubringen und sie an sich zu neh-

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Hegel 1796, 209. Zur Editions- sowie zur Rezeptionsgeschichte vgl. Jaeschke 2016, 53.

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Einleitung

men. 3 Durch diese überraschende Nähe kann Hegel uns die Stichworte geben, um drei zentrale Anliegen der Religionsphilosophie Stirners einleitend zu benennen. Zum Ersten legt Hegel in der zitierten Passage den Fokus nicht auf eine metaphysische, sondern auf eine praktisch-philosophische Frage. Die Religion, repräsentiert im Verhältnis des Menschen zum »Himmel« über ihm, wird daran gemessen, ob sie zu einer den Bedingungen des menschlichen Lebens angemessenen Praxis anleitet. Diese Vorordnung der Ethik vor die Metaphysik spiegelt sich im religionskritischen Werk Stirners wider, insofern dort die Frage nach der Existenz Gottes oder nach der faktischen Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit anderer propositionaler Glaubenssätze nicht ein einziges Mal gestellt wird. Stirners Religionskritik ist durch und durch praktische Religionskritik. 4 Zum Zweiten scheint der Maßstab, an welchem eine Praxis gemessen wird, von Hegel hier nicht normativ, sondern eudämonistisch bestimmt zu werden. Das Problem der Religion scheint also nicht zu sein, dass sie zu einem wie auch immer bestimmten »unmoralischen« Verhalten anleitet, sondern dass sie dem Ziel eines vom einzelnen Menschen als gelingend empfundenen Lebens entgegensteht. Was ein gelingendes Leben ausmacht, fasst Hegel hier über eine Semantik von Eigentum und Besitz. Ein gelingendes Leben scheint durch eine religiöse Existenzweise gefährdet, weil in ihr die »Schätze« des Lebens »verschleudert« werden, weil ich mich in ihr also der Güter entledige, die ich andernfalls zu meinen Zwecken gebrauchen oder zu meinem Wohl genießen könnte. Dieser ökonomisch gefärbte Eudämonismus weist gerade in Verbindung mit seiner religionskritischen Wendung wiederum stark auf Stirners Position voraus. Stirner entwirft in seinem Hauptwerk eine scharf eudämonistische Ethik, die den »Egoismus« des Menschen affirmiert bzw. entproblematisiert und die zugleich auf dem tragenden Leitbegriff des »Eigentums« errichtet ist. Das »Eigentum« bzw. Vollzüge der Aneignung werden bei Stirner zum Inbegriff eines gelingenden Lebens – die Religion bzw. das »Heilige« umgekehrt zum Inbegriff einer selbstzerstörerischen Enteignung des Menschen. 5 Ein dritter, subtilerer Aspekt betrifft schließlich die Forderung Hegels, das Eigentumsrecht des Menschen über die einem gelingenden Leben dienenden Güter nicht nur in der »Theorie« zu fordern, sondern die »Theorie« auch in 3

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5

Auf die Konvergenz zwischen den sog. »Theologischen Jugendschriften« Hegels und der Religionsphilosophie der Junghegelianer wird häufig hingewiesen, vgl. schon Löwith 1950, 93; in jüngerer Zeit vgl. Jaeschke 2016, 65; speziell für Feuerbach vgl. auch Reitemeyer 1988, 104 ff. Zur Loslösung der Religionskritik von der Gottesfrage s. u. Kapitel III, Abschnitt 4; Kapitel IV, Abschnitt 4. S.u. Kapitel VII.

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Worum es geht

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die Wirklichkeit zu übersetzen. Die Dichotomie von Theorie und Wirklichkeit bzw. von Theorie und Praxis ist sicher eine, welche mehr oder weniger die gesamte Philosophiegeschichte durchzieht. Sie gelangte allerdings in der junghegelianischen Bewegung noch einmal besonders in den Brennpunkt des Interesses, wobei die Frage hier auch und gerade als die Frage nach einer Überwindbarkeit der Religion durch intellektuelle Praktiken der Religionskritik reformuliert wurde. So kam es, dass zu dieser Zeit Stirner auf der einen Seite und Marx und Engels auf der anderen Seite zwei unterschiedliche Antworten auf eben das Problem entwickelt haben, das der junge Hegel aufgeworfen hat. 6 1. Worum es geht Diese Untersuchung nimmt einen ungewöhnlichen Autor in den Blick, und diesen Autor wiederum unter einer ungewöhnlichen Fragestellung. Max Stirner ist kein Klassiker der Philosophie, und gerade innerhalb der theologischen bzw. der religionsphilosophischen Debatte kann er wohl im Wesentlichen als unbeachtet gelten. Ich möchte in dieser Untersuchung zu zeigen versuchen, dass dies ein gewisses Versäumnis darstellt. Was kann Stirners Philosophie für einen heutigen Leser interessant erscheinen lassen? Eine erste Antwort, die sich bereits bei einem flüchtigen Lesen aufdrängt, lautet sicher: seine Radikalität. »Radikal« erscheint dabei zunächst die Proklamation des »Egoismus« als Leitbegriff seiner Ethik 7 – womit das wohl bekannteste Motiv in Stirners Philosophie benannt ist. Aber auch Stirners Feindschaft gegen den »Staat« 8 oder seine Absage an eine Orientierung des Denkens an der »Wahrheit« 9 sind Ausdruck seiner Neigung zum Extrem und zur Provokation. Angesichts dieser Neigung überrascht es kaum, dass Stirner auch in seiner Religionskritik eine Position bezieht, die innerhalb der Philosophiegeschichte wohl in mancher Hinsicht als Maximalposition gelten kann. Die »Religion« erscheint bei Stirner nicht nur als kontingenterweise falsche Überzeugung, sondern als zerstörerische Kraft, als tödlichste Krankheit der Seele, die alle Bereiche dessen, was ein gutes und gelingendes Leben ausmacht, infiziert und vernichtet. 10 Der erste Eindruck von der »Radikalität« Stirners ist sicher nicht falsch, er ist aber auch ein trügerischer. Zwar gehört das performative Moment der Provokation in gewisser Hinsicht konstitutiv zu seiner Philosophie. Zugleich 6 7 8 9 10

S.u. Kapitel VIII. S.u. Kapitel V, Abschnitt 2. »Darum sind Wir beide, der Staat und Ich, Feinde.«, EE 185. S.u. Kapitel VIII, Abschnitt 3. S.u. Kapitel V bis VII.

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Einleitung

aber ist bei genauerem Hinsehen eine überraschende Zielgleichheit zwischen Stirner und »konservativeren« Positionen zu beobachten. So sehen wir in der Ethik, dass Stirner zwar den Liebesaltruismus Feuerbachs ablehnt, dessen Interesse an einer Fundierung gelingender Nahbeziehungen aber sehr wohl teilt. 11 Weniger ambivalent erscheint Stirners Position freilich auf dem Feld der Religionsphilosophie, insofern ihm die Absicht einer »rettenden« Neuinterpretation des Christentums kaum unterstellt werden kann. Aber auch hier lohnt sich ein genauer Blick, denn es wird sich zeigen, dass Stirners Urteile einer christlichen Theologie nicht so fern liegen, wie er selbst meint. 12 Damit sind wir bei dem systematischen Thema dieser Untersuchung, bei der Religionskritik. Wenn wir im Folgenden das Werk Stirners in den Blick nehmen, dann tun wir das mit einer religionsphilosophischen Fragstellung – und dies ist im Zusammenhang der Stirnerrezeption eine ungewöhnliche Perspektive. Denn wenn auch wohl kein Interpret seines Werkes bestreiten würde, dass die Religionskritik ein zentrales Anliegen Stirners gewesen ist, so liegt eine monographische Interpretation seiner Religionskritik bis heute nicht vor. 13 Dass dies so ist, mag auch daran liegen, dass die Religionskritik selbst kein allzu »heißes« Thema mehr zu sein scheint. In gewisser Hinsicht steht dieses Thema heute »zwischen den Stühlen«. Für den Theologen oder christlichen Religionsphilosophen auf der einen Seite stellt das Thema naturgemäß einen gewissen Störfaktor dar. Hinzu kommt, dass die Auseinandersetzung mit der Religionskritik, wenn er sie aufnimmt, sich für ihn selten als lohnend erweist. Allzu oft drängt sich der Eindruck auf, dass hier fundamentale Lebensorientierungen zur Disposition stehen, deren Genese (oder auch deren Zerfall) außerhalb von diskursiven Kontexten geschieht und über die darum auch nur eingeschränkt argumentativ entschieden werden kann. Eine ähnliche Ermüdung scheint auf der anderen Seite auch in der skeptisch eingestellten Philosophie eingetreten zu sein, die das Thema der Religion nach vielen Versuchen der argumentativen Überwindung heute mehrheitlich lieber auf sich beruhen zu lassen scheint und darauf setzt, dass sich die Sache schon von selbst erledigen wird. Die »klassischen« Positionen der Religionskritik scheinen damit für keine der beiden Seiten noch von allzu großem Interesse zu sein. Und doch scheint es mir falsch, die Religionskritik und ihre klassischen Vertreter vorschnell zur Seite zu legen. Mag auch der Wunsch nach einer diskursiv erreichten Entscheidung für oder wider die Religion illusionär erscheinen, so dient der Theologie die Auseinandersetzung mit der Religionskritik doch zur Selbstverständigung über ihre eigene Position. Gerade auch die Religionskritik 11 12 13

S.u. Kapitel V, Abschnitt 3. S.u. Kapitel IX. Zum Stand der Forschung s. u. Kapitel I, Abschnitt 3.

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Worum es geht

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Stirners, die in vielem weit über die Reichweite anderer Positionen hinausgeht, wird einer Theologie und auch einer theologischen Philosophie zu denken geben. Wie schon benannt worden ist, besteht eine Pointe der Kritik Stirners darin, dass er die Theologie nicht auf dem Feld der Metaphysik herausfordert, sondern vielmehr die »Religion« in Vollzügen der »Heiligsprechung« formal bzw. praxistheoretisch zu fassen versucht. Damit aber unterläuft Stirner eine apologetische Strategie, die sich als Antwort auf andere, »atheistische« Positionen bewährt hat, nämlich die Strategie, einen metaphysischen Atheismus zu konzedieren und das Christentum postmetaphysisch zu reinterpretieren. Will man Stirners Einsprüchen begegnen, so ist eine Frage zu stellen, die weit darüber hinausgeht, und diese kann über den Begriff der »Alterität« gefasst werden. Für die christliche Theologie stellt sich in der Auseinandersetzung mit Stirner nicht nur die Frage, ob sie eine metaphysische, außerweltliche Alterität preisgeben kann. Für die christliche Theologie stellt sich hier vielmehr die Frage, ob eine Affirmation von Alteritäten, seien sie außerweltlich oder innerweltlich, in das Wesen eines christlichen Ethos gehört – wie Stirner es annimmt – oder ob nicht durch Stirners Forderung nach einer Negation und Überwindung von Alteritäten, die er gegen das christliche Ethos erhebt, dasselbe erst zu sich selbst finden kann. 14 Wird eine christliche Theologie in der Auseinandersetzung mit den Positionen der klassischen Religionskritiker zu einer Reflexion auf ihre eigene Identität gedrängt, so wird für eine säkulare Philosophie eine Relecture dieser Positionen paradoxerweise ein erneutes Sich-Einlassen auf die christliche Religion bedeuten, welche sie auch unbesehen zur Seite legen könnte. Ob ein solches Sich-Einlassen für die Philosophie als lohnend erscheint, müsste sie daran entscheiden, ob es sie in ihren eigenen Fragen anregt und weiterführt. Dies führt uns zu einem Problemkomplex, der neben dem Autor Stirner und der Religionskritik als inhaltlichem Schwerpunkt der Interpretation gleichsam das dritte Thema dieser Untersuchung darstellt, und dieses Thema ist die Figur der Entfremdung. Sollte man in wenigen Worten benennen, worin sich die Religionskritik der Junghegelianer – und mit ihr die Religionskritik Stirners – von früheren Positionen wie diejenige Voltaires oder Kants und auch von späteren Positionen wie derjenigen Nietzsches oder Freuds unterscheidet, dann ist es die durchgehend starke Orientierung an der hegelianisch inspirierten Figur der Entfremdung. 15 Wenn wir heute von »Entfremdung« sprechen, dann ist damit ein Phänomen von defizitären Beziehungsformen im Blick, das von den

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S.u. Kapitel IX, Abschnitt 4. S.u. Kapitel III, Abschnitt 1.

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Einleitung

Teilnehmern dieser Beziehungen selbst als leidvoll empfunden wird. 16 Stirners Kritik der »Heiligkeit« nimmt in diesem Zusammenhang eine radikale Position ein, indem er aus seiner Religionskritik heraus eine Bestimmung von Nahbeziehungen entwirft, die diese einseitig, wenn auch wechselseitig, in Vollzügen des Aneignens und des Nehmens konstituiert. Ich eigne mir dich an und du dir mich, aber keiner von uns erkennt die Alterität des Anderen an, respektiert, affirmiert oder wahrt sie. Nur durch diese radikale Emanzipation des nehmenden Ichs kann nach Stirner ein Erleben von Entfremdung vermieden werden. 17 Dass diese Position zwar auf das erste Ansehen als sehr weitgehend erscheint, dabei aber durchaus Richtiges in den Blick nimmt und dass sie zudem an eine Freigabe des Nehmens anschließen kann, wie sie dem christlichen Ethos eigen ist – dieses Urteil als gangbar erscheinen zu lassen, soll eines der Anliegen dieser Untersuchung sein. 18 2. Religion – Kritik – Religionskritik Diese Untersuchung nennt in ihrem Untertitel zwei Begriffe, den Begriff der »Religion« und den Begriff der »Religionskritik«. Es könnte erwartet werden, dass diese Begriffe eingehend definiert würden oder dass zumindest eine Richtung angezeigt würde, in welche zeitgenössische Definitionsversuche weisen. Dies tue ich aber bewusst nicht. Der Grund dafür ist, dass ich die benannten Begriffe nicht als interpretationssprachliche Begriffe aus einer religionswissenschaftlichen oder religionsphilosophischen Forschungsdiskussion übernehme. Vielmehr handelt es sich bei der »Religion« wie auch bei der »Kritik« zunächst um quellensprachliche Begriffe, die von den in dieser Untersuchung behandelten Autoren selbst gebraucht werden. Darum wird die Frage nach der Definition dieser Begriff eine Frage sein, welche die Arbeit an den Quellen bestimmen wird. Bei den genannten Begriffen handelt es sich um Leitbegriffe im junghegelianischen Diskurs, um deren Bedeutung intensiv gerungen wurde. Dabei kommt es mitunter zu schwierigen Konstellationen. So ist schon die Frage, ob ein Denker mit Recht als »Religionskritiker« bezeichnet werden kann, nicht immer eindeutig zu beantworten. Am ehesten gerecht wird dieser Titel wohl Bruno Bauer, der gegen die »Religion« polemisiert und der sich zugleich den Begriff der »Kritik« programmatisch zu eigen macht. 19 Für Feuerbach dagegen 16 17 18 19

Vgl. Jaeggi 2016, 20 ff; Rosa 2019, 299 ff. S.u. Kapitel VI–VII. S.u. Kapitel IX, Abschnitt 3. S.u. Kapitel III, Abschnitt 3; Kapitel VIII, Abschnitt 1.

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Religion – Kritik – Religionskritik

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ist zumindest diskutabel, ob er sich nicht mehr um eine konstruktive Neuinterpretation als um eine »Kritik« der »Religion« bemüht, 20 während Stirner und Marx dann zwar mehr oder weniger offensichtlich einen solchen Versuch aufgeben, allerdings ihrerseits deutlich mit dem Begriff der »Kritik« zu fremdeln beginnen – gerade auch in Abgrenzung zu dessen programmatischer Aufnahme durch Bauer. 21 Die genaue und je nach Autor unterschiedliche Bedeutung der Begriffe wird darum Gegenstand der Untersuchung sein. Auf die für sie aus heutiger Perspektive grundlegenden Problemkonstellationen sei aber dennoch hingewiesen. Für den Begriff der Religion betrifft dies vor allem das Verhältnis der »Religion« zum »Christentum«. Schaut man auf einen heute gebräuchlichen Begriff der Religion, so wird dieser, schon in seiner alltagssprachlichen Gestalt, eine Distanz von einzelnen, konfessionell gefassten Religionen voraussetzen. Diese ist bei den Autoren, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, in dieser Form nicht gegeben. Vielmehr ist in den behandelten Texten eine fast durchgehende Orientierung des Religionsbegriffs an der christlichen Religion zu beobachten. Strukturen, die aus christlicher Dogmatik abgeleitet werden, können dabei bruchlos auf den Religionsbegriff übertragen werden. Wenn vereinzelt das Judentum gegenüber diesem, aus dem Christentum abgeleiteten Religionsbegriff abgehoben wird, so ist dies eine Ausnahme, die durch ihre Kennzeichnung als Ausnahme die Regel bestätigt. Paradigmatisch für diesen am Christentum durch Abstraktion gewonnenen Religionsbegriff steht Feuerbachs berühmte Formulierung, »die Religion, wenigstens die christliche«, sei »das Verhalten des Menschen zu sich selbst«. 22 Wenn ich im Folgenden zunächst den bei den untersuchten Autoren dominierenden Sprachgebrauch aufnehme und von »Religion«, von »Religionsphilosophie« und »Religionskritik« spreche, so ist zu bedenken, dass die junghegelianischen Positionen strenggenommen weniger als religionskritische, sondern mehr als christentumskritische Positionen, ihrem hermeneutischen Gehalt nach weniger als religionsphilosophische, sondern mehr als christentumstheoretische Positionen zu bezeichnen sind. Die vorläufige, an den Quellentexten orientierte Begriffsverwendung wird folgerichtig dann aufgehoben bzw. neu bewertet werden müssen, wenn im neunten Kapitel dieser Untersuchung die Interpretation der Quellen beendet und der Einstieg in die gegenwärtige Debatte gesucht wird. Ist ein alltagsprachlicher Begriff der Religion somit in gewisser Hinsicht weiter als die im Junghegelianismus populären Religionsbegriffe, so scheint es bei 20 21 22

S.u. Kapitel IV, Abschnitt 1. S.u. Kapitel VIII. WCh 48.

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Einleitung

der »Kritik« ebenso zu sein. In der Alltagssprache gebrauchen wir den Begriff der Kritik einigermaßen unspezifisch im Sinne eines Widerspruchs oder auch nur einer urteilenden Prüfung. Im Kontext des Junghegelianismus begegnet dieser unspezifische Gebrauch ebenfalls, in den 1840er Jahren beansprucht aber Bruno Bauer den Begriff der Kritik mehr und mehr zur Selbstbezeichnung seiner Philosophie und gibt ihm dabei ansatzweise terminologische Bedeutung. Dies führt im Gegenzug dazu, dass Max Stirner auf der einen Seite und Karl Marx und Friedrich Engels auf der anderen Seite sich von diesem Begriff der Kritik distanzieren. Ihre Abkehr von der »Kritik« wäre aber unterbestimmt, wenn man sie nur als Emanzipation von Bauers Philosophie verstehen würde. Vielmehr ist es ein von Bauer vertretenes, aber keinesfalls auf Bauer beschränktes kognitivistisch-rationalistisches Modell der religionskritischen Praxis, das bei Stirner, Marx und Engels in Frage gestellt wird. 23 Wenn auch der Begriff der »Kritik« – ebenso wie der Begriff der »Religion« – der zeitgenössischen Debatte entnommen ist, so versteht Max Stirner sein Denken, wie wir sehen werden, nur mit Einschränkungen als eine »Kritik« der Religion bzw. als »Religionskritik«. Wenn ich im Folgenden dennoch von der »Religionskritik« Stirners spreche, dann beruht diese Entscheidung auf der Annahme, das Stirner in seiner Auseinandersetzung mit Bauer zwar dem Begriff der »Kritik« zunächst sehr skeptisch gegenübersteht, dann aber punktuell durchaus zu einer Aneignung und Neufassung des Begriffes durchdringt. Im achten Kapitel dieser Untersuchung soll dieser Frage ein konzentrierter Blick gewidmet sein, so dass dann über die Angemessenheit einer Rede von Stirners »Religionskritik« entschieden werden kann. 3. Gang der Untersuchung Ich möchte im Folgenden den Gang meiner Untersuchung skizzieren. Bevor ich das tue, möchte ich aber noch einige der Grenzen benennen, die sie sich gesetzt hat. Zunächst bietet diese Untersuchung ausdrücklich keine Gesamtinterpretation zu Stirners Werk. Und auch seine Religionsphilosophie werde ich nicht gleichsam enzyklopädisch untersuchen. Einen Kommentar aller Äußerungen Stirners über den Begriff bzw. das Phänomen der Religion bietet diese Untersuchung darum nicht. Vielmehr hat diese Untersuchung ein systematisches Interesse und versucht daher, eine in Stirners religionsphilosophischem Denken sich als dominant darstellende Linie herauszuarbeiten, die dann im Lichte einer zeitgenössischen Debatte auf ihre Plausibilität befragt werden kann. 23

S.u. Kapitel VIII.

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Gang der Untersuchung

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Eine zweite Grenze betrifft die Einbeziehung des philosophiegeschichtlichen Kontextes. Zum Verständnis von Stirners Werk scheint es unverzichtbar, es im Zusammenhang mit den Positionen Bruno Bauers, Ludwig Feuerbachs und – mit gewissen Einschränkungen – denjenigen des frühen Marx wahrzunehmen. In dieser Anforderung liegt aber zugleich eine Grenze. Denn es wird selbstverständlich kaum möglich sein, die religionsphilosophischen Positionen Feuerbachs, Bauers und Marxens auch nur ansatzweise in ihrer Komplexität zu würdigen. In noch stärkerem Maße gilt das für die Position Hegels, dessen Religionsphilosophie als wichtigster Bezugspunkt der im Junghegelianismus geführten Debatten zwangsläufig in den Blick kommen wird, der aber in seinem Ansatz ebenso zwangsläufig unterbestimmt bleiben wird. Ein Ausweg aus diesem Dilemma soll die vorsichtige, tastende und hoffentlich dennoch fruchtbare Auseinandersetzung mit exemplarischen Texten sein, die in einem möglichst direkten Diskurszusammenhang zu Stirners Beiträgen stehen. Beginnen soll die Untersuchung im ersten Kapitel mit einer Hinführung zu dem Autor, der im Mittelpunkt unserer interpretatorischen Bemühungen stehen wird. Dabei wird sowohl über sein religionsphilosophisches Werk als auch dessen Rezeption in der zeitgenössischen Forschung ein kurzer Überblick gegeben werden. Zugleich soll die Frage nach dem philosophiegeschichtlichen Kontext, in dem Stirner seine religionskritische Position entwickelt hat, mit einigen Aspekten zu Wort kommen. Es herrscht eine gewisse Einigkeit, dass das frühe 19. Jahrhundert für die moderne Religionskritik eine formative Periode gewesen ist. In der Frage, welche Rolle die »Linkshegelianer« bzw. die »Junghegelianer« in dieser Periode gespielt haben, gibt es dagegen einige Unklarheiten und Vorurteile, die angesprochen zu werden verdienen. Diese Überlegungen vorauszuschicken soll uns im weiteren Verlauf der Untersuchung davor bewahren, eingeschliffene Narrative unkritisch zu reproduzieren. Nachdem bereits das erste Kapitel die forschungsgeschichtliche Frage geöffnet hat, bietet das folgende, zweite Kapitel eine Fortsetzung und Vertiefung dieser Frage. Karl Löwiths Interpretation der Junghegelianer und der nachhegelianischen Religionskritik, die in diesem Kapitel eingehend untersucht werden soll, ist für die Forschung zum Junghegelianismus bis heute ein maßgeblicher Bezugspunkt. Eine Pointe der Interpretation Löwiths besteht dabei in der These vom Scheitern der junghegelianischen Religionskritik. Demnach bleiben die Junghegelianer trotz ihrer energischen Abkehr vom Christentum unwillentlich im Strom der christlichen Überlieferung gefangen und sie bleiben es aufgrund einer strukturellen Notwendigkeit, insofern jede »Kritik« der Religion immer auch ein Moment der »Rechtfertigung« in sich trägt. Von diesem Urteil nimmt Löwith gerade auch Stirner nicht aus. Durch die vorgeschaltete Rekonstruktion der starken These Löwiths soll die in den folgenden Kapiteln sich anschließende Arbeit an den Quellen in den Horizont einer leitenden

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Frage gestellt werden, nämlich die Frage nach dem verborgenen affirmativen Verhältnis der Religionskritik zu der von ihr kritisierten Religion. Tritt diese Frage dabei zunächst noch einmal in den Hintergrund, so wird sie im neunten Kapitel im Zusammenhang unserer Suche nach einem eigenen, abschließenden Urteil wieder aufgegriffen werden. Mit dem folgenden, dritten Kapitel beginne ich mit der eigentlichen Untersuchung und wende mich Max Stirner zu. Bevor ich mich aber dem Hauptwerk, dem Einzigen, widme, möchte ich dabei mit der Interpretation einer wichtigen Vorstufe beginnen, die uns in Stirners frühem Text über Religion und Kunst begegnet. An dieser Schrift glaube ich die Aufnahme der bauerschen Entfremdungskritik nachweisen zu können, die wiederum als eine selbstständige Weiterentwicklung von religionsphilosophischen Figuren verstanden werden kann, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes geprägt hat. In seiner impliziten Kritik an Bauer in Kunst und Religion zeigt sich eine für Stirner charakteristische Akzentverschiebung gegenüber der Entfremdungstheorie seines Vorgängers, die bereits deutlich auf die entfremdungstheoretische Religionskritik des Einzigen vorausweist und darum als Hinführung in die Grundentscheidung der späteren Schrift dienen kann. Während in dem frühen Text über Religion und Kunst der Bezug auf Bauer deutlich erkennbar ist, rückt im Einzigen Feuerbach als Gesprächspartner und Gegner in den Vordergrund. Wenn die folgenden zwei Kapitel mit der Interpretation des Hauptwerks, des Einzigen und sein Eigentum, einsetzen, so wird darum zunächst eine Analyse der Auseinandersetzung Stirners mit Feuerbachs Religionsphilosophie im Mittelpunkt stehen. Waren die frühen Schriften höchstens implizit auf Feuerbach bezogen, so ist der Einzige ganz wesentlich als Kritik an Feuerbachs anthropologischer Interpretation der Religion angelegt. Dabei grenzt sich Stirner gegen Feuerbach ab, indem er die entfremdungstheoretische Religionskritik, die er zunächst durch Bauer kennenlernt und die er – in anderer Form – auch bei Feuerbach vorfindet, gegen Letzteren wendet. Das vierte Kapitel wird in den Konflikt einführen, der sich zwischen Stirner und Feuerbach um die Anthropologie oder Subjekttheorie entfacht. Schon hier wird deutlich werden, dass Feuerbach die anthropologische Frage als wesentlich praktisches Problem adressiert. Das fünfte Kapitel wird nun zeigen, wie sich darum der Konflikt zwischen Feuerbach und Stirner notwendigerweise auf die praktische, ethische Ebene verschieben muss. Der Streit um die Anthropologie wird als Streit um den Liebesbegriff ausgetragen, in dem Feuerbachs Ethik kulminiert und dem Stirner seine Ethik des »Egoismus« entgegenstellt. Der Konflikt mit Feuerbach ist tief in Stirners Hauptwerk eingeschrieben und so bildet er eine wichtige Voraussetzung für ein Verständnis dieses Werkes. Mit dem sechsten Kapitel werden wir aber Stirners Auseinandersetzung mit Feuerbach hinter uns lassen und den eigenständigen Beitrag Stirners zur

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Gang der Untersuchung

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Debatte um die Religion vertiefen. Dabei muss zunächst die für Stirners charakteristische Fassung der Entfremdungstheorie grundlegende Idee des Selbst bzw. der personalen Existenz erschlossen werden. Ich werde mich dazu Stirners Konzeption des »Einzigen« zuwenden und zu zeigen versuchen, dass mit diesem Begriff eine nicht-perfektionistische, nicht-substantialistische Theorie der Person verbunden ist. Stirner insistiert auf eine Gegebenheit des Selbst, die nicht als substanzielle, sondern praktische Gegebenheit verstanden werden muss. Das Selbst ist sich selbst je zugänglich, insofern es sich in jedem Moment durch Vollzüge der Aneignung erschaffen kann. Diese Einsicht leitet über zum siebten Kapitel, in dem Stirners Begriff des »Eigentums« als zweiter, titelgebender Leitbegriff seines Hauptwerkes im Mittelpunkt steht. In diesem Kapitel werde ich argumentieren, dass mit dem Begriff des Eigentums die fundamentalste Ebene der Philosophie Stirners erreicht ist, auf der auch seine Religionskritik reformuliert werden muss. Verhältnissen des »Eigentums«, die für Stirner den Inbegriff einer personalen Existenz und zugleich einer als gelingend empfundenen Weltbeziehung ausmachen, stehen auf der anderen Seite Verhältnisse der »Heiligkeit« gegenüber, die eine genießende Aneignung der Welt unmöglich machen und so ein Erleben von Entfremdung konstituieren. Mit dem siebten Kapitel wird unsere Untersuchung einen gewissen Zielpunkt erreicht haben. Das folgende, achte Kapitel tritt dann aber noch einmal einen Schritt hinter das Erreichte zurück und nimmt es unter einer neuen Perspektive in den Blick. Bis hierhin stand die »materiale« Frage nach dem Gegenstand der Religionskritik im Mittelpunkt, also die Frage, was die Junghegelianer kritisieren, wenn sie »Religion« kritisieren. Dabei wurde ein Aspekt aufgeschoben, der für das Verständnis der junghegelianischen Debatte unschätzbare Bedeutung hat, und zwar die »formale« Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von Vollzügen einer »Kritik« der Religion. Diese Frage wird das achte Kapitel entfalten und dabei die Theorie diskursiver Praxis untersuchen, die Stirner im Einzigen anbietet. Dabei werde ich zu zeigen versuchen, dass Stirner »Kritik« nur mit weitreichenden Einschränkungen als Titel für sein philosophisches Schreiben akzeptiert hat. Dies werde ich zeigen in vergleichender Lektüre des Einzigen mit den wenig später in Auseinandersetzung mit Stirner entstandenen Manuskripten zur Deutschen Ideologie von Marx und Engels. Wie ich argumentieren werde, grenzen sich beide Entwürfe in je charakteristischer Weise vom Projekt einer kognitivistisch-rationalistischen Religionskritik ab, wie sie noch bei Bauer und Feuerbach vorgefunden werden kann, und entwickeln ein Modell der diskursiven Praxis, das von der Einsicht in die untrennbare Verbindung von diskursivem Handeln und sozialer Interaktion ausgeht. Im letzten, neunten Kapitel soll schließlich die in den zentralen, exegetischen Kapiteln dieser Untersuchung erschlossene Gestalt der Religionskritik

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Einleitung

bei Stirner mit einer aktuellen religionsphilosophischen Debatte in Beziehung gebracht werden. Die Pointe dieses Kapitels wird es sein, zu zeigen, dass Stirner gerade für eine sich als nachmetaphysisch und »atheistisch« verstehende Christentumstheorie, wie in neuerer Zeit Jean-Luc Nancy und Slavoj i ek sie angeboten haben, eine Herausforderung bereithalten kann. Diese Herausforderung besteht darin, dass Stirner gerade nicht den metaphysischen Theismus zum Zielpunkt seines Angriffes macht, sondern eben diejenige Figur zum Gegenstand seiner Kritik macht, die in den benannten Theorien als bleibendes Erbe des Christentums »gerettet« werden soll, nämlich die Figur einer (innerweltlichen) Alterität. Schließlich wird die Untersuchung mit dem Versuch enden, einige Schritte in Richtung auf eine christliche Ethik zu gehen, welcher es gelingt, die berechtigten Anliegen und Anfragen Stirners aufzunehmen.

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I. Fromme Atheisten Max Stirner und die Junghegelianer

S

»

ie wissen, ich gehöre nicht zu denen, die in dem Bekenntnis zum Atheismus eine Befreiung erblicken. Der Atheismus ist so religiös wie Jakob, der mit Gott ringt [. . . ].« 1 Dies schreibt Arnold Ruge 1846 im zweiten Band seiner Schrift Zwei Jahre in Paris unter der Kapitelüberschrift Unsere letzten zehn Jahre. Ruge schaut hier auf die politisch-denkerische Bewegung des Junghegelianismus zurück, deren vitale Zeit eng mit der Gründung seiner Hallischen Jahrbücher im Jahr 1837 verbunden ist. 2 Nun, 1846, nach dem endgültigen Verbot der junghegelianischen Publikationsorgane in Deutschland und nach dem Scheitern des Versuchs, die Bewegung mit den Deutsch-FranzösischenJahrbüchern ins Exil zu retten, zieht Ruge Resümee. Für die religionskritischen Bemühungen, die manche seiner Streitgenossen anhaltend beschäftigt haben, findet er dabei keine wohlwollenden Worte. Gerade in ihrem kämpferischen Atheismus seien sie doch »religiös« geblieben. Ruges Bemerkung ist, wie vieles, was in dieser Zeit geschrieben wurde, stark polemisch eingefärbt. Dennoch trifft sein Bild vom Kampf am Jabbok einen wesentlichen Punkt, indem er auf die paradoxale Struktur der religionskritischen Bemühungen hinweist. Selten in der Geschichte der Philosophie wurde so heftig gegen die »Religion« gekämpft, wie die junghegelianischen Religionskritiker es getan haben, aber selten davor oder danach sind philosophische Autoren aufgetreten, deren Werk so religionsphilosophisch bestimmt war – in dem Sinne, dass die Frage nach der Deutung der Religion im Mittelpunkt ihres Interesses stand. In Anlehnung an Jacques Derridas berühmte Auslegung der Deutschen Ideologie 3 könnte man diese Paradoxie mit der Metapher der »Besessenheit« beschreiben: Die junghegelianischen Religionskritiker scheinen von der Religion besessen, scheinen von den Geistern einer Religion verfolgt, deren Tod sie zwar immer wieder proklamieren, die sie aber nicht ruhen lassen können. Die Frage nach dem Verhältnis der Religionskritik zu der Religion, die sie kritisiert, – die Frage die Ruge aufwirft – wird eine der Leitfragen der vorlie-

1 2 3

Ruge 1846, 8. S.u. Abschnitt 1. Vgl. Derrida 2004.

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Fromme Atheisten. Max Stirner und die Junghegelianer

genden Untersuchung sein. Dabei wird sie aber zunächst nicht systematisch mit der Figur der Religionskritik befasst sein, auch nicht umfassend mit der Religionskritik der Junghegelianer, sondern mit einem bestimmen, junghegelianischen Autor, und zwar mit Johann Casper Schmidt, der sich im Rahmen seiner publizistischen Tätigkeit durchgehend »Max Stirner« genannt hat. Max Stirner wird in der populären und auch in der wissenschaftlichen Literatur häufig als philosophischer Außenseiter portraitiert. 4 Dieser Zugang benennt Richtiges, darf aber nicht den Blick auf den Kontext verstellen, in dem Stirner gedacht und geschrieben hat. Darum möchte ich im Folgenden zunächst eine kurze Einführung in das Phänomen des sog. »Junghegelianismus« geben und nach seinem Verhältnis zur Religionskritik fragen. Dabei wird es vor allem darum gehen, geprägte Narrative aufzusuchen und kritisch zu befragen (1). Im Anschluss daran möchte ich zu Max Stirner selbst überleiten. Dabei möchte ich mich zunächst seinem Werk und dessen Einbindung in den philosophiegeschichtlichen Kontext nähern (2). Anschließend soll ein kurzer Blick auf die neuere Forschung gerichtet sein (3). Bei diesem forschungsgeschichtlichen Überblick werden wir auch der Interpretation begegnen, die Karl Löwith den Junghegelianern im Allgemeinen und Max Stirner im Besonderen gewidmet hat. Dies wird überleiten zum folgenden, zweiten Kapitel, in dem die Interpretation Löwiths differenziert vorgestellt und ausgewertet werden soll. 1. Religionskritik nach Hegel Fragt man nach Geschichte und Bedeutung der Religionskritik in der Geschichte der europäischen Philosophie, dann gerät man schnell in schier unentwirrbare Schwierigkeiten. Ist Philosophie seit ihren Anfängen konstitutiv als Form der Religionskritik zu begreifen, insofern sie sich in Abgrenzung gegen einen archaischen »Mythos« konstituiert? Ist erst die Philosophie des »Mittelalters« in eine Art Gefangenschaft durch die Religion in Gestalt des Christentums geraten? Oder gibt es ein übergreifendes, »vormodernes« Verhältnis der Philosophie zur Religion, aus der sich erst die »Moderne« langsam herausarbeitet? Und wenn ja, wo beginnt diese »Moderne«? Gibt es eine Korrelation mit dem Aufstieg einer »naturwissenschaftlichen« Weltsicht? Wie ist außerdem der Zusammenhang der intellektuellen Religionskritik mit den religionssoziologischen Phänomenen der »Säkularisierung« zu denken? Geht das eine dem anderen voraus? Oder verbergen sich hinter den zuletzt genannten Begriffen überhaupt nur problematische, geschichtsphilosophische Konstruktionen? 4

S.u. Abschnitt 2.

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Religionskritik nach Hegel

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Bei all diesen Schwierigkeiten gibt es nur weniges, was als einigermaßen fest und gangbar erscheint. Zwei Einsichten lassen sich aber mit aller Vorsicht festhalten. Zum einen, dass in der Zeit ungefähr von 1750 bis 1850 die unter den Begriff der »Religion« subsumierten Lebensformen in der europäischen Philosophie zunehmend grundlegender in Frage gestellt wurden, als es bisher geschehen ist. 5 Und zum anderen, dass innerhalb dieses Prozesses die Jahre nach Hegels Tod eine mehr oder weniger stark herausgehobene Bedeutung hatten. In diesen Jahren wurden in Deutschland ideengeschichtliche Weichen gestellt, die für das künftige Verhältnis der Philosophie zur Religion von weitreichender Bedeutung sein sollten. 6 Was hier geschah, erscheint als die Geburt einer radikalen, religionskritischen Position aus dem Geist der hegelschen Philosophie. Dass ausgerechnet in Deutschland eine wirkmächtige, religionskritische Philosophie geboren werden würde, war nicht unbedingt abzusehen. So hat Georg Lukács zutreffend darauf hingewiesen, dass die deutsche Aufklärung sich, anders als ihre französischen und englischen Vorläufer, der christlichen Religion gegenüber ausgesprochen zahm verhalten hat. 7 Dies ändert sich erst in den Jahren nach Hegels Tod im Jahr 1830. In der Zeit von 1830 bis zur Mitte des Jahrhunderts wurden in Deutschland in schneller Folge eine Reihe religionskritischer Texte veröffentlicht, die das Christentum mehr oder weniger offen verwarfen. David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Max Stirner und schließlich Karl Marx und Friedrich Engels sind die klingenden Namen, die für die Aufbrüche dieser Zeit stehen. 8 Bis auf Marx und Engels haben die genannten Denker alle in Berlin bei Hegel selbst studiert und sind überdies tief von seiner Philosophie beeinflusst. Der Wechsel zu einer antichristlichen Position betrifft dabei keinesfalls die Gesamtheit der unmittelbar von Hegel beeinflussten Philosophie, sondern verweist uns vielmehr auf eine Strömung innerhalb der nachhegelianischen Philosophie, deren Vertreter in der Literatur herkömmlich als »Linkshegelianer« oder »Junghegelianer« bezeichnet werden. Allerdings sind diese Begriffe nicht unproblematisch. Meinen sie dasselbe oder Unterschiedliches? Handelt es sich tatsächlich um eine oder gar um zwei klar umgrenzte Gruppen? Gibt es ein gemeinsames Programm? Und welche Rolle spielt tatsächlich die Religionskritik? Zunächst eine wichtige Bemerkung vorweg: Die beiden genannten Gruppenbezeichnungen sind keine originär interpretationssprachlichen Kategorien, sondern entstammen selbst der zeitgenössischen Debatte der 1840er 5 6 7 8

Vgl. Weinrich 2012, 95 ff. Vgl. Habermas 2019, 591 ff. Vgl. Lukács 1973, 544. Vgl. den Überblick bei Eßbach 2014, 695 ff.

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Jahre. Damit verbunden ist auch, dass beide von Beginn an nicht streng deskriptiv verwendet wurden, sondern dass sich mit ihrem Gebrauch eine die Gruppenidentität von außen oder innen konstruierende Funktion verband. Eine wichtige und in gewisser Weise fatale Bedeutung für die Rezeption der Begriffe hatte dann ihre Aufnahme als Deutungskategorien im Rahmen der marxistischen Interpretation der philosophiegeschichtlichen Entwicklung nach Hegel. Für diese scheint Friedrich Engels späte Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der Deutschen Philosophie von 1886 paradigmatisch zu sein. 9 In diesem Artikel blickt Engels zurück auf die Theoriebildung in den Jahren vor der deutschen Revolution von 1848 und die Formulierung des eigenen Programms im Manifest der Kommunistischen Partei im selben Jahr. Engels beginnt seinen Rückblick mit einer Interpretation der Philosophie Hegels, wobei er deren revolutionäre Sprengkraft betont. Die Wendung zur politischen Kritik, so Engels über Hegel, sei »eine notwendige Konsequenz seiner Methode, die er selbst aber in dieser Ausdrücklichkeit nie gezogen hat« 10. Dass Hegel die benannte Konsequenz nicht gezogen hat, lässt seine Philosophie als grundlegend ambivalent erscheinen. Diese Ambivalenz erklärt Engels durch die Unterscheidung von »Methode« und »System« in der Philosophie Hegels. Die »dialektische Methode« sei das progressive Moment, das »System« dagegen das konservative. 11 Die Geschichte der Philosophie nach Hegel erzählt Engels dann in folgender, prägender Form: 12 Schon bald nach Hegels Tod kam es in den 30er Jahren zunehmend zu einer »Spaltung« seiner »Schule« in einen progressiven, »linken«, und einen konservativen, »rechten« Flügel. 13 Der »linke Flügel«, den Engels mit den »Junghegelianern« identifiziert, erkannte nun die politischen und religiösen Konsequenzen der hegelschen Philosophie, die Hegel selbst nicht zu sehen vermochte. Damit zielte ihre literarische Arbeit auf die »Vernichtung der überlieferten Religion und des bestehenden Staats« 14. Weil die Politik aber damals ein »dorniges Gebiet« gewesen sei, richtete sich ihr »Hauptkampf« nach Hegels Tod zunächst auf die Religion. 15 Den »ersten Anstoß« dafür gab David Friedrich Strauß, nach ihm kamen zuerst Bruno Bauer und dann Max Stirner. Diese drei blieben in ihrer Religionskritik aber noch im hegelschen Idealismus gefangen, indem sie das »Den9

10 11 12 13 14 15

Vgl. Engels 1886; Henri Arvon nennt den Text eines der »meistgelesenen Werke des Marxismus«, vgl. ders. 1975, 110. Engels 1886, 127. Vgl. Ebd., 129 f. Vgl. Ebd., 129 ff. Vgl. Ebd., 130. Ebd., 130. Vgl. Ebd., 130.

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ken« und die »Gedankenprodukte« an erste Stelle setzten. 16 Dies überwand erst Feuerbach in seinem Wesen des Christentums. Feuerbach, so Engels, hob »den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron« 17. Somit sei in Feuerbach die hegelsche Schule zu einem Ende gekommen, »[d]er Bann war gebrochen« 18. Die Erzählung, die Engels hier in der Rückschau konstruiert, bietet in ihrer Deutung der fraglichen, philosophiegeschichtlichen Entwicklungen ein prominentes Narrativ. Der produktive Gehalt dieser Deutung umfasst dabei vor allem drei Aspekte, und zwar erstens das Motiv der Schulspaltung, verbunden mit dem (synonymen) Gebrauch der Gruppenbezeichnungen des »linken Flügels der Hegelschule« und der »Junghegelianer«, zweitens die Festlegung der »Junghegelianer« bzw. des »linken Flügels« auf ihre Religionskritik – verbunden mit der Fokussierung auf die Linie Strauß-Bauer-Stirner-Feuerbach – und drittens die Würdigung Feuerbachs als Höhe- und Endpunkt der Bewegung. Engels Darstellung ist in allen drei Aspekten nicht falsch, aber dennoch in ihrer Schärfe nicht zu halten. Mit einigem Recht bezeichnet Henri Arvon die Darstellung Engels als die verklärende Revision einer »Jugenderinnerung«. 19 Um die von Engels getroffenen Entscheidungen nicht blind zu reproduzieren, gilt es daher nun, sie kritisch zu prüfen. Beginnen möchte ich mit der Konstruktion einer »Spaltung« der hegelschen »Schule«. Wie wir gesehen haben, berichtet Engels von einem Zerfall der hegelschen Anhängerschaft in zwei mehr oder weniger geschlossene Teilgruppen. Für die Benennung der progressiven Teilgruppe nimmt Engels die beiden noch heute gebräuchlichen Bezeichnungen auf und spricht zum einen vom »linken Flügel der Hegelschule« und zum anderen von den »Junghegelianern«. Engels gebraucht beide Bezeichnungen offenbar synonym. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass die Bezeichnungen einen unterschiedlichen Ursprung und eine durchaus unterschiedliche Konnotation besitzen – und damit schließlich auch für die heutige Forschung in unterschiedlichem Maße anschlussfähig sind. Wie schon deutlich geworden ist, entstammen beide Begriffe dem zeitgenössischen Diskurs. Dabei ist der Begriff der »Linkshegelianer« etwas älter, er geht zurück auf eine Streitschrift von David Friedrich Strauß aus dem Jahr 1837. 20 Strauß teilt die hegelsche »Schule« dort in drei »Richtungen«: In eine »rechte Seite«, ein »Zentrum« und eine »linke Seite«. Diese drei Richtungen konstituieren sich nach Strauß durch eine je charakteristische Position zu 16 17 18 19 20

Vgl. Ebd., 130 f. Ebd., 131. Ebd., 131. Vgl. Arvon 1975, 109. Vgl. Strauß 1837; vgl. auch Waszek 2020, 376 f.

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der Frage, ob die »Evangelische Geschichte« aus der »Idee der Einheit göttlicher und menschlicher Natur« entweder vollständig, teilweise, oder überhaupt nicht »als historisch zu erhärten sei« 21. Strauß selbst rechnet sich dabei der »linken Seite« zu – wohlgemerkt als deren anscheinend einzigen Vertreter. 22 Blickt man auf die Verwendung des Begriffes bei Strauß, so erscheinen dort bereits die Elemente, die für die weitere Karriere des Begriffes wichtig werden würden. Strauß beschreibt eine schematische, klare Trennung der Wege innerhalb der hegelschen »Schule« und nimmt an, dass diese Trennung durch inhaltliche Differenzen bzw. Gemeinsamkeiten erklärt werden kann. Die Frage, an der sich die Zugehörigkeit zu einer der »Richtungen« entscheidet, ist die Stellung eines Autors zum Problem der »evangelischen Geschichte« – womit letztlich die Stellung zu den von Strauß selbst in seinem Leben Jesu vorgetragenen Überlegungen gemeint zu sein scheint. 23 Insofern diese sehr spezielle Frage durch die Debatte bereits bald überholt sein würde, wird die Brauchbarkeit der Rede von einer »linken-« bzw. »rechten Seite der Hegelschule« im Gefolge der Unterscheidung bei Strauß bereits fraglich. Aber selbst wenn man sich vom Problem der »Evangelischen Geschichte« löst und in einem weiteren Sinne nach schematischen religionsphilosophischen Fraktionsbildungen sucht, wird man enttäuscht werden. So hat Jon Stewart in jüngerer Zeit nachgewiesen, dass die religionsphilosophischen Debatten innerhalb der »linken Hegelschule« weitaus zu vielfältig sind, um über sie eine Gruppenzugehörigkeit zu konstituieren. 24 Insofern ist der Gebrauch dieser Gruppenbezeichnung in der neueren Forschung zu Recht in Kritik geraten. 25 Die Schwierigkeiten, die mit der Klassifikation in »Links- und Rechtshegelianer« verbunden sind, verweisen uns auf die andere erwähnte Gruppenbezeichnung, auf die Bezeichnung als »Junghegelianer«. Hierbei handelt es sich – anders als bei der Rede vom »linken Flügel« – zunächst um eine Fremdbezeichnung, die der Historiker Heinrich Leo in seiner Streitschrift Die Hegelinge von 1838 geprägt hat, die aber später als Selbstbezeichnung aufgenommen wurde. 26 Leo konstruiert im Rahmen seiner polemischen Absicht eine »Partei«, die er als »jung-hegelianische Partei« beschreibt, ohne ihr dabei unmittelbar eine Gegenpartei, etwa eine »alt-hegelianische Partei«, schematisch gegenüberzustellen. 27 Die Charakteristik der »jung-hegelianischen Partei« bestimmt Leo dann über deren Religionskritik. Im ersten von vier Punkten, die Leo als eine 21 22 23 24 25 26 27

Strauß 1837, 95. Vgl. Strauß 1837, 126. Vgl. Waszek 2020, 376. Vgl. Stewart 2011, 67. Vgl. Waszek 2020, 376 f. Vgl. Eßbach 1988, 30 ff; Waszek 2020, 377 f. Vgl. Leo 1838, 3–5.

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Art Programm der »Junghegelianer« anführt, heißt es: »[D]iese Partei lehrt den Atheismus ganz offen.« 28 Die inhaltliche Bestimmung, die Leo für seine Gruppenkonstruktion vornimmt, bezieht sich ebenso wie diejenige bei Strauß auf die Religionsphilosophie und sie wird daher ebenso schwer einholbar sein wie Letztere. Allerdings hat der Begriff der »Junghegelianer« gegenüber dem der »Linkshegelianer« insofern einen wichtigen Vorteil, dass ihm die inhaltliche Bedeutung, die Leo ihm gibt, sprachlich weniger stark eingeschrieben ist. Semantisch verweist der Begriff zunächst nur auf eine jüngere Generation der Hegelschüler. Zwar wird man einwenden müssen, dass in den 30er und 40er Jahren auch nicht alle jüngeren Hegelianer »Junghegelianer« waren. Dennoch scheint das Fehlen einer stärker inhaltlichen Bestimmtheit den »Junghegelianismus« gerade für die neuere, soziologische Forschung zu einem attraktiveren Theoriebegriff zu machen. Lars Lambrecht und Christian Bunzel haben für seine Verwendung in neuerer Zeit einen gangbaren Vorschlag gemacht, der hier aufgenommen werden soll. Demnach waren die »Junghegelianer« weniger eine geschlossene Gruppe als vielmehr ein Verbund von unabhängigen, aber doch vernetzten Gruppen. 29 Örtliche Zentren der junghegelianischen Bewegung waren Berlin und Halle, ihre vitale Zeit erstreckte sich wesentlich von 1835 bis 1845. Nach 1838 wurden die von Arnold Ruge herausgegebenen Hallischen Jahrbücher (bzw. nach deren Verbot 1841 die Deutschen Jahrbücher) zu einem Mittelpunkt der Bewegung. 30 Inhaltliche Überschneidungen der Akteure sind selbstverständlich anzunehmen, spielen aber für die Gruppenzugehörigkeit nach Lambrecht und Bunzel zunächst keine konstitutive Rolle. Überblickt man die Ergebnisse unserer knappen Ausführungen zum »Linkshegelianismus« bzw. »Junghegelianismus«, so wird deutlich, dass sich die schematische Annahme einer »Schulspaltung«, wie Engels es darstellt, in dieser Stärke kaum einholen lässt. Die Verwendung des Begriffes »Linkshegelianer« lässt sich aufgrund seiner Semantik kaum von diesem Schematismus trennen und ist daher eher zu verabschieden. 31 Der Begriff der »Junghegelianer« erscheint dagegen, trotz seiner Herkunft aus der Polemik Leos, weniger stark aufgeladen. Aufgrund der Schwierigkeiten mit einer klaren Bestimmung einer gemeinsamen Position, gerade auch innerhalb der Religionsphilosophie, werde ich im Folgenden vom Junghegelianismus bzw. von der junghegelianischen Bewegung sprechen. Damit wird die Frage nach inhalt28 29 30 31

Leo 1838, 4. Vgl. Lambrecht / Bunzel 2011, 28; vgl. auch Eßbach 1988, 40 ff. Vgl. Lambrecht / Bunzel 2011, 29; vgl. auch McLellan 1974, 21. Anders Quante, der den Begriff der »Linkshegelianer« wählt, diesen aber ebenfalls in einem »theoretisch wie philosophisch ganz anspruchslosen Sinn« verstanden wissen will, vgl. ders. 2015, 245.

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lichen Gemeinsamkeiten, gerade auch in einer wie auch immer bestimmten »kritischen« Haltung der untersuchten Autoren zur christlichen Religion, natürlich nicht suspendiert, aber zumindest auch nicht im Voraus entschieden. Die Redeweise von einer schematischen »Spaltung der Schule« ist, wie wir gesehen haben, in der schematischen Form, wie Engels sie bietet, problematisch. Wie aber steht es mit dem zweiten von uns herausgehobenen Aspekt in Engels Darstellung, mit der herausgehobenen Rolle der Religionskritik? Wie wir bei Strauß und Leo gesehen haben, ist dieses Motiv nicht erst von Engels geprägt, vielmehr wurde die junghegelianische Bewegung früh mit der Stellung ihrer Protagonisten zur christlichen Religion in Verbindung gebracht. Engels legt dann die Junghegelianer ganz auf ihre Rolle als »Religionskritiker« fest. Dies scheint aber schon bei einem flüchtigen Blick auf den junghegelianischen Diskurs als eine starke Verkürzung. Längst nicht alle Junghegelianer waren schwerpunktmäßig oder gar ausschließlich mit dem Thema der Religion befasst. Mit der Linie (Strauß-)Bauer-Feuerbach-Stirner greift Engels selektiv diejenigen Autoren heraus, welche die Religionsphilosophie bzw. die Religionskritik mehr oder weniger stark zu ihrem Leitthema gemacht haben, und lässt andere unerwähnt, die sich verstärkt anderen Themen zugewandt haben, wie Arnold Ruge oder Moses Heß. 32 Wenn im Folgenden von der »junghegelianischen Religionskritik« gesprochen werden soll und wenn dabei mit Bauer, Feuerbach und Stirner tatsächlich drei der Autoren in den Blick genommen werden, die Engels in den Mittelpunkt seiner Erinnerung stellt, dann muss deutlich bleiben, dass es sich hierbei um einen Ausschnitt des junghegelianischen Diskurses handelt, der nicht vorschnell mit dem Diskurs selbst in eins gesetzt werden darf. Allerdings sind mit dieser Einschränkung noch nicht alle Probleme der engelsschen Rede von den Junghegelianern als »Religionskritiker« gelöst. Denn die Frage, was denn nun genau unter der »Religionskritik« der von Engels benannten Autoren zu verstehen ist, wirft wiederum weitere Probleme auf. Unzweifelhaft ist, dass von ihnen innovative und wirkungsvolle religionsphilosophische Positionen entwickelt worden sind, und zwar solche, die das zeitgenössische Selbstverständnis der christlichen Theologie hart herausforderten. Ist eine genauere Beschreibung gefordert, so muss bereits stark differenziert werden. Auf die Schwierigkeit, eine gemeinsame »linkshegelianische« oder »junghegelianische« Position innerhalb der Religionsphilosophie zu rekonstruieren, wurde bereits hingewiesen. 33 Was den Versuch, die junghegelianischen Debatten um die Religion zu erfassen, darüber hinaus noch beschwerlicher macht, ist der ihnen charakteristi32 33

Zu Ruge vgl. nur Breckmann 2015; zu Heß vgl. nur Henning 2015, 102 ff. Vgl. nochmals Stewart 2011.

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sche Zug ins Expansive. Immer wieder wird beobachtet, dass die Junghegelianer dazu neigen, sich gegenseitig vorwerfen, »noch religiös« zu sein. 34 Stirner nennt die Vertreter eines atheistischen Humanismus »fromme Leute« und polemisiert damit gegen Feuerbach, 35 Feuerbach gibt den Angriff zurück und nennt Stirner einen »frommen Atheisten«, 36 Bauer erklärt beide zu »Dogmatikern« 37 und Ruge wendet den Vorwurf der »Religiosität« in der oben zitierten Passage gleich gegen die ganze Bewegung. 38 Diese Polemik ist zum Teil durch eine explizite Ambivalenz der angegriffenen Autoren im Umgang mit der Religion begründet: So zieht sich gerade durch Feuerbachs Werk ein Schwanken zwischen Aufnahme und Kritik des Religionsbegriffs, 39 und Bauer war bis zum Entzug seiner Lehrerlaubnis Privatdozent der Theologie. 40 Allerdings trifft der genannte Vorwurf auch Denker, die sich selbst entschieden als areligiös verstehen – wie eben Max Stirner. Diese reflexartig abgerufene Polemik erscheint bisweilen etwas willkürlich, besitzt aber durchaus eine tiefere religionsphilosophische Bedeutung. Denn bei genauerem Hinsehen deutet sich in ihr eine entscheidende Entwicklung im Religionsbegriff an, und zwar der Wechsel von einem substanziellen zu einem formalen Religionsbegriff. Nicht mehr das Bekenntnis zu bestimmten christlichen Lehrgehalten, sondern bestimmte Strukturen des Denkens und Handelns werden als religiöse adressiert, sodass nun auch atheistische Positionen in diesem Sinne als religiös kritisiert werden können. Diese – polemisch motivierte – Weitung des Religionsbegriffes innerhalb der junghegelianischen Debatte wird zentrale Bedeutung gewinnen gerade auch für das Verständnis der Religionskritik, wie Stirner sie entwickelt hat. 41 Bis hierhin wurden zwei Aspekte aus Engels klassischer Darstellung aufgegriffen und kritisch kommentiert. Das Motiv der schematischen »Schulspaltung« muss angesichts der neueren Forschung relativiert werden. Die »Religionskritik« sodann spielte sicherlich eine große Rolle in den Debatten der Zeit, beschäftigte aber in der von Engels herausgestellten Einseitigkeit allenfalls einen Ausschnitt der junghegelianischen Bewegung, und selbst innerhalb dieses Ausschnittes darf die Vielfalt der Positionen nicht unterschätzt werden. Neben dem Motiv der »Schulspaltung« und der Engführung der junghegelianischen Debatten auf die »Religionskritik« habe ich oben einen dritten Aspekt in 34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Eßbach 1988, 389; Vgl. auch schon Löwith 1969, 532. EE 49. Feuerbach 1845, 428. Bauer 1845, 138. S.o. Anmerkung 1. S.u. Kapitel IV, Abschnitt 1. Zu Bauers akademischer Karriere vgl. ausführlich Eberlein 2009, 66–69. Zu dieser Weitung des Religionsbegriffs im Junghegelianismus vgl. Eßbach 2010a.

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Engels Darstellung hervorgehoben, der eine große Prägekraft hatte, und zwar die Rolle, die Ludwig Feuerbach in seiner Darstellung zugewiesen bekommt. Engels portraitiert Feuerbach als Höhe- und Endpunkt der junghegelianischen Theorieentwicklung. Die damit verbundene Wertung ist schwer zu bestreiten. Feuerbach war vielleicht der philosophisch niveauvollste, mit Sicherheit aber der wirkmächtigste Vertreter des Junghegelianismus – sieht man von Marx und Engels selbst ab. Problematisch erscheint indes nicht eigentlich die Wertung, sondern das chronologische Bild der junghegelianischen Debatte, die Engels Erzählung impliziert. Feuerbachs Wesen des Christentums von 1841 als Abschluss des Junghegelianismus darzustellen unterschlägt, dass sich die vitale Zeit der Bewegung bis 1845 fortsetzte, die literarische Tätigkeit der zu ihr gerechneten Autoren meist noch deutlich länger. Die rhetorische Verzerrung der Chronologie, die Engels vornimmt, ist problematisch gerade auch im Blick auf die Rolle, die Max Stirner innerhalb der Bewegung zugeschrieben wird. 42 Stirners Hauptwerk, der Einzige und sein Eigentum, erschien 1844 und damit nach Feuerbachs prägenden Schriften und stellt eine kritische Auseinandersetzung mit diesen dar. 43 Gerade auch in seiner Religionskritik geht Stirner einen guten Schritt über Feuerbach hinaus, und man kann zeigen, dass Marx und Engels diesen Schritt durchaus wahrgenommen und bis zu einem gewissen Punkt sogar aufgenommen haben. 44 Durch die ungenaue Chronologie lässt Engels in seiner Erinnerung also gerade den Autor in den Hintergrund treten, der in unserer Untersuchung eines neuen Blickes gewürdigt sein soll. 2. Johann Caspar Schmidt Der Autor, dessen religionskritische Position zu interpretieren sich diese Untersuchung vorgenommen hat, trägt den bürgerlichen Namen Johann Caspar Schmidt. Der Name »Max Stirner«, unter dem er bekannt ist und der auch in dieser Untersuchung verwendet werden soll, changiert zwischen öffentlichem Spitznamen und ständigem Pseudonym. Als Spitzname wurde er wohl bereits zu Stirners Studienzeit in Berlin von seinen Kommilitonen geprägt. 45 Seit Beginn seiner journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeit steht der Name dann mit wenigen Ausnahmen unter sämtlichen seiner öffentlichen Schriften. Auch innerhalb der literarisch ausgetragenen Debatten verwenden Freunde 42

43 44 45

Vgl. Arvon 2012, 193, vgl. auch Eßbach 1985, 4, der Engels Schrift in diesem Punkt als ein »Meisterwerk höchst erfolgreicher Legendenbildung« bezeichnet. Zur Debatte zwischen Stirner und Feuerbach s. u. Kapitel IV und Kapitel V. Vgl. Eßbach 1978; 2010b. Vgl. Mackay 1914, 85.

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wie Gegner den Namen. 46 Nicht in Gebrauch wird der Spitzname einzig im Zusammenhang seiner bürgerlichen Tätigkeit als Lehrer gewesen sein. Durch diese ungewöhnliche Konstellation scheint der Name eine gewisse Trennung zwischen bürgerlicher und publizistischer Identität erlaubt zu haben. 47 Max Stirner ist häufig als »Außenseiter« innerhalb der Philosophiegeschichte portraitiert worden. 48 Diese Tendenz der Rezeption kann zunächst als inhaltliche Bestimmung der Philosophie Stirners gelesen werden. Wenn Ernst Bloch schreibt, Stirner sei »freier Außenseiter nicht bloß der vorhandenen Gesellschaft, sondern jeder denkbaren«, 49 dann scheint dies ein Reflex auf Stirners ausgesprochen radikal anmutende praktisch-philosophische Thesen wie seine Aufwertung des »Egoismus« und seine agonale Bestimmung der Intersubjektivität. Wenn Stirner schreibt: »Greife zu und nimm, was Du brauchst! Damit ist der Krieg Aller gegen Alle erklärt«, 50 tritt er in eine Reihe mit echten oder vermeintlichen moralischen Nihilisten und anti-sozialen Philosophen wie de Sade oder Nietzsche. 51 Die Rede von Stirners Außenseitertum hat aber auch noch eine zweite Seite. Diese zweite Seite besteht in der Tendenz, Stirners Werk – vielleicht auch aufgrund seiner empfundenen Radikalität – in großer Distanz zu seinem philosophiegeschichtlichen Kontext und damit auch in Distanz zur junghegelianischen Bewegung wahrzunehmen. So beobachtet Ahlrich Meyer, Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum sei »wie kaum ein anderes Buch [. . . ] von den Bedingungen der Entstehung getrennt« 52. Diese Tendenz mag bis zu einem gewissen Grad in Stirners Selbstdarstellung begründet sein, die die Abgrenzung gegenüber seinen Gesprächspartnern gerne polemisch überzeichnet und Gemeinsamkeiten selten zur Sprache bringt. Wenn beispielsweise Wolfgang Eßbach den Einzigen als ein »theoretisches Massaker« an »allen wichtigen theoretischen Bezugspunkten der Gruppe« bezeichnet, 53 dann scheint mir dieses Urteil zwar die Selbstwahrnehmung Stirners richtig wiederzugeben, diese aber zugleich etwas zu stark zu affirmieren. Blick man hinter Stirners bisweilen 46 47

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Vgl. nur Feuerbach 1845; Bauer 1845, 123 ff. Zur weitreichenden These, es handele sich bei »Max Stirner« um eine reine Kunstfigur des Autoren Schmidt, s. u. Kapitel VIII, Abschnitt 4. Für diese Tendenz steht die Aufnahme Stirners in einen Sammelband der Außenseiter der Philosophie durch Helmut Reinalter und Andreas Oberprantacher, vgl. dies. (Hrsg.) 2012. Vgl. auch die Aufnahme in die ähnlich konzipierten Sammelbände Reschika 2001 und Knapp / Kobusch (Hrsg.) 2005. Bloch 1985, 663. EE 262. Zu Stirners Stellung im Kontext der Geschichte des »moralischen Nihilismus« vgl. Schröder 2005, 56. Meyer 2011, 423. Zu dieser Tendenz der Rezeption vgl. auch Thomas 2011, 114. Eßbach 1985, 5.

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scharfe Polemik, so zeigt sich, dass Stirners Position in vielem eng an die Diskurse seiner Zeit und an die Positionen seiner unmittelbaren Gesprächspartner angebunden bleibt. Zur Rekonstruktion der Biographie Stirners sind wir bis heute auf die Forschungsergebnisse seines Neuentdeckers und Verehrers John Henry Mackay verwiesen. 54 Sind wir als Interpreten eines philosophischen Werkes meist gewohnt, dem Leben seines Schöpfers für die Interpretation nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken, wirft ein Vergleich von Leben und Werk Stirners doch einige Fragen auf. Was heißt es zum Beispiel für die häufig erfolgte Zuordnung Stirners zur Theorie des Anarchismus, 55 dass er weder im Revolutionsjahr 1848 noch davor oder danach politischer Aktivist gewesen ist oder auch nur, wie sein Zeitgenosse Henry David Thoreau, durch einen Akt zivilen Ungehorsams aufgefallen wäre? 56 Was heißt es für seine »Anti-Pädagogik« (Klemm), 57 dass er an der Mädchenschule, an der Stirner von 1839 bis 1844 gearbeitet hat, wohl ein beliebter, mindestens aber unauffälliger Lehrer gewesen sein muss? 58 Was heißt es für sein Lob der »egoistischen« Liebe, 59 dass seine eigene Ehe gescheitert ist und dass seine ehemalige Lebenspartnerin und Ehefrau Marie Dähnhardt ihm rückblickend bescheinigt, er sei »zu selbstisch, um wahre Freunde zu haben« 60? Hat Stirner durch das Scheitern seiner Beziehungen seine egoistische Philosophie selbst widerlegt? Oder ist es vielleicht umgekehrt gerade ein Zeichen der Modernität seiner Beziehungsethik, dass er und seine Frau ihre Ehe offenbar eben nicht als ewigen, unauflöslichen Bund verstanden haben, sondern dazu in der Lage waren, auseinander zu gehen? Diesen Fragen wird sich eine Gesamtinterpretation der Philosophie Stirners wohl stellen müssen, sie können aber im Zusammenhang einer Interpretation der Religionsphilosophie Stirners, die sich diese Untersuchung vorgenommen hat, nicht weiterverfolgt werden. Für unser Unternehmung dagegen von größerer Bedeutung ist die Frage nach Stirners biographischer Verankerung in den philosophischen Debatten seiner Zeit. Diese Frage verweist uns zunächst auf seine akademischen Studien und seine akademischen Lehrer. Johann Caspar Schmidt hat von 1827 bis 1834 mit einer nicht ganz aufgeklärten, längeren Unterbrechung in Berlin studiert. 61 Dort hörte Stirner bei Schleiermacher, 54 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Mackay 1914. Vgl. nur Loick 2018, 55 ff. Zu Thoreau vgl. Loick 2018, 61 ff. Vgl. Klemm 2011, 61 f. Vgl. Mackay 1914, 183. S.u. Kapitel V, Abschnitt 4. So die Paraphrase Mackays, vgl. ders. 1914, 12. Vgl. Mackay 1914, 36–41.

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Marheineke und Hegel. 62 Im Zusammenhang einer religionsphilosophischen Interpretation liegt nun die Frage nach dem Einfluss Schleiermachers und Marheinekes nahe, dieser scheint aber weniger ausgeprägt gewesen zu sein, als man zunächst annehmen könnte, und wird darum in der Forschung auch nur wenig gewürdigt. 63 Zum einen scheint Stirner schnell Hegel als seinen akademischen Lehrer gewählt zu haben – ihn allein hört er mehrfach. 64 Zum anderen liegt auch in den Debatten, in denen sich Stirner zur Zeit seiner ersten publizistischen Tätigkeit bewegt, die Bedeutung Schleiermachers und Marheinekes weit hinter der Bedeutung Hegels zurück. Stirners Verhältnis zu Hegel ist darum auch Gegenstand einer intensiveren Forschungsdiskussion geworden. Jeff Spiessens hat herausgearbeitet, dass diese Diskussion dazu tendiert, in zwei grundsätzlich gegensätzliche Richtung oder zwei Gruppen auseinanderzufallen: eine erste Gruppe, welche die große Nähe Stirners zu Hegel betont, und eine zweite Gruppe, welche Stirner in einem maximalen Widerspruch zu seinem einstigen Lehrer denkt. 65 In diesem ambivalenten Urteil der Forschung spiegelt sich zunächst die Ambivalenz ihres Gegenstandes, denn tatsächlich scheint das Verhältnis der Junghegelianer zu ihrem Lehrer durch ein komplexes Nebeneinander und Ineinander von Anknüpfung und Abkehr bestimmt. Ein Versuch, dieses Ineinander aufzulösen, hat Friedrich Engels in seiner oben zitierten Schrift über den Ausgang der Deutschen Philosophie von 1886 angeboten. Dort schreibt Engels: »Wer das Hauptgewicht auf das System Hegels legte, konnte auf beiden Gebieten [d. h. Religion und Politik] ziemlich konservativ sein; wer in der dialektischen Methode die Hauptsache sah, konnte religiös wie politisch zur äußersten Opposition gehören.« 66 Der Vorschlag einer Unterscheidung von System und Methode ist durchaus vielversprechend und wird von Hans-Martin Sass in seinen monographischen Untersuchungen zur Religionsphilosophie in der Hegelschule aufgegriffen. Nach Sass ist die »spekulative Methode« bzw. die »Dialektik« das verbindende Merkmal aller Hegelianer, während sich die »Spaltung« der Schule an ihrer Stellung zu seinem »System« entscheidet. 67 Die Junghegelianer hätten demnach von Hegel die dialektische Methode übernommen, sein System aber abgelehnt. Dieser von Engels angebotene und von Sass aufgegriffene Vorschlag, dem zufolge die Anknüpfung der Junghegelianer an Hegel in der Aufnahme und 62 63

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Vgl. Mackay 1914, 36 f. Eine Ausnahme bietet Ulrich Simon, der im Einzigen eine Auseinandersetzung mit Schleiermachers Gefühlsbegriff finden will, vgl. Simon 1982, 166. Vgl. nochmals Mackay 1914, 36 f. Vgl. Spiessens 2018, 79. Engels 1886, 129. Vgl. Sass 1963, 202–204; 220.

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Weiterentwicklung dialektischer Denkfiguren besteht, mag auch auf die Frage nach dem Verhältnis Stirners zu Hegel übertragen werden. In diesem Sinne hat Lawrence Stepelevich Stirners Philosophie interpretiert und den Einzigen als »fine example of an exercise in Hegelian dialectics« 68 bezeichnet. Gegen diese Interpretation, die eine partielle Kontinuität von Hegel zu Stirner anzuerkennen bereit ist, erheben sich aber auch Stimmen, welche den Bruch stärker betonen. So hat Bernd Kast als prominenter Vertreter einer scharf hegelkritischen Lesart des Einzigen gerade die Überwindung dialektischen Denkens als Pointe der Schrift herausgearbeitet. 69 Die zentrale Frage nach der Bedeutung dialektischer Denkfiguren bei Stirner sei hiermit nur angedeutet, im Laufe dieser Untersuchung werde ich zu zeigen versuchen, dass in der Figur der religiösen Entfremdung, welche in verschiedenen Varianten bei Bauer, Feuerbach und Stirner nachgewiesen werden kann, eine starke Anlehnung an Motive hegelscher Philosophie zu finden ist, dass aber Stirners Innovation innerhalb der Debatte gerade darin besteht, die Figur der Entfremdung in einem nichtdialektischen Sinne zu interpretieren. 70 Sieht man von diesen subtileren positionellen Unterschieden aber zunächst noch einmal ab, so erscheint die Zugehörigkeit von Stirners Werk zum Junghegelianismus diskurs-soziologisch gut begründet. 71 Zwar war Stirner kein Mitarbeiter der Hallischen oder der Deutschen Jahrbücher. Allerdings gehörte Stirner wohl seit 1840 zur Gruppe der »Freien« in Berlin, 72 zu deren Kreis auch Bruno Bauer gehörte 73 und die als junghegelianische Gruppenbildung angesehen wird. 74 Darüber hinaus schrieb Stirner über den Verlauf des Jahres 1842 als Korrespondent für die Rheinische Zeitung, welche neben den Hallischen bzw. Deutschen Jahrbüchern das zweite wichtige Publikationsorgan der junghegelianischen Bewegung gewesen ist. 75 Überblickt man Stirners literarisches Schaffen, so fällt auf, dass es sich um ein überaus schmales Werk handelt. Die moderne Rezeption bezieht sich zudem im Wesentlichen auf Stirners einzige monographische Schrift, auf den Einzigen und sein Eigentum vom Oktober 1844, vordatiert auf 1845, so dass 68 69 70

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Stepelevich 2006, 174. Vgl. in dieser Tendenz auch schon ders. 1976; 1985. Vgl. Kast 2016a, 131 ff. Vgl. auch Spiessens 2018, 85. Zur Unterscheidung dialektischer und nicht-dialektischer Entfremdungstheorien s. u. Kapitel III, Abschnitt 1; zu Stirners Positionierung in dieser Frage s. u. Kapitel III, Abschnitt 4; Kapitel V-VI. Für viele vgl. Eßbach 1988, 41. Vgl. Mackay 1914, 85, obwohl Stirner in seinen literarischen Äußerungen auch auf Distanz zu den »Freien« gegangen ist, vgl. dazu Eßbach 1988, 215 ff. Vgl. Eberlein 2009, 77 ff. Vgl. Lambrecht / Bunzel 2011, 35 ff. Vgl. Eßbach 1988, 212 ff, Pagel 2020, 54 f.

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Stirner als ein »single-book philosopher« 76 gelten kann. Blickt man auf die Publikationen neben dem Einzigen, so handelt es sich dabei um eine Reihe von Zeitschriftenartikeln und selbstständigen Broschüren verschiedener Länge, die zum Teil rein tagesjournalistischen Inhalt bieten, zum Teil aber auch den Charakter kurzer philosophischer Essays haben. Selbst wenn man in der Frage, welche der zum Teil anonym veröffentlichten Schriften Stirner zuzuschreiben sind, eher wohlwollend urteilt, erstreckt sich die produktive Zeit Stirners nur über einen sehr kurzen Zeitraum von wenigen Jahren. 77 Diese kurze Schaffenszeit lässt sich mit Bernd Kast dennoch sinnvoll in drei Phasen einteilen. 78 In die erste Phase, 1841 bis 1843, fallen die große Mehrheit der von John Mackay im Band der Kleineren Schriften versammelten Texte, darunter die Korrespondenzen für die Rheinische Zeitung und die Leipziger Allgemeine Zeitung sowie zwei Aufsätze, die schon 1843 verfasst worden sind, allerdings erst 1844 in der Berliner Monatsschrift erscheinen. 79 Die zweite Phase bildet die Arbeit an der monographischen Publikation Der Einzige und sein Eigentum, welche die Zeit von 1843 bis 1844 eingenommen haben wird. 80 Die dritte Phase umfasst die nach dem Einzigen veröffentlichten Texte, unter denen vor allem zwei Artikel herausstechen, die Stirner 1845 und 1847 als Antikritiken auf Rezensionen seines Hauptwerks veröffentlicht hat. 81 Daneben schrieb er keine Texte mit systematischem Anspruch mehr, sondern arbeitete als Korrespondent für das Journal des österreichischen Lloyd, übersetzte ökonomische Texte aus der englischen und der französischen Sprache und veröffentlichte schließlich einen Band von Exzerpten zeitpolitischer Autoren – Publikationen,

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Beiser 2011, 283. Eine detaillierte Auswertung aller Stirner zugeschriebenen Texte bietet Kast 2016a, vgl. auch Pagel 2020, 198 ff. Vgl. Kast 2016a, 33 ff. Über die bei Mackay versammelten Texte hinaus werden Stirner zugeschrieben: die Examensarbeit Über Schulgesetzte (Vgl. Kast 2016a, 35 ff; Pagel 2020, 200 ff), eine Rezension zu Deutschlands Beruf in der Gegenwart und Zukunft (vgl. Kast 2016a, 57 ff; Pagel 2020, 208 ff) sowie meist auch der Text Über die Verpflichtung der Staatsbürger zu irgendeinem Religionsbekenntnis (Vgl. Pagel 2020, 237 ff; nicht kommentiert bei Kast). Im Allgemeinen nicht als authentisch angesehen, bei Kast und Pagel nicht kommentiert und deshalb im Folgenden nicht berücksichtig wird dagegen der Text über Christentum und Antichristentum, den Bernd Laska in seine Ausgabe der Parerga, Kritiken, Repliken Stirners aufnimmt. Mit einem Beginn der Arbeit am Einzigen nach dem Abschluss der letzten, vorangegangenen Veröffentlichung im Jahr 1843 rechnet Ulrich Pagel, vgl. ders. 2020, 291 ff. Bernd Kast nimmt dagegen an, dass die Arbeit am Einzigen bereits parallel zu den vorangegangenen Veröffentlichungen begonnen habe, vgl. ders. 2016a, 33 f. Stirners Hauptwerk erschien im Oktober 1844, wurde aber vordatiert auf das Jahr 1845. KS 343 ff und KS 401 ff. Die Zuschreibung der zweiten Antikritik an Stirner bezweifelt Kast, vgl. ders. 2016a, 307 ff.

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die für eine Interpretation seines philosophischen Werkes zu vernachlässigen sind. 82 Welche Texte aus dem schmalen Werk Stirners werden nun für die Rekonstruktion seiner Religionsphilosophie bzw. seiner Religionskritik, die wir uns vorgenommen haben, die Grundlage bilden? Zunächst gilt für Stirners Religionsphilosophie dasselbe, was für seine Philosophie im Allgemeinen gilt: Sein monographisches Hauptwerk, Der Einzige und sein Eigentum, bleibt der wichtigste Bezugspunkt jeder Interpretation. Zwar gibt es auch in der ersten Schaffensphase eine Reihe von Texten mit religionskritischer oder kirchenkritischer Tendenz wie Bauers Posaune, das Gegenwort oder die Verpflichtung eines Staatsbürgers zu irgendeinem Religionsbekenntnis und auch manche der kürzeren Zeitungskorrespondenzen berühren das Thema der Religion. 83 All diese Texte lassen aber kaum eine eigenständige religionsphilosophische Position erkennen und werden darum in dieser Untersuchung nicht eingehend kommentiert. Eine Ausnahme bildet der Aufsatz über Kunst und Religion aus dem Jahr 1842. Dieser Aufsatz zieht unser Interesse in doppelter Hinsicht auf sich. Zum einen zeigt er gegenüber dem Einzigen eine erkennbar frühere Version der Religionskritik, die noch stark an Bruno Bauer orientiert ist. Zum anderen entwickelt Stirner aber bereits hier eine charakteristische Kritik an Bauer, die auf den Einzigen vorausweist. 84 Für Stirners Kritik an Feuerbachs Liebesethik, die uns im Einzigen begegnen wird, ist wiederum der Aufsatz Einiges Vorläufiges vom Liebesstaat eine instruktive Vorstufe. 85 Schließlich bleiben die beiden Antikritiken, vor allem die Antikritik von 1845, wichtige Interpretationshilfen für den Einzigen, da sie die von Stirner als Missverständnis wahrgenommene Rezeption der auch für seine Religionskritik zentralen Konzepte des Einzigen und des Egoismus zu präzisieren versuchen. 86 3. Max Stirner in der Forschung Stirner erscheint innerhalb der deutschen Philosophie nicht als Autor der ersten, auch eher nicht der zweiten, sondern eher der dritten oder vierten Reihe. Seine Neuinterpretation hegelianischer Grundfiguren steht im Schatten Feuerbachs und Marxens, seine früh-existenzialistische Philosophie des Indivi82 83

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Zu dieser letzten Phase vgl. Kast 2016a, 299 ff. So unter anderem Stirners Berichte über den Prozess zu Bauers Absetzung als Privatdozent der Theologie in Bonn, s. u. Kapitel III, Anmerkung 96. KS 258 ff; s. u. Kapitel III, Abschnitt 4. KS 269 ff; s. u. Kapitel V, Abschnitt 3. Vgl. KS 343 ff und KS 401 ff; siehe dazu nur Kapitel V, Abschnitt 2 und Kapitel VI, Abschnitt 1.

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duums im Schatten Kierkegaards und seine radikale Moralkritik im Schatten Nietzsches. Und man ist jedes Mal versucht hinzuzufügen: mit Recht. Nicht zuletzt ist dieser Umstand begründet in Stirners doch sehr schmalen Werk, das, wie beschrieben, in einer kaum fünfjährigen Zeit der literarischen Tätigkeit entstanden ist. Die geringe Bedeutung, die Stirner insgesamt zugeschrieben wird, spiegelt sich in dem geringen Umfang der spezialisierten Forschung. Dennoch gibt es Wesentliches, das zu Stirner und auch zu seiner Religionskritik publiziert worden ist und mit dem auch unsere Interpretation sich ins Benehmen zu setzen hat. Schaut man auf die Geschichte der Stirnerrezeption, so lassen sich sehr schematisch drei Phasen unterscheiden: 87 Die erste Phase ist eine lange Phase der ausbleibenden Rezeption. Bald nach der unmittelbaren Reaktion, die doch einigermaßen lebhaft war, 88 ruhte die Diskussion um Stirner und sein Werk. Das nächste halbe Jahrhundert kann der Einzige in gewisser Hinsicht als »verschollen« gelten. 89 Als zweite Phase folgt dann die häufig so genannte »Stirner Renaissance«. 90 Sie beginnt mit der Rezeption Stirners durch den schottischdeutschen Dichter John Henry Mackay, der seine Entdeckung mit der Genauigkeit eines Bekehrungsberichts auf den Sommer des Jahres 1887 datiert. 91 Durch die Wiederveröffentlichung des Einzigen und Stirners Kleine Schriften regte Mackay eine lebendige Rezeption an, deren Schwerpunkte aber außerhalb der universitären Philosophie zu suchen sind. 92 Nach einem Abflachen der Rezeption können schließlich die 1960er und 1970er Jahre als Beginn einer dritten Phase wahrgenommen werden. Der amerikanische Philosoph Lawrence Stepelevich markiert 1974 den Beginn dieses wiedererwachenden Interesses mit seinem Aufsatz The Revival of Max Stirner. 93 Prägend für diese dritte Phase war die materialreiche rezeptionsgeschichtliche Studie von Hans Helms, der den von Marx und Engels geprägten Ideologievorwurf gegen Stirner erneuerte und diesen als Vordenker des deutschen Faschismus portraitierte. 94 Zudem erschienen mit den monographischen Studien von Giorgio Penzo und Robert Paterson zwei Gesamtinterpretationen, die Stirners Werk in unterschiedlicher Weise in den Zusammenhang mit der späteren Existenz87

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Zu einem knappen Überblick über die Rezeptionsgeschichte vgl. Laska 2017; für eine ausführliche Darstellung vgl. Stulpe 2010. Zu den Repliken von Szeliga, Heß, Feuerbach und Bauer vgl. Kast 2003; für eine Auswahl weiterer literarischen Reaktion vgl. Fleming (Hrsg.) 2008. Vgl. Laska 2017, 87. Vgl. Helms 1966, 295; Stulpe 2010, 25. Vgl. Mackay 1914, 5. Vgl. Geyer 2006, 270 ff. Vgl. Stepelevich 1974; vgl. auch Laska 2017, 96 ff. Vgl. Helms 1966.

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philosophie stellten 95 – ein Ansatz, der bereits in den 1950er Jahren von Henri Arvon vorgedacht worden ist. 96 Ist eine Rezeption Stirners innerhalb der europäischen Philosophie somit seit seiner Wiederentdeckung durch Mackay nicht mehr abgerissen, 97 so ist er seit den 1960er Jahren mehr und mehr auch in den Fokus der universitären Forschung gelangt. Überblickt man die neuere und neuste Literatur, dann lassen sich verschiedene Felder bzw. Zugänge voneinander abgrenzen. Als ein erstes Feld erscheint die Beschäftigung mit Stirner im Zusammenhang der Marxforschung 98 und – eng damit verwandt – die Berücksichtigung Stirners im Kontext der Forschung zum Junghegelianismus. 99 Ein zweites Feld bilden Forschungsansätze, die Stirner in die Ideengeschichte des Anarchismus stellen und ihn vor allem als politischen, gesellschaftstheoretischen oder auch pädagogischen Denker lesen. 100 Ein drittes Feld bildet schließlich die »Stirnerforschung« im engeren Sinne, die sich einer Interpretation und Würdigung von Stirners Lebenswerk verschrieben hat. 101 Stellen wir nun die für unsere Untersuchung maßgebliche Frage nach der Repräsentanz von Beiträgen zur Religionskritik innerhalb der Stirnerforschung, so zeigt sich uns ein ambivalentes Bild. Würde man einen im weiteren oder engeren Sinne mit Stirner befassten Wissenschaftler fragen, ob der Religionskritik in Stirners Werk eine herausgehobene Stellung zugeschrieben werden kann, so würde er dies wohl kaum bestreiten. Die besondere Radikalität seiner Religionskritik wird dann auch häufig hervorgehoben, nicht selten in emphatischen Superlativen. Robert Paterson nennt Stirners Positionen einen »Totalen Atheismus«, 102 Carl-Friedrich Geyer bescheinigt Stirner die »wohl 95 96 97

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Vgl. Penzo 2006, italienische Erstausgabe 1971; Paterson 1971. Vgl. Arvon 2012, 215 ff; französische Erstausgabe 1954. Anders Stulpe 2010, 27 f, der die Zeit seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als ein Zurückversinken Stirners in die Vergessenheit wahrnimmt. Vgl. nur Hook 1950; Eßbach 1978; Eßbach 2010b; Pagel 2020; vgl. auch Derrida 2004. Vgl. nur Sass 1963; McLellan 1974; Eßbach 1988; Eßbach 2010a, Beiser 2011; Arndt 2013; Quante 2015a. Vgl. vor allem Newman 2011; 2016; 2017; vgl. auch Klemm 1996; 2011; Ferguson 2011; Kellermann 2017; Loick 2018. In seiner neusten Publikation untersucht Saul Newman das Verhältnis der politischen Philosophie Stirners unter säkularisierungstheoretischer Perspektive und portraitiert dessen Anarchismus dabei als frühen Gegenentwurf zu einer Konzeption der »politischen Theologie«, wie Carl Schmitt sie im 20. Jahrhundert prominent vertreten hat, vgl. Newman 2019a, 44 ff. In Deutschland in neuster Zeit vgl. vor allem Kast 2016a; Kast 2016b; Schuhmann 2011; Laska 1996; Laska 2017. Eng mit diesem letzten Feld verbunden ist die Arbeit der MaxStirner-Gesellschaft, die von 2002 bis 2013 Bestand hatte und von 2008 bis 2013 wissenschaftliche Jahrbücher unter dem Reihentitel Der Einzige herausgegeben hat, vgl. Kast / Lueken / Fleming / Schuman (Hrsg.), 2008–2014. Paterson 1971, 191 ff.

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radikalste Form der Religionskritik« in der Neuzeit 103 und Frederick Beiser bemerkt, nirgends in der modernen Philosophie gäbe es »a more [. . . ] antireligious vision of life«. 104 Überraschenderweise haben aber nun die wenigsten Interpreten dieser Beobachtung systematisch Rechnung getragen und Stirners Religionskritik eine vertiefende Analyse gewidmet. Im Hintergrund dieser Entscheidung könnte das oben benannte, von Marx und Engels geprägte Deutungsmuster stehen, in dem die Religionskritik in der Theoriegeschichte eine vorläufige und vorbereitende Form der Kritik darstellt. Folgt man diesem Muster, so erscheint auch innerhalb des Werkes Stirners die Religionskritik gegenüber anderen Formen der Kritik als nachrangig, ja geht in diesen auf. In diesem Sinne urteilt Frederik Beiser, wenn er im Einzigen eine Überschreitung der Religionskritik zur Moralkritik aufzufinden glaubt, und schreibt: »Stirner's central contribution to the critical tradition is that [. . . ] he took criticism away from religion and into the domain of morality itself [. . . ].« 105 Diese Deutung benennt durchaus Richtiges, unterschlägt aber, dass Stirner die Religionskritik für die Ethik keinesfalls einfach zur Seite legt, sondern umgekehrt seine Ethik als Ausweitung der Religionskritik versteht und dass diese auch weiterhin von religionsphilosophischen Denkfiguren geprägt bleibt. 106 Trotz der benannten Tendenz der Rezeption, Stirners radikale Religionskritik zwar herauszustellen, die religionsphilosophische Perspektive in der Interpretation dann aber zurücktreten zu lassen, gibt es einige wenige Ansätze, die ein spezifisch religionsphilosophisches Interesse erkennen lassen. Unter den anspruchsvolleren, umfangreicheren Interpretationen sind es deren drei, die mehr oder weniger stark Stirners Religionskritik in den Mittelpunkt ihrer Deutung stellen, und zwar die Ansätze Karl Löwiths, Robert Patersons und Wolfgang Eßbachs. 107 Diese drei trennt nicht nur die Zeit, sondern auch 103 104

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Geyer 2006, 265. Beiser 2011, 281. Punktuell wird allerdings auch eine Konvergenz Stirners zur christlichen Theologie gesehen; so verweist Elmar Klinger auf die positive Bezugnahme Stirners auf die jesuanische Ethik der »Empörung«, vgl. ders. 2006, 43 f und Saul Newman sieht Christen und Anarchisten in einem gemeinsamen Kampf gegen die Sakralisierung der Macht verbunden, vgl. ders. 2019a, 174 f. Beiser 2011, 291. S.u. Kapitel V; Kapitel VII. Kleinere Beiträge bieten Schulze 1958, Deschner 1977, in neuerer Zeit Klinger 2006, Schuhmann 2010, Hansel 2013 und Strandberg 2017. Ein gewisses religionsphilosophisches Interesse zeigt zudem Maier 2016. Hans-Martin Sass nimmt in seine materialreiche Rekonstruktion der nachhegelianischen Religionsphilosophie einen kurzen Abschnitt zu Stirner auf, vgl. Sass 1963, 143 ff. Die monographische Arbeit Jörg Ulrichs bietet eine Analyse der Kritik Stirners am von Ulrichs sogenannten »Kollektivismus« und greift dazu auf den von Eric Voegelin geprägten Begriff der »Politischen Religion« zurück, vgl. ders. 2002, dort

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Art und Umfang ihrer auf Stirner bezogenen Veröffentlichungen. So befasst sich Karl Löwith erstmals 1928 in seiner Habilitationsschrift mit Stirner, 108 wo er ihm nur einen kurzen Abschnitt widmet, ihm darin aber eine durchaus prominente Rolle innerhalb seiner dialogischen Theorie der menschlichen Existenz zuschreibt. 109 Nach 1928 befasst sich Löwith mit Stirner im Zusammenhang seiner Frage nach der Geschichte der deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert und zeigt dabei nun auch ein spezifisches Interesse an dessen Religionskritik, 110 ohne dass Stirner bei Löwith aber je alleiniger Gegenstand einer Publikation geworden wäre. Robert Paterson dagegen veröffentlicht 1971 eine monographische Gesamtinterpretation über Stirner unter dem Titel The nihilistic Egoist. 111 In dem Kapitel Total Atheism bietet Paterson eine pointierte Deutung der Religionskritik des Einzigen und stellt diese in einen Zusammenhang mit den apologetischen Versuchen der christlichen Theologie im 20. Jahrhundert. 112 Wolfgang Eßbach schließlich, der 1978 zum Verhältnis von Stirner und Marx promoviert 113 und sich 1985 mit einer Arbeit über den Junghegelianismus habilitiert hat, 114 hat sich im Rahmen seiner zweibändigen Religionssoziologie mit der Religionskritik der Junghegelianer befasst und darin wiederum der Position Stirners eine herausgehobene Stellung eingeräumt. 115 2017 hat Eßbach diese Deutung in einem speziell mit Stirners religionskritischer Position befassten Aufsatz noch einmal vertiefend reformuliert. 116 Die drei genannten Interpretationen werden für die Rekonstruktion der Religionskritik Stirners, die wir uns vorgenommen haben, dort Gesprächspartner sein, wo es der Gang der Untersuchung verlangt. Eine tiefergehende Auseinandersetzung widmen möchte ich als Einzigem unter ihnen der Position Karl Löwiths. Zum einen ist seine Position dunkler, als es die der beiden späteren sind, und bedarf daher einer eigenen Interpretation, zum anderen führt Löwith als Klassiker der Forschung zum Junghegelianismus zentrale Fragen und Beobachtungen ein, die für die Analyse der Religionskritik der Junghegelianer bis heute wegweisend sind und auch für diese Untersuchung wegweisend sein werden.

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vor allem 303 ff. Ein kurzer Abschnitt zu Stirner findet schließlich Aufnahme in Michael Weinrichs Geschichte der Religionskritik, vgl. ders. 2012, 121 f. Für einen Überblick über die Rezeption des stirnerschen Atheismus vgl. auch Laska 1996, 93 ff. Vgl. Löwith 1928. S.u. Kapitel II, Abschnitt 4. Vgl. Löwith 1933, 1950. Vgl. Paterson 1971. Vgl. ebd. 191 ff. Vgl. Eßbach 1978. Vgl. Eßbach 1988. Vgl. Eßbach 2014, 661 ff. Vgl. auch Eßbach 2010a. Vgl. Eßbach 2017.

Hegel-Studien

II. Der Verlust der Heimat Die Junghegelianer bei Karl Löwith

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arum ein eigenes Kapitel für Karl Löwith? Zum einen ist Löwith der Klassiker der Junghegelianerforschung. Seine große Studie Von Hegel zu Nietzsche von 1941 ist neben Friedrich Engels Ludwig Feuerbach und der Ausgang der Deutschen Philosophie von 1886 wahrscheinlich der Text, der die Rezeption und Deutung des Junghegelianismus bis in die Gegenwart am stärksten geprägt hat. 1 Löwiths große Wirkung allein macht ihn schon zu einem wichtigen Bezugspunkt für jeden neuen Deutungsversuch. Für unsere spezielle Fragestellung ist eine Auseinandersetzung mit Löwith aber noch aus einem zweiten Grund unverzichtbar: Innerhalb der Forschung zu Stirner ist Löwith einer der wenigen Interpreten, der dessen Religionskritik in den Mittelpunkt seiner Interpretation stellt. Ulrich Simon bemerkt dies, wenn er schreibt: »Bezeichnend für Löwiths Stirner-Bild ist die Tatsache, dass er dessen Stellung zur Religion als den wesentlichen Gesichtspunkt herausstellt.« 2 Dass Löwith die Bedeutung der Religionskritik für Stirner wie auch für die junghegelianische Bewegung hervorhebt, ist an sich nicht sehr innovativ, folgt Löwith damit doch der Grundrichtung, die Friedrich Engels in seinem Rückblick von 1886 vorgezeichnet hat. 3 Trotzdem ist erstaunlicherweise ein religionsphilosophisch interessierter Zugang, wie Löwith ihn bietet, in der Stirnerforschung bis heute immer noch sehr selten. Hinzu kommt, dass Löwith, anders als Engels, die zentrale Stellung der Religion für die Junghegelianer nicht nur markiert, sondern dieses Urteil mit einem komplexen religionsphilosophischen Ansatz verbindet. All dies macht Löwiths Ansatz zu dem forschungsgeschichtlich wichtigsten Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Stirners Religionsphilosophie, der darum hier in einem eigenen Kapitel wahrgenommen und gewürdigt werden soll. Ich möchte mich in diesem Kapitel zunächst dem Lebenswerk Löwiths nähern und dabei den Fokus auf eine biographisch motivierte Leitfrage lenken, die sein Werk durchzieht: die Frage nach der Möglichkeit des Nationalsozia-

1

2 3

Walter Jaeschke erkennt dies implizit an, nennt das Bild, das Löwith von der Philosophie nach Hegel zeichnet, allerdings eine »Karikatur«, vgl. Jaeschke 2016, 459. Simon 1982, 202, Groß- und Kleinschreibung angepasst. S.o. Kapitel I, Abschnitt 1.

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Der Verlust der Heimat. Die Junghegelianer bei Karl Löwith

lismus, die er ideengeschichtlich mit der Frage nach der Genese des von ihm sogenannten »Nihilismus« verknüpft (1). Anschließend möchte ich Löwiths Interpretation der Junghegelianer anhand von zwei Aspekten vorstellen. Der erste Aspekt verweist uns auf Hegels Religionsphilosophie, die Löwith als eine untrennbare Verbindung von »Rechtfertigung« und »Kritik« der christlichen Religion beschreibt. Die Junghegelianer setzen diese Ambivalenz nun in ihrer Religionskritik unwillentlich fort und erscheinen so letztlich als von eben derjenigen religiösen Existenzform bestimmt, welche sie zu bekämpfen glauben (2). Die Analyse dieser religiösen Existenz mithilfe des Begriffs der »Heimatlosigkeit« bildet den zweiten Aspekt in Löwiths Interpretation der junghegelianischen Philosophie, den ich untersuchen möchte. (3). Schließlich möchte ich die Frage in den Blick nehmen, welche Rolle innerhalb der Interpretation des Junghegelianismus, die Löwith anbietet, der Philosophie Max Stirners zugewiesen wird (4). 1. Die Genealogie des Nihilismus Ein wesentliches Datum in der philosophischen Biografie Karl Löwiths ist seine Konfrontation mit dem Nationalsozialismus. 4 Seit 1933 drohte Löwith als jüdischem Privatdozenten der Entzug der Lehrerlaubnis. 1934 ging Löwith in die Emigration, zuerst nach Italien, dann über Japan in die USA. Erst 1952 kehrte er nach Deutschland zurück, um einen Lehrstuhl in Heidelberg anzunehmen. Die Erfahrung des Exils war für Löwith dabei nicht nur eine biographische, sondern auch eine denkerische Herausforderung. Ähnlich wie Horkheimer und Adorno stellte sich Löwith im Exil die Frage nach der Möglichkeit des Nationalsozialismus. Und wiederum ähnlich wie seine Zeitgenossen stellte Löwith diese Frage nicht primär als eine im engen Sinne politische, sondern als philosophische Frage. Für Löwith war die Antwort untrennbar verbunden mit der Philosophie Martin Heideggers. »Er ist mein eigentlicher Lehrer geworden, dem ich meine geistige Entwicklung verdanke« 5 – dies schreibt Löwith, trotz allem späteren Widerspruch, in seinem autobiographischen Rückblick Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 über Heidegger. Löwith hatte sich 1928 bei Heidegger mit einer Arbeit habilitiert, die im selben Jahr unter dem Titel Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen erschien. Noch vor der Verstrickung Heideggers mit dem Nationalsozialismus entstanden, kann diese Schrift dennoch schon als fundamentaler Einspruch Löwiths gegen seinen Lehrer gelesen werden. Löwith 4 5

Zu Löwiths Biografie vgl. Ries 1992, 16 ff; vgl. auch Löwith 1986. Löwith 1986, 27.

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Die Genealogie des Nihilismus

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schreibt dort gegen Heidegger als den Autor von Sein und Zeit an und kritisiert die Vereinzelung des Selbst als Tendenz der modernen Philosophie seit Descartes. Demgegenüber sucht Löwith nach einer dialogischen Bestimmung der menschlichen Existenz. 6 War er somit schon früh auf Distanz zu seinem Lehrer gegangen, so wurde Heideggers Philosophie ab 1933 für Löwith zum Schlüssel für die Erklärung der deutschen Katstrophe. Nach Löwiths Interpretation war Heideggers Sympathie für die nationalsozialistische Bewegung keinesfalls eine biographische Zufälligkeit, die von seinem philosophischen Werk zu trennen ist, sondern entsprach dem Charakter seiner Philosophie und hat diesen zugleich offengelegt. Löwith schreibt: »Nicht Heidegger hat ›sich selbst missverstanden‹, als er für Hitler eintrat [. . . ] sondern diejenigen haben ihn nicht verstanden, die nicht begriffen, warum er dies tun konnte.« 7 In gewisser Weise kann Löwiths ganzes Werk als Auseinandersetzung mit Heidegger gelesen werden. 8 Dieter Henrich hat dies eindrücklich benannt, wenn er in einer Laudatio zu Löwiths 70sten Geburtstag bemerkt, dieser habe »keinen Schritt getan [. . . ] der nicht auch eine Kritik an Heidegger einschließt«. 9 Eine wesentliche Rolle in diesem lebenslangen intellektuellen Kampf spielt Löwiths frühe Schrift Der Europäische Nihilismus, die 1940 im japanischen Exil auf Japanisch erschienen ist, für das allerdings ein deutsches Originalmanuskript vorliegt. 10 Bei der Schrift handelt es sich um eine genealogische Rekonstruktion der »deutschen Revolution« des Nationalsozialismus. Dessen ideelle Charakteristik fasst Löwith hier über den Begriff des Nihilismus, den Löwith aus der philosophischen Entwicklung von Hegel über Marx und Kierkegaard zu Nietzsche herleitet, 11 der sich aber schließlich vor allem mit der Philosophie Heideggers verbindet. 12 In seiner Bedeutung bleibt der Begriff dabei allerdings einigermaßen dunkel. Der Nihilismus scheint hier und auch später in Löwiths Werk eher den Horizont einer fortgesetzten Suchbewegung zu beschreiben, als ein streng definierter, philosophischer Terminus zu sein. Mit der Suche nach der Genealogie des Nihilismus, die Löwith in diesem, dem ersten monographischen Werk seiner Exilzeit beginnt, scheint mir ein wichtiger Fixpunkt benannt zu sein, um den das Denken Löwiths und vor allem auch seine Interpretation der Junghegelianer kreist. Bevor ich mich dieser zuwende, möchte ich noch zwei weitere Aspekte hervorheben, die für diese 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Tidona 2013, 30 ff. Löwith 1986, 40. Vgl. Mehring 2013. Henrich 1967, 460. Vgl. Löwith 1940. Vgl. Löwith 1940, 500 ff. Vgl. Löwith 1940, 514 ff.

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Der Verlust der Heimat. Die Junghegelianer bei Karl Löwith

Suche insgesamt bestimmend sind: erstens das Verhältnis von Genealogie und Kritik und zweitens die Bedeutung, die Löwith dem Christentum für die Genese und Struktur des modernen Nihilismus zuschreibt. Beginnen wir mit der Frage nach dem Verhältnis von Genealogie und Kritik. Diese Frage verweist zunächst auf Löwiths eigene philosophische Praxis, und zwar auf seine Vorliebe für eine philosophiegeschichtliche, ideengeschichtliche Arbeitsweise. Seit seiner Habilitation hat Löwith kein größeres systematisch argumentierendes Werk mehr vorgelegt und sich stattdessen der Philosophiegeschichte gewidmet. Die historische Frage ist bei Löwith allerdings niemals nur ein Ausdruck von interessenlosem akademischem Forschungsdrang. In der Rekonstruktion des Geschehenen scheint bei Löwith stattdessen immer schon ein Moment der Kritik hindurch. 13 Dabei ist allerdings nicht ganz leicht zu bestimmen, worin dieses Moment genau besteht. Ein Lösungsversuch könnte sein, Löwiths philosophische Arbeit im Sinne des von Nietzsche vorgeprägten Konzeptes der »genealogischen Kritik« zu verstehen. 14 Bei einer genealogischen Kritik handelt es sich um eine Form der Kritik, bei welcher der Nachweis der Gewordenheit des untersuchten Gegenstandes eine kritische Kraft entfalten soll. Wann aber gelingt dies? Es gelingt offenbar immer dann, wenn der Gegenstand der Genealogie seinem Selbstverständnis nach seine eigene Gewordenheit nicht zu denken bereit bzw. diese nicht zu denken in der Lage ist. Diese sehr abstrakte Bestimmung lässt sich konkretisieren an Löwiths zweitem Hauptwerk, welches, zuerst in englischer Sprache veröffentlicht, 1953 unter dem Titel Weltgeschichte und Heilsgeschichte in Deutschland erschien. Dort untersucht Löwith in einer breitangelegten philosophiegeschichtlichen Studie die Genese der modernen Geschichtsphilosophie. Löwith nimmt dabei zwei »grundsätzliche Möglichkeiten des Geschichtsverständnisses« an: Zum einen die »antike«, vorchristliche Vorstellung von Geschichte als einer »zyklischen Bewegung«, zum anderen die »eschatologische Ausrichtung« des Christentums. 15 Letztere nun, und das ist Löwiths entscheidende These, sei in die neuzeitliche Geschichtsphilosophie eingegangen, sei durch diese in einem affirmativen Sinne »säkularisiert«. 16 Der Nachweis dieser Abhängigkeit des modernen Geschichtsverständnisses von einer christlichen Teleologie stellt die Arbeit seiner Studie dar. Worin aber liegt das Moment der Kritik? Offenbar darin, dass sich jede teleologische, perfektibilistische Geschichtsphilosophie gegen die Annahme einer radikalen Gewordenheit des Seienden sperren muss – und damit eben auch gegen die Annahme einer Gewordenheit ihrer selbst. Durch 13 14 15 16

Vgl. Anz 1971, 74 f. Zur »genealogischen Kritik« bei Nietzsche und Foucault vgl. Saar 2009. Vgl. Löwith 1953, 29 f. Vgl. ebd.

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Die Genealogie des Nihilismus

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den Nachweis von historischer Kontinuität des Denkens praktiziert und bewährt Löwith selbst dasjenige Denken, was er als das »zyklische« Geschichtsverständnis erkannt zu haben glaubt. 17 Gegen die Emphase des Neuen setzt Löwith darum eine philosophische Haltung, die Wiebrecht Ries als eine »literarische Kultur der Erinnerung« bezeichnet. 18 Löwiths ideengeschichtliche Rekonstruktionen wurden in ihrer konkreten Durchführung wohl mit Recht stark in Frage gestellt. 19 Allerdings, so muss man einwenden, scheint für das Projekt der genealogischen Kritik die Konkretion nur von eingeschränkter Bedeutung zu sein. Eine Schematisierung und Überzeichnung scheint bei dieser Form der Kritik sogar ein wiederkehrendes, konstitutives Moment zu sein. 20 Nicht die konkrete Erzählung, sondern eher das Plausibilisieren der Gewordenheit ihres Gegenstandes als solche scheint zu sein, was hier zur Debatte steht. Wie Jürgen Habermas herausstellt, ist das, was Löwith adressiert, der Gedanke von der radikalen Gewordenheit alles Weltlichen, von dem »ehernen Kreislauf der Natur«. 21 Dies führt zu einer fundamentalen Skepsis gegenüber allen Formen der Transzendenz des Vorfindlichen bzw. zu einer Skepsis gegenüber jeder »Hoffnung«, die für Löwith den Inbegriff des teleologischen Denkens darstellt. 22 Der Hinweis auf Weltgeschichte und Heilsgeschichte leitet über zu einem zweiten grundlegenden Aspekt der Philosophie Löwiths, der hier vorbereitend benannt werden soll, auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Christentum. 23 Ausgangspunkt für diese Frage ist eine Koinzidenz, auf die Löwith im Rahmen seiner philosophiegeschichtlichen Arbeit gestoßen zu sein scheint: Die Genese dessen, was Löwith als den »Europäischen Nihilismus« und seine Vorstufen auszumachen glaubt, 24 beginnt im frühen 19. Jahrhundert und fällt damit allem Anschein nach zeitlich zusammen mit dem Erwachen und Erstarken der Kritik an der christlichen Religion. Erwartbar wäre nun vielleicht der Schluss, den philosophischen Nihilismus aus der Abkehr von den Gewissheiten des Christentums abzuleiten. Löwiths Position ist aber deutlich komplexer und in gewisser Hinsicht sogar genau gegensätzlich zu diesem einfachen apologetischen Muster. Wie ich im Folgenden zeigen werde, handelt es sich bei der Entstehung des modernen Nihilismus nach Löwith zwar einerseits um einen Bruch mit dem Christentum, andererseits aber auch um eine 17 18 19 20 21 22 23 24

Vgl. Löwith 1953, 221 f. Vgl. Ries 1992, 7. Vgl. Jaeschke 1976. Vgl. Saar 2009, 254 Vgl. Habermas 1987, 196. Vgl. Löwith 1953, 218 f. Zur Bedeutung dieser Frage für Löwiths Philosophie vgl. Ries 1992, 49 ff. Vgl. nochmals Löwith 1940, 500 ff.

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Aufnahme und Verschärfung eines der zentralen Merkmale der christlichen Existenz: der Denaturierung des Menschen und der Heimatlosigkeit des Menschen im Kosmos. Diese Gleichzeitigkeit von Ablehnung und Aneignung der christlichen Überlieferung ist es, die sich als bestimmend erweisen wird für Löwiths Deutung der Philosophie des Junghegelianismus im Allgemeinen und der Philosophie Stirners im Besonderen. 2. Rechtfertigung und Kritik 1941 veröffentlicht Löwith Von Hegel zu Nietzsche, 1950 erscheint eine zweite überarbeitete Auflage, die im Folgenden der Analyse zu Grunde liegen soll. 25 Mit dieser Schrift kommt Löwith in seinem Fragen nach der Genealogie des Nihilismus zu einem ersten vorläufigen Endpunkt. Es ist die »tödliche Konsequenz in der philosophischen Entwicklung nach Hegel«, 26 welche für Löwith den Ausgangspunkt der geistesgeschichtlichen Rückfrage bildet. Damit schließt Von Hegel zu Nietzsche eng an die Konzeption des vorangegangenen Europäischen Nihilismus von 1940 an. 27 Leo Strauß hat in seiner Rezension zu Von Hegel zu Nietzsche diese Verbindung erkannt und hervorgehoben, wenn er schreibt, das Thema der Studie »may be said to be the transformation of European humanism, as exemplified by Goethe and Hegel, into German nihilism.« 28 Neben dem Europäischen Nihilismus gab es zu Von Hegel zu Nietzsche noch eine zweite frühere Vorarbeit Löwiths, die Erwähnung verdient. Diese zweite Vorarbeit ist der Aufsatz Die philosophische Kritik der christlichen Religion im 19. Jahrhundert von 1933. 29 In diesem Aufsatz steckt Löwith erstmals den geistesgeschichtlichen Rahmen ab, den er in der späteren Untersuchung weiter ausloten wird. Schon 1933 beginnt Löwith mit Hegel und endet mit Nietzsche bzw. mit einem nachklappenden Abschnitt zu Franz Overbeck. Der Aufsatz von 1933 ist als Schlusskapitel fast wörtlich in Von Hegel zu Nietzsche eingegangen und gewinnt für die dort entwickelte Deutung eine tragende Funktion. 30 Was ist nun die Geschichte, die Löwith in Von Hegel zu Nietzsche erzählt? Eine erste Antwort gibt der Untertitel, den Löwith für seine Studie wählt: Es ist ein »revolutionärer Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«, der hier geschildert wird. Die Metapher des »Bruches« verweist auf ein entscheidendes, vielleicht das entscheidende Moment in Löwiths Darstellung. Im Vorwort spricht 25 26 27 28 29 30

Vgl. Löwith 1950. Löwith 1950, 3. Vgl. Ries 1992, 63. Strauß 1941, 512 f. Vgl. Löwith 1933. Vgl. Löwith 1950, 409 ff.

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Löwith auch von einem »Wendepunkt« 31 innerhalb der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts, der auf der Wegstrecke zwischen Hegel und Nietzsche eingetreten ist. Was aber ist dieser »Bruch« bzw. dieser »Wendepunkt«, den Löwith zu erkennen glaubt? Eine wichtige Bedeutung für die Antwort auf diese Frage spielen bei Löwith die Junghegelianer. Im Gegensatz zur »Bewahrung der Hegelschen Philosophie« durch die »Althegelianer« 32 spricht Löwith von ihrem »Umsturz« durch die »Junghegelianer«. 33 In der Geschichte, die Löwith erzählt, scheinen die Junghegelianer somit eine wichtige Scharnierfunktion zu haben. Zwischen ihnen und ihrem Lehrer schein der »Bruch« geschehen zu sein, der für Löwiths Studie titelgebend geworden ist. Aber worin, so muss man jetzt weiter fragen, besteht inhaltlich der »Bruch« bzw. der »Umsturz«, der mit der Philosophie der Junghegelianer verbunden ist? Diese Frage verweist nach Löwith auf die Religionsphilosophie. »Dem Inhalt nach«, schreibt Löwith, »bezog sich der methodische Umsturz der hegelschen Philosophie zunächst auf ihren Charakter als einer philosophischen Theologie«. 34 Der »Bruch« ist also der Umsturz der hegelschen Religionsphilosophie. Er ist damit aber zugleich und in einem weiteren Sinne ein »Bruch zwischen Philosophie und Christentum«, dem gegenüber Hegel als der »letzte christliche Philosoph« erscheint. 35 Die Folge dieses Bruches erstreckt sich dabei nicht nur auf die Philosophie, sondern wirkt sich umfassend aus auf die Genese dessen, was Löwith als das moderne europäische Bewusstsein in den Blick nimmt. Löwith schreibt: »Der Schwund des Christentums in der europäischen Welt ist aber nicht zuletzt ein Werk der Kritik, die im letzten Jahrhundert ihre äußersten Konsequenzen zog.« 36 Indem Löwith den Zugang zur Philosophie der Junghegelianer über ihre Religionskritik nimmt, knüpft er an die Deutung an, die wir bei Friedrich Engels kennengelernt haben. 37 Aber noch in einem weiteren Punkt stimmt er Engels zu, und zwar in der Beobachtung von der Ambivalenz der hegelschen Philosophie, welche nach Löwith sowohl die konservative Deutung der Althegelianer als auch die progressive Deutung der Junghegelianer und damit gerade auch deren Religionskritik antizipiert und ermöglicht. Liest man Löwiths große Studie von 1941/1950, so kann streckenweise der Eindruck entstehen, als würde Hegel hier einseitig als der »letzte christliche Philosoph« portraitiert. Aber dieser Eindruck täuscht. Nach vorbereitenden Überlegungen in der 31 32 33 34 35 36 37

Löwith 1950, 4. Löwith 1950, 70. Löwith 1950, 87. Löwith 1950, 93. Löwith 1950, 67. Löwith 1950, 409. S.o. Kapitel I, Abschnitt 1.

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Kritik der christlichen Religion 38 entwickelt Löwith in Von Hegel zu Nietzsche die These von einer »Zweideutigkeit« der hegelschen Religionsphilosophie. 39 Diese These, die in den früheren Texten eher noch angedeutet ist, wird von Löwith später in einem »klassischen Aufsatz« (Rohls) 40 von 1962 aufgegriffen und wirkmächtig ausgeführt, in Hegels Aufhebung der Christlichen Religion. 41 Dort fasst Löwith seine These mit folgenden Worten zusammen: Hegels Verhältnis zur christlichen Religion und Theologie ist von Anfang an wesentlich zweideutig. Es besteht in einer philosophischen Rechtfertigung der Religion durch die Kritik ihrer religiösen Vorstellungsform, oder mit dem doppeldeutigen Grundbegriff der Hegelschen Philosophie gesagt: in der »Aufhebung« der Religion in die Philosophie. 42

Der erste, wichtige Begriff in dieser kurzen Passage ist der Begriff der Zweideutigkeit. Was verbirgt sich hinter dieser Formel? Auf den ersten Blick denken wir bei Zweideutigkeit wohl an eine Dunkelheit, eine Unklarheit des Ausdrucks, die eine eindeutige Interpretation unmöglich macht. In diesem Sinne wurde Löwiths These von der Zweideutigkeit dann auch häufig verstanden. So kritisiert Carl Schweitzer, Löwith gebrauche die Wendung mindestens im Sinne einer unbeabsichtigten Unklarheit der hegelschen Philosophie – eher noch aber scheint Löwith zu unterstellen, dass Hegel nicht sage, was er eigentlich meine, er also bewusst unklar bliebe. 43 In ähnlicher Weise hat Walter Jaeschke den Begriff der Zweideutigkeit verstanden, wenn er – offensichtlich gegen Löwith gerichtet – schreibt, Hegels Religionsphilosophie sei zwar »zweischneidig«, in dieser »Zweischneidigkeit« aber keinesfalls »zweideutig«. 44 Beide Einwände bringen ein ähnliches Argument ins Spiel. Tatsächlich hat Löwith durch seine Darstellung einer Spaltung der hegelschen Schule die Interpretation befördert, seine These von der Zweideutigkeit der Religionsphilosophie Hegels meine eine Zweideutigkeit im Sinne eines Vexierbildes, das man entweder so oder so verstehen kann, das heißt konkret entweder im Sinne einer Rechtfertigung oder im Sinne einer Kritik der Religion. In diese Richtung weist dann auch deutlich, wenn Löwith in Von Hegel zu Nietzsche schreibt, Hegel sei »konservativ oder revolutionär auslegbar« und eine doppelte »Vereinseitigung« habe die Spaltung der Schule ermöglicht. 45 38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Löwith 1933, 97 f. Vgl. Löwith 1950, 91 f. Rohls 2006, 17. Vgl. Löwith 1962. Löwith 1962, 118. Vgl. Schweitzer 1963, 251. Vgl. Jaeschke 2016, 436. Vgl. Löwith 1950, 92.

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Auch wenn Löwith es hier und an vielen anderen Stellen nahelegt, die Zweideutigkeit in diesem, man könnte sagen: hermeneutischen Sinn zu verstehen, so gibt es, wie ich denke, noch eine zweite, tiefere Lesart. Nach dieser zweiten Lesart meint Zweideutigkeit nicht eine bloße hermeneutische Mehrdeutigkeit im Sinne einer Deutungsoffenheit oder einer schlichten Unklarheit, sondern vielmehr ein untrennbares Ineinander zweier Momente. Diese Lesart kann ausgehen von der oben zitierten Passage aus dem Aufsatz von 1962. Dort spricht Löwith von einer Rechtfertigung durch Kritik und somit erscheinen Rechtfertigung und Kritik nicht erst als zwei alternative Verstehensweisen, sondern vielmehr als zwei untrennbare Momente der hegelschen Religionsphilosophie. Demnach gelte bei Hegel: Rechtfertigung der Religion ist Kritik – und umgekehrt. Was auf den ersten Blick als hermeneutische Zweideutigkeit erscheint, ergäbe sich dann höchstens als ein Missverständnis einer sachlichen Zweideutigkeit. Worin aber würde die benannte sachliche Zweideutigkeit bestehen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich noch ein weiteres Mal auf die oben zitierte Passage zurückkommen. Dort schreibt Löwith, die »kritische« Seite der hegelschen Religionsphilosophie beziehe sich auf die »religiöse Vorstellungsform«. 46 Was ist damit gemeint? Löwith verweist hier auf eine Figur aus Hegels Religionsphilosophie, der zufolge Religion und Philosophie zwar denselben »Inhalt« hätten, aber nicht dieselbe »Form«. 47 Sähe man davon ab, wie der gemeinsame »Inhalt« genauer zu bestimmen wäre, so wäre aber die »Form« der Religion die »Vorstellung«, die »Form« der Philosophie der »Begriff«. Die Bewegung von der Religion zur Philosophie bestünde nun darin, den »Inhalt« der Religion zu übernehmen, ihre »Form« aber zu überwinden. Damit sei die Religion in die Philosophie »aufgehoben«. Diese »Aufhebung« vereine damit sachlich ein Moment von »Rechtfertigung« und ein Moment von »Kritik«. Löwith schreibt: Die Absicht von Hegels Religionsphilosophie ist nicht, der Religion und Theologie auch noch eine zusätzliche philosophische Bildung zu geben, sondern die religiösen »Vorstellungen« durch philosophische Begriffe zu ersetzen und sie damit als religiöse überflüssig zu machen und insofern »aufzuheben«. 48

Die zentrale Bedeutung der Kategorien von Form und Inhalt für Hegels Religionsphilosophie wurde bereits früh hervorgehoben. David Friedrich Strauß verwies auf diese Konstellation und gebrauchte für Hegels »Aufhebung« auch schon den Begriff der »Zweideutigkeit«, den Löwith prominent aufnimmt. 49 46 47 48 49

Vgl. nochmals Löwith 1962, 118. Vgl. hierzu auch Wagner 1976. Löwith 1962, 119. Vgl. Strauß 1838, 51.

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Die Angemessenheit von Löwiths Gebrauch der genannten Kategorien wurde dann wiederum häufig in Frage gestellt. 50 Dieser Frage nachzugehen, würde eine quellengestützte Auseinandersetzung mit Hegels Religionsphilosophie erforderlich machen, festzuhalten scheint mir aber, dass Rechtfertigung und Kritik in Löwiths Interpretation von 1962 weniger zwei alternative Deutungsmöglichkeiten der hegelschen Religionsphilosophie, sondern mehr zwei ihr eingeschriebene Momente darstellen. Und diese Interpretation ist, wie ich meine, im Wesentlichen auch für Löwiths Deutung der junghegelianischen Religionskritik bestimmend. Um diese in den Blick zu nehmen, komme ich nun zurück auf Von Hegel zu Nietzsche, besonders zu dessen Schlusskapitel über das »Problem der Christlichkeit«. Dort schreibt Löwith in Anspielung auf den Titel seiner Studie: »Die philosophische Kritik der christlichen Religion hat im 19. Jahrhundert von Hegel ihren Ausgang genommen und in Nietzsche ein Ende gefunden« 51 Die Rede vom »Ausgang« der Religionskritik von Hegel ist, wie wir gesehen haben, ambivalent. Hegel erscheint bei Löwith einerseits als der letzte christliche Philosoph, zugleich ist er es selbst, der die Kritik ermöglicht hat. 52 Gerade die »Zweideutigkeit« seiner Religionsphilosophie habe die »Destruktion« der christlichen Religion durch die Junghegelianer hervorgebracht. 53 Fragt man nun, wie genau Löwith die Anknüpfung der Junghegelianer an Hegel denkt, ergeben sich meines Erachtens zwei Antwortmöglichkeiten. Die eine Antwortmöglichkeit ginge davon aus, dass die Junghegelianer die Zweideutigkeit Hegels in eine Eindeutigkeit überführt hätten, indem sie einseitig das Moment der Kritik aufgenommen hätten. Diese Interpretation, die ein hermeneutisches Verständnis der Zweideutigkeit voraussetzt, kann anknüpfen an Löwiths Formulierung, eine »Vereinseitigung« der hegelschen Philosophie habe zu der Schulspaltung in Rechts- und Linkshegelianer bzw. Alt- und Junghegelianer geführt. 54 Gegen diese Interpretation steht allerdings unsere Beobachtung, dass die Momente von Rechtfertigung und Kritik in Hegels Religionsphilosophie als zwei Momente einer Bewegung untrennbar verbunden sind und die Zweideutigkeit nicht als eine hermeneutische, sondern als eine sachliche Zweideutigkeit verstanden werden muss. Wie aber passt die Annahme einer sachlichen Zweideutigkeit zu Löwiths Rede von der »Vereinseitigung« der Philosophie Hegels 50

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Vgl. Schweitzer 1963; Wagner 1976; vgl. auch Rohls 2006, 17 f; für einen neuen Reformulierungsversuch der Figur von »Formdifferenz« und »Inhaltsidentität« in Hegels Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie vgl. Mooren 2018. Löwith 1950, 409. Gerd-Günther Grau schreibt Löwith das »Verdienst« zu, auf die Herkunft der junghegelianischen Religionskritik aus Hegels Religionsphilosophie hinzuweisen, vgl. Grau 1958, 58. Vgl. Löwith 1950, 415 f. Vgl. nochmals Löwith 1950, 92.

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durch die Junghegelianer? Um eine Antwort zu finden, möchte ich für die These argumentieren, dass nach Löwith die Junghegelianer zwar versuchen, Hegels Religionsphilosophie zu vereinseitigen, dabei aber unwillentlich deren Zweideutigkeit reproduzieren und fortschreiben. Tatsächlich durchzieht das Muster von der gescheiterten oder gehemmten Religionskritik Löwiths Darstellung der Entwürfe von Strauß bis Nietzsche. Immer wieder greift Löwith darin die Vorwürfe der Zeitgenossen auf, der jeweilige Autor sei »noch religiös« 55 – wobei Löwith sein eigenes Urteil zu diesen Vorwürfen allerdings offenlässt. Am Ende der Erzählung, die ihn von Hegel zu Nietzsche führt, spricht er dann aber ein eigenes Urteil aus, wenn er schreibt, dass noch Nietzsche dem Christentum »wenig entwachsen« war. 56 Die benannten Bemerkungen über das Scheitern der Religionskritik an sich selbst kommen in Von Hegel zu Nietzsche mehr beiläufig daher, haben aber für Löwiths Verständnis der modernen Religionskritik eine integrale Bedeutung. Dies wird besonders deutlich aus Löwiths spätem Vortrag Der Atheismus als philosophisches Problem. Dort bemerkt Löwith: [E]s lässt sich in der ganzen Geschichte der neueren Philosophie nie eindeutig feststellen, ob ihre philosophische Aneignung der christlichen Überlieferung ein Angriff oder eine Verteidigung ist, denn sie ist immer beides: eine Rechtfertigung der christlichen Überlieferung in der Form ihrer Kritik. 57

Löwith diagnostiziert hier nicht nur Hegel, sondern der gesamten »neueren Philosophie« eine sachliche Zweideutigkeit in ihrer Beziehung zur christlichen Religion. Diese Diagnose geht einerseits auf seine philosophiegeschichtlichen Beobachtungen zurück, andererseits verbirgt sich dahinter aber auch eine These über die allgemeinen Strukturen der Religionskritik. Jede Form der Religionskritik, welche auf die Inhalte der Religion verneinend Bezug nimmt, tut dies, indem sie diese Inhalte zugleich interpretieren muss. In dem sie das tut, ist sie aber zwangsläufig immer auch zugleich eine Form der interpretativen Aneignung und damit eine – wenn auch bedingte – Bejahung des Kritisierten. Somit hat nach Löwith der Atheismus als eine solche inhaltliche Religionskritik überall die Doppelstruktur von einem verneinenden und einem bejahenden Moment, von Rechtfertigung und Kritik. Diese Interpretation wird auch gestützt durch Löwiths Beobachtungen zur Religionsphilosophie Franz Overbecks, welche in Von Hegel zu Nietzsche den Abschluss bildet. Overbeck, so Löwith, habe den Atheismus Nietzsches überwunden und sei zu einem Verhältnis zum Christentum durchgestoßen, das sich durch eine Haltung der »Un55 56 57

Vgl. nur zu Feuerbach Löwith 1950, 425; zu Bauer Löwith 1950, 436. Vgl. Löwith 1950, 465. Löwith 1967, 332.

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entschiedenheit« auszeichnet. 58 Erst dadurch, so scheint es, sei Overbeck dem Bann des Christentums entkommen, in dem Nietzsche noch gestanden habe. Der »Skeptizismus« Overbecks 59 scheint damit für Löwith zu einem Vorbild für sein eigenes, skeptisches Verhältnis zum Christentum geworden zu sein. 60 Löwiths Konzeption von Rechtfertigung und Kritik entstammt zunächst seiner Interpretation der hegelschen Religionsphilosophie, hat allerdings deutlich größere Reichweite. Ich habe versucht zu zeigen, dass man von ihr her Löwiths Urteil über das Scheitern der junghegelianischen Religionskritik verstehen kann. Die Junghegelianer verstehen die Zweideutigkeit der hegelschen Religionskritik als eine hermeneutische und versuchen diese durch Betonung der kritischen Seite zu vereindeutigen. Dabei aber übersehen sie, dass die Zweideutigkeit eine sachliche Zweideutigkeit ist. Durch dieses Missverständnis reproduzieren sie unwillentlich die Doppelstruktur von Rechtfertigung und Kritik, die in Hegels Religionsphilosophie angelegt ist. Diese Rekonstruktion der Perspektive Löwiths auf die junghegelianische Religionskritik verweist nun auf die weiterführende Frage, inwiefern das der junghegelianischen Religionskritik formal eingeschriebene Moment der Rechtfertigung auch inhaltlich mit einer Aufnahme von christlichen oder religiösen Gehalten korrespondiert. Diese Frage leitet über zu einem weiteren, zentralen Begriff in Löwiths Deutung der philosophischen Aufbrüche am Beginn des 19. Jahrhunderts, zu dem Begriff der »Heimatlosigkeit«. 3. Heimatlosigkeit In der zitierten Passage aus Der Atheismus als philosophisches Problem wurde eine Wendung gebraucht, die für Löwith sehr typisch ist, und zwar die Rede von der »christlichen Überlieferung«. Diese Formulierung verweist auf eine Verflüssigung des Begriffs des Christentums, die Löwith vornimmt, und deutet an, dass Löwith nicht einen mehr oder weniger streng umgrenzbaren dogmatischen Bestand im Blick hat, sondern einen offenen geschichtlichen Wirkungszusammenhang. 61 Was aber ist der Kern oder das Wesen dieses Wirkungszusammenhangs? Eine Antwort finden wir in der späten Abhandlung Schöpfung und Existenz von 1956. 62 Dort analysiert Löwith die »christliche« Philosophie in Hinblick auf die in ihr transportierte »Stellung zur eigenen Existenz« und grenzt sie dabei sowohl von der vorangegangenen »griechischen« Philosophie als auch von der »nach58 59 60 61 62

Vgl. Löwith 1950, 483. Vgl. Löwith 1950, 485. Vgl. Ries 1992, 53. Vgl. Timm 1977, 79. Vgl. Löwith 1956. Vgl. dazu auch Ries 1992, 58 f.

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christlichen« Philosophie ab. Die drei Verständnisse der menschlichen Existenz unterscheiden sich wesentlich in Hinblick darauf, wie sie das Verhältnis des Menschen zur Welt, genauer zur »Natur«, bestimmen. Während die »griechische« Philosophie nach Löwith die Welt als »physis«, d. h. als »von Natur aus« gegeben und geordnet, begreift, wird die Welt in der »christlichen« Philosophie durch die Lehre von der Schöpfung der Welt »denaturiert«. 63 Die Welt und der Mensch verweisen nun auf einen äußeren »Sinn«, eine »schöpferische Absicht« bzw. ein »Ziel«. 64 Damit aber verlieren sie zugleich ihre Selbstverständlichkeit, die Eigenschaft, »von Natur aus« zu sein, was sie sind. In der »nachchristlichen« Philosophie dann fällt die christliche Überzeugung von einem durch Gott gegebenen Sinn der Welt nach und nach fort. Übrig bleibt schließlich der Gedanke und das Gefühl der »radikalen Zufälligkeit« und Kontingenz, das für den modernen Existenzialismus grundlegend geworden ist. 65 Entscheidend für Löwiths Analyse ist nun die These, dass die nachchristliche Philosophie, die Löwith hier im Wesentlichen mit der Existenzphilosophie in eins setzt, sich zwar von der »christlichen Überlieferung« lossagt, aber in spezifischer Weise auf sie bezogen bleibt. Heidegger, so Löwith, denkt »innerhalb der christlichen Überlieferung gegen sie«, 66 Entsprechendes gelte für JeanPaul Sartre. 67 Wodurch aber bleibt nach Löwith die Existenzphilosophie in der christlichen Überlieferung verhaftet? Man könnte es auf folgende knappe Formel bringen: Die nachchristliche Philosophie übernimmt zwar die christliche Frage, aber nicht die christliche Antwort. Die christliche Frage ist nach Löwith die »Seinsfrage« bzw. die Frage nach dem »Was-Sein« der Welt. 68 Mit dieser Frage verweisen sowohl die christliche als auch die nachchristliche Philosophie auf einen äußeren Sinn und bestreiten, dass die Welt ihren Sinn in sich selbst trage. Um das Verhältnis zwischen christlicher und nachchristlicher Philosophie, wie Löwith es zeichnet, weiter zu verstehen, müssen wir uns einem weiteren Begriff zuwenden, den Löwith prominent gebraucht, dem Begriff der »Heimatlosigkeit«. Der Begriff wurde in den 1930er Jahren im Kontext der Kritik der Existenzphilosophie geprägt, 69 wo Löwith ihn aufgegriffen zu haben scheint. In Schöpfung und Existenz führt er ihn zur Kennzeichnung der Existenz des modernen, von der nachchristlichen Philosophie geprägten Menschen ein. 70 63 64 65 66 67 68 69 70

Vgl. Löwith 1956, 256 f. Vgl. Löwith 1956, 257. Vgl. Löwith 1956, 265 f. Löwith 1956, 268. Vgl. Löwith 1956, 268 ff. Vgl. Löwith 1956, 272 f. Vgl. Großheim 2007, 67 f. Vgl. Löwith 1956, 264.

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Die »Heimatlosigkeit« eignet dort nach Löwith ausdrücklich nicht schon der christlichen, sondern erst der nachchristlichen Existenz. Dennoch scheint sie in einer spezifischen Weise auf die christliche Überlieferung bezogen zu sein. Durch die christliche »Denaturierung« der Welt verliert die Welt ihren immanenten »Sinn« und wird zugleich auch ihrer immanenten »Ordnung« beraubt. Auch der Mensch droht damit aus dem Zusammenhang der Welt herauszufallen und somit heimatlos zu werden. Dass der christliche Mensch in der Welt dennoch nicht heimatlos wird, ist darin begründet, dass der verlorene immanente Sinn durch einen transzendenten Sinn und die immanente Ordnung durch eine Schöpfungsordnung ersetzt werden kann und der Mensch somit seine verlorene Heimat gleichsam im selben Moment von Gott zurückgegeben bekommt. 71 Da dieser transzendente Sinn in der nachchristlichen Philosophie entfällt, wird die latente Heimatlosigkeit des Christentums nun manifest: Dem Menschen wird die Welt mehr und mehr zu einem fremden Ort. In dem hier skizzierten Sinn gebraucht Löwith den Begriff der Heimatlosigkeit nun bereits in Von Hegel zu Nietzsche und charakterisiert dort mit ihm die Philosophie der Junghegelianer. Löwith schreibt: Während Goethe und Hegel in der gemeinsamen Abwehr des »Transzendieren« noch eine Welt zu gründen vermochten, worin der Mensch bei sich sein kann, haben schon ihre nächsten Schüler sich nicht mehr in ihr zu Hause gefunden und das Gleichgewicht ihrer Meister als das Produkt einer bloßen Harmonisierung verkannt. 72

In dieser Passage beschreibt Löwith, wie ein Moment der »Heimatlosigkeit« durch einen Bruch mit Goethe und Hegel in die Philosophie eingewandert ist. Dies geschieht hier durch eine Bewegung, die Löwith als ein »Transzendieren« beschreibt. Was Löwith hier in den Blick nimmt, kann meines Erachtens von seiner späteren Analyse der modernen Existenz her erschlossen werden. Die Rede vom Transzendieren, welche Goethe und Hegel abgewehrt hätten, meint dann die Suche nach einem Sinn der Welt außerhalb der Welt, welche die Welt im gleichen Zug ihres eingeschriebenen Sinnes beraubt. Zu dieser Bewegung scheinen die Junghegelianer aber nun nach Löwith zurückgekehrt zu sein. Damit erhalten sie aber ein Moment der christlichen Überlieferung, die sie eigentlich zu überwinden hofften. Interessant ist nun, welche Rolle Hegel in dieser Entwicklung einnimmt. In der zitierten Passage stehen Hegel und Goethe nebeneinander in einer gemeinsamen »Abwehr des Transzendierens«. Damit erscheint es, als wollte Löwith beide gegenüber der späteren Entwicklung noch einmal als Vertreter 71 72

Vgl. Löwith 1956, 256 f. Löwith 1950, 44 f.

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einer vorchristlichen Konzeption der Existenz portraitieren. Dies mag Löwith in Bezug auf Goethe wohl tatsächlich angenommen haben, in Hinblick auf Hegel müssen wir diese Aussage relativieren. Denn Hegels Bezug zur Welt war nach Löwith schon eine gebrochene. Während in Goethes Naturphilosophie die Beheimatung des Menschen in der Welt eine je gegebene erschien, blieb sie für Hegel ein Ziel und eine Aufgabe. So schreibt Löwith an anderer Stelle, Hegel habe sich in der Welt »eingehaust« und darin eine bei ihm vorangegangene Erfahrung einer »Entzweiung« mit der Welt überwunden. 73 Die »Abwehr des Transzendierens« wäre darum nach Löwith bei Goethe und Hegel sehr unterschiedlich gefasst: Während Goethe gleichsam vor dem Transzendieren stehengeblieben und ihm die Welt nie fremd geworden sei, fände Hegel die Beheimatung nach dem Transzendieren in einer dialektischen Wiederaneignung der fremd gewordenen Welt. Hierin wiederum gibt Hegel dem Transzendieren dann doch einen Ort in seinem System, worin er den erneuten Verlust der Heimat durch seine Schüler antizipiert hat. Ich habe gezeigt, dass Löwith die junghegelianische Religionskritik als gescheiterte Religionskritik begreift, und bin dann der Frage nachgegangen, wie dieses Scheitern inhaltlich näher zu bestimmen ist. Die skizzierte Analyse der modernen Existenz als einer heimatlosen kann auf eine mögliche Antwort hindeuten: Nach diesem Antwortversuch hätten die Junghegelianer den Theismus und damit die Antwort des Christentums überwunden, aber die Frage des Christentums, die Frage nach dem Sinn der Welt als einem von der (gegenwärtigen) Welt verschiedenen, hätten sie beibehalten. Das leitende Symptom dieser fortbestehenden Fraglichkeit wäre das Gefühl der Fremdheit in der Welt bzw. das Gefühl der »Heimatlosigkeit«. Solange dieses Gefühl bestünde, sei die Philosophie, noch in ihrer schärfsten Religionskritik, im Bann der christlichen Überlieferung gefangen. Deutlich ist dabei zu spüren, wie Löwith dieses Scheitern bewertet. Löwith sympathisiert selbst mit dem Standpunkt, den er der griechischen Philosophie zuschreibt. 74 Für Löwith ist die Natur ein geschlossenes Ganzes, ein geordneter Kosmos und der Mensch ist vollständig Teil dieser Ordnung, ist in ihr beheimatet. Die Heimatlosigkeit der Junghegelianer und der Existenzphilosophie ist darum nach Löwith eine nur eingebildete. Eine direkte Kritik dieser Position enthalten Löwiths Schriften zwar kaum. Eben diese Enthaltung scheint aber der ihm eigenen Konzeption der Kritik adäquat zu sein: Während die Junghegelianer die theologischen Antworten des Christentums kritisieren und dabei zugleich seine Frage rechtfertigen, verzichtet Löwith auf eine solche Auseinandersetzung mit den christlichen Antworten. Seine genealogische Kritik 73 74

Vgl. Löwith 1950, 221 f. Vgl. auch Timm 1977, 82 ff.

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verhält sich gegenüber den Inhalten des Christentums skeptisch, enthält sich eines Urteils und dekonstruiert stattdessen christliches wie nachchristliches Transzendieren, indem er durch seine historische Spurensuche dessen radikale Gewordenheit nachzuweisen versucht. 4. Karl Löwith und Max Stirner Bis hierhin habe ich Löwith mit seiner Interpretation der Religionsphilosophie der Junghegelianer zu Wort kommen lassen. Das wichtigste Moment dieser Interpretation war die unfreiwillige Übernahme der christlichen Überlieferung durch die Junghegelianer im Moment der Heimatlosigkeit und das damit verbundene Scheitern der junghegelianischen Religionskritik. Im nun folgenden Abschnitt möchte ich genauer in den Blick nehmen, welche Rolle Max Stirner in dieser Konzeption zugewiesen wird. Löwith hat, wie schon beschrieben, keine gesonderte Publikation zu Stirner vorgelegt. Unter den vielen Publikationen Löwiths sind es sogar nur deren drei, in denen Stirner überhaupt ein konzentrierterer Blick gewidmet wird, und zwar die Monografien Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen und Von Hegel zu Nietzsche sowie der Aufsatz über die Kritik der christlichen Religion, der aber, wie schon erwähnt, in ganz wesentlicher Entsprechung in das Schlusskapitel zu Von Hegel zu Nietzsche aufgenommen worden ist. Diese schmale Textbasis lässt es zunächst fraglich erscheinen, ob Löwith überhaupt als profilierter Interpret Stirners gelten kann. Wenn Jan Schenkenberg Stirner – neben Bauer und Overbeck – sogar einen »lebenslangen Bezugspunkt« Löwiths nennt, 75 scheint dieses Urteil etwas zu weitreichend: Stirner nimmt in Löwiths Werk letztlich eine Randstellung ein. Dennoch ist die Wahrnehmung seiner Interpretation für eine Beschäftigung mit Stirner, besonders für eine Beschäftigung mit dessen Religionskritik, unerlässlich. Durch seine intensive Kenntnis der Philosophie nach Hegel gelingt es Löwith, wie ich meine, ein entscheidendes Moment in Stirners Religionskritik sensibel aufzudecken. Beginnen möchte ich mit Löwiths Stirnerrezeption in Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, in der durch Heidegger betreuten Habilitationsschrift Löwiths. 76 Löwith bietet hier – nach eigener Angabe – eine »phänomenologische Strukturanalyse des Miteinanderseins«. 77 Grundlegende Figur in dieser Analyse ist die Unterscheidung von »Individuum« und »Person«. 78 75 76 77 78

Schenkenberger 2018, 106. Vgl. Löwith 1928. Vgl. Löwith 1928, 16. Vgl. Ries 1992, 26.

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Löwith zeigt, dass mir der je Andere niemals unmittelbar als »Individuum«, sondern nur sprachlich vermittelt als »Person« begegnen kann. 79 Die Person aber ist nicht etwas dem Individuum gegenüber rein Äußerliches, sondern ein Moment seiner selbst. Löwith schreibt: »Jedes Zusammensein des einen mit einem anderen ver-ändert [sic] schon den einen und anderen, macht einen selbst »zu einem anderen«, als man es rein für sich, für seine Person, wäre.« 80 Diese These ist nun erkennbar gegen Heidegger gerichtet. 81 Explizit schreibt Löwith, Heideggers Konzeption der menschlichen Existenz sei ungenügend, denn sie »übergehe das Miteinandersein«. 82 Der von ihm als individualistisch empfundenen Konzeption der menschlichen Existenz bei Heidegger setzt Löwith somit eine Philosophie entgegen, die mit Thomas Rentsch als Philosophie der »Interexistenz« bezeichnet werden kann. 83 Neben dieser systematischen These leuchtet in dieser seiner ersten Veröffentlichung auch bereits Löwiths philosophiegeschichtlicher Antimodernismus auf. In der Einleitung führt Löwith aus, die konstitutive Bezogenheit des Menschen auf die »Mitwelt« sei in der Moderne Schritt für Schritt verloren gegangen und der Mensch auf sich selbst »vereinzelt« worden. Einen Katalysator dieser Entwicklung sieht Löwith im »deutschen Idealismus«. Dessen Ziel sei gewesen, den Nachweis von der »Selbstständigkeit« des Individuums gegenüber Natur und Gesellschaft zu führen. 84 In diesem Kontext erscheint in Löwiths Werk auch zum ersten Mal der Name Max Stirners. Löwith nennt Stirners Ansatz die »letzte, destruktive Konsequenz« der Vereinzelung des modernen Menschen und weist ihm darum eine Position zu, auf der man vielleicht Heidegger erwartet hätte. 85 Die beiläufige Bemerkung in der Einleitung bleibt aber nicht die einzige Bezugnahme auf Stirner in Löwiths Habilitationsschrift. Eine weitere und noch wichtigere Referenz findet sich in dem zwar sehr kurzen, aber gewichtigen Schlusskapitel. In diesem Kapitel scheint Löwith seinen Ansatz noch einmal vollständig zur Disposition zu stellen, indem er fragt, »ob ›Ich‹ wirklich nur Ich eines Du [. . . ] eine durch den anderen (secundus) zu sich selbst gekommene Person, ein Mitmensch ist.« 86 Hierfür kommt Löwith zuerst auf Kierkegaard und dann auf Stirner zu sprechen. Die Auseinandersetzung mit Stirner ans Ende seiner Schrift zu stellen, scheint zunächst von der in der Einleitung for79 80 81 82 83 84 85 86

Vgl. Löwith 1928, 121 f. Löwith 1928, 186. Vgl. Tidona 2016, 26 f; Mehring 2013, 388 f. Löwith 1928, 96 f. Vgl. Rentsch 1990, 155 ff, in zustimmender Anknüpfung an Löwiths Heideggerkritik. Vgl. Löwith 1928 17 f, vgl. auch Tidona 2016, 21–23. Vgl. Löwith 1928, 18 f. Löwith 1928, 185.

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mulierten Einsicht motiviert, hier seinem schärfsten Widersacher entgegenzutreten. Umso überraschender ist, dass Löwith zu einem durchaus abwägenden Urteil findet. 87 Zum einen führt er Stirner nochmals als radikalen Vertreter einer modernen Vereinzelung des Menschen ein, insofern dieser jedes »Andere« nur als »Opposition« des Selbst gelten lasse. Zum anderen aber bemüht sich Löwith, Stirners Position gegen diesen selbst zu kehren und sie damit zu entkräften. Noch in der Opposition gegen jeden Anderen und jedes Andere sei doch Stirner – »wenn auch nur privativ« – auf dieses »Andere« bezogen. 88 Gerade Stirner habe ja darauf hingewiesen, dass das Selbst nur darin einen »faktischen und aussagbaren Inhalt« gewinne, indem es sich Anderes als »Eigentum« aneigne. 89 Somit bestimme auch Stirner das Selbst letztlich über seine intersubjektiven Beziehungen, und so werde es eben auch für Stirner zu dem, als das Löwith selbst es bestimmt hat, zu einem »Individuum in der Rolle des Mitmenschen«. 90 Oben habe ich darauf hingewiesen, dass Löwith einer der wenigen Interpreten ist, die Stirners Beziehung zur Religion in den Mittelpunkt ihrer Interpretation stellen. Die religionsphilosophische Fragestellung ist in der Habilitationsschrift von 1928 allerdings noch nicht leitend. Erst ab den 1930er Jahren wendet sich Löwith dem Thema der Religion zu und verschmilzt dieses Thema mit seiner früheren Heideggerkritik. 91 Dennoch weist die Habilitation auf das spätere Werk voraus. Wenn Eßbach schreibt, Löwith habe hier die Thesen aus Von Hegel zu Nietzsche bereits »auf einer systematischen Ebene [. . . ] vorgeprägt«, 92 dann ist die Formulierung vielleicht etwas zu stark, ist in der Tendenz aber sicher richtig. Präfiguriert wird vor allem die später so zentrale Figur der Heimatlosigkeit, denn diese schließt an den Gedanken von der Beziehungslosigkeit des Selbst und vom Verlust unserer Einbettung in eine soziale Mitwelt an, welche Löwith 1928 der neuzeitlichen Philosophie diagnostiziert. Innerhalb dieser Neukonzeption nimmt Stirner auf den ersten Blick keine herausgehobene Rolle ein. Allerdings findet sich in Von Hegel zu Nietzsche die vorsichtige, aber dennoch starke Formulierung, die »bisher betrachtete Religionskritik« habe in Stirner einen »Abschluss« erreicht. 93 Dieser Bemerkung entspricht dann auch die Position, die Stirner innerhalb der Darstellung Löwiths erhält. Abweichend von dem Bild, das Engels in seinem Aufsatz von

87 88 89 90 91 92 93

Vgl. dazu auch Simon 1982, 205 ff. Löwith 1928, 194. Vgl. Löwith 1928, 196. Vgl. Löwith 1928, 196 f. Vgl. Mehring 2013, 389. Eßbach 2008, 62. Löwith 1950, 438.

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Karl Löwith und Max Stirner

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1886 gezeichnet hat, 94 kommt Stirner bei Löwith nach Feuerbach und sogar nach Marx zu stehen und schließt damit die Reihe der Junghegelianer ab. 95 In dem Abschnitt über Stirner schreibt Löwith dann anerkennend: »Er bekämpft sie [= die christliche Religion] nicht und verteidigt sie nicht, sondern überläßt es dem Einzelnen, ob und wieweit er sich so etwas zueignen und für sich selber ›verwerten‹ kann.« 96 Liest man diese Zeilen mit Rücksicht auf Löwiths Konzeption der Religionskritik, die scheitern muss, solange sie die christliche Antwort verneint und eben dadurch die christliche Frage bewahrt, dann scheint Stirner in seiner ihm von Löwith zugeschriebenen Gleichmütigkeit diese unvollkommene und darin scheiternde Form der Religionskritik bereits überwunden zu haben. Dieser Schluss wäre vereinbar mit dem überraschend positiven Urteil über Stirner, zu dem Löwith in seiner Habilitationsschrift gefunden hat. Dennoch scheint, dass für Löwith trotz der anders klingenden Formulierung auch Stirner noch im Bann der christlichen Überlieferung steht. Diese Interpretation möchte ich plausibel machen anhand des Begriffs der »Aneignung«. Schon 1928 hatte Löwith beobachtet, dass Stirners Konzeption des Selbst eng mit der Figur des Eigentums verbunden ist. 97 Dies greift er in seiner späteren Analyse auf. Dort bestimmt Löwith Stirners Theorie des Selbst über den Begriff der Aneignung. Löwith schreibt, Stirners »Egoist« sei »kein inhaltlich bestimmtes ›Individuum‹ und ebenso wenig ein absolutes Prinzip«, sondern vielmehr »eine formale Bezeichnung für die Möglichkeiten der je eigensten Aneignung, seiner selbst wie der Welt«. 98 Damit versteht Löwith Stirners Selbst nicht im Sinne eines substanziell Gegebenen, sondern denkt es als sich konstituierend in einem praktischen Vollzug. 99 Was bedeutet diese Beobachtung für Stirners Stellung zu der Heimatlosigkeit der modernen Philosophie, die Löwith rekonstruiert zu haben glaubt? Hier scheint es zunächst, als ob in der Bewegung der Aneignung, durch welche die Welt eine mir eigene wird, diese Heimatlosigkeit überwunden sein könnte. Diese Konsequenz aber zieht Löwith offenbar nicht. Warum er das nicht tut, lässt sich erschließen anhand eines kurzen, aber dichten Absatzes, mit dem Löwith in der Version von 1933 den Abschnitt über Stirner schließen lässt, der aber 1941 in Von Hegel zu Nietzsche gestrichen worden ist. Die Gründe für

94 95 96 97 98 99

S.o. Kapitel I, Abschnitt 1. Vgl. Löwith 1950, 443 ff. Löwith 1950, 134. Vgl. nochmal Löwith 1928, 196 f. Löwith 1950, 446. Zu Bedeutung dieser Figur für ein Verständnis der Entfremdungstheorie bei Stirner s. u. Kapitel VI, Abschnitt 3.

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diesen Eingriff in den eigenen Text lassen sich schwer rekonstruieren. 100 Was auch immer aber die Gründe für den Wegfall des Absatzes sein mögen – er bietet meines Erachtens den vielleicht bedenkenswertesten Einspruch zu Stirners Religionskritik, den die Literatur hergibt. Löwith schreibt: Was Stirner [. . . ] seinerseits als »Idee« voraussetzt ist ein spezifisch »einfacher« Begriff vom Menschen, ein Mit-sich-selbst-Einsgewordensein. Diese Einigkeit ist erreicht, wenn der Mensch mit sich selber gleich geworden ist. Die einige Gleichheit des Menschen mit sich selbst ist aber keine endgültig gegebene, sondern eine sich ständig ergebende Aufgabe, weil gerade die Aneignung des Fremden im Sinne der »Eigenheit«, die Differenz von Eigenheit und Fremdheit, von Selbstsein und Anderssein, ebensosehr aufhebt, wie sie dieselbe erzeugt. 101

Auf den ersten Blick scheint Löwith hier die Argumentation aus dem Schlusskapitel seiner Habilitationsschrift zu reformulieren, nach der Stirner durch seine Forderung nach einer Aneignung des Anderen auf dieses Andere bezogen bleibt und so mit ihm in Beziehung tritt. Allerdings scheint mir hier eine subtile, aber deutliche Akzentverschiebung vorzuliegen. Hatte Löwith 1928 argumentiert, dass Stirner durch seine Opposition gegen das Andere mit dem Anderen in Beziehung tritt, so ist nun die Tendenz seiner Argumentation umgekehrt, dass Stirner noch in der Aneignung des Anderen dieses als Fremdes konstruiert. Insofern aber die Beziehung zwischen Ich und Anderem als »Aufgabe« erscheint, reproduziert Stirner die Annahme einer Beziehungslosigkeit, womit er im Fahrwasser der christlichen Überlieferung und der von ihr proklamierten Denaturierung des Kosmos verbleibt. Eine Überwindung der nachchristlichen Heimatlosigkeit kann damit auch Stirner nicht gelingen. Diese wäre erst dann realisiert, wenn die Konstruktion von der Fremdheit des Anderen von vornherein abgewiesen wird durch die Einsicht, dass der Mensch unlösbar mit der Welt verwoben und so in ihr beheimatet immer schon ist. Es hat sich gezeigt, dass Löwiths These vom Scheitern der junghegelianischen Religionskritik 102 implizit auch noch auf den Denker ausgreift, der nach Löwith einen »gewissen Abschluss« ihrer Entwicklung markiert: Auch Stirners Religionskritik scheitert nach Löwith offenbar darin, dass auch er zwar die christliche Antwort des Theismus verwirft, aber die christliche Frage übernimmt, insofern er die Annahme reproduziert, dass der Welt ein ihr eingeschriebener Sinn fehlt und sie dem Menschen somit als fremd erscheinen muss. Löwith erkennt zwar an, dass Stirner einen Weg sucht, sich die fremd 100

101 102

Zum allgemeinen Vergleich der Versionen von 1933, 1941 und der nochmals leicht veränderten Fassung in der 2. Auflage zu Von Hegel zu Nietzsche von 1950 vgl. Tim 1967, 582 ff. Löwith 1933, 136. S.o. Abschnitt 2–3.

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gewordene Welt wieder anzueignen und so zu einer Heimat werden zu lassen. Aber zugleich weist er darauf hin, dass Stirner in dieser Suche bereits den Verlust einer originären Heimlichkeit des Menschen in der Welt verzeichnet. Damit aber bleibt Stirner in dem Fluss dessen, was Löwith als die christliche Überlieferung identifiziert hat. Die von Löwith aufgeworfene Frage und die im Zusammenhang mit dieser Frage angesprochenen Motive werden uns im Laufe der Untersuchung weiter begleiten. Ganz besonders eng an Löwiths Analyse schließt derjenige Begriff an, mit dem ich im folgenden Kapitel meine eigene Interpretation der Religionskritik Stirners beginnen lassen möchte: der Begriff der »Entfremdung«.

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III. Ein Drang, sich zu entzweien Religion und Entfremdung

I

ch habe Karl Löwith mit seiner Sicht auf Hegel, die Religionskritik der Junghegelianer und auf Stirners Beitrag zur nachhegelianischen Debatte breit zu Wort kommen lassen. Wie ich versucht habe zu zeigen, ist es eine Pointe in Löwiths Interpretation der junghegelianischen Religionskritik, dass es ihr nicht gelingt, aus dem Bann der »christlichen Überlieferung« herauszutreten. Im Hintergrund dieser Annahme steht die Deutung des christlichen Schöpfungsglaubens als eine Bewegung der »Denaturierung« der Welt, die von der nachchristlichen Philosophie aufgegriffen und fortgeschrieben wird. Infolge dieser Denaturierung verliert die Welt ihren immanenten Sinn und droht so dem Menschen zu einem fremden Ort zu werden. Die Annahme einer originären Fremdheit zwischen Mensch und Welt wird zum christlichen Erbe, das die nachchristliche Philosophie bewahrt, auch wenn sie den Glauben an einen transzendenten Sinn aufhebt. 1 Mit der Rede von der »Fremdheit« ist bei Löwith ein Stichwort genannt, das bereits in den junghegelianischen Debatten selbst eine zentrale Bedeutung gewonnen hatte. Allerdings ist es – entgegen Löwiths skeptischer Interpretation – die Überzeugung der im folgenden untersuchten Autoren, durch ihre Religionskritik zu einer wirklichen Überwindung der religiösen »Entfremdung« zu gelangen. Mit dem Begriff der Entfremdung steigen wir im Folgenden in die Arbeit an den Quellen ein. Die Interpretation Löwiths wird dabei zunächst in den Hintergrund treten. Zum Ende dieser Untersuchung, wenn es darum gehen soll, zu einem eigenen Urteil zu finden, wird wieder auf sie zurückzukommen sein. Der Gegenstand meiner Untersuchung ist die Religionskritik Max Stirners. Dabei ruht, wie angekündigt, meine Analyse im Wesentlichen auf seinem Hauptwerk, Der Einzige und sein Eigentum von 1844. Die Auseinandersetzung mit dieser Schrift möchte ich aber noch einmal aufschieben, um in diesem Kapitel ein Schlaglicht auf ihre Vorgeschichte zu werfen. Für die Entwicklung der religionsphilosophischen Position Stirners ist einer seiner frühen Texte von großer Bedeutung, und zwar ein Aufsatz, den Stirner 1842 unter dem Titel Kunst und Religion in der Leipziger Allgemeinen Zeitung veröffentlicht hat.

1

S.o. Kapitel II, Abschnitt 3.

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Ein Drang, sich zu entzweien. Religion und Entfremdung

Dieser Aufsatz ist zum einen ein frühes Zeugnis seiner Religionskritik und bietet eine wichtige Vorstufe der im Einzigen präsentierten Konzeption. Der Aufsatz ist aber auch noch aus einem anderen Grund von Bedeutung: Stirners Kunst und Religion stellt eine direkte Antwort auf eine längere Schrift Bruno Bauers dar, welche den Titel Hegels Lehre von der Religion und Kunst trägt. Somit ist Stirners früher Artikel auch ein Zeugnis für den großen Einfluss, den Bauer zu diesem Zeitpunkt auf Stirners Denken hatte. Um Stirners frühe Konzeption zu verstehen, gilt es also, auf Bauers Religionskritik zu schauen. Diese wiederum verweist zurück auf Hegel, und so werde ich in diesem Kapitel versuchen, einen Weg nachzuzeichnen, der von Hegel über Bauer zu Stirner führt. Dabei werde ich zu zeigen versuchen, dass dieser Weg über den bereits genannten Begriff der Entfremdung erschlossen werden kann. Angesichts des Entfremdungsbegriffes und der Frage nach seiner Rolle in der junghegelianischen Bewegung erscheint vieles altbekannt und unumstritten. Konsens scheint zu sein, dass Hegels Phänomenologie des Geistes eine wesentliche Rolle für den Aufstieg des Entfremdungsbegriffes spielt. 2 Konsens scheint weiterhin zu sein, dass das Konzept der Entfremdung für die junghegelianische Religionskritik, wie sie uns in den Werken Feuerbachs und Bauers entgegentritt, immense Bedeutung hatte. 3 Und Konsens scheint drittens zu sein, dass Stirner diese Figur bei Feuerbach und Bauer vorfindet und sie für seine eigene Philosophie gebraucht. 4 Über diese eher allgemeinen Bestimmungen hinaus ist aber vieles ungeklärt. Gerade die unterschiedliche Kontur, die Feuerbach, Bauer und dann Stirner dem Konzept der religiösen Entfremdung geben, ist gar nicht immer leicht zu bestimmen. Diese Bestimmung soll hier und in den folgenden Kapiteln unternommen werden, in groben Strichen für Bauer und Feuerbach, in detaillierter Analyse für Stirner. Ich werde im Folgenden zuerst kurz in das Konzept der Entfremdung einführen und einige grundlegende Aspekte dieser Figur benennen. Dabei möchte ich mich innerhalb der sehr breiten Begriffsgeschichte streng auf die entfremdungstheoretische Religionsphilosophie der Junghegelianer beschränken (1). Anschließend möchte ich mich der Phänomenologie des Geistes als einer wichtigen Quelle dieses Konzeptes zuwenden. Dabei fokussiere ich mich nicht auf den Entfremdungsbegriff, sondern versuche die gedankliche Figur, die Bauer aufnehmen wird, herauszuarbeiten. Diese glaube ich in einer reinen Form im Abschnitt über das »unglückliche Bewusstsein« auffinden zu können (2). Die dort herausgearbeitete Figur lässt sich dann, mit einigen charakteristischen 2

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Vgl. nur Schacht 1970, 30 ff; Henning 2015, 78 ff; zur Rezeption in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten vgl. auch Quante 2018, 247 ff. Zu Bauer vgl. McLellan 1974, 77 ff; Pepperle / Pepperle 1985, 35 ff; zu Feuerbach vgl. Henning 2015, 94 ff; zu beiden vgl. Eßbach 2010a. Vgl. nur Schuhmann 2010, 189 f; Zima 2014, 31 f; ausführlich Ru icka 1977, 89 ff.

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Entfremdung

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Akzentverschiebungen, in Bauers Schriften wiederfinden (3). Im letzten Abschnitt werde ich zeigen, dass Stirner in Kunst und Religion genau diese bauersche Fassung der Entfremdungstheorie voraussetzt und sie aufnimmt, sie aber zugleich in einer Weise radikalisiert, die auf sein Hauptwerk vorausweist (4). 1. Entfremdung Der Gebrauch des Begriffs der »Entfremdung« scheint in der neueren Diskussion stark von der Bedeutung geprägt, die Marx und die marxistische Tradition ihm gegeben hat. 5 Zu einem zentralen Bezugstext wird dabei meist die »bahnbrechende Analyse« (Hartmut Rosa), 6 die Marx in den Ökonomischphilosophischen-Manuskripten aus dem Jahr 1844 geboten hat. 7 Wenn aber dabei, wie es manchmal geschieht, die Philosophie Hegels als direkte Vorstufe der marxschen Entfremdungstheorie portraitiert wird, 8 wird dabei ein wesentlicher Zwischenschritt übergangen. Denn die Rezeption des hegelschen Entfremdungsbegriffes im Junghegelianismus erfolgte nicht erst durch Marx, und gerade der religionskritische Gebrauch des Begriffes durch Bauer und Feuerbach war Marx sehr gut bekannt, als er ihn auf die ökonomische Kritik übertrug. 9 Wollen wir uns der Geschichte der Entfremdungstheorie nähern, ist es wichtig, Begriff und Gedanke der Entfremdung zu unterscheiden. Das heißt: Nicht überall, wo eine Struktur der Entfremdung diagnostiziert wird, wird auch der Begriff verwendet, und umgekehrt wird der Begriff zum Teil für sehr Unterschiedliches gebraucht. So wird Rousseau meist als der Begründer des Entfremdungsgedankens genannt, auch wenn er den Begriff selten und dabei sicher nicht mit terminologischem Anspruch verwendet. 10 Andererseits wird der Begriff bei Hegel in der Phänomenologie des Geistes prägend gebraucht, 5

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Erkennbar in die Tradition von Marxismus und kritischer Theorie stellen sich Zima 2014 und Rosa 2016; vgl. auch ders. 2019, 299 ff. Rahel Jaeggi identifiziert dagegen neben der marxistischen eine existenzialistische »Variante« der Entfremdungskritik und versucht beide in ihre eigene Position zu integrieren, vgl. Jaeggi 2016, 29 f; zu den beiden Varianten vgl. ausführlicher ebd. 31 ff. Vgl. Rosa 2019, 310. Vgl. Henning 2015, 109 ff; Jaeggi 2016, 32 ff. Vgl. Jaeggi 2016, 27–30. Zur Entwicklung der Entfremdungstheorie im Junghegelianismus bis Marx vgl. Ru icka 1977; zur ideengeschichtlichen Bedeutung der junghegelianischen Entfremdungsfiguren vgl. auch Cornu 1975, 48 ff; Zima 2014, 28 ff; Henning 2015, 94 ff; zur Rezeption Bauers und Feuerbachs durch Marx s. u. Kapitel VIII, Abschnitt 2. »Nicht dem Begriff, aber der Sache nach« habe Rousseau die Entfremdungstheorie begründet, schreibt Rahel Jaeggi, vgl. dies. 2016, 25 f. Sehr ähnlich schon Barth 1975, 26.

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hat aber dort eine deutlich schmalere Ausdehnung, als die Wirkungsgeschichte vermuten könnte, er dient dort zur Kennzeichnung einer bestimmten, klar abgegrenzten Phase in der Geschichte des »Geistes«. 11 Wenn Christoph Henning darum schreibt, Marx habe den Begriff der Entfremdung bei Hegel »aufgelesen«, 12 dann ist das nicht nur treffend formuliert für die Rezeption des Begriffs durch Marx, sondern auch für die Rezeption des Begriffs durch den Junghegelianismus insgesamt. Dort, wo der Begriff der Entfremdung verwendet wird, wird er nicht streng in dem Sinne verwendet, den Hegel ihm in der Phänomenologie gegeben hat. 13 Gleichzeitig – und dies scheint mir das größere Gewicht zu haben – ist der Gedanke der Entfremdung, wie er bei den Junghegelianern mal mit und mal ohne Nennung des Begriffes anzutreffen ist, immer erkennbar hegelianisch beeinflusst. 14 Bevor ich die Frage nach der Aufnahme des Entfremdungsgedankens in der junghegelianischen Religionskritik stellen werde, möchte ich noch ein Strukturmerkmal dieses Gedankens markieren, der sich aus der Semantik des Wortes nicht unmittelbar ergibt. »Sich einander entfremden«, in einem alltagsprachlichen Sinne, bedeutet »einander fremd werden«, und in diesem Sinne »einander entfremden« kann sich alles, was sich vorher nicht fremd war, sondern einander »nah«, einander »vertraut« oder einander »zugehörig«. So können sich Menschen voneinander entfremden, ich kann mich von einem Ort, an dem ich lebe, entfremden usw. Auch Löwiths Motiv der Heimatlosigkeit lässt zunächst an eine solche Erfahrung der Entfremdung denken, an eine Entfremdung von der Welt als meiner Heimat. 15 Entfremdung im Sinne des von Rousseau und Hegel geprägten Entfremdungsgedankens kann die oben genannten Beispiele einschließen, geht aber in spezifischer Weise über das Gesagte hinaus. Entfremdung im Sinne Rousseaus und Hegels meint, wie wir sehen werden, immer Selbstentfremdung. 16 Dies bedeutet: Das, was sich entfremdet, ist ein Selbst, und das, wovon es sich entfremdet, ist ebenfalls es selbst. Oder anders formuliert: Das, was ich selbst bin, wird mir fremd. Diese Selbstentfremdung kann mit Erfahrungen von Entfremdung in dem skizzierten, weiteren Sinne korrespondieren. So kann die Erfahrung, dass eine Heimat mir fremd wird, als Selbstentfremdung erfahren werden, zum Beispiel dadurch, dass meine Heimat als ein Moment meines 11 12 13

14 15 16

Vgl. PhG 359 ff; vgl. dazu auch Siep 2000, 189 ff. Henning 2015, 78. So schreibt Ludwig Siep über Marx, dieser habe nur an »wenige Aspekte des hegelschen Begriffs der Entfremdung anknüpfen« können, vgl. Siep 2000, 189. Zu Bauer vgl. Pepperle / Pepperle 1985, 35–40, zur Feuerbach vgl. Henning 2015, 94 ff. S.o. Kapitel II, Abschnitt 3. Zur Entstehung dieser Figur bei Rousseau vgl. Barth 1975; vgl. auch nochmal Jaeggi 2016, 25 ff.

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Selbst verstanden wird, das mir fremd geworden ist. Dies stellt aber bereits eine bestimmte, man könnte sagen: subjektivitätstheoretische Interpretation der Entfremdungserfahrung dar, die nicht als alternativlos erscheint. Da aber alle der im Folgenden besprochenen Theorien unzweifelhaft dieses Verständnis teilen und Entfremdung als Selbstentfremdung verstehen, dürfen in diesem Zusammenhang die zwei Begriffe als austauschbar angesehen werden, wie es auch in der Literatur meist geschieht. Überblickt man nun die gemeinsame Struktur verschiedener Theorien der Selbstentfremdung, so scheint diese allen gemeinsame Struktur aber in zwei grundlegend verschiedenen Modellen realisiert zu sein. Ich möchte sie das dialektische und das nicht-dialektische Modell der Entfremdung nennen. 17 Diese zwei Modelle lassen sich veranschaulichen mithilfe einer Unterscheidung von Entfremdung und Entäußerung. 18 Ein dialektisches Modell unterscheidet zwischen Entäußerung und Entfremdung und betrachtet dabei Entäußerungsprozesse als integralen Bestandteil eines dynamischen, dialektischen Selbst. Das Selbst wird damit aufgefasst als eine Totalität von Teilen oder besser als eine Totalität von Momenten. Die äußeren Momente des Selbst würden in Prozessen der Selbstentäußerung eines inneren Selbst konstituiert. Entfremdung bestünde nach einem dialektischen Modell dann ausdrücklich nicht schon in diesen Strukturen der Entäußerung, sondern erst in einer gestörten Wiederaneignung und Integration des Entäußerten. Ein nicht-dialektisches Modell der Entfremdung dagegen verweigert die Unterscheidung von Entfremdung und Entäußerung. Es geht davon aus, dass jede Entäußerung des Selbst bereits eine problematische Entfremdung ist. Das Selbst ist demnach ein einteiliges oder monistisches Selbst, welches nur es selbst sein kann, wenn es bleibt, was es ist. Im schnellen Vergleich der beiden Modelle erscheint das dialektische Modell wohl intuitiv plausibler, da es die im menschlichen Zusammenleben allfälligen Entäußerungsprozesse nicht regelhaft als Selbstverlust verstehen muss. Auf der anderen Seite scheint das dialek17

18

In Anlehnung an Schematisierungsvorschläge bei Andreas Arndt und Rahel Jaeggi. Andreas Arndt bestimmt die Theorien der Junghegelianer als Theorien »unmittelbarer Unmittelbarkeit« in Abgrenzung zu Hegels »vermittelter Unmittelbarkeit«, zu welcher sich dann allerdings Marx wieder zurückwendet, vgl. Arndt 1995; vgl. auch ders. 2013. Damit schreibt Arndt sowohl Bauer und Feuerbach als auch Stirner nicht-dialektische Positionen zu, davon abweichend würde ich dafür argumentieren, dass dieses Urteil auf Stirner zu beschränken ist. Rahel Jaeggi entwickelt für die Geschichte der Entfremdungskritik die Unterscheidung einer Linie Hegel-Marx und einer Linie Kierkegaard-Heidegger, wobei »im einen Fall [in der Linie Hegel-Marx] Entfremdung als Entfremdung von der sozialen Welt gedacht wird, während hier [in der Linie Kierkegaard-Heidegger] das Faktum des Eingelassenseins in eine öffentliche Welt gerade die Quelle der Entfremdung [. . . ] zu sein scheint.«, Jaeggi 2016, 29. Die Positionen der Junghegelianer vor Marx werden bei Jaeggi nicht eingeordnet. Zu der Unterscheidung von »Entäußerung« und »Entfremdung« vgl. Henning 2015, 17 ff.

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tische Modell höhere theoretische Kosten zu verursachen, da es eine Teilbarkeit des Selbst in eine Totalität von Momenten erklären muss. Diese Aufgabe wird in unterschiedlicher Weise gelöst und wir werden in dieser Untersuchung bei Bauer, Feuerbach und Marx drei sehr verschiedene Möglichkeiten kennenlernen, dies zu tun. Bei Stirner dagegen wird uns eine Position begegnen, die ein nicht-dialektisches Modell der Entfremdung mit der Realität sozialer Kooperation zu vereinbaren versucht. Vorerst möchte ich diese Frage nun allerdings auf sich beruhen lassen und mich stattdessen der Verbindung von Entfremdungstheorie und Religionskritik zuwenden. Blickt man auf neuere Beiträge zur der Entfremdungsdebatte, fällt auf, dass diese Verbindung nur wenig bedacht wird. So findet die Entfremdungstheorie der Junghegelianer in dem kurzen, begriffsgeschichtlichen Abriss, den Rahel Jaeggi bietet, keine Erwähnung. 19 Und auch in ihren folgenden systematischen Überlegungen spielt die Religion weder als Form der Entfremdung noch gar als ihr mögliches, fundamentales Prinzip eine Rolle. Noch auffälliger ist der Befund bei Hartmut Rosa. Rosa entwickelt seine Entfremdungstheorie in sehr lockerer Bezugnahme auf die Begriffsgeschichte, was für einen gegenwartsorientierten, sozialphilosophischen Entwurf auch unbedingt nachvollziehbar erscheint. Wenn man aber liest, dass Rosa die »Religion« als Quelle der »vertikalen Resonanz« zu einem Heilmittel gegen die Entfremdung werden lässt, 20 und wenn man gleichzeitig sieht, dass die Entfremdungstheorie in ihren »Jugendjahren« aufs engste gerade mit einer radikalen Kritik der Religion verbunden war, dann fällt das Fehlen der Auseinandersetzung mit den entsprechenden Positionen doch sehr auf. Kommen wir also zu der Frage nach dem Verhältnis der hegelianisch-junghegelianischen Entfremdungstheorie und der Religionskritik. Diese Frage verweist zunächst auf Hegel selbst. Ob und inwieweit Hegel bereits als Vertreter einer entfremdungstheoretischen Religionskritik zu lesen ist, wird uns in Ansätzen noch beschäftigen. In den 30er/40er Jahren entwickeln allerdings zwei Denker, beeinflusst von der hegelianischen Religionsphilosophie, eine wirkmächtige Religionskritik mit entfremdungstheoretischer Fundierung: der Philosoph Ludwig Feuerbach und der Theologe Bruno Bauer. Die große Ähnlichkeit der beiden Ansätze lässt unwillkürlich die Frage nach einer zeitlichen und sachlichen Priorität aufkommen. Diese scheint aber meines Erachtens kaum zu beantworten. Zwar kann eine wechselseitige Rezeption der beiden Denker immer wieder wahrgenommen werden, aber keine der beiden Theorien ist auf die andere zurückführbar. Es ist darum von zwei originären Ansätzen auszugehen, die aus der Diskursgemeinschaft des Junghegelianismus hervorgegangen sind. 19 20

Vgl. Jaeggi 2016, 25 ff. Vgl. Rosa 2019, 435 ff.

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Und nicht nur in ihrer Genese erscheinen beide Ansätze selbstständig, sie entfalten beide auch eine selbstständige und spürbare Wirkung. Sowohl Feuerbach als auch Bauer prägen den Diskurs in großem Maße. Besonders für Stirner, aber auch für Marx, lässt sich die immense Bedeutung beider Autoren nachweisen. Die beschriebene »Ebenbürtigkeit« der beiden Ansätze wird in der spezifischen Forschung zum Junghegelianismus durchaus gesehen. 21 Allerdings gibt es in der Rezeption der entfremdungstheoretischen Religionskritik doch eine gewisse Tendenz, einseitig den Ansatz Feuerbachs wahrzunehmen. 22 Diese Tendenz kann sich zwar mit Recht auf die in der Breite doch deutlich größere Wirkung Feuerbachs berufen. Wenn aber eine tiefergehende Rekonstruktion des Diskurses unternommen werden soll, die auch die Positionen Stirners und Marx' einschließt, sollte das Gewicht Bauers auf keinen Fall unterschätzt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn es um die Prägung des Begriffs der Entfremdung geht. Diesen hat Bauer nämlich spätestens seit 1841 ansatzweise terminologisch verwendet, während Feuerbach im Wesen des Christentums zwar zweifellos den Entfremdungsgedanken profiliert weitergedacht hat, den Begriff aber nur sehr beiläufig gebraucht. 23 Mit Bauer und Feuerbach sind die beiden »klassischen« Entwürfe der entfremdungstheoretischen Religionskritik angekündigt. Die kürzeste Formel für die Grundthese der entfremdungstheoretischen Religionskritik hat sicher Feuerbach gegeben, wenn er 1841 im Wesen des Christentums schreibt: »Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen.« 24 Dieser Gedanke findet sich nahezu identisch bei Bruno Bauer. Bauer schreibt ebenfalls 1841 in derPosaune des Jüngsten Gerichts, »das religiöse Verhältnis [sei] nichts als ein inneres Verhältnis des Selbstbewusstseins zu sich selber« 25 und eben nicht, was es zu sein glaube, nämlich ein Verhältnis des Selbstbewusstseins zu einem Anderen, zu einem »Gott«. 26 Beide, Feuerbach und Bauer, bieten in ihren Schriften von 1841 offenbar einen entfremdungstheoretischen Ansatz im Sinne der Selbstentfremdung. Das religiöse Selbst verweist auf sich selbst, aber erkennt sich dabei nicht als es selbst, sondern erscheint sich als ein Fremdes. Dadurch ist es sich selbst entfremdet. Daneben gibt es noch eine zweite wesentliche Gemeinsamkeit. So21 22 23

24 25

26

Vgl. Pepperle / Pepperle 1985, 30 f. Vgl. Henning 2015, 94 ff; Cornu 1975, 42 ff. McLellan urteilt, Bauer habe den Begriff im junghegelianischen Kontext prominent gemacht, vgl. ders. 1974, 78. WCh 46, kursiv im Original. Bauer 1841, 273, eine Position, die Bauer hier zunächst Hegel zuschreibt und von der er sich scheinbar distanziert. Zur rhetorischen Fiktion der Posaune s. u. Abschnitt 3. Vgl. Bauer 1841, 354.

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wohl Bauer als auch Feuerbach vertreten ein dialektisches Modell der Entfremdung. Das heißt: Beide lassen eine Entäußerung des Selbst zu und kritisieren die gestörte Wiederaneignung. Mit der Frage, worin denn diese nicht-entfremdete Entäußerung besteht, beginnen die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen deutlich zu werden. Feuerbach denkt das Selbst als entäußert in seiner Gattung und betrachtet somit das Gottesbewusstsein als eine gestörte Aneignung eben dieser Gattung. 27 Bauer dagegen denkt die legitime Entäußerung des Selbst als Produktionsprozess. Das Selbst entäußert sich demnach in seinen Produkten. Die religiöse Entfremdung besteht dann in der Unfähigkeit des Selbst, seine Produkte als die seinen zu erkennen und so das Entäußerte wiederanzueignen. 28 So viel sei zur Orientierung über den Entfremdungsbegriff im Allgemeinen und zu seiner konkreten Ausgestaltung bei Feuerbach und Bauer vorweggenommen. Beide Entwürfe werden uns in dieser Untersuchung noch etwas eingehender beschäftigen, und zwar darum, weil Stirner sein eigenes entfremdungstheoretisches Modell im Lichte und in Auseinandersetzung mit diesen beiden entwickelt. Ich werde in diesem Kapitel mit Bauers entfremdungstheoretischer Religionskritik beginnen und ihre Rezeption in einem frühen Aufsatz Stirners nachzuzeichnen versuchen. Davor allerdings möchte ich, wie angekündigt, einen Umweg über Bauers Quellen machen. Vieles spricht dafür, dass Bauer den Begriff der Entfremdung im vierten Kapitel in Hegels Phänomenologie des Geistes kennengelernt hat. Fragt man aber nicht nach dem Begriff, sondern nach dem Gedanken der Entfremdung bei Bauer, dann ist es meines Erachtens ein anderes Kapitel der Phänomenologie, in welchem Bauers und auch Feuerbachs Position in prägnanter Weise vorgezeichnet wird, und zwar der Abschnitt über das »unglückliche Bewusstsein«. Darum möchte ich diesem Abschnitt im Folgenden eine etwas vertiefende Untersuchung widmen. Zu diesem Vorgehen aber noch eine Vorbemerkung: Die Entscheidung, das »unglückliche Bewusstsein« aus Hegels Gesamtwerk herauszugreifen, soll erstens nicht die Bedeutung anderer Texte Hegels für die Religionsphilosophie Bauers bzw. für die Religionsphilosophie der Junghegelianer in Abrede stellen. Gerade die religionsphilosophischen Vorlesungen Hegels dürften hier eine große Bedeutung haben. Feuerbach und Stirner haben die Religionsphilosophie bei Hegel selbst gehört. 29 Bauer war 1840 Mitarbeiter Philipp Marheinekes in Berlin und hat als solcher die wirkmächtige zweite Auflage der religionsphilosophischen Vorlesungen für die Freundesausgabe bearbeitet. 30 27 28 29 30

S.u. Kapitel IV, Abschnitt 2–3. S.u. Kapitel III, Abschnitt 3. Zu Feuerbach vgl. Sass 1978, 28; zu Stirner s. o. Kapitel I, Abschnitt 2. Bauers Ausgabe ist eine mitunter sehr freie Kompilation der Manuskripte und Nachschriften und erfüllt darum einen kritischen editorischen Anspruch nicht. Dennoch galt sie lange

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Wenn ich im Folgenden dennoch nicht die Religionsphilosophie der Vorlesungen, sondern einen Abschnitt der Phänomenologie zum Ausgangspunkt für meine Frage nach einer Anknüpfung der Junghegelianer an Hegels Religionsphilosophie wähle, dann ist damit auch ausdrücklich nicht die philologische These verbunden, Bauer, Feuerbach oder gar Stirner hätten ihre Religionskritik in direkter literarischer Auseinandersetzung mit diesem Text entwickelt. Zwar lässt sich wenigstens für Bauer nachweisen, dass er den Abschnitt intensiv gelesen hat. 31 Und auch bei Feuerbach ist von einer starken Orientierung an der Phänomenologie durchaus auszugehen. 32 Um diese rezeptionsgeschichtlichen Beobachtungen geht es mir hier allerdings nicht vordergründig. Meine Auswahl gründet sich mehr auf die Vermutung, dass im »unglücklichen Bewusstsein«, reiner als in anderen, späteren Texten Hegels, eine gedankliche Figur zur Darstellung kommt, die als Schlüssel für die entfremdungstheoretische Religionskritik der Junghegelianer dienen kann. Dies möchte ich im Folgenden zu zeigen versuchen. 2. Das unglückliche Bewusstsein »Man muß beginnen mit der hegel'schen Phänomenologie, der wahren Geburtsstätte und dem Geheimniß der hegel'schen Philosophie.« 33 schreibt Marx 1844 in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten und lässt seine berühmte Auslegung folgen. Mit dem besonderen Interesse an der Phänomenologie steht Marx unter seinen Zeitgenossen nicht allein, es scheint vielmehr für die junghegelianische Bewegung insgesamt kennzeichnend zu sein. Die Phänomenologie scheint für das, was die Junghegelianer an Hegel schätzen und was sie weiterführen wollen, besonders herauszustehen. 34 Aber worin unterscheidet sich der Hegel der Phänomenologie vom »reifen« Hegel? Was ist es, was die Junghegelianer gerade an dieser Schrift besonders anzieht? Und beruht diese Wahlverwandtschaft gar nur auf einem kreativen Missverständnis? Diese Fragen sind sehr weit gesteckt, und so kann es hier nur darum gehen, eine schmale Linie zu verfolgen. Ich möchte zeigen, dass die Phänomenologie in besonderer Weise Anknüpfungspunkte bietet für eine entfremdungstheoretische Religionskritik, wie Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach sie entwickelt haben.

31 32 33 34

als die brauchbarste Ausgabe der religionsphilosophischen Vorlesungen und ist als Band 16 und 17 noch in die Frankfurter Theorie Werkausgabe eingegangen, vgl. Moldenhauer / Michl 1986, 537 f. S. u. Abschnitt 3. Vgl. Jaeschke 2016, 466; Weckwerth 2020, 32 ff. Marx 1844b, 277. Vgl. Arndt 2004, 245 f.

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Beginnen möchte ich mit einer vorsichtigen Annäherung an das philosophische Programm der Phänomenologie. Welches ist das Projekt, das Hegel hier unternimmt? Eine Antwort gibt Hegel in seiner Vorrede. Dort bezeichnet er die Phänomenologie als das »Werden der Wissenschaft überhaupt«. 35 Die Phänomenologie beschreibt somit den »langen Weg« des »unwissenschaftlichen Bewusstseins« zur »Wissenschaft«. 36 Diese Beschreibung bietet einen ersten Ansatzpunkt, lässt aber auch einiges ungeklärt. So verweist Hegel hier auf zwei unterschiedliche Grundformen des Bewusstseins. Die eine, zunächst gegebene Grundform ist das »unwissenschaftliche« oder, wie es in diesem Zusammenhang auch heißt, das »natürliche Bewusstsein«. 37 Die zweite, angestrebte Grundform wäre entsprechend ein wissenschaftliches Bewusstsein. Wie aber ist der Widerspruch zwischen diesen beiden Grundformen des Bewusstseins näher zu verstehen? Einen vielversprechenden Interpretationsversuch bietet Ludwig Siep. 38 Nach Siep ist das natürliche Bewusstsein bei Hegel nicht nur ein vage bestimmter Platzhalter für verschiedene vorwissenschaftliche Denkmuster, sondern ein bedeutungstragender, terminologischer Begriff. Das natürliche Bewusstsein, das in der Aufstiegsbewegung der Phänomenologie den Ausgangspunkt bilden soll, ist dabei wesentlich bestimmt durch einen »Gegensatz«, und zwar durch den Gegensatz des wissenden Selbst auf der einen Seite und dem Gegenstand des Wissens auf der anderen Seite. Demgegenüber bestünde das wissenschaftliche Bewusstsein in einer Überwindung dieses Gegensatzes und in der Einsicht in die Identität von Selbst und Gegenstand. In diesem Sinne schreibt Hegel: »Das reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein, dieser Äther als solcher, ist der Grund und Boden der Wissenschaft oder das Wissen im allgemeinen.« 39 Die Suche nach der Aufhebung falscher Entgegensetzungen kann insgesamt als eine Grundbewegung der hegelschen Philosophie angesehen werden. Joachim Ritter urteilt, Hegels gesamte philosophische Arbeit gehe aus von der Erfahrung der »Entzweiung als Form der modernen Welt und ihres Bewusstseins« 40 und sei motiviert von dem Versuch, diese »Entzweiung« zu überwinden bzw. genauer: eine Versöhnung der Gegensätze in der »Entzweiung« zu erreichen. 41 Mit Blick auf die Phänomenologie können wir diese Formel, in Aufnahme der Interpretation Sieps, genauer bestimmen: Es ginge Hegel hier darum, eine falsche Entgegensetzung von Selbst und Gegenstand, Subjekt und 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. PhG 31. Vgl. ebd. PhG 30. Siep 2000, 65. PhG 29. Ritter 2015, 47. Ritter 2015, 47 f.

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Objekt in den Formen des Wissens zu überwinden. Dies würde dadurch geschehen, dass in einer Bewegung des Aufstiegs das Selbst sich mehr und mehr in seinem Gegenstand wiederfindet, sich gleichsam in ihm wiedererkennt. Mit dieser vorläufigen Skizze des fundamentalen Anliegens der Phänomenologie im Rücken möchte ich mich jetzt, wie angekündigt, der Religionsphilosophie zuwenden, und zwar anhand einer Interpretation des Abschnitts über das »unglückliche Bewusstsein«. Was ist das »unglückliche Bewusstsein«? Es ist zunächst eine der »Gestalten des Bewusstseins« in dem Entwicklungsgang, den Hegel in seiner Vorrede angekündigt hat. 42 Es kommt ganz am Ende des Kapitels über das »Selbstbewusstsein« zu stehen als dessen letzte Gestalt, unmittelbar vor dem Übergang zur »Vernunft«. Im ersten Absatz des entsprechenden Abschnittes charakterisiert Hegel dieses »unglückliche Bewusstseins« dann mit folgenden Worten: »[D]as unglückliche Bewußtsein ist das Bewußtsein seiner als des gedoppelten, nur widersprechenden Wesens.« 43 Diese formelhafte Beschreibung hat zwei Seiten. Einerseits erscheint das »unglückliche Bewusstsein« als ein »Bewusstsein seiner«. Es ist also Selbstbewusstsein. Andererseits ist es aber nicht reines Selbstbewusstsein, sondern es ist Bewusstsein seiner selbst als eines »gedoppelten Wesens«. Offenbar begreift sich das Selbst nicht als Einheit, sondern als Doppelheit oder Zweiheit. Wie aber ist das zu verstehen? Diese Formel des »unglücklichen Bewusstseins« als eines gedoppelten Selbstbewusstseins erklärt Hegel im nächsten Absatz folgendermaßen. Hegel schreibt: [E]s selbst [= das unglückliche Bewusstsein] ist das Schauen eines Selbstbewusstseins in ein anderes, und es selbst ist beide, und die Einheit beider ist ihm auch das Wesen; aber es für sich ist noch nicht dieses Wesen selbst, noch nicht die Einheit beider. 44

Wieder hat die Beschreibung zwei Seiten. Einerseits ist das »unglückliche Bewusstsein« wesentlich Eines oder, wie man mit einem anderen Ausdruck der Phänomenologie sagen könnte, es ist an sich Eines. Anderseits ist es aber für sich gerade nicht Eines, sondern Zwei, ein Selbst und ein Anderes. Die Dopplung des Selbst ist also nicht an sich, sondern nur für es. An sich ist 42

43 44

Ich verwende den Begriff des »unglücklichen Bewusstseins« im Folgenden in einem engen Sinne, d. h. ausschließlich für die entsprechende Passage im Kapitel »Stoizismus, Skeptizismus und das unglückliche Bewusstsein« in der Phänomenologie (PhG 163–177) bzw. zur Bezeichnung der genau dort unter diesem Namen eingeführten »Gestalt des Bewusstseins«. Ich verwende den Begriff nicht zur Bezeichnung der daraus ableitbaren, allgemeinen Denkfigur, die sich bei Hegel oder bei den Junghegelianern in verschiedenen Texten finden wird. PhG 163. PhG 164.

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das »unglückliche Bewusstsein« darum bereits Selbstbewusstsein, für sich aber noch das Bewusstsein eines Anderen. Somit ist das »unglückliche Bewusstsein« ein Selbstbewusstsein, das sich nicht als Selbstbewusstsein weiß. Oder, um eine spätere Formulierung Ludwig Feuerbachs aufzugreifen, es ist »indirektes Selbstbewusstsein«. 45 Und damit ist es logisch ambivalent, es ist »falsch und wahr zugleich« 46. Während die vorangegangenen Abschnitte der Phänomenologie noch so gelesen werden konnten, als seien hier reale Dualitäten beschrieben, 47 beginnt also das »unglückliche Bewusstsein« mit dem Hinweis auf eine Spaltung des Ichs und verweist somit auf eine innere, nur scheinbare Dualität. Was Hegel hier tut, ist allerdings ein Vorgriff, denn das »unglückliche Bewusstsein« versteht sich selbst zunächst nicht als Spaltung seiner selbst, sondern als Trennung des »Wandelbaren« vom »Unwandelbaren«, und sich selbst »stellt« es »auf die Seite« des wandelbaren Bewusstseins. 48 Dieses Nebeneinander zweier Perspektiven bestimmt auch den zweiten Schritt, den Hegel das »unglückliche Bewusstsein« gehen lässt. Während es versucht, die Trennung von Wandelbarem und Unwandelbarem aufzuheben, vermag Hegel diese Bewegung bereits als den Versuch einer Wiedervereinigung von vormals Vereintem zu erkennen. Erst in einem dritten Schritt werden die Perspektiven zusammengeführt. Das »unglückliche Bewusstsein« erkennt zuletzt, was der Autor wie der Leser der Phänomenologie bereits weiß und erkennt sich selbst in dem unwandelbaren Anderen, oder, wie Hegel schreibt, das Einzelne »hat sich selbst darin [d. h. im Umwandelbaren] zu finden die Freude«. 49 Die Rede von der »Freude« des mit sich selbst wiedervereinten Bewusstseins ist nicht nebensächlich, denn es verweist auf den Umstand, dass das »unglückliche Bewusstsein« eben wesentlich unglücklich ist. Auf diese existenzielle Dimension weist Andrzej Wierci´nski hin und benennt das Thema des ganzen Abschnittes als »[the] despairing self in the quest for unity and wholeness«. 50 Die Spaltung, die das Selbst vollzieht, ist keine kontrollierte oder intentionale, sondern eine erlittene und so leidet das Selbst an der Spaltung und strebt gleichzeitig auf ihre Aufhebung hin. Das existenzielle Unglück des »unglücklichen Bewusstseins« scheint dabei eng verbunden, gleichgesetzt mit einem Erkenntnisrückstand. Das Selbst lebt in einer Spaltung, weil es sich nicht im Anderen erkennt. Nahezu dramenhaft gestaltet sich die Auflösung des Un45

46 47 48 49 50

»Die Religion ist das erste, und zwar indirekte, Selbstbewusstsein des Menschen«, WCh 47, Fassung C. Stekeler-Weithofer 2014, 748. Zur berühmten Dualität von Herr und Knecht, vgl. dazu Siep 2000, 101–106. Vgl. PhG 164. PhG 165. Wierci´nski 2017, 76.

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glücks dann auch als ein finales Wiedererkennen und damit als intellektuelle Aufhebung eines als leidvoll erlebten Missverständnisses. Wir haben oben gesehen, dass als das übergeordnete Anliegen der Phänomenologie die Überwindung von Gegensätzen und Entzweiung angesehen werden kann. Das »unglückliche Bewusstsein« erscheint in diesem Verständnis als eine besondere Art der Entzweiung, nämlich derjenigen Entzweiung, die einer religiösen Bewusstseinsform eignet. Worin aber besteht das spezifisch religiöse Moment in dieser Entzweiung? Dies ist gar nicht leicht zu bestimmen. So wird häufig angenommen, dass der Abschnitt auf die konkrete, historische Situation des entstehenden Christentums anspielt. 51 Diese Annahme ist allerdings nicht unumstritten. 52 Auffällig ist, dass Hegel den ganzen Abschnitt über im Gebrauch von explizit christlich-religiöser Terminologie recht zurückhaltend ist. Von »Gott« spricht Hegel nicht an einer Stelle. Dennoch trägt das Andere des Selbst, das Hegel portraitiert, Züge, die seine Interpretation mit einer monotheistischen Gottheit nahelegt. 53 Ein zentrales Prädikat hierbei scheint das der Unwandelbarkeit zu sein, welche das »unglückliche Bewusstsein« dem Anderen seiner selbst zuschreibt, während es sich selbst dieses Prädikats beraubt. Das »unglückliche Bewusstsein«, so mag man dann formulieren, ist darin eine spezifisch religiöse Gestalt der Entzweiung, insofern es die unwandelbaren Anteile des Selbst von diesem abstrahiert. Die Rede vom Unwandelbaren ist aber wiederum schillernd. Meint sie ein schlechthin Unendliches, also doch eine Gottheit, an der das endliche Selbst nur Anteil erlangt? Oder besteht sein Argument gerade im Auffinden einer Dimension des Unwandelbaren in unserer endlichen Existenz? Diese Fragen verweisen auch auf ein anderes Problem, auf die Frage, ob und inwieweit das »unglückliche Bewusstsein« als eine Kritik der Religion verstanden werden kann. Liest man nur das »unglückliche Bewusstsein«, dann scheint sich die religionskritische Lesart geradezu aufzudrängen. Der Protagonist dieses Abschnitts ist offenbar ein sich als ein endliches, als ein wandelbares verstehendes Selbst. Und eben dieses endliche Selbst durchläuft eine Erkenntnisbewegung, an deren Ende es das Unwandelbare als Moment seiner selbst erkennt und sich so aus der religiösen Heteronomie befreit. In diesem Sinne versteht Pirmin Stekeler-Weithofer den Abschnitt und kommt schließlich zu dem Urteil: »Radikaler als mit den Argumenten, die Hegel hier vorträgt, kann man die christliche Philosophie des unglücklichen Bewusstseins von Augustinus zu Luther nicht kritisieren.« 54 Gegen die religionskritische Lesart des 51 52 53 54

Vgl. Lukács 1973. 484; vgl. ebenso Siep 2000, 112 f. Vgl. Bertram 2017, 117. Vgl. Stekeler-Weithofer 2014, 754. Stekeler-Weithofer 2014, 774.

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»unglücklichen Bewusstseins« mag man aber nun einwenden, dass die Religionsphilosophie der Phänomenologie des Geistes auseinanderreißt, wer das »unglückliche Bewusstsein« nicht zusammen mit der komplementären Bestimmung der Religion im sechsten Kapitel über »Die Religion« wahrnimmt. So urteilt Bernard Bourgeois und schreibt, das »unglückliche Bewusstsein« beschreibe die Bewegung des Menschen zu Gott, das sechste Kapitel die umgekehrte Bewegung Gottes zum Menschen. Letztere erhalte aber durch das »hierarchische« Verhältnis der beiden Abschnitte den hermeneutischen Vorrang. 55 Der Verweis auf das Religionskapitel ist weiterführend, er nimmt aber dem »unglücklichen Bewusstsein« meines Erachtens nicht seine Ambivalenz. Denn ob Hegel in der Phänomenologie insgesamt eine christliche Philosophie bietet, ist auch keinesfalls unumstritten. Walter Jaeschke sieht die Phänomenologie als Abschluss der Emanzipation Hegels von der von Kant beeinflussten Ethikotheologie. 56 Gleichzeitigt sieht er in der Phänomenologie eine klare Überwindung der Religion, weil diese einem »obsoleten Gottesgedanken« anhängt. 57 Dies verweist wieder auf die oben bereits im Bezug auf das »unglückliche Bewusstsein« geäußerte Beobachtung über das auffallende Fehlen des Gottesbegriffs. Wie auch immer man diese Wendung verstehen mag, enthält sie doch gegenüber einer metaphysischen Interpretation des christlichen Glaubens ein mehr oder weniger offensichtlich reduktives, »entmythologisierendes« Moment. 58 Dieses reduktive Moment in Hegels Religionsphilosophie wurde verschiedentlich auch als eine »Existenzialisierung« der Religion bezeichnet. 59 Siep urteilt in diesem Zusammenhang, dass eine solche Existenzialisierung aus der Innenperspektive des Glaubenden »kaum zu akzeptieren« 60 sei. Ob das so stimmt, soll hier einmal dahingestellt bleiben. Für unsere Frage nach der Deutung des Unwandelbaren im »unglücklichen Bewusstsein« aber folgt daraus, dass auch von dem Gesamtentwurf der Phänomenologie her gesehen sich die Identifizierung des Unwandelbaren mit einer theistischen Gottheit, die sich dann durch die Religion im endlichen Selbst erkennt, keinesfalls zwingend ergibt. Der »absolute Geist« bleibt eine Kategorie, die in der Phänomenologie im Aufstieg vom endlichen Selbst her schrittweise erschlossen wird und gerade nicht zu einem späten Zeitpunkt als ein »deus ex machina« auf den Plan tritt. 55 56 57

58 59 60

Vgl. Bourgeois 2007, 87. Vgl. Jaeschke 1986, 111 ff. Vgl. Jaeschke 1986, 205. Für eine religionskritischen Lesart der Phänomenologie vgl. auch ders. 2016, 181. Vgl. Lewis 2008, 19. Vgl. Sass 1963, 29; Siep 2000, 236. Siep 2000, 236.

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Wenn die Junghegelianer die Frage nach der Religion aufgreifen, dann tun sie das wiederum im Aufstieg vom endlichen Selbst aus und scheinen damit genau der gedanklichen Bewegung zu folgen, die Hegel in der Phänomenologie vorgezeichnet hat – auch wenn ihre Interpretationen durchaus an einem deutlich anderen Endpunkt auskommen als an dem, den Hegel gefunden hat. 3. Das unglückliche Bewusstsein bei Bruno Bauer Wenn ich im Folgenden die Linie vom »unglücklichen Bewusstsein« zur entfremdungstheoretischen Religionskritik bei Bruno Bauer führe, dann geht es mir, wie ich oben bereits deutlich gemacht habe, nicht um den Nachweis philologischer Abhängigkeiten. Ich denke, dass man Bauers und auch Feuerbachs Hegelinterpretation über die Figur des »unglücklichen Bewusstseins« erschließen kann, unabhängig davon, ob sie die entsprechende Passage in der Phänomenologie intensiv bearbeitet haben oder nicht. Im Falle Bauers aber gibt es nun tatsächlich einen Text, der einen ganz eindeutigen Bezug auf den Abschnitt vom »unglücklichen Bewusstsein« darstellt, und das ist der Aufsatz über die Leiden und Freuden des theologischen Bewusstseins von 1843. Zwar nennt Bauer die Phänomenologie dort nicht explizit als Vorlage, aber die Parallelität in Aufbau, Formulierung und Argumentation ist so offensichtlich, dass Marx den Text sogar als eine »Übersetzung« des Abschnitts vom »unglücklichen Bewusstsein« bezeichnen konnte. 61 Vergleicht man Hegels Darstellung und Bauers Relecture in den Leiden und Freuden, so zeigen sich neben grundlegenden Übereinstimmungen auch einige charakteristische Weiterentwicklungen oder Aktzentverschiebungen, die im Folgenden angedeutet werden sollen. 62 Der Kerngedanke der Leiden und Freuden ist die Gegenüberstellung zweier Formen des Bewusstseins. Auf der einen Seite steht das »Selbstbewusstsein«, auf der anderen das »theologische Bewusstsein«. Als Voraussetzung und Grundlage des »theologischen Bewusstseins« bestimmt Bauer ein von ihm sogenanntes »religiöses Bewusstsein«. Bauer stellt dann zunächst das »Selbstbewusstsein« und das »religiöse Bewusstsein« folgendermaßen gegenüber: Wenn nämlich das freie, menschliche Selbstbewußtsein alle die allgemeinen Bestimmungen, die für den Menschen gelten und die Menschen untereinander verbinden, als Erzeugnis seiner eigenen Entwicklung und als das würdige Erzeugnis seines Lebens betrachtet, [. . . ] hat das religiöse Bewußtsein dieselbe von dem Selbst des Menschen losgerissen, in eine himmlische Welt versetzt und das 61 62

Vgl. Marx 1843, 45; vgl. auch Sass 1963, 244. Zu Bauers Relecture des »unglücklichen Bewusstseins« vgl. auch Wolf 2013, 107–109.

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unstete, schwankend und elend gewordene individuelle Ich mit dem allgemeinen, wahrhaften Ich, dem einzigen Ich, welches den Namen des Menschen verdient, in Zwiespalt gesetzt. 63

Konstituierendes Merkmal des religiösen Bewusstseins ist demnach, dass es das »Ich« des religiösen Menschen mit einem zweiten Ich in einen Widerspruch, einen »Zwiespalt« bringt. Damit nimmt Bauer die Figur der Verdopplung des Selbst auf, die wir bei Hegel kennengelernt haben. Das religiöse Selbst sieht sich nun einem Anderen gegenübergestellt, das von Bauer auch als ein Ich bezeichnet und offenbar als Moment des Selbst gedacht wird, worin sich das Selbst aber gerade nicht wiedererkennen kann. Das religiöse Bewusstsein scheint damit eine Einheit oder eine Verbindung, die zwischen dem Selbst und dem Anderen besteht, zu verdunkeln. Zur Kennzeichnung dieser Figur verwendet Bauer nun bereits terminologisch den Begriff der »Entfremdung«, den Hegel in diesem Zusammenhang noch nicht gebraucht hat, und nennt die Struktur des religiösen Bewusstseins eine »Zerrissenheit des Innern und Entfremdung gegen sich selbst« 64. Wichtig für das Verständnis der religiösen Entfremdung bei Bauer ist nun eine erste Akzentverschiebung, die er Hegel gegenüber vornimmt. Diese Akzentverschiebung betrifft die Frage, wie die Verbindung zwischen dem Selbst und seinem Anderen gedacht wird. In der oben zitierten Passage bestimmt Bauer das Andere des Selbst, welches das religiöse Bewusstsein von dem Menschen »losgerissen« hat, als das »Erzeugnis« des Menschen bzw. seiner »eigenen Entwicklung«. Damit scheint Bauer eine Antwort auf die Frage zu geben, wie das Andere dem Selbst verbunden sein kann und sogar als ein Moment des Selbst verstanden werden muss, ohne mit ihm schlechthin identisch zu sein. Das Selbst entäußert sich in seinem Erzeugnis und schafft ein zweites Ich. Dadurch, dass das Selbstbewusstsein sein Erzeugnis als entäußertes Moment seiner selbst weiß, ist es Selbstbewusstsein. Das religiöse Bewusstsein dagegen erkennt sein Erzeugnis und damit ein Moment seiner selbst gerade nicht als das seine und ist somit von sich selbst entfremdet. Diese Bestimmung des religiösen Bewusstseins über sein Verhältnis zu seinem Erzeugnis konstituiert dann auch das theologische Bewusstsein, das aus dem religiösen Bewusstsein heraus erwächst. Dieses entsteht durch »Reflexion« auf Grundlage des religiösen Bewusstseins und erschafft darin eine »Welt von göttlichen Gestalten, Geschichten, Kämpfen, Sätzen, Dogmen und Statuten«. 65 In dieser »göttlichen Welt« wird die Entzweiung des religiösen Bewusst63 64 65

Bauer 1943, 156. Ebd. Ebd.

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seins gleichsam noch einmal verdoppelt. Denn das theologische Bewusstsein erschafft seine Welt in produktiver Ausgestaltung der durch das religiöse Bewusstsein gegebenen »allgemeinen Bestimmungen«. In seinem Schaffen bleibt aber das theologische Bewusstsein wiederum »religiös« und erkennt sich darum nicht in seiner Schöpfung: »[Es] weiß [..] und kennt nicht seine Schöpferkraft; es betrachtet sich dem Göttlichen gegenüber nur als empfangend, d. h. nur als religiös.« 66 Erst wenn der Mensch die göttliche Welt als seine Schöpfung betrachtet, wie wir es bei den antiken Religionen bereits zu tun gewohnt sind, betrachtet man sie »nicht mehr religiös« und die Entfremdung ist aufgehoben. 67 Diese Situation des theologischen Bewusstseins nun ist nach Bauer nicht nur bestimmt durch eine intellektuelle Selbsttäuschung, sie ist eine Situation des Leidens. Bauer schreibt: »Das Selbstbewusstsein ist selig, auch in seinen Arbeiten selig. Das theologische Bewusstsein ist die ewige Qual, und selbst seine Freuden sind durch diese Qual vergiftete.« 68 Offenbar geht Bauer davon aus, dass die Entzweiung oder Zerrissenheit des Selbst von diesem als leidvoll erfahren wird. Darum sehnt es sich nach Auflösung der Entzweiung, nach »Harmonie«. 69 Nun kann aber die Theologie die ersehnte Harmonie nicht herstellen, weil sie damit sich selbst aufheben müsste. Unwillentlich sorgt der Theologe dafür, dass die »Quelle der Widersprüche« erhalten bleibt, er »wäre nämlich unglücklich, wenn sie versiegte, da gerade aus ihr sein Leben, sein Ganzes, sein Leben hervorquillt«. 70 Somit leidet das theologische Bewusstsein nach Bauer zwar an der Entzweiung, strebt aber dennoch nicht auf seine Auflösung im Selbstbewusstsein hin, sondern bekämpft vielmehr das Selbstbewusstsein und hindert seine Entwicklung. 71 In dieser sehr pessimistischen Einschätzung über die Lernfähigkeit des theologischen Bewusstseins liegt wiederum eine Akzentverschiebung gegenüber Hegel vor. Selbst wenn man Hegel in dem Sinne lesen möchte, dass er in der Phänomenologie eine endgültige Ablösung der Religion durch die Philosophie in Aussicht stellt, so betont er dabei doch eher, dass sie eben auf diese Überwindung hinstrebt und sie nicht hemmt oder bekämpft. Der kurze Überblick über die Hauptthesen aus Bauers Leiden und Freuden des theologischen Bewusstseins hat gezeigt, dass dessen Theorie der religiösen Entfremdung in enger Nähe zu der Vorlage Hegels gelesen werden kann. Blickt man auf die Akzentverschiebungen, die Bauer gegenüber Hegel vornimmt, so ist vor allem die Verwendung der Kategorie der Produktion für das Verhält66 67 68 69 70 71

Bauer 1843, 157. Vgl. Bauer 1843, 156. Bauer 1843, 174. Bauer 1843, 158. Bauer 1843, 159. Vgl. Bauer 1843, 155.

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nis von Selbst und Anderem in der Religion hervorzuheben. Bauer deutet die Spaltung des Ichs, die er mit Hegel in der Religion annimmt, als eine Spaltung zwischen dem Selbst und seinem Produkt. Damit realisiert Bauer ein Modell der Entfremdungstheorie, das ich als dialektisches Modell bezeichnet habe. Das Selbst entäußert sich in seinem Produkt und dieses Produkt wird zu einem Moment des Selbst. Mit dieser Entäußerung ist zunächst noch kein Verhältnis der Entfremdung gegeben. Erst dadurch, dass das Selbst sein Produkt nicht mehr als das seine versteht, wird es ihm fremd. Insofern mein Produkt ein Moment meiner selbst darstellt, ist diese Entfremdung eine Selbstentfremdung. Dies genau ist bei Bauer in der Religion und in zweitem Grade auch in der Theologie gegeben, weil beide die produktive Selbsttätigkeit des Menschen nicht begreifen können, sondern das Produkt als ein von außen gegebenes verstehen. Erst durch ein Wiedererkennen meiner Produkte als die meinen könnte eine Überwindung der religiösen bzw. theologischen Entfremdung bestehen. Ich habe mit den Leiden und Freuden einen relativ späten Text Bauers eingespielt. Was ihn auszeichnet ist, dass dort Bauers Entfremdungstheorie in klarer und vollendeter Gestalt vorliegt. Durch seine eindeutige Bezugnahme auf das »unglückliche Bewusstsein« in der Phänomenologie schien er mir geeignet, an ihm die charakteristische Weiterentwicklung herauszuarbeiten, die Bauer der hegelschen Religionsphilosophie gibt. In ihrer Tendenz ist diese Interpretation allerdings nicht erst 1843, sondern spätestens 1841 manifest. 1841 erscheint der vielleicht berühmteste Text Bauers, die Posaune des Jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen. 72 Ein Jahr später erscheint Hegels Lehre von der Kunst und Religion. 73 Diese Schrift war als zweiter Teil zur Posaune geplant, erschien aber dann unter neuem Titel, um die Vorzensur zu umgehen. 74 Beide Texte verbindet eine gemeinsame satirische Strategie. 75 Bauer tarnt sich als pietistischer Theologe, der die hegelsche Philosophie des »Atheismus« beschuldigt. Damit ist die Wertung durchgehend ironisch verkehrt, Bauer kämpft hier keinesfalls gegen den Atheismus, sondern versucht ihn mit Mitteln der hegelschen Philosophie wahrscheinlich zu machen. Aber nicht nur die Wertung ist satirisch verzerrt, auch die Interpretation der hegelschen Philosophie, die Bauer bietet, muss mit Vorsicht behandelt werden. Wenn Bauer schreibt, Hegel habe seinen »Atheismus« bewusst »verhüllt«, um seine Leser zu täuschen, 76 dann muss Bauer sich wohl im Klaren gewesen sein, dass diese 72 73 74

75 76

Vgl. Bauer 1841. Vgl. Bauer 1842. Eberlein 2009, 62. Als Autoren nehme ich für beide Texte mit Douglas Moggach Bauer allein an, auch wenn für Hegels Lehre häufig Marx als Ko-Autor vermutet wird, vgl. hierzu Moggach 2003, 222; anders Simon 1982, 83 f. Zur rhetorischen Fiktion der Posaune vgl. Eberlein 2009, 61 ff. Vgl. Bauer 1841, 269 ff.

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Darstellung »nicht konsonant« mit Hegels Selbstverständnis ist, wie Douglas Moggach formuliert. 77 Wenn man aber die offensichtlichen und etwas nervösen Überzeichnungen abzieht, dann wird sichtbar, dass Bauers Philosophie als durchaus gut informierte Aufnahme zentraler hegelscher Figuren gelesen werden kann. Ich möchte im Folgenden keine eingehende Interpretation der Posaune und von Hegels Lehre bieten, sondern nur andeuten, dass sich die leitenden Gedanken aus den Leiden und Freuden schon dort nachweisen lassen. So beschreibt Bauer schon in der Posaune in seiner überzeichneten Wiedergabe Hegels die Religion als eine Spaltung oder Verdopplung des Bewusstseins. Das Selbst habe sich in der Religion »wie in einem Spiegel verdoppelt«, um dieses Spiegelbild für Gott zu halten. 78 Durch diese illusionäre Selbsttäuschung sei das »Selbstbewusstsein« von seinem eigenen Wesen »entfremdet«. 79 Der so konstituierte Zustand der Selbstentfremdung wird schon hier vom religiösen Menschen als leidvoll erlebt. Bauer schreibt: »[D]ie Religion ist das Heimweh desjenigen, der sich von seinem Lande, von seinen Angehörigen getrennt sieht, nur dass in der Religion der Mensch nach sich selbst und nach seinem Wesen sich sehnt.« 80 Und schließlich bestimmt Bauer schon hier das Verhältnis des Selbst zu seinem Anderen als Produktionsverhältnis. So nennt Bauer die Religion ein »Produkt des Selbstbewusstseins« 81 und führt anschließend aus, dass ihr eine »Tätigkeit des Ichs« zugrunde liegt, in welchem es sich selbst »entäußert«. 82 Damit rückt Bauer die Religion in die Nähe zur künstlerischen Tätigkeit, um dabei aber zugleich künstlerische und religiöse Entäußerungsprozesse gegeneinander abzugrenzen. Genau diese Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion wird in Bauers Fortsetzung, in Hegels Lehre von der Religion und Kunst aufgegriffen und weiterentwickelt. Auch hier vertritt Bauer wieder in satirischer Überspitzung die These einer bewussten Verstellung Hegels. Diese These bezieht sich hier speziell auf die Nachordnung der Religion gegenüber der Kunst in dessen philosophischem System. Diese Nachordnung, so Bauer, habe Hegel vollzogen, um seine Leser zu täuschen. In Wirklichkeit, so lautet Bauers Pointe, erscheint die Kunst in Hegels Verständnis nämlich als Aufhebung der Religion und müsse darum folgerichtig nach der Religion zu stehen kommen. 83

77 78 79 80 81 82 83

Vgl. Moggach 2003, 100. Vgl. Bauer 1841, 354. Vgl. Bauer 1841, 315. Bauer 1841, 315. Bauer 1841, 344. Vgl. Bauer 1841, 348. Vgl. dazu auch Müller 2010.

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Diese These begründet Bauer nun folgendermaßen: Die Religion sei eine Form der produktiven Tätigkeit des Selbst, in welcher sich das Selbst nicht als tätiges erkennt. Man könnte sagen: Nach Bauers Hegeldeutung ist die Religion zwar an sich ein Produkt der Selbsttätigkeit des Menschen, aber nicht für sich. Die Kunst nun behebe diesen Mangel, indem sich in ihr der Mensch als produktiv erkenne. Die Kunst, so Bauer, »offenbare« uns die »Objektivität« als »unsere Schöpfung«. 84 Damit aber liegt in der Kunst ein wesentlicher Fortschritt gegenüber der Religion oder, wie Bauer schreibt: »Die Kunst hat uns gelehrt, dass die Religion unser Gedanke ist [. . . ].« 85 Ebenso wie in den Leiden und Freuden beruht hier Bauers dialektische Entfremdungstheorie auf einer Unterscheidung von Entäußerung und Entfremdung. Die religiöse Entfremdung wird aufgehoben nicht erst dann, wenn das Selbstbewusstsein auf jede Entäußerung verzichtet, sondern bereits in dem Moment, in dem es sich in seinen Entäußerungsvollzügen als tätig erlebt und seine Produkte als die seinen erkennt. Dieses Erkennen ist es, was künstlerische vor religiösen Vollzügen auszeichnet, wodurch die Kunst bei Bauer als Überwinderin der Religion erscheinen kann. 4. »Kunst und Religion« (1842) Ich habe im vorangegangenen Abschnitt die entfremdungstheoretische Religionskritik in Bauers Leiden und Freuden des Theologischen Bewusstseins skizziert und dabei ihre Nähe zu der hegelschen Figur des »unglücklichen Bewusstseins« stark gemacht. In Bauers spezifischer Interpretation erschien die Religion als eine Form des Bewusstseins, in welcher das Selbst seine eigenen geistigen Produkte nicht als die seinen erkennt und sie ihm als fremd entgegentreten. Dieses entfremdungstheoretische Schema ist bei Bauer, wie ich angedeutet habe, im Wesentlichen schon mindestens seit Hegels Lehre von der Kunst und Religion ausgebildet. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Stirner die dort ausgebildete Gestalt der entfremdungstheoretischen Religionskritik aufnimmt und weiterdenkt. Dass Stirners Religionskritik mit einer Entfremdungsfigur verknüpft ist, kann in dieser allgemeinen Form als unwidersprochen gelten. 86 Diese Verknüpfung geht bereits auf Stirners frühe Texte zurück. In der Stirner zugeschriebenen Schrift Von der Verpflichtung der Staatsbürger zu irgendeinem Religionsbekenntnis von 1842 schreibt der anonyme Autor eine Apologie der 84 85 86

Vgl. Bauer 1842, 225. Ebd. Vgl. nur Deschner 1977, 34; Schuhmann 2010, 189; Kast 2016a, 93.

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»Freien« und damit derjenigen junghegelianischen Gruppe, der Stirner wohl angehört hat. 87 Über die Freien lesen wir dann: »Sie wollen keine Religion, weil alle Religion nur äußerlich fixiert und als Fremdes dem Menschen vorführt, was in seiner eigenen Brust lebt«. 88 In dem ebenfalls Stirner zugeschriebenen Gegenwort aus demselben Jahr antwortet dieser auf einen Aufruf der Berliner Geistlichkeit zum Besuch der »Christlichen Sonntagsfeiern«. Dort schreibt Stirner: »Gott ist ja mein bestes Teil, mein innerstes Wesen, mein besseres oder vielmehr bestes und wahres Selbst«. 89 In beiden Texten bedient sich Stirner erkennbar aus dem semantischen Arsenal der Theorie religiöser Entfremdung. Ein »Inneres« wird »äußerlich« in der Religion, ein »Eigenes« wird »fremd«, ein »Selbst« wird zu »Gott«. Für unser Vorhaben einer Rekonstruktion der Religionskritik bei Stirner sind die zwei Texte dennoch von geringem Gewicht. Bei den Zitaten handelt es sich um beiläufige Formulierungen aus Gelegenheitsschriften mit journalistischem oder pamphletistischem Charakter. Eine systematische, geschlossene Theorie findet sich dort nicht. Außerdem ist es wegen der Knappheit und Offenheit der Formulierungen kaum möglich zu entscheiden, ob Stirner sich hier bereits auf einen der beiden einflussreichen Entwürfe Bauers und Feuerbachs bezieht. 90 Die Formulierungen sind darum eher ein Beleg dafür, dass die Rede von der Religion als »Entfremdung« im Jahr 1842 bereits »Jargon« geworden zu sein scheint – wie Arnold Gehlen feststellt. 91 Anders stehen die Dinge bei der ersten einigermaßen systematischen Äußerung Stirners zu dem fraglichen Thema, bei dem Aufsatz Kunst und Religion von 1842. In diesem Text bietet Stirner tatsächlich eine recht ausführliche und pointierte Theorie der religiösen Entfremdung. Und hier ist dann auch sinnvollerweise eine rezeptionsgeschichtliche Frage zu stellen. Üblicherweise wird Stirners Entfremdungstheorie insgesamt auf Feuerbach zurückgeführt. 92 So entschieden, wie dieser weitreichende Konsens erscheint, ist die Sachlage aber, wie wir sehen werden, nicht. Wenn Feuerbach als Hauptbezugspunkt Stirners bezeichnet wird, dann gilt das für den Einzigen und sein Eigentum von 1844 ganz unbedingt. 93 In den 87 88 89 90

91 92

93

S.o. Kapitel I, Abschnitt 2. VS 111. KS 32. Anders Kast 2016a, 70–73a, der im Gegenwort einen starken Einfluss Feuerbachs feststellen zu können meint. Vgl. Gehlen 1975, 33. Vgl. nur Schuhmann 2011, 307. Von einer Aufnahme der »Projektionstheorie« Feuerbachs spricht Eßbach 2010a, 54. Zur Problematik einer Rede von der »Projektionstheorie« s. u. Kapitel IV, Abschnitt 2. Dazu ausführlich s. u. Kapitel IV, Abschnitt 4.

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Schriften vor dem Einzigen ist ein Einfluss Feuerbachs spürbar, sollte aber in keinem Fall überschätzt werden. Keine Schrift vor dem Einzigen enthält eine direkte Auseinandersetzung mit ihm. 94 Bruno Bauer wiederum war für Stirner seit dem Beginn seiner publizistischen Tätigkeit ein ständiger Bezugspunkt. Einer seiner ersten publizierten Texte, der 1842 im Telegraphen für Deutschland erschien, ist eine Rezension zu Bauers Posaune. 95 Über den Prozess, der mit dem Entzug von Bruno Bauers Lehrbefugnis endete, hat Stirner in seinen Zeitungskorrespondenzen mehrfach berichtet. 96 1842 veröffentlicht Stirner dann den oben erwähnten Beitrag über Kunst und Religion, der mehr oder weniger explizit als kritische Antwort auf Bauers Hegels Lehre konzipiert ist und sich mit der entfremdungstheoretischen Religionskritik Bauers auseinandersetzt. Wohl kann auch eine Kenntnis und eine Rezeption Feuerbachs in diesem frühen Text nicht ausgeschlossen werden. Wenn Feuerbach hier aber als Hauptreferent genannt wird, 97 dann wird dabei unterschlagen, dass der primäre und direkte Gesprächspartner des Textes ganz offensichtlich Bruno Bauer ist. 98 Stirner nennt in Kunst und Religion weder den Namen Bruno Bauers noch den Namen von dessen vorangegangener Schrift. Dennoch ist die Anknüpfung unverkennbar. Bereits die ersten Zeilen greifen eben das Problem auf, das Bauer sich in Hegels Lehre vorgelegt hat, und geben ihr eine andere, Bauers Position umkehrende Lösung. Stirner schreibt: »Hegel behandelt die Kunst vor der Religion; diese Stellung gebührt ihr, sie gebührt ihr unter dem geschichtlichen Gesichtspunkte.« 99 Stirner bietet im Folgenden einen eigenen Versuch einer Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion. Dabei greift er sowohl das Motiv der Religion als Entfremdung auf als auch das engere, von Bauer konturierte Verständnis der religiösen Entfremdung als Entfremdung des Menschen von seinen Produkten. Ausgangspunkt ist für Stirner hier das Motiv der Verdopplung des Selbst, das wir bei Hegel und Bauer kennengelernt haben: Sobald die Ahnung erwacht, dass der Mensch in sich selbst ein Jenseits habe [. . . ] sobald jene Ahnung in dem Menschen erwacht und er darauf hindrängt, sich zu theilen und zu entzweien in das, was er ist, und das, was er werden soll, so strebt 94

95 96

97 98 99

Selbst in Stirners Zeitungskorrespondenzen erscheint der Name Feuerbach nur zweimal – beide Male beiläufig im Zusammenhang von Berichten über den Prozess um Bauers Lehrbefugnis, vgl. KS 63; 111. Vgl. KS 11 ff. Vgl. nur KS 97 ff; 111 ff; 114 ff; 212 ff. Zu dem Prozess um Bauers Absetzung vgl. nochmals Eberlein 2009, 66–69. Vgl. Simon 1982, 87; Kast 2016a, 91. Vgl. auch Paterson 1971, 53 f. KS 258.

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er sehnsüchtig nach dem letzteren, nach diesem zweiten und anderen Menschen, und rastet nicht eher, als bis er die Gestalt dieses jenseitigen Menschen vor sich sieht. 100

Dieses Ideal zu schaffen kommt nach Stirner der Kunst zu. Den »heisse[n] Drang [. . . ] sich zu verdoppeln« befriedige der kunstschaffende »Genius«. 101 Das Ideal, das die Kunst geschaffen hat, ist nun aber bereits im Moment der Erschaffung dem Menschen »jenseitig« geworden. Dadurch erscheint dieses zweite Selbst als ein radikal Fremdes: »Es ist der Gott seines Innern, aber er ist draussen; darum kann er ihn nicht fassen, nicht begreifen«. 102 So schildert Stirner die Entstehung des religiösen Bewusstseins aus der Kunst, welches darum der Kunst folgen muss. Die Kunst schafft eine Entzweiung, die Religion lebt in dieser Entzweiung. Im Weiteren vertieft Stirner dann die Charakteristik dieses religiösen Bewusstseins. Die Religion, so Stirner, lebe in »Qualen« und »Kämpfen«, denn: »fürchterlich ist es, ausser sich zu sein«. 103 Darum strebe sie auch danach, die Entzweiung aufzuheben. Allerdings könne die Religion die Entzweiung niemals aufheben, da sie sonst sich selbst aufheben müsste. 104 Erst die »Komödie« trete der Religion vernichtend gegenüber. In ihr habe die Kunst »neue Schöpferkraft« gewonnen, welche die alte Religion überwinde. Allerdings währt diese Überwindung nur für einen Moment, da die Komödie nicht darüber hinauskommt, »Kunst« zu sein. Darum erschafft auch die Komödie wieder neue Entzweiung und damit »neue Religion«. 105 Am Ende des Aufsatzes deutet Stirner an, die »Philosophie« könne über die Ohnmacht der Kunst hinausführen und die religiöse Entfremdung beenden, doch führt er diesen Gedanken nicht weiter aus. 106 Schon in dieser knappen Skizze der wesentlichen Gedanken seiner Schrift zeigt sich Stirners enge Anknüpfung an das Problemfeld, das wir bei Hegel und Bauer aufgefunden haben. Die Bezüge zur Figur der religiösen Entfremdung, wie wir sie im »unglücklichen Bewusstsein« kennengelernt haben, sind deutlich: die Bestimmung der Religion als Verdopplung des Selbst sowie das Leiden der Religion an dieser Verdopplung oder Spaltung. 107 Weiterhin scheint deutlich, dass Stirner diese Figur in der von Bauer weiterentwickelten Gestalt 100 101 102 103 104 105 106 107

Ebd. Vgl. KS 259. Ebd. KS 260. Vgl. KS 265. Vgl. KS 266 f. Vgl. KS 268. De Ridder spricht mit Bezug auf Kunst und Religion von »Stirners ironic version of Hegel's Unhappy Consciousness«, vgl. ders. 2011, 151.

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übernimmt. Die Verdopplung des Selbst geschieht bei Stirner wie bei Bauer durch eine produktive Tat des Selbst. Das Andere des Selbst in der religiösen Entfremdung ist sein eigenes Produkt, welches es nicht als das Seine anerkennt. Ebenfalls in großer Nähe zu Bauer steht die skeptische Beurteilung des religiösen Strebens. Während bei Hegel die Religion über sich selbst hinaus auf die Überwindung der Spaltung hinstrebt, betonen Bauer und Stirner die beinahe tragische Ambivalenz dieses Strebens, das dazu verdammt zu sein scheint, die Strukturen fortzuschreiben, an denen es leidet. Neben der Anknüpfung an Bauer sind allerdings auch starke eigenständige Entscheidungen Stirners erkennbar. Der sichtbarste Unterschied zwischen Bauer und Stirner ist die Umkehrung des Verhältnisses von Kunst und Religion, die schon im Vergleich der beiden Titel deutlich wird. Diese Umkehrung ist allerdings komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Um sie zu rekonstruieren, möchte ich auf die oben eingeführte begriffliche Unterscheidung von Entäußerung und Entfremdung zurückkommen. Bei Bauer handelt es sich bei Religion und Kunst um zwei Formen der Entäußerung. Während aber in der Religion dem Selbst das entäußerte Andere fremd bleibt, gelingt in Praktiken der Kunst ein Wiedererkennen des Anderen als mein Produkt. Die Kunst ist darum nach Bauer eine Möglichkeit der Überwindung der Religion und darum eine Überwindung der Entfremdung. Bauer setzt damit ein dialektisches Modell der Entfremdung voraus, in welchem Entäußerung und Entfremdung unterschieden wird. 108 Bei Stirner dagegen scheint offenbar genau dies bestritten zu werden. Die in Praktiken der Kunst erfolgte Entäußerung geht bei Stirner unvermeidlich in Entfremdung über. Darum muss auch die Kunst ihre Rolle als Überwinderin der Religion verlieren. Wenn unterschiedslos jede Entäußerung eine Entfremdung nach sich zieht, dann fallen Kunst und Religion in eins bzw. werden zwei Momente desselben Prozesses. Während also bei Bauer die Entäußerung nur zur problematischen Entfremdung wird, wenn sie nicht als schöpferische Entäußerung begriffen und so das Entäußerte wiederangeeignet wird, wird bei Stirner die Entäußerung selbst problematisch. 109 Stirner vertritt hier einen Ansatz, der dem nahekommt, was ich als nicht-dialektisches Modell der Entfremdung beschrieben habe. Tatsächlich manövriert sich Stirner mit seiner Entscheidung in die oben angedeuteten Schwierigkeiten dieses radikalen und weitgehend gegenintuitiven Modells. Darum erscheint es nahezu zwangsläufig, wenn Stirners Aufsatz mit dem vagen und folgenlosen Hinweis auf die Philosophie aporetisch endet.

108 109

Zu diesem Modell s. o. Abschnitt 1. Vgl. Sass 1963, 144.

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Das Verhältnis von Entäußerung und Entfremdung in der Religion, das hiermit in einer radikalen Weise beantwortet ist, wird uns noch weiter beschäftigen, da Stirner dieses Verhältnis im Einzigen aufgreift und dort genauer konturiert. Neben dem Verhältnis von Entäußerung und Entfremdung gibt es aber in Kunst und Religion noch einen weiteren Aspekt, in dem Stirner eine Weiterentwicklung des bauerschen Ansatzes bietet, welcher ebenfalls in starkem Maße auf das Hauptwerk vorausweist. Und dieser zweite Aspekt ist die Lösung des Religionsbegriffes von seiner Ineinssetzung mit einem metaphysischen Theismus. Wie wir gesehen haben, hatte Hegel im »unglücklichen Bewusstsein« die Bezeichnung des Anderen des Selbst als Gott vermieden und damit den Religionsbegriff geöffnet. Bauer jedoch identifiziert in seiner Aufnahme der hegelschen Figur das Andere wieder mit »Gott« 110 bzw. mit der »göttlichen Welt«, 111 setzt Religion und Theismus gleich und stellt umgekehrt den Atheismus der religiösen Entfremdung kritisch gegenüber. Wenn Stirners Text nun ebenfalls mit dem Anliegen des Atheismus identifiziert wird, 112 dann scheint dies nicht geradezu falsch, aber doch ungenau zu sein. Denn Stirner legt die Religion schon hier nicht, wie Bauer, einseitig auf den metaphysischen Theismus fest, sondern beschreibt an ihr eine allgemeine, formale Struktur. Zwar hatte auch Bauer den Theismus letztlich dekonstruiert und ihn auf eine subjektimmanente Struktur zurückgeführt. Dies hatte sich bei Bauer allerdings erst aus der kritischen Außenperspektive erschlossen. Bei seiner Analyse der Innenperspektive des religiösen Bewusstseins, die er anschließend zu dekonstruieren versuchte, hatte Bauer durchaus einen theistischen Glauben im Blick. Diese Engführung auf einen metaphysischen Theismus wird bei Stirner in Kunst und Religion vorsichtig aufgehoben. Auch wo Stirner aus der Innenperspektive des religiösen Selbst spricht, heißt sein intentionales Anderes zumeist nicht »Gott«, sondern heißt sein »Ideal«, sein »Jenseits« oder sein »Gegenüber«. 113 Die Begrifflichkeit in Kunst und Religion ist nicht durchgehend einheitlich, aber deutlich wird, dass Stirner auch zur Bestimmung der charakteristischen Innenperspektive des religiösen Bewusstseins nicht nach einem substanziellen Inhalt, sondern nach dem Korrelat einer formalen Struktur sucht. Stirner geht in Kunst und Religion offenbar seine ersten Schritte in Richtung einer strukturalistischen Religionsphänomenologie. Worin genau die innere 110 111 112 113

Vgl. nochmals Bauer 1841, 354. Vgl. nochmals Bauer 1843, 156. Vgl. Paterson 1971, 53 f. KS 258 f; wenn auch Stirner an einer Stelle beiläufig anmerkt, ein »Religiöser« würde in dem Moment aufhören, »ein Religiöser zu sein«, wo er am Dasein Gottes zweifelt und damit Religion und Theismus doch wieder in eins setzt, vgl. KS 261.

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Struktur besteht, die mit dem Begriff der Religion adressiert ist, bleibt dabei noch schwach bestimmt. Mit der Assoziation des religiösen Bewusstseins mit dem »Verstand« 114 und mit der »Liebe« 115 findet Stirner erste Ansätze für eine Lösung dieses Problems, die im Einzigen weitergeführt werden. Wie dies geschieht, werden wir noch intensiv zu untersuchen haben. An dieser Stelle ging es darum, auf eine Grundentscheidung aufmerksam zu machen, durch die sich Stirner in spezifischer Weise von seinem Vorgänger löst. Durch die Überwindung der Bestimmung des religiösen Bewusstseins als – wenn auch nur scheinbares – Gottesbewusstsein entwickelt Stirner einen expansiven Religionsbegriff und baut damit einer entsprechend expansiven Religionskritik vor. Bevor wir uns der Umsetzung dieser expansiven Religionskritik im Einzigen zuwenden, muss im Folgenden eine Interpretation des Beitrags zwischengeschaltet werden, den Ludwig Feuerbach prominent in die Debatte gebracht hat. Denn wenn auch der Einfluss Feuerbachs auf Stirners erste Texte noch hinter dem Einfluss Bauers zurückzutreten scheint, so kann Stirners gedankliche Entwicklung von 1842 bis 1844 nicht mehr ohne Kenntnis von Feuerbachs wirkmächtigem Entwurf verstanden werden.

114 115

Vgl. KS 259–261. Vgl. KS 262–264.

Hegel-Studien

IV. Das Jenseits in uns Max Stirner und Ludwig Feuerbach

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ie junghegelianische Bewegung ist, bei aller Emphase der Abgrenzung von ihrem Lehrer, zweifellos stark durchformt von hegelschen Figuren. Allein die Linien, die von Hegels Phänomenologie zum Werk Max Stirners gezogen werden könnten, sind vielfältig. 1 Ich habe im letzten Kapitel eine Auswahl getroffen und mit dem »unglücklichen Bewusstsein« einen Abschnitt der Phänomenologie genauer in den Blick genommen. Meine Analyse zielte darauf ab, zu zeigen, dass die Figur der religiösen Entfremdung, die der Religionskritik Bauers und dann auch Stirners zugrunde liegt, von diesem Text her paradigmatisch erschlossen werden kann. Wenn auch Bauers These von Hegels willentlich verhülltem, gleichsam »esoterischem« Atheismus in der Posaune des Jüngsten Gerichts eine satirische Zuspitzung gewesen sein mag, so hat Bauer doch seinem Selbstverständnis nach seine Philosophie im Anschluss an eine charakteristische Interpretation der Religionsphilosophie Hegels entwickelt. Ob Bauer Hegel treffend interpretiert, ob Hegels Werk bzw. die Phänomenologie zumindest offen für eine religionskritische Deutung ist, zu dieser Frage habe ich einige Andeutungen versucht, 2 sie muss aber im Rahmen dieser Untersuchung letztlich unentschieden bleiben. Wichtig für meinen Zweck scheint es mir aber zu sehen, dass diese Interpretation in verschiedenen Variationen bei den junghegelianischen Autoren wiederholt wird und enorm wirkungsvoll geworden ist. Für Bauer gilt: Religiöses Bewusstsein ist entfremdetes Bewusstsein und diese Entfremdung ist verstehbar als Entzweiung des Ichs mit seinen Produkten. Vornehmlich »Gott« und die »göttliche Welt« ist somit ein Produkt des schaffenden Selbstbewusstseins. 3 Diesen Gedanken nimmt Stirner in Kunst und Religion auf, er geht aber dort zugleich erkennbar über Bauer hinaus. 4 In diesem Kapitel wollen wir voranschreiten zu Stirners Position, wie er sie in Der Einzige und sein Eigentum von 1844 formuliert. Diese Position entwickelt er, wie ich zeigen werde, in Auseinandersetzung mit der Religionskritik Ludwig Feuerbachs, besonders mit dessen Hauptwerk, dem Wesen des Christentums.

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Vgl. Fetz 2004, 314; Stepelevich 2006, 166 f; De Ridder 2011, 151; Fernandes 2013, 202 ff. S.o. Kapitel III, Abschnitt 2. S.o. Kapitel III, Abschnitt 3. S.o. Kapitel III, Abschnitt 4.

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Das Jahr 1841 ist in vieler Hinsicht ein entscheidendes Jahr für die junghegelianische Bewegung. 5 In diesem Jahr gibt Arnold Ruge – nach dem Verbot der Hallischen Jahrbücher – die erste Ausgabe der Deutschen Jahrbücher heraus und es beginnt damit eine zweite, intensivere Phase der junghegelianischen Publizistik. Daneben erscheinen 1841 zwei der wirkmächtigsten religionskritischen Texte dieses Jahrzehnts. Der erste von ihnen ist Bauers Posaune des Jüngsten Gerichts. Der zweite Text ist noch weit bekannter, da er zu einem religionsphilosophischen Klassiker geworden ist, und dieser Text ist Das Wesen des Christentums von Ludwig Feuerbach. Oben habe ich bereits angedeutet, dass die beiden Texte von 1841 eine große Parallelität aufweisen und zwei Varianten einer entfremdungstheoretischen Religionskritik repräsentieren. 6 Auf die Nähe seiner Konzeption zur Figur des »unglücklichen Bewusstseins« hat Bruno Bauer später in seinen Leiden und Freuden des theologischen Bewusstseins beinahe explizit hingewiesen. 7 Eine solche literarische Referenz gibt es bei Feuerbach nicht, dennoch möchte ich im Folgenden auch Feuerbachs Variante der entfremdungstheoretischen Religionskritik im Lichte der im »unglücklichen Bewusstsein« angelegten Figur verstehbar machen. Ich möchte in diesem Kapitel zuerst in Feuerbachs Wesen des Christentums und seine grundlegenden religionsphilosophischen Anliegen einführen. Dabei wird vor allem die Frage zu stellen sein, ob und inwiefern Feuerbachs Hauptwerk als religionskritische Schrift verstanden werden kann (1). Im Anschluss möchte ich auf die Bedeutung der Entfremdungsfigur für die im Wesen des Christentums entwickelte Religionskritik hinweisen (2) und die spezifische Ausgestaltung dieser Figur über den Gattungsbegriff erarbeiten (3). Schließlich möchte ich von Feuerbach zu Stirner überleiten und mich der Kritik an Feuerbach anzunähern versuchen, die Stirner im Einzigen vorgelegt hat (4). Bevor in den folgenden Kapiteln Stirners Konzeption vertieft werden wird, möchte ich zuletzt noch auf die Antwort Feuerbachs hinweisen, die uns helfen wird, Feuerbachs Ansatz nicht, von Stirners polemischer Kritik verleitet, misszuverstehen (5).

5 6 7

Vgl. Stepelevich 1976, 16. S.o. Kapitel III, Abschnitt 1. Zum Vergleich der beiden Schriften vgl. auch Schmidt 2018, 24 S.o. Kapitel III, Abschnitt 3.

Hegel-Studien

»Das Wesen des Christentums« (1841)

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1. »Das Wesen des Christentums« (1841) »Würde ein Maler die Gruppe der Hegelianer darstellen wollen, wie Raphael die Schule von Athen vorgeführt hat, so würde er nicht mit Unrecht Feuerbach in die Mitte stellen.« 8 Mit diesen Worten beschreibt Gustav Müller die herausgehobene Stellung, die Ludwig Feuerbach in den Debatten nach Hegels Tod einnimmt. Diese Bemerkung ist zwar philosophie-soziologisch irreführend, denn wie wir gesehen haben, spielt für die junghegelianische Bewegung doch eher Arnold Ruge mit seien Hallischen Jahrbüchern die Rolle eines Fixsterns. Und sicher ist die Vorstellung von Feuerbach als Höhe- und Endpunkt des Junghegelianismus stark von Engels' nachträglicher Deutung beeinflusst. Doch trotz dieser Einsprüche ist Feuerbachs großer Einfluss innerhalb der Bewegung weithin unbezweifelt. 9 Eine starke Orientierung an Feuerbach lässt sich in besonderem Maße auch bei Max Stirner feststellen. Für Stirner ist zwar Hegel der wichtigste akademische Lehrer, Bauer ein wichtiger Gesprächspartner, aber Feuerbach bleibt, überblickt man das Gesamtwerk, dennoch sein Hauptbezugspunkt. 10 Aus dem Kreis der »Freien« in Berlin ist die Bemerkung überliefert, Stirner solle »ungern philosophiert« haben, aber wenn er es tat, dann »sicherlich über Feuerbach« 11. Die klare Ausrichtung auf Feuerbach ist, wie ich im letzten Kapitel zu zeigen versucht habe, in den frühen Texten Stirners noch nicht ausgebildet. In seinem Hauptwerk, Der Einzige und sein Eigentum, wird sie aber manifest. Wie Fritz Mauthner bemerkt, ist Feuerbach »der Gegner, gegen den sich Stirners Buch zunächst richtete« 12 . Feuerbachs Name ist in der Rezeption eng mit seiner Religionskritik verbunden. Tatsächlich bildet das Thema der Religion in Feuerbachs philosophischer Biografie eine wichtige Konstante. Und sicher ist auch, dass Feuerbach früh ein im weitesten Sinne herausforderndes Verhältnis zur christlichen Religion entwickelt hat. Schon die frühen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit von 1830, worin Feuerbach die metaphysische Position von der Unsterblichkeit der Seele zu überwinden versuchte, wurden als radikal religionskritische Schrift wahrgenommen und kosteten Feuerbach, trotz der Anonymität der Veröffentlichung, wohl seine akademische Karriere. 13 Andererseits wird immer wieder mit Recht darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung Feuerbachs als »Religionskritiker« mit gewissen Problemen verbunden ist. Worin diese 8 9 10 11 12 13

Müller 1950, 59. Vgl. nur McLellan 1974, 109 ff; Williams 2006. Vgl. Eßbach 1978, 58. Mackay 1914, 91. Mauthner 1923, 202. Vgl. Weckwerth 2002, 14 ff.

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Probleme genau bestehen, werden wir noch sehen, einen wichtigen Hinweis in diese Richtung haben wir aber bereits von Karl Löwith erhalten. Wie Löwith für die hegelsche und dann auch für die junghegelianische Religionsphilosophie herausgearbeitet hat, sind »Rechtfertigung« und »Kritik« zwei Momente, die in einer interpretativen Aneignung der Religion leicht in Eins fallen können. 14 Diese Beobachtung gilt auch in besonderem Maße für Feuerbach. Feuerbachs Religionskritik war niemals eine äußerliche, uninteressierte Kritik. Dies lässt sich schon daran ablesen, dass Feuerbach die Frage nach der Religion nie zur Seite hat legen können, sondern zeitlebens um eine angemessene Deutung gerungen hat. In diesem Sinne hat Karl Barth zu Recht von Feuerbachs »unglücklicher Liebe« zur Religion gesprochen. 15 Das Thema der Religion hat Feuerbach sein Leben lang begleitet und darum hat seine Religionsphilosophie auch wichtige Transformationen erlebt. 16 Trotz der nuancierten Entwicklung scheint eine gewisse integrierende Funktion seinem religionsphilosophischen Hauptwerk zuzukommen, dem Wesen des Christentums. Diese Schrift war schon zu Lebzeiten mit Abstand Feuerbachs erfolgreichstes Werk. Nach ihrem Erscheinen 1841 war es bald vergriffen und verhalf Feuerbach zur andauernden Berühmtheit. 17 Wenn Friedrich Engels 1888 rückblickend schreibt: »Der Bann war gebrochen«, 18 dann bezieht sich diese Formulierung auf das Erscheinen eben dieses Buches, das Engels damit als den entscheidenden Wendepunkt der Debatte hervorhebt. Das bei Engels gezeichnete Portrait des Wesens des Christentums als dem Buch, das einer materialistischen Religionskritik in Deutschland zum Durchbruch verholfen hat, kann mit Recht hinterfragt werden. So wird häufig darauf hingewiesen, dass Feuerbach eine radikal religionskritische Position erst in den Jahren nach dem Wesen des Christentums bezogen hat. 19 Diese Interpretation scheint mir allerdings teilweise dem Bedürfnis geschuldet zu sein, die Linie zwischen Rechtfertigung und Kritik bei Feuerbach streng ziehen zu können. Wenn ich im Folgenden das Wesen des Christentums meiner Analyse der feuerbachschen »Religionskritik« zu Grunde lege, dann ist damit die These verbunden, dass hier beide Momente bereits deutlich eingezeichnet sind und darum Feuerbachs Religionsphilosophie durchaus von dieser Schrift her erschlossen werden kann. Mit dieser These korreliert, dass auch Stirner Feuerbachs Philosophie zwar nicht ausschließlich, aber doch ganz hauptsächlich vom Wesen des Christentums her verstanden hat. 20 14 15 16 17 18 19 20

S.o. Kapitel II, Abschnitt 2. Barth 1927, 11. Vgl. Xhaufflaire 1972; Petzold 1989. Vgl. Schuffenhauer 2006, vii. Engels 1886, 131. Vgl. Xhaufflaire 1972, 158 ff; Arndt 2020, 2; anders Sass 1963, 103. S.u. Abschnitt 4.

Hegel-Studien

»Das Wesen des Christentums« (1841)

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Kommen wir also zum Wesen des Christentums. 21 Worin besteht das Anliegen, das Feuerbach in diesem Buch verfolgt? Einen wichtigen Hinweis gibt uns Feuerbach in seinem Vorwort zur ersten Auflage, wenn er »das sokratische Γνῶθι σεαυτόν« als »das wahre Epigramm und Thema dieser Schrift« 22 bezeichnet. Mit diesem Wahlspruch schließt Feuerbach an das aufklärerische Projekt der Auflösung von Selbsttäuschung an, besonders die kantsche Kritik ist hier als Bezugspunkt zu sehen. 23 Bei aller Nähe interpretiert Feuerbach Kants aufklärerisches Projekt allerdings in einem erkennbar hegelianischen Sinne: Es geht Feuerbach nicht originär um Erkenntnis, sondern um Selbsterkenntnis. Die Selbsterkenntnis wiederum hat bei Feuerbach, wie bei Hegel, einen ausdrücklich therapeutischen Zug. 24 So weist Feuerbach in der Vorrede darauf hin, dass »zwar der Inhalt dieser Schrift ein pathologischer oder physiologischer, aber doch ihr Zweck zugleich ein therapeutischer oder praktischer« 25 sei. Versteht sich Feuerbachs Werk als Therapie, so liegt es nahe, dass umgekehrt die Religion, der dieses Werk gewidmet ist, gleichsam als Krankheit des Geistes erscheint. So schreibt dann auch Feuerbach: Es handelt sich also im Verhältnis der selbstbewussten Vernunft zur Religion nur um die Vernichtung einer Illusion – einer Illusion aber, die keineswegs indifferent ist, sondern vielmehr grundverderblich auf die Menschen wirkt, den Menschen, wie um die Kraft des wirklichen Lebens, so um den Wahrheits- und Tugendsinn bringt [. . . ]. 26

Liest man dieses und ähnliche Zitate aus dem Wesen des Christentums, so scheint die Wahrnehmung Feuerbachs als radikaler und totaler Kritiker der Religion schon hiermit bestätigt zu sein. Auf der anderen Seite wird, wie erwähnt, oft betont, dass Feuerbachs Kritik gerade keine Totalkritik darstellt. Löwith formuliert eine häufig eingenommene Perspektive, wenn er schreibt, Feuerbachs Ansatz sei »keine Destruktion der christlichen Theologie, sondern ein Versuch, das Wesentliche am Christentum zu erhalten«. 27 Diese Interpretation ist dabei keineswegs freischwebend, sondern kann sich durchaus auf 21

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25 26 27

Nach 1841 folgten 1843 und 1849 zwei weitere Auflagen, zur Editionsgeschichte vgl. Schuffenhauer 2006. Stirner zitiert im Einzigen durchgehend die stark erweiterte, zweite Auflage von 1843. Der beinahe einstimmigen Entscheidung der Feuerbachliteratur folgend wird hier dennoch die Erstausgabe von 1841 der Analyse zugrunde gelegt. WCh 8. Vgl. Arndt 2020, 4 f; vgl. auch Williams 2006. Zum »therapeutischen« Moment in Hegels Philosophie als deren Ausrichtung auf ein gelingendes Leben als deren praktischer Zweck vgl. Quante 2004. WCh 8; vgl. auch Petzold 1989, 95. WCh 450. Löwith 1969, 527. Vgl. neuerdings Mooren 2015, 66.

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Feuerbachs Selbstverständnis gründen. In der »Schlussanwendung« zum Wesen des Christentums schreibt Feuerbach selbst: »Unser Verhältnis zu Religion ist daher kein nur negatives, sondern ein kritisches; wir scheiden das Wahre vom Falschen [. . . ].« 28 Und im Vorwort zur 2. Auflage kann er dann sogar die benannten beiden Aspekte, das »Wahre« und das »Falsche« in der Religion, »der Hauptsache nach« den beiden Hauptteilen der Schrift zuteilen, deren erster »bejahend« und deren zweiter »verneinend« sei. 29 Feuerbachs Einschätzung der Religion ist also seiner eigenen Auskunft nach ambivalent. Wie ist diese Ambivalenz aufzulösen? Ein vielleicht naheliegender Versuch, das Moment der Verneinung auf das »Christentum«, das Moment der Bejahung auf die »Religion« zu beziehen, scheitert daran, dass Feuerbach die Begriffe Religion und Christentum über weite Strecken als austauschbar verwendet. 30 Ein anderer vielversprechender Versuch, der in der neueren Debatte immer wieder unternommen wird, besteht darin, das Ziel der destruktiven Kritik Feuerbachs nicht in der Religion, sondern in der »Theologie« zu sehen. 31 Diese Interpretation kann sich vor allem auf eine einschlägige Passage im Kapitel über den »Widerspruch in dem Begriffe der Existenz Gottes« stützen. 32 In diesem Kapitel beginnt Feuerbach mit der Bemerkung, der »Begriff der Religion« sei identisch mit der »Anschauung des menschlichen Wesens als eines anderen, für sich existierenden Wesens«, 33 mithin mit dem Gottesbewusstsein. In der »Religion« sei nun aber diese Anschauung noch eine »unwillkürliche, kindliche, unbefangne«. 34 Erst wenn »in der Religion die Reflexion über die Religion erwacht«, werde aus der »harmlosen« Scheidung von Gott und Mensch eine »absichtliche, anstudierte«. 35 Mit der »Reflexion über die Religion« scheint nun aber genau das in den Blick zu kommen, was herkömmlich unter Theologie verstanden wird – was Feuerbach im Folgenden auch explizit werden lässt. 36 Die Lesart, der zufolge die Religionskritik im Wesen des Christentums als Theologiekritik verstanden werden muss, ist weiterführend. Allerdings ist sie aus drei Gründen mit Vorsicht zu behandeln. Erstens ist Feuerbach selbst in der benannten Unterscheidung nicht konsequent. In manchen charakteristischen Passagen, wie der eben besprochenen, setzt Feuerbach die Religion in einen 28 29 30 31 32 33 34 35 36

WCh 444. WCh 17. Vgl. auch Mooren 2015, 70. Vgl. Mooren 2015, 76 f; vgl. auch Reitemeyer 2018, 334. Vgl. WCh 334 ff. WCh 334 f. WCh 335. Vgl. ebd. Vgl. WCh 336; 337.

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»Das Wesen des Christentums« (1841)

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Gegensatz zur Theologie, im Verlauf des Textes gibt es aber immer wieder auch Stellen, in denen Feuerbach die gewonnene terminologische Unterscheidung von Religion und Theologie wieder fallen lässt und eine Überwindung nicht nur der Theologie, sondern der Religion in Aussicht stellt – darunter die oben zitierte Passage, in der Feuerbach von der Religion als einer »grundverderblichen Illusion« sprechen kann. 37 Diese Beobachtung ist aber für sich genommen noch kein starker Einwand, denn schließlich könnte Feuerbachs Unterscheidung von Religion und Theologie bloß aus terminologischer Nachlässigkeit passagenweise in den Hintergrund treten. Es gibt aber angesichts des fraglichen Lösungsvorschlags noch einen zweiten Grund zur Vorsicht. Und dieser betrifft den Begriff der Theologie selbst. Bei Theologie denken wir heute zumeist an eine wissenschaftliche Reflexion des Glaubens, wenigstens aber doch an eine rational durchformte Rede von Gott, die sich von einem ursprünglichen, intuitiven Glauben abhebt. Welche Bedeutung von »Theologie« hat Feuerbach im Blick? In der entsprechenden Passage bestimmt er zwar die Theologie recht allgemein als eine »Reflexion über Religion«. Allerdings wird diese Bestimmung in ihrer Explikation viel weitreichender ausgelegt, als man es zunächst annehmen könnte. Zur Theologie wird Religion für Feuerbach überall dort, wo das religiöse Bewusstsein die strenge Identität von Gottheit und Menschheit negiert. 38 Dies aber wiederum geschieht bereits darin, dass in einer propositionalen Weise von Gottes »Existenz« gesprochen wird. 39 Am Ende der entsprechenden Passage kann Feuerbach darum resümieren: »Eine notwendige Folge dieses Widerspruchs ist der Atheismus.« 40 Feuerbachs Stellung zu Begriff und Sache des »Atheismus« ist wiederum eine Frage für sich. 41 In dem engeren Sinne einer klaren Abweisung des metaphysischen Theismus scheint Feuerbach sich hier allerdings doch recht deutlich »atheistisch« zu positionieren. Worauf es in unserem Zusammenhang aber ankommt, ist die Beobachtung, dass nach Feuerbach die Verkehrung der »Religion« in »Theologie« sehr viel früher anzusetzen ist, als die bloße Semantik denken lassen könnte. Nicht erst eine in irgendeinem Sinne »höhere« ratio37

38 39 40 41

S.o. Anmerkung 26. Vgl. auch Röd 1989, 207, der Feuerbachs Unterscheidung von »Religion« und »Theologie« aufgreift, aber zugleich auf deren inkonsequenten Gebrauch hinweist, wenn er schreibt: »Tatsächlich gibt es Äußerungen Feuerbachs, denen zufolge schon die Religion nicht nur durch Vergegenständlichung, sondern auch durch Entfremdung des menschlichen Wesens von sich selbst bestimmt erscheint«. WCh 336 f. WCh 337, WCh 341. Dass Feuerbach nicht als Atheist verstanden werden wollte, betonen McLellan 1974, 107; Krämer 1975, 90 f.

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nale Durchformung des Glaubens, schon ein gegenständliches, propositionales Selbstverständnis des Glaubens wäre Theologie in Feuerbachs Sinne. Der Versuch, die Ambivalenz in Feuerbachs Religionskritik durch die Unterscheidung von Religion und Theologie zu lösen, sollte also durch die Beobachtung ergänzt werden, dass Feuerbach Theologie und Theismus in eins zu setzen scheint. Die fragliche Lösung würde dann präzise lauten: Feuerbach bietet keine Religionskritik, sondern eine Theismuskritik. 42 Aber selbst diese präzisierte Redeweise bleibt noch missverständlich. Damit komme ich zu einem dritten Einwand gegen die fragliche Lösung. Und dieser dritte Einwand führt uns zu dem, worin ich das eigentliche Problem des Ansatzes sehe: Bei Feuerbach kann die Grenze zwischen Religion und Theologie nie streng gezogen werden, weil nach Feuerbach die Theologie in einem spezifischen, strukturellen Sinn mit der Religion verknüpft ist. Wie diese Verknüpfung zu denken ist, kann anhand einer Bemerkung gezeigt werden, die Feuerbach in der »Schlussanwendung« seines Hauptwerkes macht. Dort schreibt Feuerbach, in Aufnahme seiner zentralen These, das »Geheimnis der Theologie« sei die »Anthropologie«. 43 Damit nennt er wieder die Theologie als Gegenstand seiner Kritik. Im Folgenden aber diskutiert Feuerbach, ob die Religion dazu in der Lage ist, die anthropologische Wahrheit der Theologie zu begreifen, und verneint dies. Feuerbach schreibt: »[D]ie Religion hat nicht das Bewusstsein von der Menschlichkeit ihres Inhalts, sie setzt sich vielmehr dem Menschlichen entgegen, oder wenigstens sie gesteht nicht ein, dass ihr Inhalt menschlicher ist« 44. Aus dieser Bemerkung geht hervor, dass die Religion nach Feuerbach zwar einen wahren, menschlichen Inhalt habe, der von dem illusionären, theologischen Inhalt unterscheidbar ist. Diesen Umstand aber könne die Religion selbst nicht erkennen und bleibe so in einem Selbstmissverständnis verfangen. Die Religion meine, statt eines menschlichen einen göttlichen Inhalt zu haben. Somit wäre also die Theologie nicht erst eine Verfallsform der Religion, sondern die Religion wäre selbst theologisch in ihrem Selbstverständnis. Wie ist diese Darstellung der Religion zu beurteilen? Fällt Feuerbach hier bloß wieder hinter die gewonnene Unterscheidung von Religion und Theologie zurück? Oder muss man nur das Verhältnis der beiden genauer beschreiben? Ich denke, es gibt eine Möglichkeit, Feuerbach hier konsistent zu lesen. Diese Möglichkeit besteht darin, anzunehmen, dass Theologie bei Feuerbach nicht als ein Zweites gegenüber der Religion verstanden werden darf, welches aus der Religion als deren Verfallsform hervorgeht, sondern dass Theologie der 42 43 44

Vgl. auch Weinrich 2012, 115. WCh 443. WCh 443.

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Religion immer schon als ein Moment ihrer selbst beigegeben ist. Theologie zu sein wäre nach Feuerbach dann eine Eigenschaft der Religion, genauer gesagt, Theologie wäre das Selbstverständnis der Religion. Diese Lösung kann erklären, warum Feuerbach seine Kritik auf die Theologie zulaufen lässt, die Religion aber gleichzeitig ambivalent bleibt. Die immer wieder gebrauchte Formel von der Wahrheit und Unwahrheit der Religion 45 wäre dann folgendermaßen aufzulösen: Das wahre Moment an der Religion ist ihr menschlicher Inhalt, das unwahre Moment an der Religion ist ihr Selbstverständnis, und dieses ist Theologie bzw. Theismus. Durch die wissenschaftliche Theologie wird dieses theologische bzw. theistische Moment der Religion nicht erst geschaffen, sondern nur aufgegriffen und auf ein höheres Reflexionsniveau gehoben. Um sich selbst zu verstehen, braucht die Religion darum in jedem Fall die Hilfestellung durch eine anthropologische Interpretation, wie Feuerbach sie anzubieten hat. Insofern diese anthropologische Interpretation der Religion gegenüber eine äußere sein muss und insofern sie deren Selbstdeutung notwendigerweise korrigiert, verhält sie sich zur Religion zwar nicht schlechthin verneinend, aber dennoch kritisch. 46 Ich habe in den vorangegangenen Absätzen darauf hingewiesen, dass das Verhältnis Feuerbachs zur Religion ein zutiefst ambivalentes ist. Um die Ambivalenz aufzulösen, wird häufig die Unterscheidung von »Religion« und »Theologie« aufgegriffen, die Feuerbach selbst anbietet. Daraus kann der Eindruck entstehen, Feuerbach sei der christlichen Religion gegenüber im Grunde genommen sehr freundlich eingestellt und kritisiere nur die Anmaßungen einer spekulativen, lebensfernen Theologie. Dies wäre aber meines Erachtens ein Trugschluss. Dagegen scheint es mir erstens wichtig wahrzunehmen, dass Feuerbach den Begriff »Theologie« im Sinne von »Theismus« verwendet, was den Umfang seiner Kritik bereits deutlich erweitert. Und zweitens ist, wie ich versucht habe plausibel zu machen, die Theologie kein sekundäres oder von außen an die Religion hinzugetretenes Moment, sondern ist ihr als ihre Selbstdeutung stets originär beigegeben. Wenn Feuerbach also betont, dass er die Religion nicht negieren will, 47 dann will er sie doch unbedingt transformieren. Dieses Muster kann mit Löwith als die Gleichzeitigkeit von Rechtfertigung und Kritik verstanden werden. Feuerbachs Ansatz im Wesen des Christentums als »Religionskritik« zu bezeichnen, ist darum zwar mit Einschränkungen zu versehen, beleibt aber insgesamt angemessen.

45 46

47

Vgl. nur WCh 316; vgl. auch nochmals WCh 444. In dieser Tendenz urteilt Petzold: »Seine [Feuerbachs] Religionsinterpretation ist Religionskritik.«, vgl. ders. 1989, 93. Vgl. auch Weckwerth 2002, 65 f. Vgl. nochmals WCh 444.

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2. Entfremdung im »Wesen des Christentums« In diesem Abschnitt möchte ich zunächst zeigen, dass Feuerbachs Religionskritik über den Begriff der Entfremdung gefasst werden kann und werden sollte. Bevor ich dies tue, möchte ich jedoch zunächst auf einen alternativen Zugang hinweisen, und zwar auf die im vorwissenschaftlichen, aber auch im wissenschaftlichen Kontext verbreitete Rede von der »Projektionstheorie« Feuerbachs. 48 Den Gebrauch dieses Begriffes als Leitbegriff der Interpretation halte ich aus zwei Gründen für problematisch. Zum einen ist die Rede von der Projektionstheorie nicht quellensprachlich, Feuerbach verwendet die Projektionsmetapher nicht. 49 Diese Beobachtung allein würde aber noch nicht gegen seine Verwendung als interpretationssprachlichem Theoriebegriff sprechen, wenn er eine hinreichend erschließende Kraft hätte. Aber auch ein zweiter, sachlicher Grund spricht gegen den Gebrauch der Projektionskategorie für Feuerbachs Religionskritik. So weist Thilo Holzmüller darauf hin, dass »Projektion« im Sinne der modernen Psychologie als »individuelles oder kollektives Vorverlegen subjektiver Empfindungsinhalte in ein transsubjektives Objekt« 50 verstanden werden kann. Dieses Verständnis träfe Feuerbachs Religionskritik aber gerade nicht. Vielmehr entstehe Religion bei Feuerbach im Zuge einer »Abspaltung des menschlichen Gattungswesens«, durch welche ein »personaler Gott« von der »Phantasie« zuallererst geschaffen werde. 51 Worauf Holzmüller hier hinzuweisen scheint, ist, dass in der Rede von einer Projektion zumindest implizit die Annahme einer Person oder eines Objektes enthalten ist, das als Projektionsfläche der Projektion dient. Damit aber würde der Gebrauch der Projektionskategorie für eine Interpretation der Religionskritik Feuerbachs diese grundlegend entschärfen. Die Projektionssemantik würde unausgesprochen nahelegen, dass Feuerbach ein Subjekt annimmt, auf das fälschlicherweise menschliche Prädikate projiziert werden. Dies mag das Anliegen einer negativen Theologie sein, es ist aber genau das Gegenteil von dem, was Feuerbach zu sagen beabsichtigt. Während eine negative Theologie das Subjekt Gott vor den menschlichen Prädikationen »retten« will, will Feuerbach ja ausdrücklich das Gegenteil: Er will Gott als theologisches »Subjekt« aufheben und die menschlichen »Prädikate« erhalten. 52

48 49 50 51 52

Für viele vgl. Barth 1970; Kraus 1982, 186; Eßbach 2014, 678 ff; Löffler 2019, 165 f. Vgl. Holzmüller 1986, 78, in kritischer Auseinandersetzung mit Barth 1970. Holzmüller 1986, 96. Vgl. ebd. »Die Existenz ist an und für sich eine indifferente Sache; darum keineswegs notwendig, daß der Atheist, indem er leugnet, daß Gott ist, auch die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Güte, die Weisheit verwirft. Diese Prädikate haben eine innere Realität; sie dringen durch ihren

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Entfremdung im »Wesen des Christentums«

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Auch wenn dieses Missverständnis wohl den wenigsten Interpreten unterstellt werden kann, welche die Position Feuerbachs über den Projektionsbegriff zu fassen versuchen, scheint es doch mit Blick auf die benannten Probleme besser zu sein, auf den Begriff der Projektion zu verzichten und sich Feuerbachs Religionskritik über den quellensprachlichen Begriff zu nähern, dessen Bedeutung für die junghegelianische Debatte ich bereits hervorgehoben habe, über den Begriff der »Entfremdung«. 53 Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten. Feuerbach verwendet den Begriff zwar an einigen vereinzelten Stellen imWesen des Christentums und tut das auch in der oben herausgearbeiteten Bedeutung der Selbstentfremdung. 54 Andererseits ist deutlich sichtbar, dass der Begriff bei Feuerbach eine weniger tragende Funktion erhält als bei Bruno Bauer. Mit Recht wurde darum auch, wie bemerkt, Feuerbachs Rolle bei der Etablierung des Entfremdungsbegriffes als weniger entscheidend angesehen. 55 Trotz seiner Zurückhaltung angesichts des Begriffs ist es aber, wie wir sehen werden, unzweifelhaft, dass Feuerbachs Konzeption als Theorie religiöser Entfremdung gelesen werden muss. Feuerbach bietet damit neben Bauer die zweite »klassische« Theorie religiöser Entfremdung, die den junghegelianischen Diskurs der frühen 40er Jahre bestimmt hat. Oben habe ich gezeigt, wie die Figur der religiösen Entfremdung bei Bauer in Anschluss an Hegels Darstellung des »unglücklichen Bewusstseins« in der Phänomenologie des Geistes verstanden werden kann. Gleiches möchte ich für die Entfremdungstheorie bei Feuerbach zu zeigen versuchen. Dazu möchte ich zunächst noch einmal zwei Aspekte vergegenwärtigen, die für das »unglückliche Bewusstsein« wesentlich waren. Erstens möchte ich erinnern an die Bestimmung des »unglücklichen Bewusstseins« als ein Selbstbewusstsein, das sich nicht als Selbstbewusstsein weiß. Das »unglückliche Bewusstsein« erschien bei Hegel als das Bewusstsein eines Anderen, welches aber wesentlich oder »an sich« mit dem Selbst eine Einheit bildet. Diese Einheit blieb dem »unglücklichen Bewusstsein« aber verborgen, so dass es ein Selbstbewusstsein war, ohne sich selbst dessen bewusst zu sein. Zweitens möchte ich erinnern an die Diagnose des Leidens oder Unglücks, in welchem das gespaltene Selbst lebt. Das »unglückliche Bewusstsein« sucht eine Einheit mit dem Anderen herzustellen. Tatsächlich besteht diese Einheit für Hegel »an sich« immer schon,

53

54 55

Gehalt dem Menschen ihre Anerkennung auf, erweisen sich ihm unmittelbar durch sich selbst als wahr [. . . ].«, WCh 342 f. Vgl. für viele Henning 2015, 94 ff; von »Entzweiung« spricht Holzmüller, vgl. Holzmüller 1986, 92 ff. Vgl. WCh 368; 394; 411. Vgl. nochmals vgl. McLellan 1974, 78, der hier Bauer die Priorität gibt.

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aber solange sie »für es« noch nicht gegeben ist, ist das Bewusstsein ein unglückliches. 56 Beide Aspekte lassen sich in Feuerbachs Charakterisierung des religiösen Bewusstseins wiederfinden. So bestimmt Feuerbach wie Hegel die Religion als ein Selbstbewusstsein, das sich nicht als Selbstbewusstsein weiß. In einer stark an Hegels Darstellung des »unglücklichen Bewusstseins« erinnernden Passage beschreibt Feuerbach das religiöse Bewusstsein als eine »erste und zwar indirekte, Selbsterkenntnis des Menschen«. 57 Weiter heißt es: »Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem (und zwar subjektiven)Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem anderen Wesen.« 58 Hier kehrt offenbar die Figur der Verdopplung des Selbst wieder, wie wir sie bei Hegel kennengelernt haben: Das Selbst, bei Feuerbach meist als »der Mensch« angesprochen, setzt sich in ein Verhältnis zu einem Anderen, welches aber offenbar nur ein scheinbar Anderes ist, in Wahrheit aber er selbst oder besser ein Moment seines Selbst. Das Andere des Selbst ist also an sich ein Moment seiner selbst, was aber ist es für es? Hier ersetzt Feuerbach, ebenso wie Bauer, Hegels mehr offene Redeweise durch eine Konzentration auf den theistischen Gottesgedanken. Das Andere, welchem sich das religiöse Selbst gegenübergestellt sieht, ist »Gott« 59 bzw. das »göttliche Wesen«. 60 Ohne diese Engführung zu problematisieren setzt Feuerbach stets voraus, dass er es im religiösen Bewusstsein mit einem – scheinbaren – Gottesbewusstsein zu tun hat. Das religiöse Bewusstsein ist somit ein Selbstbewusstsein, das ein Gottesbewusstsein zu sein glaubt. Diese Struktur wird besonders anschaulich in Feuerbachs Deutung des Gebets. Das Gebet setzt, vielleicht mehr als jeder andere religiöse Vollzug, die Annahme einer personalen Gottesfigur als Gegenüber voraus. Nach Feuerbachs Rekonstruktion des Gottesbewusstseins als indirektes Selbstbewusstsein erscheint der so Betende folgerichtig in einer Selbsttäuschung befangen. Feuerbach schreibt: »Das Gebet ist die Selbstteilung des Menschen in zwei Wesen – ein Dialog des Menschen mit sich selbst, mit seinem Herzen.« 61 Diese »Selbstteilung« des religiösen Menschen wird aber nun nach Feuerbach als leidvoll erfahren, und damit kommen wir zu dem zweiten Aspekt, den Feuerbachs Analyse mit der Darstellung des »unglücklichen Bewusstseins« bei Hegel teilt. In der Phänomenologie bestand das Leiden des »unglücklichen Bewusstseins« darin, dass es sich bestimmter Momente seiner selbst beraubte, 56 57 58 59 60 61

S.o. Kapitel III, Abschnitt 2. WCh 47. WCh 48. WCh 46. WCh 48. WCh 223.

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Entfremdung im »Wesen des Christentums«

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indem es sie als die Momente eines Anderen dachte. Dieses waren nun gerade die »unwandelbaren« Momente des Selbst, wodurch das Leben des Anderen als unendlich erstrebenswerter erschien als das Leben des zurückbleibenden, »wandelbaren« Selbst. 62 Eben diese Figur übernimmt Feuerbach, wenn er schreibt: Gott ist nicht, was der Mensch ist – der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen, Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen, Gott ewig, der Mensch zeitlich, Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig, Gott heilig, der Mensch sündhaft. 63

Im Gottesgedanken versammelt sich somit all das, was dem Menschen an sich fehlt und was er sich ersehnt. In diesen Kontext gehört auch die Beobachtung, dass in Feuerbachs Deutung die Religion mit einer »Sphäre des Wünschens« (Weckwerth) 64 verbunden sei. Ebenso wie bei Hegel also leidet das Selbst an der Trennung von seinem Anderen und ebenso wie bei Hegel ist diesem Leiden der Wunsch immanent, die Trennung aufzuheben. Allerdings – und darin weicht Feuerbach von Hegel ab und kommt wiederum der Interpretation des »unglücklichen Bewusstseins« bei Bauer nahe 65 – gelangt die Religion bei Feuerbach nicht über den bloßen Wunsch hinaus. Die Religion führt nicht wie bei Hegel über sich selbst hinaus, sondern bleibt in sich gefangen. Es sei »gemütlicher zu leiden, als zu handeln, gemütlicher, durch einen anderen erlöst und befreit zu werden, als sich selbst zu befreien«, 66 diese und andere psychologische Erklärungen gibt Feuerbach für die Unfähigkeit der religiösen Selbstinterpretation, sich selbst zu überwinden. 67 Bis hierhin können die Theorien von Feuerbach und Bauer als konvergierend begriffen werden. Beide sehen in der Religion eine Gestalt der Spaltung des Selbst und entsprechen damit der von Hegel im »unglücklichen Bewusstsein« vorgeprägten Linie. In Aufnahme des von Bauer für diese Struktur der Spaltung prominent aufgegriffenen Terminus können beide als Theorien religiöser Entfremdung beschrieben werden. Angedeutet habe ich, dass sowohl Bauer als auch Feuerbach die Fähigkeit des religiösen Bewusstseins, über sich selbst hinaus zu gehen, deutlich skeptischer beurteilen, als Hegel es in der Phänomenologie getan hat, und so im Rahmen der hegelschen Denkmöglichkeiten einen stärker religionskritischen Akzent setzen. Nun habe ich in der 62 63 64 65 66 67

S.o. Kapitel III, Abschnitt 2. WCh 75. Weckwerth 2002, 73. Zu Bauer s. o. Kapitel III, Abschnitt 3. WCh 247. Zur »Scham« als Motiv für die religiöse Selbstentzweiung vgl. Schulz 2005, 121 ff.

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Auseinandersetzung mit Bauer bereits auf einen zweiten Punkt hingewiesen, in dem er seinen Ansatz Hegel gegenüber schärft, und dieser bestand in der charakteristischen Bestimmung, die Bauer dem Anderen des Selbst in seinem wahren Wesen als eines Moments des Selbst gegeben hat. Das Andere des Selbst im religiösen Bewusstsein erschien bei Bauer, nachdem der Schleier der Religion gelüftet war, als das eigene Produkt bzw. als ein Integral der Produkte des Selbst. 68 Diese Produkte konnte das Selbst in Praktiken der Kunst als die Seinen anerkennen, sie sich wiederaneignen und so die religiöse Entfremdung aufheben. Zwar kann auch Feuerbach die Gottesvorstellung auf die menschliche »Einbildungskraft« zurückführen, 69 aber wenn er das tut, dann spricht er dabei von der Genese der theologischen Illusion, nicht von dem ihr zugrundeliegenden Anderen selbst. An der Stelle dieses zugrundeliegenden Anderen steht bei Feuerbach kein künstlerisches oder geistiges Produkt, sondern ein für seinen Ansatz ebenso wichtiges wie charakteristisches Theorieelement: An dieser Stelle steht Feuerbachs Konzept der »Gattung«. 3. Das Gattungsbewusstsein Im letzten Abschnitt habe ich versucht zu zeigen, dass, parallel zu Bruno Bauer, auch Feuerbach eine Theorie der religiösen Entfremdung entwickelt und damit eine Figur aufnimmt und variiert, die wir in Hegels »unglücklichem Bewusstsein« kennengelernt haben. Nun soll es um den Schritt gehen, der Feuerbach über Hegel hinausbringt. Diesen Schritt hat Christine Weckwerth als eine »anthropologische Wendung« der Phänomenologie des Geistes bezeichnet. 70 Weckwerth beschreibt mit dieser Formulierung primär das Verhältnis von Feuerbachs Texten von 1843 zu den Passagen in der Phänomenologie über das »unmittelbare Wissen«, 71 allerdings kann sie auch treffend auf das Verhältnis der Religionsphilosophie im Wesen des Christentums zum »unglücklichen Bewusstsein« übertragen werden. Die anthropologische Wendung ergibt sich aus einer fundamentalen Problematik dialektischer Entfremdungstheorien. Wie wir gesehen haben, besteht ein Grundproblem jeder dialektischen Entfremdungstheorie darin, wie das entäußerte Andere als ein Moment des Selbst verstanden werden kann. Das »unglückliche Bewusstsein« hält für dieses Problem durchaus Lösungen bereit, Feuerbach aber beschreitet einen eigenen charakteristischen Weg, und dieser ist verbunden mit seiner Entdeckung der Anthropologie. 68 69 70 71

S.o. Kapitel III, Abschnitt 3. Vgl. WCh 354. Weckwerth 2004. Vgl. Weckwerth 2004, 222 ff.

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Das Gattungsbewusstsein

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Das Geheimnis der Theologie ist Anthropologie – so lautete die bereits zitierte Wendung, die Feuerbach im Wesen des Christentums häufig und beinahe formelhaft wiederholt, 72 mit der Feuerbach dann auch im Januar 1841 den »Grundgedanken« der Schrift seinem Verleger gegenüber benennt. 73 Wie ist diese Wendung zu interpretieren? Was Feuerbach unter Theologie versteht, haben wir bereits ein Stück weit erschlossen. Was aber verbirgt sich hinter ihrem Gegenstück, der Anthropologie? Ebenso wenig wie bei der Theologie hat Feuerbach bei der Anthropologie eine wissenschaftliche Disziplin im Blick. Stattdessen wird man erwarten, dass – ebenso wie die »Theologie« als ein »Gottesbewusstsein« zu übersetzen war – die »Anthropologie« als ein »Bewusstsein des Menschen« übersetzt werden kann. Demnach wäre die Anthropologie ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Diese Übersetzung ist nicht falsch, es muss aber noch eine wichtige Bestimmung hinzukommen. Anthropologie ist nach Feuerbach nicht das Verhältnis des Menschen zu sich selbst als einem Individuum, sondern das Verhältnis des Menschen zu seinem »Wesen«. Feuerbach schreibt: »[D]er Mensch vergegenständlicht in der Religion sein eigenes geheimes Wesen. Es muss also nachgewiesen werden, dass dieser Gegensatz [. . . ] ein Zwiespalt des Menschen mit seinem eigenen Wesen ist.« 74 Religion wäre damit ein unbewusstes Verhältnis des Menschen zu seinem Wesen oder, wie Feuerbach häufig synonym schreibt, zu seiner »Gattung«. Wie aber gelangt Feuerbach zu dieser weitreichenden Annahme? Ausgangspunkt für Feuerbachs Rückführung des Gottesbewusstseins auf das Gattungsbewusstsein ist seine Analyse des religiösen Leidens. Das religiöse Selbst leidet nach Feuerbach unter der Trennung von einem Anderen, welches es als Gott anbetet. Dieses Leiden ist bestimmt durch die Vollkommenheiten des göttlichen Gegenübers, die dem Selbst fehlen. 75 Genau an diese Stelle schließt nun Feuerbachs zentrale These an. Nach Feuerbach kann all das, was das religiöse Bewusstsein seinem Gott prädiziert, d. h. dessen Allmacht, dessen Güte usw., in Wirklichkeit als Eigenschaft der menschlichen Gattung begriffen werden. Aber der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der Menschheit in eins zusammen. Alle göttlichen Bestimmungen, alle Bestimmungen, die Gott zu Gott machen, sind Gattungsbestimmungen – Bestimmungen, die in dem einzelnen, dem Individuum, beschränkt sind, aber deren Schranken in dem Wesen der Gattung und selbst in ihrer Existenz [. . . ] aufgehoben sind. 76

72 73 74 75 76

Vgl. WCh 352; 443. Vgl. Schuffenhauer 2006, VI. WCh 75. S.o. Abschnitt 2. WCh 267.

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Auf der suggestiven Kraft seiner Entdeckung von der Konvergenz der Vollkommenheitsprädikate, die Gott auf der einen Seite und der Gattung auf der anderen Seite zukommen, errichtet Feuerbach seine Religionsphilosophie. Ich möchte die Tragfähigkeit dieses Arguments hier nicht prüfen, sondern stattdessen direkt ein gewichtiges Folgeproblem dieser Konzeption ansprechen: Das Verhältnis von Selbst und Gattung. Die Figur der Rückführung des Gottesbewusstseins auf das Gattungsbewusstsein tritt zunächst offenbar in einen Widerspruch zu der Bestimmung der Religion als indirektes Selbstbewusstsein. Ist die Religion ein Verhältnis des Selbst zu sich selbst oder zu einem wie auch immer bestimmten Wesen bzw. einer Gattung? Dieser Widerspruch kann aufgelöst werden darin, dass nach Feuerbach die Gattung als ein Moment des Selbst verstanden wird, sodass das Gattungsbewusstsein ein Teil des Selbstbewusstseins ist. Im Unterschied zum Tier ist das Selbstbewusstsein des Menschen ein doppeltes, er weiß sich als Individuum und als Angehöriger einer Gattung. »Der Mensch ist sich selbst zugleich Ich und Du; er kann sich selbst an die Stelle des andern setzen, ebendeswegen, weil ihm seine Gattung, sein Wesen, nicht nur seine Individualität, Gegenstand ist.« 77 Der skizzierte Gegensatz von religiösem Gottesbewusstsein und Gattungsbewusstsein ließe sich damit als eine spezifische Variation der Entfremdungstheorie verstehen: Während das Andere des Selbst dem religiösen Bewusstsein als »Gott« erscheint, so ist es in Wirklichkeit nichts anderes als der »Mensch«. Was aber ist der Mensch? Ist es der je einzelne Mensch, der Träger des religiösen Bewusstseins, das endliche Selbst? Dies zu sagen, ist Feuerbachs Intention offenbar nicht. Der Mensch, den Feuerbach durch den Gott der Religion durchschimmern sieht, ist nicht die einzelne, menschliche Person, sondern es ist die menschliche Gattung. Damit wird zugleich deutlich, dass Feuerbachs Entfremdungstheorie einem dialektischen Modell folgt, welches dem Selbst ein Anderes – hier die Gattung – als Moment seiner selbst beiordnet. 78 Das dialektische Verhältnis von Individuum und Gattung wird dadurch zur wichtigsten Achse in Feuerbachs Religionsphilosophie, von der auch Stirners Kritik an Feuerbach ausgehen wird. 79 Darum gilt es nun, noch ein wenig genauer der Frage nachzugehen, wie die Rede von der Gattung und dem Gattungsbewusstsein bei Feuerbach verstanden werden kann. Semantisch handelt es sich bei dem Wort »Mensch« zunächst um einen Allgemeinbegriff. Diese Beobachtung ist, wie wir noch sehen werden, von einiger Bedeutung, die semantische Analyse ist aber nicht der Zugang, den Feuerbach wählt. Stattdessen erschließt er den Begriff der menschlichen Gattung im 77 78 79

WCh 29. Zu diesem Modell s. o. Kapitel III, Abschnitt 1. S.u. Abschnitt 4.

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Das Gattungsbewusstsein

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ersten Kapitel seines Hauptwerkes über eine Analyse einer spezifisch menschlichen Existenzweise. 80 Der Mensch, so Feuerbach, habe im Unterschied zum Tier nicht nur ein Bewusstsein seiner selbst als Individuum – ein »Selbstgefühl« –, sondern auch ein Bewusstsein seiner Gattung. 81 Dadurch habe der Mensch ein »zweifaches Leben«, er lebe im Verhältnis zu sich und zugleich im Verhältnis zu seiner Gattung. 82 Die Gattung wird nun von Feuerbach etwas poetisch als eine Dreizahl von »Kräften« bestimmt: »Aber was ist das Wesen des Menschen, dessen er sich bewusst ist, oder was macht die Gattung, die eigentliche Menschheit im Menschen aus? Die Vernunft, der Wille und das Herz.« 83 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass bei Feuerbach die Gattung nicht im Sinne eines Allgemeinbegriffes bestimmt wird, sondern mit einem »inneren Potential an subjektiven Kräften« (Weckwerth) 84 bzw. einem »Vollzug von Wesenskräften« (Schulz) 85 in Verbindung gebracht wird. Damit handelt es sich bei Feuerbachs Gattung weniger um eine logische oder intellektuelle, sondern um eine wesentlich praktische Größe. 86 Hatte Feuerbach im ersten Kapitel seines Hauptwerks von einer statischen Dreizahl von Kräften gesprochen, so entwickelt er diese Theorie in den Kapiteln drei bis sieben charakteristisch weiter. 87 Eingebettet sind die dort folgenden Überlegungen bereits in Feuerbachs leitende Argumentation, dass es sich bei dem Gott der Religion um eine vergegenständlichte Gestalt der menschlichen Gattung handelt. Diese Vergegenständlichung versucht er nun zu überwinden und muss dazu auch noch einmal auf die Gattung zu sprechen kommen. Wieder geht er dabei von der Einsicht aus, dass es sich bei der Gattung um einen Vollzug bestimmter Vermögensformen handelt. Allerdings erscheint hier statt der Dreizahl zunächst nur noch der Verstand. Feuerbach schreibt: »Der Verstand ist das eigentliche Gattungsvermögen; das Herz vertritt die besondern Angelegenheiten, die Individuen, der Verstand die allgemeinen Angelegenheiten.« 88 Feuerbach erklärt also die Funktion des Verstandes als »Gattungsvermögen« in seiner Fähigkeit, vom Individuum zu »abstrahieren« und das »Allgemeine« zu denken. Von der ursprünglichen Dreizahl ist damit nur ein einziges Gattungsvermögen übriggeblieben.

80 81 82 83 84 85 86 87 88

Vgl. WCh 28 ff. Vgl. WCh 28. Vgl. WCh 29. WCh 30 f Weckwerth 2002, 71. Schulz 2005, 120. Vgl. auch Reitemeyer 1988, 80 ff. Vgl. WCh 75 ff WCh 78.

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Insofern nun das religiöse Gottesbewusstsein nach Feuerbach als eine verhüllte Gestalt des Gattungsbewusstsein rekonstruiert werden kann, ist klar, dass Verstand und Religion in eine besondere Beziehung treten müssen. Dabei könnte man denken, dass der Verstand als »eigentliches Gattungsvermögen« des Menschen das Gottesbewusstsein der Religion ersetzen soll. Diesen Weg geht Feuerbach aber gerade nicht. Stattdessen attestiert er dem Verstand sogar einen besonderen Hang dazu, ein Gottesbewusstsein auszubilden. Was führt Feuerbach zu dieser zunächst überraschenden Schlussfolgerung? Nach Feuerbach ist der Verstand ein reines Gattungsbewusstsein, welches die Gattung als totale Negation des Individuums denkt bzw. – praktisch gewendet – der Vollzug des Verstandes ist diese totale Negation des Individuums. Dadurch aber, dass im Verstand die Gattung vom Individuum getrennt und abstrahiert wird, verliert sie ihren Charakter als menschliche Gattung und wird zu dem, als was sie im Theismus erscheint, zu einem Gott. Feuerbach schreibt: »Das reine, vollkommne, mangellose göttliche Wesen ist das Selbstbewusstsein des Verstandes, das Bewusstsein des Verstandes von seiner eigenen Vollkommenheit.« 89 Der Vollzug des Verstandesvermögens ist damit für Feuerbach eine Realisierung der Gattung, aber überraschenderweise eben nicht diejenige Realisierung, die Feuerbach anstrebt. Im Vollzug des Verstandes erscheint die Gattung vom Selbst entfremdet, sie ist Gott. Anders ist es bei dem Vollzug eines anderen Vermögens, das Feuerbach in den folgenden Kapiteln aufgreift, beim Vollzug der »Liebe«. Die Überwindung des Verstandes durch die Liebe ist nach Feuerbach die Überwindung des Gottesbewusstseins und sie erwächst gleichzeitig aus der Religion selbst. Das religiöse Bewusstsein, so Feuerbach, lebe zwar einerseits von der Trennung von Gott und Mensch, aber es lebe ebenso sehr von ihrer Einheit oder besser von ihrer Vereinigung. 90 Darum sei der »Gott der Religion« gerade nicht der Gott, den der Verstand sich bildet. 91 Wenn der Verstand aber nur das Trennende kennt, muss die Verbindung durch ein anderes Vermögen hergestellt werden. Hier findet Feuerbach die Liebe, die diese Funktion erfüllen soll. Die Liebe ist [. . . ] das substanzielle Band, das Vermittlungsprinzip zwischen dem Vollkommnen und dem Unvollkommnen, dem sündlosen und sündhaften Wesen, dem Allgemeinen und dem Individuellem, dem Gesetz und dem Herzen, dem Göttlichen und dem Menschlichen. 92

89 90 91 92

WCh 76. Vgl. WCh 90. Vgl. WCh 92. WCh 99.

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Hatte Feuerbach weiter oben geschrieben, das »Herz« vertrete nur die Interessen des Individuums, so bestimmt er die »Liebe« hier erkennbar anders. Sie erscheint als »Vermittlungsprinzip«, das somit die Entgegensetzung von Individuum und Gattung, die der Verstand konstituiert hat, aufhebt. Wenn das Gottesbewusstsein nun, wie Feuerbach oben ausgeführt hat, durch eine Ablösung der Gattung vom Individuum gebildet wird, dann würde man erwarten, dass die Liebe kein Gottesbewusstsein ausbildet. Wenn sie es nach Feuerbach dann dennoch tut, dann tut sie es in einer uneigentlichen Weise, indem sie es ausspricht und im selben Moment wieder aufhebt. Die Liebe – die Feuerbach hier mit der Religion assoziiert – spricht dann von Gott derart, dass sie ihn dem Menschen gegenüberstellt und diese Gegenüberstellung im selben Moment wieder zurücknimmt, indem sie die Einheit von Gott und Mensch behauptet, wie es paradigmatisch im christlichen Mythos von der Inkarnation geschieht. 93 Liest man die besprochenen Kapitel im Blick auf die oben aufgeworfene Frage von Bejahung und Verneinung in Feuerbachs Religionsphilosophie, so erscheint zunächst hier der bejahende Aspekt wieder deutlich zu überwiegen. In ihrem Bedürfnis, Gott und Mensch als Einheit zu verstehen, sperrt sich hier die Religion gerade gegen den Theismus des Verstandes. Feuerbachs Rede von einer »harmlosen Scheidung« von Gott und Mensch, welche der Religion ursprünglich eignet, 94 könnte in diesem Sinne interpretiert werden. Sie wäre dann eine Scheidung, die das, was sie trennt, im selben Moment wieder miteinander identifiziert. Die oben festgestellte Ambivalenz der Religionsphilosophie Feuerbachs ist durch diese Beobachtungen aber nicht aufgehoben. Denn die Religion mag zwar die Wahrheit der Liebe aussprechen, womit sie sich einen Schritt weit vom rationalen Theismus entfernt. Diese Wahrheit aber spricht sie aus in einer mythologischen Gestalt – und das heißt nichts anderes, als dass sie noch nicht ein Bewusstsein über die Wahrheit erlangt hat, die sie ausspricht. Dieses Bewusstsein über ihre anthropologische Wahrheit gibt ihr erst die anthropologische Interpretation, die Feuerbach vollzieht, und verhindert so ein theistisches Selbstmissverständnis. Oder, mit Feuerbach gesprochen: Die Wahrheit der Religion liegt »im Rücken« des religiösen Bewusstseins. 95 Unsere Analyse der Begriffe »Gattung«, »Verstand« und »Liebe« im Wesen des Christentums begann mit der Beobachtung, dass Feuerbach die Religion als Verhältnis des Menschen zu seinem Wesen bzw. seiner »Gattung« bestimmt. Daran hatte sich die Frage angeschlossen, wie genau der Begriff der Gattung zu fassen ist. Es hat sich gezeigt, dass Feuerbach den Gattungsbegriff nicht im 93 94 95

Vgl. WCh 101 f S.o. Abschnitt 1. Vgl. WCh 102, vgl. auch Petzold 1989, 108 f.

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Das Jenseits in uns. Max Stirner und Ludwig Feuerbach

Sinne eines Begriffsrealismus versteht, sondern dass die Gattung den praktischen Vollzug bestimmter menschlicher Vermögen bezeichnet. Hierbei haben wir zwei Vermögen kennengelernt, den »Verstand« und die »Liebe«. Das Verhältnis dieser beiden Vermögen ist nicht durchgehend klar bestimmt, vor allem bleibt die Frage offen, ob sie komplementär oder konkurrierend zu verstehen sind. Konstituiert der Verstand die Gattung, welche die Liebe anschließend mit dem Individuum vermittelt? Oder handelt es sich bei dem Verstand und der Liebe um zwei alternative Formen, sich zu seiner Gattung zu verhalten bzw. das Moment der Gattung zu konstituieren? Ich möchte mich vorsichtig für eine konkurrierende Lesart aussprechen. Demnach wäre der Verstand ein Vermögen, das den Menschen über sich selbst hinaushebt und eine Ebene von Allgemeinheit konstituiert, welche die Besonderheit des Individuums nivelliert, die Liebe würde dagegen Allgemeines und Besonderes unterscheiden und zugleich wieder miteinander vermitteln. Damit können auch die Entstehung religiöser Entfremdungsstrukturen, wie Feuerbach sie versteht, nun genauer gefasst werden. Die Liebe konstituiert ein Moment der Entäußerung, in welchem das Selbst auf ein Allgemeines oder eine Gattung bezogen wird, vermittelt aber zugleich Selbst und Gattung und macht so die Gattung als ein Moment des Selbst verstehbar. Der Verstand dagegen stellt die Gattung dem Selbst unvermittelt gegenüber und verhindert so die Wiederaneignung. Insofern die Gattung in Feuerbachs relationaler Anthropologie als Moment des dialektisch sich vollendenden Selbst verstanden werden muss, ist die Trennung von Gattung und Selbst durch den Verstand als Status der Selbstentfremdung zu begreifen. Die Figur der Trennung von Selbst und Gattung bildet den Hintergrund für Feuerbachs Analyse des Theismus, da der theistische Gott nichts anderes als die vom Verstand absolut gesetzte Gattung ist. 4. »Der Einzige und sein Eigentum« (1845) Im vorangegangenen, dritten Kapitel habe ich Stirners frühen Aufsatz Kunst und Religion von 1842 vorgestellt, 96 die Einführung seines Hauptwerks aber noch aufgeschoben, um eine grundlegende Annäherung an das Wesen des Christentums zwischenzuschalten. Im Hintergrund dieses Vorgehens steht die vorsichtige werkgeschichtliche These, dass die intensivere Auseinandersetzung mit Feuerbach bei Stirner zwischen die Veröffentlichungen von 1842 und das Erscheinen von Der Einzige und sein Eigentum im Oktober 1844 fällt. 97 Zwar 96 97

S.o. Kapitel III, Abschnitt 4. Zur Abfassungszeit des Einzigen s. o. Kapitel I, Anmerkung 80.

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»Der Einzige und sein Eigentum« (1845)

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spiegeln schon Stirners frühe Texte durchaus eine Kenntnis der Hauptthesen des Wesens des Christentums, explizit erwähnt und angegriffen wird Feuerbach allerdings erst im Einzigen, wo er ihn dann zu seinem Hauptgegner macht. 98 Auf den Einzigen und die dort entfaltete Religionskritik soll also nun der Blick gerichtet sein. Das Wesen des Christentums ist der wichtigste Prätext des Einzigen. Darauf deutet schon die formale Anlage von Stirners Hauptwerk hin. Der Einzige teilt sich in zwei »Abteilungen«, wobei die erste Abteilung eine destruktive und die zweite eine konstruktive Tendenz hat. Henri Arvon sieht darin zu Recht eine Orientierung am zweiteiligen, einen bejahenden und einen verneinenden Teil unterscheidenden Aufbau, den Feuerbach im Wesen des Christentums gewählt hat – wobei Stirner allerdings die Reihenfolge der beiden Teile umkehrt. 99 Dem ersten, verneinenden Hauptteil stellt Stirner dann auch ein Motto voran, worin er Feuerbach als seinen direkten Gegner bezeichnet. Zwar steht in diesem Motto gleichrangig neben Feuerbach auch Bruno Bauer als Bezugspunkt, allerdings greift Stirner dort mit dem »Menschen« ein Theorieelement auf, das deutlich stärker auf Feuerbach als auf Bauer verweist. 100 »Der Mensch« ist dann auch die Überschrift, die Stirner diesem Hauptteil gibt, 101 während der zweite, bejahende Hauptteil die Überschrift »Ich« trägt. 102 Durch diese Anlage der Schrift scheinen der Mensch und das Ich bei Stirner in ein Verhältnis zu treten, welches das Verhältnis von Gott und Mensch im Wesen des Christentums aufgreift und variiert. So interpretiert es Arvon und fasst die Pointe des Einzigen folgendermaßen treffend zusammen: »Dem theologischen Gott Feuerbachs entspricht der Mensch Stirners, dem Menschen Feuerbachs das Ich Stirners«. 103 Der Analyse Arvons folgend kann der Einzige ganz wesentlich als Polemik gegen Feuerbach gelesen werden. Im Folgenden wollen wir uns der Kritik Stirners an Feuerbachs Religionsphilosophie annähern. Dabei leitend ist die These, 98

99 100

101 102 103

Hat Stirner Feuerbachs Hauptwerk vielleicht sogar erst im Rahmen seiner Arbeit am Einzigen literarisch wahrgenommen? Diese Vermutung könnte gestärkt werden durch die Beobachtung, dass Stirners Quellenangaben im Einzigen sich auf die 2. Auflage des Wesens des Christentums von 1843 beziehen, worauf schon Henri Arvon hingewiesen hat, vgl. Arvon 2012, 58. Die große Mehrheit der Interpreten, darunter auch Arvon selbst, setzt allerdings wohl mit guten Gründen voraus, dass Stirner schon vor 1843 zumindest mit Feuerbachs Hauptthesen bekannt gewesen ist. Vgl. Arvon 2012, 61. »Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen, sagt Feuerbach. Der Mensch ist nun erst gefunden, sagt Bruno Bauer. Sehen Wir uns denn dieses höchste Wesen und diesen neuen Fund genauer an.« (EE 17). Vgl. EE 17. Vgl. EE 162. Arvon 2012, 62.

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Das Jenseits in uns. Max Stirner und Ludwig Feuerbach

dass Stirner die Entfremdungstheorie Feuerbachs aufgreift, verschärft und sie dann gegen Feuerbach selbst wendet. Diese Figur weist offenbar eine starke Parallele zu Stirners Kritik an Bauer in seinem Aufsatz über Kunst und Religion auf. In der Analyse dieser frühen Schrift haben wir gesehen, dass Stirner in einer nicht-dialektischen Reinterpretation der Entfremdungstheorie den Unterschied von Entfremdung und Entäußerung einebnet und so die Dialektik von Produzent und Produkt, die Bauer als Lösung des Entfremdungsproblems anbietet, selbst als Entfremdungsstruktur zu verstehen anleitet. 104 Wie wir sehen werden, entwickelt Stirner im Einzigen seine Kritik an Feuerbach in einer ganz ähnlichen Form. Feuerbach konnte die Gattung als ein Moment des Selbst begreifen, welches dem individuellen Selbst als ein Äußeres, aber nicht als Fremdes gegenübersteht. Erst durch die Trennung der Gattung vom Individuum im Theismus schlägt die Entäußerung in Entfremdung um. 105 Diese Unterscheidung nun hebt Stirner auf und insistiert, dass schon die Entäußerung des Selbst an eine Gattung eine Struktur der Entfremdung konstituiert. Um diesen Schritt über Feuerbach hinaus besser zu verstehen, möchte ich die Passage im Einzigen in den Blick nehmen, in der Stirner zuerst auf Feuerbach zu sprechen kommt. Dort verweist er auf das Wesen des Christentums und urteilt, die »Befreiung [. . . ], welche Feuerbach Uns zu geben sich bemüht« sei immer noch »durchaus theologisch« 106. Damit sprengt Stirner schon zu Beginn der Passage das Selbstverständnis Feuerbachs, der zwar ein ambivalentes Verhältnis zur Religion eingenommen haben mag, sich aber wenigstens von der Theologie ausdrücklich abgegrenzt hat. Wir wollen nun sehen, wie Stirner zu diesem Urteil kommt. Zunächst zitiert Stirner aus dem Wesen des Christentums und hebt dabei Feuerbachs Hauptthese von der Reduktion der Gottheit auf das Wesen des Menschen hervor. Anschließend fasst Stirner seine Kritik an Feuerbach in prägnanter Form zusammen: Wir erwidern hierauf: Das höchste Wesen ist allerdings das Wesen des Menschen, aber eben weil es sein Wesen und nicht er selbst ist, so bleibt es sich ganz gleich, ob Wir es außer ihm finden und als »Gott« ansehen, oder in ihm finden und »Wesen des Menschen« oder »Mensch« nennen. Ich bin weder Gott, noch der Mensch, weder das höchste Wesen, noch Mein Wesen, und darum ist es auch in der Hauptsache einerlei, ob ich das Wesen außer mir oder in mir denke. 107

104 105 106 107

S.o. Kapitel III, Abschnitt 4. S.o. Abschnitt 3. EE 42 EE 43

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»Der Einzige und sein Eigentum« (1845)

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Wie ist Stirners Widerspruch zu Feuerbach demnach zu fassen? Feuerbach hatte angestrebt, die religiöse Entfremdung aufzuheben, indem er das Gottesbewusstsein als ein indirektes Selbstbewusstsein zu überwinden und in ein direktes Selbstbewusstsein zu überführen suchte. Diese Aufgabe löste er durch die Übersetzung und Dechiffrierung des Gottesbewusstseins in ein Gattungsbewusstsein. Diesem Schritt lag die mehr oder weniger stille Prämisse zugrunde, dass es sich beim Gattungsbewusstsein um ein Moment des Selbstbewusstseins handelt. 108 Diese Prämisse ist aber alles andere als selbstverständlich und genau dieses Problem nimmt Stirner in den Blick. Stirner argumentiert nun folgendermaßen: Wenn wir vom Menschen oder vom Wesen des Menschen sprechen – wobei Stirner offenbar Feuerbachs Gattungsbegriff adressiert –, dann haben diese Ausdrücke unzweifelhaft einen semantischen Gehalt, der von dem Gehalt des Ausdrucks »Ich« abweicht. Aber die Ausdrücke »Ich« und »Mensch« scheinen für Stirner offenbar nicht nur Unterschiedliches, sondern ein Stück weit Gegensätzliches zu bedeuten. Wie ist dieses Urteil zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir auf eine spätere Passage im Einzigen eingehen, in der Stirner wiederum das Verhältnis des »Menschen« zum »Ich« in den Blick nimmt. 109 In dieser Passage weist Stirner darauf hin, dass eine Einzelperson dem »Begriff der Menschlichkeit« niemals voll entsprechen kann. Durch diese Abweichung vom Allgemeinbegriff trete die Einzelperson zu diesem in ein Verhältnis der Negation, sie habe daher notwendigerweise ein Moment des »Unmenschlichen« an sich, sei »Unmensch«. Nun habe aber der »Mensch« keine Realität außerhalb der Einzelperson. Darum gelte: »Wirklicher Mensch ist nur der – Unmensch.« 110 Wenn aber der je einzelne Mensch nie dem »Begriff der Menschlichkeit« entspricht, in welchem Sinn kann man dann noch von ihm als von einem »Menschen« sprechen? Stirner deutet hier eine Lösung nur an, wenn er schreibt, das Verhältnis von Ich zum Menschen sei dann richtig verstanden, wenn der Mensch nicht als »Begriff«, sondern als »Eigenschaft« des Ichs verstanden wird. 111 Verbindet man diese Überlegungen mit Stirners Kritik an Feuerbach, so scheint sein Argument zunächst ein ontologisches zu sein. Demnach wirft Stirner Feuerbach vor, den Menschen als Begriff im Sinne eines Universalienrealismus zu verstehen, der eine dem einzelnen Ich äußere Entität anspreche. Demgegenüber fordert Stirner, den Menschen als im Ich gegebene »Eigenschaft« des Ichs zu verstehen und ihn damit ontologisch zu depotenzieren. 108 109 110 111

S.o. Abschnitt 3. Vgl. EE 183 f. EE 184. Vgl. ebd..

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Das Jenseits in uns. Max Stirner und Ludwig Feuerbach

Diese Lesart ist nicht falsch und wird anschaulich bestätigt in Stirners Polemik gegen den »Menschen« bzw. gegen das »Wesen« als »Spuk« oder »Gespenst«, also Unwirkliches. 112 Dennoch scheint mir die ontologische Stoßrichtung des Arguments zurückzutreten hinter eine zweite, sprachphilosophische Stoßrichtung. In dieser zielt das Argument nicht auf die Frage, ob der Rede vom Menschen eine der Einzelperson transzendente Wirklichkeit korrespondiert, sondern darauf, was geschieht, wenn ich eine Einzelperson mit dem logischen Allgemeinbegriff »Mensch« adressiere. Unabhängig von seinen ontologischen Implikationen abstrahiert dieser Sprechakt von den Besonderheiten des Einzelnen und legt seine Identität gewaltsam auf der Ebene des Allgemeinen fest. So ist es nach Stirner dann auch vornehmlich der »Staat«, der die Besonderheiten seiner Staatsbürger nicht integrieren kann und sie als »Unmenschlichkeit« bekämpfen oder gar pathologisieren muss. 113 Stirners Bemerkungen zu »Mensch« und »Unmensch« können helfen, seine Kritik an Feuerbach besser zu verstehen. Stirner beobachtet, dass Feuerbach den Menschen und damit die Gattung als Moment in das Selbst aufnimmt. Dabei aber unterstellt er, dass Feuerbach den Menschen bzw. die Gattung als logischen Allgemeinbegriff einführt, der als solcher als reine Abstraktion bzw. Negation der Einzelperson gebildet ist, womit er mit der Konstitution der Gattung durch den Verstand an ein Motiv aus Feuerbachs Argumentation aus dem Wesen des Christentums anknüpfen kann. Die Möglichkeit einer Vermittlung des Widerspruchs von Einzelperson und Allgemeinbegriff, die Feuerbach durchaus in Angriff nimmt, blendet Stirner in diesem Schritt noch aus. Auf dieser selektiven Lesart beruht dann auch zunächst Stirners Vorwurf, dass Feuerbach trotz seiner Übersetzung des Gottesbewusstseins ins Gattungsbewusstsein ein »theologisches« Moment erhält. Dabei impliziert die Rede von der Theologie Feuerbachs nicht den Vorwurf, Feuerbach sei zu einem metaphysischen Theismus zurückgekehrt. Theologisch scheint Feuerbachs Anthropologie für Stirner vielmehr dadurch, dass dieser dem Selbst mit der Gattung ein Moment des Anderen, des Jenseitigen an die Seite stellt. So schreibt Stirner am Anfang des zweiten Hauptteils resümierend über Feuerbachs Versuch einer Rückführung Gottes auf den Menschen: Das Jenseits außer Uns ist allerdings weggefegt, und das große Unternehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneutem Himmelsstürmen auf: der Gott hat Platz machen müssen, aber nicht Uns, sondern – dem Menschen. 114 112 113 114

Vgl. EE 50 ff. Vgl. EE 183. EE 162.

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Feuerbachs Antwort

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Bereits der kurze Einblick, den wir bis hierhin in Stirners Hauptwerk gewonnen haben, lässt fundamentale Grundentscheidungen dieser Schrift erahnen. Dies ist zum einen Stirners Neufassung der Theorie religiöser Entfremdung. Schon in Kunst und Religion hatte Stirner den Entfremdungsgedanken, den er bei Bauer vorgefunden hatte, dadurch verschärft, dass er das dialektische Modell von Entäußerung und Wiederaneignung abgelehnt hatte. Ein ähnliches Bild ergibt sich nun angesichts seiner Kritik an Feuerbach im Einzigen. Während Feuerbach die Entgegensetzung der Gattung zum Individuum dialektisch aufzuheben vermag, wird diese Möglichkeit bei Stirner offenbar zurückgenommen. Dies geschieht zunächst dadurch, dass die Gattung auf ihre Bedeutung als abstrakten Allgemeinbegriff festgelegt wird und als solche dem Einzelnen unvermittelt gegenübertritt. Neben der Skepsis gegen ein dialektisches Modell der Entfremdung gibt es noch einen zweiten Punkt, der eine Kontinuität von Kunst und Religion zum Einzigen herstellt und der zugleich Stirners Ansatz sowohl von Bauer als auch von Feuerbach abhebt. Anders als Bauer und Feuerbach löst sich Stirner in seiner Beschreibung der Religion von der Orientierung auf den Gottesgedanken bzw. auf den metaphysischen Theismus. Bei Feuerbach kreiste die Religionskritik noch unbeirrt um die Frage nach Gott. Wenn er argumentiert, dass die Religion »in Wahrheit« nicht Theologie, sondern Anthropologie sei, dann bleibt umso mehr der Theismus dasjenige Moment der Religion, welches für Feuerbach die »unwahre« Gestalt der Religion bestimmt. 115 Stirner aber behauptet nun, dass Feuerbach trotz seiner Überwindung des Theismus als »theologischer« Denker verstanden werden muss, und begründet dies darin, dass auch für Feuerbach dem Ich ein Jenseits an die Seite gestellt wird. Darin deutet sich eine Ausweitung der Religionskritik an, insofern hier Phänomene der religiösen Entfremdung in den Blick gelangen, die über den metaphysischen Theismus hinausreichen. 5. Feuerbachs Antwort Stirners Kritik an Feuerbach prägt sein ganzes Hauptwerk. Eine erste Bekanntschaft mit der Tendenz dieser Kritik haben wir im vorangegangenen Abschnitt gewonnen. In der Passage, mit der wir oben die Erschließung des Einzigen begonnen haben, ignoriert Stirner die bei Feuerbach gegebene Möglichkeit einer dialektischen Vermittlung von Individuum und Gattung und begreift die Gattung dem Selbst gegenüber als das schlechthin Negative. Dies führt zu einer Verschärfung der Entfremdungskritik, die in dieser Form auch Feuerbach 115

S.o. Abschnitt 1.

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Das Jenseits in uns. Max Stirner und Ludwig Feuerbach

selbst treffen muss. Dabei beruht Stirners Argumentation im Wesentlichen auf der Bestimmung der Gattung als Allgemeinbegriff. Das Ich als Menschen zu adressieren impliziert eine intellektuelle Operation, die von seiner Individualität abstrahiert. Um sich zu bewahren, muss das Ich sich gegen jede begriffliche Abstraktion verwehren. Dieser sprachphilosophischen Argumentation scheint Stirner viel zuzutrauen, denn sie kehrt in seinem Hauptwerk wie auch in seinen Antikritiken von 1845 mehrfach wieder – in ihrer Bedeutung für Stirners Theorie der Personalität werden wir sie im sechsten Kapitel dieser Untersuchung noch einmal eingehender betrachten. 116 Wenn wir sie aber hier im Kontext der Feuerbachkritik Stirners wahrnehmen und uns dabei an die Bestimmung des Gattungsbegriffes im Wesen des Christentums erinnern, wie wir ihn oben in Ansätzen erschlossen haben, dann fällt auf, dass Stirner in seiner Polemik einen wesentlichen Punkt zu übergehen scheint. So hatte Feuerbach dort das unvermittelte Verhältnis von Individuum und Gattung, wie der abstrahierende Verstand es konstituiert, ausdrücklich für überwunden erklärt. Damit aber scheint Feuerbach eben das Verständnis der Gattung als nivellierenden Allgemeinbegriff, das Stirner ihm unterstellt, selbst verworfen und eine dialektische Vermittlung von Individuum und Gattung in Aussicht gestellt zu haben. Nimmt man dies wahr, dann scheint es, als zielte Stirners Kritik schlicht an Feuerbachs Position vorbei. Es ist darum auch nicht überraschend, dass sich Feuerbach von Stirner gerade in diesem Punkt missverstanden fühlt. Das Gefühl, missverstanden worden zu sein, dokumentiert sich in einer recht ausführlichen, wenn auch anonymen Rezension unter dem Titel Das Wesen des Christentums in Bezug auf den Einzigen, mit der Feuerbach 1845 in Wigands Vierteljahresschrift auf Stirners Hauptwerk antwortet. Dieser Artikel enthält zwar auch eine Polemik gegen einige der originären Theorieelemente Stirners wie vor allem gegen den Egoismus, konzentriert sich aber im Wesentlichen defensiv auf die Zurückweisung der von diesem gegen Feuerbach erhobenen Einwände. Sechs Einwände greift Feuerbach in Form von – irreführend als direkte Zitate gekennzeichnete – Paraphrasen aus dem Einzigen auf und versucht ihnen zu begegnen. Den mit Abstand breitesten Raum in Feuerbachs Artikel nimmt die Antwort auf den dritten dieser Einwände ein. Feuerbach fasst Stirners Kritik folgendermaßen zusammen: F.s [= Feuerbachs] »theologische Ansicht« besteht darin, dass er »uns in ein wesentliches und ein unwesentliches Ich spaltet« und »die Gattung, den Menschen, ein abstractum, eine Idee, als unser wahres Wesen im Unterschiede von dem wirklichen individuellen Ich als dem unwesentlichen hinstellt.« 117 116 117

S.u. Kapitel XII, Abschnitt 1. Feuerbach 1845, 430, zu der wiedergegebenen Passage bei Stirner vgl. EE 42.

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Feuerbachs Antwort

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Auf diese Kritik Stirners, die Feuerbach hier durchaus richtig wiedergegeben hat, reagiert dieser dann mit der etwas empörten Entgegnung: »Einziger! Hast du das ›Wesen des Christentums‹ ganz gelesen?« 118 Im Folgenden versucht Feuerbach dann zwei Dinge zu zeigen. 119 Erstens versucht er deutlich zu machen, dass er die Gattung, anders als Stirner es darstellt, schon im Wesen des Christentums nicht als abstrakten Allgemeinbegriff bestimmt hat. Und zweitens argumentiert Feuerbach noch einmal dafür, dass die so bestimmte Gattung als integrales Moment des Selbst begriffen werden muss. Auch in diesem zweiten Punkt ist Feuerbach daran gelegen, deutlich zu machen, dass er seine Position seit dem Wesen des Christentums nicht grundsätzlich weiterentwickelt hat. Schauen wir zuerst auf das Problem der Gleichsetzung der menschlichen Gattung mit einem abstrakten Allgemeinbegriff. Diese Gleichsetzung hatte Stirner in seiner Kritik an Feuerbach, wie wir gesehen haben, tatsächlich unterstellt. In seiner Replik schreibt Feuerbach dazu nun Folgendes: »Die Gattung bedeutet nämlich bei F. nicht ein abstractum, sondern nur dem einzelnen, für sich selbst fixierten ich gegenüber, dass Du, den anderen, überhaupt die außer mir existierenden menschlichen Individuen.« 120 An dieser Stelle bestimmt Feuerbach die Gattung ausdrücklich nicht als eine logische, begriffliche Größe. Die Gattung wird im Gegensatz dazu zum Titel für einen relationalen Sachverhalt, für den Sachverhalt der Intersubjektivität. Die Intersubjektivität ist nun, und damit sind wir beim zweiten, wesentlichen Punkt in Feuerbachs Argumentation, für das Individuum »unentbehrlich«. 121 Dies ergibt sich für Feuerbach aus dem »Beschränktheitsgefühl«, das jedem Einzelnen vertraut ist. Nur die Gattung, also die Intersubjektivität, kann das Ich von diesem Gefühl der Beschränktheit »erlösen«. 122 Da jedes Individuum schon als Individuum auf den Anderen verwiesen ist, gilt für Feuerbach: »[I]ch hänge vom Du ab; kein Du – kein Ich.« 123 Feuerbach bestimmt in seinem Aufsatz von 1845 die Gattung damit streng im Sinne der Intersubjektivität, genauer im Sinne der elementaren, fundamentalen Intersubjektivität von »Ich« und »Du«. Damit scheint der Einwand, den Stirner formuliert hat, ins Leere zu laufen. Unklar ist allerdings, ob Feuerbach tatsächlich, wie er es beansprucht, in seiner Replik auf Stirner nur eine Einsicht aus dem Wesen des Christentums wiederholt. Marcel Xhaufflaure bestreitet dies und urteilt, dass es sich hier um eine spezifische Weiterentwicklung des 118 119 120 121 122 123

Ebd. Vgl. Feuerbach 1845, 430–438. Feuerbach 1845, 434. Vgl. Feuerbach 1845, 435. Vgl. Ebd. Feuerbach 1845, 436.

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Gattungsbegriffes handelt, für die dann wohl auch ein Einfluss Stirners anzunehmen ist. 124 Dass Feuerbach, herausgefordert durch die Kritik Stirners, seinen Gattungsbegriff noch einmal geschärft hat, scheint mir tatsächlich unbestreitbar. Blickt man auf seine skeptischen Ausführungen über den Verstand im Wesen des Christentums, so scheint mir sein Anspruch, dem gegenüber nicht wesentlich Neues geschrieben zu haben, im Großen und Ganzen aber doch zu Recht zu bestehen. Wenn Feuerbach Stirner vorwirft, dass dieser ihn unsachgemäß verkürzt habe, dann scheint dieser Vorwurf gerechtfertigt, die Gleichsetzung der Gattung mit einem bloßen Allgemeinbegriff tut Feuerbach unrecht. Sie übergeht die Komplexität seiner praktischen Bestimmung des Gattungsbegriffes mithilfe einer Konzeption der Intersubjektivität, wie sie im Liebesbegriff schon im Wesen des Christentums angelegt ist. Mit diesem Befund ist Stirners Kritik an Feuerbach nicht abgewiesen, der Ball muss aber nun noch einmal zu ihm zurückgespielt werden. Wenn wir das tun, dann sehen wir, dass Stirner bei dem oben behandelten Argument nicht stehen bleibt. Und dabei wird deutlich, dass er das Wesen des Christentums sehr wohl ganz gelesen hat. Denn im weiteren Verlauf seiner Kritik an Feuerbach wechselt Stirner an vielen Stellen in das Feld der Ethik und greift dort mit dem Liebesbegriff eben den Begriff auf, dem Feuerbach selbst für sein Verständnis der Gattung und der Religion eine Schlüsselstellung zuweist.

124

Vgl. Xhaufflaure 1972, 162.

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V. Menschenopfer, unerhört Religion und Egoismus

I

n den vorangegangenen zwei Kapiteln haben wir die Figur der religiösen Entfremdung in den zwei klassischen Gestalten kennengelernt, die Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach ihr gegeben haben. Beide legen ein theistisches Gottesbewusstsein zugrunde und analysieren es mithilfe der Kategorie der Selbstentfremdung. Der entscheidende Unterschied zwischen Feuerbach und Bauer bestand, wie wir gesehen haben, darin, dass bei Bauer das Gottesbewusstsein in das Verhältnis des Selbst zu seinen Produkten übersetzt wird, bei Feuerbach in das Verhältnis des Selbst zu seiner Gattung. Max Stirner hat, wie wir ebenfalls sehen konnten, beide Ansätze intensiv wahrgenommen und verarbeitet. Während sein früher Artikel Kunst und Religion deutlich als Auseinandersetzung mit Bauers Entfremdungstheorie erkennbar ist, wird spätestens mit dem Einzigen Feuerbach der leitende Bezugspunkt. Die Kontroverse zwischen Stirner und Feuerbach – die sich nach dem Angriff, den Stirner im Einzigen gegen Feuerbach führte, noch in der Replik Feuerbachs von 1845 und einer Antwort Stirners aus demselben Jahr 1 fortsetzte, dann aber abbrach –, ist für das Verständnis der Religionsphilosophie Stirners enorm aufschlussreich. In einer ersten Annäherung an Stirners Polemik gegen Feuerbach wurde deutlich, dass der Gattungsbegriff, den Stirner in den Mittelpunkt seiner Kritik stellt, bei Feuerbach ein durchaus schillernder ist. 2 Während Stirner Feuerbachs Gattung im Einzigen in polemischer Absicht mit einem logischen Allgemeinbegriff gleichsetzt, der in unvermittelter Abstraktion von der Besonderheit der Einzelperson gebildet ist, 3 reagiert Feuerbach auf diese Interpretation beinahe empört. Wie wir gesehen haben, findet Feuerbach nach den mitunter durchaus verschlungenen Pfaden, die er im Wesen des Christentums geht, in seiner Replik auf Stirner von 1845 zu einer klaren Bestimmung des Gattungsbegriffes als Inbegriff der Intersubjektivität. 4 Die Gattung ist keine abstrakte oder intelligible Größe, sondern sie ist das je konkret mir begegnende Du bzw. ist vielmehr die Begegnung oder Be-

1 2 3 4

Vgl. KS 379 ff. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 3–5. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 4. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 5.

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Menschenopfer, unerhört. Religion und Egoismus

ziehung selbst, die Ich und Du verbindet. In dieser Bestimmung scheint ein Thema auf, dass neben der Religion in gewisser Weise als zweites Lebensthema Feuerbachs bezeichnet werden kann: das Interesse an Fragen der Ethik oder genauer, das Interesse an der Frage nach gelingenden Nahbeziehungen. Dieses Lebensthema ist im Wesen des Christentums repräsentiert durch die große Bedeutung des Liebesbegriffs. 5 Es spricht dann auch einiges dafür, dass schon dort die Gattung wesentlich über die Intersubjektivität der Nahbeziehung zu erschließen ist. 6 Sollte das stimmen, dann scheint gleichzeitig offensichtlich, dass Stirners Kritik an Feuerbachs menschlicher Gattung überall dort, wo er diese einseitig als logischen Allgemeinbegriff interpretiert, ins Leere laufen muss. Dies scheint mir auch tatsächlich so zu sein, allerdings ist damit Stirners Kritik an Feuerbach nicht obsolet. Denn trotz seiner polemischen Zuspitzung scheint Stirner die Feinheit des Gattungsbegriffes bei Feuerbach nicht übersehen zu haben. Stirner bleibt dementsprechend auch nicht auf seiner über die Identifikation von Gattung und Allgemeinbegriff errichteten Kritik stehen, sondern geht über zu einer zweiten Argumentationslinie, die Feuerbachs Konzeption der Intersubjektivität in den Blick nimmt. Diese zweite Linie der Feuerbachkritik kulminiert in Stirners Auseinandersetzung mit dem Begriff der Liebe. Im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Feuerbachs Liebesethik entwickelt Stirner dann seine Ethik des Egoismus, für die er selbst berühmt und berüchtigt geworden ist. In der Rezeption Stirners ist seine Aufwertung bzw. Entproblematisierung des »Egoismus« eines der meistbeachteten, vielleicht das am meisten beachtete Theorieelement. Stirners Umgang mit diesem Begriff hat ihm sowohl Empörung als auch Bewunderung eingebracht. Im Rahmen unserer Fragestellung interessiert nun Stirners Egoismus aber nicht primär aufgrund seiner ethischen Radikalität, sondern aufgrund seiner Bedeutung für Stirners Kritik an Feuerbachs Religionsphilosophie. Da Stirners Ausweitung der Religionskritik im Einzigen originär aus seiner Abgrenzung von Feuerbach entspringt, ist es nicht verwunderlich, dass der Egoismus auch ein tragendes Element seiner Religionskritik wird. Die Liebe wird dabei – gleichsam als Gegenbegriff des Egoismus – zu einem Inbegriff dessen, was Stirner als »religiöse« Ethik zu konturieren versucht. Bevor wir uns Stirners Egoismus und dessen religionskritischer Stoßrichtung zuwenden können, muss allerdings noch ein zweiter Blick auf Feuerbach vorgeschaltet werden. Hierbei möchte ich die Einsicht in die Bedeutung der Liebe für Feuerbachs Gattungsbegriff aufgreifen und sie auf ihre ethischen Im5 6

Vgl. Weckwerth 2002, 74 ff. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 5.

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Glaube und Liebe bei Feuerbach

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plikationen hin befragen (1). Anschließend möchte ich mich Stirners eigener ethischen Konzeption zuwenden. Dazu möchte ich auf die Diskussion um Stirners »Egoismus« eingehen und versuchen, den Egoismus als Kernbegriff einer nicht-normativen Ethik verstehbar zu machen (2). Mithilfe der erarbeiteten Interpretation der Ethik Stirners kann dann seine Kritik an Feuerbachs Liebesethik analysiert werden. Dabei wird deutlich werden, dass die Liebe für Stirner untrennbar mit einem religiösen Verständnis der Intersubjektivität verbunden ist (3). Ob mit Stirners radikaler Abwehr von Normativitäten im Allgemeinen und der Liebe als Orientierungsbegriff im Besonderen die Möglichkeit von Intersubjektivität und Sozialität unrettbar verloren gehen muss, ist eine Frage der Wertung, die hier (noch) nicht gestellt werden soll. Dass aber Stirner durchaus an einem Gelingen von Intersubjektivität und Sozialität, besonders auch an gelingenden Nahbeziehungen, interessiert ist, soll abschließend gezeigt werden (4). Damit werden die Ausführungen zum Verhältnis von Stirner und Feuerbach schließen, welche die Grundlage bilden werden für die Erschließung von Stirners eigener Theorie religiöser Entfremdung, welche die folgenden Kapitel leisten sollen. 1. Glaube und Liebe bei Feuerbach »Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach in die vermeintlich sichere Bucht der Liebe einzulaufen.« 7 Dies schreibt Stirner im Einzigen und trifft damit einen wesentlichen, in unserer Analyse bisher nur am Rande betrachteten Punkt, und zwar die bestimmende Bedeutung der ethischen Perspektive für Feuerbachs Religionsphilosophie. Mit seiner engen Verbindung von Ethik und Religionsphilosophie tritt Feuerbach in die Tradition Kants – eine Beziehung, die von Howard Williams unterstrichen und mit einer Deutung des Wesens des Christentums als Dokument einer moralischen Religionskritik verbunden wurde. 8 Williams sieht in Kants Schrift über die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft mit einigem Recht einen wichtigen Vorläufer von Feuerbachs Hauptschrift. Kant wie Feuerbach, so Williams, suchen in der christlichen Religion einen »moralischen Kern« (»moral core«). 9 Beide entfalten dabei zwar ein enormes religionskritisches Potential, auch wenn sie sich weniger als Kritiker, sondern mehr als Interpreten der christlichen Religion sehen. Ein wichtiger Unterschied zwischen Feuerbach und Kant besteht dabei in der Antwort auf die Frage danach, wie der »moralische Kern« des Chris7 8 9

EE 68. Vgl. Williams 2006. Vgl. ebd. 52.

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tentums konkret zu bestimmen ist. In Feuerbachs Erhebung der »Liebe« zum ethischen Zentralbegriff sieht Williams dessen wichtigste eigenständige Entscheidung gegenüber Kant. 10 Richtigerweise bemerkt Williams zudem, dass Feuerbach dem Eudämonismus, ja dem »Egoismus« ein größeres Recht einräumt, als es bei Kant der Fall war. 11 Dieser Aspekt ist für uns entscheidend, insofern er auf Stirners Position vorausweist. Bevor wir uns der ethischen Position zuwenden, die Stirner in Abgrenzung zu Feuerbach entwickelt, müssen wir aber zunächst noch einmal genauer bestimmen, welche Rolle der Liebesbegriff in Feuerbachs Ethik spielt und wie er mit der partiellen Aufwertung des Eudämonismus verbunden ist, die Williams beobachtet. Im vorangegangenen Kapitel haben wir die »Liebe« bei Feuerbach als eine anthropologische Fundamentalbestimmung kennengelernt. Diesen anthropologischen Liebesbegriff entfaltet Feuerbach im Wesentlichen in den Kapiteln drei bis sieben seines Hauptwerkes. 12 Dort kontrastiert Feuerbach, wie wir gesehen haben, die menschlichen Vermögen von »Verstand« und »Liebe« als zwei alternative Möglichkeiten des Einzelnen, sich zu seiner »Gattung« zu verhalten bzw. das, was wir »Gattung« nennen, zuallererst zu konstituieren. 13 Der Verstand trennt Gattung und Individuum, setzt die Gattung dem Individuum als ein unvermittelbar Anderes gegenüber und erschafft so das theistische Gottesbewusstsein. In der Liebe dagegen begreift der Einzelne die Gattung als Moment seiner selbst. Dadurch überwindet die Liebe die Selbstentfremdung des Theismus, welcher die Gattung als Gottheit vorstellt und so dem Selbst ein Moment seiner selbst als ein unvermittelt Anderes gegenübergestellt hat. Der Verstand steht somit in einem vitalen Verhältnis zum Theismus, aber auch die Liebe kann einem bestimmten Gottesbewusstsein zugeordnet werden. Das Gottesbewusstsein der Liebe ist davon bestimmt, dass es Gott und Mensch zwar trennt, sie im selben Moment aber wieder in Eins setzt, wodurch sie die Trennung und letztlich den Theismus wieder überwindet. Diese Gestalt des Gottesbewusstseins, diese uneigentliche Trennung von Gott und Mensch, scheint hier der Religion insgesamt näher zu stehen als der rationale Theismus. Es ergibt sich daher zunächst ein überraschender Zusammenklang von Liebe und (christlicher) Religion. Die hier noch einmal kurz rekapitulierte Passage im ersten Hauptteil ist allerdings nicht die einzige Stelle, in der Feuerbach auf die Liebe zu sprechen kommt. Von großer Bedeutung sind dafür die Kapitel 27 und 28, welche den Abschluss des Wesens des Christentums bilden. 14 Diese zwei Kapitel fügen dem 10 11 12 13 14

Vgl. ebd. 59 f. Ähnlich Weckwerth 2002, 74 f. Vgl. ebd. 64. Vgl. nochmals WCh 75 ff. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 3. Vgl. WCh 409 ff.

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Glaube und Liebe bei Feuerbach

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Bild, das sich von Feuerbachs Liebesbegriff bis dahin ergibt, zwei wesentliche Aspekte hinzu. Zumeinen betont Feuerbach hier im Verhältnis der Liebe zur Religion nicht mehr das Verbindende, sondern das Trennende. Zumanderen wird der Liebesbegriff zum ersten Mal in Feuerbachs Hauptwerk nicht unter einem theoretisch-anthropologischen, sondern unter einem praktisch-ethischen Gesichtspunkt betrachtet. Die beschriebene doppelte Weiterentwicklung wird bereits dadurch angekündigt, dass Feuerbach in Kapitel 27 eine neue begriffliche Opposition einführt. Die »Liebe« wird jetzt nicht mehr wie zuvor mit dem »Verstand«, sondern mit dem »Glauben« in das Verhältnis eines Gegensatzes gebracht. Der Glaube nimmt die Stellung ein, die vorher der Verstand innehatte, indem er dem Menschen seine Gattung als Gottheit gegenüberstellt und sie so von ihm entfremdet. Wie aber schon die Wahl des Begriffes andeutet, ist der Glaube, anders als der Verstand, nicht etwas, das an die Religion von außen herangetragen wird, sondern bezeichnet ein Prinzip innerhalb der Religion. Der Widerspruch von Glaube und Liebe wird somit nun zum inneren Widerspruch der Religion selbst und in diesem Widerspruch kommt die Ambivalenz in Feuerbachs Religionsphilosophie zu ihrer klarsten Form. 15 Die Liebe steht für das »verborgene Wesen der Religion«, der Glaube für ihre »bewusste Form«, also für das theistische Selbstmissverständnis der Religion, welches Feuerbachs anthropologische Interpretation korrigiert. 16 Im Folgenden geht Feuerbach nun noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er die sozialphilosophische bzw. ethische Bedeutung der religiösen Selbstentfremdung herausarbeitet. Indem der »Glaube« Gott und damit die »Gattung« vom »Individuum« trennt, erschafft er zugleich eine Trennung von Mensch und Mensch. Feuerbach schreibt: Die Liebe identifiziert den Menschen mit Gott, Gott mit dem Menschen, darum den Menschen mit dem Menschen; der Glaube trennt Gott vom Menschen, darum den Menschen von dem Menschen; denn Gott ist nichts andres als der mystische Gattungsbegriff der Menschheit, die Trennung Gottes vom Menschen daher die Trennung des Menschen vom Menschen, die Auflösung des gemeinschaftlichen Bandes. 17

Der Schluss, den Feuerbach in dieser etwas thetischen Passage vornimmt, ist keinesfalls unmittelbar einleuchtend. Wenn der Glaube »Gott vom Menschen« trennt, warum trennt er damit auch »den Menschen vom Menschen«? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, auf die oben bereits angedeutete Bestimmung der Gattung als Vollzug der Intersubjektivität zurückzukom15 16 17

Vgl. Gooch 2006, 170 f. WCh 410. WCh 410.

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men. 18 In der Liebe begegnen sich Individuen und konstituieren so die Gattung, welche sie als Moment ihrer selbst begreifen können. Was geschieht nun, wenn die Gattung den Individuen als ein Anderes, als eine abstrakte Entität gegenübergestellt wird? Man könnte denken, dass dann das Selbst den je Anderen nicht mehr als Moment seiner selbst begreifen kann und sich ganz im Anderen verliert. Überraschenderweise zieht Feuerbach einen genau umgekehrten Schluss. Der Glaube, so Feuerbach, sei, im Unterschied zur Liebe, Ausdruck des höchsten Egoismus. Feuerbach schreibt: »Der Glaube partikularisiert und borniert den Menschen; er nimmt ihm die Freiheit und Fähigkeit, das andre, das von ihm Unterschiedne nach Gebühren zu schätzen« 19 Offenbar verfehlt der »Glaubende« nach Feuerbach nicht nur sich selbst, sondern gerade auch seine zwischenmenschlichen Beziehungen. Dass dies so ist, zeigt Feuerbach mit folgendem Argument: 20 Während der Liebende den Anderen um des Anderen willen liebt, tritt für den Glaubenden Gott zwischen mich und den Anderen. Ich liebe den Anderen dann indirekt, »um Gottes willen«, und verfehle so den Anderen, weil ich ihn – so könnte man in Anschluss an Kants berühmte Formel aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten ergänzen – nicht als »Zweck an sich selbst« anerkenne. 21 Allerdings muss bei dieser Darstellung – wiederum in Konvergenz mit Kant – eine kleine Korrektur vorgenommen werden. Für Feuerbach ist nicht der individuell Andere der Zweck der Liebe, sondern der »Mensch«. 22 Insofern der Mensch als Gattung für den Vollzug der Intersubjektivität steht, erscheint dann dieser Vollzug in sich selbst der einzige, unabgeleitete Zweck der Liebe. Übersetzt in die Semantik der Entfremdungstheorie kann dieses Scheitern der Intersubjektivität im Glauben folgendermaßen reformuliert werden: Die Gattung ist ein Moment des Selbst, welches dieses Selbst in Vollzügen der Intersubjektivität konstituiert und sich darin entäußert. In diesen Vollzügen ist das Selbst gerade nicht entfremdet. Löst man die Gattung von ihrer Gestalt als Vollzug eines Selbst und setzt sie absolut, dann verliert das Selbst sich an das absolut Andere, es verliert sein Selbst. Zur gleichen Zeit aber ist das absolut Andere auch nicht mehr das Andere eines Selbst, und so verliert das Selbst nicht nur sich selbst, sondern auch sein je Anderes, es verliert sein Leben in Beziehung. Ob Feuerbach mit seiner Polemik, die immer wieder auch eine real empfundene Intoleranz und Parteilichkeit des Christentums hervorhebt, eine wie auch immer bestimmte christliche Ethik zu treffen in der Lage ist, muss hier da18 19 20 21 22

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 5. WCh 413. Vgl. WCh 432–435. Vgl. auch die Selbstzweckformel bei Kant 1785, AA IV, 429. Vgl. WCh 433.

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hingestellt bleiben. Für unsere Frage war es wichtig, die moralphilosophische Dimension seiner Religionskritik anzudeuten, da diese von Stirner aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Bevor ich aber zu dessen ethischer Konzeption überleite, möchte ich noch einen bereits angesprochenen Aspekt vertiefen, und zwar Feuerbachs Verhältnis zum »Egoismus«. Bei Feuerbach taucht der Begriff affirmativ zuerst 1845 auf, sodass wohl mit Recht ein Einfluss Stirners angenommen wurde. 23 Zugleich spricht einiges dafür, dass Feuerbachs Ethik schon davor ein egoistisches oder eudämonistisches Moment in sich trägt. 24 Um Feuerbachs Verhältnis von Liebe und Egoismus zu erschließen, soll noch einmal seine Replik von 1845 herangezogen sein. Dort bemüht er sich, seine ethische Position gegen Stirners Vorwürfe, die wir noch genauer kennenlernen werden, zu verteidigen. Feuerbach räumt ein, dass die »Liebe«, recht verstanden, ein Moment des Egoismus in sich trägt. Er schreibt: »Jede Liebe ist insofern egoistisch, denn ich kann nicht lieben, was mir widerspricht; ich kann nur lieben, was mich befriedigt, mich glücklich macht [. . . ].« 25 Somit leitet Feuerbach die »Liebe« aus dem Glückseligkeitstrieb des Individuums ab. Umgekehrt aber betont er, dass das Individuum in seinem Glückseligkeitstrieb immer auf den Anderen verwiesen bleibt. Feuerbach schreibt: »Individuum sein heißt allerdings ›Egoist‹ sein, es heißt aber auch zugleich, und zwar nolens volens, Kommunist sein« 26 Mit Blick auf Stirners Emphase des »Egoismus« scheint es, dass Feuerbach sich hier einen großen Schritt weit auf seinen Gegner zubewegt. Dieser Anschein aber täuscht und dies wird deutlich, wenn wir uns an die anthropologischen Grundentscheidungen erinnern, die Feuerbach im Wesen des Christentums trifft. Die Liebe wurde dort bestimmt als ein Vollzug, der Individuum und Gattung vermittelt und insofern die Gattung als Moment des individuellen Selbst begreifbar macht. Genau genommen war es gerade ihre theoretische Funktion, die Verselbstständigung der Gattung dem Individuum gegenüber zu überwinden. Dieser Aspekt tritt zwar in den ethischen Erwägungen in den Schlusskapiteln zurück und tatsächlich wird dort, wie wir gesehen haben, gegen den »Egoismus« des Glaubens polemisiert. Da aber der Gedanke der Vermittlung zwischen Selbst und Anderem dem Liebesbegriff im Wesen des Christentums bereits eingeschrieben ist, 27 erforderte es für Feuerbach nur ein Weniges, den Begriff des »Egoismus«, den Stirner anbot, für seine Liebesethik nutzbar zu machen. 23 24

25 26 27

Vgl. Weckwerth 2002, 111 f. Vgl. Rawidowicz 1964, 344; Pleger 1996, 123–126; vgl. zu der Kontroverse auch Kast 2016a, 281 ff. Feuerbach 1845, 440. Feuerbach 1845, 432. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 3.

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Ich habe diese kurzen Bemerkungen zu Feuerbachs Replik den Ausführungen zu Stirners Ethik vorangestellt, weil ich sie gerade nicht als ein Einlenken gegenüber Stirner verstehe. Sie enthält vielmehr eine Explikation des Standpunktes, den Feuerbach schon im Wesen des Christentums vertreten hat und der Ausgangspunkt für Stirners Kritik geworden ist. Feuerbachs Liebesethik ist von Anfang an eine eudämonistische Ethik, die im Unterschied zur kantschen Ethik das individuelle Streben nach Glückseligkeit einbezieht. 28 Dies erlaubt ihm ab 1845 eine positive Aufnahme des Egoismusbegriffs, in welcher durchaus ein Einfluss Stirners zu erkennen ist. Allerdings vertritt Feuerbach einen dialogischen oder dialektischen Eudämonismus, insofern der individuelle Glückseligkeitstrieb nach Feuerbach ein zweites, ergänzendes Prinzip erfordert. Dieses Prinzip besteht im Anspruch des Anderen, den ich mir in der »Liebe« zu eigen mache, wodurch ich einen anderen Zweck als Teilmoment meiner Zwecke begreife. Dass damit der individuelle Glückseligkeitstrieb nicht nivelliert oder gespalten, sondern erst vervollständigt wird, korrespondiert mit Feuerbachs Anthropologie, der zufolge die Gattung, welche in der Begegnung mit dem Anderen konstituiert wird, als Moment des Selbst begriffen werden kann. Diese praktische Dialektik ist aber genau genommen kein Zweites neben der anthropologischen Dialektik, sondern deren ganzer Sinn. Feuerbachs Gattungsbegriff ist von Anfang an als ein praktischer zu verstehen. Diese Einsicht zeigt, warum Stirners Kritik an Feuerbachs Gattung als intellektualistischer Allgemeinbegriff ins Leere laufen muss. Stirner hat Feuerbach nun aber tatsächlich gut genug gelesen, um die Bedeutung der Praxis für seine Anthropologie nicht zu übersehen. Darum auch führt Stirner den entscheidenden Angriff gegen Feuerbachs »frommen Atheismus« auch folgerichtig auf dem Feld der Ethik. Um diesen entscheidenden Angriff zu verstehen, müssen wir nun Stirners berühmte Konzeption des »Egoismus« in den Blick nehmen. 2. Egoismus »Im Allgemeinen verbindet man Stirners Namen sofort mit dem Egoismus«. So formuliert es Giorgio Penzo 29 und diese nüchterne Einschätzung ist, gerade für die unspezifische Rezeption, das heißt für nicht schwerpunktmäßig mit Stirner befasste Beiträge, sehr treffend. 30 Aber auch in tiefer gehenden Beiträgen zu 28 29 30

Vgl. nochmals Williams 2006, 64. Penzo 2006, 30. So nennt zum Beispiel Dieter Thomä Stirner beiläufig »den größten Egoisten der Philosophiegeschichte«, vgl. Thomä 2018, 554.

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Stirner wurde fast überall in dem positiven Bezug auf den Egoismus eines der eigenständigsten Momente seiner Philosophie gesehen. 31 Manchmal hat dieses Moment Begeisterung, zumeist aber Entsetzen hervorgerufen, verbirgt sich doch dahinter anscheinend die Abweisung jeder normativen Ethik. Wird diese aber preisgegeben, dann droht nach Sicht vieler Kommentatoren der Zerfall jeglicher gelingender Sozialität. 32 Angesichts der wohl bewusst provokativen Wahl des Begriffes ist es wenig überraschend, dass Stirner diesen Vorwurf bereits im Einzigen antizipiert hat 33 und sich bald darauf in den Rezensionen zu seinem Hauptwerk auch tatsächlich mit ihm konfrontiert sah. Wie er glaubt, diesem Vorwurf begegnen zu können, wird weiter unten Gegenstand der Untersuchung sein. In diesem Abschnitt wird es zunächst einmal darum gehen, zu erschließen, was mit der Rede vom »Egoismus« bei Stirner in den Blick kommt und – im Dienst der übergeordneten Fragestellung – in welchem Verhältnis »Egoismus« und »Religion« bei Stirner zueinander stehen. Um mich dieser doppelten Frage zu nähern, möchte ich einen Umweg über die Replik nehmen, in der Stirner 1847 auf die drei vorangegangenen Rezensionen von Ludwig Feuerbach, Moses Heß und Szeliga (ein Pseudonym für Franz Zychlin von Zychlinski) geantwortet hat. 34 In seiner Durchsicht der drei Rezensionen sieht Stirner einen Hauptvorwurf dominant hervortreten, die Empörung über seinen »Egoismus«. Stirner schreibt: Mehr Aergerniss noch als an dem Einzigen nehmen die Recensenten an dem »Egoisten«. Statt auf den Egoismus, wie er von Stirner aufgefasst wird, näher einzugehen, bleiben sie bei ihrer von Kindesbeinen an gewohnten Vorstellung von demselben stehen und rollen sein allem Volke so wohlbekanntes Sündenregister auf. Seht hier den Egoismus, die gräuliche Sünde – den will uns Stirner »empfehlen!« 35

Tatsächlich hatten die Rezensenten, wie es zu erwarten war, den Egoismus in verschiedener Weise aufgegriffen. So empört, wie Stirner es darstellt, hat von den drei Gegnern allerdings nur Heß reagiert. 36 Feuerbach hatte dagegen, wie wir gesehen haben, sogar versucht, den Begriff des Egoismus abwägend zu

31 32 33 34 35 36

Vgl. den Überblick bei Kast 2016a, 215 ff. Vgl. auch ders. 2016b, 374 f. Vgl. für viele Paterson 1971, 252 ff. Vgl. nur EE 148–152; 255 f; 338 f. KS 343 ff, zu den drei vorangegangenen Rezensionen vgl. nochmals Kast 2003. KS 351 »Die Verzweiflung hat heutzutage schon manchen tollen Gedanken zur Welt gebracht. Daß sie aber auch auf den Gedanken verfallen würde, die roheste Form des Egoismus, die Wildheit, jetzt ins Leben einführen zu wollen – wer hätte das sich träumen lassen«, Heß 1845, 25.

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würdigen. 37 Ob Stirner die Angriffe seiner Rezensenten hier richtig wiedergibt, scheint aber für unsere Frage letztlich nicht entscheidend. Wichtiger scheint, was er in diesem Zitat über seine eigene Konzeption zu erkennen gibt. Hierbei möchte ich drei Punkte hervorheben. Erstens scheint Stirner in seiner Antikritik nicht zu bestreiten, dass im »Egoismus« tatsächlich ein Leitbegriff seiner Ethik gegeben ist. Zweitens allerdings geht aus dem Zitat hervor, dass Stirner im Einzigen ein anderes Verständnis des Begriffes entwickelt zu haben glaubt, als es der alltäglichen, »gewohnten Vorstellung« entspricht. Und drittens – darauf weist das in Anführungszeichen gesetzte Wort »empfehlen« hin – scheint Stirner anzudeuten, dass es sich bei der Vorstellung, er »empfehle« den Egoismus, um ein Missverständnis handeln könnte. Ich möchte direkt bei diesem dritten Punkt anknüpfen, denn er führt zu einem fundamentalen Problem in Stirners Egoismus-Konzeption, das auch in der Rezeption immer wieder aufgeworfen wurde: 38 »Empfiehlt« Stirner den Egoismus? Eine Empfehlung kann in einem normativen, man könnte auch sagen: kategorischen Sinne ausgesprochen werden, oder auch in einem nichtnormativen, hypothetischen Sinne. Tatsächlich empfiehlt Stirner den Egoismus weder in dem einen noch in dem anderen Sinn. 39 In seiner Antikritik von 1847 schreibt Stirner wenige Zeilen später Folgendes: Stirner erkühnt sich zu sagen, Feuerbach, Heß, Szeliga seien Egoisten. Er bescheidet sich freilich, hiermit nichts als ein identisches Urtheil auszusprechen indem er sagt, Feuerbach thue platterdings nichts als Feuerbachisches, Heß nichts als Hessisches, Szeliga nichts als Szeligasches. 40

Aus dieser Formulierung wird deutlich, dass Stirner seine Konzeption des Egoismus weder als moralische Forderung noch als Klugheitsregel verstanden wissen will. Jeder Mensch, so Stirner, ist Egoist, und darum lässt sich der Egoismus auch nicht sinnvollerweise »empfehlen«. Wenn die Rede vom Egoismus nach Stirner weder kategorisch noch hypothetisch imperativischen Charakter hat, was ist dann sein Gehalt? John Jenkins glaubt Stirners Rede vom Egoismus als »empirische Hypothese« bestimmen zu können. 41 Dies trifft seinen deskriptiven Charakter, greift aber gleichzeitig zu kurz. Wenn Stirner im eben zitierten Abschnitt von einem »identischen Urteil« spricht, dann scheint er, ohne dies weiter auszuführen, vielmehr eine a-priorische Wahrheit im Blick zu haben. Der Egoismus wäre dann für Stirner 37 38 39 40 41

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 5. Vgl. nur Jenkins 2009; Schäfer 2014; Feiten 2014. Anders Schäfer 2014, 11 ff. KS 354. Vgl. Jenkins 2009, 247.

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in irgendeiner Form notwendig mit der Existenzweise von Personen verknüpft. Diese notwendige Verknüpfung von Personalität und Egoismus benennt Jenkins unbeabsichtigt sehr treffend, wenn er beschreibt, wie Stirners Position seiner Ansicht nach nicht verstanden werden dürfe – nämlich im Sinne einer »Tautologie«, welche sich auf die schlichte Formel bringen lasse: »All motivated actions are motivated.« 42 Wenn diese Formel Stirners Position – gegen Jenkins – tatsächlich angemessen beschreiben sollte, dann drängt sich allerdings die Frage auf, ob Stirners Egoismus nicht Gefahr läuft, eine »Leerformel« ohne jede Bedeutung zu werden. 43 Diese Konsequenz ist aber nicht zwingend. Zwar taugte der Egoismus in diesem Fall nicht mehr als eine Kategorie des ethischen Urteilens, weil man nicht mehr zwischen egoistischen und nicht egoistischen Handlungen unterscheiden könnte. Wohl aber könnte sich ein so verstandener Egoismusbegriff als brauchbare, anthropologische Fundamentalkategorie erweisen. Egoismus würde dann ein Strukturmoment von Subjektivität oder Personalität beschreiben, welches die Existenzweise von Personen bzw. die Interaktionsweise von Personen mit der Welt auszeichnet. In Anlehnung an Jenkins zitierte Formel könnte man sagen, Stirners Egoismus markiert den Unterschied von verursachten Ereignissen und motivierten Handlungen. Um diesen Unterschied, wie Stirner ihn zu denken scheint, genauer zu fassen, mag der Begriff des »Zweckes« helfen, wie Aristoteles ihn am Beginn der Nikomachischen Ethik geformt hat. Menschliches Handeln ist nach der dort präsentierten Konzeption stets auf einen Zweck oder ein »Ziel« (gr. τέλος) ausgerichtet. 44 Im Reich der Ziele wird nun eine Art Hierarchie angenommen, so dass niedere Ziele als abhängig von höheren Zielen erscheinen. Am oberen Ende dieser Hierarchie steht dann ein »Endziel«, das »was immer für sich genommen und niemals um etwas anderen willen gewählt wird«. 45 Dabei ist es Aristoteles ein besonderes Anliegen, zu betonen, dass dieses höchste Ziel einfach sein muss, dass es also nur ein höchstes Ziel und nicht mehrere gleichrangige höchste Ziele geben kann. 46 Dieses eine höchste Ziel kann dann schließlich mit dem identifiziert werden, was wir das »Glück« nennen. 47 Bei Stirner steht nun eine Variante eines solchen teleologischen Eudämonismus im Hintergrund. Auch für ihn erscheint das Handeln von Menschen durchgehend teleologisch bestimmt, ihr Handeln ist stets ein Handeln »um . . . willen«. Allerdings nimmt Stirner gegenüber der aristotelischen Teleologie 42 43 44 45 46 47

Vgl. Jenkins 2009, 247. Vgl. Kellermann 2017, 42. Vgl. auch Jenkins 2009, 247 f. Vgl. EN 1094a. Vgl. EN 1097a. Vgl. ebd. Vgl. ebd. vgl. dazu auch Ackrill 2019.

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eine charakteristische Weiterentwicklung vor. Als höchstes Ziel oder höchster Zweck erscheint nach Stirner nicht ein wie auch immer bestimmbares »Gut« wie das »Glück«, höchstes Ziel bzw. höchster Zweck scheint vielmehr das »Ich« selbst. Ungeachtet aller niederen Zwecke, die ich mir setze und die ich in meinem Handeln verfolge, ist nach Stirner letztlich all mein Handeln ein Handeln »um meinetwillen«. Diese von Stirner häufig in verschiedenen Variationen gebrauchte Formulierung 48 ist der Alltagssprache entnommen und scheint als solche auf den ersten Blick intuitiv verständlich. Auf den zweiten Blick wirft sie aber durchaus Fragen auf. Inwiefern kann »Ich« Zweck einer Handlung sein? Der Zweck oder das »um . . . willen« einer Handlung scheint doch das zu sein, was der Handelnde in seinem Handeln zu verwirklichen erstrebt. Insofern diese Verwirklichung mal erfolgreich ist, mal erfolglos bleibt, ist das »um . . . willen« zugleich dasjenige Moment, was die Rede vom Gelingen oder Scheitern einer Handlung begründet. Meint Stirners Rede vom »um meinetwillen« dann buchstäblich, dass wir unser Ich durch unsere Handlungen herzustellen oder zu konstituieren versuchen? Oder ist die Formulierung »um meinetwillen« nicht in diesem buchstäblichen Sinne gemeint und steht eher als Platzhalter für eine komplexere handlungstheoretische Struktur? Ich möchte diese Fragen noch unbeantwortet lassen, sie weisen voraus auf Stirners Theorie der Person, die im folgenden, sechsten Kapitel noch intensiver bedacht werden soll. 49 An dieser Stelle reicht es aus, festzuhalten, dass und inwiefern Stirner seinen Begriff des Egoismus von der »gewohnten Vorstellung« des Egoismus unterschieden wissen will. Egoismus ist in Stirners Sinne keine Charaktereigenschaft, Lebenseinstellung oder auch ethische Position, die man haben kann oder nicht. Die Rede von einem »egoistischen Menschen« wäre nach Stirner unsinnig oder besser tautologisch. Die Rede vom Egoismus dient bei Stirner nicht zur Beschreibung einer individuellen Charaktereigenschaft, sondern verweist auf eine Theorie der personalen Existenz. Unabhängig davon, ob diese Theorie zutreffend ist, stellt sich dann aber die Frage, ob Stirners Egoismus nicht jede evaluative Rede über menschliche Lebensformen suspendiert. Oder mit anderen Worten gefragt: Hat Stirner eine Ethik? Diese Frage wird in der Forschung häufig und kontrovers diskutiert. Während ein breiter Strang der Rezeption Stirner als moralischen Nihilisten liest, 50 gab es dagegen immer wieder auch Einsprüche. So wendet sich neuerdings David Leopold explizit gegen die nihilistische Deutung und liest Stirners Philosophie des Egoismus als Spielart eines »Perfektionismus der Autono48 49 50

Vgl. EE 295; 297; vgl. auch EE 170: »Ich bin Mir Alles und ich tue Alles Meinethalben.«. S.u. Kapitel VI. Vgl. Paterson 1971, 264; Schröder 2005, 56. Vgl. auch schon Löwith 1933, 132.

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mie«. 51 Der damit benannte Gegensatz lässt sich allerdings entschärfen, wenn man zwischen einem normativen und einem eudämonistischen Verständnis von Ethik unterscheidet. Im normativen Sinne hat Stirner keine Ethik, da er keine äußeren Maßstäbe an das menschliche Handeln anzulegen bereit ist. Allerdings kann er in einem eudämonistischen Sinne durchaus fragen, was einem gelingenden Leben dienstbar ist und was nicht. Stirner selbst bringt den Unterschied der zwei Perspektiven auf eine griffige Formel, wenn er schreibt: Zu einer Sache, die Ich eigennützig betreibe, habe Ich ein anderes Verhältnis als zu einer, welcher Ich uneigennützig diene. Man könnte folgendes Erkennungszeichen dafür anführen: gegen jene kann Ich Mich versündigen oder eine Sünde begehen, die andere nur verscherzen, von Mir stoßen, Mich darum bringen, d. h. eine Unklugheit begehen. 52

Damit ist die eudämonistische Stoßrichtung der Ethik Stirners benannt. Stirners ethische Frage ist die Frage nach einem gelingenden Leben im Sinne einer Verwirklichung der jedem Menschen gegebenen egoistischen »Sache«, des egoistischen Zweckes. Diesen kann ich verfehlen, und genau dies zu vermeiden kann die Aufgabe einer ethischen Reflexion sein. Nun haben wir bereits gesehen, dass auch in diesem schwachen, hypothetischen Sinne der Egoismus bei Stirner nicht Gegenstand eines ethischen Imperativs ist, sondern eine universelle anthropologische Tatsache und handlungstheoretische Fundamentalkategorie darzustellen scheint. Wenn der Egoismus universell und unveränderlich ist, so gibt es aber durchaus unterschiedliche Möglichkeiten, sich mit dem Egoismus ins Benehmen zu setzen, und diese haben durchaus eine ethische Relevanz. So richtet sich Stirner in einer Stelle im Einzigen mit folgenden Worten an seine Leser: »[W]erdet Egoisten! [. . . ] Oder deutlicher: Erkennt Euch nur wieder, erkennt nur, was Ihr wirklich seid, und lasst eure heuchlerische Bestrebung fahren, eure törichte Sucht, etwas Anderes zu sein, als ihr seid!« 53 Im ersten Satz der zitierten Passage scheint Stirner das zu tun, was er später abgewiesen hat, er scheint den Egoismus zu »empfehlen«. Allerdings korrigiert er sich sofort selbst und formuliert seinen Imperativ so um, wie es dem von ihm an anderer Stelle präzisierten Verständnis des Egoismus entspricht. Wenn er fordert, seine Leser sollten die Bestrebung fallen lassen, etwas anderes zu sein, als sie sind, – d. h. etwas anderes zu sein als Egoisten –, dann versteht Stirner den Egoismus auch hier als eine universelle anthropologische Tatsache. Diese Tatsache kann aber nun offenbar vergessen 51

52 53

Vgl. Leopold 2019. Zum Widerspruch gegen die »nihilistische« Lesart vgl. auch Ferguson 1982, 284 f, Kast 2016b, 380 ff. EE 178. EE 172.

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bzw. verleugnet werden. Somit ist der Egoismus nach Stirner zwar universell, das Bewusstsein des Egoismus aber keinesfalls. Oder in hegelsche Terminologie übersetzt: Jeder Mensch ist »an sich« Egoist, aber nicht notwendigerweise »für sich«. Die Möglichkeit eines unbewussten oder, wie Stirner auch schreibt, eines »uneingestandenen Egoismus« 54 führt uns zu der Frage, welche im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen soll, zu der Frage nach dem Verhältnis von Egoismus und Religion. Es wird sich zeigen, dass die Verhältnisbestimmung von Religion und Egoismus zwei Seiten bzw. zwei Momente aufweist. Auf der einen Seite bestimmt Stirner die Religion als eine Ausdrucksform oder Manifestation des menschlichen Egoismus. Dieses Urteil verwundert kaum, ergibt es sich doch offenbar zwangsläufig aus Stirners universellem Begriff des Egoismus. Allerdings hat die Ableitung der Religion aus dem Egoismus eine besondere Pointe, denn nach Stirner weigert sich das religiöse Bewusstsein in besonderem Maße, sich seinen Egoismus einzugestehen. Dies führt dann auch zur zweiten Seite des Verhältnisses von Religion und Egoismus: In der Religion tritt uns ein spezifisches Verhalten des Menschen zu seinem Egoismus entgegen, und dieses spezifische Verhalten besteht eben in dem vergeblichen Versuch, den Egoismus zu überwinden. Bevor wir uns diesen vergeblichen Versuch näher ansehen wollen, gilt es zunächst noch einmal auf das erste Moment zurückzukommen, auf die Erklärung der Religion durch den Egoismus. Um dieses Moment zu verstehen, lohnt ein kurzer Blick auf den diskursiven Kontext. Das Motiv der egoistischen Natur der Religion, gerade der christlichen Religion, war in der junghegelianischen Debatte sehr verbreitet, ja beinahe ein Gemeinplatz. Prominent greift Bruno Bauer dieses Motiv in seiner Kampfschrift Das entdeckte Christentum von 1843 auf, wenn er schreibt, im Christentum »isoliere« sich der Einzelne und verhalte sich »egoistisch«, insofern er nur mit sich und mit seinem Seelenheil beschäftigt sei. 55 Eben dieser populäre Vorwurf war auch bereits 1841 in Feuerbachs Gegenüberstellung von »Glaube« und »Liebe« im Wesen des Christentums eingegangen. 56 Wie wir gesehen haben, kommt es bei Feuerbach allerdings trotz seiner Polemik gegen den »Egoismus« des Glaubens zugleich zu einer partiellen Aufwertung des Eudämonismus, die sich in der dialektischen Vermittlung von »Individuum« und »Gattung« vollzieht. Diese Aufwertung des Eudämonismus gewinnt in Feuerbachs Hauptwerk auch eine hermeneutische Funktion. An einer zentralen Stelle erklärt Feuerbach, es komme darauf 54 55

56

Vgl. EE 172 f. Vgl. Bauer 1843, 134 f. Zu diesem Motiv bei Bauer und seiner Ausstrahlung auf die junghegelianische Debatte vgl. McLellan 1974, 90 ff, De Ridder 2011, 147 ff. S.o. Abschnitt 1.

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an, die Religion nicht als »Gotteslehre«, sondern als »Heilslehre« zu betrachten. 57 Die Tatsache, dass die christliche Religion letztlich das Glück bzw. das gelingende Leben des Menschen im Blick hat, dass sie an den »Glücklichkeitstrieb« des Menschen »appelliert«, 58 wird nun bei Feuerbach nicht einfach gegen die Religion gewendet, sondern wird Ansatzpunkt und Ausgangspunkt für seine atheistische Rekonstruktion des Christentums. Ähnlich wie in Hegels »unglücklichem Bewusstsein« besteht seine Strategie darin, die Sehnsucht des religiösen Bewusstseins als das gegenüber der Gotteslehre primäre zu bestimmen und dann die Erfüllung dieser Sehnsucht als von der Gotteslehre unabhängig, in der »Gattung« gegeben zu analysieren. 59 Ebenso wie Feuerbach macht nun Stirner das Heilsversprechen und den damit verbundenen Egoismus der Religion zum Ausgangspunkt seiner Argumentation. Stirner schreibt: Würde Euch's jemals klar, dass Euch der Gott, die Gebote usw. nur schaden, dass sie Euch verkürzen und verderben: gewiss, Ihr würfet sie von Euch, gerade wie die Christen einst den Apollo oder die Minerva oder die heidnische Moral verdammten. Sie stellten freilich Christus und hernach die Maria, sowie eine christliche Moral an die Stelle; aber sie taten das auch um ihres Seelenheils willen, also aus Egoismus oder Eigenheit. 60

In dieser Passage argumentiert Stirner ausgehend von der einfachen Beobachtung, dass keine religiöse Lehre bekannt oder auch nur vorstellbar ist, die nicht in irgendeiner Form auf das Streben des Menschen nach Glück bzw. nach einem gelingenden Leben antwortet. Niemand, der eine Religion praktiziert, würde konsistenterweise annehmen können, dass sie ihm schadet. Darin ist die Religion nach Stirner, wie jeder menschliche Vollzug, eine Erscheinung des universellen Egoismus. Wenn sich religiöse Lebensformen also in ihrem Egoismus nicht von anderen Lebensformen unterscheiden, so haben sie nach Stirner dennoch ein besonderes Verhältnis zum Egoismus. Und dieses besondere Verhältnis besteht nach Stirner eben in der oben skizzierten Figur des unbewussten Egoismus. Der religiöse Mensch, so Stirner, ist Egoist, aber will es nicht sein. Er ist, in Stirners Worten, »unfreiwilliger Egoist«. 61 Diese These steht scheinbar im Widerspruch zu der Beobachtung, dass jede Religion mit dem Streben des Menschen nach Glück verbunden ist. Dieser Widerspruch ist allerdings keine bloße Inkonsistenz der Analyse, sondern ist nach 57 58 59 60 61

Vgl. WCh 317. Vgl. WCh 318. Vgl. auch Dierken 2020, 153 ff. EE 170. Vgl. EE 47.

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Stirner der Religion selbst eingeschrieben. Dies zeigt Stirner anhand der Figur der »Selbstverleugnung«, welche der Religion ihm zufolge charakteristisch ist. Stirner schreibt: Ungemein viel glauben diejenigen zu sagen, welche den Menschen »Uneigennützigkeit« ans Herz legen. Was verstehen sie darunter? Wohl etwas Ähnliches als unter »Selbstverleugnung«. Wer aber ist dieses Selbst, das verleugnet werden und keinen Nutzen haben soll? Du scheinst es selber sein zu sollen. Und zu wessen Nutzen empfiehlt man Dir die uneigennützige Selbstverleugnung? Wiederum Dir zu Nutzen und Frommen, nur dass Du durch Uneigennützigkeit Deinen »wahren Nutzen« Dir verschaffst. Dir sollst Du nutzen, und doch sollst Du Deinen Nutzen nicht suchen. 62

Die Figur der »Selbstverleugnung« verspricht dem Menschen einen »wahren Nutzen« und fordert zugleich von ihm, »seinen Nutzen« nicht zu suchen. Diese Forderung könnte zunächst im Sinne einer einfachen Güterabwägung verstanden werden. Demnach würde man einen »Nutzen«, ein Gut, einem anderen, größeren Gut unterordnen. Der »wahre Nutzen« der Religion wäre dann ein hohes Gut, dem man andere Güter unterordnen würde. Eine solche instrumentelle Abwägung von Gütern scheint Stirner aber in seiner Analyse der religiösen Lebensform nicht im Blick zu haben. Vielmehr fordert die Religion, das Prinzip aufzugeben, aufgrund dessen wir gewöhnlich Güter gegeneinander abwägen, nämlich das Prinzip des Eigennutzes. Aufgrund der Universalität dieses Prinzips aber muss die Religion letztlich doch wieder an den Eigennutz appellieren und gelangt so zu einem paradoxen Imperativ: »Dir sollst Du nutzen, und doch sollst Du Deinen Nutzen nicht suchen.« 63 Die Charakterisierung der religiösen Ethik über diesen paradoxen Imperativ hat für Stirners Religionskritik eine große Bedeutung. In der Religion scheint der religiöse Mensch einen eigennützigen Zweck zu verfolgen, insofern er sein Heil sucht, dieser Zweck scheint aber nicht nur die Unterordnung aller anderen einzelnen Zwecke zu verlangen, sondern die Aufgabe der Eigennützigkeit des Handelns überhaupt. Deutlich scheint zu sein, dass Stirner diese Konzeption als absurd abweist. Dennoch muss die Frage gestellt werden, ob hier überhaupt eine konsistente, denkmögliche ethische Position angegriffen wird oder eine reine Chimäre. Was könnte sich konsistenterweise hinter der Rede vom »wahren Nutzen« verbergen, gegen die Stirner anschreibt? Eine mögliche Antwort scheint zu sein, dass Stirner hier eine Position in den Blick nimmt, die in der Fluchtlinie dessen liegt, was wir in der Analyse von Feuerbachs ethischer Position als einen dialektischen Eudämonismus beschrieben haben. Eine 62 63

EE 70. Ebd.

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solche Position ginge davon aus, dass zwar alles menschliche Handeln als ein Streben nach Glück verstanden werden kann, der Struktur des Glücks allerdings ein Moment der Negativität inhärent ist. Das Glück käme somit erst zu sich selbst, indem es sich zuerst selbst verneint, um dann diese Verneinung als Moment des Glücks zu erkennen. Somit müsste der Mensch aus egoistischem Streben nach Glück eben dieses Glück verneinen, um es zu erlangen. Würde sich diese Annahme allerdings als trügerisch erweisen, so wäre dies die fundamentalste Form eines eudämonistischen Irrtums, der den Menschen allem beraubt, was er hat, und mit nichts dafür entschädigt. Eben diesen Verdacht formuliert Stirner und vertritt so einen nicht-dialektischen, monistischen Eudämonismus. Nach dieser Position kann das, was Glück zu heißen verdient, durch ein Prinzip bestimmt werden, welches einfach ist, insofern es kein zweites neben sich duldet und zudem einförmig ist, da es kein Moment der Selbstnegation in sich trägt. Fragt man nach dem Inhalt dieses einen Prinzips, so scheint sich bereits anzudeuten, dass es eng mit einer Figur des Selbstseins oder der personalen Existenz verbunden ist, worauf die häufig wiederkehrende Formulierung von einem Handeln »um meinetwillen« hinweist. Wir haben das Verhältnis von Religion und Egoismus, wie Stirner es bestimmt, in ersten Ansätzen kennengelernt. Auch ein religiöser Mensch ist ein Egoist, allerdings ein Egoist, der keiner sein möchte, der seinen eigenen Egoismus zu überwinden versucht. Dieser religiösen »Selbstverleugnung« liegt das paradoxe Versprechen zugrunde, durch die Negation des »Eigennutzes« ein »Heil« oder einen »wahren Nutzen« zu erlangen. Stirner nun scheint dieses religiöse Heilsversprechen als eine verheerende Denkweise zu betrachten. Die Konzeption eines »wahren Nutzens«, den ich nicht als meinen Nutzen erstreben darf, erscheint ihm nicht nur als blanker Selbstwiderspruch, sondern als zutiefst lebensfeindlich. Die Frage, ob er das wirklich ist, können wir an dieser Stelle nicht weiterverfolgen, sie wird noch einmal aufgerufen werden, wenn wir im siebten Kapitel die eudämonistische Position Stirners genauer in den Blick nehmen. 64 An dieser Stelle gilt es nun, die Verbindung der religiösen Selbstverleugnung mit Vollzügen der Intersubjektivität zu untersuchen und dabei auf den Begriff zurückzukommen, der schon bei Feuerbach eine zentrale Rolle gespielt hat und der bei Stirner zum Inbegriff der religiösen, uneigennützigen Ethik werden soll, zu dem Begriff der »Liebe«.

64

S.u. Kapitel VII, Abschnitt 3.

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3. Liebe und Religion Feuerbachs atheistische Rekonstruktion der Religion im Wesen des Christentums baut auf zwei fundamentale Begriffe auf, auf dem Begriff der »Gattung« und dem Begriff der »Liebe«. Dabei tritt zwar letzterer rein quantitativ etwas zurück, dennoch ist der Liebesbegriff ein Eckstein in Feuerbachs Konzeption, da von ihm her der Gattungsbegriff interpretiert und bestimmt werden kann. 65 Dies hat Stirner wahrgenommen und darum ist, wie ich nun zeigen werde, die oben herausgestellte sprachphilosophische Polemik gegen Feuerbachs Gattungsbegriff auch nur ein erster Einstieg in seine Auseinandersetzung mit seinem Vorgänger. Der Brennpunkt dieser Auseinandersetzung liegt anderswo, und zwar in Stirners Kritik an Feuerbachs Liebesethik. Diese ethische bzw. praktische Dimension der Feuerbachkritik Stirners wird unterbestimmt, wenn in der Rezeption bisweilen die sprachphilosophische Linie stark in den Vordergrund gerückt wird, 66 die, wie wir gesehenen haben, Feuerbach auch nur wenig gerecht wird. Es gilt also nun, Stirners Auseinandersetzung mit Feuerbachs Liebesbegriff zu verstehen und sie mit seiner eigenen ethischen Konzeption ins Verhältnis zu setzen. Bevor dies anhand des Einzigen geschehen soll, lohnt ein Blick in einen frühen Text Stirners, in dem er zwar nicht explizit auf Feuerbach eingeht, aber bereits die Bedeutung der Liebe als Leitbegriff der Ethik kritisch kommentiert. Dieser Text ist der Aufsatz Einiges Vorläufige vom Liebesstaat, der vor 1843 verfasst wurde, aber erst 1844 in der Berliner Monatsschrift erschienen ist. 67 Das polemische Anliegen dieser Schrift ist eine rückblickende Kritik des Liberalismus der vorrestauratorischen, preußischen Regierung, wie Stirner ihn in einem »Sendschreiben« des Ministers Freiherr vom und zum Stein vorgefunden hat. 68 Stirners Pointe besteht darin, zu argumentieren, die Protagonisten der späteren »Reactionsperiode« hätten nicht etwa mit ihren liberalen Vorläufern gebrochen, sondern seien als deren treue Erben zu verstehen. 69 Für unsere Frage interessant ist Stirners Kommentierung der Verhältnisbestimmung von »Freiheit« und »Liebe«. Gegen den bei Stein wahrgenommenen Versuch, die Freiheit als »moralische Freiheit« an die Liebe zu binden bzw. sie durch die Liebe positiv zu bestimmen, betont Stirner ihren Gegensatz. Die Liebe sei vielmehr eine »Feindin der revolutionären Freiheit« 70.

65 66 67 68 69 70

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 3. Vgl. Gordon 1978; Andolfi 2008. KS 269 ff. Vgl. auch Kast 2016a, 95–98. Gemeint ist das sog. Nassauer Memorandum aus dem Jahre 1807, vgl. Arvon 2012 45 f. Vgl. KS 279. KS 274.

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Liebe und Religion

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Die Stoßrichtung dieser These scheint zunächst eine politische. In der sich anschließenden Argumentation führt uns Stirner allerdings bald von der politischen Ebene auf die Ebene der Nahbeziehungen. In der Liebe, so argumentiert Stirner, sei der Mensch gerade nicht frei, sondern lasse sich von einem »Anderen« bestimmen, das er liebt. Stirner bringt diesen Gegensatz von Liebe und Freiheit auf folgende Formel: »Die Liebe lebt von dem Grundsatze, dass Jeder, was er tut, um des Andern willen thue, die Freiheit von dem [Grundsatze], dass er es umseinetwillen thue [. . . ].« 71 Somit sei die Liebe die »letzte und schönste Unterdrückung seiner selbst, die glorreichste Weise der Selbstvernichtung und Aufopferung« 72. In der zuletzt zitierten Formulierung wird bereits deutlich, dass Stirners Argumentation im Gegensatz von Liebe und Freiheit nicht ihren Endpunkt erreicht hat, sondern darüber hinausstrebt: Nicht nur die Freiheit wird in der Liebe nivelliert, sondern unser »Selbst«. Mit der Rede von der »Aufopferung« bzw. vom Opfer wählt Stirner zudem eine religiöse Semantik und weist damit auf einen weiteren wichtigen Aspekt seines Liebesbegriffes hin, auf die Beziehung von Liebe und christlicher Religion. Dieses Moment ist in seinem Aufsatz über den Liebesstaat noch kein tragender Baustein der Argumentation, aber bereits deutlich präsent. »Wie ohne Widerspruch zugegeben zu werden pflegt«, schreibt Stirner, »ist das Christentum seinem innersten Wesen nach die Religion der Liebe« 73. Diesen Zusammenhang von Liebe und christlicher Religion veranschaulicht Stirner nun mit einem Zitat aus einem Gedicht von Goethe, aus der Braut von Korinth. Stirner schreibt: Die Braut von Corinth spricht jene grausenvolle Worte aus, mit denen das entsetzliche Verbrechen der Liebe gegen die Freiheit enthüllt wird: »Opfer fallen hier[,] / Weder Mensch noch Stier, / Aber Menschenopfer unerhört!« 74

Zum besseren Verständnis dieser Verse sei kurz der Kontext aufgerufen, aus dem sie entnommen sind. In der Braut von Korinth 75 ersteht eine wenige Zeit zuvor verstorbene junge Frau des Nachts als Vampir aus ihrem Grab auf und tritt in das Zimmer ihres vormaligen Verlobten, der als Gast im Haus ihrer Eltern weilt. Der junge Mann scheint von dem Tod seiner Verlobten bis zu diesem Moment nicht in Kenntnis zu sein. Die Tote erklärt ihm im Folgenden, dass ihre Mutter, die mit der ganzen Familie inzwischen von der alten Religion zum Christentum übergetreten ist, aufgrund einer glücklich überwundenen 71 72 73 74 75

KS 275. KS 276. KS 273. KS 277. Vgl. Goethe 1797, 866–871.

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Krankheit beschlossen hat, »Jugend und Natur« dem »Himmel untertan« zu machen. 76 Aus dem weiteren Verlauf des Gedichtes erschließt sich die Bedeutung dieser Worte. Die Mutter der jungen Frau hat ihrer Tochter die schon in Aussicht gestellte Eheschließung verwehrt und sie für eine monastische Lebensform bestimmt. Diesen Gewaltakt kommentiert die »Braut von Korinth« mit einer Abrechnung der neuen Religion: Und der alten Götter bunt Gewimmel / Hat sogleich das stille Haus geleert, / Unsichtbar wird einer nur im Himmel, / Und ein Heiland wird am Kreutz verehrt, / Opfer fallen hier, / Weder Lamm noch Stier, / Aber Menschenopfer unerhört. 77

Mit diesen Worten scheint die junge Frau offensichtlich sich selbst als »Menschenopfer« für den neuen, unsichtbaren Gott zu deuten. 78 Offen bleibt dabei, ob sie bereits die ihr aufgezwungene Lebensform und den damit verbundenen Entzug der sinnlichen Liebe als »Opferung« empfindet oder ob sie sogar ihren physischen Tod als Folge dieser Behandlung verstanden wissen will. Goethe schreibt mit der Braut von Korinth zunächst eine rührselige Schauergeschichte, webt aber zugleich eine scharfe Kritik der christlichen Religion ein. Diese Kritik ist keine primär erkenntnistheoretische, sondern eine praktische bzw. moralische Religionskritik. Sie greift das im frühen Christentum verbreitete Ideal der sexuellen Enthaltsamkeit auf und leitet daraus den umfassenderen Vorwurf der Sinnesfeindlichkeit ab. 79 Dieses Motiv ist spätestens seit der Religionskritik der französischen Aufklärung sehr populär 80 und hat auch in den Bemerkungen zum christlichen Mönchtum im Wesen des Christentums deutliche Spuren hinterlassen. 81 Im Mönchtum wird nach Feuerbach die geschlechtliche Liebe der Gottesbeziehung aufgeopfert – eine Pointe, die sich leicht an seine Ausführung zum Widerspruch von Glaube und Liebe anschließen ließe. Interessant ist nun die charakteristische Wendung, die Stirner in seiner Anknüpfung an Goethe diesem Motiv gibt. Während bei Goethe, und – trotz seines streckenweisen Schwankens in seiner Verhältnisbestimmung von Liebe und christlicher Religion – letztlich auch bei Feuerbach, die Liebe durch das Christentum abgewertet wird, so erscheint bei Stirner die Liebe als Inbegriff der christlichen, lebensfeindlichen Ethik. Stirner gibt dem »Menschenopfer« 76 77 78 79

80 81

Vgl. Goethe 1797, 867. Ebd. Vgl. Rahe 1999, 150 f. Zur Intertextualität der Ballade mit dem Ersten Korintherbrief und dessen Sexualethik vgl. ebd., 145 ff. Vgl. ebd. 130 ff. Vgl. WCh 279 ff.

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Liebe und Religion

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Goethes damit eine völlig neue Bedeutung: Das unerhörte Menschenopfer der christlichen Religion ist nicht mehr ein Opfer der Liebe im Namen des Glaubens, sondern ein Opfer des Selbst im Namen der Liebe. Ich möchte den kurzen Exkurs zum Liebesstaat an dieser Stelle verlassen. Festhalten möchte ich zwei Momente des dort vorgestellten Liebesbegriffes. Zum einen bestimmt Stirner die Liebe als eine Forderung, die der Struktur einer personalen Existenz und damit einem gelingenden Leben entgegenzustehen scheint. Diesen Kontrast spitzt Stirner so weit zu, dass er die Liebe als Verneinung oder »Vernichtung« des Ichs und damit des einzig möglichen Akteurs eines guten Lebens darstellt. Zum anderen verortet Stirner die Liebe in einer christlichen Ethik bzw. schreibt dem Phänomen der Liebe ein religiöses Strukturmoment zu. Beide Momente kommen zusammen in dem Motiv des Opfers. Das Opfer als die Verneinung des Selbst um willen eines Gegenübers wird zu einem Grundmoment einer religiösen Ethik, unabhängig davon, ob dabei an ein göttliches oder an ein menschliches Gegenüber zu denken ist. Die im Aufsatz über den Liebesstaat formulierte Gleichsetzung von Liebesethik und »religiöser« Ethik sowie die Bestimmung dieser Ethik über das Motiv des Opfers greift Stirner im Einzigen wieder auf. Die wichtigste theoretische Weiterentwicklung gegenüber dem früheren Text ist, dass er nun den neu geprägten Begriff des Egoismus mit in seine Konzeption einbezieht. Dabei kann das Wesen des »Egoisten« – womit bei Stirner an vielen Stellen in verkürzter Redeweise der bewusste, selbsteingestandene Egoist gemeint ist 82 – geradezu über dessen Verweigerung von Vollzügen des »Opfers« und des »Opferns« definiert werden. 83 Wenn es also zunächst scheint, dass diese Vollzüge mit einem eingestandenen Egoismus schlechthin unvereinbar sind, bemüht sich Stirner in einer eindrücklichen Passage um eine differenziertere Verhältnisbestimmung. Stirner antizipiert hier den möglichen Vorwurf, ein Egoist, der nicht in der Lage sei zu »opfern«, sei zu keiner gelingenden Nahbeziehung fähig, insofern Strukturen des »Opferns« als ein Verzicht auf Güter zum Wohl eines Anderen für diese Nahbeziehungen konstitutiv sind. Dies führt Stirner zu einer Differenzierung seiner Polemik gegen das »Opfer«. Stirner schreibt: Soll Ich etwa an der Person des andern keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir nicht am Herzen liegen, soll der Genuss, den Ich ihm bereite, Mir nicht über andere eigene Genüsse gehen? Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern, Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung seiner Lust versagen, und was Mir ohne ihn das Teuerste wäre, das 82 83

S.o. Abschnitt 2. Vgl. EE 40.

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kann Ich für ihn in die Schanze schlagen, mein Leben, meine Wohlfahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Lust und mein Glück aus, Mich an seinem Glücke und seiner Lust zu laben. Aber Mich, Mich selbst opfere Ich ihm nicht, sondern bleibe Egoist und – genieße ihn. 84

Stirner greift hier den Begriff des »Opfers« auf und nimmt eine charakteristische Unterscheidung vor. Zum einen kann ein Vollzug des Opfers darin bestehen, Güter gegeneinander abzuwägen und dabei ein Gut dem anderen, höheren zu opfern. Ein Opfer in diesem Sinne liegt durchaus im Horizont des eingestandenen Egoismus, insofern es nichts anderes als eine egoistische Klugheitsentscheidung zu sein scheint. Daneben scheint es aber auch einen anderen Sinn des Opfers zu geben und in diesem zweiten Sinn ist das Opfer als ein Selbstopfer zu verstehen. Nicht ein einzelnes Gut wird hier für ein anderes einzelnes Gut geopfert, sondern das Selbst, das nach Stirner den Platz des aristotelischen höchsten Gutes einnimmt. An diese Stelle tritt im Selbstopfer ein Anderes, das nun statt des Selbst höchstes Gut sein soll. Wie schon im Liebesstaat assoziiert Stirner nun auch im Einzigen diese Form des Selbstopfers mit einer Ethik der Liebe. »[D]ie Liebe«, so schreibt Stirner »kennt nur Opfer und fordert ›Aufopferung‹« 85. Damit tritt sie dem eingestandenen Egoismus in dem von Stirner bestimmten Sinne entgegen. Das »Gesetz der Liebe« fordere von jedem Menschen, dass er etwas haben müsse, »das ihm über sich geht« 86. Es fordere also eine Preisgabe des Selbst als höchstem Gut. Diese Forderung ist nun nach Stirner nicht nur historisch zufällig mit dem Christentum verbunden, sondern fällt vielmehr mit dem zusammen, was Stirner als das Wesen einer »religiösen« Ethik auszumachen glaubt, mit dem Motiv der »Selbstverleugnung«. 87 Insofern ist die Liebe für Stirner eine im strengen Sinne »religiöse Forderung«. 88 Die Beurteilung des religiösen Charakters der Liebesethik ist bei Stirner wohl durchgehend mit einer Stoßrichtung gegen Feuerbach zu lesen. In einer kurzen, aber aufschlussreichen Passage greift Stirner dann Feuerbachs Liebesethik direkt an und diese Passage lohnt daher einen besonderen Blick. Wie man vermuten kann, unterstellt Stirner hier, dass Feuerbach durch die Liebe ein »religiöses« Element in seine Ethik integriert. Dazu ruft Stirner zunächst Feuerbachs Gegenüberstellung von Glaube und Liebe auf und fasst dessen Ansatz mit der oben bereits zitierten Formulierung zusammen, Feuerbach »vernichte« den Glauben, um dann »in die vermeintlich sichere Bucht der Liebe einzulau84 85 86 87 88

EE 293 f. EE 262. Vgl. EE 290. Vgl. nochmals EE 70. Vgl. EE 290 f.

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fen«. 89 Auch wenn Feuerbach sich über diese Charakterisierung seiner Position in seiner Replik auf Stirner nicht zufrieden zeigt, 90 muss man wohl anerkennen, dass Feuerbachs Position hier in der Sache treffend wiedergegeben ist. Im Folgenden schließt Stirner dann an seine Polemik gegen Feuerbach als »frommem Atheisten« an und versucht zu zeigen, dass Feuerbachs Liebesethik ein religiöses Moment eigen ist. Stirner bekräftigt sein vorangegangenes Urteil: »Es ist eben nur eine neue – Religion.« 91 Um dieses Urteil zu begründen, hätte Stirner nun leicht seine mit dem Opfermotiv verbundene Figur der religiösen »Selbstverleugnung« aufgreifen können, der zufolge die Liebe als eine Negation des dem Selbst eigenen Zweckes und darum eine das Selbst praktisch negierende Struktur darstellt. Tatsächlich aber geht Stirner hier einen anderen Weg und dieser Weg verweist uns auf einen bisher übergangenen Aspekt in Stirners Ethik. Anstatt Feuerbach schlicht die Unterminierung des Eudämonismus vorzuwerfen, folgt Stirners Argumentation in der benannten Passage seinem Gegner auf das Feld der gelingenden Intersubjektivität. Dazu greift Stirner auf Feuerbachs oben skizzierte Argumentation aus den beiden abschließenden Kapiteln aus dem Wesen des Christentums zurück. Dort hatte Feuerbach den Glauben als ein indirektes und darum uneigentliches Verhältnis des Menschen zum anderen Menschen bestimmt. 92 Der Glaubende handle in der Begegnung mit dem anderen nicht – wie die Liebe – »um des Menschen willen«, sondern »um Gottes willen«. An dieser Stelle setzt Stirner ein und bringt einen in gewisser Hinsicht naheliegenden Einwand. Wenn es problematisch ist, in Begegnungen mit dem je Anderen etwas um Gottes willen zu tun, ist es dann nicht ebenso problematisch, etwas um des Menschen willen zu tun? Gerät nicht in beiden Fällen der Andere als je Einzelner aus dem Blick? Stirner zitiert Feuerbachs Kritik der religiösen Liebe als indirekte Liebe und antwortet hierauf folgendermaßen: Ist dies anders mit der sittlichen Liebe? Liebt sie den Menschen, diesen Menschen um dieses Menschen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um des Menschen willen, also – denn homo homini Deus – um Gottes willen? 93

Stirner wendet Feuerbachs Argument gegen diesen selbst. Feuerbach hatte darauf hingewiesen, dass die Intersubjektivität zu scheitern droht, wenn sie nicht Selbstzweck ist, sondern einem äußeren, religiösen Zweck untergeordnet wird. Stirner fragt nun an, ob nicht auch Feuerbach die Intersubjektivi89 90 91 92 93

EE 68. Vgl. Feuerbach 1845, 439. EE 68. S.o. Abschnitt 1. EE 69.

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tät einem äußeren Zweck unterordnet, wenn er sie als ein Handeln um des Menschen willen bestimmt. Zwar müsste man an dieser Stelle daran erinnern, dass der Mensch nach Feuerbach keine substanzielle Entität, sondern der Vollzug der Intersubjektivität selbst ist. 94 Aber dennoch könnte der Einwand treffend sein. Denn Stirners Argument ist nicht primär ontologisch, sondern ethisch motiviert. Zwar scheint die Bestimmung der Gattung als Vollzug ontologisch hinreichend sparsam, aber an der ethischen Problematik, auf die Stirner hinweist, würde dies nichts ändern, denn auch, wenn wir einen Vollzug als Zweck der Begegnung mit dem je Anderen setzen, könnte dies die Begegnung scheitern lassen: Wenn wir in Beziehung sind, um in Beziehung zu sein, dann scheint dabei tatsächlich der je Andere zu einem bloßen Mittel herabzusinken. Das Argument, das Stirner hier vorbringt, scheint nicht ohne Überzeugungskraft zu sein. Was dagegen wohl zunächst etwas verwundert, ist, dass ausgerechnet Stirner es vorbringt. War es nicht Stirner, der den universellen Egoismus als ein Handeln »um meinetwillen« bestimmt hat? Und haben wir nicht in seiner Kritik an der Opferfigur noch einmal gesehen, welchen Stellenwert die Annahme vom eigenen Selbst als höchstem Gut oder höchstem Ziel für Stirners Ethik besitzt? Wie passt die nun eingespielte Forderung eines Handelns »um dieses Menschen willen« zu Stirners an andren Orten entfalteten handlungstheoretischen Konzeption? Tatsächlich scheint die Formulierung, die Stirner hier wählt, letztlich nicht in Stirners Konzeption integrierbar. Ein Handeln um dieses (anderen) Menschen willen in dem strengen Sinne, dass der je Andere mir Zweck an sich selbst wird, kann es nach Stirner nicht geben. Wenn aber Stirner den je anderen von seiner Konzeption her gerade nicht als Selbstzweck denken kann, dann scheint sich das Argument, dass er bringt, gegen ihn selbst zu wenden. Wenn eine Beziehung scheitert, wenn ich die Beziehung eingehe, um in Beziehung zu sein, scheitert sie dann nicht auch, wenn ich sie um meinetwillen eingehe? Wird nicht in beiden Fällen der je Andere zu einem bloßen Mittel herabgesetzt? Diese Frage verweist auf einen spannenden Widerspruch in Stirners Denken. Einerseits kann Stirner den je anderen Menschen, anders als es sein oben zitierter Einwand gegen Feuerbach denken lässt, konsistenterweise nicht als Selbstzweck ansehen. Andererseits scheint sein Eintreten für diesen Menschen gegen die Verzweckung durch den Menschen zu zeigen, dass er sehr wohl an gelingenden zwischenmenschlichen Beziehungen interessiert ist. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? Einen Hinweis für eine Antwort hat bereits die oben zitierte, längere Passage über die zwei Gestalten des »Opfers« gegeben. Dort war es erkennbar Stirners Anliegen, die Preisgabe des eignen Selbst als 94

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 5.

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höchsten (und einzigen) Zweck abzuwehren, dabei aber zugleich die Möglichkeit einer »lebendigen Teilnahme« am Anderen theoretisch abzusichern. Dies, gemeinsam mit der überraschend »altruistischen« Argumentation gegen Feuerbach, verweist uns auf das theoretische Anliegen Stirners, zu zeigen, dass der eingestandene Egoismus gelingende – und das heißt: beidseitig als gelingend erlebte Nahbeziehungen – nicht ausschließt, sondern sie gerade zu ermöglichen vermag. 4. Egoistische Liebe Die Umwertung des »Egoismus« ist eine systematisch tragende Figur in Stirners Hauptschrift. Diese Umwertung besteht allerdings, wie wir gesehen haben, gerade nicht in der Formulierung einer neuen, egoistischen Moral, sondern gerade in einer Entmoralisierung des Wortgebrauchs. Der Egoismus ist für Stirner kein normativ ausgezeichneter Habitus, keine Tugend, sondern »nur« eine Grundstruktur personaler Existenz. Trotz dieses deskriptiven Charakters seines praktischen Hauptbegriffes bietet Stirner im Einzigen eine Ethik – versteht man Ethik in einem weiteren, nicht-normativen Sinne als eine Theorie der gelingenden Lebenspraxis. Im Zuge seiner praktisch philosophischen Überlegungen stößt Stirner zuerst, gleichsam »handlungstheoretisch« auf das unhintergehbare Faktum des Egoismus, sieht dann aber zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, sich zu diesem Faktum zu verhalten: Der Mensch kann sich entweder kritisch oder affirmativ, entweder verneinend oder bejahend auf seine egoistische Natur beziehen. Die erste Möglichkeit heißt bei Stirner ein »uneingestandener Egoismus«, 95 die zweite Möglichkeit wäre entsprechend als ein »eingestandener Egoismus« zu bezeichnen. Die erste Möglichkeit, der uneingestandene Egoismus, ist nach Stirner die praktische Signatur des religiösen Bewusstseins. 96 Das religiöse Bewusstsein bestimmt Stirner damit nicht, wie Feuerbach, unter Verweis auf ein, wenn auch illusionäres Gottesbewusstsein, sondern setzt vielmehr genau dort an, wo Feuerbach das wahre Wesen der Religion gefunden zu haben glaubt, bei der Praxis der Intersubjektivität. Feuerbachs Konzeption einer Anerkennung der »Gattung« als Erweiterung des Selbst, welche dem Selbst als Alterität gegenübertritt und doch als Moment des Selbst verstanden werden kann, ist als dialektische Entfremdungstheorie verstehbar. Stirner kritisiert diese Theorie von einem monistischen Begriff des Selbst, indem er die dialektische Integration der Gattung in den Begriff des 95 96

Vgl. nochmals EE 172 f. S.o. Abschnitt 2.

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Selbst verweigert. 97 Ausgetragen wird dieser Streit nun aber im Wesentlichen auf dem Feld der Ethik. Bei Feuerbach verweist der Begriff der Gattung auf die Praxis der Intersubjektivität. Wendet man diese These auf die Ethik um, so erscheint seine Pointe auf einem dialektischen Eudämonismus zu beruhen, dem zufolge das höchste Ziel eines gelingenden Lebens nicht ein Einfaches oder Einförmiges ist, sondern durch eine Vermittlung der innewohnenden Zwecke meiner selbst und des mir begegnenden Anderen gebildet ist. 98 Stirner setzt diesem Vermittlungsversuch nun einen nicht-dialektischen Eudämonismus entgegen, indem die »Liebe« nicht als dialektische Vervollständigung, sondern als schlichte Negation des »eigenen Nutzens« und als »Selbstverleugnung« erscheinen muss. 99 Diese praktische Figur einer Anerkennung eines äußeren Zweckes neben dem meinem Selbst eigenen Zweck fasst Stirner dann auch als das Wesen einer religiösen Ethik. Seine an vielen Stellen spürbare, aufrichtige Empörung über den von ihm wahrgenommenen Ethos der Selbstverleugnung stellt in gewisser Hinsicht den Kern seiner Religionskritik dar. Gerade das Motiv der aus religiösen Motiven sich (sinnlos) aufopfernden jungen Frau scheint ihn berührt zu haben, sie findet sich neben dem im Liebesstaat zitierten Gedicht von Goethe 100 auch in seiner längeren kritischen Rezension zu dem Erfolgsroman Die Mysterien von Paris in dem Kommentar zu dem Schicksal seiner weiblichen Protagonistin 101 sowie in einer eindrücklichen Passage im Einzigen, in dem er eine seiner ehemaligen Schülerinnen zu portraitieren scheint. 102 Aber selbst, wenn man Stirner in seiner Empörung ein Stück weit folgen möchte, bleibt doch eine gewisse Skepsis zurück. Macht Stirner den Menschen mit seiner Ethik des eingestandenen Egoismus nicht zu einem asozialen Einzelkämpfer? Folgt aus seiner Philosophie nicht notwendig die Diagnose einer fundamentalen Beziehungsunfähigkeit des Menschen? Wenn ja, wäre mit Stirner eine eudämonistische Ethik als eine Philosophie des gelingenden Lebens kaum konsistent zu denken. Denn es wäre ja hochgradig gegenintuitiv, das gelingende Leben des Menschen in Absehung oder gerade unter Ausschluss seiner sozialen Beziehungen zu bestimmen. Eine so oder ähnlich lautende Argumentation nimmt, wenig überraschend, in der Kritik an Stirners Egoismus einen breiten Raum ein. 103 Am Beispiel Patersons, der dieses Urteil energisch vertreten hat, lassen sich zwei grundlegende Gestalten aufzeigen, die es an97 98 99 100 101 102 103

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 4. S.o. Abschnitt 1. S.o. Abschnitt 3. Vgl. nochmals KS 277. Vgl. KS 281 ff. Vgl. EE 72. Vgl. hierzu noch einmal Kast 2016a, 215 ff.

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nehmen kann. In seiner ersten Gestalt nimmt es vordergründig die zwischenmenschlichen Nahbeziehungen in den Blick. So schreibt Paterson, der Egoist, wie Stirner ihn zeichnet, sei nicht fähig zu »close and meaningful relationships with others«. 104 In seiner zweiten Gestalt dagegen werden stärker die mutmaßlich destruktiven politischen Konsequenzen von Stirners Philosophie betont. Paterson urteilt hier, Stirners Egoismus würde – wenn auch indirekt – den Gegnern einer liberalen Gesellschaftsordnung Vorschub leisten. 105 Beiden Gestalten des Urteils gemeinsam ist der Verdacht, Stirner könne von seinem anthropologischen Standpunkt aus gelingende menschliche Sozialität und Intersubjektivität nicht konsistent denken. Für eine Bewertung von Stirners Konzeption des Egoismus und damit letztlich auch für eine Bewertung seiner Religionskritik ist also die Frage zu prüfen, ob den oben genannten Einwänden begegnet werden kann. Schließt der Egoismus, wie Stirner ihn bestimmt, tatsächlich menschliche Sozialität aus? Führt er den Menschen in eine einsame, beziehungslose Isolation? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst darauf zu verweisen, dass Stirner diesen Weg ausdrücklich nicht gehen will. Wie die überraschende Pointe seiner Erwiderung auf Feuerbachs Kritik am »Glauben« im Wesen des Christentums zeigt, war Stirner keineswegs ein sozialer »Pessimist«, sondern zeigt sich theoretisch interessiert an der Frage nach gelingender Sozialität, 106 auch wenn seine dort gewählte Formulierung »um dieses Menschen willen« zunächst schwer mit seinem monistischen Eudämonismus vereinbar zu sein scheint. Entscheidend ist aber die Richtung, die Stirner einschlägt: Stirner bemüht sich hier um die Begründung einer beidseitig als gelingend erlebten Sozialität und Intersubjektivität aus dem »eingestandenen Egoismus«. Einen weiteren Versuch in diese Richtung unternimmt Stirner in der Replik auf seine Rezensenten und greift dabei die voreilige Ineinssetzung von Egoismus und »Isolierung« auf. Stirner schreibt: Indess man hat sich nun einmal so seine Vorstellung vom Egoismus zurecht gemacht und denkt sich schlechtweg die »Isolirung« darunter. Was in aller Welt hat aber der Egoismus mit der Isolirtheit zu schaffen? Werde Ich (Ego) dadurch z. B. ein Egoist, dass Ich die Menschen fliehe? [. . . ] Isolire Ich Mich, so geschieht es, weil Ich in der Gesellschaft keinen Genuss mehr finde; bleibe Ich aber unter den Menschen, so bleibe Ich, weil sie Mir noch Vieles bieten. Das Bleiben ist nicht weniger egoistisch, als die Vereinsamung. 107 104 105

106 107

Paterson 1971, 253. Vgl. Paterson 1971, 313. Für eine noch direktere Assoziation Stirners mit einem faschistischen Gesellschaftsentwurf vgl. prominent Helms 1963. S.o. Abschnitt 3. KS 373.

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Aus diesem Zitat spricht Stirners Selbstanspruch, den Egoismus als universelle Struktur des menschlichen Handelns zu bestimmen, welcher die Sozialität, also das »Bleiben unter Menschen« ausdrücklich miteinschließt. Nun wird man Stirner schwerlich abstreiten können, dass es Formen der Vergesellschaftung und Kooperation gibt, die problemlos »egoistisch« motiviert werden können. Dennoch drängt sich aber die Rückfrage auf, ob es nicht Formen höherstufiger Sozialität gibt, die über ein »Bleiben unter Menschen«, wie Stirner es formuliert, hinausgehen. Gerade intime, vertrauensvolle Nahbeziehungen scheinen zunächst kategorial von den Zweckgemeinschaften, die Stirner im Blick hat, unterschieden zu sein. Tatsächlich aber glaubt Stirner, selbst diese Beziehungsformen egoistisch begründen zu können. Dies möchte ich im Folgenden anhand Stirners Figur der egoistischen Liebe zeigen. Oben haben wir gesehen, dass Stirner dem Begriff der »Liebe« skeptisch gegenübersteht. In der herkömmlichen Verwendung des Wortes, wie Stirner ihn rekonstruiert, bedeutet sie, dass das Ich einen Anderen als höchsten Zweck anerkennt – womit für Stirner notwendigerweise verbunden ist, dass dieses liebende Ich sich selbst als höchsten Zweck verneinen muss. Da diese Struktur für Stirners eingestandenen Egoismus ausgeschlossen ist, bleibt ihm offenbar nichts anderes übrig, als den Anderen als Mittel für meinen Zweck zu betrachten. Dieses Muster wäre für viele pragmatischere Gestalten der Sozialität sicher nicht untauglich. Aber Stirners Anspruch geht darüber hinaus, indem er glaubt, auch gelingende Intimbeziehungen über dasselbe Muster fassen zu können. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, rehabilitiert er den Begriff der Liebe und gibt ihm eine neue, eine »egoistische« Bedeutung. Stirner schreibt: Ich liebe die Menschen auch, nicht bloß einzelne, sondern jeden. Aber Ich liebe sie mit dem Bewusstsein des Egoismus; Ich liebe sie, weil die Liebe Mich glücklich macht, Ich liebe, weil Mir das Lieben natürlich ist, weil Mir's gefällt. 108

Nun würde wohl niemand bestreiten, dass eine gelingende Intimbeziehung einen Menschen glücklich macht. Aber trägt ein Mensch zum Gelingen seiner Nahbeziehungen bei, wenn er in ihnen das Glücklichsein intendiert? Wenn er den anderen sogar als Mittel zu seinem Glück betrachtet? In einer späten, meist Stirner zugeschriebenen Replik auf eine Rezension des Einzigen durch Kuno Fischer antwortet der Verfasser auf diese Frage, in dem er die Gegenfrage stellt: 109 Wie verändert sich eine Nahbeziehung, wenn nicht mehr mein Glück mein Handlungsgrund ist. Als Antwort zeichnet Stirner das Bild einer solchen selbstlosen Beziehung, die er sarkastisch als »Narrenehe« bezeichnet: 108 109

EE 294. Vgl. auch Kast 2016a, 312–317, der an der Autorenschaft Stirners allerdings Zweifel anmerkt.

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Kuno liebt die Kunigunde und Kunigunde liebt Kuno. Aber Kuno liebt die Kunigunde nicht, weil er in dieser Liebe seinen Genuss findet, er geniesst die Geliebte nicht zu seiner Freude, sondern aus purer Aufopferung, weil sie geliebt werden will; [. . . ] Kunigunde macht es mit Kuno ebenso. So hätten wir das ideale Paar einer Narrenehe, zwei Menschen, die sich in den Kopf gesetzt haben, ohne sich selbst im Andern zu geniessen, aus purer Aufopferung Eines das Andere zu lieben. 110

Die Karikatur, die Stirner hier zeichnet, appelliert an unsere Alltagsintuition. Zwar scheint es der Logik einer gelingenden Beziehung zunächst zu widersprechen, den je anderen für einen Zweck zu gebrauchen. Wenn ich eine Intimbeziehung führe, weil ich mir dadurch einen beruflichen Vorteil verspreche, mag ich diesen beruflichen Vorteil gewinnen, eine gelingende Beziehung wohl aber kaum. Weniger offensichtlich scheint die Situation, wenn ich als Zweck, den ich in der Beziehung suche, nicht mehr einen beruflichen Vorteil, sondern mein »Glück« oder mein »Glücklichsein« setze. Hier scheint, trotz der parallelen teleologischen Semantik, eine andere handlungstheoretische Struktur vorzuliegen. Zumindest – und hier setzt Stirners Gedankenspiel ein – scheint es hochgradig gegenintuitiv, eine Intimbeziehung als gelingend zu betrachten, wenn einer oder beide der Partner die Beziehung um des Anderen willen weiterführen, obwohl er oder sie selbst nicht mehr glücklich in der Beziehung ist. Um diese wohl unabweisbare Beobachtung theoretisch zu integrieren, gäbe es nun freilich mehrere Möglichkeiten. Die Lösung, die wir als Gegenmodell zu der »Narrenehe« von Kuno und Kunigunde rekonstruieren können, wäre eine radikale: Für Stirner gelänge eine Beziehung, auch eine vertrauensvolle Intimbeziehung, am besten dann, wenn sie von einem »eingestandenen Egoisten« geführt wird. Jeder der Partner sucht in der Beziehung sein eigenes Glück, oder streng mit Stirner formuliert: er sucht sich selbst, handelt um seinetwillen. Gleichzeitig weiß er, dass der Andere es ebenso tut. So gewinnen beide aus der Beziehung, ohne dass einer der beiden den Anderen zu einem »Selbstzweck« erklären muss. Wer an diesem Leben in Begegnung und Beziehung mit dem Anderen dagegen keine Freude hat, den muss man gewähren lassen. Er ist nicht zu verurteilen, aber durchaus zu bedauern, ist er doch, so Stirner, »ein um ein Interesse ärmerer Egoist«. 111 Am Anfang dieses Abschnittes habe ich den Vorwurf aufgegriffen, Stirners Egoismus impliziere eine Verunmöglichung von Sozialität in allen Gestalten. Am Ende des Abschnittes steht nicht die Verteidigung Stirners gegen diesen Vorwurf. Es ging mir vielmehr darum, darauf hinzuweisen, dass Stirner zumindest nicht absichtsvoll die Sozialität und ihre Bedeutung für ein gelingendes 110 111

KS 414. KS 374.

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Leben verneinen will. Stirner selbst glaubt, mit seiner Ethik des eingestandenen Egoismus eine Grundlage für eine gangbare Theorie der menschlichen Beziehungen gegeben zu haben. Ob Stirner seinem Anspruch gerecht werden kann, ist eine andere Frage, die hier noch offenbleiben muss. Die wichtigste Schaltstelle in Stirners Theorie scheint dabei seine an Aristoteles anschließende Theorie des Handelns »um . . . willen«. Wie ich in den Ausführungen über Stirners Begriff des Egoismus vorgeschlagen habe, kann Stirners Philosophie als ein monistischer Eudämonismus gelesen werden, der das Glück bzw. das höchste Gut eines gelingenden Lebens als einfaches und einförmiges zu denken anleitet. 112 Jeder Versuch, das höchste Gut dialektisch als das Zusammenspiel zweier Güter oder Zwecke zu lesen, zum Beispiel meines Zweckes und des Zweckes des mir in der Intersubjektivität begegnenden Anderen, wie Feuerbach es im Liebesbegriff zu denken versucht, müsste von dort her als schlichte Verneinung und Annihilation des dem Selbst eignen Zweckes verstanden und daher abgewiesen werden. Diesem monistischen Zugang zum Problem des gelingenden Lebens korrespondiert nun offenbar Stirners monistische Bestimmung des Selbst, die wir in den vorangegangenen Kapiteln kennengelernt haben. 113 Wie wir dort gesehen haben, ist es gerade die Aufnahme eines Anderen als Moment in den Begriff des Selbst, die Stirner bei Feuerbach und Bauer entschieden bekämpft. Aber nicht nur diese strukturelle Parallele verweist zurück auf Stirners Theorie des Selbst. Die Formulierung vom Handeln »um meinetwillen« setzt semantisch streng genommen nicht ein als substanzielles Gut oder auch als Zustand gedachtes Glück, sondern das Ich als Zweck des Handelns und weist somit darauf hin, dass das Selbst bzw. die personale Existenz für Stirner auch inhaltlich eng mit dem Prinzip eines gelingenden Lebens verbunden ist. Dieser Zusammenhang wird darum in den folgenden Kapiteln Gegenstand einer genaueren Untersuchung werden.

112 113

S.o. Abschnitt 2. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 4.

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VI. Namen nennen mich nicht ! Stirners Theorie der Person

I

n den vorangegangenen zwei Kapiteln habe ich mich dem Einzigen zugewendet und mich seinen zentralen Thesen angenähert. Der Zugang, den ich dabei gewählt habe, war Stirners Kritik an Feuerbachs Wesen des Christentums. Stirner versteht sein Hauptwerk in weiten Strecken als direkte Antwort auf Feuerbachs wirkmächtige Position. Dies habe ich in zwei Schritten zu zeigen versucht. Die beiden tragenden Theoriebegriffe Feuerbachs, die »Gattung« 1 und die »Liebe« 2, werden bei Stirner prominent aufgegriffen und kritisiert. Während beide bei Feuerbach einer anthropologischen, atheistischen und im strengen Sinne auch areligiösen Interpretation des Christentums dienen sollen, insistiert Stirner, dass auch sie noch als Elemente einer spezifisch religiösen Bewusstseinsform oder Existenzweise zu verstehen sind. In dieser Absetzung von Feuerbach tut Stirner etwas, was bereits in seiner Kritik an Bauer in seinem frühen Aufsatz Kunst und Religion geschehen ist: 3 die Überschreitung des philosophischen Atheismus, der dazu tendierte, Religion und Theismus gleichzusetzen, hin zu einer formalen Religionskritik, die noch in atheistischen Positionen religiöse Strukturen aufzufinden glaubt. Wie diese formalen religiösen Strukturen nach Stirner zu bestimmen sind, dazu haben wir bereits einige Bausteine gesammelt. Entflammt haben könnte sich Stirners Religionskritik an dem Moment der »Selbstverleugnung«, welche dem »Egoismus« des Menschen entgegensteht. Diese lebensfeindliche Selbstverleugnung meint Stirner auch in Feuerbachs Liebesethik vorgefunden zu haben, weshalb er dann mit aller Macht gegen sie anschreibt. 4 Im Folgenden möchte ich die »negative« Seite der Argumentation Stirners verlassen und nach ihrer »positiven« Seite fragen. Daher gilt es nun, seine Abgrenzung von Feuerbach zur Seite zu legen und seine eigenständige Konzeption des gelingenden Lebens weiter zu erschließen. Dazu möchte ich noch einmal zurückkehren zu dem im vierten Kapitel angedeuteten Widerspruch von »Ich« und »Mensch«: Feuerbach, so Stirner, habe durch seine Integration

1 2 3 4

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 4. S.o. Kapitel V, Abschnitt 3. S.o. Kapitel III, Abschnitt 4. S.o. Kapitel V, Abschnitt 2–3.

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Namen nennen mich nicht ! Stirners Theorie der Person

des Gattungsbewusstseins in das Selbstbewusstsein und die damit verknüpfte Bestimmung der Gattung als Moment des Selbst das Selbst nicht vervollständigt, sondern nivelliert. 5 Wir haben dann in der Folge gesehen, dass Feuerbach die Gattung nicht im Sinne eines ontologischen Begriffsrealismus versteht, sondern als Vollzug einer sozialen Praxis, als Liebe. 6 Darum sind wir Feuerbach von der Anthropologie auf das Feld der Ethik gefolgt und haben ebenso beobachtet, wie Stirners Kritik ihm dahin gefolgt ist. Wenn ich jetzt zu dem Widerspruch von Ich und Mensch zurückkehre, dann möchte ich diesen Schritt, den Schritt zu einer »praktischen Anthropologie«, gedanklich noch einmal zurücknehmen und zunächst unvoreingenommen betrachten, welche Theorie der Personalität Stirner in seinem Hauptwerk eigenständig entwickelt. Diese ist, wie ich argumentieren werde, bei Stirner verwirklicht in der Konzeption des »Einzigen«. Wie wir dann sehen werden, ist der Begriff des Einzigen allerdings – ebenso wenig wie Feuerbachs Mensch – im Sinne einer Substanzontologie zu fassen, sondern bezeichnet wiederum eine Praxisform. Die Praxis, die den Einzigen konstituiert, ist die Praxis der Aneignung. Mit dieser Einsicht erreichen wir dann den Begriff des »Eigentums«, der uns im achten Kapitel beschäftigen wird. Es wird sich zeigen, dass das Eigentum, gemeinsam mit seinem Gegenpart, dem »Heiligen«, die tragende Denkfigur in Stirners Religionskritik und zugleich auch seinen wohl innovativsten Beitrag zur Debatte um die Religion bildet. Aber dies war bereits ein Vorgriff. Hier soll es zunächst um den Einzigen gehen und Stirners Theorie der Person. Einsteigen möchte ich mit einer Einführung in den Gebrauch dieses Begriffes bei Stirner. Ich werde versuchen zu zeigen, dass sich hinter der etwas pathetischen Wortwahl zunächst eine recht klassische, fast möchte man sagen: eine unambitionierte Theorie der Personalität verbirgt. Dies möchte ich tun anhand eines Vergleichs Stirners mit der Konzeption Robert Spaemanns. Dabei wird sich neben grundlegenden Übereinstimmungen allerdings auch zeigen, dass Stirners Theorie der Person in charakteristischer Weise von derjenigen Spaemanns abweicht, insofern Stirner das Gelingen bzw. Scheitern der Personalität in erster Person in den Blick nimmt (1). Der nächste Abschnitt wird dann die Frage nach dem Gelingen und Scheitern der Personalität vertiefen. In Auseinandersetzung mit einer zentralen Passage des Einzigen möchte ich untersuchen, inwiefern Personalität nach Stirner biographisch erworben werden kann. Dabei werde ich den Widerspruch aufgreifen, dass Stirner zwar einerseits auf das unmittelbare Gegeben-Sein von Personalität insistiert, andererseits aber durchaus zulässt, dass sich ein adäquates Verhältnis der Person zu sich selbst biographisch spät 5 6

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 4. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 5.

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Der Einzige

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entwickelt (2). Die Beobachtung der von Stirner angenommenen Gegebenheit von Personalität verweist schließlich auf einen in der Rezeption häufig vorgebrachten Einwand. Gemeint ist die Frage, ob Stirners Personalität womöglich als »Substanz« im Sinne eines substanzontologisch fixierten Selbst bestimmt wird. Damit würde sich Stirner, der vordergründig als scharfer Religionskritiker auftritt, durch die Hintertür substantialistische, metaphysische Konzeptionen ins Haus holen. Diesen Widerspruch werde ich aufzulösen versuchen, indem ich zeige, dass Stirner Personalität zwar als je zugänglich begreift, sie dabei aber nicht als je gegebene Substanz, sondern als je gangbare Praxisform versteht (3). 1. Der Einzige Neben dem Egoismus in seiner spezifischen, transzendentalen Bedeutung ist der »Einzige« die zweite innovative begriffliche Prägung Stirners. Und ähnlich wie beim Egoismus handelt es sich auch bei dem Einzigen um eine mehr oder weniger explizit aus der Auseinandersetzung mit Feuerbach erwachsene Konzeption. Weiter oben haben wir bereits darauf hingewiesen, wie schon der gedankliche Aufbau von Stirners Hauptwerk Feuerbachs Argumentation aus dem Wesen des Christentums zitiert und umkehrt: Hatte Letzteres von Gott zum Menschen geführt, so führt Stirners gedanklicher Weg im Einzigen vom Menschen zum Ich. Stirner selbst beschreibt diesen Schritt, der ihn gleichsam mit Feuerbach über Feuerbach hinausführt, folgendermaßen: Die Geschichte sucht den Menschen: er ist aber Ich, Du, Wir. Gesucht als ein mysteriöses Wesen, als das Göttliche, erst als der Gott, dann als der Mensch (die Menschlichkeit, Humanität und Menschheit), wird er gefunden als der Einzelne, der Endliche, der Einzige. 7

Stirner kritisiert hier an seinem Vorgänger – dass Feuerbach getroffen werden soll, scheint einigermaßen offensichtlich – nicht nur dessen Antwort, sondern schon dessen Frage. Feuerbach habe sich mit der Anthropologie als der Frage nach dem Menschen ein falsches Thema gesetzt. Wenn man die Frage nach dem »Menschen« stellt, so Stirner, dann laufe man bereits Gefahr, das zu verfehlen, was der Mensch ist. Welche Worte aber bietet Stirner selbst an, die bezeichnen, wonach man stattdessen fragen müsste? In der zitierten Passage bietet Stirner eine Reihe von Begriffen an, die mehr oder weniger assoziativ nebeneinanderstehen: die Personalpronomen »Ich«, »Du« und »Wir«, der 7

EE 249.

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»Einzelne«, der »Endliche«, der »Einzige«. Wie können wir aus dieser Reihe eine fassbare Konzeption gewinnen? Der in der zitierten Passage zuletzt genannte Begriff, der »Einzige«, sticht aus vielen Gründen hervor. Ihm wurde schon von der allerersten Rezeption durch die junghegelianischen Rezensenten eine große systematische Bedeutung für Stirners Philosophie zugeschrieben. 8 Dies erklärt sich nun weniger über die Häufigkeit seiner Verwendung, rein quantitativ tritt dieser Begriff in Stirners Hauptwerk sogar eher zurück. Viel wichtiger ist, dass ihn Stirner dort, neben dem Eigentum, in den Titel aufgenommen hat. Darüber hinaus deutet die syntaktisch ungewöhnliche, idiosynkratische Verwendung an, dass es sich bei dem Einzigen um eine terminologische Prägung mit tragender Bedeutung handelt. Alltagsprachlich verwenden wir das Wort »einzig« meist in etwa in der Bedeutung, in einer wie auch immer bezeichneten Menge oder Gattung mit nur einem Element eben dieses Element zu sein. Darum muss aber bei der Verwendung des Wortes immer mitbenannt werden, in welcher Menge oder Gattung der oder das Bezeichnete das einzige Element ist. So macht es semantisch einen Unterschied, ob ein Baum der »einzige Baum im Garten« ist oder »der einzige Baum im Garten, der schon blüht«. Wenn es nun tatsächlich nur einen Baum im Garten gibt und wenn dieser Baum blüht, kann er natürlich Referent beider Ausdrücke sein, dennoch haben sie eine unterscheidbare Bedeutungsintention. Die Bedeutung von »einzig« hängt also unlösbar von dem mitbenannten Bezugswort bzw. von der Bezugsgröße ab. Einigermaßen unklar erscheint demgegenüber, was der absolut, d. h. ohne Bezugsgröße gebrauchte Ausdruck »einzig«, substantiviert als der »Einzige«, bedeuten soll. In welchem Sinne soll jemand oder etwas schlechthin einzig sein? Ist hier eine Bezugsgröße bloß elliptisch weggefallen und muss nachgetragen werden? Oder ist hier wirklich von einem absolut »Einzigen« die Rede, im Sinne von dem Einzigen, den bzw. das es überhaupt gibt? Die Irritation über die ungewöhnliche Verwendung des Wortes »einzig« in Stirners Einzigem hat dann in der Rezeption naheliegenderweise Spekulationen über Stirners »Solipsismus« angeregt. 9 Versteht man allerdings unter »Solipsismus«, wie es doch üblich ist, eine ontologische Position, welche die Realität der wahrgenommenen Außenwelt sowie überhaupt die Realität anderer Wesenheiten neben dem Selbst leugnet, dann ist diese bei Stirner ganz offensichtlich nicht vorfindlich. Dies zeigt sich schon in der oberen Passage, wo der Einzige nicht in Parallelität zum Ich, sondern zur Trias »Ich, Du, Wir« steht. Auch in weiteren, programmatischen Passagen über den Einzigen kann 8 9

Vgl. KS 343 ff. Bereits kritisch dazu Kast 2016b, 375 ff.

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Stirner ihn ziemlich zwanglos mal mit dem schreibenden Ich und mal mit dem angesprochenen Du identifizieren 10 oder kann vom Gegensatz »des Einzigen gegen den Einzigen« 11 sprechen. 12 Die Rede vom Einzigen markiert also offenbar keinen ontologischen Solipsismus. Was also bedeutet der Begriff? Um dies näher zu fassen, bietet es sich an, einen zweiten Begriff heranzuziehen, der von Stirner sehr häufig verwendet wird, und das ist der Begriff der »Person«. Das Wortfeld »Person«/»persönlich« verwendet Stirner, um den einzelnen Menschen gegenüber den Kollektivbegriffen Mensch, Menschheit zu bezeichnen. 13 Insgesamt scheint der Begriff der Person bei Stirner semantisch äquivalent mit dem des Einzigen zu sein, auch wenn er sich letztlich für den Einzigen als titelgebenden Leitbegriff seines Hauptwerkes entscheidet. 14 Wie ich bereits angekündigt habe, möchte ich darum vorschlagen, dass Stirners Konzeption des Einzigen trotz seiner Radikalität zunächst über weite Strecken als eine recht klassische Theorie der Personalität verstanden werden kann. Dies möchte ich im Folgenden herausarbeiten im Vergleich mit der Position, die Robert Spaemann in seinen Versuchen über den Unterschied von ›etwas‹ und ›jemand‹ entwickelt hat, die wiederum auf eine breite, theoretische Tradition aufbaut. Es wird sich zeigen, dass Spaemann und Stirner über weite Strecken sehr ähnliche Konzeptionen bieten. Ausgehen möchte ich in meinem Vergleich von einem charakteristischen Aspekt in Spaemanns Theorie, von der Unterscheidung von »Namen« und »Begriffen«. Spaemann untersucht im ersten Kapitel seiner Versuche die Frage, inwiefern der Begriff »Person« eine Menge oder Klasse von Elementen bezeichnet. Hier beobachtet er eine Ambivalenz: Einerseits können wir sinnvollerweise fragen, ob ein Wesen X eine Person ist, also zu der Klasse der Personen zählt. Andererseits scheinen die Elemente dieser Klasse ihr anders anzugehören, als das bei anderen Klassen der Fall ist. 15 Dies expliziert Spaemann im Rückgriff auf Thomas von Aquins Verständnis der Person, das dieser im Rahmen seiner Reflektion auf das Trinitätsdogma entwickelt hat. 16 Thomas gibt dort dem von 10 11 12

13 14

15 16

Vgl. nur EE 316. Vgl. EE 214. In diesem Sinne spricht Ferruccio Andolfi zu Recht vom »Universalismus« in Stirners Konzeption, vgl. Andolfi 2008, 47. Vgl. nur EE 36; 145; 370. Programmatisch gebraucht Stirner den verwandten, aber durch seine normative Färbung durchaus anders gelagerten Begriff der »Persönlichkeit« in dem frühen Aufsatz Das unwahre Prinzip unserer Erziehung, in dem er die Ausbildung von »Persönlichkeit« und damit den gelingenden Vollzug personaler Existenz zum Ziel der schulischen Bildung erklärt, vgl. KS 253 ff; vgl. dazu auch Klemm 1996, 9–11; 2011; 56–62. Vgl. Spaemann 2006, 25. Vgl. Spaemann 2006, 40 f.

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Spaemann beschriebenen Widerspruch eine charakteristische Deutung: Der Ausdruck »Person« wird einerseits gebraucht wie ein Allgemeinbegriff, insofern von vielen Individuen ausgesagt werden kann, dass sie Personen seien. Andererseits unterscheidet sich der Ausdruck »Person« auch von der Form eines Allgemeinbegriffs, da er nicht wie dieser vom Einzelnen abstrahiert, sondern gerade das Einzelnes-Sein am Einzelnen bezeichnen will. Die Lösung, die Thomas findet, übersetzt Spaemann folgendermaßen: Nach Thomas sei »Person« eigentlich kein Begriff, sondern ein Name, nur dass dieser Name nicht einen Träger habe, sondern viele. Person sei damit ein »allgemeiner Eigenname«. 17 Der Unterschied dieses allgemeinen Eigennamens zum Allgemeinbegriff bestehe in dem besonderen Verhältnis, in welchem die mit ihm bezeichneten Individuen zu ihm stehen. Personen sind nicht nur »Fälle von . . . «, auch nicht nur »Fälle von Personalität«, sondern entziehen sich fundamental ihrer Bestimmung durch ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse von Elementen. 18 Diese für Spaemann grundlegende Bestimmung der Person als »allgemeiner Eigenname« hat nun eine enge Parallele in Stirners Überlegungen zum Einzigen. So setzt er sich in einer Entgegnung auf seine Rezensenten mit der Frage auseinander, ob der Einzige als Allgemeinbegriff zu fassen ist, und weist diese Interpretation energisch ab. 19 Der Mensch sei tatsächlich solch ein »Begriff«, aber gerade darum könne man mit dem Wort »Mensch« den je einzelnen Menschen nicht angemessen bezeichnen. Demgegenüber gelte es also ein Wort zu finden, das »diesen Menschen« bezeichne. Dieses Wort ist der »Einzige«, den Stirner darum auch nicht als Begriff, sondern als »Name« verstanden wissen will. Ebenso wie der Eigenname »Ludwig« 20 habe auch der Einzige keinen »Begriffsinhalt«, bezeichnet also nicht einen Fall von »Ludwig«, sondern habe bloß deiktische Funktion. Stirner formuliert: »Durch das Wort Einziger soll nicht gesagt werden, was du bist wie man dadurch, dass man bei der Taufe Dir den Namen Ludwig zulegt, nicht sagen will, was du bist.« 21 Anders als durch ein solches »inhaltsleeres Wort« 22 kann der je Einzelne nicht erfasst werden. »Erst dann, wenn Nichts von Dir ausgesagt und Du nur genannt wirst, wirst du anerkannt als Du.« 23 In dieser pointierten Passage zeigt Stirner, dass und inwiefern er den Einzigen in Analogie zu einem Eigennamen verstehen will. Da nun, wie wir gesehen 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Spaemann 2006, 41. Vgl. Spaemann 2006, 41. Für das Folgende vgl. KS 344–348. Stirner wählt dieses Beispiel wohl in Anspielung an den Vornamen Feuerbachs. KS 346 f. KS 347. KS 348.

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Der Einzige

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haben, jeder Mensch, jedes Ich und jedes Du ein Einziger in Stirners Sinne ist, gewinnt das Wort eben diejenige Struktur, die Spaemann in seiner Analyse der Person herausgearbeitet hat: Stirners Einziger ist wie Spaemanns Person ein allgemeiner Eigenname. Dieser allgemeine Eigenname wird notwendig dadurch, dass der Allgemeinbegriff Mensch das Moment der Negativität nicht erfasst, welches jedem Individuum zukommt. Der Einzelne ist zwar durchaus »Mensch«, er verhält sich zu seinem menschlichen Wesen aber immer auch negativ und kann darum mit dem Titel »Mensch« nie vollständig bezeichnet werden. Dieses Moment der Negativität unterstreicht Stirner durch die im Zusammenhang der Darstellung seiner Feuerbachkritik bereits erwähnte Bestimmung des Einzigen als »Unmenschen«. Während die Rede von einem »Unmensch« im alltäglichen Sprachgebrauch auch schon zu Stirners Zeit eine krasse Abweichung von dem normativ »Menschlichen« bezeichnet zu haben scheint, wird er Stirner zu einer universellen Bestimmung der Seinsweise einer Person oder, wie Stirner schreibt: »Wirklicher Mensch ist nur der – Unmensch.« 24 Der knappe Vergleich zwischen Stirner und Spaemann sollte uns helfen, uns der Kategorie des Einzigen zu nähern und sie dabei zugleich ein wenig zu »entzaubern«. Die Semantik, die Stirner gebraucht, lässt auf den ersten Blick an eine viel radikalere Position denken, als er tatsächlich zu vertreten scheint. Die Differenz zwischen dem Begriff und dem individuellen Dasein, die er energisch fordert, wurde oft und nicht zu Unrecht als Frühform des Existenzialismus gedeutet. 25 Zugleich scheint sie aber, wie Spaemanns Rezeption von Überlegungen zum Personbegriff aus der mittelalterlichen Philosophie zeigen, auf eine viel ältere Problemkonstellationen zu verweisen. Schon die Reflexion Thomas' zum Sein der Person, spätestens aber die Figur der »Haecceitas« bei Duns Scotus stellt eine Herausstellung der Unverrechenbarkeit des individuellen Seins dar, die derjenigen Stirners nahekommt. 26 Nachdem ich bis hierhin die Verwandtschaft der Figur des Einzigen und einer durchaus »bürgerlichen« Persontheorie, wie Spaemann sie vertritt, hingewiesen habe, möchte ich allerdings, wie angekündigt, auch auf einen wichtigen Gegensatz hinweisen. Und dieser Gegensatz tritt zunächst hervor am argumentativen Fluchtpunkt, an der zentralen Fragestellung der beiden Ansätze. Spaemanns zentrale Fragestellung, die er in der Einleitung zu seinen Versuchen aufwirft und auf die er im letzten Essay zurückkehrt, lautet: »Sind 24 25

26

EE 184. Vgl. Seibert 1997, 35 ff; Quante 2015a, 248; vgl. dazu auch nochmal die im dritten Kapitel ausführlich dargestellte Deutung Löwiths. Auf die Konvergenz der »Haecceitas« mit Stirners Philosophie verweist Quante 2015a, 247; zu Scotus vgl. auch Spaemann 2006, 43 ff.

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alle Menschen Personen?« 27. Der Fluchtpunkt dieser Frage liegt dabei offenbar auf ihren Konsequenzen für eine normative Ethik. Wir müssen fragen, ob wir es in einer jeweiligen Situation mit »etwas« oder »jemandem« zu tun haben, weil nur »jemand« – also eine Person – Anspruch auf die Achtung bestimmter »Personrechte« hat. Damit ist die »Person« von Anfang an eine normative Kategorie, sie ist »ein Begriff mit einer axiologischen Konnotation« 28. Eine nicht auf den ersten Blick hervortretende Charakteristik dieser Fragestellung ist, dass in ihr Personalität tendenziell aus einer Zweite-PersonPerspektive betrachtet wird. Obwohl Spaemann in seinen Versuchen an vielen Stellen auch darüber meditiert, wie es ist, eine Person zu sein, 29 gilt sein eigentliches Interesse der Frage, wann und warum wir eine andere Person nicht als »jemanden«, sondern als »etwas« behandeln und so ihr Person-Sein verfehlen. Hinter diesem Erkenntnisinteresse steht dabei auch eine systematische Grundentscheidung. Nach Spaemann konstituiert sich Personalität in Vollzügen der Interpersonalität. Spaemann schreibt: »Personen sind füreinander Personen. Personen gibt es nur im Plural.« 30 Stirners zentrale Fragestellung ist demgegenüber eine ganz andere. Die Frage, wie ich eine Person angemessen als Person behandle, spielt bei ihm keine Rolle, sein Erkenntnisinteresse ist vielmehr ganz auf die Perspektive der ersten Person bezogen. Die Differenz zu Spaemann könnte man daher formelhaft so zusammenfassen: Stirner geht es nicht um die Frage »Wie behandele ich ein Du als Person?«, sondern – und zwar ausschließlich – um die Frage »Wie behandle ich mich selbst als Person?«. 31 Diese zunächst seltsam erscheinende Fragestellung verweist zurück auf ein Motiv, das wir bereits intensiver kennengelernt haben, auf das Motiv der Entfremdung bzw. der Selbstentfremdung. Oben haben wir gesehen, dass Entfremdung im Zusammenhang des nach-hegelianischen Diskurses ein Verhältnis bezeichnet, in dem das Selbst in ein Verhältnis zu sich selbst als einem Nicht-Selbst tritt. Dies wiederum kann innerhalb einer Theorie der Person so reformuliert werden: Eine Person denkt oder lebt so, dass sie sich selbst nicht als Person anerkennt oder, in Spaemanns Worten, sich nicht als »jemand«, sondern als »etwas« behandelt. Dies scheint das Problem zu sein, um das Stirner in seiner Theorie des Einzigen und auch in seiner Theorie der Entfremdung beständig kreist. Stirners Fokussierung auf die Perspektive der ersten Person stellt gegenüber Spaemann aber nicht nur einen graduellen Unterschied im Erkenntnisinteresse dar. Es wurde schon betont, dass die zweite-Person-Perspektive bei Stirner 27 28 29 30 31

Vgl. Spaemann 2006, 252 ff. Vgl. Spaemann 2006, 10. Vgl. nur die Meditation über die eigene Sterblichkeit bei Spaemann 20006, 123 ff. Spaemann 2006, 144. Vgl. nur EE 19; ausführliche dazu s. u. Abschnitt 2.

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nicht nur zurücktritt, sondern ersatzlos ausfällt. Hinter dieser Lücke verbirgt sich die eigentliche Abweichung von Spaemann und von vergleichbaren Ansätzen und damit auch die Radikalität in Stirners Ansatz. Wenn Spaemann schreibt, Personen gibt es nur im Plural, d. h. in zweiter Person, so gibt es Personen für Stirner nur in erster Person. Dies ist es auch, was sich hinter der eigenwilligen Semantik des »Einzigen« verbirgt: Zwar geht Stirner in einem ontologischen Sinne nicht davon aus, die einzige Person zu sein, die es gibt. Allerdings glaubt er subjektivitätstheoretisch bzw. existenziell, dass Personen andere Personen nicht als solche anerkennen können. 32 Jede Person erscheint damit sich als die einzige, ist Einziger oder Einzige. Wie Stirner diesen doch einigermaßen herausfordernden Gedanken ethisch zu Ende denkt, wird uns im folgenden, siebten Kapitel noch weiter beschäftigen. Nun gilt es zunächst, die Bausteine seiner Theorie des Einzigen als einer Theorie der Personalität in erster Person weiter zusammenzusetzen. 2. Ein Menschenleben Im letzten Abschnitt habe ich die These aufgestellt, dass Stirners Interesse an der Theorie der Personalität verstanden werden kann als eine Antwort auf die Frage: »Wie behandle ich mich selbst als Person?«. In dieser Frage scheint zugleich die Annahme implizit zu sein, dass es für Stirner die reale Möglichkeit gibt, sich selbst nicht als Person zu behandeln, sein eigenes Person-Sein zu verfehlen, an ihm zu scheitern. Dass Stirner dies tatsächlich annimmt, möchte ich im Folgenden plausibel zu machen versuchen. Dabei wird deutlich werden, dass die Unterscheidung zwischen einem Verhalten zu mir selbst als Person und einem Verhalten zu mir selbst, in welchem ich mir nicht als Person transparent bin, eine der wesentlichen subjektivitätstheoretischen Argumente im Einzigen darzustellen scheint. Um mich einer Begründung dieser These anzunähern, möchte ich beginnen mit der Interpretation einer zentralen Passage aus dem Einzigen. Die Passage umfasst in der Studienausgabe nur sechs Druckseiten, ist allerdings von großer Bedeutung für die Gesamtinterpretation des Einzigen, da sie den Gedankengang des Werkes in gewisser Hinsicht vorzuzeichnen scheint. In dieser Passage erzählt Stirner den Lebensweg eines Menschen als eine Suche des Menschen nach sich selbst. Stirner schreibt:

32

»Mir bist Du nur dasjenige, was Du für Mich bist, nämlich mein Gegenstand, und weil mein Gegenstand, darum mein Eigentum.«, EE 147; ausführlich dazu s. u. Kapitel VII, Abschnitt 3.

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Von dem Augenblicke an, wo er das Licht der Welt erblickt, sucht ein Mensch aus ihrem Wirrwarr, in welchem auch er mit allem Andern bunt durcheinander herumgewürfelt wird, sich herauszufinden und sich zu gewinnen. 33

Diese Zeilen eröffnen einen Abschnitt, der mit »Ein Menschenleben« überschrieben ist, und bilden zugleich – nach einem kurzen Prolog 34 – den eigentlichen Auftakt zu Stirners Einzigem. Diese Stellung deutet bereits darauf hin, dass die zitierten Sätze nicht nur für den folgenden Abschnitt, sondern für das Werk insgesamt programmatischen Charakter haben könnten. Formuliert Stirner hier vielleicht die Frage, die die leitende Frage seines Hauptwerkes geworden ist? Geht es ihm, wie er es dem neugeborenen Menschen zuschreibt, darum, »sich herauszufinden«, sich von dem »Anderen«, was er nicht ist, zu unterscheiden? Schauen wir aber zunächst auf den weiteren Verlauf des »Menschenlebens«. 35 Stirner zeichnet dieses Leben als einen schematischen Dreischritt vom »Kind« über den »Jüngling« zum »Mann«. Sein Weg führt den Menschen dabei über zwei entscheidende Krisen oder »Selbstfindungen«. Die erste dieser Krisen markiert den Übergang vom »Kind« zum »Jüngling«. Das »Kind« lebt in der Welt der »Dinge«. Dies veranschaulicht Stirner über ein praktisches Verhältnis: Über das Verhältnis des Kindes zum »Stock«, also der Strafe durch die Eltern. Dieses »Ding« hat zunächst Macht über ihn, allerdings lernt es nach und nach von dem unmittelbaren Eindruck des Schmerzes zu abstrahieren und gewinnt so Handlungsfreiheit. Hierdurch ist das Kind »hinter die Dinge« oder »hinter die Welt« gekommen. Damit verändert sich zugleich auch das Selbstverhältnis des Kindes. Ebenso wie es die Dinge nicht mehr in ihrem unmittelbaren sich aufdrängenden Sein identifiziert, bestimmt es auch sich selbst nicht mehr in seiner Faktizität. Damit ist das Sein des »Jünglings«, zu dem das Kind geworden ist, kein weltliches mehr. Er sieht sich »über« der Welt, er ist »Geist«. 36 Stirner nennt den Geist die »erste Selbstfindung« des Menschen. 37 Nach dieser ersten Selbstfindung ist die Bewegung der Suche nach sich selbst aber nicht zur Ruhe gekommen. Denn durch seine Abstraktion ist der Jüngling in einen Widerspruch zum Faktischen geraten, vor allem auch zu dem, was er selbst unmittelbar ist, zu seinem »Leib«. Diesen Widerspruch überwindet erst der »Mann«. Ebenso, wie der Jüngling sich »hinter den Dingen« gefunden hat, findet sich der Mann »hinter den Gedanken«. Dies ist die zweite und abschließende Selbstfindung des Menschen, der Mann findet sich als »leibhafter 33 34 35 36 37

EE 19. Vgl. EE 13–15. Vgl. EE 19–24. Vgl. EE 19–21. Vgl. EE 20.

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Geist«. 38 Stirner fasst den Lebensweg oder besser den Bildungsweg des Menschen folgendermaßen zusammen: Das Kind war realistisch, in den Dingen dieser Welt befangen, bis ihm nach und nach hinter eben diese Dinge zu kommen gelang; der Jüngling war idealistisch, von Gedanken begeistert, bis er sich zum Manne hinaufarbeitete, dem egoistischen, der mit den Dingen und Gedanken nach Herzenslust gebahrt und sein persönliches Interesse über alles setzt. 39

Mit dieser ambitionierten Wendung endet Stirners Beschreibung des »Menschenlebens« und lässt den Leser einigermaßen fragend zurück. Wie ist dieser Text zu verstehen? Hat Stirner hier den Anspruch, eine konsistente anthropologische Theorie zu formulieren? Oder sind die zum Teil allzu schematischen und weit ausgreifenden Formulierungen ein Hinweis darauf, dass Stirner hier ironisch spricht? Handelt es sich gar um eine Parodie hegelianischer Dialektik? 40 Tatsächlich ist es das Verhältnis zu Hegel, das in der Diskussion um Stirners »Menschenleben« meist im Mittelpunkt steht. In gewisser Weise könnte man urteilen, dass die Frage nach Stirners Verhältnis zu Hegel sich wesentlich an der Deutung dieses Textes entscheidet. Im Rahmen meiner Einführung in Stirners Werk und dessen Rezeption im ersten Kapitel dieser Untersuchung habe ich bereits auf die Beiträge Lawrence Stepelevichs hingewiesen. Stepelevich untersucht seit den 70er Jahren in einer Reihe von Aufsätzen das Verhältnis von Stirner und Hegel, wobei er zumeist die enge Nähe, aber auch den partiellen Widerspruch betont. 41 In einem jüngeren Aufsatz von 2006 überträgt er diese Frage auf den Abschnitt vom »Menschenleben«. Stepelevich vertritt die These, dass Stirner dort zwei hegelsche Motive kombiniert: Den Verlauf der Lebensalter aus Hegels Vorlesungen über den Subjektiven Geist und den Weg des Knechts aus der Unfreiheit in die Freiheit in der Phänomenologie. 42 Über diese interessante rezeptionsgeschichtliche These hinaus liegt die Pointe von Stepelevichs Deutung in der Lesart des »Menschenlebens« als dialektische Bewegung. Nach Stepelevich handelt es sich um ein »fine example of an exercise in Hegelian dialectics«. 43 Diese Dialektik ziele auf den Mann als »Synthese« der vorangegangenen Stadien, der mit Stirners eigener Position gleichzusetzen sei. 44 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. EE 21–23. EE 24. Vgl. Kast 2016a, 140; vgl. auch De Ridder 2008, 290 f. Vgl. Stepelevich 1974, 1976, 1985. Vgl. Stepelevich 2006, 166 f Stepelevich 2006, 174. Vgl. Stepelevich 2006, 171.

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Stepelevich interpretiert das »Menschenleben« somit als eine konstruktive Aufnahme hegelianischer Entwicklungsfiguren. Gleichzeitig versteht er es als einen Schlüssel zu Stirners Einzigem. Das »Menschenleben«, so Stepelevich, »prefigures the whole of Der Einzige und sein Eigentum«. 45 Stirners Hauptwerk zeichne damit eben diesen Weg nach, den das Menschenleben vorwegnimmt. Der Mensch gelange zu einer Erkenntnis seiner selbst, zu einem Selbstbewusstsein, welches sich im Sinne einer dynamischen Entwicklung realisiert. Diese Deutung korreliert mit dem, was David Leopold Stirners »Perfektionismus« genannt hat. Wie Stepelevich identifiziert Leopold bei Stirner ein Moment der Entwicklung, welche zwar kein normatives, aber ein evaluatives Moment in sich trage, so dass Stirners Position als »nicht-essentialistischer Perfektionismus« bezeichnet werden kann. 46 Überträgt man Leopolds Terminologie auf das »Menschenleben«, so scheint dort eine Art Perfektionismus des Selbstbewusstseins vorzuliegen. Der Perfektionismus, den Stirner in dieser Passage einführt, scheint darauf hinzustreben, sich als das zu erkennen, was er ist, als »Einziger«, als Selbst oder eben als Person. Die Deutung, zu der wir aus einer Kombination der Ansätze von Stepelevich und Leopold gelangt sind, mag angesichts der schnellen Lektüre des »Menschenlebens« zwingend, beinahe trivial erscheinen. Dennoch gibt es starke Zweifel an diesem Bild. Diese Zweifel ergeben sich aus dem immer wieder hervorgehobenen Zug zum »Antiperfektionismus«. 47 Das Stichwort verweist auf ein Strukturmerkmal von Personalität, das bei Stirner eine große Rolle spielt, das wir aber bisher noch nicht gewürdigt haben, und zwar ihre Unmittelbarkeit. 48 Was damit gemeint ist, lässt sich aufweisen an Stirners Gegenüberstellung von »Mensch« und »Einzigem«. 49 Der Einzige hat, wie ein Eigenname, bloß eine verweisende Funktion, er bezeichnet ein gegebenes Ich, ohne einen Begriffsinhalt oder ein Was-Sein zu bezeichnen. Der Mensch dagegen ist ein Begriff und dieser hat einen Inhalt. Dies hat eine Konsequenz für die Frage nach der Genese des Bezeichneten. Da der Einzige kein Was-Sein bezeichnet, ist sein Korrelat, überall wo es gegeben ist, als unmittelbar gegeben zu betrachten. Wenn ich ein Einziger bin, ist die Frage, wie ich es werden kann, sinnlos. Dem Begriff »Mensch« dagegen – ebenso wie jedem anderen inhaltlich gefassten Begriff – kann man mehr oder weniger entsprechen, man kann es mehr oder weniger sein und darum kann man es auch werden. Stirner umschreibt diesen Gegensatz folgendermaßen: 45 46 47 48 49

Stepelevich 2006, 174. Vgl. Leopold 2019, 287. Vgl. nur Quante 2015a; vgl. auch Moggach 2011, 187. Zu der Figur der Unmittelbarkeit in der nachhegelianischen Philosophie vgl. Arndt 2013. S.o. Abschnitt 1.

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Die Begriffsfrage: »was ist der Mensch?« – hat sich dann in die persönliche umgesetzt: »wer ist der Mensch?« Bei »was« suchte man den Begriff, um ihn zu realisieren; bei »wer« ist's überhaupt keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst. 50

Die Je-Gegebenheit des Ichs scheint nun jedem Perfektionismus zunächst entgegenzustehen. Stattdessen scheint Stirner für eine Rückkehr zu einem Ursprungsverhältnis zu optieren. Pflanzen und Tiere werden ihm zum Vorbild für eine Existenzweise, in der das Ich sich nicht über ein Was-Sein bestimmt, sondern in seiner unmittelbaren Gegebenheit annimmt. So schreibt Stirner: Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee »Staat« durch mein Bürgertum das Meinige zu tun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht Mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet. 51

Der hier und an anderen Stellen durchschlagende Pathos der Naivität scheint in einen deutlichen Gegensatz zu der im »Menschenleben« geschilderten Entwicklung des Selbstbewusstseins zu treten. Besonders die Überwindung des kindlichen Bewusstseins scheint sich kaum mit der Idealisierung der naturhaften Existenz zu verbinden. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Vielversprechend erscheint es, eine Unterscheidung einzufügen, die schon an Stepelevichs Interpretation anschließen kann. Auch wenn Stepelevich es nicht in Form einer These herausstellt, wird in seinem Aufsatz deutlich, dass er die »Dialektik«, die er im »Menschenleben« aufzufinden glaubt, nicht als eine Dialektik des Selbst, sondern als eine Dialektik des Selbstbewusstseins versteht. Kind, Jüngling und Mann stehen darum nicht für ontologische Entwicklungsstufen, sondern für Entwicklungsstufen eines Bewusstseins (»consciousness«) oder einer Selbst- und Weltsicht (»view«). 52 Der Zielpunkt in Stirners Perfektionismus wäre dann nicht die dynamische Konstituierung eines Selbst, sondern nur das Gewinnen eines angemessenen Verhältnisses zu einem je gegebenen Selbst. Die Lösung ist weiterführend, insofern sie perfektionistische und antiperfektionistische Momente im Einzigen aufzunehmen vermag. Allerdings wirft sie wiederum neue Probleme auf. So wird zu fragen sein, mit welchem Sinn die Entwicklung des Selbstbewusstseins in dieser Interpretation noch als »dialektisch« verstanden werden kann. Denn insofern das Selbst des »Mannes« 50 51 52

EE 370. EE 370. Vgl. Stepelevich 2006, 174.

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ein einförmiges, also nicht-dialektisches Selbst zu sein scheint, kann auch das Selbstbewusstsein dieses Selbst kaum ein mehrteiliges Bewusstsein sein und darum auch kaum frühere Bewusstseinsformen als Momente seiner selbst integrieren. Es scheint daher vielmehr, dass Stirners »Mann« zu seinem Selbst in ein Verhältnis tritt, das mit einer Formulierung, die Andreas Arndt zur Charakterisierung der Philosophie Feuerbachs und Kierkegaards gewählt hat, nicht als ein Verhältnis der »vermittelten Unmittelbarkeit«, sondern nur ein Verhältnis der »neuen« oder »zweiten Unmittelbarkeit« bezeichnet werden muss. 53 Das Selbstbewusstsein des »Mannes« würde dann zwar zeitlich ein späteres sein und die zeitlich früheren des Kindes und des Jünglings überwinden, es kann aber für Stirner strukturell dennoch nur den Charakter eines unmittelbaren Selbstverhältnisses haben. 54 Schaut man vor dem Hintergrund dieser Überlegung nochmals auf das »Menschenleben«, so scheint es nun, dass Stirner hier eine dialektische Bewegung nur antäuscht. Der Dreischritt von Kind, Jüngling und Mann suggeriert, besonders im Kontext der durch hegelianische Figuren geprägten Philosophie der Junghegelianer, eine dialektische Bewegung, aber ein Dreischritt allein macht noch keine Dialektik. Insofern das Merkmal der eine Mehrzahl von Momenten integrierenden Totalität fehlt, ist Stirners Mann nicht dialektisch. 55 Darum ist es auch nicht fernliegend, wenn in der Literatur das »Menschenleben« und die weiteren Entwicklungserzählungen im Einzigen als eine ironische Parodie auf hegelianische Figuren gelesen werden. 56 Die vorgeschlagene Interpretation des »Menschenlebens« als eines Springens in eine »spätere Unmittelbarkeit« ist zwar einer dialektischen Interpretation des Textes vorzuziehen, ist aber auch nicht unproblematisch. Die Interpretation scheint vorauszusetzen, dass Stirner ein je gegebenes und damit letztlich statisches Sein des Selbst von seinem dynamischen, biographisch erworbenen Selbstverhältnis zu trennen beabsichtigt. Um dies zu tun, scheint Stirner aber nun eine ontologisch recht voraussetzungsvolle Theorie von einem substanziellen Selbst zu benötigen. Das eine solche Theorie plausibel vertreten werden kann, soll hier nicht völlig ausgeschlossen werden, allerdings scheint offensichtlich, dass Stirner im Einzigen keine theoretischen Anstrengungen in diese Richtung unternimmt. Wie ist dieser Irritation zu begegnen? Tatsächlich scheint es einen vielversprechenderen Weg zu geben, den Widerspruch zwischen Perfektionismus und Antiperfektionismus im Einzigen aufzulösen, ohne 53 54

55 56

Vgl. Arndt 2013, 70 ff. So auch Kast 2016a, 188, der das Begreifen meiner als »Einzigen« als den Zielpunkt der stirnerschen Philosophie benennt, diesen aber außerhalb jedes dialektischen Prozesses verortet. Zu diesem Wesensmerkmal der Dialektik vgl. Röd 1986, 13. S.o. Anmerkung 40.

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das Sein des Selbst von seinem Selbstverhältnis zu trennen. Dieser Weg beruht auf einer praxistheoretischen Interpretation des Einzigen, der zufolge Personalität nach Stirner zwar auf der einen Seite je gegeben ist, auf der anderen Seite aber dennoch nicht substantialistisch, sondern dynamisch zu denken ist. Diese Interpretation wollen wir im Folgenden plausibel zu machen versuchen. 3. Entfremdung und Aneignung Ich haben in den vorangegangenen Abschnitten zu zeigen versucht, dass Stirners Rede vom »Einzigen« als eine Theorie der Personalität verstanden werden kann. In Abgrenzung zu dem zeitgenössischen Ansatz Robert Spaemanns habe ich dann ein charakteristisches Merkmal dieser Theorie herausgearbeitet: Stirners theoretisches Interesse am Scheitern der Personalität in erster Person. Die Leitfrage des Einzigen besteht darin, wie das Ich sich selbst als Einzigen begreifen lernt, d. h. als ein sich jeder Bestimmung durch einen Klassenbegriff – vor allem der Bestimmung durch den von Feuerbach eingebrachten Klassenbegriff »Mensch« – sich entziehender Akteur. Damit verbindet Stirner eine Emphase der Rückwendung auf das je Vorfindliche, Gegebene. Stirners Interesse an dem Scheitern der Personalität in erster Person wurde oben in Abgrenzung zu dem letztlich an der Frage nach der Geltung und Anerkennung von Personrechten ausgerichteten Entwurf Spaemanns als dessen charakteristischer Zug vorgestellt. Allerdings ist dieser Fragehorizont im zeitgenössischen Kontext durchaus nicht originell. Denn nichts anderes als diese Fragestellung verbirgt sich letztlich hinter dem begrifflichen Nexus der Entfremdung als Selbstentfremdung. Die verschiedenen Theorien der Entfremdung kreisen um die Frage, wie das Selbst sich als Selbst bewusstwerden kann bzw. wie es seine Praxisvollzüge mit einem Bewusstsein seiner selbst als Selbst durchbilden kann. Wenn wir nun Stirners Theorie der Person mithilfe der Entfremdungsfigur reformulieren wollen, legt dieser Versuch ein entscheidendes Problem dieser Theorie offen. Im dritten Kapitel dieser Untersuchung habe ich argumentiert, dass eine Entfremdungstheorie strukturell eine Wahl zwischen zwei alternativen Modellen treffen muss. 57 Entweder müssen sie als dialektische Theorien das Selbst als eine Totalität von Selbst und Anderem denken. Nach diesem Modell besteht Entfremdung nicht bereits in der Entäußerung des Selbst, sondern in der verhinderten Wiederaneignung des Entäußerten. Oder sie müssen als nichtdialektische Theorien das Selbst als ein monistisch gegebenes Selbst voraussetzen. Damit fiele die Unterscheidung von Entäußerung und Entfremdung aus. 57

S.o. Kapitel III, Abschnitt 1.

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Schauen wir auf das seitdem Erarbeitete zurück, schauen wir auf die Kritik Stirners an Bauer im Aufsatz über Kunst und Religion, 58 auf seine Kritik an Feuerbachs Gattungsbegriff im Einzigen 59 und dann auch auf das über seine Theorie der Person erschlossene, dann wird immer deutlicher, dass Stirner als Vertreter eines nicht-dialektischen Modells der Entfremdung zu lesen ist. Stirner fordert, das Selbst als ein Je-Gegebenes vorzustellen, auch wenn es biographisch als solches bisweilen erst später erschlossen wird. 60 Dies nun bringt Stirner in die Schusslinie desjenigen Einwands, der jeder nicht-dialektischen Entfremdungstheorie entgegentreten muss. Gemeint ist der Vorwurf des Substanzialismus, also des Vorwurfes, das Selbst sei für diese Modelle eine übergeschichtliche, übernatürliche Entität, deren Annahme für diese Theorien unabdingbar ist, die aber nur über eine metaphysische, beinahe fideistische, weil unbegründete Setzung garantiert werden kann. Um diesen Problemkomplex genauer zu verstehen, hilft ein Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Entfremdung«, den Rahel Jaeggi in ihrer gleichnamigen Monografie geboten hat. 61 Bevor Jaeggi zu einer eigenen Rekonstruktion des Entfremdungsgedankens vorstößt, untersucht sie dort die innere »Problematik« der Entfremdungskritik und kommt dabei unter anderem auf den »in der Entfremdungsfigur liegende[n] Essenzialismus« 62 zu sprechen. Entfremdungskritik, so Jaeggi, scheint stets von einem naturhaft gegebenen Wesen des Menschen auszugehen, von welchem der entfremdete Mensch dann entfremdet ist. Jaeggi schreibt: »Wo etwas ent-fremdet oder wo man sich von etwas entfremdet, liegt also die Annahme nahe, dass da ein wesenhaft ›Eigenes‹ ist, von dem man sich entfremdet.« 63 Da dieses »Eigene« eine »metaphysische« Setzung zu sein scheint, scheint sich die Entfremdungskritik damit hohe theoretische Kosten aufzuladen und scheint mit der normativen, in der Rede von einer »Entfremdung« des Menschen von seiner wahren Natur mitgesetzten Vorstellung eines »objektiv Guten« zudem eine »paternalistische« Ethik nahezulegen. 64 Jaeggi bezieht den genannten Einwand auf die Entfremdung als theoretische Denkfigur, ohne dabei auf spezifische Vertreter einer Entfremdungstheorie einzugehen. Kaum überraschend ist aber nun, dass Stirners Position tatsächlich eine so oder ähnlich gelagerte Kritik heraufbeschworen hat. So hat schon Bruno Bauer seinem Gesprächspartner vorgehalten, dieser habe in seiner Figur 58 59 60 61 62 63 64

S.o. Kapitel III, Abschnitt 4. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 4. S.o. Abschnitt 2. Vgl. Jaeggi 2016. Jaeggi 2016, 51. Jaeggi 2016, 52. Vgl. Jaeggi 2016, 57.

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des »Einzigen« eine Substanzmetaphysik erneuert, indem er das »punktuelle Ich« als gegeben gesetzt hat. 65 Dieser Substantialismusvorwurf, der auch in der neueren Debatte wiederkehrt, 66 steht auch in einem Zusammenklang mit der Polemik, Stirner verankere durch seine Subjekttheorie ein krypto-religiöses Element in seiner religionskritisch sich gebärdenden Theorie. Dieses Moment weist wiederum auf die zeitgenössische Rezeption zurück, 67 setzt sich aber in der späteren Rezeption fort. So spricht Sidney Hook von Stirners »Kult des Ego«, 68 Michael Maier nennt den Einzigen einen »Innerweltlichen Gottersatz« 69 und Georges Minois schreibt, Stirner sei von Feuerbachs »homo homini deus« bloß zum »ego mihi deus« vorgestoßen. 70 Selbst wenn man von der polemischen Überzeichnung dieser Formulierungen absieht, die in der Rezeption beinahe einen Gemeinplatz zu repräsentieren scheinen, scheint in ihnen dennoch eine bedenkenswerte Anfrage ausgesprochen, nämlich die Anfrage an den ontologischen Status des Einzigen. Dieser scheint sich durch seine Stellung innerhalb der Entfremdungstheorie Stirners fast zwangsläufig als substanzielle Entität, also als ein übergeschichtlich und unveränderlich Gegebenes darzustellen. Die Annahme eines substanziellen »Kerns« oder »Wesens« der Person nun ist anthropologisch keineswegs von vornherein eine uneinnehmbare Position. Auch käme Stirner, müsste man ihn so verstehen, kaum in Konsistenzprobleme, denn anders als andere, mehr zum Positivismus tendierende Positionen ist seine Religionskritik ja gerade keine Metaphysikkritik und so könnte sich Stirner durchaus eine anspruchsvolle Metaphysik des Subjekts erlauben, ohne sich damit in Selbstwidersprüche zu verstricken. Dennoch spricht einiges dafür, dass Stirners Theorie der Person und damit auch seine Entfremdungstheorie nicht substantialistisch verstanden werden sollte. Um diese Vermutung zu schärfen, soll zunächst noch einmal ein Umweg über die Argumentation bei Jaeggi gegangen werden. Jaeggi weist in ihrer Auseinandersetzung mit dem Substantialismusvorwurf gegen die Entfremdungskritik auf die Subjektkritik Michel Foucaults hin und nimmt dessen Gedanken auf, Subjektivität sei nichts je substanziell Gegebenes, sondern werde erst in Vollzügen der »Subjektivierung« konstituiert. 71 Angesichts dieser Einsicht in die Prozessgebundenheit von Strukturen der Subjektivi65

66 67

68 69 70 71

Vgl. Bauer 1845, 58. Ausführlich analysiert diesen Vorwurf Moggach 2010; für eine Zusammenschau ähnlicher Argumente in der zeitgenössischen Rezeption vgl. Quante 2015a. Vgl. Schneiders 1972, 129 ff; Schäfer 2014, 14 f. Vgl. Feuerbach 1845, 433, der Stirners abstraktes Ich als »unverdauter Rest des alten, christlichen Supranaturalismus« bezeichnet. Hook 1950, 171. Maier 2016, 247. Minois 2000, 232. Vgl. Jaeggi 2016, 56 f.

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tät findet Jaeggi nun zu ihrer eigenen, kritischen Reformulierung des Entfremdungsgedankens, welche den drohenden Substanzialismus zu vermeiden versucht. Dieser beruht nun nicht mehr auf einem substanziell gegebenen Selbst, die Abweichung von welchem dann als Entfremdung zu verstehen wäre. Entfremdet bzw. nicht entfremdet zu sein beschreibt vielmehr eine Qualität menschlicher Vollzüge, eine Qualität von Praxisformen. Inhaltlich bestimmt Jaeggi diese Qualität mithilfe des Begriffs der »Aneignung«. Nicht entfremdet zu sein beschreibt ein Leben in Vollzügen, in welchen ich mir die Welt »aneigne«, Entfremdung dagegen die »Beeinträchtigung von Aneignungsvollzügen«. 72 Um Jaeggis Rekonstruktion des Entfremdungsbegriffs mit der Position Stirners in ein Verhältnis zu setzen, gilt es zunächst, sie auf die von mir vorgeschlagene Unterscheidung von dialektischen und nicht-dialektischen Theorien der Entfremdung umzulegen. 73 Zunächst scheint es, dass nicht-dialektische Theorien zu dem substanzontologischen Verständnis tendieren, das Jaeggi zu überwinden versucht. In diesen Theorien läge das Selbst als eine monistisch gegebene Substanz vor, jede dynamische Entwicklung des Selbst müsste als Abweichung von dem Gegebenen und somit als Entfremdung erscheinen. Dialektische Theorien dagegen scheinen durch ihre dynamische Konstruktion des Selbst in Prozessen von Entäußerung und Wiederaneignung eine Nähe zu dem praxistheoretischen Verständnis zu haben, das Jaeggi vorschlägt. Dennoch scheinen bei einem genaueren Blick auch nicht-dialektische Theorien in Jaeggis Sinne praxistheoretisch reformulierbar. 74 Denn auch ein monistisch-einförmig gefasstes Selbst kann nicht nur als Substanz, sondern auch als Vollzug gedacht werden. Der Dissens zwischen dialektischen und nichtdialektischen Theorien könnte dann auch nach einer praxistheoretischen Reformulierung der Entfremdungstheorie fortbestehen als ein Dissens darüber, wie die Vollzüge, die das Selbst konstituieren, zu bestimmen sind. Die Leitfrage der Entfremdungstheorie wäre dann folgendermaßen umzuformulieren: In welchen Vollzügen erleben wir uns kongruent als »wir-selbst«, in welchen erleben wir uns als »nicht-wir-selbst«, als entfremdet. Ihre je unterschiedliche Antwort auf diese Frage wäre es dann, worin dialektische und nicht-dialektische Theorien differieren. 72 73 74

Vgl. Jaeggi 2016, 62 f. Zu diesem Vorschlag s. o. Kapitel III, Abschnitt 1. In ihren Ausführungen über die beiden »Linien« bzw. »Varianten« der Entfremdungskritik (die Hegel-Marx-Linie und die Kierkegaard-Heidegger-Linie), die meiner Unterscheidung teilweise entspricht (s. o. Kapitel III, Anmerkung 17), betont sie, dass Vertreter beider Varianten das Motiv der »Aneignung« gebrauchen, und impliziert, dass sie auch beide über dieses Modell zu verstehen sind, wenn auch Jaeggi selbst eine klare Sympathie für die HegelMarx-Linie erkennen lässt, vgl. Jaeggi 2016, 29 f. Zur Figur der »Aneignung« bei Kierkegaard vgl. auch Ringleben 1983.

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Entfremdung und Aneignung

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Dialektische Theorien der Entfremdung gingen dann davon aus, dass Vollzüge des Selbstseins bestimmt sind durch ein Wechselspiel von Entäußerungen und Wiederaneignungen. Damit wäre das Selbst in einem dyadischen, zweiphasigen Vollzug bestimmt – ein Vollzug, den wir in Ansätzen bei Feuerbach beobachten konnten, wo das liebende Selbst sich in die Intersubjektivität entäußert, diese aber dann als Moment in sein Selbst aufnimmt. 75 Was aber könnte es heißen, wenn eine Theorie das Selbst als nicht-dialektischen Vollzug denken wollte? Offenbar müsste sie es monistisch, d. h. in einem und ungeteilten Vollzug bestimmen wollen. Meine These lautet, dass es genau dies ist, was Stirner im Einzigen zu tun beabsichtigt. Stirner bietet im Einzigen eine nichtdialektische Entfremdungstheorie und er bietet sie nicht in einer substanzontologischen, sondern in einer praxistheoretischen Fassung. Dazu lässt er die Dyade von Entäußerung und Wiederaneignung ausfallen und bestimmt den Vollzug des Selbst einseitig und gleichsam monistisch über die Struktur der Aneignung. Wesentliche Bestandteile dieser These sowie ihre Verankerung in Stirners Theoriesprache und auch ihre Verschränkung mit seiner Religionskritik sind mit Stirners Begriff des »Eigentums« verknüpft, der im folgenden, siebten Kapitel intensiv in den Blick genommen wird. An dieser Stelle möchte ich zunächst nur vorbereitend zu zeigen versuchen, dass es sich bei Stirners Theorie der Person tatsächlich um eine praxistheoretische und nicht um eine substanzontologische Konzeption handelt. Im letzten Abschnitt habe ich auf die Bedeutung der Unmittelbarkeit für Stirners Einzigen hingewiesen. Der Einzige ist in seinem Sein nach Stirner als je gegeben und in keinem Fall prozessual vermittelt zu betrachten. Dies hat, naheliegenderweise, den Verdacht geweckt, Stirner biete eine substanzontologische Subjekttheorie. Der Verdacht, dass es sich beim Einzigen um eine substanzontologische Kategoire handelt, wurde allerdings bereits überzeugend in Frage gestellt. Einen entscheidenden Beitrag liefert hier die Analyse Kathy Fergusons. Ferguson weist darauf hin, dass Stirners Selbst nicht als »substanzielles Ding« (»substantive thing«), sondern »mehr als Prozess« (»rather a process«) verstanden werden muss. 76 Welchen Beleg gibt Ferguson für ihre weitreichende These? Ferguson argumentiert vordergründig mit der Polemik Stirners gegen Feuerbachs »Wesen« 77 und leistet damit nur wenig zur Begründung ihrer These, da ja nicht das Verhältnis von Selbst und seinem Wesen oder seiner 75 76

77

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 3; Abschnitt 5. Vgl. Ferguson 1982, 279. Saul Newman, der Fergusons These aufnimmt, sieht Stirners Subjekttheorie als eine Vorwegnahme »post-strukturalistischen« Denkens, vgl. Newman 2011, 3. Zum Hinweis auf den dynamischen, »unsteten« Charakter des Selbst bei Stirner vgl. auch schon Eßbach 1985, 11–13. Vgl. Ferguson 1982, 279 f.

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Substanz zur Debatte steht, sondern die Frage nach dem individuellen Selbst als einer Struktur, welche selbst die Merkmale eines substanziellen Seins trägt. Allerdings weist Ferguson zugleich auf eine für das Verständnis des Einzigen entscheidende Passage hin. 78 Dort schreibt Stirner: Ich setze Mich nicht voraus, weil Ich Mich jeden Augenblick überhaupt erst setze oder schaffe, und nur dadurch Ich bin, dass Ich nicht vorausgesetzt, sondern gesetzt bin, und wiederum nur in dem Moment gesetzt, wo Ich Mich setze, d. h. Ich bin Schöpfer und Geschöpf in Einem. 79

Was geschieht an dieser Stelle? Stirner greift hier sein in anderen Passagen formuliertes Beharren auf die Je-Gegebenheit des Ichs und korrigiert es in einer charakteristischen Weise. Zwar bleibt das Selbst sich selbst je unmittelbar zugänglich, es wird nicht Zielpunkt einer dialektischen oder perfektionistischen Entwicklungsbewegung. Zugleich aber präzisiert hier Stirner, wie das Ich je zugänglich ist. Aus der zitierten Passage wird deutlich, dass für Stirner das Ich nicht als statisch vorausgesetztes, sondern als je neu gesetztes gegeben ist. Damit wird das Ich tatsächlich zu einer Funktion eines Vollzugs, einer Praxis, in welcher es sich realisiert, oder besser: welche es bedeutet. Das Ich bzw. der Einzige wird damit zum Inbegriff einer Praxisform und damit ein dynamisches Ich. Diese dynamische, zeitliche und damit auch endliche Dimension des stirnerschen Ichs ist es, auf die Ferguson mit Recht hinweist. 80 Wenn diese Analyse stimmt, dann stellt sich sofort die nachfolgende Frage, wie diese Praxisform, welche für Stirner die Rede vom Sein als Selbst ausfüllt, qualitativ zu bestimmen ist. Um uns dieser Frage zu nähern, lohnt eine Erinnerung an Karl Löwiths Interpretation, die wir im zweiten Kapitel eingehender kennengelernt haben. 81 Löwith hat in seiner kurzen, aber hellsichtigen Passage in Von Hegel zu Nietzsche über Stirners Begriff des »Egoisten« folgende Definition gegeben: »Er [= der Egoist] ist eine formale Bezeichnung für die Möglichkeiten der je eigensten Aneignung, seiner selbst wie der Welt«. 82 Würde man Stirners Kategorie des Egoismus nicht kennen oder würde man unterstellen, dass Löwith sie nicht kennt, könnte man annehmen, dass er hier nur eine als »Egoismus« bezeichnete ethische Haltung charakterisiert. Liest man die Formulierung aber in ihrem Kontext, dann wird deutlich, dass Löwith die universale und fundamentale Struktur der Subjektivität beschreibt, die Stirner 78 79 80

81 82

Vgl. Ferguson 1982, 279. EE 159. Vgl. Ferguson 1982, 281; zur »Sterblichkeit« des Ichs bei Stirner vgl. auch Seibert 1997, 47; Hansel 2013, 145. S.o. Kapitel II, Abschnitt 4. Löwith 1950, 446.

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Entfremdung und Aneignung

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tatsächlich mit der Kategorie des Egoismus verbindet: Stirners »Ich« – so ist Löwiths thesenhafte Bemerkung zu explizieren – verweist auf keine substanziell gegebene Entität, sondern auf eine Praxisform, und zwar genauer auf eine Praxis der Aneignung. 83 Wenn Löwiths Beobachtung stimmt, würde Stirners Theorie des Selbst überraschend eng anschließen an die Konzeption, die Jaeggi vorgelegt hat. Entfremdung bestünde dann, für Stirner ebenso wie für Jaeggi, nicht in einem Fortgerissen-Werden von einem substanziellen Selbst, sondern in einer Störung desjenigen Vollzugs, welches das Selbstsein konstituiert. Während für Bauer und für Feuerbach Vollzüge der Entäußerung für das Selbstsein konstitutiv sind – bei Bauer Vollzüge des künstlerischen Schaffens, bei Feuerbach Vollzüge der Intersubjektivität – und eine Störung erst dort vorliegt, wo die Vollzüge der Entäußerung nicht durch Vollzüge der Wiederaneignung begleitet werden, liegt für Stirner in jedem Vollzug von Entäußerung bereits eine Störung des Selbstseins vor. Von hier her kann nun auch Stirners Polemik gegen perfektionistische Figuren der Subjektivität genauer verstanden werden. Stirners Eintreten für das je gegebene Sein des Selbst müsste nicht als Insistieren auf ein statisches, substanzielles Selbst in Opposition gegen ein dynamisches Selbst gelesen werden, sondern könnte verstanden werden als eine Positionierung innerhalb einer Debatte darum, ob die Praxis, die ein SelbstSein konstituiert, als mehrteilig, dialektisch vermittelnd oder als einteilig, unmittelbar verstanden werden soll. Wir haben bis hierhin einiges über Stirners Einzigen erarbeitet, vieles aber mehr thesenhaft und fragend angedeutet. Am Ende dieses Abschnittes steht der Verdacht, dass der Begriff der Aneignung für die Struktur der Personalität bei Stirner konstitutive Bedeutung haben könnte. In der Replik auf seine Rezensenten findet sich eine Passage, die diesen Verdacht stärkt. Stirner schreibt dort: Um Dich dreht sich Alles, Du bist die Mitte der Außenwelt und die Mitte der Gedankenwelt. Deine Welt reicht so weit, als Dein Fassungsvermögen reicht, und was Du umfassest, das ist durch das bloße Fassen Dein eigen. Du Einziger bist »Einziger« nur zusammen mit »Deinem Eigenthum.« 84

Die starke Formulierung, mit der diese kurze Passage einigermaßen unvermittelt schließt und die auch nicht weiter ausgeführt wird, ist durch die Setzung der Anführungszeichen deutlich als Verweis auf den Titel zu erkennen, den Stirner seinem Hauptwerk gegeben hat: Der Einzige und sein Eigentum. Dabei scheint die Formulierung diesen Titel in einer spezifischen Weise zu interpre83 84

Vgl. auch Schneiders 1972, 133. KS 354.

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Namen nennen mich nicht ! Stirners Theorie der Person

tieren: Das »Eigentum« scheint mit dem Einzigen eine strukturelle Einheit zu bilden, als konstitutives Moment desselben. Damit scheint das Eigentum hier, will man es als Korrelat von Praktiken der Aneignung verstehen, genau die Stellung einzunehmen, an der wir sie vermutet haben. Entfremdung ist damit nach Stirner nicht die Trennung von einem substanzontologisch zu fassenden Selbst zu verstehen, sondern als eine Störung von Aneignungspraktiken. 85 Die Analyse dieser in Stirners Hauptwerk zentralen Kategorie verspricht damit der Schlüssel zu seiner Theorie gelingender Personalität zu sein. Dass sie zugleich der Schlüssel zum vollständigen Verständnis seiner Religionskritik ist, wird das folgende, siebte Kapitel zu zeigen versuchen.

85

Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Reto Luzius Fetz. Nach Fetz ordnet Stirner – in antizipierender Umkehrung der berühmte Figur Erich Fromms – das »Haben« dem »Sein« in seiner Bedeutung als maßgebliche Determinante menschlicher Existenz vor, vgl. Fetz 2004, 308 f.

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VII. Verdaue die Hostie und Du bist sie los! Das Heilige und das Eigentum

I

m vorangegangenen, sechsten Kapitel habe ich Stirners Konzeption des »Einzigen« untersucht. Dabei habe ich die These vertreten, dass Stirner mit dieser Konzeption eine Theorie der Person bietet, welche aber in charakteristischer Weise nicht an der Zweite-Person-Perspektive (d. h. an der Frage »Wie behandle ich den Anderen als Person bzw. wie begegne ich dem Anderen als einem Du?«) sondern an der Erste-Person-Perspektive (d. h. an der Frage: »Wie behandle ich mich selbst als Person und wie begegne ich der Welt und dem Anderen als ein Ich?«) interessiert ist. Dieser Fragehorizont impliziert die Möglichkeit, dass Personalität sowohl gelingen als auch scheitern kann. Das und wie Stirner tatsächlich in dieser Polarität denkt, habe ich in einer Analyse des von Stirner an den Beginn seines Hauptwerkes gestellten Abschnitts »Ein Menschenleben« gezeigt. 1 Dabei hat sich gezeigt, dass Stirners Theorie der Person in gewissem Sinne als »perfektionistischer« Entwurf verstanden werden kann, insofern die Personalität zwar als je gegeben betrachtet wird, das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst als Person aber biographisch durchaus spät erlangt werden kann. Schließlich habe ich die bis dahin in Ansätzen aufgeklärte Konzeption der gelingenden Personalität entfremdungstheoretisch reformuliert. 2 Dabei ging es vor allem darum, ein Problemfeld aufzuzeigen, auf das Rahel Jaeggi hingewiesen hat: Entfremdungstheorien können nach Jaeggi leicht mit hohen ontologischen Kosten verbunden werden. Dies lässt sich vermeiden, wenn Entfremdungsstrukturen nicht substanzontologisch, sondern praxistheoretisch gedacht werden. Dabei wäre das Andere der Entfremdung kein so oder so qualifiziertes Verhältnis zu einem substanziell verstandenen Selbst, sondern eine Qualität von Lebensvollzügen, in denen sich ein Selbst konstituiert. Sollte diese praxistheoretische Deutung der Entfremdungstheorie Stirners tragfähig sein, würde sich die Bedeutung von Stirners Suche nach einem adäquaten Selbstverhältnis, wie sie im »Menschenleben« paradigmatisch erzählt wird, aber noch einmal verschärfen. Denn wenn sich das Selbst erst in seinen Praxisvollzügen konstituiert, scheint die Unterscheidung von gegebenem Selbst und erworbenem Selbstverhältnis, die wir hypothesenhaft eingeführt

1 2

S.o. Kapitel VI, Abschnitt 2. S.o. Kapitel VI, Abschnitt 3.

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Verdaue die Hostie und Du bist sie los! Das Heilige und das Eigentum

haben, wieder hinfällig. Zwar wäre Personalität dort, wo sie gegeben ist, unmittelbar gegeben, allerdings wäre sie keinesfalls überall gegeben. Wenn die Vollzüge, die mein Selbstsein konstituieren, gelingen, wäre es in diesen unmittelbar gegeben, wenn sie aber scheitern, wäre mein Selbst annihiliert. Mit den hier noch einmal knapp resümierten Überlegungen habe ich mich von dem originären Gegenstand meiner Untersuchung, von der Religionskritik, scheinbar weit entfernt. Dies mag zunächst tatsächlich der Fall sein, spielte der Religionsbegriff im vorangegangenen Kapitel vordergründig keine Rolle. Der damit beschrittene Umweg dient aber als notwendige Vorbereitung, um in dem nun folgenden Kapitel in das Zentrum der Religionskritik Stirners vorzustoßen. Dieses Zentrum ist der Widerspruch des »Eigentums« und des »Heiligen«. Bereits zum Ende des letzten Kapitels wurde die These angedeutet, dass es sich bei der titelgebenden Dyade »Der Einzige und sein Eigentum« nicht um eine additive Verbindung zweier Themen handelt, sondern um eine enge Verbindung zweier Kategorien, die sich wechselseitig interpretieren. Erst vom Begriff des Eigentums ist die Pointe in Stirners Theorie der Person erkennbar, denn das Eigentumsverhältnis ist bei Stirner als dasjenige Moment gedacht, das menschliche Personalität konstituiert, ja in welchem der Begriff der Person bzw. des Einzigen erst seinen Bedeutungsgehalt erhält. Wie dies zu verstehen ist, wird sich im Laufe des Kapitels zu erweisen haben. In der Verwendung der Kategorie des Eigentums knüpft Stirner, wie wir sehen werden, an die philosophische Begriffsgeschichte an, setzt aber auch starke eigenständige Akzente. Deutlichstes Merkmal dieser Neufassung ist eine gewisse »Totalisierung« der Eigentumsrelation. 3 Hatte die Tradition doch zumeist konkrete, reale Eigentumsverhältnisse vor Augen, scheint bei Stirner, der von der »Welt« als von seinem Eigentum sprechen kann, etwas grundlegend Anderes im Blick. Stirner schreibt: »Und nun nehme Ich die Welt als das, was sie Mir ist, als die Meinige, als Mein Eigentum: Ich beziehe alles auf Mich.« 4 Das Eigentum, so werden wir sehen, ist bei Stirner nicht ein rechtliches Problem neben anderen, sondern es wird bei ihm zu einem Inbegriff des personalen Weltbezugs und damit, wie angekündigt, zum Inbegriff der Personalität. Wenn das so ist, so darf man erwarten, dass der Eigentumsbegriff auch für Stirners Religionsdeutung zu einem Dreh- und Angelpunkt wird, und tatsächlich führt uns diese Thematik zu dem Hauptargument seiner Religionskritik. Dieses Argument beruht auf dem Versuch, das Feld des Religiösen vollständig und grundlegend über den Begriff des »Heiligen« zu fassen. Somit ist Religionskritik für Stirner nicht länger Kritik der Metaphysik oder Kritik des The3 4

S.u. Abschnitt 2. EE 24.

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Freiheit und Eigenheit

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ismus, sondern Kritik des Heiligen. 5 Den Begriff des Heiligen versteht Stirner erkennbar nicht substanziell, sondern formal oder besser noch: praxistheoretisch. Dabei bestimmt Stirner das Heilige ferner als direkten Gegenbegriff zum Eigentum. Bevor ich mich den Begriffen des Eigentums und des Heiligens bei Stirner zuwende, möchte ich einsetzen mit einem weiteren kurzen Umweg, und zwar mit einem Umweg über den Freiheitsbegriff. Der Grund dafür ist, dass Stirner seine Konzeption des Eigentums vor dem Horizont des zeitgenössischen Freiheitsdiskurses entwickelt und sie darin als Alternative zum Freiheitsbegriff einbringt, womit Stirner auch eigene Konzeptionen aus den frühen Korrespondenzen überwindet. Mit dieser Entwicklung verbunden ist auch eine parallele Entwicklung des Religionsbegriffes, wobei Religion zunächst noch als Abhängigkeitsverhältnis und später als Heiligkeitsverhältnis bestimmt wird (1). Anschließend möchte ich Stirners Begriff des Eigentums in seiner charakteristischen Fassung untersuchen und dabei vor allem die Akzentverschiebung hervorheben, die er gegenüber dem Eigentumsbegriff vornimmt, wie er von Hegel in seiner Rechtsphilosophie bestimmt worden ist (2). Dabei kann der Eigentumsbegriff, den Stirner formuliert, in gewisser Weise als ein gewaltsames Abbrechen des dialektischen Weges verstanden werden, den Hegel dort vorgezeichnet hat. Da das Ergebnis dieses Abbrechens anthropologisch und ethisch enorm weitreichend ist und den Verdacht einer psychopathischen oder soziopathischen Verfasstheit provoziert, soll in einem dritten Abschnitt in einer »Pathologie« Stirners noch einmal der Frage nach der Lebenstauglichkeit dieser radikalen Philosophie nachgegangen werden (3). Schließlich soll der Zielpunkt des Kapitels in der Übertragung der bis dahin erschlossenen Konzeption auf die Religionskritik bestehen. Dabei wird das Heilige bzw. das Heiligkeitsverhältnis als universelle religionsphilosophische Kategorie vorgestellt. Umgekehrt wird die Bewegung der »Entheiligung« als das wesentliche Moment einer religionskritischen Ethik erschlossen werden, wie Stirner sie versteht (4). 1. Freiheit und Eigenheit Wenn eine skeptische bis warnende Rezeption Max Stirners sich oft auf seine Apotheose des »Egoismus« bezieht, 6 so ist es in den würdigenden Kommentaren nicht selten sein unbedingtes Eintreten für die »Freiheit«, das hervorgehoben wird. 7 Geert-Lueke Lueken fasst diese Tendenz der Rezeption treffend 5 6 7

Vgl. Eßbach 2010a, 54 ff; 2014, 718 f; 2017, 40 f; vgl. auch Newman 2019a, 44 ff. S.o. Kapitel V, Abschnitt 2. Vgl. nur Loick 2017, 110 f, Zimmer 2019, 191.

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zusammen, wenn er schreibt, der Einzige und sein Eigentum werde vielfach als »Bibel der Freiheit« gehandelt. 8 Im Horizont dieser Lesart steht auch eine häufig wiederkehrende Semantik in der Charakterisierung der im Einzigen entwickelten Religionskritik. Stirner, heißt es dann, verstünde die Religion als Form der tiefsten »Unfreiheit« und »Abhängigkeit« und er bekämpfe die Religion im Namen der »Freiheit« und der »Autonomie«. 9 All dies beschreibt Stirners denkerisches Anliegen sicher nicht völlig unzutreffend, ein genauerer Blick auf Stirners Texte zeigt aber, dass sein Verhältnis zum Begriff der »Freiheit« deutlich ambivalenter ist, als man bei einem ersten flüchtigen Lesen vermuten könnte. Um diese Ambivalenz deutlich zu machen, ist ein kurzer Hinweis auf den historischen Kontext hilfreich. Die politische und literarische Arbeit der Junghegelianer erscheint für den rückblickenden Beobachter beinahe zwangsläufig als Kampf um »Freiheit«. Demgegenüber muss aber begriffsgeschichtlich daran erinnert werden, dass wir uns in den 1840er Jahren befinden und dass zu dieser Zeit der Freiheitsbegriff bereits seit vielen Jahrzehnten ein philosophischer und politischer Leitbegriff gewesen ist. In den Positionen der klassischen deutschen Philosophie von Kant über Fichte zu Hegel war dieser Begriff in unterschiedlicher Weise ins Zentrum des philosophischen Fragens gerückt. 10 Der »Liberalismus« als politische Bewegung, die sich konstitutiv mit der Freiheitssemantik verknüpfte, war seit der französischen Revolution mehr und mehr zur bestimmenden Oppositionsmacht in Deutschland geworden und scheint dabei zeitweise geradezu synonym mit einer progressiven politischen Haltung gewesen zu sein. 11 In den 1840er Jahren muss der »Liberalismus« dann aber gegen seinen Willen die Stellung einer integrierenden Oppositionsmacht räumen und wird zu einer Mittelpartei, die dann zunehmend von den progressiveren, »radikaleren« Kräften als unzureichend kritisiert werden konnte. 12 Musterhaft für diese Absatzbewegung kann Arnold Ruges Forderung nach einer Selbstkritik des Liberalismus von 1843 gelten. Ruge löste sich darin von der Freiheit als zentrale politische Forderung und verschiebt den Fokus auf die Frage nach Demokratie und Mitbestimmung: Nicht bzw. nicht nur »Freiheit«, sondern »Souveränität« ist es, was ein »Volk« sich erkämpfen müsse, schreibt Ruge. 13 Ruges Text bietet einen Beleg für die von den progressiven Kräften der 1840er Jahre stark empfundene Notwendigkeit einer Überschreitung oder Ergänzung des Freiheitsdiskurses, wobei aber die Forderung nach Freiheit nicht 8 9 10 11 12 13

Vgl. Lueken 2008a, 25. Vgl. pointiert Strandberg 2017. Vgl. auch Quante 2015b, 208. Vgl. Spaemann 1972, 1091–1094. Vgl. Fenske 2020. Vgl. Nipperdey 1983, 385. Vgl. auch Grothe 2020. Vgl. Ruge 1843, 556; vgl. hierzu auch McLellan 1974, 35 f.

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Freiheit und Eigenheit

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gestrichen oder blank negiert, sondern weiterentwickelt, vertieft oder ergänzt werden soll. In diesem Kontext sind auch Stirners Beiträge zur Freiheitsthematik zu verstehen. Überblickt man Stirners kurze literarische Tätigkeit, so ist eine Entwicklung erkennbar von einem relativ ungebrochenen Freiheitspathos in den frühen Aufsätzen hin zu einer differenzierten und durchaus kritischen Beurteilung des Begriffs im Einzigen. Diese Entwicklung möchte ich im Folgenden skizzieren, möchte dabei aber nicht ihre politischen, sondern ihre religionsphilosophischen Implikationen in den Mittelpunkt stellen. Die veränderte Einschätzung über die Tragkraft des Freiheitsbegriffes, so werden wir sehen, hat spürbare Konsequenzen für die Gestalt, die Stirner seiner Religionskritik gibt. Während der frühe Stirner die »Religion« tatsächlich im Namen der Freiheit bekämpft, findet der Verfasser des Einzigen zu einem deutlich anderen Ansatz. Beginnen wir mit einem Blick auf die frühen literarischen Arbeiten Stirners. In der im Zusammenhang der Suche nach Entfremdungsfiguren in Stirners frühen Texten bereits zitierten Verpflichtung des Staatsbürgers zu irgendeinem Religionsbekenntnis heißt es über die »Freien«, also über diejenige Gruppierung, zu der sich Stirner zu dieser Zeit gerechnet haben mag: »Was wollen nun die ›Freien‹ [. . . ]? Die Antwort ist einfach: Sie wollen eben frei sein, frei von allem Glauben, aller Überlieferung und Autorität, weil diese unmenschlich sind.« 14 Die Annahme einer »Vernunftreligion« sei dabei nur ein kleiner Schritt zur geistigen Freiheit, denn in ihr sei die Kette »zwar zersprengt, aber noch nicht abgeworfen«. 15 Ein anderes Beispiel für Stirners Assoziation von Religion und Unfreiheit finden wir im ebenfalls bereits erwähnten Gegenwort. Darin ermahnt Stirner die Berliner Geistlichkeit, die zu einem regeren Gottesdienstbesuch aufgerufen hatte, nur eine Befreiung der Prediger von der Bindung an die kirchlichen Bekenntnisse könnte die Gottesdienste wieder füllen. Stirner schreibt: »Der Grundsatz der Lehrfreiheit sei ausgesprochen, und jeder freie Lehrer wird willige und unermüdliche Zuhörer in Menge um sich versammeln!« 16 Die beiden Beispiele illustrieren das ungebrochene Freiheitspathos, das Stirners frühe religionskritische und kirchenkritische Versuche durchpulst. Daneben finden sich aber auch schon dort einzelne Formulierungen, die auf einen Wechsel von der Freiheitssemantik zu einer Entfremdungssemantik hindeuten. 17 Diese neue Leitfigur tritt dann in dem schon eingehender bedachten Aufsatz über Kunst und Religion deutlich in den Mittelpunkt. Dort wurde, wie 14 15 16 17

VS 111. Vgl. VS 112. KS 30. S.o. Kapitel III, Abschnitt 4.

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ich im dritten Kapitel gezeigt habe, die Religion nach dem von Bruno Bauer entwickelten Modell systematisch als die Spaltung zwischen einem Selbst und seinem künstlerischen Produkt bestimmt. 18 Das Problem der Religion wird somit also streng entfremdungstheoretisch beschrieben. Die »Qual« des religiösen Bewusstseins besteht dabei in der Unfähigkeit des Bewusstseins, sein Objekt mit sich zu vereinigen und so dessen Andersheit aufzuheben. Durch diesen neuen, entfremdungstheoretischen Zugang wird allerdings die Freiheitsthematik nicht aus Stirners Religionskritik verdrängt, sondern vielmehr neu interpretiert. So schreibt Stirner in Kunst und Religion, das religiöse Selbst, das durch die Spaltung von seinem Produkt bestimmt ist, lebe in »Abhängigkeit«, 19 sei bestimmt durch eine »Ankettung« an sein Objekt. 20 Über die »Philosophie« als Überwinderin der Religion kann Stirner dann in seinem kurzen Schlussabschnitt schreiben, sie erst »atmet die Freiheit« 21 und kann dieses Wort durch die Hervorhebung noch einmal als den Fluchtpunkt seiner Religionskritik kennzeichnen. Das Nebeneinander von entfremdungstheoretischer und freiheitstheoretischer Semantik in Kunst und Religion weist darauf hin, dass Stirner hier beginnt, den Freiheitsbegriff entfremdungstheoretisch zu durchdenken. Diese Entwicklung wird im Einzigen fortgesetzt und findet dort seine reife Gestalt. Dabei ist allerdings eine entscheidende begriffliche Verschiebung wahrzunehmen. Zwar assoziiert Stirner auf der einen Seite die Religion immer noch mit einem Status der Unfreiheit bzw. der »Gebundenheit«. Letztere kann Stirner sogar geradezu als eine Übersetzung des Religionsbegriffes benennen, wenn er schreibt: »Noch heute brauchen Wir das welsche Wort ›Religion‹, welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt.« 22 Und auch über seinen religionsphilosophischen Hauptbegriff, das Heilige, schreibt Stirner: »Alles Heilige ist ein Band, eine Fessel.« 23 Auf der anderen Seite zeigt die Durchsicht des Einzigen, dass Stirner hier, anders als in manchen seiner früheren Texte, die Freiheit nicht mehr als den zentralen Gegenbegriff zur Religion anbieten will. Dies ist teilweise erklärbar durch die gewisse, oben beschriebene »Verbrauchtheit« des Freiheitsbegriffes, die im Hintergrund von Ruges Streitschrift steht und die Stirner selbst in seinem Aufsatz über den Liebesstaat markiert, indem er auf die Usurpation des Begriffes durch einen letztlich etatistischen Liberalismus hinweist. 24 Hinter der Entscheidung, den Freiheitsbegriff nicht zum Leitbegriff 18 19 20 21 22 23 24

Kapitel III, Abschnitt 4. Vgl. KS 261. Vgl. KS 268. Vgl. dazu auch Penzo 2006, 32–34. Vgl. KS 268. EE 59. EE 221. Vgl. KS 271 f.

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Freiheit und Eigenheit

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seines Entwurfes zu wählen, steht aber nicht nur das rhetorische Interesse an einer »frischen« Begrifflichkeit, sondern sie verweist zugleich auf eine inhaltliche Neufassung derjenigen Existenzweise, die Stirner der religiösen Existenzweise entgegenzustellen beabsichtigt. Diese Neufassung soll im Folgenden anhand eines zentralen Abschnitts im Einzigen aufgewiesen werden, der überschrieben ist mit: »Die Eigenheit«. 25 Der Abschnitt beginnt mit einer ironischen Dekonstruktion einer philosophischen oder politischen Position, die das gute Leben als ein Leben in »Freiheit« versteht. Stirner fragt dazu in einem rhetorischen Selbstgespräch, ob wir uns wirklich recht verstehen, wenn wir uns Freiheit wünschen. Seine Argumentation läuft dann auf die Beobachtung zu, dass, wenn wir uns Freiheit wünschen, wir dabei immer mitdenken, wozu wir frei sein wollen. Dieses »Wozu« der Freiheit ist aber im Begriff der Freiheit noch nicht enthalten. Freiheit an sich sei nämlich noch »inhaltsleer«. Wenn aber die Freiheit selbst nicht das ist, was wir uns wünschen, worauf richtet sich unser Wünschen und Wollen dann? Stirner antwortet: Du willst, wenn Du es recht bedenkst, nicht die Freiheit, alle diese schönen Sachen zu haben, denn mit der Freiheit dazu hast Du sie noch nicht; Du willst sie wirklich haben, willst sie dein nennen und als dein Eigentum besitzen. 26

Der Wunsch nach »Eigentum« ist also nach Stirner derjenige, der den Wunsch nach Freiheit überschreitet und vervollständigt. Was Stirner hier als Eigentum ausspricht, scheint dabei aber, abweichend von dem heutigen Wortgebrauch, keine rechtliche Kategorie zu sein, 27 sondern scheint zunächst die rein faktische Verfügungsgewalt über die Dinge zu bezeichnen. Stirners Argument scheint dann zu sein, dass der Begriff der Freiheit unvollständig bleibt, insofern er zwar eine Art Erlaubnis oder Berechtigung einschließt, nach verschiedenen Gütern des Lebens zu streben, dabei nicht aber die Macht einschließt, sich die entsprechenden Güter auch tatsächlich anzueignen. In der neueren Literatur wird mitunter darauf hingewiesen, dass Stirner zwar den Freiheitsbegriff preisgibt, den Freiheitsgedanken in seiner Argumentation aber nicht verabschiedet, sondern vertieft. 28 Tatsächlich scheint die Forderung nach Eigentum im Sinne einer faktischen Verfügungsgewalt über die Güter des Lebens und einer damit verbundenen Handlungsfähigkeit als eine qualifizierte, höherstufige Freiheitsforderung verstehbar zu sein. Allerding verkompliziert Stirner diese Deutung im weiteren Verlauf des Abschnitts 25 26 27 28

Vgl. EE 163–178. EE 163. Zum juristischen Eigentumsbegriff vgl. Körsgen 2005. Eine umfassende Interpretation in dieser Tendenz bietet zuletzt Newman, vgl. ders. 2019b.

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durch die Einführung eines neuen Begriffs, des Begriffs der Eigenheit. Dieser Begriff erscheint dabei als idiosynkratische Bildung Stirners, der damit offenbar ein Äquivalent und Substitut für den Freiheitsbegriff zu schaffen beabsichtigt. 29 Das Verhältnis der »Eigenheit«, des »Eigners« und des »Eigentums« ist dabei allerdings nicht durchgehend klar bestimmt. Einerseits erscheinen die drei Begriffe sehr eng miteinander verknüpft, erscheinen als Momente einer gemeinsamen begrifflichen Matrix. Eigenheit käme dann dem Eigner zu, Eigner wiederum wäre derjenige, der die Güter des Lebens zu seinem Eigentum zu machen in der Lage ist. Über weite Strecken erscheint diese Deutung als gangbar. Andererseits lassen manche Formulierungen, die Stirner zur Bestimmung der Eigenheit findet, auch Zweifel an dieser Deutung aufkommen. So erklärt Stirner, die Eigenheit sei »mein ganzes Wesen«, 30 und fügt hinzu, »mein eigen« bleibe er immer und unter allen Umständen, auch in einer Situation radikaler Ohnmacht, ja selbst der Versklavung. 31 Diesem Begriffsgebrauch entspricht auch, dass Stirner die Eigenheit im Folgenden mit dem Egoismus gleichsetzen kann und damit impliziert, die Eigenheit käme jedem Menschen ohne Unterschied zu und bezeichne eine fundamentale Struktur der personalen Existenz. Dies aber wäre ein offenbarer Widerspruch zu einer Deutung, welche die »Eigenheit« mit dem »Eigentum« assoziieren und dieses wiederum – in Abgrenzung zur Freiheit – als eine tatsächliche Verfügungsgewalt über die angeeigneten Güter bestimmen wollte. Um dieser Ambivalenz zu begegnen, wäre es naheliegend, in unserer Interpretation den engen Zusammenhang von Eigentum und Eigenheit zu lösen. Eigenheit wäre dann gleichbedeutend mit dem Egoismus, impliziere aber noch nicht, dass ein Ich, dem sie prädiziert wird, in einem Eigentumsverhältnis zu irgendwelchen Dingen oder Gütern steht. Eine solche Interpretation würde aber Stirners Konzeption meines Erachtens nicht gerecht werden. Denn die beschriebene Ambivalenz erwächst nicht nur durch die fragliche Verbindung von Eigenheit und Eigentum, sondern lässt sich schon in den Eigentumsbegriff selbst zurückverfolgen. Schon das Eigentum changiert bei Stirner zwischen einem Begriff für eine tatsächliche Verfügungsgewalt über ein Ding auf der einen Seite und einer existenziellen, anthropologischen Kategorie auf der anderen Seite. Diese Ambivalenz im Eigentumsbegriff und die Frage, wie sie aufgelöst werden kann, soll das Thema des folgenden Abschnitts sein.

29

30 31

Kast vermutet einen Einfluss Goethes auf die Bildung dieses Begriffs bei Stirner, vgl. ders. 2016a, 199 f. Vgl. EE 165. Vgl. EE 165 f.

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2. Das Eigentum Stirner erhebt in der im letzten Abschnitt eingeführten Passage im Einzigen die Reflexion auf den Eigentumsbegriff zur entscheidenden sozialphilosophischen Kategorie und weist dem Freiheitsbegriff eine nachgeordnete Stellung zu. Mit dieser Entscheidung steht Stirner im zeitgenössischen Diskurs durchaus nicht allein da. Eine Kritik am »Liberalismus« wurde, wie erwähnt worden ist, 1843 prominent von Arnold Ruge formuliert. 32 Und auch die Alternative, die Stirner im Einzigen findet, ist nicht voraussetzungslos. Sieht man auf die ab den 30er Jahren entstehenden Bewegungen des Sozialismus und des Anarchismus kann man vielleicht sagen, dass in diesem Jahrzehnt die Thematik der politischen Avantgarde von der Freiheit zum Eigentum umschwenkt. Paradigmatisch für diesen Schwenk steht Joseph Proudhon, der in seiner Schrift Was ist Eigentum? zwar das »Privateigentum« als rechtliche Kategorie aufzuheben bemüht ist, 33 damit aber zugleich das mit der Institution des Eigentums verbundene Problem der Verfügungsgewalt über die Wohlstandsgüter zum politischen Problem obersten Ranges erhoben hat. 34 Die spannende Frage nach dem Verhältnis Stirners zu Proudhon und zu den sozialphilosophischen Debatten der Zeit kann hier nicht weiterverfolgt werden. Für unser Anliegen einer Bestimmung der religionsphilosophischen Implikationen der Eigentumstheorie Stirners soll ein anderer Aspekt in den Vordergrund treten, und zwar das Verhältnis von Eigentum und Personalität. Dieser Aspekt verweist wiederum auf Hegels Konzeption des Eigentums in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, im Folgenden abgekürzt als Rechtsphilosophie. Ohne dass eine direkte literarische Auseinandersetzung mit der Rechtsphilosophie nachgewiesen werden könnte, lässt sich Stirners Eigentumstheorie doch als Aufnahme und Weiterentwicklung der Konzeption Hegels verstehen. 35 Dabei modifiziert Stirner das bei Hegel Vorgedachte in einer doppelten Weise, die hier thesenhaft vorweggenommen werden soll. Erstens wird der Begriff des Eigentums bei Stirner delegalisiert. Dies vollzieht sich vor allem in der Aufgabe der Unterscheidung von Eigentum und Besitz. Alles, was in meinem Besitz ist, ist zugleich mein Eigentum, und umgekehrt kann mein Eigentum nur das genannt werden, was ich tatsächlich in meinem Besitz habe. Durch diese Delegalisierung des Eigentums scheint bei Stirner das Eigentum mit der faktischen Verfügungsgewalt des Menschen über Dinge oder auch andere Menschen, die Stirner von dem Eigentumsverhältnis nicht ausnimmt, in 32 33 34 35

S.o. Anmerkung 13. Vgl. Proudhon 1840, 26–28. Zum Eigentumsdiskurs des frühen Anarchismus vgl. auch Borges 2005. Zur Beziehung des stirnerschen Eigentumsbegriffs zur Rechtsphilosophie vgl. auch Kast 2016a, 190 ff.

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eins zu fallen. Diese Konsequenz aber wird durch eine weitere, auf den ersten Blick gegenläufige Modifikation, die Stirner vornimmt, noch einmal korrigiert und überschritten. Denn zweitens wird der Begriff des Eigentums bei Stirner gegenüber Hegel existenzialisiert. Bei Stirner ist Eigentum nicht mehr auf die Dinge beschränkt, die im trivialen Sinne in meiner Verfügungsgewalt sind, sondern es wird zu einer Bestimmtheit des Weltverhältnisses. Bei Stirner können Dinge, über die ich in einem trivialen Sinne kaum »verfügen« kann, in einem existenziellen Sinne dennoch als »mein Eigentum« angesprochen werden. Durch diese doppelte Modifikation expandiert der Begriff des Eigentums bei Stirner dahingehend, dass letztlich Alles und Jeder, ja die »Welt« als mein Eigentum angesehen werden kann. Diese Thesen, die hier vorgreifend formuliert worden sind, werden sich im Folgenden als zutreffend erweisen müssen. Beginnen möchte ich hierzu mit einem Blick auf Hegels Rechtsphilosophie. Der dort vorgestellten Theorie des Eigentums möchte ich mich anhand von zwei Fragen nähern: 1. Was ist »Eigentum«? und 2. Welche Rolle spielt das Eigentum für eine personale Existenz? Um sich einer Antwort auf die erste Frage anzunähern, soll zunächst Hegels Unterscheidung von »Eigentum« und »Besitz« eingeführt werden. Diese Unterscheidung nimmt Hegel in § 45 der Rechtsphilosophie vor. 36 Eigentum und Besitz erscheinen dort nicht als zwei getrennte Phänomene, sondern das Eigentum wird als eine qualifizierte Form des Besitzes bestimmt. Jedes Eigentum ist darum für Hegel auch zugleich ein Besitz. So kann Hegel in einem der einleitenden Paragrafen zum »Ersten Teil« der Rechtsphilosophie, in dem die Eigentumstheorie verortet ist, von dem »Besitz, welcher Eigentum ist«, sprechen. 37 In § 45 nimmt er dann diese beiden »Seiten« des Eigentumsverhältnisses in den Blick: Die eine Seite, dass es der »Besitz« einer Sache ist, und die andere Seite, dass es darüber hinaus »Eigentum« an ihr ist. 38 Der Besitz beschreibt nun dabei die bloße Verfügungsgewalt über eine Sache, er bezeichnet, »[d]aß Ich etwas in meiner selbst äußeren Gewalt habe« 39. Das Eigentum hingegen bezeichnet den Umstand, dass ich mir »als freier Wille [. . . ] im Besitz gegenständlich und hiermit auch erst wirklich Wille bin«. 40 Diese »zweite Seite« des Eigentums erscheint deutlich erklärungsbedürftiger als die erste. Was bedeutet es, dass ein »freier Wille« im Besitz, also in der Verfügung über eine Sache, sich gegenständlich wird? Und wie wäre umgekehrt eine Besitzergreifung vorzustellen, in der sich kein freier Wille gegenständlich wird? 36 37 38

39 40

Vgl. GPR 107. Vgl. GPR 98. Anders Eckl 2005, 167 f, der das Verhältnis von »Besitz« und »Eigentum« dissoziativ versteht. Vgl. GPR 107 Vgl. GPR 107.

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Mit seiner Aufnahme der Unterscheidung von Eigentum und Besitz scheint Hegel offenbar um die Frage nach der Legitimität des Eigentums zu kreisen. Dies zeigt auch ein Blick auf den vorangegangenen § 44. Dort schreibt Hegel, jede Person habe »das Recht, in jede Sache ihren Willen zu legen« und ihm so einen »substanziellen Zweck« zu geben. 41 Dieses Recht begründet Hegel im »Zusatz« zu diesem Paragrafen damit, dass der freie Wille des Menschen »an und für sich« ist – d. h. wohl hier: dass er Zweck an sich selbst ist –, die Sache aber einen »Selbstzweck« nicht hat. 42 Damit erscheint zunächst jede faktische Besitzergreifung als rechtmäßige Aneignung. Allerdings hat Hegels Beschreibung zwei implizite Einschränkungen. Zum einen sind Personen von der rechtlichen Zueignung ausgeschlossen, da sie, im Unterschied zu Sachen, einen »Selbstzweck« haben. 43 Zum anderen kann das Eigentum eines Anderen nicht ohne weiteres wieder von mir rechtlich angeeignet werden, da bereits der Wille des Anderen in dieser Sache liegt. Somit kann, wie Hegel in einem späteren Paragrafen formuliert, nur der »zufällig erste« eine Sache legitimerweise in Besitz nehmen und zu seinem Eigentum machen. 44 Wie Hegel nun das Verhältnis der Person zu ihrem Eigentum genauer bestimmt, wird anschaulich in der Figur des »Gebrauchens«, die er in den Paragrafen ab § 59 einführt. Im »Gebrauch« ist mein Wille als »Positives« gesetzt und die Sache als »Negatives«. 45 Konkret bedeutet dies, dass ich mein Bedürfnis stille durch »Veränderung, Vernichtung, Verzehrung der Sache« (§ 59). 46 Dieses Gebrauchsrecht des Eigentümers an der Sache ist nach Hegel unbeschränkt. Die Sache hat, wie bereits bei der Inbesitznahme erkannt, »gegen mich nicht Endzweck in sich selbst«, und so steht mir der »Gebrauch« der Sache in »ganzem Umfang« zu (§ 61). 47 Die Bestimmung des »Gebrauchs« veranschaulicht somit die gewaltsame Komponente des Eigentumsverhältnisses, wie Hegel es denkt. Personen haben einen freien Willen, sind sich darin Selbstzweck und verhalten sich zwecksetzend gegenüber den Sachen, die sie besitzen und gebrauchen. 48 Dieses »Gebrauchen« schließt die »Negation« der Sache ein, womit die reale Vernichtung der Sache nicht implizit sein muss, aber sein kann. Abgemildert wird diese gewaltsame Beschreibung dadurch, dass Vollzüge des Gebrauchens nur an Sachen und nicht an Personen legitimerweise erfolgen können. 41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. GPR 106. Vgl. GPR 106 f. Vgl. ebd., zum Unrecht der Sklaverei vgl. GPR 122–126 (§ 57). Vgl. GPR 114. Vgl. GPR 128. GPR 128. GPR 130. Zum freien Willen als Zweck an sich vgl. GPR 71 f (§21).

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Kommen wir nun zu der zweiten oben formulierten Frage: zu der Bedeutung des Eigentums für die personale Existenz. Die systematische Verbindung dieser zwei Problemfelder kann als eine der wichtigsten Entscheidungen in Hegels Eigentumstheorie gelten. 49 Diese Verbindung formuliert Hegel in dem einleitenden Paragrafen zum Abschnitt über das »Eigentum«. Dort schreibt Hegel: »Die Person muss sich eine äußere Sphäre der Freiheit geben, um als Idee zu sein« (§ 41), wobei diese »äußere Sphäre der Freiheit« offenbar zunächst durch das in diesem Abschnitt thematisierte »Eigentum« repräsentiert zu sein scheint. 50 Damit wird die Notwendigkeit des Eigentums für die Person über den Freiheitsbegriff eingeführt: Das Eigentum kann als Verwirklichung oder Ins-Dasein-Treten der Freiheit verstanden werden. 51 Da »Personsein und Freiheit« für Hegel in diesem Kontext »dasselbe« 52 zu sein scheinen, kann Hegel später dann auch das »Eigentum« als das »Dasein der Persönlichkeit« bezeichnen (§ 51). 53 Ohne Eigentum, ohne den realen und anschaulichen Vollzug ihres Willens an einer Sache ist die Person eine Chimäre, ein Punkt ohne Ausdehnung. In diesem Sinne wird Personalität nach Hegel durch ihre Eigentumsverhältnisse konstituiert und besteht nicht ohne diese. Bei dieser Beschreibung ist allerdings eine Präzisierung oder Einschränkung notwendig. Wenn Hegel von »Personen« spricht, dann ist nicht schon das gemeint, was Spaemann, und dieser auch in Anschluss an den alltäglichen Sprachgebrauch, »Person« nennt. War bei Spaemann die Person eine möglichst allgemeine Bezeichnung für die Seinsweise menschlicher Individuen, so scheint der Personbegriff bei Hegel zweischneidig. Michael Quante arbeitet heraus, dass in der Rechtsphilosophie der Personbegriff in einem doppelten Sinne verwendet wird: 54 Zum einen handelt es sich um ein »Universalprinzip« der Rechtsphilosophie und damit um eine universale Bezeichnung für alle Träger rechtlicher Ansprüche. 55 In diesem ersten Sinne nähert sich Hegels »Person« durchaus an Spaemanns »Person« und damit eine allgemeine Bestimmung menschlicher Subjektivität an. Zum anderen verwendet Hegel den Begriff der Person in der Rechtsphilosophie aber auch in einem engeren Sinne als ein »Teilprinzip«, d. h. für einen Akteur, der auf das »abstrakte Recht« beschränkt ist und eine für Hegel vorläufige, unvollkommene Gestalt

49 50 51 52 53 54 55

Vgl. Ritter 2005. Vgl. GPR 102. Vgl. Schnädelbach 2016, 207. Ebd. Vgl. GPR 114. Vgl. Quante 2005, 74–76. Vgl. Quante 2005, 74 f.

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des Rechtssubjekts darstellt. 56 In diesem Sinne repräsentiert der Begriff der Person eine abstrakte, formale Bestimmung des Menschen, welche von seiner individuellen, raum-zeitlichen Bestimmtheit absieht. 57 Von dieser vorläufigen, weil bloß formalen Gestalt der Subjektivität her müssen entsprechend auch die Eigentumsverhältnisse gedacht werden, die in das »abstrakte Recht« fallen. In unseren Eigentumsverhältnissen sind wir »Person«, insofern wir rein formal als Eigentümer bestimmt sind. Und umgekehrt ist auch nur in diesem Sinne Eigentum konstitutiv für das Sein der »Person«. Die Vorläufigkeit der in den Eigentumsverhältnissen realisierten Personalität deutet Hegel an, wenn er schreibt, das Eigentum sei die »erste Realität« der Freiheit und darum noch eine »schlechte Realität« (§ 41). 58 Zu einer Verwirklichung des »freien Willens« und damit der »Personalität« im umfassenderen Sinne kommt es nach Hegel demnach nicht schon im »Eigentum«, sondern erst im Durchgang durch die in den weiteren Kapiteln der Rechtsphilosophie geschilderten rechtlichen Verhältnisse. 59 Diese einschränkende Präzisierung der These über die konstitutive Bedeutung des Eigentums für die Personalität in der Rechtsphilosophie ist nun aber für eine Übertragung dieser These auf Stirners Theorie der Person nicht problematisch. Denn wie wir sehen werden, ist es gerade der von Hegel als vorläufig betrachtete Begriff der Person als eines Subjekts von Eigentumsverhältnissen, den Stirner sich zu eigen macht und den er zugleich von seiner Bewertung als nur vorläufigem löst. Schauen wir also nun auf Stirner und betrachten dabei zuerst die zentrale Gemeinsamkeit zwischen Stirners Theorie des Eigentums und der Konzeption, wie sie uns in Hegels Rechtsphilosophie im Abschnitt zum »abstrakten Recht« begegnet ist. Um dies zu tun, soll zunächst an die am Ende des letzten Abschnitts formulierte Einsicht erinnert werden. 60 Stirners »Einziger«, so die dort getätigte Vermutung, wäre nicht ein substanzontologisch gegebenes Selbst, sondern wäre vielmehr das Korrelat einer praktischen Struktur. Diese praktische Struktur wurde in Aufnahme eines interpretationssprachlichen Begriffs von Rahel Jaeggi als »Aneignung« bezeichnet. Die praxistheoretische Interpretation von Stirners Einzigem als Inbegriff von Aneignungsvollzügen kann an die Verhältnisbestimmung von Person und Eigentum in Hegels Rechtsphilosophie anschließen. Wie Hegels Person im »Abstrakten Recht« hat auch Stirners Einziger sein Dasein in seinen Eigentumsverhältnissen. Neben dieser Nähe und Berührung der beiden Konzeptionen muss aber zugleich, wie angekündigt, auf zwei entscheidende Abweichungen oder Modifikationen hingewiesen wer56 57 58 59 60

Vgl. Quante 2005, 75. Vgl. Quante 2005, 84. Vgl. auch Eckl 2005, 164. Vgl. GPR 102. Vgl. Quante 2005, 82 ff. S.o. Kapitel VI, Abschnitt 3.

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den, die Stirner vornimmt. Es handelt sich, wie bereits vorweggenommen, zum einen um eine Delegalisierung und zum anderen um eine Existenzialisierung des Eigentumsbegriffs. Oben haben wir gesehen, dass Hegel Besitz und Eigentum zwar voneinander unterscheidet, sie aber dennoch eng miteinander verknüpft, indem das Eigentum durch den bloßen Akt der Inbesitznahme begründet ist. Wäre dieses Zueignungsrecht uneingeschränkt, würden »Besitz« und »Eigentum« offenbar in eins fallen. Allerdings gab es bei Hegel einen doppelten Ausschluss der legitimen Zueignung: Weder andere Personen noch fremdes Eigentum kann rechtmäßig angeeignet werden. Genau diesen doppelten Ausschluss aber lässt Stirner fallen. Vom fremden Eigentum schreibt Stirner: »Von deinem und eurem Eigentum trete Ich nicht scheu zurück, sondern sehe es stets als mein Eigentum an, woran Ich nichts zu ›respektieren‹ brauche. Tut doch desgleichen mit dem, was Ihr mein Eigentum nennt!« 61 Und selbst der andere Mensch kann bei Stirner als »mein Eigentum« angesprochen werden. Stirner schreibt: »Es ist Keiner Meinesgleichen, sondern gleich allen andern Wesen betrachte Ich ihn als mein Eigentum« 62 und stellt im Folgenden explizit den anderen Menschen mit einem unpersönlichen »Gegenstand« auf eine Stufe. 63 Dadurch, dass es nach Stirner keine unrechtmäßige Zueignung mehr gibt, nähern sich bei Stirner Eigentum und Besitz weiter an. So kann er auch das Eigentum in Absehung jeder rechtlichen Komponente definieren, wenn er schreibt: „Was also ist mein Eigentum? Nichts als was in meiner Gewalt ist!“ 64 Die ausdrücklich unbeschränkte Erlaubnis zur Aneignung des fremden Eigentums kann dann auch mit einer gewaltsamen, bellizistischen Semantik verbunden werden: »Greif zu und nimm, was du brauchst! Damit ist der Krieg aller gegen alle erklärt« 65 Mit dieser Delegalisierung des Eigentumsbegriffs, d. h. mit der Lösung des Begriffes von allen rechtlich-normativen Momenten und der damit verbundenen Annäherung von Eigentum und Besitz, scheint sich Stirner auf den ersten Blick einer Abschaffung des Eigentums zu nähern, wie Proudhon sie fordert. 66 Versteht man den Begriff des Eigentums in Hegels Sinne als ein reales Verhältnis zwischen mir und einem Gegenstand, dann ist dieser Schluss sogar zwingend. Warum aber hält Stirner dann, anders als Proudhon, an dem Begriff des Eigentums fest? Hätte Stirner seine anti-rechtliche Position nicht besser durch einen Verzicht auf diesen rechtlich und damit normativ geprägten Begriff deutlich machen können? Dass Stirner dies gerade nicht tut und anders 61 62 63 64 65 66

EE 253. EE 315. Vgl. ebd. EE 261. EE 262. Vgl. Newman 2019b, 169 f.

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als Proudhon affirmativ am Eigentumsbegriff festhält, ist erklärbar durch die zweite Modifikation des Begriffs, die Stirner gegenüber Hegel vornimmt, und das ist die Transformation des Eigentums von einer ökonomischen zu einer existenziellen Kategorie. Diese Transformation geschieht nicht unvermittelt. Schon Hegel hatte, auch wenn er sich dem Thema im Rahmen einer »Rechtsphilosophie« genähert hat, dem Eigentum eine existenzielle, die Daseinsweise des Menschen betreffende Funktion zugeschrieben. Im Eigentum erhält der freie Wille eine »äußere Sphäre« und so hat auch erst im Eigentum die Person ihr Dasein. Das Eigentum selbst aber war bei dieser Figur ganz anschaulich gedacht als eine materielle Sache, die auch ganz anschaulich in meinen Besitz gelangt und gebraucht oder verbraucht werden kann. Eine Übertragung des Begriffs auf immaterielle Güter war dabei nur ansatzweise im Blick. 67 Bei Stirner gewinnt diese übertragene Bedeutung dann sehr an Gewicht. Zwar gibt es auch im Einzigen viele Passagen, wo das Eigentum im anschaulichen, ökonomischen Sinne auf materielle Güter bezogen ist. Daneben kann Stirner aber auch Gedanken, 68 Gefühle, 69 Ideen, 70 Wahrheiten 71 usw. als »sein Eigentum« bezeichnen. Diese Formulierungen stellen nun nicht bloß eine bildliche, uneigentliche Rede dar, sondern sie verweisen auf eine entscheidende Neukonturierung des Eigentumsbegriffs. Diese Neukonturierung wird noch deutlicher, wenn man eine weitere Gruppe von Formulierungen aus dem Einzigen heranzieht. An vielen Stellen spricht Stirner davon, dass »Alles« bzw. die »Welt« sein »Eigentum« sei. Schaut man auf die fraglichen Passagen, dann fällt auf, dass überall ein Akt der gleichsam deklaratorischen Inbesitznahme erfolgt. Stirner »nimmt« die Welt als sein Eigentum, 72 er »erhebt sich« zum Eigner der Welt, 73 er »sieht« alles als sein Eigentum »an«. 74 Will man Stirner hier nicht einen größenwahnsinnigen Realitätsverlust attestieren, dann ist deutlich, dass es überall hier nicht um eine Besitzergreifung im Sinne einer tatsächlichen Verfügungsgewalt geht. Worum aber geht es ihm dann? Das Eigentum bzw. die Aneignung scheint ein charakteristischer Modus zu sein, sich als Subjekt zu der Welt in ein Verhältnis zu setzen. Stirner schreibt: »Und nun nehme Ich die Welt als das, was sie Mir ist, als die Meinige, als Mein Eigentum: Ich beziehe alles auf Mich.« 75 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. GPR 104 (§ 43), vgl. auch Ritter 2005, 67 f. Vgl. EE 346 f. Vgl. EE 295 f. Vgl. EE 104. Vgl. EE 358. Vgl. EE 24. Vgl. EE 103. Vgl. EE 253. EE 24.

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Die im letzten Zitat deutlich vollzogene Existenzialisierung des Eigentumsbegriffs scheint das Eigentumsverhältnis ganz von einer material-anschaulichen Verfügungsgewalt zu lösen. Dies scheint nun aber auf den ersten Blick mit der Annäherung von Eigentum und Besitz, die wir oben konstatiert haben, in einen mehr oder weniger deutlichen Widerspruch zu treten. Zwei Linien scheinen bei Stirner nebeneinanderher zu laufen: Nach der einen Linie erscheint das Eigentum als etwas, was ich gewaltsam an mich nehme, und eben nur das, was ich auch an mich nehmen kann. Demnach habe ich Eigentum an den Dingen genau dann, wenn ich sie in meiner Gewalt habe. 76 In vielen, wohl in den meisten Fällen hätte ich dann aber gerade kein Eigentum an der mir begegnenden Welt, da meine Macht unzureichend ist. Nach der anderen Linie dagegen kann ich der Welt und ihren Gestalten unabhängig von der Reichweite meiner Gewalt als meinem Eigentum begegnen, so dass die Dinge selbst dann noch »mein Eigen« bleiben können, wenn ich gezwungen bin, dieses Meinige dem Anderen zu »überlassen«. 77 Diese zwei Linien des Begriffsgebrauches bei Stirner können als Inkonsistenz wahrgenommen werden. Ich denke aber, dass der Widerspruch aufgelöst werden kann, wenn wir den zweiten, existenziellen Gebrauch des Eigentumsbegriffs genauer zu fassen versuchen. Einen Schlüssel dafür bietet meines Erachtens Hegels Definition der »Zueignung« in Verbindung mit Stirners Konzept des »Egoismus«. Nach Hegel erfolgt die Zueignung dadurch, dass ich meinen »Willen« bzw. meinen »Zweck« in ein Anderes lege und so den Zweck des Anderen negiere. 78 Genau dies aber geschieht nun nach Stirners universalem Begriff des Egoismus, wie wir ihn im fünften Kapitel dieser Untersuchung erschlossen haben, in jeder Begegnung eines Selbst mit einem Anderen. 79 Überall suche ich meinen Nutzen, überall setze ich mich als Selbstzweck und negiere dabei den Zweck des Anderen. Dies geschieht dann auch unterschiedslos bei Begegnungen des Selbst mit Sachen und Personen, Kooperationen und auch ideellen Größen. Somit wäre der Egoismus ein ständiger Vollzug der Zueignung in Hegels Sinne. Was geschieht aber nun, wenn mir die Macht fehlt, das Andere tatsächlich anzueignen? Wenn das Andere Widerstand leistet und seinen Zweck geltend macht? Bleibt dann die Aneignung aus? Oder bleibt nur die totale Aneignung aus und es geschieht stattdessen eine partielle Aneignung, bemessen an der eigenen Macht, den Widerstand des Anderen zu überwinden? Ich möchte vorschlagen, Stirner in diesem letzten Sinne zu verstehen. Somit wäre die Formel von der Welt als meinem Eigentum so zu verstehen, dass ich 76

77 78 79

In diesem Sinne bezeichnet Kast das »Eigentum« bei Stirner als die »Totalität des potenziell Erreichbaren«, ders. 2016a, 198. Vgl. EE 281 f. Vgl. noch einmal GPR 106 f (§ 44). S.o. Kapitel V, Abschnitt 2.

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allem gegenüber meinen Zweck geltend mache, ihm in einer Bewegung der Aneignung begegne. Dass diese Bewegung zugleich an meine Handlungsmacht gebunden bleibt, begrenzt diese Aneignung quantitativ – d. h. das Ausmaß der Verfügungsgewalt, die ich über ein konkret Anderes habe –, aber nicht qualitativ. Da diese Handlungsmacht des Selbst aber niemals gleich Null ist, bleibt immer ein Raum für ein Eigentumsverhältnis, das ich zum Anderen eingehen kann. Auch wenn sich das Ich einer Übermacht gegenübersieht, handelt es ihr gegenüber egoistisch und sieht so ein partielles Eigentumsverhältnis gegenüber dem mir begegnenden Mächtigeren. 80 Ich habe in diesem Abschnitt die Eigentumstheorie in Hegels Rechtsphilosophie als Folie verwendet, um vor ihr die charakteristischen Züge in Stirners Konzeption herauszustellen. Was beide verband, war zunächst die konstitutive Bedeutung des Eigentums für die Personalität. Wie diese konstitutive Bedeutung zu denken ist, wird für Stirner noch klarer werden, wenn wir im übernächsten Abschnitt betrachten, was geschieht, wenn unsere Aneignungsbewegungen gestört werden. Zunächst aber soll im nächsten Abschnitt noch einmal der Eigentumsbegriff Stirners vertieft in den Blick genommen werden. Wie wir gesehen haben, wird dieser gegenüber Hegel in einer doppelten Weise entgrenzt. Durch die Delegalisierung des Begriffs können bei Stirner auch fremdes Eigentum und Personen mein Eigentum werden und durch die Existenzialisierung werden sie es auch dann, wenn ich sie nicht in einem ökonomischen Sinne oder gar total in meine Verfügungsgewalt bringen kann. Diese doppelte Entgrenzung führt unter anderem zu der intuitiv sehr anstößigen Konstellation, dass nach Stirner alle unsere zwischenmenschlichen Beziehungen als Eigentumsverhältnisse beschrieben werden, in welchen ich den Anderen wie ein Eigentum »genieße«, 81 »gebrauche« 82 bzw. »verbrauche« 83. Diese irritierende Konsequenz legt den Verdacht nahe, Stirners Einziger sei die buchgewordene Gestalt einer gewissen Soziopathie. Da ich das Eigentum nicht nur als fundamentale Kategorie in Stirners Sozialphilosophie lesen möchte, sondern in ihm auch den Schlüssel zu seiner Religionskritik zu erkennen glaube, gilt es, das Verständnis dieses zunächst stark gegenintuitiven Entwurfes noch ein wenig zu vertiefen und dabei auch ein wenig nach seiner – wie auch immer begrenzten – Plausibilität zu fragen.

80

81 82 83

»Einem Gebieter leibeigen hingegeben, denke Ich nur an Mich und meinen Vorteil; seine Schläge treffen Mich zwar: Ich bin nicht davon frei; aber Ich erdulde sie nur zu meinem Nutzen, etwa um ihn durch den Schein der Geduld zu täuschen und sicher zu machen, oder auch um nicht durch Widersetzlichkeit Ärgeres Mir zuzuziehen.«, EE 165. EE 293 f. EE 315. EE 300.

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3. Pathologie des »Einzigen« Wenn ich im vergangenen Abschnitt Hegels Rechtsphilosophie herangezogen habe, dann habe ich dabei Hegels Rekonstruktion des »Eigentums« isoliert betrachtet und es aus seiner Stellung im Gesamtwerk gelöst. Auf diese Weise kann, wie bereits in Bezug auf den Personbegriff vorsichtig angedeutet wurde, Hegels Konzeption nicht angemessen erfasst werden. Entsprechend dem Ziel meiner Untersuchung ist es mir allerdings nicht um eine Interpretation der Rechtsphilosophie zu tun, sondern darum, wie Stirner sie gelesen hat oder gelesen haben könnte. Und stellen wir die Frage so, dann fällt eine Tendenz auf, die schon in Bezug auf Bauers Verhältnis zur Phänomenologie des Geistes aufgeschienen ist, und zwar die Tendenz, Hegel »nicht zu Ende zu lesen«. In ihrer Rezeption der Phänomenologie schien es, als hätten Bauer – und in der Folge auch Stirner – den Abschnitt über das »unglückliche Bewusstsein« absichtlich oder unbeabsichtigt aus dem Zusammenhang gerissen und von ihrem Zusammenhang mit den zwar auch religionskritisch verstehbaren, aber für eine affirmative Lesart durchaus offeneren Passagen des Religionskapitels gelöst. 84 Und nun, im Fall der Rechtsphilosophie, scheint Stirner einen Topos aus dem »abstrakten Recht« zum Zentralbegriff seiner eigenen Sozialphilosophie zu machen und dabei absichtlich oder unbeabsichtigt zu übergehen, dass Hegel im Verlauf der Rechtsphilosophie die Vorläufigkeit der mit diesem Topos verbundenen Gestalt der Sozialität herausgestellt hat. Stirner, so lautete das Ergebnis des vorangegangenen Kapitels, entwirft mit der Rede vom »Einzigen« ein Modell einer Personalität, die sich in Aneignungsbewegungen konstituiert. Damit nun scheint er dem »Eigentum« eine Bedeutung zuzuschreiben, die dessen Funktion für eben jene Gestalt der »Personalität« nahekommt, die bei Hegel im »abstrakten Recht« erreicht wird. Diese These korrespondiert mit einer Beobachtung, die Johan Tralau angestellt hat. 85 Tralau nimmt Bezug auf die dreistufige Entwicklung des Willens, welche Hegel in der Einleitung zu seiner Rechtsphilosophie skizziert und deren drei Stufen den drei Abschnitten des Werkes zugeordnet werden können. In § 5 charakterisiert Hegel diejenige Gestalt des Willens, die dem Abschnitt zum »abstrakten Recht« entspricht und in welcher der Wille nur »reine Unbestimmtheit« enthält. 86 Diese Gestalt des Willens, so Tralau, ist für Hegel die notwendige erste Stufe eines Entwicklungsganges, muss aber überschritten werden, da sie andernfalls in eine Destruktion aller gesellschaftlichen Ordnung münden würde. 87 Stirner nun habe nach Tralau diese »Warnung« Hegels über84 85 86 87

S.o. Kapitel III, Abschnitt 2–3. Vgl. Tralau 2010. Vgl. GPR 49. Vgl. Tralau 2010, 252 f

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hört und habe den Menschen »atomistisch« in absoluter Opposition zu allem »Anderen« oder »Fremden« bestimmt – und sei damit eben auf der Stufe des »abstrakten Rechts« verblieben. 88 Tralaus Argumentation folgt einem zunächst suggestiven Muster, wenn er urteilt, Stirner sei hinter Hegels Einsichten in der Rechtsphilosophie gleichsam zurückgeblieben. Dagegen muss man aber zunächst trivialerweise darauf hinweisen, dass bei Stirner die hegelsche Synthese nicht aus reiner Lesefaulheit unerreicht bleibt, sondern dass Stirner die Schritte, die nach der Rechtsphilosophie in die Synthese führen, bewusst zurückgenommen hat. Dennoch wird man fragen müssen, ob Stirner mit dieser Entscheidung nicht unwillentlich doch in eben diejenige »soziale Pathologie« (Honneth) verfällt, die Hegel im »abstrakten Recht« portraitiert, in die Option für ein Freiheitsmodell, das ein soziales Leben letztlich unmöglich macht. 89 Dieser Verdacht wird noch dadurch gesteigert, dass Stirner, gemessen am Gang der Rechtsphilosophie, genau genommen sogar früher stehen bleibt, als Tralau es benennt. Denn im »abstrakten Recht«, liest man es als Ganzes, begegnen sich Personen zumindest als Eigentümer, erkennen sich wechselseitig als solche an und können auf dieser Grundlage Verträge schließen. 90 Eben diese Anerkennung des fremden Eigentums aber hat bereits keinen Platz in Stirners Sozialphilosophie. Nicht einmal das Eigentum der anderen Person an sich selbst erkennt Stirner an, sodass Personen und Sachen der Welt unterschiedslos und ausschließlich als Objekte von Eigentumsverhältnissen in den Blick kommen können. Damit beansprucht Stirner Vollzüge der Intersubjektivität durchgehend nach dem Modell der wechselseitigen und dabei zugleich wechselseitig nicht anerkannten Eigentumsverhältnisse von Menschen zu bestimmen. Dieser Anspruch ist sicherlich für einige der größten Irritationen verantwortlich, die Stirners Philosophie noch heute bei Ihren Lesern hervorruft. Diese Irritationen werden noch gesteigert dadurch, dass Stirner die Aneignungsvollzüge vorzugsweise mit einer Semantik des Essens und des Trinkens illustriert. In einer für ihn typischen Formulierung schreibt Stirner: »Wo Mir die Welt in den Weg kommt – und sie kommt Mir überall in den Weg – da verzehre Ich sie, um den Hunger meines Egoismus zu stillen.« 91 Wie sich zwangsläufig aus seiner Entgrenzung des Eigentumsbegriffs ergibt, kann dann auch der je andere Mensch als Gegenstand des Konsums erscheinen. Und so fährt Stirner fort: »Du bist für Mich nichts als – meine Speise, gleichwie auch Ich von Dir verspeiset und verbraucht werde.« 92 Kaum verwunderlich, dass gerade 88 89 90 91 92

Vgl. Tralau 2010, 255. Vgl. Honneth 2001, 56–60. Vgl. GPR 152 f (§ 71), vgl. auch Schnädelbach 2016, 210–212. EE 300. Ebd.

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diese soziale Konsummetaphorik immer wieder zum Anlass großer Irritation und Empörung geworden ist. So hat Hans Helms ein »kannibalisches« Moment im Einzigen herausgestellt und kritisiert, 93 und der Schriftsteller Heinrich Beta hat Stirner ausdruckstark als den »Erfinder der Haifischphilosophie« bezeichnet. 94 Wie ist diese Reaktion zu bewerten? Sicher wird niemand annehmen, Stirner spreche in der zitierten und in anderen, ähnlichen Passagen in einem wörtlichen Sinne von einem Verspeisen des Anderen. Weiterhin wird man vermuten können, dass Stirner die mehr offensichtlichen Unterschiede einer Beziehung zu einem Ding auf der einen Seite und einer Person auf der anderen Seite gesehen haben wird. Tatsächlich schreibt Stirner: Am Salze finde Ich, dass es die Speisen Mir schmackhaft macht, darum lasse Ich's zergehen; im Fische erkenne Ich ein Nahrungsmittel, darum verspeise Ich ihn; an Dir entdecke Ich die Gabe, Mir das Leben zu erheitern, daher wähle Ich Dich zum Gefährten. 95

Stirner markiert hier einen Unterschied zwischen Person-Ding-Beziehungen und Person-Person-Beziehungen, indem er darauf hinweist, dass wir an Personen und an Dingen natürlich Unterschiedliches schätzen – und, so mag man ergänzen, an unterschiedlichen Personen und unterschiedlichen Dingen wieder Unterschiedliches. Zugleich macht Stirner aber deutlich, dass es sich hier nicht um qualitative Unterschiede handelt. 96 In allen Fällen handelt es sich um ein Eigentumsverhältnis bzw. – wie Stirner im Zusammenhang der zitierten Passage auch schreibt – um ein Verhältnis des »Verbrauchens«. 97 Die Rede vom »Verbrauchen« kann nun wiederum dem angenähert werden, was Hegel den »Gebrauch« einer Sache genannt hat, 98 und zwar in einer doppelten Hinsicht: Wie für Hegel scheint für Stirner das Gebrauchen bzw. Verbrauchen die Vollzugsform des Eigentumsverhältnisses zu sein. Etwas zu gebrauchen bedeutet, etwas als mein Eigentum zu beanspruchen und dementsprechend mit ihm zu verfahren. Zweitens impliziert für Stirner wie für Hegel der Gebrauch die Negation des eigenen Zwecks, der in der Sache liegt, welche auch die materielle Negation, d. h. die Vernichtung der Sache, zur Folge haben kann. Wenn Stirner nun Personen »verbraucht«, dann ist die Ermordung der anderen Person zwar nicht definitorisch ausgeschlossen, aber auch 93 94 95 96 97 98

Vgl. Helms 1968, 269. Vgl. Beta 1863, 267. EE 147. Vgl. auch Fetz 2004, 335. Vgl. EE 147. S.o. Abschnitt 2.

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(fast) nirgends tatsächlich impliziert. 99 Vielmehr scheint es Stirner im Sinne des »eingestandenen Egoismus« darum zu gehen, den Anderen niemals als Endzweck anzuerkennen und ihn stattdessen stets nur als Mittel zu betrachten. An dieser Stelle ist nun ein Einwand unabwendbar. So wird man sehr daran zweifeln wollen, ob Stirner auf diese Weise in der Lage ist, gelingende Intersubjektivität zu denken – eine Frage, die wir bereits im Zusammenhang mit Stirners Egoismus angesprochen haben. 100 Dort haben wir gezeigt, dass Stirner zumindest seinem Anspruch nach sowohl Kooperationen als auch intime Nahbeziehung in seine eudämonistische Ethik einbezieht. Aber schon dort sind wir auf eine gewisse Schwachstelle in Stirners Argumentation gestoßen: Selbst wenn wir zugeben, dass eine gelingende Nahbeziehung kaum in Gegensatz zu dem je eigenen Glück der Partner gedacht werden kann, ist damit noch nicht konzediert, dass Glück so verstanden werden kann, wie Stirner es tut. Diese Frage gewinnt nun, nach Erarbeitung der Bedeutung des Eigentumsbegriffs für Stirners Philosophie, zusätzlich an Gewicht. Kann, so wird man fragen, Glück wirklich einseitig im Aufbau von Eigentumsverhältnissen verstanden werden? Oder anders gefragt: Kann eine monistische Entfremdungstheorie, die jedes Moment der Andersheit in Aneignungsprozessen zu überwinden bestrebt ist, das Erleben von gelingendem Weltbezug abbilden? Diese Fragen laufen zusammen in einem Begriff, der im Einzigen eine tragende Bedeutung gewinnt, im Begriff des »Genusses«. Die Rede vom »Genuss« schließt zunächst erkennbar eng an das semantische Feld an, das sich um den zentralen Begriff des »Eigentums« herum bildet. Der Genuss entspricht dabei dem Vollzug des Eigentumsverhältnisses, das Stirner zu jedem Anderen einzunehmen anstrebt. Mein Verkehr mit der Welt, worauf geht er hinaus? Genießen will Ich sie, darum muss sie mein Eigentum sein, und darum will Ich sie gewinnen. Ich will nicht die Freiheit, nicht die Gleichheit der Menschen; Ich will nur meine Macht über sie, will sie zu meinem Eigentum, d. h. genießbar machen. 101

Auf den ersten Blick scheint das hier geschilderte »Genießen« mit dem Verbrauchen oder Gebrauchen einer Sache synonym zu sein, und so kann Stirner diese Begriffe auch an vielen Stellen annähernd austauschbar verwenden. 102 Allerdings scheint mit dem Begriff des Genusses doch eine gewisse Akzentverschiebung verbunden zu sein. Zumindest fällt auf, dass die von Stirner wie99 100 101 102

Zu Stirners Stellung zur Tötung vgl. Kast 2016b, 383 ff. S.o. Kapitel V, Abschnitt 4. EE 322. So spricht Stirner parallel vom »Benutzen« und »Genießen« des Geliebten, vgl. EE 299.

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derholt gewählte Formulierung, der Liebende »genieße« den geliebten Menschen, 103 wohl deutlich weniger anstößig klingt als die Rede vom »Gebrauchen« des Anderen. Worin liegt dieser Eindruck begründet? Und hat sie einen Anhalt an Stirners Verständnis der Begriffe? Eine mögliche Erklärung kann unter Rückgriff auf die Überlegungen gefunden werden, die Augustin zum glücklichen Leben angestellt hat. Augustin unterscheidet in De doctrina christiania zwischen zwei Verhältnissen, die wir zu einem Gegenstand einnehmen können, wir können ihn »gebrauchen« oder »genießen«. 104 Augustin schreibt: »Genießen bedeutet nämlich, aus Liebe irgendeiner Sache um ihrer selbst willen anzuhängen; gebrauchen aber bedeutet, alles, was sich für den Gebrauch anbietet, auf das Erlangen dessen zu beziehen, was du liebst [. . . ]« 105 Der Unterschied der beiden Verhältnisse besteht also darin, dass im Genuss die Sache als ein Zweck an sich selbst behandelt wird, während sie im Gebrauch als Mittel für einen anderen Zweck erscheint. Augustin reserviert nun das Genießen zwar streng für Gott bzw. für die göttliche Trinität, 106 so dass die »Welt« nur als Gegenstand des Gebrauchens in den Blick kommen kann. 107 Allerdings kann Augustins Unterscheidung für eine Theorie der Intersubjektivität fruchtbar gemacht werden. Demnach scheinen genusshafte und darum beidseitig als gelingend erfahrene Begegnungen mit dem Andern dadurch bestimmt, dass der Andere als Zweck an sich erfahren wird und wir um seinetwillen handeln. 108 Wie lässt sich diese augustinische Unterscheidung von »Genuss« und »Gebrauch« auf Stirners Konzeption übertragen? Vor dem Hintergrund dessen, was wir über seine handlungstheoretische Position wissen, scheint Stirner keinen Genuss in Augustins Sinne zu kennen. Stirner macht immer wieder deutlich, dass der Egoist weder im Umgang mit Dingen noch im Umgang mit Personen diese als einen Zweck an sich anerkennen will. 109 Genuss und Gebrauch wären dann, in Stirners Sprachgebrauch, tatsächlich synonym. Allerdings gibt es Stellen, die auf eine andere Deutung hinweisen. Dazu möchte ich noch einmal auf eine im fünften Kapitel bereits zitierte Passage zu sprechen kommen. Dort schreibt Stirner: Soll Ich etwa an der Person des andern keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir nicht am Herzen liegen, soll der Genuss, den 103 104 105 106 107 108 109

Vgl. EE 293; 299. Zum folgenden vgl. auch Stock 2000, 24 ff; Lettieri 2007, 379 f. Doctr. cr. 1,4,8. Vgl. Doctr. cr. 1,5,10. Vgl. Doctr. cr. 1,4,9. Vgl. Roth 2002, 174 ff. S.o. Kapitel V, Abschnitt 2–4.

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Ich ihm bereite, Mir nicht über andere eigene Genüsse gehen? Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern, Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung seiner Lust versagen, und was Mir ohne ihn das Teuerste wäre, das kann Ich für ihn in die Schanze schlagen, mein Leben, meine Wohlfahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Lust und mein Glück aus, Mich an seinem Glücke und seiner Lust zu laben. Aber Mich, Mich selbst opfere Ich ihm nicht, sondern bleibe Egoist und – genieße ihn. 110

Versuchen wir Stirners Begriffs des Genusses mit der durch Augustin geprägten Begriffsverwendung zu vergleichen, stoßen wir auf einen Widerspruch. Zum einen liegt dem Ich das »Wohl« des Anderen am Herzen. Das Wohl des Anderen scheint hier zunächst ein Zweck meines Handelns zu sein und nicht bloß ein Mittel. Zum anderen aber betont Stirner am Schluss der Passage, dass ich auch in diesem Fall der »lebendigen Teilnahme« am Wohl des Anderen »Egoist« bleibe. Was ist hier genau gemeint? Erweitert Stirner doch seinen monistischen Eudämonismus und erlaubt das Glück des Anderen als einen Zweck an sich mit einzubeziehen? Dies wäre im Kontext seines Gesamtwerkes kaum wahrscheinlich. Eher könnte man denken, Stirner bestimme das Glück des Geliebten als einen mittelbaren Zweck in dem Sinne, dass es in der Hierarchie der Zwecke teleologisch auf das eigene Wohl des Liebenden bezogen ist. In dieser Deutung müsste man Stirner allerdings vorhalten, dass er das Phänomen nicht erfasst und sich zudem in einen Selbstwiderspruch verwickelt. Das Wohl des Geliebten wird für den Liebenden kaum als von irgendeinem anderen Zweck abhängig erlebt. Dass der Zweck der Person als solcher unverrechenbar ist, hat Stirner zudem für den Fall meiner Person ja mit großer Anstrengung verteidigt. Gilt dies für den Zweck einer anderen Person ebenso, dann kann ich den Zweck des Anderen nur entweder negieren und den Anderen damit zum Mittel machen oder ihn als Zweck an sich anerkennen – wobei Letzteres für Stirner offenbar keine gangbare Lösung zu sein scheint. In seiner Rede vom »Genießen« des Geliebten lässt Stirner im Einzigen die Besonderheit von intimen Nahbeziehungen aufscheinen, ohne dass ihm dort schon eine befriedigende Lösung für eine Integration dieser Besonderheit in seine Theorie der Eigentumsverhältnisse gelingt. Die Einsicht in sein Scheitern an diesem Problem könnte der Grund dafür sein, dass Stirner dieses Thema in seiner Antwort auf die Rezensenten noch einmal aufgreift. Der Einwand, den er dort mehr antizipiert, als dass er ihn von seinen Kritikern aufnimmt, ist folgender: Stirner bestimmt, wie wir gesehen haben, alles Weltverhältnis, auch das Verhältnis zu Personen, im Sinne von Eigentumsverhältnissen. 111 Mein 110 111

EE 293 f. S.o. Abschnitt 2.

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Verhältnis zu meinem Eigentum ist dabei aber dem von Hegel in der Rechtsphilosophie vorgedachten Muster folgend dadurch geprägt, dass ich meinen Zweck in es lege, d. h. auch es zum Mittel für meinen Zweck mache. Kann aber, so nun der Einwand, den Stirner antizipiert, das Phänomen des Genießens in diesem teleologischen Sinne verstanden werden? Enthält nicht die Erfahrung des Genießens ein Moment der »Selbstvergessenheit«? Machen wir nicht gerade in gelingender Intersubjektivität die Erfahrung, dass wir nicht mehr an uns denken, uns vergessen, uns »aus den Augen verlieren«? 112 Der Einwand, den Stirner hier konstruiert, ist ein entscheidender gerade deshalb, weil er seinen Egoismus nicht von einer voraussetzungsvollen normativen Position aus, sondern immanent, mit einem streng eudämonistischen Argument angreift. Der Brennpunkt dieses Arguments scheint in der Frage nach dem Verhältnis einer genussvollen, d. h. subjektiv als gelingend erlebten Weltbeziehung einerseits und einer teleologischen Handlungsform andererseits zu liegen. Zwischen diesen beiden wird häufig ein strukturelles Spannungsverhältnis beobachtet. So hat Robert Spaemann darauf hingewiesen, dass in den als beglückend erlebten Vollzügen unseres Lebens das Glück gerade nicht ein bewusstes Ziel oder ein Zweck unseres Handelns ist. Es stellt sich vielmehr ein, während wir anderes erstreben. 113 Stirners Begriff des Glückes ist nun, wie wir gesehen haben, tatsächlich stark teleologisch durchformt. Mein Glück bzw. mein »Nutzen« erscheint in der Gestalt eines höchsten Zweckes, den ich in allem verfolge, wodurch ich alles als mein »Eigentum« ansehe. Umso überraschender ist dann, dass Stirner in seiner Replik die Beobachtung von der Selbstvergessenheit des Genießenden aufgreift und sie in seine Konzeption zu integrieren versucht. Um dies zu tun, unterscheidet Stirner zwei Formen der »Selbstvergessenheit«. Die erste Form der Selbstvergessenheit stellt sich in Erlebnissen des Glückes ein und besteht darin, nicht an sich zu »denken«, sich selbst »aus den Augen« zu verlieren. Stirner schreibt: Diese Selbstvergessenheit, dieses Selbstverlieren ist ja nur eine Weise unserer Befriedigung, ist nur Genuss unserer Welt, unseres Eigenthums, d. h. Weltgenuss. 114

Diese Form der genussvollen Selbstvergessenheit hält Stirner also mit einem selbstaffirmativen, »eingestandenen« Egoismus ausdrücklich für kompatibel. Daneben gäbe es aber eine zweite Form der Selbstvergessenheit. Diese bestünde in dem Vergessen, dass die »Welt unsere Welt ist«, dass sie unser »Eigentum«

112 113

114

Vgl. KS 354. Vgl. Spaemann 2015, 26 ff. Michael Roth nennt das Glück in Anschluss an Spaemann einen »Nebeneffekt« menschlicher Handlungsvollzüge, vgl. ders. 2011, 37 ff. KS 355.

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ist. In dieser zweiten Selbstvergessenheit nun aber liege nichts Genussvolles, sondern nur eine Bewegung der »Selbstverleugnung«. 115 Wie ist diese Unterscheidung, die Stirner in wenigen Zeilen entwirft, systematisch auszuwerten? Von besonderem Interesse erscheint dabei die Frage, wie Stirner die erste, genussvolle Selbstvergessenheit zu fassen versucht. Hierbei soll das Andere mein Eigentum bleiben, d. h. auch Mittel meiner Zwecke bleiben, zugleich aber soll ich »mich vergessen«, und das heißt ja wohl auch mich als höchsten Zweck meines Handelns zu vergessen. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? Ich möchte vorschlagen, Stirner so zu verstehen, dass er hier innerhalb seiner Handlungstheorie stillschweigend eine Unterscheidung einführt. Demnach hätte eine Handlung einerseits einen intentionalen, erlebten Zweck und andererseits einen transzendentalen Zweck, der als eine Bedingung der Möglichkeit jeder Zwecksetzung vor allen erlebten Zwecken und Intentionen steht. Auf der einen, intentionalen Ebene, könnten wir dann das Wohl des anderen Menschen durchaus als höchstes Gut erleben. Dies geschieht unter anderem in Situationen, in denen wir der existenziellen Notlage eines anderen Menschen begegnen – ein anschauliches Beispiel ist die in diesem Zusammenhang von Stirner geschilderte Situation der Begegnung mit einem »Menschen in Feueroder Wassernot«, in der, wenn wir uns auf die Not des Anderen einlassen, unsere Intention nichts anderes sein wird als die Rettung des Anderen und in keiner Weise unser Glück oder unser Nutzen. 116 Eine solche Absehung vom eigenen Glück als intentionalem Zweck meines Handelns gesteht Stirner also zumindest für manche Fälle ein. Mit etwas Vorsicht könnte man sogar so weit gehen zu fragen, ob für Stirner – wie für Spaemann – das eigene Glück vielleicht sogar niemals als intentionaler Zweck in Frage kommen mag. Auf einer anderen, transzendentalen Ebene dagegen besteht Stirner darauf, dass unser Glück immer der oberste Zweck unseres Handelns bleibt. Diese zweite Ebene ist ungleich schwerer zu fassen. Stirner umschreibt das, was er hier im Blick hat, mithilfe der Formel, dass die »Welt unsere Welt ist«. 117 Damit bezieht er sich auf seinen erweiterten Eigentumsbegriff. Etwas als mein Eigentum zu betrachten bedeutet, dass ich meinen Zweck in es lege. Dies geschieht hier aber offenbar nicht in dem intentionalen Sinne, dass ich in jeder Begegnung mit dem Anderen an mich denken soll. Vielmehr scheine ich gerade auch im selbstvergessenen Genießen den Anderen als mein Eigentum zu betrachten, ja betrachten zu müssen, um ihn genießen zu können. Wenn aber mein Zweck

115 116 117

Vgl. Ebd. Vgl. KS 354 f. Vgl. nochmals KS 355.

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nicht im intentionalen Sinne Zweck ist, wie ist dann die Rede vom Anderen als mein Eigentum zu verstehen? Offenbar wird das Eigentumsverhältnis hier auf eine höhere Ebene verschoben. Mein Zweck, den ich in den Anderen lege, ist nicht ein intentionaler Zweck, dem ich den Anderen als Mittel unterordne, sondern er ist gewissermaßen ein Zweck zweiter Ordnung, der Zwecke zu Zwecken werden lässt. 118 Dieser Zweck zweiter Ordnung scheint nun eine andere phänomenale Struktur zu haben als ein Zweck erster Ordnung, insofern er nicht als Handlungsziel im Bewusstsein präsent ist. Wenn Stirner häufig schreibt, er tue etwas »um seinetwillen«, 119 und damit offenbar auf das Bezug nimmt, was ich einen Zweck zweiter Ordnung zu nennen vorgeschlagen habe, dann wird durch die Formulierung auch einigermaßen anschaulich, dass hier keine erlebte Intention beschrieben sein kann – denn welches konkrete Handlungsziel sollte mit dem Ausdruck, dass jemand »um seinetwillen« handelt, verknüpft sein? Dennoch scheint der Zweck zweiter Ordnung auch eine phänomenale Repräsentation zu besitzen. Stirner scheint dem »aufrichtigen Egoisten« ein Bewusstsein dessen zuzuschreiben, dass »die Welt seine Welt« ist. Die phänomenale Repräsentation des Zweckes zweiter Ordnung scheint also ein unser Streben begleitendes Bewusstsein davon zu sein, dass unsere Zwecke erster Ordnung, unsere Intentionen, auf unser Glück als ein Zweck zweiter Ordnung hin ausgerichtet sind und von diesem her zu Intentionen werden. Dies erklärt nun auch, wie Stirner die in seiner Replik vorgestellte zweite Gestalt der »Selbstvergessenheit« verstehen könnte. Zwar kann das eigene Glück nicht durchgehend oder vielleicht sogar niemals als intentionaler Zweck erstrebt werden. Dass es sich dennoch einstellt, ist die Erfahrung der ersten, genussvollen »Selbstvergessenheit«, von der Stirner spricht. Wenn aber das Glück als transzendentaler Zweck bzw. als Zweck zweiter Ordnung suspendiert wird, dann verlieren unsere Intentionen ihre intentionale Kraft. Wie man sich dies vorzustellen hat, deutet Stirner hier an, indem er einen Begriff gebraucht, den wir aus dem Einzigen kennen: Die zweite Gestalt der Selbstvergessenheit ist »Selbstverleugnung«. Die Selbstverleugnung haben wir im fünften Kapitel dieser Untersuchung kennengelernt als den Versuch, etwas Anderes als das Selbst bzw. das eigene Glück als obersten Zweck zu setzen und den universalen Egoismus zu verleugnen. Dieser Versuch war vor allem in Verhältnissen der religiösen Liebe gegeben. In diesem Zusammenhang hat Stirner an die intuitive Einsicht appelliert, dass die Forderung, eine Liebesbeziehung weiterzuführen, absurd erscheint, wenn uns bewusst wird, dass die Beziehung uns nicht mehr 118

119

In gewisser Anlehnung an Harry Frankfurts Figur der Wünsche zweiter Ordnung, vgl. Frankfurt 2001, 71 ff. S.o. Kapitel V, Anmerkung 48.

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glücklich macht. 120 Diese Beobachtung können wir nun genauer in Stirners Ethik integrieren. Nur das Glück als transzendentaler Zweck ist in der Lage, Intentionen zu Intentionen werden zu lassen. Versuchen wir etwas Anderes als transzendentalen Zweck zu setzen, wäre die Folge, dass uns keine Zwecke mehr zu Zwecken werden könnten und ein genussvoller Umgang mit der Welt unmöglich wird. Diese Analyse nun wirft ein neues Licht auf das Problem der Tragfähigkeit einer von Stirner angebotenen monistischen Konzeption des Glücks. Wenn Stirner das Glück als den Vollzug meines Zweckes am Anderen versteht, so der von Stirner selbst antizipierte Einwand, 121 könne er gerade die lustvolle Erfahrung, dass der Andere mir zum Zweck wird, nicht erklären. Diese Figur kann in Anknüpfung an Augustin als »Genuss« des Anderen beschrieben werden. Da mindestens sämtliche Intimbeziehungen auf der Figur des Genießens beruhen, ist eine Konzeption des Glücks, das diese Figur ausschließt, nachgerade absurd, geradezu pathologisch. Nun haben wir gesehen, dass Stirner ein Erleben des genussvollen Sich-Verlierens im Anderen durchaus mit einbezieht. Nur scheint er dahingehend zu argumentieren, dass seine Rede von dem Eigentum am Anderen auf einer anderen theoretischen Ebene zu verorten ist. Intentional könnte auch Stirner zwischen Genuss und Gebrauch unterscheiden, je nachdem, ob in der Handlung der Andere als Zweck an sich erscheint oder ob er als Mittel für einen andern phänomenalen Zweck gebraucht wird. Dabei scheint auch Stirner zu sehen, dass ein Erleben von Glück konstitutiv davon bestimmt ist, dass ich Dinge und vor allem Personen genießend als phänomenalen Zweck an sich erleben kann. Dem steht aber gerade nicht entgegen, dass in aller meiner Weltbeziehung ich allein mir transzendental Selbstzweck bin. Im Gegenteil: Ein genießender Umgang mit der Welt setzt nach Stirner vielmehr voraus, dass ich mir eben dies bin – und die Welt mein Eigentum. 4. Das Heilige Ich habe in den letzten beiden Abschnitten gezeigt, wie Stirner an Hegels Theorie des Eigentums anschließt und diese zugleich radikalisiert. Das »Eigentum« bzw. die Aneignung wird dabei integrale Kategorie eines gelingenden Weltbezugs und Fundament der eudämonistischen Ethik Stirners. Nun ist das Thema meiner Untersuchung nicht Stirners Ethik, sondern seine Religionskritik bzw. seine Religionsphilosophie. Dennoch sind wir mit dem bis hierhin zurückgelegten Weg unmittelbar bei Stirners religionskritischem Hauptargument an120 121

S.o. Kapitel V, Abschnitt 4. S.o. Anmerkung 110.

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gelangt. Es wird sich nämlich nun erweisen, dass Stirners Religionskritik eine direkte Spiegelung seiner Theorie des »Eigentums« darstellt. Religion, so werde ich zeigen, ist nach Stirner eben diejenige Form des Weltbezuges, die einer aneignenden und damit genussvollen Beziehung zur Welt entgegensteht und diesen Vollzug behindert. Was aber versteht Stirner unter »Religion«? Diese Frage haben wir bisher nicht in dieser Direktheit gestellt. Blicken wir auf das Erreichte zurück, dann haben wir allerdings bereits einige Bausteine für eine mögliche Antwort gesammelt. Gleichsam als ein Vorbegriff und damit wichtigster Anhaltspunkt kann der Begriff der Religion als Entfremdung gelten. Die Bestimmung der Religion über den Entfremdungsbegriff hat Stirner, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, wohl zuerst bei Bruno Bauer kennengelernt, ihn in seinen frühen Texten verarbeitet und auf dem Weg zum Einzigen durch wichtige Elemente aus der Konzeption Ludwig Feuerbachs ergänzt. Damit war Stirner die Theorie der Religion als Entfremdung in einer doppelten Ausgestaltung bekannt: Bauer deutete die Religion als Entfremdung des Menschen von seinen künstlerischen Produkten, die ihm nicht mehr als dieselben, sondern als eine »göttliche Welt« erschienen. 122 Feuerbach dagegen legte den Schwerpunkt seiner Interpretation auf Erfahrungen der Intersubjektivität und erklärte die Religion als eine Entfremdung von der menschlichen »Gattung«, die in der Religion als ein Gott vorgestellt und damit von ihrer Verankerung in den intersubjektiven Vollzügen des Menschen gelöst wird. 123 In beiden Fällen wird das, was in der Religion als Gott vorgestellt wird, als ein Moment des menschlichen Selbst gedeutet. Die Entfremdung erscheint dabei zunächst ein kognitives Problem, das aber praktische Konsequenzen hat. Sowohl bei Bauer als auch bei Feuerbach haben diese praktischen Konsequenzen einen eudämonistischen Einschlag: Dem religiösen Bewusstsein eignet ein Moment des Leidvollen. So gelangen wir zu einer Sicht auf die religiöse Entfremdung als einer Form der dysfunktionalen bzw. leidvollen Selbstbeziehung – eine Figur, die auf den Abschnitt über das »unglückliche Bewusstsein« in Hegels Phänomenologie des Geistes zurückführbar ist. 124 Stirner nun hat den Topos der Religion als Entfremdung, wie er ihn bei Bauer und Feuerbach kennengelernt hat, in mindestens zweifacher Hinsicht modifiziert. Zum Ersten löst sich Stirner in seiner Aufnahme der Entfremdungstheorie von der Fokussierung auf den Gottesglauben, die bei Bauer und Feuerbach noch relativ stark ist. Damit entwickelt Stirner einen streng formalen Religionsbegriff, der es ihm ermöglicht, auch die atheistischen Philo122 123 124

S.o. Kapitel III, Abschnitt 3. S.o. Kapitel IV, Abschnitt 2–3. Zum »unglücklichen Bewusstsein« s. o. Kapitel III, Abschnitt 2.

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sophien Feuerbachs und Bauers noch als »religiöse« Denkformen zu charakterisieren. 125 Zum Zweiten entwickelt Stirner dann aber auch die strukturelle Gestalt der Entfremdungsfigur weiter, die er bei Bauer und Feuerbach vorgefunden hat. Während beide trotz aller Kritik an Hegel an einem dialektischen Modell der Entfremdung festhalten, schreitet Stirner zu einem nicht-dialektischen, monistischen Modell der Entfremdung voran, in welchem die Unterscheidung von Entäußerung und Entfremdung fallengelassen wird. 126 Die Konsequenz einer voraussetzungsreichen substanzontologischen Fixierung des Selbst vermeidet Stirner, indem er das Selbst als sich in gelingenden Aneignungsvollzügen konstituierend bestimmt. 127 Das Problem, wie dieser zuletzt genannte Beitrag Stirners zur Entfremdungsdebatte auf seinen Religionsbegriff zu übertragen ist, soll nun in den Blick genommen werden. Religion als Gestalt der Entfremdung, so wäre die Konsequenz aus der vorangegangenen Analyse, müsste verstanden werden als eine wie auch immer näher bestimmte Störung von Aneignungsvollzügen oder auch als eine Auflösung der Eigentumsverhältnisse, welche beide nach Stirner ein gelingendes, nicht entfremdetes Weltverhältnis ausmachen. Eben dieses, aus Stirners theoretischen Grundentscheidungen umrisshaft extrapolierte Wesen der Religion glaubt Stirner nun zuvorderst in der christlichen Tradition konkret aufweisen zu können. Ausgangspunkt ist dem Verfasser des Einzigen dabei die von ihm so wahrgenommene Feindschaft des Christentums gegen das Eigentum. Stirner schreibt: Eigentumslosigkeit oder Lumperei, das ist also das »Wesen des Christentums«, wie es das Wesen aller Religiosität (d. h. Frömmigkeit, Sittlichkeit, Menschlichkeit) ist, und nur in der »absoluten Religion« am klarsten sich verkündete und als frohe Botschaft zum entwicklungsfähigen Evangelium wurde. 128

Mit der Assoziation von christlicher Tradition und »Eigentumslosigkeit« scheint Stirner auf asketische Strömungen innerhalb des Christentums anzuspielen. Das Christentum würde in dieser Interpretation nach Stirner einen tatsächlichen, anschaulichen Verzicht auf die Aneignung von Wohlstandsgütern fordern. Allerdings würde eine solche Interpretation zu kurz greifen: Nicht nur in einer anschaulichen Askese und einer damit verbundenen Abwendung von der Welt, sondern auch in einer scheinbaren Zuwendung zu der Welt und ihren Gütern kann sich nach Stirner die christliche Eigentumslosigkeit verwirklichen. Wie dies zu denken ist, lässt sich anhand des Begriffs des »Lehnswesens« 125 126 127 128

Gegen Bauer s. o. Kapitel III, Abschnitt 4; gegen Feuerbach s. o. Kapitel IV, Abschnitt 4. S.o. Kapitel III, Abschnitt 4; Kapitel IV, Abschnitt 4; Kapitel VI, Abschnitt 2. S.o. Kapitel VI, Abschnitt 3. EE 319.

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zeigen. 129 Die Rede vom »Lehnswesen« oder von der »Feudalität« entnimmt Stirner einer historischen Konstellation, der von ihm sogenannten »Feudalzeit«, gibt ihr aber einen weiteren, existenziellen Sinn. Das Lehnswesen repräsentiert ein Verhältnis, in dem mir etwas zur Nutzung überlassen wird, dabei aber zugleich das Eigentum eines Anderen bleibt. Diese Figur wendet Stirner nun auf die christliche Religion an. In ihr erscheint die Welt als Eigentum Gottes, das mir als ein Lehen zur Nutzung übertragen wird. Die Überlegungen zum Lehnswesen sind für das Verständnis der Religionskritik des Einzigen meines Erachtens von entscheidender Bedeutung. Im vorangegangenen Abschnitt haben wir gesehen, dass die Etablierung eines Eigentumsverhältnisses zur Welt, das Stirner anstrebt, auf einer gleichsam »transzendentalen« Ebene zu lokalisieren ist. Dem entspricht, dass auch die Störung der Eigentumsverhältnisse auf dieser Ebene stattfinden muss. Die Religion fordert somit nicht, dass wir andere phänomenale Zwecke anerkennen und diesen Zwecken uns und das in unserer Verfügungsgewalt Befindliche als Mittel bereitstellen – so wie es geschieht, wenn wir unsere Güter für Menschen, an denen wir eine »lebendige Teilnahme« haben, opfern. Dies tun wir nach Stirner ohnehin. 130 Die Religion fordert demgegenüber, dass wir einen anderen transzendentalen Zweck anerkennen als unser Glück. Dies aber widerspricht nach Stirner in fundamentaler Weise den Strukturen des menschlichen Daseins und ist daher eine Position, die letztlich nur durch eine Preisgabe dieses Daseins gelebt werden kann, in der wir darauf verzichten zu leben, zu genießen, Intentionen zu haben usw. In der Figur des Lehnswesens hat Stirner die christliche Religion noch verhältnismäßig stark in einer klassisch theistischen Gestalt abgebildet. Ein Gott erscheint hier als Eigentümer der Welt und überträgt sie dem Menschen als Lehen. Diese scheinbare metaphysische oder theistische Engführung des Religionsbegriffes wird allerdings bereits überschritten, indem nach dem Abdanken des christlichen Gottes nun auch der »Mensch« 131 oder der »Staat« 132 als Lehnsherr einer neuen Religion erscheinen kann. Die Eigentumslosigkeit, die Stirner damit in einem umfassenderen Sinne als das Wesen der Religion erkannt zu haben glaubt, wird an vielen anderen Stellen nun noch weiter formalisiert und dabei von dem Motiv eines lehnsgebenden Akteurs ganz getrennt. Dies geschieht durch die Etablierung des zentralen Begriffs des »Heiligen«. Das »Heilige« ist nach Stirner bestimmt als Gegenbegriff zum Eigentum. Heilig ist genau das, was nicht mein Eigentum ist – und umgekehrt. Stirner schreibt: 129 130 131 132

Vgl. zum Folgenden EE 191. S.o. Kapitel V, Abschnitt 3. Vgl. EE 191; 317 f. Vgl. EE 258.

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Fremdheit ist ein Kennzeichen des »Heiligen«. In allem Heiligen liegt etwas »Unheimliches«, d. h. Fremdes, worin Wir nicht ganz heimisch und zu Hause sind. Was Mir heilig ist, das ist Mir nicht eigen, und wäre Mir z. B. das Eigentum Anderer nicht heilig, so sähe Ich's für das Meine an, das Ich bei guter Gelegenheit Mir zulegte, oder gilt Mir umgekehrt das Gesicht des chinesischen Kaisers für heilig, so bleibt es meinem Auge fremd, und Ich schließe dasselbe bei seinem Erscheinen. 133

Mit dem Begriff des Heiligen ist Stirners reifster und eigenständigster Religionsbegriff erreicht. Wichtiges Merkmal dieses Religionsbegriffes ist, dass es sich um einen streng formalen Begriff der Religion handelt. Was Stirner hier vor Augen hat, ist nicht ein Heiliges im Sinne einer substanziellen Kategorie, sondern eine formale Struktur. Dies bedeutet nun gleichzeitig, dass Stirner den so gefassten Begriff der Heiligkeit sehr expansiv verwenden kann. Gerade auch dort, wo der Glaube an Heiligkeit in einem substanziellen Sinne überwunden zu sein scheint, können Verhältnisse der Heiligkeit fortbestehen oder neu entstehen. Stirner schreibt: »Das Heilige lässt sich keineswegs so leicht beseitigen, als gegenwärtig Manche behaupten, die dies ›ungehörige‹ Wort nicht mehr in den Mund nehmen.« 134 Wo aber besteht Heiligkeit? Das Heilige wird Leitbegriff eines semantischen Feldes, das dem Eigentum gegenübergestellt ist. Auf der Seite des »Eigentums« steht das »Eigene«, das »Meine«, das, in dem ich »heimisch« bin. Auf der Seite des »Heiligen« dagegen steht das »nicht Eigene«, das »Unheimliche«, das, in dem ich »nicht heimisch« bin und vor allem das »Fremde«. 135 Dabei scheint die Bedeutung des zweiten Wortfeldes ganz in seiner Funktion als Negation des ersten zu liegen. Heilig ist das, was meiner Aneignung entzogen ist, nicht mein Eigentum ist und es nicht werden kann. Dabei aber geht es nun offenbar nicht um einen rein faktischen Entzug von raum-zeitlichen Sachen. Heilig ist nicht das Geld im Tresor, das ich mir faktisch nicht nehmen kann. Wie wir gesehen haben, ist das Eigentum für Stirner eine existenzielle Kategorie, die nicht auf das je Verfügbare begrenzt bleibt. 136 Im Vollzug des Aneignens wird alles und jedes zu meinem Eigentum. Umgekehrt kann das Heilige nicht verstanden werden als etwas, dass mir faktisch entzogen ist, sondern etwas, das ich mir selbst versage, das ich selbst von meiner Bewegung der Aneignung ausnehme, etwas, das ich mir nicht zu nehmen wage. Oder, wie Stirner schreibt: »Es graut Euch vor der Berührung 133 134 135 136

EE 47. EE 46. Vgl. die dichten Passagen in EE 47; 81 f; 282 f. S.o. Abschnitt 2.

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desselben.« 137 Somit ist das Heilige ebenso wie das Eigentum das Korrelat einer existenziellen Lebensbewegung. Werden die Dinge zu meinem Eigentum durch eine Bewegung der Aneignung, so werden sie heilig durch einen Akt der »Heiligsprechung«. So schreibt Stirner: »Und doch ist kein Ding durch sich heilig, sondern durch Meine Heiligsprechung, durch Meinen Spruch, Mein Urteil, Mein Kniebeugen, kurz durch Mein – Gewissen.« 138 So wie das Heilige nur heilig ist durch mich, so kann ich ihm diesen Status auch jederzeit wieder entziehen. Dies nennt Stirner die »Entheiligung« des Heiligen. Insofern das Heilige dasjenige ist, was sich der Aneignung entzieht, so geschieht die Entheiligung in jeder Bewegung der Aneignung bzw. Wiederaneignung des Heiligen. Dies kann Stirner wiederum mit seiner Metaphorik des Konsums bebildern: Das Heilige wird entheiligt dadurch, dass wir es verzehren. Stirner schreibt: Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit ist, irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den Sprung und stürze hinein durch die Pforten in das Heiligtum selber. Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du's zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los! 139

In seiner Entgegensetzung zum Eigentum bestehen dann auch die nach Stirner lebensfeindlichen Folgen der Heiligsprechung. Dies kann noch einmal anhand des bei Stirner häufig wiederkehrenden Themas der Liebe veranschaulicht werden. In seiner Replik von 1843 greift Stirner die Idee einer »Heiligkeit« der Ehe auf und macht sie dort gewissermaßen zu einem Musterfall seiner Kritik des Heiligen. Stirner schreibt: Das Interesse der Geliebten ist dein Interesse und nur so lange es dein Interesse ist, interessiert es Dich. Erst dann, wenn es aufhört, dein Interesse zu sein, kann es zu einem heiligen Interesse werden, zu einem Interesse nämlich, welches sein soll, obgleich es nicht dein ist. Das bis dahin interessante Verhältniss wird nun zu einem uninteressierten und uninteressanten. 140

Diese Beschreibung kann anhand der Kategorien, die wir im letzten Abschnitt aufgefunden haben, erklärt werden. 141 Während ich den Anderen liebe, solange ich eine »lebendige Teilnahme« an ihm habe, liegt mir sein Wohl am Herzen, weil es mich glücklich macht, sie oder ihn glücklich zu sehen. Mein Glück als ein Zweck zweiter Ordnung lässt mir den Zweck des anderen zum 137 138 139 140 141

EE 82. EE 81. EE 107. KS 358. S.o. Abschnitt 3.

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Zweck werden. Liebe ich ihn aber nicht mehr, heißt das nichts anderes, als dass mich sein Glück nicht mehr glücklich macht, mir sein Zweck kein Zweck mehr ist. Die »Heiligsprechung« der Ehe besteht nun in dem Glauben, es gäbe etwas anderes als mein Glück, was den Zweck des Anderen mir zum Zweck werden lassen kann bzw. als sei dieser Zweck ein Zweck, auch ohne dass ihn sein Bezogen-Sein auf mein Glück zu einem Zweck werden lässt. Dies ist aber nicht der Fall, und so wird die Beziehung durch ihre Heiligsprechung »uninteressant«. Das »Heilige« definiert Stirner dann in diesem Zusammenhang auch als ein »absolut Interessantes, welches ohne den Interessenten interessant sein soll«. 142 Heiliggesprochen wird damit bei Stirner streng genommen der Geliebte selbst. Im Vollzug der Heiligsprechung wird er mir und meiner genussvollen Aneignungsbewegung entzogen. Paradoxerweise wäre es im Fall einer scheiternden Ehe nach Stirner der Vollzug einer Aneignungsbewegung, den anderen gehen zu lassen, wie es umgekehrt ein Zeichen der Heiligsprechung ist, sich an den anderen gebunden zu sehen. In dem Begriff des Heiligen scheint Stirner den Schlussstein für seine gegenüber den Positionen Bauers und Feuerbachs totalisierte Entfremdungstheorie gefunden zu haben. Wenn gelingender Selbst- und Weltbezug immer und überall im Vollzug von Aneignungsbewegungen besteht, wenn Selbstentfremdung somit in einem Scheitern oder Unterbleiben von Aneignungsbewegungen verstanden werden kann und wenn als Korrelat dieses Scheiterns stets ein Heiliges zurückbleibt, dann gewinnt die Kategorie des Heiligen eine sehr umfassende Bedeutung. Heiligkeit wird dann zum Inbegriff entfremdeter Selbstverhältnisse und damit zum Inbegriff scheiternder personaler Existenz überhaupt. Dies korrespondiert mit dem beinahe schrankenlos expansiven Gebrauch der religiösen Semantik bei Stirner. Christliche wie humanistische Ethik, 143 liberale wie sozialistische Gesellschaftsentwürfe, 144 »dogmatische« wie »kritische« Erkenntnistheorien 145 können bei Stirner unterschiedslos als Gestalten einer religiösen Entfremdungsstruktur analysiert und kritisiert werden. Die Möglichkeit einer solchen Ausweitung der Religionskritik beruht fundamental auf Stirners Figur des Heiligen, welche den Religionsbegriff von jedem substanziellen Gehalt befreit. 146

142 143 144 145 146

Vgl. KS 359. Vgl. EE 68. Vgl. EE 107 ff. Vgl. EE 155 ff. Damit wird Stirners Religionsphilosophie zum Vorläufer einer von Emil Durkheim ausgehenden Linie von Heiligkeitskonzeptionen, welche gegenüber einer an Rudolf Otto anschließenden Linie nicht mit einem substanziellen, sondern mit einem formalen Begriff von Heiligkeit argumentiert, vgl. zu den beiden Linien Hock 2014, 15–17.

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Verdaue die Hostie und Du bist sie los! Das Heilige und das Eigentum

Die damit erreichte Weitung der Religionskritik zur »Kritik des Heiligen« wurde von Wolfgang Eßbach als wichtigster Beitrag Stirners zur religionsphilosophischen Diskussion innerhalb der junghegelianischen Bewegung beschrieben. 147 Diese reagiert nach Eßbach teilweise auf das religionssoziologische Phänomen des »Enthusiasmus«, in dem tradierte Formen der Religion sich von theistischen Festlegungen lösen und sich »verweltlichen«. 148 Gleichzeitig überschreite Stirners Kritik des Heiligen den engeren Bereich der Religionskritik, indem er mit ihr – nach Eßbach als Erster unter den Junghegelianern – zu einer materialistischen Philosophie durchstößt. 149 Damit wiederum erscheint Stirners »Kritik des Heiligen« als eine Parallele und in gewisser Weise als ein Vorläufer zu einer anderen, berühmteren Weitung des Religionsbegriffes: zu der Entwicklung der Ideologiekritik bei Karl Marx. Neben Marx bildet Stirners Entwurf für Eßbach einen von »zwei Ausgängen« der Religionskritik im Junghegelianismus. 150 Mit seinem Urteil unterstreicht Eßbach den Bruch zwischen Bauer und Feuerbach auf der einen Seite und Stirner auf der anderen Seite, den auch unsere Analyse ergeben hat. Zugleich bringt Eßbach zwei Aspekte in die Debatte ein, die bis hierhin nicht in den Blick gekommen sind: zum einen die Frage nach der Verortung Stirners in dem Spannungsfeld, das mit den Begriffen »Idealismus« und »Materialismus« markiert wird. Zum anderen die Frage nach Stirners Verhältnis zu seinem weit wirkmächtigeren Nachfolger und Gegner, die Frage nach seinem Verhältnis zu Karl Marx. Beiden Fragen soll im Folgenden, achten Kapitel nachgegangen werden.

147 148 149 150

Vgl. Eßbach 2010a, 55 ff; Eßbach 2014, 697 ff; Eßbach 2017. Vgl. Eßbach 2017, 36. Vgl. Eßbach 2017, 41. Vgl. Eßbach 2014, 718.

Hegel-Studien

VIII. Kindliche Phantasien Religionskritik als Ideologie

M

it dem letzten Kapitel haben wir, wie bereits benannt worden ist, einen vorläufigen Zielpunkt erreicht. Stirners Interpretation der Religion als Verhältnis zum »Heiligen« und seine eudämonistische Kritik an eben diesem stellt die Herzkammer seiner Religionskritik dar. Wenn damit Stirners Kritik der Religion, wie ich glaube, in einer gewissen Vollständigkeit erschlossen ist, so gälte es nun eigentlich, Stirners Perspektive mit gegenwärtigen Fragestellungen der Religionsphilosophie in Beziehung zu setzen. Dies soll im folgenden, letzten Kapitel dieser Untersuchung geschehen, soll an dieser Stelle aber noch einmal aufgeschoben sein. Der Grund für diesen notwendigen Aufschub ist, dass unser bis hierhin erschlossenes Bild der Religionskritik Stirners in einer spezifischen Weise einseitig ist: Bisher habe ich Stirners Religionskritik sowie auch die Religionskritik seiner Zeitgenossen und Gesprächspartner nur auf ihren Gegenstand hin befragt. Ich habe analysiert, was die Junghegelianer kritisieren, wenn sie die Religion kritisieren. Übergangen habe ich dabei die Frage nach den Praktiken und Vollzügen der Religionskritik selbst. Was tun die Junghegelianer, wenn sie Religion kritisieren? Was sind die Bedingungen, die Werkzeuge, die Ziele ihrer Religionskritik? Und inwiefern ist Religionskritik – also eine Kritik der Religion – überhaupt eine geeignete Weise, sich von der Religion zu emanzipieren, sie zu überwinden? Wie ich bereits im Überblick über die junghegelianischen Debatten herausgestellt habe, ist es ein charakteristisches Merkmal dieser Debatte, dass auch ihrem Selbstverständnis nach atheistische bzw. religionskritische Positionen mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, selbst »noch« religiös zu sein. 1 In den analysierten Polemiken Stirners gegen Bauer wie auch gegen Feuerbach konnten wir diese Struktur auffinden. 2 Dabei haben wir den genannten Vorwurf bisher beinahe selbstverständlich auf die Inhalte der kritisierten Positionen bezogen. Die Religionskritik Bauers und Feuerbachs erschienen aus dieser Perspektive als unvollständig, es blieb in ihnen ein nicht »wegkritisierter« religiöser Rest zurück. Man kann aber fragen, ob die Kritik der Religionskritik, die uns in

1 2

S.o. Kapitel I, Anmerkung 34. Zu Bauer s. o. Kapitel III, Abschnitt 4; zu Feuerbach s. o. Kapitel IV, Abschnitt 4.

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Kindliche Phantasien. Religionskritik als Ideologie

Stirner begegnet, nicht noch grundsätzlicher zu verstehen ist. Was, wenn die Religionskritik nicht nur je unvollständig, sondern bereits ihrer Form nach problematisch wäre. Was, wenn das Projekt der philosophischen Religionskritik als solches einen quasi-religiösen Charakter hätte? Für diese These prominent geworden sind Karl Marx und Friedrich Engels, die in den Manuskripten zur später sogenannten Deutschen Ideologie mit der junghegelianischen Religionskritik abrechneten. 3 In dieser Abrechnung haben sie den Blick auf die praktischen Vollzüge der Kritik gelenkt und dabei zugleich die Legitimität der junghegelianischen Diskurs- und Schreibpraktiken grundlegend verneint. Marx und Engels haben dabei Stirner ausdrücklich und sogar in herausgehobener Stellung in den Kreis der »deutschen Ideologen« eingeschlossen. 4 Dies darf aber nicht davon ablenken, dass auch bei Stirner bereits Skepsis gegenüber den traditionellen Formen des Philosophierens durchbricht, die der bei Marx und Engels formulierten in vielen Punkten eine sehr ähnliche ist. Jedem Leser des Einzigen wird auffallen, dass Stirner hier – anders als noch Feuerbach mit dem Wesen des Christentums – kein philosophisches Traktat geschrieben hat. Es entsteht der unmittelbare Eindruck, dass ein Autor hier nicht oder zumindest nicht nur argumentierend für Zustimmung zu einer These wirbt, sondern zugleich provoziert, Tabus bricht, mit Worten spielt und nicht zuletzt auch unterhält. Ich möchte darum in diesem Kapitel die Religionskritik Stirners als einen Vollzug diskursiver Praxis in den Blick nehmen. Dazu sollen zunächst die rationalistischen Vorannahmen benannt werden, die der Religionskritik bei Bauer und Feuerbach zugrunde liegen, die aber im Laufe der 1840er Jahre in eine Krise geraten sind, auf die wiederum Stirner auf der einen Seite und Marx und Engels auf der anderen Seite reagieren (1). Anschließend möchte ich mich den Manuskripten der Deutschen Ideologie und damit zuerst der späteren Antwort auf diese Krise zuwenden. Dabei möchte ich zeigen, dass Marx und Engels ihr Konzept der »Ideologie« als eine Kritik am Programm der junghegelianischen Religionskritik entwerfen, in der die Möglichkeiten einer diskursiven Praxis entfremdungstheoretisch durchdacht wird (2). Das Modell der Ideologie soll dann als Muster dienen, um in den folgenden zwei Abschnitten das zeitlich frühere Modell einer diskursiven Praxis zu analysieren, das Stirner entwickelt hat. Dazu werde ich zunächst Stirners Begriff der »Wahrheit« und dessen Verhältnis zum »Heiligen« vorstellen (3), um anschließend Stirners Schreiben als eine Form des spielerischen Umgangs mit Gedanken jenseits der Kategorien von wahr und falsch verstehbar zu machen (4).

3 4

S.u. Abschnitt 2. DI 4 (H2).

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Was ist Religionskritik?

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1. Was ist Religionskritik? Wenn es darum geht, den Gang einer philosophischen Debatte nachzuzeichnen, ist »Kritik« – bzw. das entsprechende Zeitwort »kritisieren« – vermutlich eines der häufiger gebrauchten Worte. Dies scheint zunächst wenig überraschend, ist es doch eine Trivialität, dass Philosophen ihre Gedanken in »kritischer« Auseinandersetzung mit anderen Philosophen entwickeln, seien es nun Zeitgenossen oder Klassiker. Diese Trivialität darf aber nicht verdecken, dass Kritik – jetzt in einem etwas engeren Sinne gefasst – keineswegs selbstverständlich eine Operation des philosophischen Schreibens ist. »Kritisiert« Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen? Oder Nietzsche in Also sprach Zarathustra? Es ist nicht unmöglich, beides zu bejahen, aber selbstverständlich ist es doch sicher nicht. Diese Beobachtung stärkt den Verdacht, dass Kritik nicht eine allgegenwärtige Dimension des Philosophierens, dass vielmehr die Bestimmung der Philosophie als Kritik eine Möglichkeit unter anderen darstellt. So ist es dann auch möglich, dass in neuerer Zeit ein Denker wie Richard Rorty vorschlagen konnte, im philosophischen Schreiben auf argumentierende »Kritik« lieber ganz zu verzichten. 5 Gegenüber der fehlenden Selbstverständlichkeit einer Bestimmung der Philosophie als Kritik fällt besonders auf, dass die schriftstellerische Praxis der Junghegelianer in besonderer Weise mit dem Begriff der »Kritik« verbunden war. Nachdem die Kritik seit den 1880er Jahren in Deutschland zu einem Leitbegriff der kantschen und von Kant geprägten Philosophie geworden ist und die Systemphilosophen – vielleicht darum – wenig Gebrauch von diesem Begriff gemacht haben, 6 erlebte er in den 1830er und 1840er Jahren im Kontext des Junghegelianismus wieder eine starke Renaissance. David McLellan nennt zu Recht die Kritik die »ständige Parole der Junghegelianer«. 7 Dabei war es vor allem Bruno Bauer, der seine eigene Philosophie programmatisch mit diesem Begriff verband. 8 Dass aber nicht nur er sich dieses Begriffes bedient, zeigen schon die Titel anderer wichtiger Werke dieser Zeit. So verfasst Feuerbach eine Schrift Zur Kritik der Hegelschen Philosophie 9 und erwägt dann zeitweise, seinem später als Das Wesen des Christentums veröffentlichten Hauptwerk den Titel »Kritik der reinen Unvernunft« zu geben. 10 Marx sodann veröffent-

5 6 7

8 9 10

Vgl. Rorty 1994, 227 f. Vgl. dazu auch Jaeggi 2019, 7 f. Vgl. Holzhey 1976, 1272. McLellan 1974, 73; Vgl. auch Pleger 1996, 103, der einen Zusammenhang mit einem wiedererwachenden Interesse an der Philosophie Kants feststellt. Vgl. Pagel 2010; McLellan 1974, 73–77. Vgl. Feuerbach 1839. Zu Feuerbachs Titelsuche vgl. Arndt 2020, 5–7.

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licht nicht nur 1844 eine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 11 sondern bleibt dieser diskursiven Gattung auch noch treu, wenn er sein ökonomisches Hauptwerk, Das Kapital, im Untertitel als eine Kritik der politischen Ökonomie ankündigt. 12 Ich möchte im Folgenden darauf verzichten, den Begriff und Gedanken der Kritik umfassend zu erschließen, und möchte stattdessen den Sonderfall herausgreifen, der in dieser Untersuchung von besonderem Interesse ist, und zwar die Kritik der Religion. Was also ist »Religionskritik«? Ein populäres, bis heute verbreitetes Vorverständnis der Religionskritik würde sich in etwa so darstellen: 13 Religiöse Menschen gründen ihr Leben auf bestimmte Überzeugungen (z. B. den Glauben an die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele usw.), die nicht-religiöse Menschen nicht haben. Der Religionskritiker nun steht auf diesem nicht-religiösen Standpunkt und hält somit die religiösen Überzeugungen in irgendeinem Sinne für unvernünftig. Um den religiösen Menschen zu überzeugen, liefert der Religionskritiker Argumente, die gegen die Vernünftigkeit der religiösen Überzeugungen sprechen, in der Hoffnung, ihn zu überzeugen. Gerade das Theodizeeproblem wäre ein vielversprechender Kandidat für ein solches Gegenargument. Kritik wäre demnach die begründete Ablehnung einer Überzeugung, Religionskritik die rational begründete Ablehnung einer religiösen Überzeugung. Dieses Modell der Religionskritik, das als »kognitivistisch-rationalistisches« Modell bezeichnet werden kann, lässt sich, in angepasster Form, auf die Religionskritik der Junghegelianer durchaus übertragen. So sind Bauer und Feuerbach in ihrer Religionsphilosophie offenbar stark an dem propositionalen Glauben an Gott als der elementaren Form des religiösen Bewusstseins orientiert. 14 Demgegenüber verwundert dann allerdings, dass keiner der beiden in seinen Texten direkte Argumente gegen die Existenz Gottes anbietet. Was tun Sie aber dann, wenn sie Religion bzw. den Glauben an Gott »kritisieren«? Um dies zu erschließen, gilt es daran zu erinnern, dass es sich bei der Religionskritik Bauers und Feuerbachs um eine Entfremdungskritik handelt. Dies impliziert eine charakteristische Perspektive auf das Phänomen der Religion. Religion ist nicht eine freischwebende falsche Überzeugung, sondern ein falsches Bewusstsein von etwas, genauer gesagt ein falsches Bewusstsein des Menschen von sich selbst. Dadurch richtet sich ihre Kritik nicht mehr auf die schlichte Widerlegung religiöser Kognitionen, sondern auf die Freilegung ihres wahren, subjektivitätstheoretischen Gehaltes. 11 12 13 14

Vgl. Marx 1844a. Vgl. Marx 1867. In Anlehnung an das von Winfried Löffler selbst vertretene Modell, vgl. ders. 2019, 137 ff. Zu Bauer s. o. Kapitel III, Abschnitt 3; zu Feuerbach s. o. Kapitel IV, Abschnitt 1–3.

Hegel-Studien

Was ist Religionskritik?

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Bauer und Feuerbach entfernen sich somit ein gutes Stück weit von dem oben beschriebenen, elementaren Modell einer kognitivistisch-rationalistischen Religionskritik. Dennoch verbleiben sie letztlich innerhalb dieses Paradigmas. Zum einen weisen beide Ansätze rationalistische Züge auf. Zwar stellt Feuerbach bereits im Wesen des Christentums die Einseitigkeit bzw. Vorläufigkeit des »Verstandes« als anthropologischer Vollzug heraus, 15 bleibt in seiner Religionskritik dann aber methodisch doch Rationalist, insofern er zu glauben meint, dass die Religion durch eine von einem äußeren Standpunkt aus geführte Kritik aufgehoben werden kann. 16 Zum anderen bieten sowohl Bauer als auch Feuerbach eine kognitivistische Deutung der Religion an. Religiosität besteht für Bauer wie für Feuerbach weiterhin in falschen Überzeugungen. Wo sie die Religion in einem umfassenderen Sinne als Lebensform darstellen, da ist die praktische Dimension dieser Lebensform immer als Folge einer falschen Überzeugung gedacht. 17 Darum sind auch beide offenbar der Meinung, dass die kritische Aufhebung des religiösen Bewusstseins ein selbstständig lohnendes Ziel philosophischen Schreibens darstellt. Sie scheinen anzunehmen, dass die Veränderung des Bewusstseins unmittelbar einem guten Leben dient. Explizit hat dies Feuerbach in einem Brief an Ruge geäußert, wenn er formelhaft schreibt: »neue Lehre, neues Leben«. 18 Es ist gerade auch die zuletzt genannte Implikation der junghegelianischen Religionskritik, die Ulrich Pagel im Blick hat, wenn er sie und mit ihr den junghegelianischen Diskurs insgesamt als »spätaufklärerisch« beschreibt. 19 Der »aufklärerische Diskurs« und das mit ihm verbundene »bewusstseinszentrierte Modell der gesellschaftlichen Veränderung« sei nun allerdings, so Pagel, in den Jahren 1842/43 in eine tiefe Krise gestürzt. Wendepunkt ist für Pagel vor allem die »Enttäuschung« über das reaktionäre Handeln des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. und das damit verbundene Verbot der von Marx herausgegebenen Rheinischen Zeitung im März 1843. In einem weiteren Sinne schließt diese Enttäuschung aber auch das Ende der Deutschen Jahrbücher in Sachsen sowie die Absetzung Bauers als Privatdozent an der Theologische Fakultät in Bonn mit ein. 20 Wie regieren die Junghegelianer auf die »Enttäuschung« von 1842/43? Pagel zufolge markieren diese Jahre den Scheideweg, an dem sich ihre Wege trennen. Während Bauer und Feuerbach im Wesentlichen an ihrem Ansatz festhielten, nahmen Stirner und Marx die Enttäuschung zum Anlass, die Frage nach den 15 16 17 18 19 20

S.o. Kapitel IV, Abschnitt 3. Vgl. Brudney 1998, 274 ff, der allerdings auch Stirner nicht von diesem Urteil ausnimmt. Zu Bauer s. o. Kapitel III, Abschnitt 3; zu Feuerbach s. o. Kapitel V, Abschnitt 1. Feuerbach 1843, 485. Vgl. auch Weckwerth 2002, 81 f. Vgl. Pagel 2020, 25. Vgl. Pagel 2020, 136 ff.

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Bedingungen des aufklärerischen Handelns radikal zu stellen. 21 Den »aufklärerischen Diskurs« und auch das mit ihm verbundene »bewusstseinszentrierte Modell der gesellschaftlichen Veränderung« hätten beide damit aber wohlgemerkt nicht verlassen. Vielmehr hätten sie nur deren »philosophische Form« überwunden, indem sie alternative Formen der »Evidenzproduktion« entwickelt hätten. Stirner nahm Abstand von der »philosophischen Evidenz« und wandte sich einer »Evidenz alltagsprachlicher Vertrautheit« zu, Marx und Engels wiederum folgten ihm in der Kritik an Bauer und Feuerbach, optierten allerdings ihrerseits nun für eine »Evidenz empirisch-konstatierbarer Tatsachen«. 22 Pagels Erzählung über den Bruch zwischen Marx und Engels auf der einen und den Junghegelianern auf der anderen Seite nimmt zentrale Momente aus Engels retrospektiver Selbstdeutung von 1886 auf. 23 Allerdings modifiziert Pagel diese Selbstdeutung in doppelter Hinsicht. Zum einen »rehabilitiert« er Stirner und weist ihm – und nicht Feuerbach – die Rolle des wichtigsten Vordenkers der Position zu, die Marx und Engels im Anschluss entwickelt haben. 24 Zum anderen vertauscht Pagel die auf ontologische Fragen verweisende Terminologie vom »Materialismus« und vom »Idealismus« gegen die Kategorien der »Evidenzproduktion« und lenkt so den Blick von der Metaphysik auf die Theorie der diskursiven Praxis. 25 Ich möchte im Folgenden Pagels Urteil in seiner Tendenz zustimmend aufnehmen und Stirner und Marx als Vertreter eines gegenüber Feuerbach und Bauer neuen Modells der Kritik verstehen. Dabei möchte ich allerdings gegen Pagel eine leichte Akzentverschiebung vornehmen in der Frage, wie dieses neue Modell zu rekonstruieren ist. Dazu möchte ich auf den Begriff der Entfremdung zurückgehen, der meines Erachtens alle bei Pagel wie auch hier benannten Zweige der junghegelianischen Debatte um die Religionskritik verbindet. Marx, Engels und Stirner entwickeln, so werde ich zu zeigen versuchen, ihre Skepsis gegenüber vorangegangenen Formen der Religionskritik aus der Entfremdungstheorie heraus, die sie von Bauer und Feuerbach übernehmen, wobei die in den Blick genommene religionskritische Praxis nun selbst als Gestalt der Entfremdung erscheint. 26

21 22 23 24 25

26

Vgl. Pagel 2020, 656. Vgl. Pagel 2020, 650. S.o. Kapitel I, Abschnitt 1. Vgl. auch schon Eßbach 1978. Hierhin weicht Pagel von der Interpretation Eßbachs ab, dessen Neubewertung der Rolle Stirners er gleichsam aufnimmt, zu Eßbach s. o. Kapitel VII, Abschnitt 4. Vgl. ähnlich schon Ruzicka 1977, 113.

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Die Manuskripte zur »Deutschen Ideologie« (1845/47)

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2. Die Manuskripte zur »Deutschen Ideologie« (1845/47) Die biographischen Beziehungen zwischen Karl Marx und Friedrich Engels auf der einen Seite und Max Stirner auf der anderen Seite sind locker. Engels kannte Stirner immerhin aus dem Kreis der »Freien« in Berlin, sie verband eine »Dutz-Bruderschaft«. 27 Marx und Stirner sind sich dagegen wohl nie persönlich begegnet. 28 Aus dem Kreis der Korrespondenten der Rheinischen Zeitung indes ist Stirner ausgeschieden, als Marx die Chefredaktion übernahm, inhaltliche Differenzen werden hier bereits eine Rolle gespielt haben. 29 Pagel weist darauf hin, dass Marx zum Beginn seiner Herausgeberschaft die Korrespondenten aus dem Kreis der »Freien« insgesamt einer strengen redaktionellen »Zensur« unterworfen hat. 30 Die im Zusammenhang der Neuorientierung der Zeitung von Marx geäußerte Bemerkung, er beabsichtige »die Religion mehr in der Kritik der politischen Zustände als die politischen Zustände in der Religion zu critisieren«, 31 wirft in jedem Fall einen Schatten voraus auf eines der zentralen Probleme, das Marx und Engels ab 1845 in einer intensiven Auseinandersetzung mit Stirner bearbeiten würden. Zu der folgenschweren intellektuellen Berührung zwischen Marx, Engels und Stirner kam es durch die Veröffentlichung des Einzigen. Diesen las Engels schon im Herbst 1844 und schrieb in einem Brief an Marx einen abwägenden, im Ganzen aber würdigenden Lektürebericht. 32 Marx las nun selbst und kam zu einem anderen Eindruck, und so waren die Jahre 1845 bis 1847 für Marx und Engels bestimmt von der Arbeit an einem Publikationsprojekt, dass im Wesentlichen eine polemische Abrechnung mit Stirners Einzigem darstellt, zugleich mit diesem aber auch Bauer und Feuerbach endgültig zu überschreiten versucht. 33 Die zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Manuskripte sind ab 1932 unter einem (re)konstruierten Titel als Deutsche Ideologie herausgegeben worden 34 und haben unter anderem die Rezeption Stirners seitdem stark geprägt. Von der früher nicht seltenen Neigung, der Tendenz der Verfasser zu folgen und Stirner zum schärfsten Antipoden Marxens zu stilisieren, 35 ist die neuere Diskussion allerdings mehr und mehr zurückgetreten, 27 28 29 30 31 32 33 34

35

Vgl. Stepelevich 1974, 323. Vgl. Mackay 1914, 90 Vgl. Kast 2016a, 43 f. Vgl. Pagel 2020, 116 f. Marx 1842, 38; vgl. dazu Pagel 2020, 117 f. Vgl. Laska 2017, 77. Vgl. auch Stepelevich 1974, 323 f. Vgl. Laska 2017, 75 ff. Trotz seines Status als spätere Rekonstruktion verwende ich im Folgenden diesen im 20. Jahrhundert etablierten Titel für die unveröffentlichten Manuskripte von 1845 bis 1847, zum Abfassungs- und Editionsprozess s. u. Seite 212 ff. Vgl. vor allem Helms 1966; vgl. auch Herzberg 1968; Holz 1976, 11 ff.

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um die Kontinuität zwischen Stirner und den Verfassern der Manuskripte zur Deutschen Ideologie zu betonen. 36 Andreas Vieth fasst wohl inzwischen einen Konsens zusammen, wenn er über Stirner auf der einen Seite und Marx und Engels auf der anderen Seite schreibt: »Zum einen sind Stirner und Marx sich näher als der polemische Ton erwarten lässt, zum anderen sind die Positionen beider sehr viel unklarer, als der dezidierte Ton der Diskussion unterstellt.« 37 Wenn ich mich im Folgenden der Deutschen Ideologie zuwende, dann soll es dabei nicht um eine Analyse oder Bewertung der Kritik an Stirner in den Manuskripten gehen. 38 Stattdessen möchte ich mit einer sehr begrenzten Fragestellung an den Text herantreten, und zwar mit der Frage nach der darin entwickelten Haltung zur Religionskritik. Diese Haltung erhält dort gegenüber der in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1844 entwickelten Position eine grundlegende Neufassung, die eng mit dem Begriff der »Ideologie« verknüpft ist und die, wie ich zeigen möchte, als eine Metakritik der junghegelianischen Religionskritik verstanden werden kann. Diese Fassung einer Metakritik der Religion kann – unbeachtet der Frage nach einer gedanklichen Priorität – als Folie oder Muster gebraucht werden, um eine sehr ähnliche Figur bei Stirner zu erschließen. Beginnen möchte ich mit der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1844. 39 Dieser Text mag der wohl am meisten wahrgenommene Beitrag Marxens zur Frage nach seiner Religionskritik bzw. zur Frage nach seiner Haltung zur Religionskritik sein. 40 Gleich der berühmte erste Satz lenkt dort den Fokus auf diese Fragestellung. Marx schreibt: »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.« 41 Das Urteil, das Marx hier spricht, ist stark ambivalent. Zum einen erkennt er die Leistung der religionskritischen Philosophie seiner – nicht namentlich genannten – Vordenker an. Zum anderen aber depotenziert Marx ihre Bedeutung auch wieder, indem er sie zur »Voraussetzung« einer andern Kritik herabsetzt, die noch folgen muss. Die entscheidende Frage, deren Beantwortung zur Auflösung dieser Ambivalenz führen kann, scheint zu sein, wie Marx den Begriff der »Voraussetzung« näher fasst und wie damit die Kritik der Religion als Voraussetzung für eine weiterführende Kritik verstanden werden kann. Dies wird im weiteren Verlauf 36

37 38 39 40 41

Vgl. Eßbach 1978, Pagel 2020; abwägend Thomas 2011. Vgl. auch den Forschungsüberblick bei Pagel 2020, 18 ff. Vieth 2016, 59. Eine solche bietet ausführlich Pagel 2020, 492 ff. Vgl. Marx 1844a. Vgl. nur Weinrich 2012, 146–149; Vieth 2016, 170 f; Kern 2019, 7–9. Marx 1844a, 170.

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Die Manuskripte zur »Deutschen Ideologie« (1845/47)

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der entsprechenden Passage deutlicher. Dort skizziert Marx ein Modell der Religionskritik, das zumeist als Zusammenfassung und Aufnahme der Position Feuerbachs gelesen wird. 42 Allerdings bleiben die Formulierungen sehr vage und könnten ebenso als Verweis auf den parallel entstandenen und wirkmächtig gewordenen religionskritischen Ansatz Bruno Bauers gelesen werden. 43 Vieles spricht dafür, Marx Position hier eher als eine übergreifende, unspezifische Auseinandersetzung mit der entfremdungstheoretischen Religionskritik zu lesen. So schreibt Marx: Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. 44

In dieser Formulierung könnten wohl Feuerbach und Bauer gleichermaßen ihren Ansatz zutreffend beschrieben sehen. Im Folgenden weicht Marx dann allerdings in einem wesentlichen Punkt von Bauer und Feuerbach ab. War bei Bauer und Feuerbach die Religion mit einer Struktur der Entfremdung identifiziert, so erscheint bei Marx die Religion zwar mit einer Struktur der Entfremdung verbunden, wird aber mehr als Folge der Entfremdung verstanden. Dazu nimmt Marx zunächst den Gedanken Feuerbachs auf, dass »der Mensch«, d. h. die Gattung, als Inbegriff der menschlichen Sozialität zu verstehen ist. Die Entfremdung zwischen Individuum und Gattung ist aber nicht wie bei Feuerbach das Wesen der Religion, sondern scheint der Religion voranzugehen. »Dieser Staat, diese Societät produziren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.« 45 Damit wird die Religion zu einem Symptom der Entfremdung, zu einem »Ausdruck des wirklichen Elends«. 46 Bei diesem »Ausdruck« handelt es sich aber nicht etwa um ein Symptom im Sinne eines Anzeichens, das verlässlich auf seine Ursache verweist, sondern um ein trügerisches Symptom, das seine Ursache in spezifischer Weise verschleiert. Die »Kritik der Religion« besteht nun nach Marx darin, diese »Illusion« aufzuheben und so eine Kritik des »wirklichen Elends« möglich zu machen. 47 Die kurze Eingangspassage zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie bietet keine systematisch ausgearbeitete Theorie der Religion bzw. der Religi42 43

44 45 46 47

Vgl. nur Kraus 1981, 200; Kern 2019, 7 f. Bauers Einfluss betont McLellan 1974, 93 ff. Eine Offenheit für beide Seiten sieht Schmidt 2018, 24 f. Marx 1844a, 170. Marx 1844a, 170. Vgl. Marx 1844a, 171. Vgl. ebd.

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onskritik. Dreierlei lässt sich aber festhalten. Zum Ersten operiert Marx hier mit einem Begriff der Entfremdung, welcher diese vornehmlich im Feld der Sozialität lokalisiert. Dies ist eine Akzentverschiebung gegenüber Bauer und Feuerbach, bei denen die Entfremdung zwar soziale Folgen hat, aber letztlich eine Bestimmung des Bewusstseins darstellt. Zum Zweiten erkennt Marx an, dass diese soziale Entfremdung in irgendeiner Form verbunden ist mit einem Bewusstseinsphänomen namens »Religion«. Dieses scheint nicht selbst eine Gestalt von Entfremdung zu sein, wohl aber eine Funktion im Diskurs über Entfremdungsphänomene zu haben, genau genommen eine Störung dieses Diskurses darzustellen. Durch »Religion« ist die notwendige diskursive Kritik der entfremdeten Sozialität gestört. Drittens nun scheint Marx davon auszugehen, dass eine »Kritik der Religion« die »Religion« aufzulösen vermag. Damit hebt sie zwar nicht die Entfremdung selbst auf, kann allerdings den Diskurs über Entfremdung von Störungen befreien und so einer Aufhebung von Entfremdung mittelbar dienen. Wenn Marx somit 1844 die Religionskritik teilweise legitimiert, dann tut er das, indem er Religion und Religionskritik als Diskursphänomene versteht und auf ihre Funktion für gesellschaftliche Prozesse hin befragt. Damit gibt er der Religionskritik gegenüber Bauer und Feuerbach eine entscheidende Neuakzentuierung. Gleichzeitig erkennt er die Leistung der Religionskritik, wie Bauer und Feuerbach sie entwickelt haben, ausdrücklich an. Dies ändert sich grundlegend mit den Manuskripten zur Deutschen Ideologie. Wie oben bereits herausgestellt haben Marx und Engels kein Werk mit diesem Titel veröffentlicht. 48 Stattdessen entstanden die später unter diesem Titel kompilierten Manuskripte in einem längeren Arbeitsprozess, bei dem zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Publikationsvorhaben verfolgt wurden. 49 Eine wichtige Frage in der Auswertung der Manuskripte betrifft den Status der Texte, die von Marx und Engels dem sogenannten Kapitel »I. Feuerbach« zugeordnet wurden (die drei fragmentarischen Kapitelanfänge H2, H3, und H4 sowie H5, H7 und H8). Diese Textgruppe wurde ab Juni 1846 ursprünglich für die Erstellung eines Anfangskapitels zum ersten Band einer Vierteljahresschrift erarbeitet. 50 Gemeinsam mit der 1846 schon in Paris nach dem Scheitern der Vierteljahreschrift abgefassten »Vorrede« (H1) 51 sind die Texte dieser Gruppe die wohl meist gelesenen aus den Manuskripten zur 48

49

50 51

Vgl. Pagel / Hubmann / Weckwerth 2017, 727 f, wenn auch der Titel von Marx brieflich als Titel für ein mit den Manuskripten verbundenes Publikationsprojekt verwendet wurde, vgl. ebd. 778 f. Zum Abfassungsprozess vgl. insgesamt Pagel / Hubmann / Weckwerth 2017, 731 ff; zur Editionsgeschichte vgl. ebd. 784 ff. Vgl. Pagel / Hubmann / Weckwerth 2017, 771 f. Vgl. Pagel / Hubmann / Weckwerth 2017, 774 f.

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Deutschen Ideologie. Dies mag zunächst unproblematisch erscheinen, enthält diese Textgruppe doch inhaltlich sehr dichte Passagen und wurde von Marx und Engels ja offenbar auch im späten Stadium der Abfassung als programmatisches Anfangskapitel geschrieben bzw. zusammengestellt. Was bei diesem Zugang, der auch durch frühere, harmonisierende Textausgaben begünstigt wurde, zurücktritt, ist allerdings die Bedeutung des Manuskriptes H11 und der darin erfolgten intensiven Auseinandersetzung mit Stirners Einzigem für die Gedankenentwicklung der Verfasser. 52 Neben der schieren Länge dieses Manuskriptes ist es vor allem die abfassungsgeschichtliche Priorität, die dafür spricht, es in seiner Bedeutung höher einzustufen, als es bisher geschehen ist. So ist der in der Rezeption prominente Begriff der »Ideologie« abfassungsgeschichtlich zum ersten Mal im Rahmen der Stirnerkritik aufzufinden und darum wohl auch aus dieser erwachsen. 53 Obwohl diese philologischen Erkenntnisse, die in der Neuausgabe der Manuskripte zur Deutschen Ideologie für die MEGA2 abgebildet wurden, 54 wertvolle Hinweise für die Interpretation bieten können, möchte ich im Folgenden dennoch vorsichtig von der »dekonstruktivistischen Lesart« der Neuausgabe (Harald Bluhm) 55 abweichen: Auch wenn sie sicher ein späteres Stadium der Arbeit an den Manuskripten repräsentiert, erscheint es mir dennoch gangbar, nicht das Manuskript H11, sondern weiterhin die Textgruppe des von Marx und Engels geplanten Kapitels »I. Feuerbach« – ergänzt durch die etwas später entstandene »Vorrede« – in den Mittelpunkt einer Interpretation zu stellen. Was also ist die Stoßrichtung der Texte in dieser Gruppe und wie verhalten sie sich zur Religionskritik der Junghegelianer? Betrachten wir dazu zunächst die 1846 verfasste »Vorrede«. Dort heben die Verfasser folgendermaßen an: Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen. Nach ihren Vorstellungen von Gott, von dem Normalmenschen u. s. w. haben sie ihre Verhältnisse eingerichtet. Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer sich gebeugt. Befreien wir sie von den Hirngespinsten, den Ideen, den Dogmen, den eingebildeten Wesen, unter deren Joch sie verkümmern. Rebelliren wir gegen diese Herrschaft der Gedanken. Lehren wir sie, diese Einbildungen mit Gedanken vertauschen, die dem Wesen des Menschen entsprechen, sagt der Eine, sich kritisch zu ihnen verhalten, sagt der Andere, sie 52

53 54 55

Vgl. Vilesis / Wolf 2018, 137. Bei den für das Feuerbachkapitel zentralen Manuskriptteilen H5b und H5c handelt es sich zudem um Ausgliederungen aus H11 und damit um im Rahmen der Stirnerkritik entwickelte Texte, vgl. Pagel / Hubmann / Weckwerth 2017, 753 f. Vgl. Pagel 2020, 629 f. Vgl. Pagel / Hubmann / Weckwerth 2017, 794 ff. Bluhm 2010, 6.

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sich aus dem Kopf schlagen, sagt der Dritte, und – die bestehende Wirklichkeit wird zusammenbrechen. 56

Liest man diese Zeilen, dann entsteht zunächst der Eindruck, als sprächen die Verfasser hier selbst. Tatsächlich handelt es sich aber um die Parodie einer fremden Position. Der ironische Charakter der Passage wird erst mit dem letzten Satz deutlich, in dem Marx und Engel drei namentlich nicht genannte Personen sprechen lassen. Mit der Formulierung, man wolle in seinem Denken »dem Wesen des Menschen entsprechen«, sich zu den Gedanken »kritisch verhalten« bzw. sie sich »aus dem Kopf schlagen« deuten die Verfasser allerdings darauf hin, dass es Feuerbach, Bauer und Stirner sind, die hier auftreten sollen. 57 Was ist es, was Marx und Engels ihren drei Gegnern in den Mund legen? Es geht kurzgesagt um die Annahme, die Überwindung bestimmter »falscher Vorstellungen« würde eine »Wirklichkeit« zusammenbrechen lassen, d. h. wohl eine gesellschaftsverändernde Wirkung zeigen. Diese Annahme – und wohlgemerkt nicht die benannten »falschen Vorstellungen« selbst – ist es, die Marx im folgenden Abschnitt als die »unschuldigen und kindlichen Phantasien« ihrer junghegelianischen Gegner bezeichnet. In der »Vorrede« nimmt Marx demnach eine metadiskursive Perspektive ein und stellt als Thema der auf sie folgenden Überlegungen das Verhältnis von kritischer Praxis und sozialer Wirklichkeit heraus. Ein Bezug zur Religionskritik findet sich in der Vorrede nicht, die Verfasser sprechen hier mehr allgemein von den »falschen Vorstellungen« als Gegenstand der Kritik. Indem sie Feuerbach, Bauer und Stirner ansprechen, ist allerdings das Projekt einer Kritik der Religion, welches für alle drei Autoren ein wesentliches Anliegen war, mindestens implizit. In einem anderen der Manuskripte richten Marx und Engels den Fokus dann auch gezielter auf die Frage nach der Religionskritik. So schreiben die Verfasser in H2: Die gesamte deutsche philosophische Kritik von Strauß bis Stirner beschränkt sich auf Kritik der religiösen Vorstellungen. [. . . ] Was religiöses Bewußtsein, religiöse Vorstellung sei, wurde im Weiteren Verlauf verschieden bestimmt. Der Fortschritt bestand darin, die angeblich herrschenden metaphysischen, politi56 57

DI 3 (H1). Zu Feuerbachs Rede vom »Wesen des Menschen« s. o. Kapitel IV, Abschnitt 3; zu Bauers »Kritik« s. o. Abschnitt 1; die dritte Formulierung stammt genau genommen nicht von Stirner, sondern aus Feuerbachs Replik, von wo Marx und Engels sie zu zitieren scheinen. Feuerbach schreibt: »Schlage dir den ›Einzigen‹ im Himmel, aber schlage dir auch den ›Einzigen‹ auf der Erde aus dem Kopfe!«, vgl. Feuerbach 1845, 433. Die Formulierung kann indes anschließen an die Rede von der fixen Idee als ein Sparren oder Spuk im »Kopf« des Menschen, vgl. EE 53 f; EE 84.

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schen, rechtlichen, moralischen & andern Vorstellungen auch unter die Sphäre der religiösen oder theologischen Vorstellungen zu subsumieren [. . . ]. 58

Damit geschieht in H2 zweierlei. Zum Ersten interpretieren die Verfasser hier die Kritik der Junghegelianer insgesamt nach dem Paradigma der Religionskritik, insofern diese diejenigen »Vorstellungen«, die der Gegenstand ihrer Kritik geworden sind, unter den Begriff der Religion bzw. der Theologie subsumiert hätten. Dies ist, wie wir gesehen haben, zwar mit Blick auf die junghegelianische Bewegung eine grobe Verallgemeinerung, 59 bildet aber zumindest Stirners geweiteten Religionsbegriff zutreffend ab. Zum Zweiten benennen Marx und Engels die religionskritische Praxis der Junghegelianer hier als »Ideologie«. Dies geschieht in H2 zwar indirekt, aber deutlich, indem das Fragment die Überschrift »Die Ideologie überhaupt, namentlich die Deutsche« trägt. Diese Beobachtung macht aufmerksam auf einen der zentralen und zugleich wohl überraschendsten Aspekte der Ideologietheorie in den Manuskripten zur Deutschen Ideologie: Es ist zunächst nicht die Religion oder religionsanaloge Bildungen, die hier als Ideologie angesprochen werden, sondern gerade die bisherigen Versuche der Religionskritik, vielleicht sogar das Projekt einer Kritik der Religion als solcher. 60 Was aber ist »Ideologie«? Der Zugang zu dieser Frage ist dadurch verkompliziert, dass der Begriff inzwischen in vielfältiger Form zu einem Wort unserer Alltagssprache geworden ist. 61 Zumeist wird man aber doch an Überzeugungssysteme denken, die in irgendeiner Weise kognitiv falsch sind. 62 Auffällig Anderes scheinen dagegen Marx und Engels in der Deutschen Ideologie im Blick zu haben. Nicht Überzeugungssysteme, sondern spezifische Formen der Kritik von Überzeugungssystemen scheinen hier im Blick zu sein – also gleichsam in einer Kritik zweiter Stufe. 63 Wenn wir nun aber versuchen, den Ideologiebegriff der Deutschen Ideologie genauer zu fassen, dann ergeben sich zwei größere Probleme: Zum einen geben die Verfasser dem Begriff nirgends eine systematische Definition und verwenden ihn überhaupt vereinzelter, als man annehmen könnte. Dieser Befund spricht nicht gegen einen interpretationssprachlichen Gebrauch des Begriffes, denn dieser hat sich bewährt, um die problematischen Formen diskursiver Praxis zu bezeichnen, die Marx und Engels umkreisen. Allerdings ergibt sich noch ein zweites Problem und das ist die notorische Unklarheit der Konzeption. Selbst wenn man sich streng auf die Texte des 58 59 60 61 62 63

DI 4 (H2). S.o. Kapitel I, Abschnitt 1. Vgl. Stahl 2016, 241. Vgl. Eagleton 2007, 1 f. Vgl. Jaeggi 2019b, 268 f. Vgl. Holzhey 1976, 1277; vgl. auch Stahl 2016, 239.

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Feuerbachkapitels beschränkt, wird man dort mit mehreren, teilweise schwer miteinander zu vereinbarenden Konzeptionen konfrontiert. 64 Trotz dieser Disparität innerhalb der Texte werden in der Rekonstruktion des in der Deutschen Ideologie entwickelten Ideologiebegriffes zwei wichtige Linien erkennbar. 65 Die erste Linie umfasst Stellen, die darauf hindeuten, dass Marx und Engels sich in der Deutschen Ideologie einer an den Naturwissenschaften orientierten Wissensform zuwenden möchten. Demnach wären alle Wissensformen, die in irgendeiner Form von diesem streng empiristischen Modell abweichen, als ideologisch zu verstehen. In einer zweiten, davon deutlich unterschiedenen Linie beschreiben Marx und Engels »Ideologie« nach einem Paradigma der Entfremdung. Mit Terry Eagleton kann diese Linie folgendermaßen charakterisiert werden: In certain social conditions, Marx argues, human powers, products and processes escape from the control of human subjects and come to assume an apparently autonomous existence. Estranged in this way from their agents, such phenomena then come to exert an imperious power over them, so that men and women submit to what are in fact products of their own activity as though they are an alien force. 66

Je nachdem nun, welche dieser beiden Linien man als dominant ansieht, ergeben sich zwei in ihrer Tendenz alternative Lesarten der Deutschen Ideologie: eine (eher) positivistische und eine (eher) entfremdungstheoretische. 67 Ich möchte im Folgenden die Frage nach einer Gesamtinterpretation nicht stellen, werde aber zu zeigen versuchen, dass und wie die entfremdungstheoretische Lesart in zentralen Passagen des Feuerbachkapitels eine konsistente Interpretation anbieten kann. Um dies zu erreichen, soll zunächst der Begriff des Bewusstseins erschlossen werden. Schon hier zeigt sich der Gegensatz einer positivistischen und einer entfremdungstheoretischen Interpretation. Nach einem positivistischen Modell müsste das Bewusstsein als eine Art Abbildung der Wirklichkeit verstanden werden. Ist diese Abbildung nun aufgrund irgendeiner Störung falsch oder fehlerhaft, so gilt es, die Abbildung am Maßstab der Wirklichkeit zu korrigieren. Wenn Marx und Engels den Begriff des Bewusstseins in H8 gebrauchen, dann wählen sie dagegen einen deutlich anderen Zugang. Dort erscheint »Bewusstsein« nicht als eine Abbildung von Wirklichkeit, sondern als deren »Ausfluss«. Die Verfasser schreiben: 64 65 66 67

Vgl. Stahl 2016, 241 ff. In Anlehnung an Bohlender 2010, 45 ff. Eagleton 2007, 70. Für die positivistische Lesart vgl. Althusser 1969/70, 72 f, Pagel 2020, 554 ff; für die entfremdungstheoretische Eagleton 2007, 70 ff; Rehmann 2019.

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Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Thätigkeit & den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. 68

Die Beschreibung des Bewusstseins bzw. des Geistigen als »Ausfluss« des Materiellen steht in großer Nähe zu dem berühmten Zitat aus H5, wo die Verfasser schreiben, die »herrschenden Gedanken« seien »weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse« 69. Wie aber ist die Rede vom Bewusstsein als »Ausfluss« oder »Ausdruck« der Wirklichkeit zu verstehen? Eine Möglichkeit wäre, dass Marx und Engels geistige Praxis als ein bloßes Epiphänomen der materiellen Praxis begreifen wollen. Auch wenn manche polemisch zugespitzte Formulierung dies nahelegt, so scheint dies nicht die Position der Verfasser zu sein – schon allein deshalb nicht, weil dies keinen Raum für ein positives Selbstverständnis ihrer eigenen schreibenden Arbeit lassen würde. Was also ist dann gemeint? Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet eine Passage aus dem Manuskript H5a. Dort führen die Verfasser wiederum den Begriff des »Bewusstseins« ein. Und wieder betonen Marx und Engels den Zusammenhang des Bewusstseins mit einer außerhalb des Bewusstseins liegenden, materiellen Wirklichkeit. Allerdings geben sie ihm hier eine klarer bestimmte Funktion, indem sie das Bewusstsein mit der »Sprache« gleichsetzen. Die Sprache ist so alt, wie das Bewußtsein – die Sprache ist das praktische auch für andre Menschen existirende, also auch für mich selbst erst exisitirende [sic] wirkliche Bewußtsein, & die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfniß, der Nothdurft des Verkehrs mit andern Menschen. 70

Aus dieser Definition der Sprache wird deutlich, inwiefern das Bewusstsein für Marx und Engels nicht bloß ein epiphänomenaler Anstrich der Wirklichkeit, sondern selbst Teil der Wirklichkeit sein kann. Soziale Kooperation ist ohne Bewusstsein nicht möglich und somit ist das »wirkliche Bewusstsein« dasjenige Bewusstsein, das in dieser Funktion tätig ist. In diesem Sinne könnte auch die Rede vom Bewusstsein als »Ausfluss« oder »Ausdruck« der materiellen Verhältnisse verstanden werden. Bewusstsein wäre dann der Ausdruck von Interessen, Absichten, Wünschen usw. in Praktiken der Kommunikation. Subjekt

68 69 70

DI 135 (H8). DI 60 (H5). DI 30 (H5).

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des Bewusstseins wären individuelle Subjekte, die durch das Bewusstsein in kollektive Strukturen eintreten. 71 Die bis hierhin gewonnene Interpretation festigt sich, wenn wir uns nun der Verkehrung des Bewusstseins in der Ideologie zuwenden, wie sie in H5a geschildert wird. Voraussetzung ist dort die »Teilung der Arbeit«, und zwar speziell die Teilung in »materielle« und »geistige Arbeit«. 72 Solange materielle und geistige Arbeit dieselben Subjekte haben, ist die Funktion der geistigen Arbeit transparent. Erst durch die Verteilung auf verschiedene Subjekte ist es möglich, die Verflechtung von Geistigem und Materiellem zu übersehen. Marx schreibt: Von diesem Augenblicke [d. h. vom Augenblick der Teilung der Arbeit] an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen – von diesem Augenblicke an ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren & zur Bildung der »reinen« Theorie, Theologie, Philosophie, Moral &c überzugehen. 73

Nun wäre zu erwarten, dass die Verfasser in der Folge den Prozess der »Emanzipation« oder Verselbstständigung des Bewusstseins ausführen und beschreiben. Was sie dann tatsächlich beschreiben, ist die Verselbständigung von »gemeinschaftlichen Interessen« gegenüber den »wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen«. Statt Ideen sind es nun soziale Figuren, darunter vor allem der Staat, die sich »festsetzen«. 74 Dieser scheinbare Bruch in der Gedankenführung ist erklärbar, wenn wir die geistige Arbeit als Prozess der Kommunikation und Kooperation erklären. Ideologie entstünde dann durch das Sich-Lösen von Kooperationsformen von den kooperierenden Akteuren. Der Ideologiebegriff, der damit erreicht ist, hat eine erkennbar entfremdungstheoretische Fassung. Dabei nehmen die Verfasser Elemente sowohl der Entfremdungstheorie Bauers als auch derjenigen Feuerbachs auf und wenden diese auf die »geistige Arbeit« an. Von Bauer übernehmen Marx und Engels die Dichotomie von Produzent und Produkt, die bei Feuerbach kaum eine Rolle spielt. 75 Das Bewusstsein erscheint in der Deutschen Ideologie als ein Produkt des Menschen, welcher im Nexus der Ideologie sein eigenes Produkt nicht als das seine erkennt. Von Feuerbach dagegen beeinflusst scheint die 71

72 73 74 75

Vgl. auch die Analyse des »Bewusstseins« als »praktisches Bewusstsein« in der Interpretation der Deutschen Ideologie bei Eagleton 2007, 73 f. Zur Teilung der Arbeit in der Deutschen Ideologie vgl. auch Hindrichs 2010, 125 ff. DI 31 (H5). Vgl. auch Bohlender 2010, 48. S.o. Kapitel III, Abschnitt 3.

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Verknüpfung der »geistigen Arbeit« mit Phänomen der Sozialität. Wie Feuerbach den »Verstand« als »Gattungsvermögen« bestimmt und ihn damit mit der Intersubjektivität in ein Verhältnis setzt, 76 so verknüpfen Marx und Engels das »Bewusstsein« mit der sozialen Kooperation, so dass es erst im Status der Entfremdung von Letzterer losgelöst gedacht wird. Ideologie erscheint also in der Linie, die wir in den Blick genommen haben, als eine entfremdete Gestalt der geistigen Arbeit oder auch der denkerischen Praxis. Hier aber schließt sich unmittelbar eine Frage an, und zwar die Frage nach der Reichweite der marx-engelsschen Ideologietheorie. Zwei grundlegende Alternativen scheinen hier denkbar. Eine starke Lesart würde davon ausgehen, dass für die Verfasser jedes Denken als ein »Bewusstsein der bestehenden Praxis« in dem oben ausgeführten Sinne zu verstehen ist. Demnach würde Denken niemals eine andere Funktion erfüllen als diejenige, soziale Kooperation zu konstituieren. Diese starke Lesart scheint aber gegenüber bestimmten Wissensformen wie dem mathematischen Wissen stark gegenintuitiv. 77 Dementsprechend würde sich eine alternative, schwache Lesart anbieten, der zufolge die Ideologietheorie nur auf das bestimmte, klar abgegrenzte Feld der politischen Kommunikation zu beziehen wäre. In einer solchen Lesart nun aber droht die Ideologietheorie ihr kritisches Potenzial weitgehend zu verlieren, scheinen doch hier Wissensformen durch einen Verweis auf ihre anscheinende Objektivität aus dem Gegenstandsbereich der Ideologieanalyse ausgeschlossen zu werden und damit genau durch diejenige Eigenschaft, die nach Marx und Engels das Selbstmissverständnis ideologischer Bewusstseinsformen ausmacht. Eine mögliche Lösung dieses Problems könnte in einer mittleren Lesart bestehen. Demnach wäre diskursive Praxis zwar nicht immer vollständig in soziale Praxis zu übersetzen, habe aber stets eine soziale Dimension. Diese praktische Dimension hätte nun für die Frage nach der Beurteilung dieser diskursiven Praxis eine Priorität. Ob ein diskursiver Akt in seinem deskriptiven Gehalt wahr oder falsch ist, könnte man dann zwar durchaus beurteilen, zunächst aber wäre wahrzunehmen, dass mit dem Satz auch eine soziale Handlung erfolgt und zu dieser sozialen Handlung wäre eine Stellung zu beziehen. Wie diese mittlere Lesart zu denken ist, soll im kontrastierenden Vergleich der so rekonstruierten Ideologietheorie mit der Theorie des »Bullshits« veranschaulicht werden, wie Harry Frankfurt sie angeboten hat. 78 Bullshit bezeichnet nach Frankfurt eine Form der diskursiven Praxis, die der Lüge zwar 76

77 78

Wobei für Feuerbach der »Verstand« letztlich nicht in der Lage ist, Intersubjektivität herzustellen, da er das »Allgemeine« dem »Besonderen« unvermittelt gegenüberstellt, s. o. Kapitel IV, Abschnitt 3. So auch Eagleton 2007, 78 f. Vgl. Frankfurt 2020.

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verwandt ist, sich von dieser aber auch in charakteristischer Weise unterscheidet. Wie der Lügner hat der Bullshitter eine Täuschungsabsicht. Während der Lügner aber den Anderen über das täuscht, worüber er spricht, täuscht der Bullshitter über die Absicht, mit der er spricht. 79 Die Absicht, die der Bullshitter vorgibt, ist nun die, an wahren Sachverhalten interessiert zu sein. Tatsächlich ist es sehr gut möglich, dass ein Bullshitter manches propositional Wahre sagt, vielleicht sogar ausschließlich propositional Wahres. Gleichzeitig aber verhält er sich gegenüber der Wahrheit dessen, was er sagt, indifferent. Was der Bullshitter verbirgt, ist, »daß der Wahrheitswert seiner Behauptung keine besondere Rolle für ihn spielt«, 80 so Frankfurt. 81 Zwischen der Theorie des Bullshit bei Frankfurt und der Theorie der Ideologie bei Marx und Engels gibt es deutliche Berührungspunkte. In beiden Fällen scheint es um eine Kritik an einem diskursiven Handeln zu gehen, wobei es nicht darum geht, was ein Teilnehmer sagt, sondern was er für Zwecke verfolgt, indem er es sagt. Ebenso könnte man Marx' Kritik an dem Ideologen verstehen. Denn die verborgenen Motive des Bullshitters scheinen mit dem zu korrespondieren, was Marx und Engels als die soziale Funktion von Bewusstsein beschrieben haben. Dennoch gibt es zwei wesentliche Unterschiede zwischen Bullshit und Ideologie. Zum einen scheinen die Verfasser der Deutschen Ideologie dem Ideologen keine Unaufrichtigkeit vorzuwerfen. Der Ideologe täuscht nicht nur Andere, sondern gerade auch sich selbst über seine wahren Absichten. 82 Wichtiger noch ist aber ein zweiter Unterschied der Ideologie zum Bullshit. Frankfurt scheint implizit vorauszusetzen, dass es auch Formen des diskursiven Handelns gibt, in denen es dem Sprecher tatsächlich allein um die »Richtigkeit« geht und scheint eben diesem Sprechen den »Bullshit« entgegenzustellen. 83 Bei Marx und Engels dagegen ist das Gegenteil der Ideologie gerade kein uninteressiertes Sprechen darüber, wie es sich »tatsächlich« verhält. Gerade ein solches Ideal erschiene ihnen wohl als hochgradig ideologieverdächtig. Nicht-ideologisch wäre vielmehr ein Sprechen, welches die sozialen Absichten, die alles Sprechen begleiten, anerkennt und reflektiert. Wir wollen nun auf die Frage nach der Religionskritik zurückkommen, von der unsere Überlegungen zum Ideologiebegriff ihren Ausgang genommen haben. Wie wir gesehen haben, ist es die Philosophie Bauers, Feuerbachs und Stirners und speziell deren Religionskritik, die in H1 sowie in den einleitenden 79 80 81

82 83

Vgl. Frankfurt 2020, 35 f. Frankfurt 2020, 41. Die tatsächlichen Motive des Bullshitters werden bei Frankfurt nicht ergründet, die Wurzel des moralischen Bullshits in einem Bedürfnis nach »Selbsterhöhung« findet Roth 2017, 63– 66. Vgl. auch Löffler 2019, 166 f. Vgl. Frankfurt 2020, 46 f.

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Manuskripten zum geplanten Feuerbachkapitel in besonderer Weise als Gestalt von Ideologie adressiert wird. Was nun werfen Marx und Engels ihren Gegnern vor? Offensichtlich scheint nun, dass die besprochenen Manuskripte nicht auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der junghegelianischen Religionskritik abzielen. Nicht in ihrer Perspektive auf das Phänomen der Religion glauben Marx und Engels von ihren Vordenkern abzuweichen. Was in der Deutschen Ideologie neu gefasst zu werden scheint, ist vielmehr die diskursive Praxis. Mit anderen Worten: Was Marx und Engels an der Religionskritik der Junghegelianer kritisieren, ist nicht, was sie sagen, sondern wie sie es sagen. Diese Metakritik der diskursiven Praxis kulminiert in dem bei Marx und Engels entwickelten Begriff der Ideologie, den sie auf die Religionskritik ihrer Vordenker anwenden. In Übertragung des Begriffs von Frankfurt könnte man sagen: Marx und Engels beschreiben die Religionskritik nicht als falsch, sondern als Bullshit. Allerdings müssen wir bei dieser Formulierung, die Richtiges trifft, sofort wieder an die Unterschiede zwischen Bullshit und Ideologie erinnern. Das spezifische Problem der Ideologie als diskursiver Praxis bestand darin, dass die soziale Funktion dieser Praxis ihren eigenen Akteuren nicht transparent war. Insofern wäre das Problem der junghegelianischen Religionskritiker, dass sie zwar durchaus Richtiges sagen, aber nicht reflektieren, welche soziale Funktion ihre religionsphilosophischen Diskurse erfüllen. Die Innovation Marxens besteht also nicht darin, die philosophische Theorie zum Gegenstand der Entfremdungskritik zu erheben, was wenigstens bei Feuerbach schon geschehen ist, 84 sie bestünde vielmehr darin, philosophische Diskurse unmittelbar als soziale Praxis in den Blick zu nehmen. 85 Ein letzter Schritt ist nun die Frage, was diese Position für die Bewertung der Deutschen Ideologie als diskursivem Produkt selbst bedeutet. Oder anders und allgemeiner gefragt: Kann der Ideologiekritiker gegenüber der Produktion des Bewusstseins einen äußeren Standpunkt einnehmen oder muss Ideologiekritik sich am Ende gegen sich selbst richten? 86 Marx und Engels müssten sich die Rückfrage gefallen lassen, inwiefern sie von der diskursiven Praxis der Junghegelianer abgewichen wären, wenn sie mit der Veröffentlichung ihrer umfassenden Kritik an deren Diskurspraktiken partizipiert hätten, welche sich im marxschen Sinne als eine »reine Theorie« ohne Reflektion ihrer Verortung in einer sozialen Praxis missverstehen. Nun haben Marx und Engels aber die Manuskripte zur Deutschen Ideologie am Ende nicht veröffentlicht. Dies mag zu einem hohen Anteil, vielleicht ausschließlich, von äußeren Fak84 85

86

Vgl. nur Weckwerth 2002, 82 ff. Mit der Verschränkung von Bewusstsein und sozialer Praxis greifen Marx und Engels allerdings eine Einsicht auf, die als eine Pointe der Phänomenologie des Geistes gelesen werden kann, vgl. zu dieser Deutung vgl. Bertram 2017, 19 ff. Vgl. Eagleton 2007, 72.

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toren bestimmt gewesen sein. 87 Dennoch korrespondiert es in überraschender Weise mit den in der Arbeit an den Manuskripten gewonnenen Einsichten, dass diese Einsichten gerade nicht innerhalb des junghegelianischen Diskurses kommuniziert wurden, sondern 1848 in das Manifest der Kommunistischen Partei eingegangen und somit zu dem geworden sind, was Marx und Engels in den Manuskripten anzielen: zu einer Gestalt des Bewusstseins als Form der sozialen Kooperation. 88 3. Religion und Wahrheit Die Manuskripte zur Deutschen Ideologie sind eine große, disparate und zudem fragmentarische Textgruppe. Gegen Ende der Arbeit an den Manuskripten steht die Zusammenstellung von Texten für ein Kapitel »I. Feuerbach« und die Verfassung einer »Vorrede«. 89 Auf diese Textgruppe habe ich meine Interpretation der Ideologietheorie bei Marx und Engels gestützt. Die intensive, fast durchgehende Kommentierung des Einzigen, die in H11 gegeben ist, habe ich nicht verfolgt. Diese Entscheidung ist auch damit begründet, dass die Kritik der Verfasser an Stirner für das Erkenntnisziel unserer Untersuchung nicht als solche interessiert. Was von Interesse ist, ist vielmehr die allgemeine Struktur einer Metakritik der religionskritischen Praxis, die Marx und Engels entwickelt haben. Meiner Analyse nach besteht diese in einer Anwendung junghegelianischer Entfremdungstheorien auf die Praktiken des Philosophierens. Damit vollziehen die Verfasser der Deutschen Ideologie einen Wechsel, der entweder als Wechsel von einem philosophischen zu einem politischen Schreiben oder als eine fundamentale Neufassung des philosophischen Schreibens verstanden werden kann. Zwar war die Stirnerkritik aus H11 nicht selbstständiger Gegenstand unserer Analyse, doch auch in den besprochenen Texten haben die Verfasser Stirner unmissverständlich in den Kreis der von ihnen Kritisierten aufgenommen. Wie schon bemerkt wurde, wird Stirner in der neueren Diskussion demgegenüber immer weniger als Musterfall eines »ideologischen« Denkers, sondern mehr und mehr gar als Impulsgeber für die Entwicklung der marx-engelsschen Ideologietheorie gesehen. 90 Nun fällt zunächst auf, dass Stirner, anders als Marx und Engels, offenbar an dem Begriff der Religion als Titel für das 87 88

89 90

Vgl. nochmals Pagel / Hubmann / Weckwerth 2017, 731 ff. Zum Manifest der Kommunistischen Partei und seiner Beziehung zu den Manuskripten zur Deutschen Ideologie vgl. nur Celikates / Loick 2016, 124–127. S.o. Abschnitt 2. S.o. Abschnitt 2.

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von ihm kritisierte Phänomen festhält. 91 Neben dieser zunächst nur terminologischen Entscheidung bleibt die inhaltliche Frage offen, ob Stirners religionskritische Praxis durch den Vorwurf getroffen wird, den Marx und Engels in ihrer Bestimmung der junghegelianischen Religionskritik als »Ideologie« erheben. Dies, so möchte ich zeigen, ist nicht der Fall. Vielmehr gibt Stirner seiner Religionskritik eine Fassung, die der in der Deutschen Ideologie entwickelten Theorie diskursiver Praxis eng verwandt ist, wenn auch charakteristische Unterschiede erkennbar bleiben. Um zu Stirners Ansatz hinzuleiten, möchte ich zunächst auf das oben skizzierte, kognitivistisch-rationalistische Modell der Religionskritik zurückkommen. 92 Nach diesem Modell besteht die Tätigkeit des Religionskritikers darin, vernünftige Argumente gegen bestimmte religiöse Überzeugungen vorzubringen. Damit verbunden ist umgekehrt die Annahme, dass religiöse Überzeugungen in irgendeinem Sinne irrational sind. Dieses Modell, dass die Positionen Feuerbachs und Bauers zu bestimmen scheint, bricht Stirner bereits in seinem frühen Aufsatz über Kunst und Religion in doppelter Weise auf. Zum einen identifiziert Stirner die Religion hier nicht mehr mit bestimmten Überzeugungen wie dem Glauben an die Existenz eines Gottes. Auf diese Linie sind wir schon aufmerksam geworden und haben sie intensiv bis in den Einzigen hinein verfolgt. 93 Zum anderen aber widerspricht er in seinem frühen Text auch bereits der Annahme, die Religion – sei es nun ein Bündel von Überzeugungen oder eine Praxisform – müsse als etwas Irrationales angesehen werden. Demgegenüber urteilt Stirner in Kunst und Religion, dass Religion und Verstand keinesfalls Gegensätze darstellen. Vielmehr sei die »Religion« selbst eine »Verstandessache«. 94 Wie gelangt Stirner zu diesem Urteil? In einem ersten Schritt erklärt Stirner den »Verstand« als eine Erfahrung von Gewissheit, von der subjektiven Notwendigkeit eines Gedankens. Stirner schreibt: Keine Gewalt ist gross genug, uns den Gedanken zu verrücken, dass 2 mal 2 = 4 ist, und des Verstandes ewiges Wort bleibt diess [sic]: »Hier steh' ich, ich kann nicht anders!« 95

Indem Stirner in seiner Charakterisierung des »Verstandes« auf die Martin Luther zugeschriebenen Worte vom Reichstag in Worms verweist, bereitet Stirner 91 92 93 94

95

Vgl. Eßbach 1978, 74 ff. S.o. Abschnitt 1. S.o. zuerst Kapitel III, Abschnitt 4 u.ö. Vgl. KS 260. Vgl. zu diesem charakteristischen Moment in Stirners Religionskritik vgl. auch Strandberg 2017, 285. KS 260.

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dann bereits den zweiten Schritt seines Arguments vor: Die Parallelisierung des Verstandes mit der Religion. Wie der »Verstand«, so schreibt Stirner, habe auch die »Religion« ein »unerschütterliches Objekt, dem sie verfallen ist« 96. Somit sind Verstand und Religion gleichermaßen an ein »Objekt« gebunden und damit abhängig und unfrei. 97 Die Pointe dieser argumentativen Figur Stirners scheint zu sein, dass die logische Notwendigkeit, die wir in einem mathematischen Satz unter Umständen anerkennen und die zu erkennen als Leistung des Verstandes beschrieben werden mag, als eine praktische Notwendigkeit im Sinne eines Zwanges, so und nicht anders denken zu können, interpretiert wird. Diese Überlegungen nehmen in Kunst und Religion nur knappe zwei Druckseiten ein, werden aber im Einzigen wieder aufgegriffen. Dort stellt Stirner die These auf, das religiöse Bewusstsein sei in seiner denkerischen Praxis durch das Vorhandensein von »fixen Ideen« bestimmt. 98 Anschließend an die früheren Überlegungen versteht Stirner dabei die fixe Idee als einen Gedanken, den ein Mensch nicht ablegen kann: »Was nennt man denn eine ›fixe Idee‹? Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat.« 99 Nun scheint das Motiv der fixen Idee auf den ersten Blick leicht im Sinne einer einigermaßen konventionellen Erkenntnistheorie rekonstruierbar zu sein. So könnte man Stirners fixe Idee in Anschluss an Rahel Jaeggis Konzeption der »Lernblockaden« zu verstehen versuchen. 100 Jaeggi beschreibt Lernblockaden als in individuellen oder kollektiven Lebensformen verankerte Mechanismen, die Lernprozesse – also die Transformation von Einstellungen durch Aufnahme neuer Erfahrung – verhindern oder durch pseudomorphe Lernprozesse ersetzen. Überträgt man diese Konzeption auf Stirners fixe Idee, würde diese auf ein kognitives Problem hinweisen. Zwar wäre die fixe Idee dann nicht ein einfaches Fehlurteil, sondern ein Fehlurteil in Verbindung mit einer metakognitiven Struktur, die die Korrektur dieses Urteils begünstigt. Das Problematische an der fixen Idee wäre aber letztlich schlicht, dass sie falsch ist. 101 Eine solche kognitivistische Lesart der fixen Idee ließe sich konsistent denken. Aber stimmt sie mit der Tendenz der Texte überein? Ist diese Frage für Kunst und Religion nicht durchgehend klar zu beantworten, so ist sie für den Einzigen einigermaßen deutlich zu verneinen. Dies lässt sich zeigen an Stirners dort entwickelter Analyse der »Wahrheit«, welche den Begriff der fixen Idee 96 97 98 99 100 101

Vgl. KS 260. Vgl. KS 261. Vgl. EE 53 f. EE 53. Vgl. dazu Jaeggi 2014, 332 ff. In diesem Sinne scheint Andrew Koch Stirner zu verstehen, wenn er schreibt, »All such fixed ideas [. . . ] lack epistemological validity«, vgl. ders. 1997, 102.

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vertieft und ergänzt, indem sie die ihr zugrundeliegende Struktur erschließt. 102 Stirner schreibt: [W]oran misst und erkennst Du den wahren Gedanken? An deiner Ohnmacht, nämlich daran, dass Du ihm nichts mehr anhaben kannst! Wenn er Dich überwältigt, begeistert und fortreißt, dann hältst Du ihn für den wahren. Seine Herrschaft über Dich dokumentiert Dir seine Wahrheit, und wenn er Dich besitzt und Du von ihm besessen bist, dann ist Dir wohl bei ihm, denn dann hast Du deinen – Herrn und Meister gefunden. Als Du die Wahrheit suchtest, wonach sehnte sich dein Herz da? Nach deinem Herrn! 103 Stirner analysiert hier »Wahrheit« ausdrücklich nicht als Prädikat von Sätzen oder Behauptungen, sondern als eine Kategorie der Subjektivität. Wahrheit besteht in einem bestimmten Verhältnis des Subjekts zu einem Gedanken und dieses Verhältnis ist gekennzeichnet durch eine Erfahrung des »überwältigt«, »begeistert«, »fortgerissen« Werdens. Was Stirner im Blick hat, ist offenbar eine Erfahrung von Evidenz, von einem subjektiven Wahrheitserlebnis. Dieses analysiert er mithilfe der praktischen Figur des Nicht-anders-denken-Könnens, die er bereits in Kunst und Religion gebraucht hat. Mit der Übertragung dieser Figur vom Verstand auf die Wahrheit scheint Stirner seine Position aus Kunst und Religion aber deutlich zu radikalisieren. Nicht mehr nur bestimmte problematische Strukturen zur Erzeugung von Kognitionen scheinen im Blick zu sein, sondern die Rede von »wahren« und »falschen« Kognitionen wird grundlegend problematisch. Stirners Kritik der Wahrheit ist dabei untrennbar verbunden mit seiner Religionskritik. Es wurde bereits angedeutet, dass die Unfreiheit des Menschen gegenüber der fixen Idee von Stirner im Einzigen als Kennzeichen eines religiösen Bewusstseins bestimmt wird. Entsprechendes gilt für den Glauben an die Wahrheit, der als Ermöglichungsgrund der fixen Idee erschlossen wird. Stirner schreibt: »Solange Du an die Wahrheit glaubst, glaubst Du nicht an Dich und bist ein – Diener, ein – religiöser Mensch.« 104 Diese These kann als Übertragung der in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten entfremdungstheoretischen Rekonstruktion der Religionskritik Stirners auf die Erkenntnistheorie verstanden werden. Die Wahrheit erscheint in dieser Sicht als Gestalt des Heiligen, welches sich der Aneignung durch das Subjekt entzieht. »Wahrheit ist, was von dir frei, was nicht dein eigen, was nicht in deiner Gewalt ist.« 105 Wie aber ist umgekehrt ein Eigentumsverhältnis an einem Gedanken vorzustellen, das Stirner hier andeutet? Stirner formuliert folgendermaßen: 102 103 104 105

Zur Figur der »Wahrheit« bei Stirner vgl. auch ausführlich Suren 1991. EE 357. EE 357. EE 356.

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Eigen ist Mir der Gedanke erst, wenn Ich ihn jeden Augenblick in Todesgefahr zu bringen kein Bedenken trage, wenn Ich seinen Verlust nicht als einen Verlust für Mich, einen Verlust Meiner, zu fürchten habe. Mein eigen ist der Gedanke erst dann, wenn Ich zwar ihn, er aber niemals Mich unterjochen kann, nie Mich fanatisiert, zum Werkzeug seiner Realisation macht. 106

Diese Beschreibung bestimmt das Verhältnis des Subjekts zu seinem »Gedanken« analog zum oben entwickelten Verhältnis des Subjekts zu einer Sache sowie auch zu einer anderen Person. Wie den Sachen und Personen ein Zweck innewohnt, den ein Subjekt nicht ohne Verlust der fundamentalen Strukturen seiner eigenen Subjektivität als Selbstzweck anerkennen kann, so scheint auch dem Gedanken nach Stirner ein solcher Zweck eigen zu sein. Diesem unterwerfe ich mich, wenn der Gedanke mich zu seinem »Werkzeug« macht, statt ich ihn. Hier drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Analogie von Personen und Gedanken, die Stirner vornimmt, statthaft ist. Kann einem Gedanken überhaupt ein Zweck innewohnen? Welcher Zweck soll denn dem Gedanken »2 mal 2 = 4« innewohnen, den Stirner in Kunst und Religion als Beispiel bringt? 107 Nun könnte man antworten, dass in Zusammenhängen diskursvier Praxis durchaus manchen Gedanken bzw. versprachlichten Gedanken ein Zweck innewohnt, insofern Menschen einen Zweck mit ihnen verfolgen. Eine Form dieses instrumentellen Sprechens haben wir oben bei Frankfurt kennengelernt. 108 Das Sprechen des Bullshitters war davon gekennzeichnet, dass es eine implizite Absicht verfolgt und gerade nicht daran interessiert ist, etwas »Wahres« oder »Richtiges« zu kommunizieren. Diese Analyse bezieht sich bei Frankfurt auf einen Sonderfall, wenn auch einen verbreiteten Sonderfall des Sprechens. Eine solche »instrumentelle« Dimension 109 kann aber auch umfassender der diskursiven Praxis als solcher zugeschrieben werden. Dies geschieht, nach unserer Lesart, in der Deutschen Ideologie. Die Verfasser nehmen für alle Phänomene des Bewusstseins an, dass es wenigstens auch eine Funktion in Praktiken der sozialen Kooperation erfüllt. 110 Diese Annahme scheint nun auch bei Stirner im Hintergrund zu stehen. In Gedanken sind wir nicht (nur) mit Kognitionen, sondern immer auch mit in sie eingeschriebenen Zwecken konfrontiert. Die Wahrheit eines Gedankens anzuerkennen bedeutet von daher nicht nur einen Akt der kognitiven Zustim106 107 108 109

110

EE 346. S.o. Anmerkung 95. S.o. Abschnitt 2. Zum Begriff des »instrumentellen« Handelns vgl. Habermas 1995, 384 f, der freilich von der Möglichkeit eines nicht zweckrational bestimmten Sprechaktes im Sinne des »kommunikativen« Handelns ausgeht. S.o. Abschnitt 2.

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mung, sondern auch die Unterwerfung unter die in dem Gedanken manifestierten Zwecke. Wenn der Gedanke »2 mal 2 = 4« als teleologisch unbestimmt erscheint, dann nur, weil er in dieser allgemeinen Form von allen Diskurszusammenhängen, in die er eingebettet sein kann, abstrahiert. Real begegnet der Gedanke aber stets in einem konkreten, sozialen Zusammenhang, zum Beispiel im Zusammenhang einer Unterrichtssituation, wie Stirner sie als Lehrer an einer preußischen Mädchenschule häufig erlebt haben mag. In Anschauung eines solchen Zusammenhangs scheint die Annahme einer praktischen, teleologischen Dimension, die in diesem Zusammenhang auch einem mathematischen Satz innewohnt, durchaus nicht mehr absurd: Im Zusammenhang einer Unterrichtssituation erkenne ich durch den Vollzug der Anerkennung des Satzes »2 mal 2 = 4« nicht nur dessen propositionalen Gehalt an, sondern erkenne zugleich die sozialen Konstellationen und Machtstrukturen an, in denen er kommuniziert wird. 4. Von der Kritik zum Spiel Im vorangegangenen Abschnitt habe ich gezeigt, wie Stirner schon in Kunst und Religion und dann schließlich im Einzigen vom kognitivistisch-rationalistischen Modell der Religionskritik abweicht. Dies tut er auch und vor allem dadurch, dass er seine Theorie der Entfremdung auf Phänomene der »Wahrheit« anwendet. Durch seine Sensibilität für die nicht-kognitiven Momente des diskursiven Handelns entwickelt Stirner eine skeptische Neubewertung von Evidenzerfahrungen, welche als eine Erfahrung der Machtlosigkeit gegenüber Gedanken oder Gedankensystemen und deren inhärenten Zwecken verstanden wird. Diese Interpretation des Einzigen lässt nun die Frage anschließen, ob und wie sich Stirners Skepsis gegenüber Phänomenen der Wahrheit bzw. der Evidenz in seinem philosophischen Schreiben selbst niedergeschlagen hat. So hatte ja bereits Feuerbach seine Entfremdungskritik auf den »Verstand« ausgedehnt, ohne daraus Konsequenzen für eine Neubestimmung seiner diskursiven Praxis zu ziehen. Wie ist es nun mit Stirner? Will nicht auch der Einzige überzeugen, für eine These argumentieren, Gegenargumente ausräumen usw.? Diese Frage zu bejahen fällt nun weniger leicht, als man denken könnte, denn der Form eines klassischen philosophischen Traktats entspricht der Einzige tatsächlich nicht. Dieser Umstand wird in der Rezeption immer wieder mit einem Urteil über den niedrigen intellektuellen Rang Stirners verknüpft. So schreibt David McLellan, der Einzige scheine »oft nur aus zusammengetragenen Notizen ohne inneren Zusammenhang« 111 zu bestehen und Robert Paterson urteilt 111

McLellan 1974, 138.

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über Stirner: »[His] conceptual resources are limited«. 112 Beides mag in der Sache nicht völlig falsch sein, allerdings darf der charakteristische Schreibstil Stirners nicht vorschnell in Kategorien des Defizitären gefasst werden. So weist Thomas Seibert zu Recht darauf hin, dass Stirners »Bruch mit den traditionellen Darstellungsformen der Philosophie« programmatisch zu verstehen ist. 113 Auf derselben Linie urteilt Todd Gooch, wenn er über Stirners Argument gegen Feuerbach schreibt: »Stirner's argument does not require or ask for a response, because, on his own admission, it is not an argument.« 114 Der Verdacht, dass es bei Stirner um anderes geht als um eine rationale Argumentation, zeigt sich auch bei seinem Umgang mit dem Begriff der »Kritik«. In einer in erkennbarer Stoßrichtung gegen Bauer geschriebenen Passage greift Stirner dessen programmatischen Terminus auf und distanziert sich von ihm. Stirner schreibt dort: Es kritisiert Jeder, aber das Kriterium ist verschieden. Man jagt dem »rechten« Kriterium nach. Dies rechte Kriterium ist die erste Voraussetzung. Der Kritiker geht von einem Satze, einer Wahrheit, einem Glauben aus. [. . . ] In diesem Glauben und besessen von diesem Glauben kritisiert er. Das Geheimnis der Kritik ist irgendeine »Wahrheit«: diese bleibt ihr energierendes Mysterium. 115

Dieses Urteil soll wohl zunächst Bauer treffen, 116 ist aber in seiner Intention nicht auf Bauers Position beschränkt, sondern geht über diese hinaus. Jede »Kritik«, so scheint die Stoßrichtung dieser Passage, beruht strukturell auf der Anerkennung einer Wahrheit, die als Maßstab der Kritik erscheint. Und – so könnte man in Stirners Sinne das Argument noch zuspitzen – selbst, wenn ein Kritiker die Wahrheit nicht zu haben beansprucht, sondern sie nur sucht, dann schreibt er doch dieser gesuchten Wahrheit einen inneren Wert zu und setzt sie als Selbstzweck. Nachdem Stirner in der zitierten Passage die Kritik nicht nur im Sinne Bauers, sondern in einem viel weiteren Sinne aus seiner philosophischen Methodologie ausgewiesen hat, experimentiert er in einem zweiten Schritt dann allerdings mit einer neuen Bedeutung des Wortes »Kritik«, in welcher die beschriebene Bindung der Kritik an eine Wahrheit aufgelöst wird. Dazu unterscheidet Stirner zwischen einer »dienstbaren« und einer »eigenen Kritik«. 117 Während sich die »dienstbare Kritik« durch die vorab beschriebene Bindung 112 113 114 115 116 117

Paterson 1971, 311. Vgl. Seibert 1997, 15. Gooch 2006, 181. EE 353 f. Zur Kritik Stirners an Bauer vgl. auch Pagel 2010. EE 354.

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an die Wahrheit auszeichnet, wird in der »eigenen Kritik« nicht die Wahrheit als Kriterium gesetzt, sondern das »Ich« wird zum »Kriterium der Wahrheit«. 118 Stirners Neufassung des von Bauer programmatisch verwendeten Terminus der Kritik überträgt dessen ethische Skepsis gegenüber einer Orientierung an der Wahrheit auf die philosophische Methodologie. Hier besteht, wie schon bemerkt, eine enge Parallele zwischen Stirner und den Verfassern der Deutschen Ideologie, die Eßbach als die »Unterordnung des Denkens unter das Interesse« beschrieben hat. 119 Ähnlich wie bei Marx und Engels sind Stirners Versuche, eine alternative Form der diskursiven Praxis zu entwerfen, tastend. Mit der Rede von der »eigenen Kritik« ist einer dieser Versuche gegeben, der aber auf der Ebene eines terminologischen Experiments verbleibt. Dieses Experiment deutet eine Richtung an, in der wir eine Bestimmung der diskursiven Praxis bei Stirner zu suchen haben. Eine in der Rezeption häufig gebrauchte Kategorie, um die Charakteristik der diskursiven Praxis des Einzigen zu fassen, die an dieser Stelle in den Blick genommen werden muss, ist die »Ironie«. Die Vermutung, dass der Verfasser des Einzigen eine ironische Lesart nahelegt oder diese zumindest zulässt, wurde bereits im Zusammenhang der preußischen Zensur geäußert und war wohl mit ein Grund dafür, dass die Drucklegung freigegeben wurde. 120 Und auch in der neueren Rezeption wurde immer wieder in Frage gestellt, ob Stirners Schreiben »ernst« zu nehmen ist. 121 In einer ausgearbeiteten Form vertritt diese These Geert-Lueke Lueken in zwei Aufsätzen, die im ersten Jahrbuch der Max-Stirner-Gesellschaft von 2008 erschienen sind. 122 Im ersten dieser beiden Aufsätze bietet Lueken eine Lesart des Einzigen, der zufolge Stirner nicht nur passagenweise Ironie als ein rhetorisches Stilmittel gebrauche, sondern durchgehend uneigentliche Rede biete. Diese Lesart verbindet Lueken mit einer weitreichenden These über die Identität »Max Stirners«. Dieser Name sei nicht als schlichter Beiname oder Pseudonym des bürgerlichen Johann Caspar Schmidt zu verstehen, sondern verweise auf eine literarische Kunstfigur. Schmidt identifiziere sich ausdrücklich nicht mit Stirner und auch nicht mit dessen provokanten Thesen. 123 Diese wohl denkbar stärkste Variante einer ironischen Lesart des Einzigen ist nun allein aus biographischen Gründen kaum haltbar. Stirner verwendet 118 119 120 121

122 123

EE 359. Vgl. Eßbach 1978, 49. Vgl. Eßbach 2017, 28. Vgl. nur Paterson 171, 298 f; zur ironischen Lesart des »Menschenlebens« s. o. Kapitel VI, Abschnitt 2. Vgl. Lueken 2008a, ders. 2008b; skeptisch dazu Quante 2015a, 261. Vgl. Lueken 2008a, 35 ff.

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seinen Beinamen nicht nur in dem weit überwiegenden Teil seiner kleineren Texte, darunter auch die Mehrheit seiner Zeitungskorrespondenzen, sondern ließ sich wohl auch außerhalb seiner Texte mit diesem Namen ansprechen. 124 Durch die Abweisung seiner Annahme, »Max Stirner« sei mehr Kunstfigur als reale Person, ist Luekens durchgehend ironische Lesart des Einzigen aber noch nicht entkräftet. Um seine Analyse abwägend zu beurteilen, gilt es, genauer zu untersuchen, in welchem Sinne Lueken von »Ironie« spricht. Hierbei scheint Lueken nun zunächst ein alltagssprachliches Verständnis von Ironie als einer »nicht wörtlich zu verstehenden Redeweise« vorauszusetzen. 125 Dieser alltagssprachliche Begriff der Ironie würde implizieren, dass ein Sprecher zwar nicht wörtlich zu verstehen ist, aber durchaus eine propositionale Aussageabsicht hat und diese auch meist ziemlich klar zu erkennen gibt. Wenn ich bei einem Stadtspaziergang in strömendem Regen stehe und zu meinem Begleiter sage: »Was für ein herrliches Wetter!«, dann ist meine Aussageabsicht zwar semantisch invertiert, in der diskursiven Situation aber alles andere als unklar. Ein ironisches Sprechen in diesem alltagsprachlichen Sinn liegt z. B. bei Bauers Posaune vor. Wenn auch die Ironie nicht von jedem Leser dechiffriert worden sein mag, ändert dies doch nichts daran, dass Bauer die klare, propositionale Aussageabsicht hatte, den Atheismus zu affirmieren, und bei seinen intendierten Lesern wohl auch mit Verständnis rechnen konnte. 126 »Ironie« im alltagsprachlichen Sinne lässt sich nun vielleicht in manchen Passagen des Einzigen auffinden, für eine durchgehend uneigentliche Lesart gibt es aber neben der scheinbaren »Absurdität« der im Einzigen entwickelten Gedanken 127 keinen Anhalt am Text. Vielleicht angesichts dieser Aporie hat Lueken seinen Begriff der Ironie im zweiten der genannten Aufsätze noch einmal geschärft. Dort wiederholt Lueken die These von der »Ironie« des Einzigen, greift nun aber die Figur der »liberalen Ironikerin« aus Richard Rortys Essaysammlung Kontingenz, Ironie und Solidarität auf, um sie mit Stirners literarischem Selbstverständnis zu parallelisieren. 128 Ohne dass Lueken ausdrücklich darauf hinweist, verändert sich seine These durch den Bezug auf Rorty grundlegend, da dieser den Begriff der Ironie in einem deutlich anderen als im alltagsprachlichen Sinn gebraucht. Rortys »Ironie« beschreibt nicht eine uneigentliche Redeweise, ja nicht einmal eine abgrenzbare diskursive Handlung, sondern eine fundamentale erkenntnistheoretische Position. 124 125 126 127

128

S.o. Kapitel I, Abschnitt 1. Vgl. Lueken 2008a, 28. S.o. Kapitel III, Abschnitt 3. »Ich halte das alles für absurd und glaube, Stirner wusste, wie absurd es ist«, so schreibt Lueken über die agonale Bestimmung der Intersubjektivität im Einzigen, vgl. ders. 2008a, 38 f. Lueken 2008b, 101 ff. Vgl. dazu Rorty 2018.

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Dies lässt sich zeigen an Rortys Figur der »Neubeschreibung«. Nach Rorty ist die diskursive Praxis der Ironikerin charakterisiert durch diese Figur. Die »Neubeschreibungen« der Ironikerin gründen nicht auf einem Gebrauch der logischen Kategorien von »wahr« und »falsch« – sie verstehen sich vielmehr als eine Möglichkeit, die Dinge zu sehen, die neben anderen Möglichkeiten steht, die Dinge zu sehen. 129 Im Gegensatz zur Ironie im alltagsprachlichen Sinne ist die Neubeschreibung der Ironikerin dabei aber weder uneigentliche Rede, noch sollte man sie anders als wörtlich verstehen. Die Ironikerin hofft ausdrücklich, dass ihre Neubeschreibung von anderen aufgenommen wird. 130 Weil sie durchaus überzeugen sollen, kann Rorty die Neubeschreibungen sogar als eine Form von »dialektischen Argumenten« bezeichnen. 131 Dieser zweite, von Rorty inspirierte Begriff der Ironie lässt sich nun durchaus auf Stirner übertragen. Zwar scheint bei Rorty die Hinwendung zur Ironie tendenziell skeptisch motiviert: Rorty glaubt letztlich nicht an die kognitive Zuverlässigkeit der metaphysischen Sprache und weist sie darum ab. Stirner dagegen verschiebt die Frage nach der diskursiven Praxis vollständig auf das Feld der Ethik. Die Abkehr von der Wahrheit ist bei Stirner darin motiviert, dass in einem »wahren« Gedanken nicht nur ein kognitiver Gehalt begegnet, sondern auch ein inhärenter Zweck. 132 Trotz dieses graduellen Unterschiedes gibt es eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Rorty und Stirner. Wie Rortys Ironikerin legitimiert Stirner sein Denken und Sprechen nicht mithilfe der Kategorien von »wahr« und »falsch«, wie Rortys Ironikerin scheint Stirner aber durchaus zu meinen, was er sagt. Es ist darum weiterführend, Stirners diskursive Praxis mit Lueken im Sinne von Rortys Neubeschreibungen zu verstehen. Stirner, so die Vermutung, argumentiert nicht, sondern er beschreibt sich und die Welt in einer charakteristischen Weise neu. Damit würde Stirners Schreiben in die Nähe der Kunst rücken. Tatsächlich gebraucht Stirner selbst diesen Vergleich, wenn er sein Schreiben folgendermaßen charakterisiert: Aber nicht nur nicht um Euret-, auch nicht einmal um der Wahrheit willen spreche Ich aus, was Ich denke. Nein – Ich singe, wie der Vogel singt, Der in den Zweigen wohnet: Das Lied, das aus der Kehle dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet. Ich singe, weil – Ich ein Sänger bin. Euch aber gebrauche Ich dazu, weil Ich – Ohren brauche. 133

129 130 131 132 133

Vgl. Rorty 2018, 127 ff. Vgl. Rorty 2018, 135. Vgl. Rorty 2018, 135. S.o. Abschnitt 3. EE 300.

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Stirner erklärt seine diskursive Praxis hier nach dem Modell des künstlerischen Schaffens. Ein besonderes Gewicht in dieser Passage liegt dabei auf der Frage nach der Motivation. Anders als Rortys Ironikerin scheint Stirner nicht darauf zu hoffen, dass seine Neubeschreibung von seinen Hörern übernommen wird. Was aber ist dann sein Motiv? Offenbar versteht Stirner hier das künstlerische Schaffen als »egoistische« Praxis. Der Künstler – hier der Sänger – schafft um seinetwillen. Die Kunst, so scheint es, wird hier zum Paradigma eines Denkens, dass sich der Unterwerfung unter die Wahrheit bzw. unter die in gegebenen Gedanken inhärenten Zwecke verweigert. Dies tut es, indem es selbst neue Gedanken schafft, denen dann keine anderen als seine eigenen Zwecke eingeschrieben sind. Diese Deutung der diskursiven Praxis macht das Schreiben zu einem kommunikativen Akt, in dem das Individuum sich selbst und seine Zwecke formuliert. In Richtung auf diese Deutung weist schon Mackay, wenn er Stirners Einzigen als eine »Souveränitätserklärung des Individuums« versteht, 134 und auch Eßbach nimmt diese Einsicht auf, wenn er Stirners Schreiben als »performative Inszenierung« des Selbst interpretiert. 135 Beides ist in der Sache richtig, bedarf aber einer vertiefenden Untersuchung in Hinblick auf die entfremdungstheoretischen Grundentscheidungen Stirners. Wie lässt sich die benannte expressivistische Deutung der literarischen Praxis Stirners zu seiner Entfremdungstheorie in Beziehung setzen? Zunächst scheint sich diese Beziehung organisch herstellen zu lassen. So wird die Bestimmung des eigenen Schreibens als schöpferisches Handeln im Einzigen an anderer Stelle aufgegriffen und dort mit der Polarität von Eigentum und Heiligem verbunden. Ich, so Stirner, bin »Schöpfer« meiner Urteile. Als meine »Geschöpfe« sind sie meinem Willen unterworfen. 136 Erst meine Schwachheit erlaubt, dass sie sich von mir »losreißen« und mir »über den Kopf wachsen«. Dadurch wird mir das »Meinige« entzogen und etwas »Heiliges« ist entstanden. 137 Mit dieser Beschreibung der literarischen Produktion als künstlerischem bzw. schöpferischem Akt, verbunden mit der Gefahr der Loslösung der Produkte von seinem Schöpfer überträgt Stirner einen Entfremdungsgedanken auf das Problem diskursiver Praxis. Dabei scheint er nun aber eng an das Schema der religiösen Entfremdung anzuschließen, wie wir es bei Bauer, vor allem in den Leiden und Freuden des theologischen Bewusstseins, kennengelernt haben. Bauer hatte dort das »religiöse Bewusstsein« derart bestimmt, dass in 134 135 136 137

Vgl. Mackay 1914, 150. Vgl. Eßbach 2017, 45. Vgl. EE 341. EE 350 f.

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ihm ein produktives Selbstbewusstsein seine eigenen Produkte nicht als die seinen erkannte. Dadurch erschienen die Produkte als ein Fremdes. Insofern die Produkte als entäußerte Momente des Selbst zu verstehen waren, geriet so das religiöse Selbst in eine Spaltung oder Selbstentfremdung. 138 Nun hatte Stirner aber in seinem Aufsatz über Kunst und Religion das Modell Bauers – das in Grundzügen bereits in früheren Texten zu finden ist – einer grundlegenden Kritik unterzogen. Stirners Kritik bezog sich speziell auf die dialektische Gestalt der Entfremdungstheorie Bauers. Die religiöse Entfremdung, so Stirners Urteil dort, sei gegenüber der Entäußerung des Selbst, das in der Kunst geschieht, nicht sekundär, sondern falle mit dieser in einen Akt zusammen. In dem Moment, wo sich das Selbst entäußert und ein Ideal schafft, ist es diesem bereits unterworfen, ist – in der Terminologie des Einzigen – nicht mehr Eigentümer dessen, was es geschaffen hat. Künstler und Religionsstifter fallen somit in eins. 139 Damit scheint nun aber deutlich, dass der Versuch, Stirners literarische Praxis nach dem Paradigma der Kunst zu fassen, mit seinem früheren Urteil über die Kunst in Spannung treten muss. Wenn Stirner im Einzigen sein Schreiben als künstlerisches Schaffen versteht, tritt er damit von der radikalen Position von 1842 zurück? Hat er im Einzigen, trotz der Polemik gegen die dialektische Entfremdungstheorie Feuerbachs, im Rahmen seiner Theorie der literarischen Praxis doch einer dialektischen Position den Vorzug gegeben? Hat er dazu die vorher abgewehrte Unterscheidung von Entäußerung und Entfremdung zugelassen? Unbestreitbar ist, dass es im Einzigen gegenüber Kunst und Religion eine Akzentverschiebung gibt. Dennoch meine ich, dass man zeigen kann, dass auch dort Stirners Theorie diskursiver Praxis nicht im Sinne einer dialektischen Entfremdungstheorie verstanden werden sollte. Es ist nämlich zu fragen, ob es sich bei der »Schöpfung« der Gedanken, die Stirner beschreibt, tatsächlich um eine Entäußerung im Sinne der Produzent-Produkt-Relation bei Bauer handelt. Dies ist nur auf den ersten Blick der Fall. Zwar ist die Entäußerung von der Entfremdung zu unterscheiden, insofern in ihr das Andere als Moment des Selbst begriffen wird. Allerdings gewinnt das Andere in dieser begrifflichen Operation zugleich auch eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem Selbst, da es erstens nicht schlicht identisch ist mit dem Selbst und zweitens aber das Selbst nicht Selbst sein soll ohne das Andere. Erst wenn diese Eigenständigkeit zu einer Selbständigkeit wird und das Andere anderes wird als das Andere eines Selbst, schlägt die Entäußerung in Entfremdung um.

138 139

S.o. Kapitel III, Abschnitt 3. S.o. Kapitel III, Abschnitt 4.

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Blicken wir auf Stirner und seine Theorie diskursiver Praxis, so sehen wir, dass Stirner zwar seine Position im Einzigen neu bestimmt, seine Position aber auch dort nicht über den so charakterisierten Begriff der Entäußerung gefasst werden sollte. Zwar lässt Stirner hier offenbar, anders als noch in Kunst und Religion, einen Akt der künstlerischen bzw. in einem weiteren Sinne schöpferischen Tätigkeit zu, der kein Verhältnis der Entfremdung konstituiert. Diese schöpferische Tätigkeit aber kann nicht als Entäußerung des Selbst verstanden werden, insofern die Produkte dieser Tätigkeit dennoch nicht als Momente des Selbst verstanden werden dürfen. Dies lässt sich deutlich daran ablesen, dass Stirner, anders als Bauer, der Beziehung des Selbst zu seinen Produkten keinen herausgehobenen Status zukommen lässt. Nur im Moment der Schöpfung erscheint mein Gedanke als mir eigen, schon im nächsten Augenblick erscheint es als ein Gegenstand wie jeder andere. Stirner schreibt: Wäre Ich nicht an meinen gestrigen Willen heute und ferner gebunden? Mein Wille in diesem Falle wäre erstarrt. Die leidige Stabilität! Mein Geschöpf, nämlich ein bestimmter Willensausdruck, wäre mein Gebieter geworden. 140

Eine dialektische Konzeption im Sinne einer mehr oder weniger dauerhaften Entäußerung des Selbst in seinen Produkten liegt bei Stirner offenbar nicht vor. Zwar liegt in dem Produkt bzw. in dem Gedanken nun mein Zweck eingeschrieben, aber selbst dieser eingeschriebene Zweck muss im nächsten Augenblick bereits nicht mehr der meine sein. Vor dieser Einsicht gerät die Deutung der diskursiven Praxis bei Stirner nach dem Modell der Kunst in gewisse Schwierigkeiten. Weiterführend kann hier ein Vorschlag sein, den Robert Paterson eingebracht hat. Paterson hat vorgeschlagen, Stirners diskursive Praxis nach dem Paradigma des Spiels zu verstehen. 141 Diesen Vorschlag aufgreifend kann die expressive Deutung korrigiert und ergänzt werden. Die Kategorie des Spiels kann das künstlerische Schaffen miteinschließen, insofern es als Tun verstanden werden kann, in dem sich der Mensch keinem fremden Zweck unterwirft, sondern um seinetwillen handelt. Zugleich schließt die Kategorie des Spiels den bei Stirner ausdrücklich nicht aufgenommenen Aspekt der Entäußerung des Künstlers in seinem Kunstwerk aus. Eine Deutung des Einzigen als spielerische Praxis kann auf eine Passage verweisen, in der Stirner den Umgang eines Kindes mit der Bibel als paradigmatischen Fall des Umgangs mit gedanklichen Manifestationen herausstellt, den er selbst zu praktizieren gedenkt. Stirner bemerkt hier, »das Christentum« verlange, dass die Bibel »für alle dasselbe sein soll«. 142 Dabei werde »ein Sinn, 140 141 142

EE 202. Zum »Stabilitätsprinzip« vgl. auch EE 341. Paterson 1971, 286 ff. EE 339.

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eine Gesinnung als der ›wahre‹, der ›allein wahre‹ festgesetzt«. 143 Dies wiederum weist Stirner ab und bringt als Beispiel ein Kind, dass die Bibel »zerfetzt oder damit spielt« 144. Diesem Vorbild gilt es zu folgen und die Bibel »nach Herzenslust« zu »gebrauchen« 145. Was bei Stirner im Mittelpunkt seiner Kritik steht, ist nicht die Frage nach der faktischen historischen oder auch spekulativen Wahrheit der biblischen Berichte. Vielmehr geht es ihm um die Frage, von welchen Zwecken der praktische Umgang mit den Texten geleitet ist. Das Spiel des Kindes wird dabei zum Paradigma für eine Praxis, die sich nicht an die in den Texten niedergelegten Zwecke gebunden sieht und die sich in ihrem Umgang mit den Texten ausschließlich von eigenen Zwecken leiten lässt. Dies kann bedeuten, dass ich mich von der Bibel in meinem Denken inspirieren lasse. Wenn ich aber (momentan) keine intellektuellen Zwecke habe, muss ich sie mir auch nicht von meinem Gegenstand vorlegen lassen – wie eben ein Kind, das die Bibel nicht liest, sondern sie zu einem Spielzeug macht. Das genannte Beispiel bietet nicht nur ein Paradigma für Stirners diskursive Praxis, es führt uns außerdem zurück zu der Frage nach seiner Religionskritik. Stirner überträgt den Begriff der Religion bzw. des Heiligen auf den Bereich des Denkens bzw. der diskursiven Praxis. In diesem Bereich erscheint Wahrheit als diejenige Struktur, die sich in einem übergeordneten Sinne als das Heilige darstellt: Ein »wahrer« Gedanke ist nach Stirner nichts anderes als ein »heiliger« Gedanke. Wahrheit ist nach Stirner somit eine Bestimmung meines Verhältnisses gegenüber einem Gedanken, und dieses Verhältnis ist dadurch bestimmt, dass sich dieser Gedanke meiner Aneignung entzieht. 146 Dass Stirner nun die Strukturen der Heiligkeit kritisiert, ist in einem vorterminlogischen Gebrauch des Wortes nicht falsch, bedarf aber der vertiefenden Korrektur. Denn die diskursive Praxis der Kritik tendiert nach Stirner dazu, selbst konstitutiv durch Strukturen der Wahrheit bestimmt zu sein. 147 Eine Überwindung der heiligen Gedanken würde darum für Stirner gerade nicht durch eine »Kritik« dieser Gedanken, mithin nicht durch eine kognitiv-rationalistische Religionskritik gelingen. Vielmehr gälte es, die heiligen Gedanken durch einen spielerischen Umgang mit denselben zu »entheiligen«. 148 Dieser spielerische Umgang wäre nicht an den Kategorien »wahr« und »falsch« orientiert, sondern an den Kategorien »eigen« und »fremd«. Eigen wäre mir ein Gedanke, wenn ich nicht die in ihm immanenten Zwecke anerkenne, son143 144 145 146 147 148

Ebd. Ebd. EE 340. S.o. Abschnitt 3. S.o. Seite 228 f. Zur Entheiligung s. o. Kapitel VII, Abschnitt 4.

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dern diese negiere, um im Denken meine eigenen Zwecke zur Anschauung zu bringen. Auf der Grundlage dieser Deutung können nun abschließend die Gemeinsamkeit und der Unterschied zwischen Stirner auf der einen Seite und den Verfassern der Deutschen Ideologie auf der anderen Seite klarer benannt werden. Beide, so haben wir gesehen, problematisieren das Projekt einer philosophischen Praxis, die sich als Kritik versteht. Damit greifen sie einen Begriff auf, der besonders mit dem Namen Bruno Bauers verknüpft ist, der aber für die junghegelianische Bewegung insgesamt eine gewisse integrative Bedeutung hatte. Mit zur Debatte stand damit speziell das Projekt einer »Kritik der Religion«, das zwar für die junghegelianische Bewegung nicht so einseitig bestimmend war, wie Marx und Engels es darstellen, 149 das aber zumindest für Bauer und Feuerbach ein, wenn nicht das zentrale Anliegen war. Beide, Stirner wie die Verfasser der Deutschen Ideologie, werfen nun der »Kritik« ihrer Vorgänger nicht vor, dass sie kognitiv falsch wäre. Vielmehr identifizieren sie in Praktiken der Kritik eine nicht-kognitive Dimension. Diese besteht darin, dass sie Gedanken eine Funktion innerhalb von Prozessen der sozialen Interaktion zuweisen. Eben diese intersubjektive – man könnte auch sagen: ethische – Dimension der kritischen Praxis übersieht eine kognitiv-rationalistische Praxis der Kritik. Darum fordern weder Marx und Engels noch Stirner eine kognitive Kritik an der Kritik, sondern eine alternative Form der diskursiven Praxis, welche sich selbst als Handlung im Kontext sozialer Interaktion versteht. Zu dieser Neufassung, so die letzte und vielleicht wichtigste Gemeinsamkeit, gelangen beide durch die Anwendung einer bei Bauer und Feuerbach entwickelten Theorie religiöser Entfremdung auf die diskursive Praxis selbst: Das Denken in den Kategorien »wahr« und »falsch« erscheint als ein Denken, das von den Akteuren des Denkens und ihrer Stellung in intersubjektiven Bezügen abstrahiert, ihnen so fremd wird. Kommen wir zu den Unterschieden zwischen den beiden Ansätzen, so zeigen sich im Wesentlichen ein kleinerer und ein größerer Unterschied. Der kleinere Unterschied betrifft den unterschiedlichen Gebrauch des Religionsbegriffs. Marx und Engels verwenden den Begriff der Religion im alltagsprachlichen Sinne zur Bezeichnung der verfassten Religionen. Die problematische Struktur, die der Religionskritik zugrunde liegt, bezeichnen sie mit dem Titel der Ideologie. Stirner dagegen weitet den Begriff der Religion bzw. des Heiligen aus und bezeichnet damit gerade auch die von ihm herausgestellten entfremdeten Formen der diskursiven Praxis. 150 149 150

S.o. Kapitel I, Abschnitt 1. Zur Äquivalenz des »Heiligen« bei Stirner mit dem Ideologiebegriff vgl. auch Schuhmann 2010.

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Von der Kritik zum Spiel

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Liegt diese Differenz eher auf einer terminologischen Ebene, so ist ein zweiter Unterschied von größerer Bedeutung. Dieser Unterschied liegt in dem unterschiedlichen Modell der Entfremdung, das Stirner auf der einen Seite und die Verfasser der Deutschen Ideologie auf der anderen Seite ihrer Position zugrunde legen. Marx und Engels folgen einem dialektischen Modell und akzeptieren demnach eine Unterscheidung von Entäußerung und Entfremdung. Die durch die geistige Arbeit erfolgte Sozialisation kann zunächst als notwendiges und eigenständiges Moment des menschlichen Selbstseins verstanden werden. Die Verfallsform der Entfremdung und damit die Ideologie ist erst dann erreicht, wenn diese in der geistigen Arbeit erfolgte Sozialisation sich verselbstständigt und den an ihr partizipierenden Individuen nicht mehr als durch sie getragene Praxis der Sozialisation transparent ist. Der alternativen diskursiven Praxis, die Marx und Engels anstreben, muss darum auch ihre Funktion als Praxis der Sozialität nicht problematisch sein. 151 Stirners Kritik des Heiligen dagegen liegt ein nicht-dialektisches Verständnis der Entfremdung zugrunde. Nach Stirner fallen Entäußerung und Entfremdung in eins. Diese Entscheidung beruht bei Stirner auf einer Theorie des Selbst, nach der dieses nicht mehrteilig bzw. mehrförmig gedacht werden kann. Im bisherigen Verlauf der Untersuchung, speziell in Auseinandersetzung mit Stirners Begriff des Eigentums, haben wir gesehen, dass mit dieser radikal anmutenden Position keine Ablehnung der Sozialität als solcher zusammengedacht werden muss. Stirner fordert nur, Sozialität streng asymmetrisch von der teleologisch einförmig bestimmten Existenz der Person her zu denken und dem inhärenten Selbstzweck der ersten Person keinen äußeren Zweck an die Seite zu stellen, zumindest nicht auf der obersten, gleichsam transzendentalen Ebene. 152 Diese mit eudämonistischen Argumenten begründete Abwehr der Dialektik lässt sich in Stirners Position im Bereich der diskursiven Praxis wiedererkennen. Wie Marx und Engels beobachtet Stirner die soziale Funktion von diskursiver Praxis. 153 Wenn nun – in Stirners teleologischer Deutung der Sozialisation – in der diskursiven Praxis fremde Zwecke inhärent sind, dann dürfen diese, wie fremde Zwecke überhaupt, nie dem Selbstzweck des Individuums gegenüber eigenes Gewicht gewinnen. Allein der Selbstzweck des Individuums – genauer: der momentane Selbstzweck des Individuums – bestimmt, wann eine Kooperation möglich ist und wann nicht. Anders als Marx und Engels problematisiert Stirner hier nicht nur die Verselbstständigung der Sozialisation gegenüber den Subjekten, sondern schon deren Eigenständigkeit. 151 152 153

S.o. Abschnitt 2. S.o. Kapitel VII, Abschnitt 3. S.o. Abschnitt 3.

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Kindliche Phantasien. Religionskritik als Ideologie

Der benannte Unterschied mag etwas »spekulativ« erscheinen, seine Konsequenzen ließen sich aber leicht in die politische Theorie hinein verfolgen. 154 Die religionsphilosophisch interessierte Interpretation wird an dem in diesem Kapitel Erarbeiteten vor allem zweierlei zur Kenntnis nehmen. Zum einen wird sie in einem vorterminologischen Sinne zwar weiterhin von Stirners »Kritik« der Religion bzw. seiner »Kritik« des Heiligen sprechen dürfen. Sie wird sich aber entschieden davor hüten müssen, Stirners »Religionskritik« als Kritik in einem kognitivistischen Sinne misszuverstehen, und sie stattdessen streng als Vollzug einer eudämonistisch bestimmten diskursiven Praxis verstehen müssen. Zum anderen wird ihr, gerade auch im Gegenüber zu der durchaus verwandten Position der Deutschen Ideologie, noch einmal deutlich werden, mit welcher Radikalität sich Stirner, auch in seiner Theorie der diskursiven Praxis gegen jede dialektische Erweiterung des Selbst durch ein Anderes bzw. umgekehrt der Integration des Anderen in das Selbst verwehrt.

154

Zu Stirners Kritik am »Kollektivismus« vgl. Ulrich 2002, 285 ff; zur »Empörung« als Modell der individuellen politischen Aktion bei Stirner vgl. Newman 2017; zu Marx und Engels Kritik an Stirners politischer Philosophie mithilfe der »Kleinbürger«-Figur vgl. Pagel 2020, 640 ff.

Hegel-Studien

IX. Schätze, an den Himmel verschleudert Christentum und Alterität

D

er Gang der Untersuchung hat uns, nach einer Orientierung über die junghegelianische Bewegung und einem forschungsgeschichtlich interessierten Blick auf die Interpretation der Junghegelianer bei Karl Löwith, über eine Annäherung an die entfremdungstheoretische Religionskritik Bruno Bauers und Ludwig Feuerbachs zu deren eigenständiger Weiterentwicklung durch Max Stirner geführt. Zuletzt haben wir einen Seitenblick auf die Selbstkritik der entfremdungstheoretischen Religionskritik in den Manuskripten zurDeutschen Ideologie von Karl Marx und Friedrich Engels gewagt und haben vor diesem Hintergrund die Frage nach den Bedingungen einer religionskritischen Praxis bei Stirner gestellt. Stirners Religionskritik haben wir im Gang der Untersuchung als eine komplexe und weitreichende Konzeption kennengelernt, deren Bedeutung eine Theorie der gelingenden Intersubjektivität und eine Theorie der diskursiven Praxis einschließt. Als systematischen Kern der Religionskritik bei Stirner haben wir die Entgegensetzung von Verhältnissen des »Eigentums« auf der einen Seite und Verhältnissen der »Heiligkeit« auf der anderen Seite ausmachen können. 1 In Stirners Position stellt das Eigentum bzw. die je vollzogene Aneignung der Welt die fundamentale Struktur menschlichen Selbstseins dar. Das Selbst ist dabei dem Vollzug der Aneignung nicht vorgängig, vielmehr fällt das Erleben von Selbstsein und damit auch das Sein des Selbst mit diesem Vollzug in eins. Verhältnisse der Heiligkeit widersprechen nun dieser fundamentalen Struktur. Das Heilige ist das, was sich jeder Aneignung entzieht, es ist das, was niemals Eigentum werden soll. Damit gestört oder sogar zum Stillstand gebracht sind eben diejenigen als genusshaft erlebten Vollzüge, in denen das Selbst sich konstituiert. Eingeschlossen sind dabei gerade auch Vollzüge gelingender Intersubjektivität, sowohl auf der Ebene der Nahbeziehung als auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Kooperation. Stirners Kritik dieses Heiligen ist dabei in einer Weise bestimmt, die in einem doppelten Sinne als praktische Kritik benannt werden kann. 2 Zum einen versteht Stirner die Religion als ein System von Überzeugungen und richtet

1 2

S.o. Kapitel VII. In Anschluss an das in Kapitel VIII erarbeitete.

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Schätze, an den Himmel verschleudert. Christentum und Alterität

daher seine Kritik auch nicht auf kognitive Elemente der religiösen Tradition, sondern analysiert die Religion als Praxisform und beurteilt diese von seiner Position einer eudämonistischen Ethik. Zum anderen ist aber seine Kritik auch darin »praktisch«, dass sie nicht nur eine moralphilosophische Beurteilung dieser religiösen Ethik bietet, sondern sich als diskursive Gegenpraxis versteht. In diesem Sinne kann Stirners Philosophie als spielerisches Denken verstanden werden, welches in seinem Vollzug zur Darstellung bringt, dass es sich an »Wahrheiten« – d. h. heilige Gedanken, die sich der freien Annahme, Ablehnung oder Modifikation des Selbst entziehen wollen – nicht gebunden fühlt. Das nun folgende, letzte Kapitel meiner Untersuchung soll nun die exegetische Arbeitsweise hinter sich lassen und eine Einordnung und Bewertung der erarbeiteten Position zu geben versuchen. Dafür möchte ich mich der Frage stellen, ob Stirners Religionskritik in einem aktuellen religionsphilosophischen Diskurs weiterführende Impulse bieten kann. Dass sie es kann, erscheint zunächst keinesfalls als selbstverständlich. Vor allem die verwandte, mehr oder weniger klassisch gewordene Religionskritik bei Feuerbach sowie deren kritische Weiterentwicklung durch Marx scheinen doch altbekannt und werden weder bei Religionskritikern noch bei Apologeten großes Interesse hervorrufen. Ebenso wenig wird man sich wohl bei einem näheren Blick auf das philosophiegeschichtliche Umfeld Feuerbachs, zu dem Stirner letztlich zu rechnen ist, wesentliche Entdeckungen erhoffen. Ich habe aber in den zurückliegenden Abschnitten zu zeigen versucht, dass Stirners Position zwar eng in den religionskritischen Diskurs seiner Zeit eingebettet ist, er aber auch starke eigenständige Akzente setzt. Und diese eigenständigen Akzente sind es auch, die seine Position für einen zeitgenössischen religionsphilosophisch interessierten Zugang instruktiv erscheinen lässt. Dies gilt ganz besonders für die Diskussion um Ansätze, die unter dem Titel der postmodernen Religionsphilosophie firmieren. 3 Viele dieser Ansätze vertreten einen »theologischen Atheismus«, also eine Position, nach der ein metaphysischer Theismus aus einer systematischen Rekonstruktion der (christlichen) Religion ausgewiesen werden kann, vielleicht sogar muss. Damit scheinen sie gerade auch Argumente der klassischen modernen Religionskritik besonders ernst nehmen zu wollen, ohne dabei aber auf eine affirmative Deutung der (christlichen) Religion verzichten zu wollen. Gerade so gelagerte Positionen, so glaube ich, könnten durch eine Konfrontation mit Stirners religionskritischem Ansatz grundlegend herausgefordert werden. Denn Stirner geht in einigen Punkten noch einmal deutlich weiter, als selbst weitgehend skeptische Entwürfe eines theologischen Atheismus zu konzedieren bereit sind.

3

Vgl. Schmidt 2006, 9 ff; Schiefen 2018, 22 ff.

Hegel-Studien

Theologischer Atheismus

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Dies möchte ich im Folgenden in Auseinandersetzung mit zwei solchen zeitgenössischen Ansätzen zu zeigen versuchen – mit den Deutungen des Christentums bei Jean-Luc Nancy und bei Slavoj i ek. Bevor ich aber mit Nancy und i ek beginne, möchte ich mich zunächst dem durch beide repräsentierten Ansatz des theologischen Atheismus annähern und dabei zugleich eine vorläufige Verhältnisbestimmung dieser Position zu Stirners Religionskritik andeuten (1). Anschließend sollen die beiden genannten Ansätze nacheinander vorgestellt werden, dabei soll die Affirmation der »Alterität« als verbindendes Merkmal ihrer Christentumsdeutung herausgestellt werden (2). Die Rolle, die Nancy und i ek der Alterität zuweisen, soll schließlich vor dem Hintergrund der von Stirner entwickelten Theorie religiöser Entfremdung kritisch diskutiert werden. Dazu soll zunächst die implizite ethische Differenz über das Verhältnis von Erfahrungen der Alterität zu einem gelingenden Leben vorgezogen werden (3), um zuletzt die Frage zu stellen, welche der hier verhandelten Modelle der Alterität für eine systematische Rekonstruktion der christlichen Religion am anschlussfähigsten erscheint (4). 1. Theologischer Atheismus Im vorangegangenen Kapitel habe ich ein populäres Vorverständnis der Religionskritik als kognitivistisch-rationalistische Kritik skizziert. 4 Demnach beruht die Religionskritik darauf, rationale Argumente gegen religiöse Überzeugungen vorzubringen und den Träger dieser religiösen Überzeugungen in einer idealen Diskurssituation zur Aufgabe dieser Überzeugungen zu bewegen. Dieses Verständnis der Religionskritik ist kognitivistisch, insofern sie die implizite Annahme enthält, die Differenz zwischen religiösen und nicht religiösen Menschen sei im Wesentlichen eine kognitive Differenz, religiös zu sein sei also gleichbedeutend damit, bestimmte Überzeugungen oder Hypothesen über Sachverhalte zu haben, die ein nicht religiöser Mensch nicht hat. Das skizzierte Verständnis der Religionskritik ist zudem rationalistisch, insofern es davon ausgeht, dass die als kognitiv falsch empfundenen religiösen Überzeugungen durch rationale Argumente überwunden werden können. Im Kontext einer Debatte um die christliche Religion wird sich das so beschriebene Modell einer kognitiv-rationalistischen Religionskritik vor allem in die Kritik des Glaubens an eine Existenz Gottes übersetzen lassen. Die damit verbundene Gleichsetzung von Religionskritik und kognitivem Atheismus hat nun bis in die heutige Zeit eine nicht geringe Bedeutung für populäre wie auch akademische Debatten um die Legitimität der Religion. Zum einen 4

S.o. Kapitel VIII, Abschnitt 1.

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Schätze, an den Himmel verschleudert. Christentum und Alterität

entspricht es sicher dem Selbstverständnis vieler religionskritischer Projekte, gerade auch dem Selbstverständnis von Positionen im Umfeld des sog. »neuen Atheismus«. 5 Zum anderen ist aber die Gleichsetzung von Religionskritik und Atheismus auch eine implizite Voraussetzung vieler apologetischer Positionen. Dies gilt auch und vor allem für Entwürfe, die eine Möglichkeit zur konstruktiven Interpretation der christlichen Religion in einem theologischen Atheismus sehen. Der »theologische Atheismus« 6 ist eine Position, die verschiedentlich auf ältere Vorstufen zurückgeführt werden kann, als mehr oder weniger fassbare Schulrichtung aber vor allem im späten 20. Jahrhundert in zwei Wellen im Zusammenhang der sog. »Tod-Gottes-Theologie« der 60er Jahre und dann in der »postmodernen« Religionsphilosophie seit den 90er Jahren populär geworden ist. 7 Der theologische Atheismus lässt sich verstehen als die Annahme, dass ein kognitiver bzw. metaphysischer Theismus für die christliche Religion in ihrer wesentlichen bzw. ursprünglichen Form entweder keine Bedeutung hat oder dass diese gar von Anfang an als Opposition gegen einen solchen verstanden werden muss. »Theologisch« ist dieser theologische Atheismus in dem Sinne, dass er nicht nur als postmetaphysische Rekonstruktion eines überkonfessionellen Religionsbegriffes, sondern zugleich als affirmative Anknüpfung an eine religiöse Überlieferung – in den hier in den Blick genommenen Positionen die christliche – auftritt. Somit entspricht es dem hermeneutischen Anspruch des theologischen Atheismus, sich nicht nur als Ad-hoc-Gegenentwurf zur klassischen modernen Religionskritik darzustellen, sondern auf seine Anknüpfung an das vormoderne Christentum zu insistieren. 8 Dennoch ist in vielen der unter diesem Titel subsumierten Positionen die Annahme wenigstens implizit, durch eine Preisgabe des Theismus könnte eine christliche Theologie den Herausforderungen der Religionskritik begegnen und so eine Selbstkritik oder »Läuterung« der christlichen Religion anstoßen. Diese Tendenz, als »rettende Kritik« aufzutreten, lässt den theologischen Atheismus dann doch als Reaktion auf die moderne Religionskritik und als Konzession ihrer wesentlichen Einsichten erscheinen. 9 Innerhalb der (theologischen) Debatte um den theologischen Atheismus wäre es demgegenüber eine naheliegende Frage, ob diese Konzession »zu weit 5

6 7

8 9

Vgl. als deren populärsten Vertreter Dawkins 2014; zum Phänomen des »Neuen Atheismus« vgl. auch Körtner 2014, 17 ff. Zum Begriff vgl. von Sass 2017a, 310 f. Zu den Ansätzen der 1960er Jahren vgl. Weinrich 2012, 275 ff. Zur Rezeption der »postmodernen« Philosophie in der Systematischen Theologie s. o. Anmerkung 3. Vgl. Gutschmidt / Rentsch 2016, 7 f. Vgl. Tegtmeyer 2016, 178 f.

Hegel-Studien

Theologischer Atheismus

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geht«, ob gewisse propositionale Annahmen und letztlich auch der Theismus nicht doch als wesentliche Momente des christlichen Glaubens verstanden werden müssen. 10 Mit dieser Fragerichtung scheint stillschweigend die Annahme verbunden zu sein, dass der theologische Atheismus den kritischen Einwänden der Religionskritik begegnen könnte, wenn er denn mit dem Christentum kompatibel wäre. Das, woran er scheitert, ist nicht die Religionskritik, deren Ansprüchen er genügt, sondern der christliche Glaube, den er zu weitgehend umformt. Anstatt zu fragen, ob der theologische Atheismus zu weit geht, könnte aber auch umgekehrt gefragt werden, ob er denn weit genug geht, ob er also die Herausforderungen der modernen Religionskritik, denen er begegnen will, wirklich in ihrer vollen Schärfe in den Blick nimmt. Stellt eine radikale Religionskritik, so könnte man fragen, wie unter anderem Max Stirner sie bietet, die christliche Religion nicht viel grundlegender in Frage, als ein theologischer Atheismus es zu denken wagt? Dies ist der Verdacht von Robert Paterson, der Anfang der 70er Jahre Stirners Religionskritik mit einem theologischen Atheismus in Beziehung bringt. In seiner monographischen Gesamtinterpretation zu Stirners Werk widmet er dessen Religionskritik ein eigenes Kapitel. Unter der Kapitelüberschrift »Total Atheism« stellt Paterson den Einzigen als »Klimax« der junghegelianischen Debatte um die Religion dar. 11 In kritischer Auseinandersetzung vor allem mit Feuerbachs »humanistischer« Deutung des Christentums erreicht Stirner eine Position, die als »ne plus ultra« des radikalen Atheismus verstanden werden kann. 12 Worin besteht für Paterson nun diese weder davor noch danach erreichte Radikalität Stirners, die ihn zu einem »totalen Atheisten« macht? Zentral in Patersons Interpretation ist die Beobachtung, dass Stirner nicht nur »Gott« von seiner Position als dem »angemessenen Gegenstand der Verehrung« (»adequate object of worship«) verdrängen will, sondern die »Verehrung« als eine existenzielle Bewegung selbst zum Ziel seiner Kritik macht. 13 Somit habe Stirner die »Idee eines Gottes« (»idea of god«) fundamental abgelehnt und bekämpft. 14 Bis hierhin decken sich Patersons Bemerkungen im Wesentlichen mit der von uns erarbeiteten Interpretation der Religionskritik Stirners als Kritik des Heiligen. Interessant ist nun die Verbindung, die Paterson zwischen Stirners Religionskritik und der Theologie herstellt. Dazu skizziert Paterson zunächst 10 11 12 13 14

So in der Tendenz auch Tegtmeyer 2016, 192 f. Vgl. Paterson 1971, 192. Vgl. ebd. Vgl. Paterson 1971, 220 f. Vgl. Paterson 1971, 209 f.

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die existenzphilosophisch inspirierten Interpretationen des Glaubens durch Paul Tillich und Rudolf Bultmann und beschreibt sie als den Versuch, das Christentum von »unnötigen metaphysischen Annahmen« (»unnecessary metaphysical assumptions«) zu befreien. 15 Anschließend wendet sich Paterson vertiefend einer Monografie des Theologen John Robinson aus dem Jahr 1963 zu, in welchem dieser einen metaphysischen Atheismus für die Theologie adaptiert. Paterson zitiert Robinson mit folgendem Spitzensatz: Theological statements are not a description of »the highest Being« but an analysis of the depths of personal relationship – or, rather, an analysis of the depths of all experience »interpreted by love«. 16

Paterson weist nun darauf hin, dass diese atheistische Interpretation des Christentums, der er eine apologetische Stoßrichtung unterstellt, zwar einen herkömmlichen, metaphysischen Atheismus zufrieden stellen kann, nicht aber den »totalen Atheismus« Stirners. So ließe sich Stirners Polemik gegen Feuerbach und dessen humanistischen Atheismus Wort für Wort auch als Kritik an Robinsons Versuch zu einem theologischen Atheismus lesen. Stirners Kritik könnte auch ein atheistischer Ansatz nicht genügen, solange er noch irgendeine Form der »religiösen Verpflichtung« aufrechterhält. 17 Eine eigene Stellungnahme zu der Position des theologischen Atheismus findet sich bei Paterson nicht. Patersons argumentatives Anliegen scheint es zu sein, durch den Vergleich zum (nur) metaphysischen Atheismus, der innerhalb der Theologie eine diskussionswürdige Position darstellt, die Radikalität des »totalen Atheismus« Stirners herauszuarbeiten. Da Paterson über die »nihilistische« und anti-soziale Philosophie Stirners an verschiedenen Stellen zu sehr negativen Urteilen kommt, 18 scheint er dessen Position kaum zuzutrauen, den Vertretern eines theologischen Atheismus zu denken zu geben. Dieses Bild ändert sich, wenn wir Stirners Position abwägender betrachten, als Paterson es tut. Sind wir bereit Stirners Religionskritik zuzugestehen, dass sie – wenn auch vereinzelt – Richtiges beobachtet hat, dann werden wir feststellen, dass sie dem theologischen Atheismus in eine ungedeckte Flanke fällt. Dieser betrachtet doch zumeist die immer noch als gegenintuitiv empfundene Entkopplung von kognitivem Theismus und christlicher Religion als seine zentrale Aufgabe und wendet hier viel argumentative Kraft auf. Dabei kann zumindest in der Tendenz der Eindruck entstehen, dass eine nicht-kognitivistische Deutung der Religion bzw. des Christentums, sollte sie herme15 16 17 18

Vgl. Paterson 1971, 200 f. Robinson 1963, 49; zitiert bei Paterson 1971, 204. Vgl. Paterson 1971, 205 f. Vgl. nur Paterson 1971, 317 f.

Hegel-Studien

Alterität

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neutisch plausibel erscheinen, sich Geltungsfragen nicht mehr stellen müsste. Ein Gespräch zwischen der Religionskritik Stirners und dem theologischen Atheismus, das im Folgenden beabsichtigt ist, könnte helfen, diese verdeckten Geltungsfragen noch einmal verschärft in den Blick zu nehmen. 2. Alterität In einer Zeit, als der theologische Atheismus von vielen Theologen als adäquate Antwort auf die Herausforderungen der modernen Religionskritik erschien, 19 erinnert Robert Paterson daran, dass der »totale Atheismus« Stirners weit mehr fordert, als jener gewöhnlich zu konzedieren bereit ist. Stirners Atheismus ist, wie Paterson richtig sieht, eigentlich kein Atheismus, sondern eine nicht-kognitivistische Religionskritik, die originär als Reflex auf die als unzureichend empfundene atheistische Interpretation des Christentums durch Feuerbach in dessen Wesen des Christentums entstanden ist. 20 Anders als Paterson, der Stirner eher die Funktion zuschreibt, eine uneinnehmbare Position zu illustrieren, möchte ich im Folgenden fragen, ob Stirners Kritik der Heiligkeitsverhältnisse zeitgenössischen atheistischen Interpretationen des Christentums nicht doch zu denken geben kann. Dazu möchte ich mich nun aber nicht mit den Entwürfen der 60er Jahre beschäftigen, die Paterson im Blick hat, sondern Tendenzen der neueren Diskussion aufgreifen. Um diese neuere Diskussion fassbar zu machen, möchte ich mich mit zwei Denkern auseinandersetzen, die Anfang der 2000er Jahre ihre atheistische Deutung des Christentums unabhängig voneinander entwickelt haben und dabei doch sehr ähnliche Grundentscheidungen getroffen haben, mit Jean-Luc Nancy und Slavoj i ek. Bevor ich die beiden Denker mit ihren Ansätzen zu Wort kommen lasse, möchte ich auf zwei Gemeinsamkeiten hinweisen, die sie verbindet und die als hermeneutische Vorbemerkung vorangestellt seien. Die erste dieser zwei Gemeinsamkeiten hat zunächst einen eher äußerlichen Charakter: Weder Nancy noch i ek sind »Theologen« in dem formellen Sinne, dass sie jemals Theologie studiert oder Mitglied einer theologischen Fakultät gewesen wären. Dies zeigt sich auch daran, dass die Frage nach einer Deutung des Christentums für keinen der beiden das alleinige oder nur bestimmende Thema ihrer publizistischen Tätigkeit bildet. Dass weder Nancy noch i ek in einem formellen Sinn Theologen sind, darf nun aber nicht den stillschweigenden Schluss nahelegen, dass ihre Positionen auch in einem wie auch immer gefassten syste19 20

Vgl. nochmals Weinrich 2012, 275 ff. S.o. Kapitel IV–V.

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matischen Sinn keine »theologischen« seien. Versteht man Theologie in einem weiten Sinne als denkerischen Anschluss an einen religiösen Überlieferungszusammenhang, hier den Überlieferungszusammenhang des Christentums, dann wird man ihre Positionen unbedingt als »theologische« zu bezeichnen haben – unabhängig davon, ob man mit ihrer Theologie nun einverstanden sein mag oder nicht. Die zweite Gemeinsamkeit, die beide Ansätze verbindet, ist die Bedeutung der Kategorie des »Anderen« bzw. der »Alterität«. Dem Begriff nach in der neuern religionsphilosophischen Debatte populär gemacht wurde die Kategorie der »Alterität« wohl vor allem durch Emmanuel Levinas, 21 der Sache nach wird man aber die Bedeutung dieser Kategorie wohl nicht auf dessen Position engführen können, sondern wird fragen dürfen, ob sie nicht eine Klammer darstellt, die mehr oder weniger sämtliche Positionen der »postmodernen« Religionsphilosophie bzw. der »postmodernen« Theologie verbindet. Für unsere Fragestellung reicht es aus, zu beobachten, dass sich sowohl Nancy als auch i ek dieser Kategorie bedienen, dass aber auch gerade die feinen Unterschiede ihrer Positionen durch ihre unterschiedliche Interpretation der Alterität erschlossen werden können. Diese Beobachtung bietet zudem einen Ansatz für eine Verhältnisbestimmung zwischen der postmodernen Religionsphilosophie und der Religionskritik der Junghegelianer und der Religionskritik Stirners im Besonderen, die durch ihre entfremdungstheoretische Grundierung ebenfalls auf die Kategorie des Anderen verwiesen sind. Jean-Luc Nancy Beginnen möchte ich mit dem Ansatz Jean-Luc Nancys. Nancys weitläufiges Werk ist vielfältig von religionsphilosophischen Fragstellungen und Motiven durchdrungen. 22 Diesen nachzugehen ist hier nicht meine Absicht. Stattdessen möchte ich den Blick richten auf die zwei Bände, die 2008 und 2012 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Dekonstruktion des Christentums erschienen sind. 23 Nancy bietet hier keine systematisch argumentierenden Monografien, sondern versammelt Essays, die zum Teil auf frühere Veröffentlichungen zurückgehen, so der titelgebende Aufsatz, der aus einem Vortrag von 1995 an der Universität Montpellier hervorgegangen ist. Darin formuliert Nancy bereits die »Hypothese«, an der auch die später entstandenen Texte trotz ihrer Vielfältigkeit orientiert bleiben werden. Nancy schreibt: 21 22

23

Vgl. Schiefen 2018, 48 ff. Vgl. die ausführliche Analyse bei Rass 2017, 139 ff; für einen knappen Überblick vgl. auch Morin 2012, 48 ff. Zu diesem Schlüsselwerk vgl. ausführlich Schiefen 2018.

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Alterität

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Meine Hypothese lautet: Die Geste der Dekonstruktion als weder kritische noch perpetuierende Geste [. . . ] ist eben nur im Inneren des Christentums möglich, selbst wenn sie sich nicht ausdrücklich von diesem Innen her formuliert. 24

Die Kategorie der »Dekonstruktion«, die Nancy hier einführt, ist stark von der Gestalt geprägt, die Jacques Derrida ihr gegeben hat. 25 Ohne die Komplexität dieser Kategorie an dieser Stelle vertiefend rekonstruieren zu können, sei doch auf zwei Aspekte hingewiesen, die für ihr Verständnis von großer Bedeutung sind. ZumErsten handelt es sich bei der Dekonstruktion nicht um eine destruktive Kritik. Schon in der zitierten »Hypothese« bestimmt Nancy das Projekt einer Dekonstruktion als »weder kritisch noch perpetuierend«. Diese Ambivalenz der Dekonstruktion wird von Nancy an anderer Stelle aufgegriffen und konkretisiert. Demnach handelt es sich bei der Dekonstruktion nicht um eine »Destruktion«, sondern mehr um eine »Durchdringung«. Dekonstruktion ist letztlich kein selbstständiger Akt, sondern stets einer »Konstruktion« zugehörig, als deren »Gesetz« oder »Schema« sie verstanden werden kann. 26 Das Ergebnis einer Dekonstruktion wäre damit nicht eine Überwindung, sondern mehr eine Neufassung oder Neukonstruktion ihres Gegenstandes, die allerdings durch die Dekonstruktion als deren Gesetz bestimmt bleibt. Was dies bedeutet, kann nun zweitens inhaltlich noch einen Schritt weit präziser benannt werden. Nancy schreibt: »Dekonstruieren bedeutet abbauen, demontieren, auseinandernehmen, die Zusammenfügung lockern, ihr Spielraum geben [. . . ].« 27 Die Dekonstruktion scheint also das Dekonstruierte in einen Zustand der größeren »Offenheit« zu führen, wie auch immer diese Offenheit noch näher zu bestimmen ist. 28 Bei der titelgebenden »Dekonstruktion des Christentums« handelt es sich also um eine Bewegung der öffnenden Neukonstruktion. Diese nun – und darin liegt die eigentliche Pointe der zitierten »Hypothese« – geschieht »im Inneren des Christentums selbst«. Diese Pointe spiegelt sich in der bei Nancy häufig begegnenden Rede von einer »Autodekonstruktion« des Christentums. 29 Das Christentum erscheint hiermit nicht nur als der Gegenstand oder das Objekt der Dekonstruktion, sondern zugleich auch als deren Subjekt. 30 Diese These einer Dekonstruktion »im Inneren des Christentums« oder »Autodekonstruktion des Christentums« auszuführen und plausibel zu machen, 24 25 26 27 28 29 30

Nancy 2008, 251. Vgl. Schiefen 2018, 81–88. Vgl. Nancy 2008, 73; vgl. dazu auch Rass 2017, 171. Nancy 2008, 251. Vgl. auch Berg 2017, 20 f. Vgl. nur Nancy 2008, 58 ff. Vgl. Berg 2017, 17 f.

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scheint das verbindende Anliegen der Essays zu sein. Dazu beabsichtigt Nancy, sich auf die Denk- und Lebensbewegung des Christentums einzulassen, sie zu verstehen und seine Analysen aus ihr heraus zu entwickeln. Somit fehlt den Essays – anders als es zum Beispiel bei der Christentumsdeutung Feuerbachs der Fall war – jede entlarvende Rhetorik. Die Frage, inwiefern es Nancy gelingt, seine Dekonstruktion als Selbsttransformation und damit seine Deutung als Selbstdeutung des Christentums plausibel zu machen, soll hier allerdings zunächst zurückgestellt werden. Im Vordergrund soll die Frage stehen, worin das Ziel der von Nancy geforderten Transformation besteht. Blicken wir dafür zunächst auf die negative Seite, also auf die Frage, was ein solches transformiertes Christentum nicht mehr ist, so scheint es vor allem die Überwindung des metaphysischen Theismus, den Nancy im Sinn hat. Nancy schreibt: »Ich nenne also ›Christentum‹ die Haltung des Denkens, gemäß der ›Gott‹ ausgelöscht zu werden oder sich selbst auszulöschen verlangt.« 31 Insofern will Nancy das Christentum ausdrücklich als atheistisch verstehen. Ist damit der metaphysische Theismus der erste Ansatzpunkt seiner Dekonstruktion, so bleibt er nicht bei ihm stehen. Der Atheismus, der dem Christentum eingeschrieben sei, ist nach Nancy nicht nur die Negation Gottes, sondern zugleich »die Negation jeder Art von jenseitiger Welt [. . . ], die diese Welt fortsetzt, um sie zu trösten« 32. Damit fällt Nancys Dekonstruktion nicht nur der metaphysische Theismus, sondern das metaphysische Denken in einem umfassenderen Sinne zum Opfer. Um dieses metaphysische Denken bzw. die metaphysische Interpretation des Christentums zusammenfassend zu kennzeichnen, gebraucht Nancy die Gegenüberstellung von »Glaube« und »Gläubigkeit«: Die Gläubigkeit ist nach Nancy eine »Sicherheit«, die sich auf »undeutliche«, »verschwommene« oder »schlecht bestimmte Vorstellungen« gründet. 33 In gleicher Tendenz nennt Nancy die Gläubigkeit an anderer Stelle auch eine Form des »schwachen Wissens«. 34 Mit Friederike Rass kann diese Formel so aufgelöst werden, dass die Gläubigkeit bei Nancy verstanden werden muss als ein Nicht-Wissen, das aber dennoch der epistemischen Struktur des Wissens verhaftet bleibt. 35 Demgegenüber ist der Glaube bei Nancy eine »Zuversicht«, die sich gerade nicht auf bestimmte »Vorstellungen« gründet, 36 er ist »eine Intention ohne Objektkorrelat« 37. Indem Nancy den Glauben immer wieder ganz offensichtlich der 31 32 33 34 35 36 37

Nancy 2012, 48. Nancy 2012, 46. Vgl. Nancy 2012 139 f. Vgl. Nancy 2012, 97. Vgl. Rass 2017, 168. Vgl. Nancy 2012, 140. Vgl. Nancy 2008, 257.

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Gläubigkeit vorzieht, optiert er im Sinne einer nicht-kognitivistischen Interpretation des Christentums, welche die christliche Existenz von jeder Bindung an ein Für-wahr-Halten von propositionalen Sätzen über die Welt oder über mögliche Hinterwelten löst. Haben wir damit die negative Seite der Selbsttransformation des Christentums benannt, die Nancy ansteuert, so müssen wir uns nun der positiven Seite zuwenden. Um diese zu verstehen, ist es weiterführend, den Begriff der »Transzendenz« in den Blick zu nehmen. Oben haben wir gesehen, dass Nancy nicht nur die metaphysische Gottesvorstellung, sondern jede Bezugnahme auf eine »jenseitige Welt« aus dem dekonstruierten Christentum ausweisen möchte. Damit scheint auch die Rede von einer Transzendenz als konstitutives Merkmal des Christentums auszufallen. Wegen des herkömmlichen metaphysischen Gebrauches scheut nun Nancy tatsächlich davor zurück, die Transzendenz zu einem zentralen Theoriebegriff zu machen. 38 Allerdings deutet er an, dass dem Begriff auch eine neue dekonstruktive Interpretation gegeben werden kann. Nancy schreibt: Und doch geht es sehr wohl um »Transzendenz«, jedenfalls, wenn wir den rein dynamischen Wert dieses Ausdrucks gut verstehen: Er bezeichnet nicht en Zustand eines mehr oder weniger »höchsten« »Wesens« oder »Seins«, sondern die Bewegung, durch die ein Seiendes aus der schlichten Gleichheit mit sich selbst heraustritt. Das heißt nichts anderes als: ex-istieren im vollen Sinne des Wortes. 39

Diese Bedeutung der Transzendenz, die Nancy auch mit der Formel der »Transimmanenz« umschreibt, 40 führt in das Zentrum seiner dekonstruktiven Christentumstheorie. Diese Deutung beruht auf einem Abbau einer kognitivistischen Deutung und ihrer Ersetzung durch eine dynamische Deutung der Verweisstrukturen innerhalb christlicher Sprachformen. Das »Anderswo« der christlichen Rede ist kein Verweis auf eine andere Welt, sondern geschieht als Verweis innerhalb der Welt. Nancy schreibt: »Es ist somit ein Anderswo, ein Draußen, das sich in der Welt öffnet, oder besser, das sie auf sich selbst öffnet, das sie als solche öffnet, als Welt.« 41 Anschaulich wird dieser Wechsel von einer metaphysischen Transzendenz zu einer weltimmanenten Transzendenz bzw. »Transimmanenz« im Mythos der Inkarnation. Der Gott, der Mensch wird, ist der Gott, der seine Gottheit aufgibt und so die Transzendenz in die Welt einschreibt. 42 38 39 40 41 42

Vgl. Nancy 2012, 31. Nancy 2012, 31 f. Vgl. Nancy 2012, 32. Nancy 2012, 50. Vgl. Nancy 2012, 48–51.

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Anstatt nun den Begriff der Transzendenz in seinem Sinne neu zu prägen, entscheidet sich Nancy, diesen preiszugeben und für sein dynamisches Verständnis des christlichen Anderswo einen gewissermaßen »frischeren« Theoriebegriff zu prägen, und hierzu wählt er den Begriff der »Alterität«. Nancy schreibt: Das Christentum bezeichnet wesentlich (das heißt einfach, unendlich einfach: in einer unzugänglichen Einfachheit) nichts anderes als die Forderung, in dieser Welt eine unbedingte Alterität oder Alienation zu öffnen. 43

Der Gedanke der »Öffnung« leitet über von der hermeneutischen Frage nach einer Deutung der christlichen Existenz zu der ethischen oder evaluativen Frage nach dem Verhältnis der christlichen Existenz zu einem guten Leben. Nancy beansprucht nämlich für die von ihm erarbeitete Dekonstruktion des Christentums, dass sie auch für dessen Hoffnung auf Heil eine dekonstruktive Übersetzung findet. Das »Heil« kann dabei nicht mehr als ein jenseitiges Gut oder ein neues Leben in einer anderen Welt verstanden werden, sondern beschreibt eine Weise des Lebens in dieser Welt. 44 Inwiefern die christliche Existenz als heilvolle Existenz zu verstehen ist, lässt sich nun über Nancys Begriff der »Anbetung« erschließen. Während die Anbetung im ersten Band der Essays zunächst in einem noch engen Sinne als ein »entmythologisiertes Gebet« eingeführt wird, 45 erhält sie im zweiten Band, der sie als Untertitel trägt, eine umfassendere Bedeutung. In einem »Prolog« zu diesem Band erscheint die Anbetung als Gegenbegriff zur »Sucht« und wird somit gleich zu Beginn in den Zusammenhang einer Frage nach dem guten Leben gestellt. 46 Den Unterschied zwischen Anbetung und Sucht lokalisiert Nancy dann in den ihnen je charakteristischen Strukturen des »Anderswo«. Während die Sucht auf ein »Anderswo« jenseits des »Hier« ausgerichtet ist, das in einer »Präsenz« wahrnehmbar und spürbar ist, und darin das »Hier« zu verlassen wünscht, ist die Anbetung zwar auch eine Ausrichtung auf ein »Anderswo«, aber eine, welche das »Hier« bejaht und öffnet. 47 Die Anbetung zeichnet sich also dadurch aus, dass sie die Möglichkeit eines »Anderswo« jenseits des »Hier« gerade bestreitet. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass Nancy die Anbetung später als ein Beten ohne Adressaten paraphrasiert: »Sie ist das Sprechen, das gewissermaßen nur sich selbst antwortet [. . . ].« 48. Aus dieser Beschreibung wird schnell deutlich, dass Nancys 43 44 45 46 47 48

Nancy 2008, 19 f. Vgl. Nancy 2008, 137. Vgl. Nancy 2008, 221 ff. Vgl. Nancy 2012, 15–17; vgl. auch Stoeckl 2018, 878 f. Vgl. Nancy 2012, 17. Nancy 2012, 102.

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Anbetung demjenigen Verständnis des Christentums korrespondiert, dass er über den Begriff des Glaubens gefasst hat. Die Anbetung ist gerade nicht mit einer kognitivistischen Vorstellung eines Gottes verbunden, der zuhört, antwortet oder gar Bitten erfüllt. 49 Anbetung meint vielmehr eine existenzielle Struktur, die von allen kognitivistischen Vorstellungen zu trennen ist. Wenn die Anbetung also auf kein »Anderswo« jenseits des »Hier« verweist, dessen Präsenz sie wahrnimmt oder wahrzunehmen hofft, so ist sie dennoch nicht leer. Sie ermöglicht vielmehr, in Strukturen der Verwiesenheit im »Hier« einzutreten. Hierin liegt auch die Bedeutung der Anbetung für die Frage nach einem guten Leben, die vor allem in Nancys Überlegungen zur »Tugend« aufgegriffen und vertieft werden. So verbindet Nancy seinen Begriff der Tugend eng mit der Struktur der Offenheit, die er an der Anbetung herausgearbeitet hat. Nancy schreibt: »Die ›Tugend‹ ist der Elan, der von einem ›Wert‹ fortgerissen, getrieben wird.« 50 Vorzüglich in der »Liebe« machen wir die Erfahrung, dass eine »Kraft von Außerhalb« uns bestimmt, die von einem anderen Menschen ausgeht – wie Nancy in Anschluss an Emmanuel Levinas formuliert. 51 In der Bereitschaft oder auch Fähigkeit, sich von diesseitig Anderem bestimmen zu lassen, liegt aber nach Nancy genau das Wesen der Anbetung. Nancy schreibt: »Es handelt sich [. . . ] um das, was den Affekt allgemein öffnet: um die Rezeptivität, Passivität oder Passibilität.« 52 Unser knapper Überblick über die dekonstruktive Christentumsdeutung bei Jean-Luc Nancy hat uns diesen als Vertreter eines theologischen Atheismus verstehen lassen. Dieser enthält als seine zwei wesentlichen Grundannahmen, dass erstens Sätze christlicher Rede nicht-kognitivistisch verstanden werden müssen, um sinnvoll und fruchtbar – in diesem Zusammenhang vor allem: ethisch fruchtbar – reformuliert werden zu können, und dass zweitens diese Interpretation als Selbstinterpretation des Christentums plausibel gemacht werden kann. An die Stelle eines kognitivistischen Verständnisses des christlichen Glaubens als ein Für-wahr-Halten von Aussagen über eine andere Welt tritt bei Nancy die Anbetung als existenzielle Haltung, eines Ethos. Diese übernimmt das Moment der Transzendenz, allerdings im Sinne einer Ausrichtung auf diesseitig Anderes. Somit ist das Christentum bestimmt durch eine formal gefasste Alterität, die sich als eine Affizierbarkeit durch die Anmutungen der Welt und vor allem durch die Nöte und Bedürfnisse des je anderen Menschen realisiert.

49 50 51 52

Vgl. auch von Sass 2017b, 96–97. Nancy 2012, 76. Vgl. Nancy 2012, 95. Nancy 2012, 133.

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Slavoj Žižek Ebenso wie Nancy ist Slavoj i ek kein Theologe im formellen Sinne des Wortes. Und selbst die Versuchung, sein Werk unter der Leitfrage der Religionsphilosophie zu interpretieren – eine Versuchung, die bei Nancy durchaus bestehen kann – liegt bei i ek doch einigermaßen fern. Zu offensichtlich ist das Christentum bzw. die Religion in i eks philosophischem Schreiben ein Thema unter vielen. Dennoch ist die Zahl der Beiträge und Bemerkungen i eks zu einer Theorie des Christentums inzwischen zu einer gewissen Umfänglichkeit angewachsen. Zentral scheint unter ihnen eine »Trilogie« christentumstheoretischer Monografien, die in deutscher Sprache als Das fragile Absolute (2000), Die gnadenlose Liebe (2001) und Die Puppe und der Zwerg (2003) erschienen sind. 53 Für ein Verständnis der bei i ek entwickelten Interpretation des Christentums instruktiv sind zudem die zwei Beiträge i eks in dem gemeinsam mit John Milbank herausgegebenen Sammelband The Monstrosity of Christ (2009). 54 Die genannten Monografien sind, ähnlich wie Nancys Bände zu einer Dekonstruktion des Christentums, keine systematisch aufgebauten philosophischen Traktate, sondern lassen sich als Essaysammlungen verstehen, die um ein gemeinsames Thema kreisen. Dennoch lassen sich aus ihnen die Grundzüge einer klar konturierten Position ablesen. Die Tendenz dieser Position benennt i ek im Vorwort der Gnadenlose Liebe, wenn er dort über sich und seine Schrift schreibt, »ein altmodischer, bedingungsloser Atheist (dialektischer Materialist gar), schlägt hier die Rückkehr zu der dem Christentum zugrundeliegenden, symbolischen Strukturen vor«. 55 Damit ist der »Atheismus« als eines der stärksten Motive in i eks Christentumsdeutung markiert. Insofern der Theismus als konstitutives Merkmal eines »theologischen« Denkens gesehen werden mag, scheinen sich hier bereits die Wege zu trennen und i eks Perspektive gegenüber der Theologie als Außenperspektive erkannt. 56 Dieses Urteil könnte aber vorschnell sein, hat i ek doch für seine Überlegungen den Titel einer »materialistischen Theologie« beansprucht 57 und erhebt damit den Anspruch, dass seine Deutung ein legitimer oder kohärenter Anschluss an 53

54

55 56 57

Vgl. i ek 2000b; 2001b; 2003b. Bei den drei von Nikolaus G. Schneider betreuten und im Folgenden verwendeten deutschen Ausgaben handelt es sich allerdings weniger um einfache Übersetzungen, sondern mehr um deutsche Parallelausgaben, deren Text mitunter stark von dem der englischen Ausgaben abweicht. Vgl. i ek 2009a; 2009b. Zu i eks christentumstheoretischen Arbeiten vgl. umfassend Kotsko 2008, Klein 2016, 93 ff. Für einen einführenden Überblick vgl. Skliris / Mitralexis 2019. i ek 2001b, 10. Skliris / Mitralexis 2019, 1; vgl. in gleicher Tendenz Kotsko 2008, 129 ff; Klein 2017, 161 ff. Vgl. i ek 2006a, 68 ff.

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christliche Denktraditionen darstellt. Dies hat i ek schon im Fragilen Absoluten in seinem charakteristischen, feuilletonistisch-polemischen Tonfall unterstrichen, wenn er schreibt: »[D]as wahre christliche Erbe ist viel zu kostbar, um es irgendwelchen fundamentalistischen Freaks zu überlassen.« 58 In der Bewegung der Aneignung dessen, was i ek das »wahre christliche Erbe« nennt, scheint eine enge Parallelität zu Nancys Projekt einer Dekonstruktion des Christentums zu bestehen. Und tatsächlich stellt i ek diese Parallelität in dem zweiten seiner beiden Beiträge inThe Monstrosity of Christ in einer kurzen Randbemerkung selbst heraus. Dort zitiert er Nancy mit der Doppelthese, dass sowohl das Christentum auf seine Negation im Atheismus als auch der Atheismus auf seine christliche Herkunft verwiesen ist. i ek kommentiert: »With some reservations, I cannot but agree with these two guidelines«. 59 Das Christentum, so i eks Paraphrase und weiterführende Interpretation des zweiten Teils der Doppelthese, sei heute nur »lebendig« (»alive«) in »Praktiken, die es verneinen« (»practices, which negate it«). Zum zweiten Teil der Doppelthese schreibt i ek dann, »wahrer Materialismus« (»true materialism«) könne nur in der Anerkennung der »Nichtexistenz des Großen Anderen« (»nonexistence of the big Other«) bestehen – und: »it is only Christianity that opens up the space for thinking this nonexistance, insofar as it is the religion of a God who dies.« 60 Wenn i ek schreibt, er stimme Nancy »mit einigen Vorbehalten« (»with some reservations«) zu, dann verweist er damit, neben den offenkundigen Gemeinsamkeiten, auch auf die entscheidenden Unterschiede, die ihn von Nancy trennen. Um diese zu erschließen, müssen wir uns der Kategorie der Alterität zuwenden, die Nancy und i ek in einer je charakteristischen Weise gebrauchen. Bei Nancy bestand die Dekonstruktion des Christentums in einer Transformation der »Gläubigkeit« im Sinne einer (schlecht begründeten) metaphysischen Überzeugung zu einem »Glauben« im Sinne einer existenziellen Haltung, welche Nancy als »Anbetung« umschreibt. Anfang und Ende dieser Transformation waren dabei verbunden mit zwei verschiedenen Formen der Transzendenz bzw. der Alterität. Während die Metaphysik auf eine metaphysische Alterität bezogen ist, auf ein »Jenseits« bzw. auf ein »Anderswo«, kann die Anbetung als eine Bewegung der Öffnung auf die Alteritätserfahrung in der Welt verstanden werden. 61 Um nun zu verstehen, wie sich i ek zu dieser von Nancy angebotenen Deutung in ein Verhältnis setzt, müssen wir uns dem Begriff des »Großen 58 59 60 61

i ek 2000b, 6. i ek 2009b, 287. Für die beiden »Regeln«, auf die i ek anspielt, vgl. Nancy 2008, 239. i ek 2009b, 287. S.o. Seite 249 ff.

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Anderen« zuwenden. i ek gebraucht den Begriff des Großen Anderen bzw. die Rede von der Nichtexistenz des Großen Anderen zwar hier zunächst im Rahmen seiner zustimmenden Paraphrase der Position Nancys. 62 Wer mit dieser Position vertraut ist, wird aber gleich erkennen, dass es kein Theoriebegriff Nancys ist, den i ek hier übernimmt. Nancy spricht schlicht von der Nichtexistenz bzw. von der »Auslöschung Gottes«. 63 Wenn i ek demgegenüber schreibt, ein »wahrer Materialismus« müsse die Überzeugung der Nichtexistenz des Großen Anderen miteinschließen, dann spielt er hier einen Begriff ein, den er nicht von Nancy, sondern von Jacques Lacan entlehnt. 64 Damit aber nimmt i ek gegenüber Nancy eine deutliche Akzentverschiebung vor. Denn die Rede vom Großen Anderen impliziert mehr und Anderes als nur eine metaphysische Gottheit oder eine metaphysische Alterität, und somit geht auch die Verneinung des Großen Anderen weit über Nancys Forderung einer Abkehr von metaphysischen Alteritäten hinaus. Wer oder was also ist der Große Andere bei i ek? Ausgehen möchte ich dazu von einer Passage aus dem Fragilen Absoluten, in der i ek die Kategorie des Anderen und auch den Großen Anderen intensiv in den Blick nimmt. Die Passage stellt zunächst eine Auseinandersetzung mit der Antigone-Erzählung dar. 65 Antigones Weigerung, dem Gebot Kreons zu entsprechen, deutet i ek hierbei als exemplarischen Fall eines »Aktes« im Sinne Lacans. Wie ein solcher Akt verstanden werden muss, zeigt i ek dann an Antigones Entscheidung auf. Zunächst beobachtet i ek, dass Antigone in ihrer Entscheidung in eine Beziehung zu einer »Andersheit« tritt, der gegenüber sie »unbedingte Treue« zeigt. 66 Dem korrespondiert, dass der Akt sich weniger als meine Entscheidung, sondern mehr eine »Entscheidung des Anderen in mir« darstellt. 67 Damit ist allerdings noch nicht alles gesagt, denn i ek unterscheidet nun im Anschluss an Lacan drei distinkte Gestalten des »Anderen«: das Andere als »Nebenmensch«, den »Großen Anderen« und das Andere als »Reales« bzw. als »Ding«. 68 Wichtig ist vor allem die Unterscheidung der zweiten und der dritten Gestalt. Die zweite Gestalt, der Große Andere, entspricht nach i ek der »›Substanz‹ unserer gesellschaftlichen Existenz« 69, sie ist die symbolische 62 63 64 65

66 67 68 69

S.o. Anmerkung 60. Vgl. nur Nancy 2012, 48 f. Zum Großen Anderen bei Lacan vgl. Evans 2002, 38–40. Vgl. i ek 2000b, 151 ff. i ek kommt in seinem Werk verschiedentlich auf Antigone zu sprechen und ist dabei in seinem Urteil schwankend, neben der positiven Wertung im Fragilen Absoluten finden sich bei i ek auch kritische Interpretationen der Figur, vgl. dazu Butler 2006, 174 ff. Vgl. i ek 2000b, 151. Vgl. i ek 2000b, 153 f. Vgl. i ek 2000b, 155 f. i ek 2000b, 156.

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Ordnung, die unsere Begegnung mit anderen vermittelt, unsere »Koexistenz koordiniert« 70. Wollte man nun Lacans Akt im Sinne einer Antwort auf den Ruf des Großen Anderen verstehen, so gerät man nach i ek in eine gewisse Nähe zu dem Ansatz Emmanuel Levinas. 71 Diese Interpretation erreiche aber nicht die Radikalität dessen, was Lacan sagen will. Vielmehr trete der Mensch im Akt in ein Verhältnis zu dem Anderen als Reales und suspendiere dabei gerade den Großen Anderen. Damit erklärt sich Antigones Handeln als ein Heraustreten aus der symbolischen Ordnung und zugleich als ein Heraustreten aus den zwischenmenschlichen Beziehungen, die es konstituiert. 72 Darauf beruht nach i ek die »Monstrosität«, die für Antigones Handeln charakteristisch ist. 73 Ob i eks anti-strukturalistische Deutung des Aktes die Intention Lacans trifft, kann hier nicht diskutiert werden, ist aber für eine Rekonstruktion der Position i eks auch nicht entscheidend. Für unsere Frage weiterführend ist die anhand von i eks Deutung der Antigone-Erzählung herausgearbeitete Unterscheidung zweier wesentlich verschiedener Gestalten des Anderen: dem Großen Anderen auf der einen Seite und dem Realen auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung ist für i eks Interpretation des Christentums grundlegend. Denn wie in seinem Kommentar zu Nancy in The Monstrosity of Christ deutlich geworden ist, versteht i ek das Christentum als die Religion, die zu der Nichtexistenz des Großen Anderen vorgedrungen ist. 74 Diese Formel, die i ek hier mit dem »Materialismus« und an anderer Stelle im selben Aufsatz auch mit dem »Atheismus« 75 in Verbindung bringt, scheint zunächst eine ontologische Überzeugung zu umschreiben. Versteht man sie aber im Licht dessen, was wir anhand von i eks Deutung der Antigone-Erzählung über den von Lacan geprägten Begriff des Großen Anderen erschlossen haben, so handelt es sich bei i eks Materialismus weniger um eine ontologische, als vielmehr um eine existenzielle oder gesellschaftstheoretische Kategorie. 76 Zwar würde man i ek wohl kaum einen metaphysischen Theismus unterstellen wollen, dennoch ist es auch nicht die Abwehr eines solchen, die er zuvorderst beabsichtigt. Das Christentum wäre also nicht materialistisch bzw. atheistisch insofern, als es den metaphysischen Theismus überwindet, sondern insofern es

70 71 72

73 74 75 76

Ebd. Vgl. i ek 2000b, 152 f. Vgl. ebd. In gleicher Stoßrichtung schreibt i ek in How to Read Lacan, Levinas vernebele (»obfuscates«) die Monstrosität des Nächsten, vgl. i ek 2006b, 43. Vgl. i ek 2000b, 155. S.o. Anmerkung 60. Vgl. i ek 2009b, 297. Vgl. auch Klein 2016, 137.

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eine bestimmte Struktur der Alterität überwindet, welche durch den Großen Anderen gesetzt ist. Zu dieser tieferen existenziellen Bedeutung des Christlichen Atheismus bricht i ek bereits in seinem ersten Beitrag in The Monstrosity of Christ durch. i eks Ansatz ist hierbei die Erzählung von der Inkarnation und Kreuzigung Jesu, die für ihn – wie für Nancy – den Kern des christlichen Dogmas ausmacht, das er – ebenfalls wie Nancy – entmythologisiert. Die Bedeutung der Kreuzeserzählung liegt für i ek zunächst in einer Absage an den metaphysischen Theismus. Am Kreuz, so i ek, »sterbe« der transzendente Gott. 77 Dieses Sterben Gottes kann nun nach i ek im Sinne einer »Sublimation« verstanden werden: Gott transformiere oder »transsubstanzialisiere« sich in den »Heiligen Geist«. Der »Heilige Geist« wiederum ist nichts anderes als ein Titel für die »Gemeinschaft der Glaubenden«. 78 Folgt man i ek bis hierhin, so bestünde die religionsgeschichtliche Innovation des Christentums in der Transformation der metaphysischen Alterität in eine intersubjektive oder immanente Alterität. Dass dies aber nicht der Endpunkt in i eks Gedankengang sein kann, zeigt sich schon daran, dass i ek die spirituelle Gemeinschaft mit dem Großen Anderen gleichsetzt. 79 Damit tritt die Rede von einer Sublimation Gottes in die spirituelle Gemeinschaft in einen offenkundigen Widerspruch zu i eks Rede von der Nichtexistenz des Großen Anderen. Darum bleibt i ek auch nicht bei der geschilderten Bestimmung des Christentums stehen, sondern findet einen darüber hinaus gehenden »special Christian twist«. Dieser bestehe in einer spezifischen Bestimmung der spirituellen Gemeinschaft. Im Unterschied zum Judentum werde die spirituelle Gemeinschaft im Christentum nicht mehr über eine »kollektive Subjektivität« (»collektive subjektivität«) konstituiert. Insofern sei in der Gemeinschaftsform, die das Christentum präferiere, der Große Andere verneint. 80 Diese Deutung der spirituellen Gemeinschaft im Christentum korrespondiert mit i eks Interpretation der christlichen Ethik. Im Fragilen Absoluten, in derselben Schrift, in der er Antigones Widerstand gegen Kreon als Austritt aus den symbolischen Strukturen und Verneinung des Großen Anderen interpretiert, versteht i ek die christliche »Liebe« in einer strukturell analogen Weise, wenn er diese als ein Ethos der »Abkopplung« beschreibt. 81 »Christus« habe in den Gemeinschaften, die er gestiftet habe, die soziale Hierarchie suspendiert. 82 Damit aber habe er nicht nur eine neue Gemeinschaft gegründet, 77 78 79 80 81 82

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

i i i i i i

ek 2009a, 60. ek 2009a, 60 f. ek 2009a, 61. ek 2009a, 75 f. ek 2000b, 124 ff. ek 2000b, 132.

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sondern eine neuartige Gemeinschaftsform. Diese sei, gerade auch in ihrer paulinischen Gestalt, geprägt von einem Ethos der »Liebe«. 83 Die Liebe besteht nun für i ek wesentlich in einer »Abkopplung« des Geliebten aus allen gesellschaftlichen Kollektiven. 84 Diese Beschreibung, so betont i ek, darf nun aber nicht in einem humanistischen Sinne missverstanden werden, so als ging es nur darum, den »realen Menschen« hinter seinen »gesellschaftlichen Rollen« zu sehen. Vielmehr ginge es darum, den Menschen noch radikaler »auf den einzigartigen Punkt der Subjektivität« zu reduzieren. 85 Um diese einigermaßen offene Formulierung zu interpretieren, ist es weiterführend, auf i eks Deutung der Antigone-Erzählung zurückzukommen. Antigones »Akt« bestand dort in einer Suspension des »Großen Anderen«, wobei sie von einer Form der Alterität bestimmt wurde, die i ek mit Lacan das »Reale« genannt hat. Das Reale bei i ek meint hier aber nicht einfach eine ontologische Realität, sondern eine soziale, intersubjektive Kategorie. i ek umschreibt das Reale als die radikale Alterität, die in der Begegnung mit dem Nächsten erscheint. Mit diesem radikal Anderen ist ein »durch die symbolische Ordnung vermittelter Dialog« nicht möglich, 86 er bleibe der »unergründliche Abgrund«, ein »monströse[s] Ding, das sich nicht ›verbürgerlichen‹ lässt« 87. Die Beschreibung des Nächsten als »Reales« ließe sich auf die Deutung des christlichen Ethos der Liebe übertragen. Die humanistische Rede vom »realen Menschen« hinter seinen »gesellschaftlichen Rollen« suche den Menschen zwar außerhalb der gesellschaftlichen Ordnungen, aber noch innerhalb der symbolischen Ordnung und bleibe so hinter der Radikalität der christlichen Liebe zurück. Erst diese erfasse das »Reale« im anderen Menschen und lehre, die »irrationale, böse, unberechenbare oder abscheuliche Seite des Menschseins« 88 zu sehen. Unsere kurze Skizze der Christentumsdeutung bei Slavoj i ek ist ausgegangen von dessen Zustimmung zu Nancys Ansatz einer Dekonstruktion des Christentums, die i ek in The Monstrosity of Christ formuliert hat. Nun können wir das Verhältnis der beiden Positionen genauer bestimmen. Beide suchen den wesentlichen Gehalt des Christentums nicht in propositionalen Aussagen über eine transzendente Wirklichkeit, sondern in einer Ethik der Alterität. Anders als Nancy sieht i ek aber die damit verbundene Überwindung des metaphysischen Theismus noch nicht als die eigentliche religionsge-

83 84 85 86 87 88

Vgl. i ek 2000b, 131. Vgl. i ek 2000b, 134 f. Vgl. i ek 2000b, 135 f. i ek 2000b, 156. Ebd. Klein 2016, 153.

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schichtliche Leistung des Christentums an. Der »special Christian twist«, 89 wie i ek formuliert, bestehe vielmehr in einer bestimmten Richtungsentscheidung innerhalb der Ethik der Alterität. Das Christentum sei keine Ethik des Großen Anderen – einer Alterität, die durch symbolische Ordnungen konstituiert und vermittelt ist –, sondern eine Ethik des Realen – einer Alterität, die jede symbolische Ordnung stört. In The Monstrosity of Christ hat i ek – »mit einigen Vorbehalten« – seine Nähe zu Nancy betont. Man kann aber fragen, ob er den Unterschied nicht noch deutlicher hätte herausstellen können. So schreibt er in der Gnadenlosen Liebe, die »Dekonstruktion« vertrete die strukturelle Unmöglichkeit eines »Aktes« im Sinne Lacans. Nach der »Dekonstruktion« sei es »die Phantasie der Metaphysik«, dass sich ein »unmöglicher Akt« ereignen könne. Dagegen hebt i ek hervor, dass dieser »unmögliche Akt« oder, wie er auch schreibt, dieses »Wunder« sich ereignen kann. 90 Diese Polemik ist wohl gegen Derrida gerichtet 91 – aber müsste sie nicht auch Nancy treffen? Könnte man i ek hier nicht so verstehen, dass er gegenüber der schwachen, immanenten Transzendenz, wie Nancy sie zur leitenden Figur seiner Ethik macht, wieder auf die stärkere Transzendenz der Metaphysik zurückkommen will? Würde demgegenüber Nancys immanente Transzendenz für i ek nicht als eine Transzendenz innerhalb der symbolischen Ordnung erscheinen und damit als eine Gestalt des Großen Anderen? Spräche nicht auch dafür, dass Nancys Konzeption der Anbetung ohne jede Semantik des Abgründigen auskommt, die nach i ek für die Alterität des Realen konstitutiv ist? 3. Alterität und Entfremdung Blicken wir auf die in den zentralen, exegetischen Kapiteln dieser Untersuchung behandelten Positionen zurück, so konnten im Wesentlichen drei verbindende Merkmale herausgearbeitet werden. Die Positionen Feuerbachs, Bauers, Stirners, Marx und Engels sind sich erstens – bei allen benannten Differenzen über das Verhältnis von Theorie und Praxis – darin einig, dass »Religion« (bzw. »Ideologie«) unter einem ethischen Gesichtspunkt betrachtet werden soll, d. h. in einem weiten Sinne unter dem Gesichtspunkt einer Frage nach einem guten Leben. Für alle fünf ist zweitens – bei allen benannten Differenzen über das Verhältnis von Selbst und Anderem – das gute Leben mehr oder weniger stark unter Einbeziehung eudämonistischer Perspektiven 89 90 91

S.o. Anmerkung 80. Vgl. i ek 2001b, 119 f. Vgl. auch die Deutung bei Klein 2016, 141 f.

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verstehbar. Die ethische Fragestellung zielt bei ihnen damit zumindest immer auch auf das Glück des Einzelnen. Das ethisch Problematische an der »Religion« (bzw. an der »Ideologie«) wird schließlich drittens bei allen fünfen mithilfe der Kategorie der Entfremdung gefasst. In der »Religion« (bzw. in der »Ideologie«) ist dem Menschen etwas, das für sein Selbst, für seine personale Existenz konstitutiv ist, fremd geworden. Bewegungen der Aneignung, die die Fremdheit des Fremden aufheben, sind dabei gestört. Bei allen Differenzen bilden die junghegelianischen Autoren somit einen erkennbar zusammenhängenden Diskurs. Wie lassen sich die Positionen Nancys und i eks nun zu diesem Diskurs in ein Verhältnis setzen? Und wie kann umgekehrt die Rezeption der junghegelianischen Debatten und speziell die Rezeption der Rolle, die Stirner innerhalb dieser Debatten einnimmt, bei einer Neubewertung der religionsphilosophischen Probleme helfen, die durch Nancy und i ek aufgeworfen werden? Eine gewisse Verwandtschaft oder Konvergenz der Problemfelder bei den Junghegelianern auf der einen Seite und Nancy und i ek auf der anderen Seite erklärt sich schon in ihrer gemeinsamen Teilhabe an der Tradition der kontinentalen, maßgeblich von Hegel beeinflussten Religionsphilosophie. Um diese Konvergenz aber genauer benennen zu können, soll eine hermeneutische und eine ethische Ebene des Problems unterschieden werden – eine Unterscheidung, die in meiner Analyse der Position Nancys bereits angeklungen ist. Dabei betrifft die hermeneutische Ebene die Frage nach dem Wesen oder Begriff der Religion bzw. des Christentums. Diese hermeneutische Ebene ist in den besprochenen Publikationen Nancys und i eks die explizitere, insofern beide eine Deutung des Christentums als ihr Thema benennen. Beide bieten hier eine nicht-kognitivistische Interpretation des Christentums, nach welcher das Christentum nicht mit wie auch immer bestimmten, ontologischen Annahmen gleichzusetzen ist, sondern in einer Art existenziellen Haltung oder Bewegung besteht. Dies führt beide nun zu einer zweiten, ethischen Ebene des Problems. Auf der ethischen Ebene verhalten sich beide Ansätze urteilend zu der existenziellen Haltung, die sie in ihrer Hermeneutik des Christentums herausgearbeitet haben, und argumentieren dabei, dass diese Haltung einem guten Leben dienstbar sein kann. Vergleicht man nun die Positionen Nancys und i eks mit den im Umfeld des Junghegelianismus entstandenen Positionen, so fällt auf, dass sie in Hinblick auf die Theorie des guten Lebens mit sehr verwandten Problemen befasst sind und zum Teil auch zu verwandten Urteilen kommen, in Hinblick auf die Deutung der Religion bzw. des Christentums aber stark von den Junghegelianern abweichen. Dies führt dazu, dass Nancy und i ek trotz einer Position, die den dialektischen Positionen innerhalb der junghegelianischen Religionskritik sehr nahekommt, zu einem deutlich positiveren Urteil über das

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Christentum kommen als letztere. Ich möchte im Folgenden zunächst die ethische Ebene des Problems vorziehen und den Konflikt zwischen Nancy, i ek und Stirner ausleuchten, der sich auf dieser Ebene ergibt. Die hermeneutische Frage nach einer angemessenen Deutung des Christentums sei für den letzten Abschnitt dieses Kapitels aufgespart. Sowohl Nancy als auch i ek bieten eine Ethik der Alterität, also eine Theorie, welche die Begegnungen mit dem »Anderen« als konstitutiv für ein gutes Leben betrachtet. Für Nancy ist es vornehmlich die »Liebe«, in der sich der Mensch von einem Anderen bestimmen lässt. Dieses Sich-bestimmen-Lassen, das Nancy als eine Bewegung der Öffnung beschreibt, ist nun ausdrücklich kein Verlust für das liebende Ich, sondern wird von diesem als lebensdienlich, ja heilvoll erlebt. 92 i eks Ethik wiederum kann als subtiler Einwand gegen diese von Nancy entworfene Position verstanden werden. Dabei ist seine Argumentation zunächst sehr nah an der von Nancy. Auch i ek greift die Erfahrung der Liebe auf und analysiert sie mithilfe der Kategorie des Anderen. Dabei betont er aber, dass dieses Andere nur dann als radikal Anderes gedacht wird, wenn es außerhalb jeder symbolischen Ordnung lokalisiert wird, von wo aus es unsere Ordnung stört. 93 Damit bezieht i ek eine etwas widersprüchliche Position: Zum einen scheint er zwar weiterhin eine affirmative Haltung zur radikalen Alterität des »Realen« einzunehmen, 94 zum anderen scheint er sich durch seine Semantik des Abgründigen dagegen zu sperren, die Begegnung mit dem Anderen allzu schnell im Horizont menschlicher Glückserwartungen zu verstehen. Versuchen wir diese zwei Positionen mit der Ethik der junghegelianischen Religionsphilosophen in eine Beziehung zu setzen, so stellt ein erstes Hindernis das Fehlen des Entfremdungsbegriffes bei Nancy und i ek dar, der für das Denken der junghegelianischen Autoren durchgehend bestimmend gewesen ist. Dieses Hindernis lässt sich aber überbrücken, insofern sich zumindest dialektische Entfremdungstheorien leicht im Sinne einer Ethik der Alterität reformulieren lassen. Dialektische Entfremdungstheorien gehen davon aus, dass das Selbst ein Anderes als Moment seiner selbst einschließt. Erfahrungen von Entfremdung bestehen in einer Verselbständigung des Anderen gegenüber dem Selbst, können aber umgekehrt auch als eine Unfähigkeit des Selbst erscheinen, das je Andere als Moment seiner selbst zu begreifen. 95 Versteht man nun die junghegelianischen Entfremdungstheorien und vor allem Feuerbachs Gattung nicht-substantialistisch, sondern praxistheoretisch, wie ich es 92 93 94 95

S.o. Seite 250 f. S.o. Seite 256 f. Vgl. auch Klein 2006, 123 f. S.o. Kapitel III, Abschnitt 1.

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in Anschluss an Rahel Jaeggi zu tun vorgeschlagen habe, realisiert sich also nach diesen Theorien das Selbst in Praktiken der Intersubjektivität, 96 so ergibt sich eine große Nähe von dialektischen Entfremdungstheorien zu der Ethik der Alterität, wie Nancy und i ek sie vorschlagen – ein Urteil, das Nancy mit seiner affirmativen Bezugnahme auf Feuerbach 97 und i ek mit seiner durchgehenden Anlehnung an Marx 98 sicher nicht abweisen würden. Gegen die dialektischen Positionen der Junghegelianer richtete sich nun der Einspruch Max Stirners. Dieser Einspruch bestand darin, dass nicht erst die Verselbstständigung des Anderen, sondern bereits die dialektische Aufnahme des Anderen als eigenständiges Moment in das dualistische Selbst zu einer Erfahrung von Entfremdung führt. Aufgehoben werden kann die Entfremdung nur durch eine Bewegung der Aneignung, in der das Andere als »Eigentum« des monistischen Selbst seine Eigenständigkeit verliert. 99 Diese recht spekulativ klingende Bestimmung gewinnt an Anschaulichkeit, wenn man ihre ethischen Implikationen in den Blick nimmt. Für Stirner, der eine teleologische Handlungstheorie vertritt, ist jedes Handeln ein Handeln zu einem Zweck. Jeder Entität, mindestens aber jeder Person, wohnt dabei ein Zweck inne, sie ist Selbstzweck. Stirners spekulativem Monismus entspricht nun auf der Ebene der Zwecke ein teleologischer Monismus: Ebenso, wie ich das Andere nicht als ein Moment meiner selbst in mein Selbst aufnehmen kann, ohne es zu negieren, kann ich einen fremden Zweck nicht in meinen Zweck aufnehmen bzw. ihn als gleichrangig aufnehmen, ohne ihn zu negieren. Zwischenmenschliche Beziehungen gewinnen dadurch immer den Charakter einer wechselseitigen Asymmetrie: Jeder der Partner handelt »egoistisch«, insofern er um seinetwillen in die Beziehung eintritt, jeder versucht zugleich den Anderen zu seinem »Eigentum« zu machen, den Zweck des Anderen zu negieren und ihn zu »genießen«. 100 Mit dieser radikalen Gestalt einer eudämonistischen Ethik setzt sich Stirner nicht nur von den dialektischen Entfremdungstheorien der Junghegelianer ab, sondern muss zugleich in einen diametralen Gegensatz zu einer Ethik der Alterität treten, wie Nancy und i ek sie vorgeschlagen haben. Allerdings scheint daraus zunächst kein Einwand gegen diese Positionen zu erwachsen, sind wir doch in Stirners Ethik mit einer Position konfrontiert, die der moralischen Intuition fundamental zu widersprechen scheint. Ohne diesen Widerspruch in Gänze auflösen zu können oder zu wollen, sei an dieser Stelle dennoch auf 96 97 98

99 100

S.o. Kapitel VI, Abschnitt 3. Vgl. Nancy 2008, 60. Vgl. nur die Beschwörung einer Konvergenz von Christentum und Marxismus in i ek 2000b, 5 f. S.o. Kapitel VII, Abschnitt 2. S.o. Kapitel VII, Abschnitt 3.

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einen Gedanken hingewiesen, der die Tragfähigkeit von Stirners Position stützen könnte. Ich möchte dazu ein Argument Slavoj i eks aufgreifen und es gegen i ek selbst ins Feld führen. i eks Ethik schließt sich eng an die Position einer Ethik der Alterität an, als deren Vertreter wir Nancy portraitiert haben. Die subtile Korrektur, die i ek vornimmt, argumentiert damit, dass in dieser Ethik das Andere durch seine vorschnelle Identifikation mit einem Moment gelingender Intersubjektivität »verbürgerlicht« wird. 101 Welches ist die Gefahr, die i ek hier benennt? i ek scheint darauf hinzuweisen, dass das Andere einer solchen Ethik kein radikal Anderes, ja eigentlich überhaupt kein Anderes, sondern immer schon Teil der symbolischen Ordnung ist. Der Zielhorizont der Argumentation i eks besteht somit darin, das wirklich Andere vor seiner Überblendung durch scheinbar Anderes zu schützen. Die Wahrnehmung des wirklich Anderen scheint i ek nun über den Weg einer Enttabuisierung von dessen dunkler, feindlicher Seite zu ermöglichen. Nun scheint i ek hier zunächst einen fundamental anderen Zugang zu wählen als Stirner, der nicht das Andere vor dem Eigenen, sondern das Eigene vor dem Anderen zu schützen versucht. Dennoch könnte man fragen, ob nicht i eks Argument auch gegen i ek und für Stirner gewendet werden kann. Oben wurde bereits auf den Selbstwiderspruch hingewiesen, in den i ek gerät, wenn er das Andere zwar zum einen als in jeder Hinsicht unverrechenbar ausweist, er das Hereinbrechen des Anderen aber immer wieder als notwendig oder sogar begrüßenswert zu verstehen anleitet. Könnte man nicht fragen, ob i ek dadurch die Radikalität des Anderen, die er semantisch markiert, pragmatisch ungewollt wieder aufhebt? Müsste man dann nicht weiter urteilen, dass damit wiederum das Andere in seiner Andersheit überblendet wird? Wenn dies stimmt, dann könnte es paradoxerweise gerade Stirners Ethik sein, welche die Andersheit des Anderen tatsächlich zur Geltung kommen lässt. Um die Andersheit des Anderen zu wahren – so könnte man argumentieren – muss ich nicht nur, wie i ek, dessen radikale Unverrechenbarkeit benennen, ich muss mir auch eingestehen, dass ich diese seine Andersheit nicht wollen kann. Wenn das Andere meinem Selbst gegenüber radikal anders sein soll, wenn es auch meinen Zielen, Wünschen, Gedanken usw. gegenüber radikal anders sein soll, muss mein Verhältnis zu diesem Anderen, wenn ich es wirklich als das anerkennen will, was es ist, letztlich ein oppositionelles, ja agonales sein, wie Stirner es beschreibt. Insofern wäre die Radikalisierung und »Entbürgerlichung« des Anderen, die i ek fordert, in Stirners Abkehr von der hegelianisch-junghegelianischen Dialektik noch grundsätzlicher vollzogen als bei i ek selbst. Stirners agonale Bestimmung der Intersubjektivität, welche 101

S.o. Seite 257 f.

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jedes Andere den Aneignungsbemühungen des Ichs aussetzt, könnte somit paradoxerweise zugleich eine Emanzipation des Anderen von der dialektischen Vereinnahmung des Anderen als ein immer schon ins Selbst integriertes ermöglichen. Um dieses Argument zu schärfen, möchte ich noch einmal auf Stirners Bestimmung der Intersubjektivität über den Eigentumsbegriff zurückkommen und dabei vor allem den Fall der partnerschaftlichen Liebesbeziehung in den Blick nehmen. Wenn auch ein partnerschaftliches Verhältnis rechtlich in der Bundesrepublik Deutschland niemals ein Eigentumsverhältnis sein kann, so scheint es sprachlich zunächst nicht ungewöhnlich, eine Liebesbeziehung über Eigentumsmetaphern zu fassen. So sprechen Menschen alltagssprachlich recht unemphatisch von »meiner Partnerin«/»meinem Partner« bzw. von »meiner Frau«/»meinem Mann« und gebrauchen damit eine Formulierung, die als Eigentumsmetaphorik zumindest verstanden werden kann. Im poetischen Kontext kann die Eigentumsmetaphorik dann auch durchaus expliziter werden, das wechselseitige Versprechen des mittelhochdeutschen Dichters: »Dû bist mîn, ich bin dîn« 102 gehört sicher bis heute in das kulturelle Repertoire, aus dem partnerschaftlich Verbundene in der Selbstdeutung ihrer Beziehung schöpfen können. Nun zeigt die Tatsache, dass partnerschaftliche Beziehungen metaphorisch an Eigentumsverhältnisse angenähert werden können, aber noch nicht, dass sie es auch werdensollten. So kann schon die zunächst unschuldig klingende Rede von »meinem Partner« durchaus als Ausdruck eines problematischen, besitzergreifenden Sprachspiels verstanden werden. Damit, so könnte man weiter argumentieren, wird der andere zu einem Ding, das man besitzt, er wird entpersonalisiert, er wird nicht mehr – wie eine Person – als Träger eigenständiger Wünsche und Ziele angesprochen. Dadurch aber scheint der Andere potenziell dessen beraubt zu werden, was ihn zu einem interessanten Partner einer gegenseitig inspirierenden Beziehung macht. Prominent wurde dieses Verdikt gegen eine Semantik des Besitzens in der Deutung partnerschaftlicher Beziehungen von Erich Fromm formuliert, der schreibt: »Wird Liebe [. . . ] in der Weise des Habens erlebt, so bedeutet dies, das Objekt, das man ›liebt‹, einzuschränken, gefangenzunehmen oder zu kontrollieren. Eine solche Liebe ist erwägend, lähmend, erstickend, tötend statt belebend.« 103 Von dort her könnte man schließen, dass die Gewohnheit, ein Verhältnis zu einem geliebten Menschen in Äquivalenz zu einem Eigentumsverhältnis zu denken, welche sich in der Rede von »meinem Partner« ausdrückt, für eine 102 103

Vgl. Müller (Hrsg.) 2009, 60. Fromm 2018, 63; zu einer Verhältnisbestimmung zwischen Stirner und Fromm vgl. nochmals Fetz 1998.

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gelingende Gestaltung der Beziehung hinderlich, ja tödlich ist. Dieser Schluss scheint aber nun zu weit zu gehen. Fordern wir nämlich, den Partner nicht mehr als »den meinen« anzusehen, so fordern wir etwas, das von Menschen, wo sie es tatsächlich erleben, als tiefe Störung ihrer Beziehung empfunden werden muss. Wenn ich das Gefühl habe, ich kann den Partner, mit dem ich zusammenlebe, nicht mehr angemessen den »meinen« nennen, so scheint die Beziehung innerlich gestört – ganz unabhängig davon, wie intensiv und eng die Interaktion zwischen mir und dem anderen äußerlich sein mag. Wie kann dieses Erleben erklärt werden? In dieser Frage scheint Stirners Theorie des Eigentums weiterführend zu sein. Als das »Meine« erlebe ich nach Stirner ein Anderes, wenn ich mich in der Begegnung mit ihm als zwecksetzend, d. h. als handlungsfähig und gestaltend erlebe. Diese Deutung entnimmt Stirner aus dem rechtlich-ökonomischen Begriff des Eigentums als Gebrauchsrecht, überführt ihn aber auf eine existenzielle Ebene. »Mein« sein kann etwas auch, wenn es rein quantitativ eine Übermacht darstellt, solange ich mich dennoch als wie auch immer begrenzt Handelnden erlebe. Erlebe ich mich dagegen nicht mehr als Handelnden, sondern als alles Geschehen passiv Erleidenden, so wird mir das je entgegentretende Andere fremd. Diese Erfahrung ist es, die in Anschluss an Stirner als Entfremdung beschrieben werden kann. Dieser theoretische Begriff der Entfremdung als Verlust von Aneignungsvollzügen im Sinne von zwecksetzenden Handlungsvollzügen kann nun auf das Gefühl von als entfremdet erlebten Paarbeziehungen übertragen werden. 104 Tatsächlich würde man gegen eine mögliche Skandalisierung der Ausübung von Macht in Paarbeziehungen einwenden müssen, dass das Gefühl, die Beziehung nach eigenen Zwecken formen zu können, eine kaum verzichtbare Bedingung für ihr gefühltes Gelingen ist. Dabei wird zwangsläufig nicht nur die Beziehung, sondern auch der Partner selbst zum Gegenstand der formenden Gestaltung. Das Gefühl, den Partner am Beginn einer Beziehung zu »erobern« oder zu »gewinnen«, sowie dann auch das Gefühl, dass ich meinen Partner in einer langen Beziehung zu dem gemacht habe, was er jetzt ist, ist an sich keine pathologische Allmachtsphantasie, sondern eine Erfahrung, die Menschen wechselseitig als erfüllend erleben und die zudem maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass ich kongruent vom Anderen als von »meinem Partner« sprechen kann. Eine Skepsis gegenüber der Parallelisierung von partnerschaftlichen Beziehungen und Eigentumsverhältnissen kann darum in der zunächst vermuteten Grundsätzlichkeit nicht aufrechterhalten werden. Damit ist aber die Konzeption, die Stirner bietet, noch nicht vollständig erreicht. Denn wenn man auch 104

Vgl. hierzu auch die Analyse von »Entfremdung« als Ohnmachtserfahrung bei Jaeggi 2016, 80 ff.

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zustimmen würde, dass ich den je anderen als den »meinen« erleben muss, damit eine Beziehung als gelingend empfunden werden kann, lässt sich immer noch fragen, wie der legitimierweise andere der »meine« wird. In dieser Frage setzt Stirner ganz auf einen Vollzug der Aneignung, also auf eine Bewegung, die von einem nehmenden Ich ausgeht. Hier nun könnte der Verdacht entstehen, dass bei Stirner durch dessen einseitige Betonung des »Nehmens« Phänomene des »sich Gebens« ausgeblendet werden, die zumindest ergänzend die partnerschaftliche Dynamik vervollständigen. Erst dadurch, dass der andere »sich gibt«, wird er im vollen Sinne der »meine« und kann somit als Gegenüber in einer gelingenden Nahbeziehung erlebt werden. Dies ist ein gewichtiger Einwand, aber auch hier erweist sich Stirners Position stärker, als sie zunächst erscheint. Dass eine Beziehung wesentlich durch Momente des »sich Gebens« getragen oder wenigsten mitgetragen wird, scheint auf den ersten Blick selbstverständlich. Allerdings sind hier Zweifel angebracht. Um diese Zweifel zu explizieren, möchte ich von folgender kurzen Geschichte ausgehen, die Paul Wazlawik in seiner Anleitung zum Unglücklichsein erzählt. 105 Eine Frau stellt ihrem Partner zum Frühstück eine Packung Cornflakes auf den Tisch. Dieser mag eigentlich keine Cornflakes, weil es sich aber um ihr erstes gemeinsames Frühstück in ihrem neuen Haus und damit um eine symbolisch aufgeladene Situation handelt, verzichtet er darauf, sie darauf hinzuweisen – und etabliert so ein Missverständnis, dass zu einer langen Reihe weiterer, ungewünschter Cornflakes-Käufe führt. Die kurze Geschichte verweist auf ein grundlegendes Problem der Figur des Schenkens bzw. der Figur des Gebens und ihrer Funktion für eine gelingende Beziehung. Die Partnerin möchte ihrem Partner etwas geben, sie irrt sich aber über seine Bedürfnisse und tut ihm darum keinen Gefallen. Nun hätte sie natürlich vorher fragen können. Warum aber hat sie das nicht getan? Vermutlich darum, weil es einer Konvention entspricht, dass Geschenke größeren Wert haben, wenn sie für den Beschenkten überraschend sind. Ein Kauf auf einen Auftrag hin scheint zu dem Wesen eines Geschenkes nicht wirklich zu passen. Der Schenker, so scheint es, gibt nicht, was der andere will, sondern was er denkt, dass der andere will. Darum kann ein Schenker auch leicht daneben liegen. Die beschriebene epistemische Problematik des Schenkens wird aber nun noch durch eine zweite, voluntative Problematik ergänzt und verschärft. Der Schenker gibt nicht nur, was er denkt, dass der andere es will, sondern auch das, von dem er will, dass der andere es will. Zwar kann man faktisch wohl auch etwas schenken, von dem man nicht will, dass der andere es bekommt – man kann bedrängt werden, etwas zu schenken, man kann widerwillig etwas 105

Vgl. Wazlawik 2005, 77 f.

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preisgeben, weil mir die Macht fehlt, es zu verteidigen, oder weil ich stillschweigend etwas im Tausch dafür erhalte – dies alles scheint aber dem Wesen des Schenkens recht deutlich entgegenzustehen. Der Satz: »Ich schenke es dir, aber ich tue es nicht gerne« scheint ein semantischer Widerspruch zu sein. Diese Beobachtung erschließt nun die benannte verschärfte Problematik des Schenkens. Selbst wenn ich einen anderen Menschen sehr gut kenne und so die epistemische Fehleranfälligkeit geringhalte, so kann ich ihm doch schlechterdings nichts schenken, durch das zu wollen er von dem von mir gewollten Du abweicht. Damit wird nun vollständig deutlich, dass ich, wenn ich schenke, einem virtuellen Du schenke. Das Du, dem ich schenke, ist zunächst virtuell, insofern ich einem auf der Grundlage meiner Informationen, Überlegungen und Fantasien konstruierten Du etwas schenke. Es ist aber (und vor allem) deshalb virtuell, insofern ein aus meinen Wünschen, Bedürfnissen und Träumen konstruiertes Du Adressat meiner Geschenke ist. Die weitreichende Konsequenz dieser Beobachtung wäre nun umgekehrt, dass der wirkliche Andere, das wirkliche Du – in der schwach ambitionierten Bedeutung als das Du, das sich meinen Konstruktionsbewegungen entzieht – niemals Adressat des Schenkens sein kann. Dies mag zunächst gegenintuitiv sein, spielt doch das Schenken in der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen eine scheinbar große Rolle. Dass dies aber nur auf den ersten Blick der Fall ist, lässt sich wiederum anhand der Geschichte mit den Cornflakes zeigen. Hört man die Geschichte, fällt sofort auf, dass es sich letztlich um eine Banalität handelt. Tatsächlich erscheint die Geschichte auch nur so lange als plausibel, als die Abneigung des beschenkten Partners gegen die Cornflakes eine mäßig starke ist. Würde er sich geradezu vor ihnen ekeln, hätte er dies wohl kaum verbergen können oder auch verbergen wollen. Hätte er das nun getan, hätte er den Geschenkvollzug aufgelöst und wäre zu einem Aushandlungsvollzug gewechselt, indem er seiner Partnerin erklärt hätte, was seine Bedürfnisse sind, und ihr die Möglichkeit gegeben, diese in ihr Handeln zu integrieren, oder nicht. Ginge es nun von vornherein nicht um Cornflakes, sondern um eine grundlegendere Frage, welche die Architektur ihrer jungen Beziehung beträfe, wie die Wahl eines Wohnortes, das Verhältnis von Nähe und Distanz, etwaige Familienplanung usw., so mag man den beiden wünschen, dass sie gar nicht erst einen Vollzug des gegenseitigen Schenkens probiert hätten, sondern von vornherein einen Aushandlungsvollzug gewählt hätten, indem nicht ein virtuelles Du konstruiert wird, bei dem vielmehr jeder Partner epistemisch und voluntativ für sich selbst spricht. Überblickt man von dort her die kulturelle Praxis des Schenkens, so kann nun auffallen, dass das Schenken zwar fest in unseren intersubjektiven Lebens-

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formen verankert ist, aber nirgends zu dem tragenden Moment wird, als das wir es zunächst vermutet hatten. So ist bei einem Paar die Summe der für gegenseitige Geschenke investierten Ausgaben wohl selbstverständlich weitaus niedriger als die der ausgehandelten und konzentriert sich zumeist auch auf einzelne »Anlässe« wie Geburtstage und Feiertage. Kehren wir zurück zu der Frage, wie Verhältnisse des »Eigentums aneinander« oder des »einander eigen Seins« konstituiert werden, so scheint nun Stirners Insistieren auf Vollzüge der Aneignung, also auf einem Vorrang des Nehmens vor dem Geben, nicht mehr so unverständlich. Wenn ich im Geben – d. h. im spontanen, initiativen Geben ohne Gegenleistung, wie es in der Geschenkfigur ansichtig wird – notwendigerweise einem virtuellen Du gebe, welches nichts anderes als das von mir gedachte und gewollte Du ist, dann kann auch das »sich geben« nicht die radikale Andersheit des Dus erreichen. Das wirkliche, radikal andere Du zeigt sich mir vielmehr in Vollzügen, in dem es mich nimmt. Genauso kann das Du nur dadurch das meine werden, indem ich es nehme. Ob aus dieser Struktur nun antagonistische oder partnerschaftliche Beziehungen erwachsen, hängt davon ab, was Ich und Du in der Begegnung suchen. Eine Beziehung auf einer affirmierten Alterität und damit auf einem virtuellen Du aufbauen zu wollen, kann aber letztlich nur zu einem führen: dem Ausbleiben einer wirklichen Begegnung. 106 4. Stirners Christentum Ich habe mit Blick auf die Positionen Nancys und i eks eine hermeneutische und eine ethische Ebene unterschieden. Beide ersetzen auf einer hermeneutischen Ebene die kognitivistische Deutung des Christentums durch eine nichtkognitivistische Deutung und korrelieren diese auf einer ethischen Ebene mit einer Theorie des guten Lebens. Ich habe im vorangegangenen Abschnitt zunächst die ethische Ebene vorgezogen, um zu zeigen, dass erstens die ethischen Positionen Nancys und i eks eine Nähe zu dialektischen Entfremdungstheorien aufweisen, wie Bauer, Feuerbach und Marx sie vertreten haben, und dass damit zweitens Stirners Kritik an diesen dialektischen Entfremdungstheorien auf die Positionen Nancys und i eks übertragen werden kann. Ein von Stirner her entwickelter Einwand würde somit nicht die Gangbarkeit ihrer atheistischen Interpretation des Christentums bestreiten, sondern würde vielmehr 106

Eine Vertiefung der hier angestellten Meditationen zum Schenken und Nehmen müsste anschließen an die Diskussion um das Phänomen der »Gabe«, zur neueren Debatte vgl. nur Hoffmann / Link-Wieczorek / Mandry (Hrsg.) 2016; zu den »klassischen« Positionen vgl. Därmann 2010.

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darauf hinweisen, dass eine solche atheistische Interpretation zwar ontologisch sparsam ist, daher hier kaum Angriffsfläche bietet, die möglichen ethischen Probleme des Christentums aber zu übernehmen droht. Im letzten Abschnitt habe ich argumentiert, dass Stirners Einwand gegen die Ethik der Alterität nicht ohne Plausibilität ist. Nun möchte ich noch einmal auf die aufgeschobene hermeneutische Ebene des Problems zurückkommen. Eine nicht-kognitivistische Deutung des Christentums, wie Nancy und i ek sie bieten, ließe sich in zwei Richtungen befragen. Zum einen könnte man fragen, ob die Lebenspraxis christlich-religiöser Menschen nicht doch von ontologischen Annahmen wie von dem Glauben an Gott bzw. an ein Leben nach dem Tod bestimmt ist. Diesen in gewisser Hinsicht intuitiveren Weg möchte ich im Folgenden aber nicht einschlagen. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass auch innerhalb nicht-kognitivistischer Deutungen des Christentums hermeneutische Konflikte ausgetragen werden müssen. Denn selbst wenn man zuzugeben bereit ist, dass das Christentum im Sinne einer existenziellen Haltung oder Bewegung zu verstehen ist, lässt sich immer noch fragen, wie diese Bewegung genau verstanden werden sollte. Hierbei lässt sich zwar zwischen Nancy und i ek auf der einen Seite und Stirner auf der anderen Seite kein Konflikt konstruieren, da beide Seiten das Christentum mit einer Ethik der Alterität identifizieren, um es daraufhin zu affirmieren – im Falle von Nancy und i ek – oder zu bekämpfen – im Falle von Stirner. Diese Einhelligkeit wird allerdings gestört, wenn wir auf die Interpretation Löwiths zurückkommen, der fragen lässt, ob nicht gerade in dem Modell der Alterität, das Stirner dem Christentum entgegenzusetzen glaubt, ein Moment des christlichen Denkens unwillentlich zur Anschauung kommt. Bevor wir dieser Frage nachgehen können, muss im Blick auf die Begrifflichkeit eine überfällige Klärung erfolgen. Ich habe in meiner Darstellung der junghegelianischen Positionen sowie in der Darstellung der Position Stirners durchgehend von der »Religion« als dem Gegenstand ihrer Kritik gesprochen. Diese Entscheidung war dem Sprachgebrauch der Texte geschuldet, die vornehmlich am Begriff der »Religion« orientiert waren, wenn auch ihr Religionsbegriff eindeutig und häufig auch explizit an der christlichen Überlieferung geschärft ist. 107 Auch wenn, wie bei Stirner, eine Weitung des Religionsbegriffs erfolgt und dieser somit auf zahlreiche neue Kontexte übertragen werden kann, so entstammten die leitenden Strukturmomente des erweiterten Religionsbegriffes wiederum explizit einer Deutung des Christentums – ganz unabhängig davon, ob man diese Deutung für sachgemäß hält. 108 Schon Löwith hat diesem 107

108

Exemplarisch hierfür steht die Religionsphilosophie Feuerbachs, die sich explizit als Christentumstheorie präsentiert, s. o. Kapitel IV, Abschnitt 1. Zur »Liebe« s. o. Kapitel V, Abschnitt 3. Zur »Heiligkeit« s. o. Kapitel VII, Abschnitt 4.

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Faktum Rechnung getragen, wenn er in seiner Deutung der junghegelianischen Religionskritik in Von Hegel zu Nietzsche nicht die Religion, sondern das Christentum als Bezugsgröße setzt und vom »Problem der Christlichkeit« spricht. 109 Diese Entscheidung kann nun, da wir die exegetischen Teile unserer Studie hinter uns gelassen haben und in die systematische Auseinandersetzung eingetreten sind, aufgenommen werden: Was Stirner und die Junghegelianer bieten, ist, in systematischer Hinsicht, weniger eine Kritik der Religion, sondern eine Kritik des Christentums, weniger eine (kritische) Religionsphilosophie als mehr eine (kritische) Christentumstheorie. Dies macht sie auch mit den Ansätzen Nancys und i eks vergleichbar, die ebenfalls ausdrücklich Christentumstheorie bieten wollen und an einem überkonfessionellen Begriff von Religion nicht interessiert scheinen. So gegensätzlich die ethischen Urteile bei Stirner auf der einen Seite und Nancy und i ek auf der anderen Seite nun erscheinen, so nah scheinen sie sich in ihren hermeneutischen Urteilen zu sein. In Auseinandersetzung mit den Positionen Bauers und Feuerbachs, die in ihrer Ablehnung letztlich an einer Gleichsetzung des Christentums mit einem metaphysischen Theismus orientiert sind, gelangt Stirner zu einer nicht-kognitivistischen Theorie des Christentums. Dabei löst er das Christentum von dogmatischen sowie in gewissem Maße auch von historischen Bestimmungen und identifiziert es mit dem existenziellen Strukturmoment der Heiligkeit. Dieses ist bestimmt durch die Anerkennung der Andersheit eines Anderen, das damit der Aneignung durch das Selbst entzogen bleibt. Eben dieses Moment hatten die dialektischen Entfremdungstheorien Bauers und Feuerbachs aufgenommen und sie dem metaphysischen Theismus des Christentums entgegengestellt. Nancy und i ek wiederum bieten mit ihrer Ethik der Alterität eine der dialektischen Entfremdungstheorie sehr verwandte Position, weichen darin von Stirner ab, stimmen aber in der hermeneutischen Frage mit Stirner überein, indem sie die von ihnen vorgeschlagene Ethik als Erbe des Christentums darstellen. Damit scheint sich zunächst das Urteil zu bestätigen, das Paterson über Stirners Verhältnis zur christlichen Theologie formuliert hat. 110 Die kognitivrationalistische Religionskritik, wie sie uns innerhalb des Junghegelianismus in den Positionen Feuerbachs und Bauers begegnet, bestritt nur den kognitiven Gehalt des Christentums, vor allem den metaphysischen Theismus. Dadurch könnte ein theologischer Atheismus bzw. eine nicht-kognitivistische Deutung des Christentums ihr wirksam begegnen. Demgegenüber erscheint Stirner als »totaler Atheist« bzw. als Vertreter einer Position, die sich in maximale Opposition zu jeder Theologie – d. h. in maximale Opposition zu jedem Versuch einer 109 110

Vgl. Löwith 1950, 409 ff. S.o. Abschnitt 1.

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konstruktiven, denkerischen Bezugnahme auf die christliche Überlieferung – begibt. Indem Paterson den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Stirners »nihilistischem« Egoismus und der christlichen Theologie unterstreicht, folgt er letztlich dessen Selbsteinschätzung, eine antichristliche Philosophie zu formulieren. Dieser Schluss scheint zunächst auch unausweichlich. Nun allerdings ist es an der Zeit, daran zu erinnern, dass mit Karl Löwith einer der prominentesten Kommentatoren genau dieser Selbsteinschätzung nicht gefolgt ist und Stirners Philosophie in der Fluchtlinie der christlichen Überlieferung gelesen hat. Löwith erzählt die Geschichte der nachhegelschen Religionskritik als die Geschichte eines Scheiterns. 111 In ihrem Versuch, das Christentum zu überwinden, unterliegen die Junghegelianer dem Zwang der Doppelstruktur von »Rechtfertigung« und »Kritik«. Zwar kritisieren sie das Christentum, doch übernehmen sie dabei wesentliche Elemente der »christlichen Überlieferung« in ihre eigene Philosophie. Was die Junghegelianer gegenüber der Philosophie der griechischen Antike vom Christentum rechtfertigend übernehmen, ist dabei die »Denaturierung« der Welt, durch welche diese ihren Charakter als in sich sinnvoll geordneter Kosmos und damit zugleich der Mensch seine Stellung in diesem Kosmos verliert. Damit bleiben die Welt und der Mensch auf einen transzendenten Sinn verwiesen – eine Struktur, die durch den modernen Zweifel an der Gegebenheit eines solchen Sinns schließlich in ein Gefühl des »Nihilismus« und der »Heimatlosigkeit« des Menschen in der Welt umschlagen muss. Der Begriff der christlichen Überlieferung bei Löwith lässt sich leicht zu der Christentumshermeneutik bei Nancy und i ek in ein Verhältnis setzen. Wie Nancy und i ek löst Löwith das Christentum von seiner institutionellen Gestalt und fasst die christliche Überlieferung als historischen Wirkzusammenhang. Wie Nancy und i ek löst Löwith zudem die christliche Überlieferung vollständig von ihren kognitiven Gehalten und bestimmt sie formal als existenziale Bewegung des Transzendierens, eine Ausrichtung auf eine Alterität. Fragt man, wie sich Löwiths Begriff des Transzendierens zu der Bestimmung des Christentums bei Nancy und i ek verhält, so ergibt sich ein geteiltes Bild. Nancy hatte die Bewegung des Transzendierens dezidiert als eine immanente verstanden, während für Löwith das Transzendieren gerade keine innerweltlichen oder intersubjektiven Verweisstrukturen meint, sondern ein akosmisches Transzendieren, welches freilich nach Verlust des Theismus ein Transzendieren auf ein leeres Feld geworden ist. 112 i ek scheint Löwith dagegen näher zu stehen, insofern er die Alterität des Realen der metaphysischen Alterität wieder 111 112

S.o. Kapitel II, Abschnitt 2–3. S.o. Kapitel II, Abschnitt 3.

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annähert, um sie zu radikalisieren. Somit wäre für i ek wie für Löwith das Aufbrechen eines sinnhaft geschlossenen Kosmos der Wesenskern des Christentums – wenn auch bei beiden mit je umgekehrter Wertung. Löwith hat nun, anders als Paterson und viele andere Kommentatoren, Stirner ausdrücklich nicht von seiner These vom Scheitern der junghegelianischen Religionskritik ausgenommen. Nach Löwith hat auch Stirner an der christlichen Überlieferung teil, womit impliziert zu sein scheint, dass auch er die Denaturierung des Kosmos fortschreibt. Dieses Urteil mag überraschen, wenn man berücksichtigt, wie streng Stirner jede Bejahung des Anderen bekämpft. Ist nicht Stirner derjenige, der dem Transzendieren die heftigste Absage erteilt hat, um am strengsten bei sich selbst zu bleiben? Löwith hat sein Urteil über Stirner allerdings mit einem subtilen strukturellen Argument begründet, das wir bereits kennengelernt haben und das hier noch einmal zitiert sein soll: Was Stirner [. . . ] seinerseits als »Idee« voraussetzt ist ein spezifisch »einfacher« Begriff vom Menschen, ein Mit-sich-selbst-Einsgewordensein. Diese Einigkeit ist erreicht, wenn der Mensch mit sich selber gleich geworden ist. Die einige Gleichheit des Menschen mit sich selbst ist aber keine endgültig gegebene, sondern eine sich ständig ergebende Aufgabe, weil gerade die Aneignung des Fremden im Sinne der »Eigenheit«, die Differenz von Eigenheit und Fremdheit, von Selbstsein und Anderssein, ebensosehr aufhebt, wie sie dieselbe erzeugt. 113

Löwith argumentiert hier, die von Stirner geforderte »Aneignung« müsste, um das Fremde zu verneinen und zu überwinden, eben dieses Fremde zuvor als je gegeben voraussetzen. Somit impliziert die Forderung nach einer Aneignung des Fremden zwar eine evaluative Abwertung des Fremden, aber zugleich eine sachliche Anerkennung: Gäbe es keine Fremdheit, dann gäbe es auch keine Aneignung des Fremden. Dieses Argument korrespondiert mit der im letzten Abschnitt angestellten Überlegung, dass Stirners agonale Bestimmung der Alterität paradoxerweise diejenige Bestimmung von Alterität ist, in der die Andersheit des Anderen am radikalsten zugelassen wird. Um die Andersheit des Anderen radikal zu denken, muss diese radikale Alterität nicht nur semantisch markiert werden, sondern auch pragmatisch vollzogen werden. Dies geschieht durch die Anerkennung dessen, dass ich mich zur Andersheit des Anderen nicht affirmativ verhalten kann, sondern mich zwangsläufig in einem agonalen Verhältnis zu ihm wiederfinde – bzw. umgekehrt in der Einsicht, dass die affirmierte Alterität als von mir affirmierte immer nur eine virtuelle und nicht die wirkliche Alterität sein kann. Löwith selbst hält die Annahme von radikalen Alteritäten freilich 113

Löwith 1933, 136.

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für problematisch, optiert er doch dafür, die Welt als geschlossen Sinnkosmos zu begreifen. Unabhängig von der Tragfähigkeit dieser Konzeption und von der Wertung, die sie impliziert, bleibt die hermeneutische These bedenkenswert, dass Stirner durch Löwiths plausiblen Hinweis auf die Verankerung der Alterität in Stirners Philosophie in die Nähe zu dem gerät, was Löwith als Kern der christlichen Überlieferung ausmacht. Löwiths Hinweis darauf, dass Stirners Aneignungsbewegungen eine sachliche Anerkennung von radikalen Alteritäten voraussetzen, mag überzeugen. Die These, dass Stirner damit zum Erben einer christlichen Überlieferung wird, hängt dann aber davon ab, ob wir Löwiths Analyse eben dieser Überlieferung folgen. Dieses Problem scheint damit auf die Frage zuzulaufen, wie genau die christliche Existenz sich mit Erfahrungen der Alterität in ein Verhältnis setzt. Besteht die christliche Existenz in einer evaluativen Affirmation von Alterität? Diese Position scheint Stirner zu vertreten, womit seine entschiedene Ablehnung des Christentums begründet ist, die sich wiederum aus seiner Theorie des guten Lebens speist. Oder besteht die christliche Existenz dagegen in dem vorevaluativen Vollzug einer Konstatierung von Alterität? In diesem Fall könnte man tatsächlich urteilen, dass Stirners Philosophie einer christlichen Existenzweise korrespondiert. Mit Blick auf eine mögliche Beantwortung dieser Frage sollen im Folgenden einige tastende Überlegungen angestellt werden. Hierzu möchte ich zunächst noch einmal bei der Figur der Heiligkeit anknüpfen, wie Stirner sie entwirft. 114 Nach Stirner ist Heiligkeit das korrelierende Attribut einer Affirmation von Alterität. Während ich in Bewegungen der Aneignung die Alterität des Anderen zwar konstatiere, aber zu überwinden suche, indem ich den Zweck des je Anderen zu meinem Zweck negiere, wird in Bewegungen der Heiligsprechung das Andere meiner Aneignung entzogen, es darf nicht mein Eigentum werden, seine Alterität darf nicht negiert werden, sein Zweck soll Selbstzweck bleiben. Heiligsprechung ist nun nach Stirner das Charakteristikum einer religiösen Existenzweise. Nicht allein die Ausrichtung auf eine metaphysische Alterität als einer anderen Welt oder Hinterwelt gilt ihm als »religiös«, sondern bereits innerweltliche Vollzüge der Affirmation von Alteritäten. Nancy und i ek sind, wir gesehen haben, in ihren Deutungen tatsächlich mit unterschiedlicher Akzentsetzung davon ausgegangen, dass Affirmationen von innerweltlicher Alterität, also Strukturen der »Heiligkeit« im Sinne Stirners, für eine christliche Existenzweise als konstitutiv betrachtet werden müssen. Betrachten wir aber vor diesem Hintergrund die jesuanische Ethik, wie die kanonisch gewordenen Evangelien sie schildern, so geben sie Anlass, an diesem Urteil zu zweifeln. So tritt uns in der Erzählung vom Ährenraufen am Sabbat 114

S.o. Kapitel VII, Abschnitt 4.

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ein Jesus entgegen, der die Heiligkeiten entheiligt: 115 Auf der äußeren Ebene der Erzählung selbst rechtfertigt Jesus das Raufen der Ähren mit den Worten: »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen [. . . ].« 116 In dieser nahezu »stirnerianischen« Formulierung gibt Jesus ein Betrachten des Sabbats unter der Kategorie des »um . . . willen« frei und nimmt ihm so eben das Moment, das Stirner als »Heiligkeit« benannt hat, nämlich die Struktur, dass ein Gegenstand meinem zwecksetzenden Handeln entzogen ist. Auf einer zweiten, intradiegetischen Ebene wird die Nähe zu Stirners Konzeption noch anschaulicher: Jesus legitimiert sein Urteil durch die Nacherzählung einer Geschichte, nach der König David die Schaubrote im Tempel gegessen habe, die den Priestern vorbehalten waren. 117 Wird in der äußeren Erzählung vom Ährenraufen das Heilige durch das Essen indirekt entheiligt, so geschieht in der inneren Erzählung die Entheiligung direkt durch ein Verspeisen des Heiligen – durch eben den Vollzug, den Stirner zur Leitmetapher der von ihm beschriebenen Aneignungsvollzüge gewählt hat. Der Jesus, den die synoptischen Evangelien in dieser Episode portraitieren, vertritt demnach kein Ethos des Heiligen, das von einer Affirmation von Alteritäten getragen ist, von einem Hingerissenwerden von einem überwältigenden Anderen, sondern rechtfertigt ein Ethos des Nehmens, das den Menschen emanzipiert, in ein zwecksetzendes, aneignendes und genießendes Verhältnis zu den Dingen zu treten. Nun könnte man einwenden, dass in der Episode zwar durchaus etwas entheiligt wird, aber darum ja nicht die Absage an jedwede Heiligkeit erteilt wird. Vielmehr könnte man fragen, ob nicht mit dem »Menschen«, um dessentwillen nach den Worten Jesu der Sabbat gemacht worden ist, ein neues Heiliges gesetzt wird. Die Geschichte könnte dann als ein früher Vorschein dessen gelesen werden, was Hans Joas die »Sakralität der Person« genannt hat. 118 In diesem Sinne verstanden würde der Text vom Ährenraufen nur von einer begrenzten – Stirner würde dann wohl sagen: gescheiterten – Entheiligung erzählen. Zwar würde ein Heiliges dem Ich zur Aneignung freigegeben, aber nur, um mit dem Menschen ein neues Heiligtum zu etablieren, welches weiterhin der Aneignung entzogen bleiben muss. Diese Deutung scheint zunächst plausibel, erscheint doch die Formel, dass Menschen einander als »heilig« achten, zunächst als adäquate Beschreibung einer universalen Nächstenliebe. Blicken wir auf das im letzten Abschnitt in Hin115

116 117

118

Für den Nachweis, dass es sich bei dieser Episode um das Zeugnis einer innerjüdischen Debatte handelt, vgl. Doering 1999, 408 ff. Mk 2,27. Der markinische Jesus verschärft in seiner Nacherzählung dieser Episode die provokatorische Geste Davids gegenüber der Vorlage in 1 Sam 21 noch, indem er David nicht um Erlaubnis fragen lässt, vgl. hierzu Guttenberger 2018, 76 f. Vgl. Joas 2015.

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Schätze, an den Himmel verschleudert. Christentum und Alterität

blick auf Geben und Nehmen Erspürte zurück, 119 würde ein so verstandenes christliches Ethos aber zutiefst problematisch erscheinen. Würde eine christliche Ethik fordern, den anderen als Heiligen von eigenen Aneignungsvollzügen auszuschließen, würde sie Gefahr laufen, einer Atmosphäre von steriler Beziehungslosigkeit und gegenseitiger Entfremdung Vorschub zu leisten. Nun ist es keinesfalls ausgeschlossen, dass es sich genau so verhält, und genau dies scheint ja auch Stirners Verdacht gewesen zu sein. Dennoch gibt es meines Erachtens einen Hinweis darauf, dass das christliche Ethos die Konstruktion von Heiligkeiten noch grundsätzlicher in Frage stellt, als es der Text vom Ährenraufen explizit werden lässt. Und dieser Hinweis ist die Praxis des Abendmahls. Jean-Luc Nancy hat in seinem Versuch einer Dekonstruktion des Christentums darauf hingewiesen, dass im christlichen Mythos von der Inkarnation sich eine zunächst transzendent, extramundan erscheinende Alterität in die Welt einschreibt. 120 Diese Deutung des Mythos bleibt aber unvollständig, wenn sie den Weg des inkarnierten Gottes nicht bis zu seinem Ende verfolgt. So erzählt der Mythos gerade nicht davon, dass die in Jesus repräsentierte, innerweltliche Alterität als solche aufgerichtet wird, in ihrer Alterität stabil bleibt und durch eine anbetende Affirmation den Menschen zum Heil wird. Vielmehr erzählt der Mythos davon, dass diese bereits »depotenzierte« Alterität nicht geachtet, bedrängt und zuletzt gebrochen wird. Nun könnte man die Erzählung vom Kreuzestod Jesu als eine bloße Gefährdung der immanenten Alterität, der Heiligkeit der Person, lesen, die durch seine Wiederauferstehung schlicht überwunden wäre. Diese Deutung scheint aber recht deutlich die Pointe des Mythos zu ignorieren, nach der gerade im Kreuz das Heil der Glaubenden begründet liegt. Darum auch wird im Ritus des Abendmahls eben der Kreuzestod dramatisch nachvollzogen, in der Form, dass die Gemeinde den Leib des Gekreuzigten zwischen ihren Zähnen zerbeißt. Indem sie das tut, vollzieht sie in denkbar anschaulicher Form die Aneignung des Gekreuzigten, sie folgt der Aufforderung, die Alterität und Heiligkeit des inkarnierten Gottes nicht anbetend zu affirmieren, sondern – gleichsam sie »entheiligend« – sie zu ihrem Zweck, zu ihrem Heil zu negieren. Übertragen wir diese Beobachtungen auf die Frage, welches Ethos in diesem Ritual eingeübt wird, dann ist es überraschenderweise ein radikales Ethos des Nehmens. Gott würde in dem durch diesen Ritus nachvollzogenen Mythos nicht nur zu einer Alterität, die innerweltlich erlebt werden kann, sondern zu einer Alterität, die für die Aneignung durch den einzelnen Menschen freigegeben wird und somit in ihrer Alterität überwunden werden kann. Wenn die Gottesfigur nun mit Nancy entmythologisierend als Inbegriff von Alteritätsfi119 120

S.o. Abschnitt 3. Vgl. nochmal Nancy 2012, 48–51.

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guren verstanden werden kann, dann scheinen tatsächlich die Strukturen der Heiligkeit, verstanden als eine Affirmation von Alteritäten, im Christentum grundsätzlich aufgehoben zu sein. Das christliche Ethos erschiene dann als eines, in welchem einem aneignenden, zwecksetzenden Handeln des Einzelnen umfassend Raum gegeben wird. Eine Begegnung von Einzelnen untereinander geschähe dann ausschließlich vor dem Horizont eines solchen Ethos des Nehmens, womit, wie wir zu zeigen versucht haben, eine Emanzipation des individuellen Ichs verbunden ist, welche die Möglichkeit zu einer wirklichen Begegnung zuallererst eröffnet.

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Schluss

A

m Anfang dieser Untersuchung habe ich angekündigt, die Religionskritik Stirners als eine aus einer eudämonistischen Ethik motivierte Kritik an der christlichen Religion erschließen zu helfen. Stirner, so habe ich angekündigt, kämpft in seiner schriftstellerischen Arbeit mit ausdauernder Leidenschaft dafür, die »verschleuderten Schätze« des Menschen auf die Erde zurückzubringen. Über die neun Kapitel dieser Untersuchung, besonders über die exegetischen Kapitel in ihrem Zentrum, haben wir den Kampf Stirners verfolgen können. In diesem Kampf kämpfte er allein, für sich, und doch kämpfte er stellvertretend für jedes Ich, das enteignet vor der Macht des Heiligen steht. Dabei konnten wir präzisieren, aus welcher subjekttheoretischen und ethischen Position heraus Stirner diesen Kampf führt. Um seine Position zu erschließen, war es uns dienlich, mit dem Begriff der Entfremdung anzusetzen, der in der Christentumstheorie Bruno Bauers und Ludwig Feuerbachs im Rahmen einer Analyse des Theismus aufgegriffen wurde. 1 Stirners Innovation gegenüber Bauer und Feuerbach beruht darauf, zum einen den Religionsbegriff vom kognitiven Theismus zu lösen und so zu verflüssigen und zum anderen die dialektische Fassung des Entfremdungsbegriffes, die Bauer und Feuerbach von Hegel übernommen haben, zu hinterfragen. Durch beide Entscheidungen stößt Stirner zu einem stark expansiven Religionsbegriff vor, der jede Form der affirmierten Alterität – gerade auch die affirmierte Alterität im Zusammenhang dialektischer Entäußerungsbewegungen – als Zuschreibungen von Heiligkeit verstehen kann. 2 Strukturen der Heiligkeit meint Stirner dabei in der christlichen Überlieferung identifizieren zu können, ohne dass solche aber auf diese Überlieferung beschränkt wären. Vielmehr verlängern sich Strukturen der Heiligkeit in nachchristliche Lebensformen und gerade auch in die zeitgenössischen, atheistischen Philosophien wie derjenigen Bauers und Feuerbachs selbst. Die so von ihm rekonstruierte, von Strukturen der Heiligkeit geprägte Existenzform ist nun nach Stirners Analyse bestimmt von einer tiefgreifenden Lebensfeindlichkeit. Demgegenüber optiert Stirner für eine alternative Existenzform, die Heiligkeitszuschreibungen grundlegend überwindet. Diese alternative Existenzform ist konstitutiv mit dem Begriff des Eigentums ver-

1 2

S.o. Kapitel III, Abschnitt 1. S.o. Kapitel VII, Abschnitt 4.

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bunden, den wir als den fundamentalsten Theoriebegriff in der Philosophie Stirners erschließen konnten und den er in seiner Extension weit über seinen angestammten Ort in der Rechtsphilosophie heraushebt. Stirner fordert, die mir begegnende Welt und ihre einzelnen Erscheinungen immer und überall als mein Eigentum zu begreifen. 3 Dies bedeutet für Stirner, das mir begegnende Andere in seiner Alterität nicht affirmativ anzuerkennen, sondern es vielmehr teleologisch auf den mir selbst innewohnenden Zweck hinzuordnen. Da allerdings das mir begegnende Andere einen eigenen Zweck in sich trägt, muss meine Interaktion mit ihm notwendigerweise einen agonalen Charakter annehmen. Stirner nimmt nun intersubjektive Begegnungen ausdrücklich nicht von dieser Bestimmung aus, wodurch seine Ethik eine häufig als anstößig empfundene Färbung erhält – ein Eindruck, den Stirner durch seinen entproblematisierten Gebrauch des Egoismusbegriffs noch verschärft. 4 Dem Verdacht gegen Stirners Ethik, eine letztlich »asoziale« Philosophie zu sein, konnten wir entgegenhalten, dass Stirner sich ausdrücklich darum bemüht, seine agonale Fassung der Intersubjektivität als Win-win-Verhältnis darzustellen und umgekehrt die zerstörerische Wirkung von Heiligkeitszuschreibungen auch auf die Sozialität nachzuweisen. 5 Diese Argumentation ist zudem nicht ohne Plausibilität. Wie wir zuletzt am Phänomen des Schenkens zeigen konnten, 6 emanzipiert Stirners Ethik das Ich von dem Schicksal, hinter von einem mich beschenkenden Anderen konstruierten, virtuellen Du zu verschwinden. Wirkliche Beziehungen wären dann, wie Stirner es zu denken vorschlägt, nur zwischen Partnern möglich, die als »egoistisch« Nehmende in die Begegnung einzutreten wagen. Ist die Religion nun bei Stirner als Lebensbewegung bestimmt, die sich auch, aber nicht primär in Formen des Denkens äußert, so ist folgerichtig, dass auch Stirners Kritik der Religion sich nicht in einer kognitiven Widerlegung religiöser Überzeugungen vollziehen kann. Vielmehr erfolgt die Kritik der Religion durch die performative Rücknahme von Heiligkeitszuschreibungen. Hatte Stirner zu zeigen versucht, dass die »Wahrheit« als Manifestation des Heiligen im Raum des Denkens verstanden werden kann, 7 so kann die Rücknahme von Heiligkeitszuschreibungen hier nicht in einer Verneinung von Wahrheit liegen, welche argumentativ begründet und dadurch wieder von Strukturen der Wahrheit getragen ist. Die Überwindung von Heiligkeit im Raum des Denkens besteht vielmehr in einem spielerischen Umgang mit Gedanken, welcher sich von dem alles bestimmenden Gegensatz von Wahrem 3 4 5 6 7

S.o. Kapitel VII, Abschnitt 2. S.o. Kapitel V, Abschnitt 2–3; Kapitel VII, Abschnitt 3. S.o. Kapitel V, Abschnitt 4; Kapitel VII, Abschnitt 3. S.o. Kapitel IX, Abschnitt 3. S.o. Kapitel VIII, Abschnitt 3.

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und Falschem löst und den Zweck des Denkenden als unhintergehbaren Anfang des Denkens verstehen lernt. 8 Diese Untersuchung hat einen ungewöhnlichen Autor in den Blick genommen und diesen Autor unter einer ungewöhnlichen Fragestellung. Max Stirner ist kein Klassiker der Philosophie und auch die Religionskritik als die systematische Leitfrage meiner Interpretation wird von der philosophischen wie der theologischen Forschung nur noch vereinzelt als lohnendes Thema der gedanklichen Arbeit betrachtet. Ich habe in dieser Untersuchung dafür geworben, auf beide – auf die Religionskritik wie auf die besondere Gestalt, die sie im Werk Max Stirners angenommen hat – einen neuen und konzentrierten Blick zu richten. Jede Theologie und jede konstruktive Religionsphilosophie ist bleibend auf die Religionskritik als einen ihrer wichtigsten Gesprächspartner verwiesen. Der Eindruck, »aneinander vorbeizureden«, der sich im Gespräch mit polemisch atheistischen oder auch unaufgeregt szientistischen Positionen einstellen mag, darf nicht dazu verleiten, die Theologie auf der einen Seite und die säkulare Philosophie auf der anderen Seite als Explikationsvollzüge inkommensurabler Weltsichten zu bestimmen. Gerade auch dann, wenn der kognitivistische Nexus von »wahren« und »falschen« Überzeugungen fraglich wird, bleibt die praktische Frage nach der Lebensdienlichkeit von Bewusstseinsformen und somit eine Geltungsfrage bestehen. Dabei ist zudem zu bedenken, dass die philosophische Religionskritik innerhalb einer säkularistischen Philosophie der Ort ist, an dem die Geltungsansprüche der Theologie am weitestgehenden anerkannt werden: Zum einen erkennt die Religionskritik durch ihre Bemühungen mindestens formal an, dass es sich bei ihrem Gegner um eine diskussionswürdige Position handelt. Zum anderen aber kann mit Karl Löwith daran erinnert werden, dass auch inhaltlich jede »Kritik« ein Moment der »Rechtfertigung« enthalten muss. 9 Jede Religionskritik muss zwangsläufig benennen, was sie an der Religion kritisiert – um im selben Moment anderes von ihrer Kritik auszusparen. Gerade dadurch, dass der Gegenstand von Vollzügen der Religionskritik keine abstrakte, monolithische Figur namens »Religion«, sondern eine komplexe, geschichtlich verzweigte religiöse Überlieferung ist, wird deutlich, dass eine Kritik spezifischer Linien in dieser Überlieferung immer auch eine Entscheidung darüber einschließt, was zu bewahren ist. Aus dieser Sicht verwischen die Grenzen zwischen Religionskritik auf der einen Seite und Theologie oder konstruktiver Religionsphilosophie auf der anderen Seite. Max Stirners Religionskritik nun stellt die christliche Theologie wie die christliche Religionsphilosophie vor besondere Herausforderungen, da er im 8 9

S.o. Kapitel VIII, Abschnitt 4. S.o. Kapitel II, Abschnitt 2.

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Vergleich mit anderen christentumskritischen Positionen seiner Zeit eine Maximalposition einnimmt. Nicht nur der metaphysische Theismus, der meist intuitiv als konstitutiver Bestandteil des christlichen Glaubens angesehen wird, fällt hier der Kritik anheim, sondern jede Affirmation von Alterität. Diese expansive Religionskritik trifft vor allem Ansätze, die sich von einem kognitiven Depotenzieren des Christentums eine gangbare Antwort auf die Einwände der modernen Religionskritik versprechen und in Figuren der Alterität eine nachmetaphysische Alternative zum klassischen Theismus sehen. Blickt man auf die internationale Debatte, so sind es vor allem die philosophischen Christentumsdeutungen Jean-Luc Nancys und Slavoj i eks, die diesen Weg favorisieren und sich dadurch für eine produktive Konfrontation mit der Position Stirners aufdrängen. Die Pointe dieser im letzten Kapitel meiner Untersuchung erfolgten Konfrontation bestand darin, dass sich Geltungsfragen innerhalb von Theologie und Religionsphilosophie durch die Konzession eines theologischen Atheismus nicht erübrigen, sondern dass sich diese Geltungsfragen für eine nicht-kognitivistische Christentumstheorie als Frage nach dem Verhältnis von christlichem Ethos und gutem Leben in neuer Schärfe stellen. Diese Frage vertieft zu verfolgen, lag nicht im Horizont meiner Untersuchung. Allerdings habe ich vorsichtig dafür argumentiert, dass Stirners agonale Verhältnisbestimmung von Selbst und Anderem paradoxerweise den intersubjektiven Alteritäten in besonderer Weise gerecht werden könnte. Die Anerkennung einer unvermittelbaren Opposition von Selbst und Anderem könnte dieses Andere von dem Versuch, es als Moment des Selbst dialektisch zu vereinnahmen, emanzipieren und könnte so letztlich einer gelingenden Intersubjektivität dienen, in der Ich und Anderer sich als sie selbst begegnen können. 10 Dieser energische Einspruch gegen eine dialektische Vermittlung von Alterität müsste, wollte man Nancy und i ek in ihrer Rekonstruktion des christlichen Glaubens folgen, eine fundamentale Anfrage an die Lebensdienlichkeit dieses Glaubens darstellen. Ein anderes Urteil ergibt sich, wenn wir diese Rekonstruktion noch einmal aufschnüren und fragen, ob es nicht gerade auch für Stirners Konzeption der Alterität Anknüpfungspunkte innerhalb der christlichen Überlieferung gibt. So gibt es Hinweise darauf, dass ein christliches Ethos gerade nicht von der Bewegung einer Affirmation von Alteritäten getragen ist, die mit Stirner als eine Bewegung der »Heiligsprechung« angesehen werden kann, sondern sich vielmehr auf die Seite des bedürftigen Ichs stellt und eine aneignende, genießende und damit in Stirners Sinne »entheiligende« Überwindung von Alteritäten freigibt. Dass diese Aneignungsbewegung selbst vor dem inkarnierten Gott nicht halt machen muss, sondern dieser im Abendmahl anschaulich den 10

S.o. Kapitel IX, Abschnitt 3.

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Glaubenden einverleibt wird, deutet darauf hin, dass Nancys und i eks Rekonstruktion zu kurz greifen könnte. 11 Im Christentum würde demnach nicht nur eine metaphysische Alterität durch eine innerweltliche ersetzt, vielmehr würden Alteritäten als solche zur Überwindung durch das Ich freigegeben – wodurch das Ich dazu emanzipiert wird, die Schätze der Welt und des Himmels wieder an sich zu nehmen.

11

S.o. Kapitel IX, Abschnitt 4.

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Danksagung Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2021/2022 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Zum Gelingen meines Dissertationsprojektes haben viele Menschen in unterschiedlicher Weise beigetragen. Zuallererst gilt mein Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Roth, der mich seit dem Beginn meines Studiums in Bonn zum skeptischen Denken ermutigt, meine theologische Entwicklung seither beständig begleitet und auch das mit dieser Veröffentlichung zum Abschluss gekommene Schreibprojekt von Anfang an intensiv gefördert hat. Unter meinen weiteren akademischen Lehrern möchte ich namentlich Prof. Dr. Ugo Perone danken, der – als Philosoph an einer theologischen Fakultät lehrend – mich vor einer allzu eiligen Synthese der beiden Disziplinen gewarnt und die Differenz der beiden als eine produktive zu verstehen angeleitet hat. Die vorliegende Arbeit ist in weiten Teilen während meiner Zeit im kirchlichen Probedienst entstanden. In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Pfarrer Steffen Hunder dafür danken, dass er mich immer wieder ermutigt hat, neben der Arbeit in der Gemeinde das Fortkommen des Schreibprozesses nicht zu vernachlässigen. Für die Gutachten danke ich nochmals Prof. Dr. Michael Roth sowie für das zweite Gutachten Prof. Dr. Bernd Harbeck-Pingel, der auch vorab durch sein gerade mit Blick auf Hegel und dessen theologische Rezeption sehr kenntnisreiches Urteil wichtige Anregungen zum Gelingen des Schreibprojektes gegeben hat. Im Rahmen der Vorbereitung der Publikation schließlich gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Andreas Arndt für seine sehr freundliche Bereitschaft zur prüfenden Lektüre des Manuskripts, den Herausgeber*innen Prof. Dr. Michael Quante und Prof. Dr. Birgit Sandkaulen für die Aufnahme des Textes in die Hegel-Studien-Beihefte sowie nicht zuletzt Herrn Marcel Simon-Gadhof für die aufmerksame Begleitung der letzten Arbeiten am Manuskript. Köln, im Frühling 2023

David Borgardts

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