Gesellschaft, Kultur, Theorie: Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte
 9783666359699, 9783647359694, 3525359691, 9783525359693

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

KRITISCHE STUDIEN ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Christoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler

Band 18 Thomas Nipperdey Gesellschaft, Kultur, Theorie

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1976 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Gesellschaft, Kultur, Theorie Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte VON THOMAS NIPPERDEY

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1976 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

ClP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Nipperdey, Thomas [Sammlung] Gesellschaft, Kultur, Theorie: gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 18) ISBN 3-525-35969-1

Umschlag: Peter Kohlhase © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1976. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist.es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

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Den Freunden der Berliner Jahre 1967-1972

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Inhalt Vorwort

9 I. ZUR THEORIE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT

1. Über Relevanz 2. Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft 3. Historismus und Historismuskritik heute

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II. ALLGEMEINE PROBLEME DER NEUZEIT

4. 5. 6. 7.

Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit . . . . 74 Grundprobleme der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert . 89 Antisemitismus - Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs 113 Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert 133 III. ZWISCHEN DEN REVOLUTIONEN: VOM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT BIS 1848

8. Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I 174 9. Volksschule und Revolution im Vormärz. Eine Fallstudie zur Modernisierung II 206 10. Geschichtsschreibung, Theologie und Politik im Vormärz: Carl Bernhard Hundeshagen 228 11. Kritik oder Objektivität? Zur Beurteilung der Revolution von 1848 259 IV. KAISERREICH UND REPUBLIK

12. Die Organisation der bürgerlichen Parteien in Deutschland vor 1918 13. Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg 14. Jugend und Politik um 1900 15. Wehlers „Kaiserreich“. Eine kritische Auseinandersetzung 16. Die deutsche Studentenschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik

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Abkürzungsverzeichnis

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Anmerkungen

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Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte

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Vorwort Angesichts von „Gesammelten Aufsätzen“, auch wenn sie nur die wichtigeren Arbeiten eines Autors enthalten, fragt der Leser heute mit Recht nach dem einigenden Band. Durch Zufall, Neigung und Anstrengung habe ich mich im Lauf meiner wissenschaftlichen Bemühungen mit vielen Nachbardisziplinen unserer Wissenschaft, von der Philosophie und Theologie über die Soziologie und Politologie bis zur Kunstgeschichte und zur Erziehungswissenschaft eingelassen und versucht, die Methoden und Ergebnisse dieser Wissenschaften in die Geschichte einzubringen. Dabei hat sich nach meinen ersten Arbeiten über Parteiorganisationen und Interessenverbände von einer strukturgeschichtlichen Fragestellung her das Grundthema meiner Untersuchungen ergeben und entwickelt. Es geht mir darum, das, was einmal Ideen- oder Kulturgeschichte hieß, in sozialgeschichtliche Analysen einzubeziehen, oder, wie es im soziologisch gefärbten Jargon heißt, die soziokulturellen Aspekte in das Bemühen, die vergangene Wirklichkeit zu begreifen, einzubringen. Nicht nur Sozialgeschichte der Ideen und Geschichte der Mentalität scheinen mir wichtige und bei uns, anders als in Frankreich oder in den USA, vernachlässigte Themen, sondern vor allem scheint es mir notwendig, diese Phänomene und diese Aspekte in die politische und in die allgemeine Geschichte zu integrieren. Meine drei, wie ich meine, Neuland erschließenden Lieblingsaufsätze über die Denkmäler, die Vereine und die Schule mögen als Beispiele für diese Zielsetzung, angewandt auf konkrete Einzelprobleme, gelten, die Aufsätze über Grundprobleme der Parteiengeschichte oder über Antisemitismus als Beispiele für weiter ausgreifende Interpretationen in derselben Richtung. Strukturen und Ideen gehören zusammen. Nur so kann, so meine ich, die „Sozialgeschichte“ als Richtung vor gefährlichen Verkürzungen bewahrt werden. Ein Wort über mein Verhältnis zum Programm der „Kritischen Studien“ nachdem der Aufsatz über Relevanz implizit und die beiden Aufsätze über 1848 und über Wehlers Kaiserreich explizit Auseinandersetzungen mit der neuen „kritischen“ Richtung darstellen. Jeder Leser wird sehen, daß ich in bestimmten wissenschaftstheoretischen Grundfragen eine andere Position einnehme. Dem Historismus stehe ich, bei aller Distanz und aller Umbildung, positiver gegenüber, die regulative Idee der Objektivität betone ich schärfer gegenüber dem Faktum der Standortgebundenheit. Sozialgeschichte fasse ich zwar nicht als Sektorwissenschaft, aber auch nicht als Integrationswissenschaft auf, sondern als Aspektwissenschaft. Von einer mancherorts im Namen der Wissenschaft vorgebrachten neuen Kritik an der Vergangenheit halte ich nichts, und ich meine, daß Geschichte nicht unmittelbar im Dienste politischer Pädagogik stehe und darin ihre Aufgabe habe. Ich halte nichts vom „Primat 9

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der Innenpolitik“, auch wenn meine eigenen Arbeiten, den Notwendigkeiten der Arbeitsteilung wie der individuellen Neigung folgend, Politik nur als innere Politik behandeln. Aber wichtiger ist, was mich mit dem Programm der „Studien“ verbindet: der strukturanalytische Ansatz, das Ungenügen an Ereignissen und Zuständen, das Bemühen, das fundamentale Phänomen Gesellschaft in seinen Verzweigungen und seinen vielfältigen Bezügen aufzuklären, die systematischen Nachbarwissenschaften überhaupt in unsere Untersuchungen einzubeziehen und die theoretische Reflexion voranzutreiben. Gemeinsam ist uns das die gegenständlichen Untersuchungen begleitende Bemühen um eine Theorie der Geschichtswissenschaft. Wegen dieser Gemeinsamkeit publiziere ich meine Aufsätze gerne in dieser Reihe, und ich danke den Herausgebern, von denen die Initiative zu dieser Publikation ausgegangen ist. Es ist ein Glück, daß unsere Wissenschaft nicht in Lager zerfällt und daß das Gespräch der Forscher unter sich wie mit der Öffentlichkeit, den Interessierten und den Laien, offen bleibt; daran gilt es festzuhalten. Ich habe die Aufsätze mit einer geringfügigen Ausnahme so gelassen, wie sie zuerst gedruckt worden sind, und auch nicht durch Eingehen auf die neuere einschlägige Literatur ergänzt. Ich glaube, daß sie auch heute in dieser Form bestehen können. Die einmal geäußerten Hoffnungen und Versprechungen, die sich auf weitere Arbeiten bezogen, habe ich nicht fortgelassen; wo eigene spätere Arbeiten zum Thema gehören, habe ich das angegeben. Wer die Umstände des gegenwärtigen Hochschullehrerdaseins kennt, und wer weiß, wie viele Anstöße und Herausforderungen Vorhaben und Pläne von Gelehrten beeinflussen und ändern, wird mir vielleicht vergeben, daß ich so manches, was ich in Aussicht gestellt habe, bislang nicht realisiert habe. Für den ersten Abschnitt zur Theorie der Geschichtswissenschaft darf ich auf meine Auseinandersetzung mit der marxistischen Geschichtswissenschaft am Beispiel der Reformation verweisen, der in meinem Aufsatzbändchen „Reformation, Revolution, Utopie. Studien zum 16. Jahrhundert“, Göttingen 1975, abgedruckt ist. Eigentlich wollte ich diesen Band mit dem Titel: „Zu Klio unterwegs“ versehen. Aber Herausgeber, Verleger und Freunde haben mich gewarnt, daß eine solche Formulierung bei uns zulande heute auf Unverständnis stoßen würde oder nichts als die Assoziation einer vergangenen Bildung hervorrufen, bestenfalls einen süßen Anachronismus darstellen würde. Ich habe diese Argumente akzeptiert. Aber ich möchte hier wenigstens meine Absicht erwähnen. Es sollte kein Rückzug in überlebte Formen sein, sondern ein Zeichen dafür, daß wir in kritischen und analytisch wissenschaftlichen Verfahren, in der Modernität unserer Fragen und Methoden doch die Kontinuität und die Tradition des Bemühens um Vergangenheit einbringen, daß die Sprödigkeit und analytisch-reflektierende Schwierigkeit unserer gegenwärtigen Untersuchungen und Darstellungen eine Durchgangsstufe ist auf dem Wege, den interessierten Laien wieder zu erreichen, unser aller gemeinsame Erinnerung aufzuklären und wiederzuholen. Und es sollte ein Zeichen sein, daß die Historie als Muse die Züge, die 10

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über die Nützlichkeit und die Verzweckung im Aktuellen hinaus liegen, sich erhält. Daran zu erinnern sei auch unter dem jetzigen Titel erlaubt. Für Mithilfe bei der Textredaktion danke ich Herrn Dr. Manfred Rauh. München, im September 1975

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I. ZUR THEORIE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT

1. Über Relevanz Die alte Frage nach dem Sinn und Zweck der Beschäftigung mit Geschichte, Schillers Frage, zu welchem Ende man Universalgeschichte studiere, Nietzsches Frage nach dem Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Troeltsch's Frage nach der Krise des Historismus - diese Fragen sind gegenwärtig besonders aktuell, ja sie verschärfen sich: nicht wozu Geschichte, sondern wozu noch Geschichte ist die adäquate Formulierung. Die Frage spitzt sich zu zur Frage nach der Relevanz von Geschichte, Geschichtswissenschaft und Geschichtsstudium. Jeder, der Geschichtswissenschaft treibt, sieht sich der Forderung gegenüber, seine Wissenschaft, seinen Beruf, sein jeweils konkretes Tun immer wieder zu rechtfertigen. Die Zuspitzung dieser alten Sinnfrage bezeugt, daß Sinn und Wert der Beschäftigung mit Geschichte in Zweifel gezogen werden, daß sie fraglich sind, fraglicher jedenfalls als in früheren Krisen des historischen Bewußtseins. Dazu lassen sich leicht einige bekannte Beobachtungen aus der Gegenwart zusammenstellen: Die Zahl der Studenten des Faches Geschichte geht auffallend, und zwar nicht nur relativ, sondern auch absolut zurück; ein Teil der Kultusministerien und Schulverwaltungen hat die Tendenz, den Geschichtsunterricht zugunsten eines mit Politik und Sozialkunde integrierten Unterrichts stark zurückzudrängen und die gesamte Geschichte in der Oberstufe auf die Zeit seit der Französischen Revolution zu beschränken; auf dem letzten deutschen Historikertag stand ein vielerwarteter Hauptvortrag unter der zweifelnden Frage „Wozu noch Historie?“; der Historiker als Festredner bei öffentlichen Anlässen ist, zum Glück kann man sagen, außer Mode gekommen; die politischen Debatten über Freiheit und Menschenrechte, Revolution und Widerstand in der jüngeren Generation bewegen sich - nachdem eine Elterngeneration sich aus der Geschichte zurückgezogen hatte - häufig in einem geschichtslosen Diesseits der Geschichte, es ist, als ob aller Einsatz, alle Erfahrung, alle Problematik früherer Generationen nicht existent wären, die Selbstgewißheit des Heutigen, des Neuen triumphiert. Für diesen „Verlust der Geschichte“, für diese „Geschichtsmüdigkeit“, diese Abkehr von der Geschichte, gibt es natürlich viele oft angeführte Gründe. Das Tempo der Veränderungen ist in unserer Gegenwart so rapide, daß Geschichtliches schnell veraltet und daß das in langer Vergangenheit Gewordene in der Gegenwart kaum mehr unmittelbar sichtund greifbar ist. Die Zeit, da die Historie in einer sicheren Tradition oder in einer der großen politischen Bewegungen wie der nationalen oder liberalen so etwas wie einen Auftrag hatte, ist spätestens mit der Zeit der Weltkriege vorbei. 12

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Die Verwissenschaftlichung der Historie - die nicht mehr Erzählung, sondern abstrakte Analyse produziert - wie die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und unseres Lebens, die zu einer Zurückdrängung von Erinnerung und Tradition tendiert, haben die selbstverständliche Verwurzelung der Historie im Leben angenagt. Die Soziologie ist scheinbar besser als die Historie in der Lage, eine Verständigung über die Gegenwart und über die Zukunft zu ermöglichen. Die neue Linke greift die überkommene Wissenschaft und Kultur mit neuer und ungewohnter Radikalität an, und ein sehr viel weiter reichender Teil der jüngeren Generation stellt das Überkommene ungeduldig jedenfalls in Frage. Dazu kommen die Besonderheiten unserer deutschen Lage, die Traditionsbrüche und die Last unserer Geschichte haben alle diese Tendenzen bei uns ganz enorm verstärkt, es gibt bei uns nicht mehr wie in anderen Ländern, wie in Frankreich, England oder in den USA, ein noch halbwegs selbstverständliches Verhältnis zur eigenen Geschichte. Von daher erklärt sich die zweifelnde, kritische Frage nach der Relevanz. Wir beginnen unsere Überlegungen mit einigen Vorklärungen. Zunächst: Der Begriff der Relevanz wird formal in einem dreifachen Sinne verwandt: a) In einem sozusagen immanent historischen Sinne - wir können hier von historischer Relevanz sprechen. Man kann unterscheiden, ob ein vergangenes Faktum bedeutsam oder nicht bedeutsam für einen größeren historischen Zusammenhang oder für eine bestimmte historische Fragestellung ist, und das in diesem Zusammenhang oder unter dieser Fragestellung Bedeutsame als relevant bezeichnen. Das ist jedem Historiker unmittelbar geläufig: Ein Blitzschlag ist „normalerweise“ irrelevant, aber der Blitzschlag, der Luthers Eintritt in das Kloster auslöste, ist selbstverständlich von großer Relevanz; die Tatsache, daß es in einer bestimmten Landschaft ein hohes statistisch feststellbares Maß von Gewitterschäden gibt, mag für die Agrargeschichte oder die Bevölkerungsgeschichte dieser Landschaft wiederum von Bedeutung sein, der Blitz ist hier wegen seiner Häufung relevant. Wenn wir auf einem Grabstein lesen, daß drei Kinder derselben Familie innerhalb von einem Jahr gestorben sind, so ist das historisch normalerweise irrelevant, es mag aber vielleicht relevant für eine Geschichte von Kinderepidemien sein. Die französischen Frühsozialisten sind kaum für die Geschichte des Vormärz, wohl aber für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung relevant. Relevant ist, was für den Wandel - und die Erkenntnis der einem Wandel zugrunde liegenden Strukturen - von Einzelbereichen des geschichtlichen Lebens, erst recht aber für allgemeine Wandlungen Bedeutung hat, zu ihrer Erkenntnis notwendig ist. b) In einem zweiten Sinne wird der Begriff der Relevanz verwandt, wenn er einen generellen und wissenschaftsbegründenden Charakter hat. Hier ist gemeint die Bedeutung, die Geschichtswissenschaft und Geschichte als Ganzes für die Gegenwart, die Gesellschaft, die Kultur oder die Praxis haben. Geschichtswissenschaft als solche, Geschichte als solche sind relevant, d. h. sie haben einen Sinn für, einen Zweck in der Gegenwart. 13

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c) Schließlich wird der Begriff auch in einem spezifischen, nämlich wissenschaftsdifferenzierenden und wissenschaftsorganisierenden Sinne verwandt. Das, was relevant ist, ist nicht mehr Geschichtswissenschaft als solche und als ganze, sondern relevant sind bestimmte Themen, Probleme, Fragestellungen und Bereiche innerhalb der Geschichtswissenschaft, und das nicht relativ zu einer wissenschaftlichen Frage wie im ersten Fall, sondern relativ zur wissenschaftstranszendenten Praxis der Gegenwart, relevant für die Gesellschaft. Selbstverständlich hängen diese jetzt unterschiedenen Begriffe zusammen. Die Frage, ob etwas für eine bestimmte Fragestellung relevant sei, kann auf die Relevanz der Fragestellung selbst verweisen; die Notwendigkeit, aus der Vergangenheit auszuwählen, verweist auf das Kriterium der Auswahl. Fragestellung und Auswahlkriterium sind vielleicht nicht vollkommen historisch immanent zu begründen, also aus der Feststellung, diese Fragestellung und dieses Auswahlkriterium sei für „die“ Erkenntnis „der“ Vergangenheit oder der „Grundzüge“ der Vergangenheit von Bedeutung; sie mögen darum mit dem Relevanzbegriff im zweiten oder dritten Sinne zusammenhängen. Trotzdem oder gerade deshalb ist für die Praxis der Geschichtswissenschaft und für das allgemeine Bewußtsein diese historische (immanente) Relevanz unproblematisch. Das Wofür der Relevanz bleibt die Geschichtswissenschaft, über Fragestellungen besteht ein wenig reflektierter aber selbstverständlicher Konsensus, der für neue Fragestellungen - unabhängig von ihren außerwissenschaftlichen Motiven - offen ist. Die beiden anderen Bedeutungen dagegen hängen enger zusammen. Beide meinen Relevanz nicht für die Wissenschaft, sondern für Praxis, für Gegenwart, für die Gesellschaft. Der differenzierende Relevanzbegriff ist dabei von der Fassung des generellen Relevanzbegriffs abhängig, und entsprechend kann die Entscheidung über den differenzierenden Begriff die Fassung des generellen, ja die Organisation der Geschichtswissenschaft bestimmen. Beide Begriffe werden denn auch in der Formulierung „gesellschaftliche Relevanz“ zusammengenommen. Im folgenden werde ich nur diesen Komplex der gesellschaftlichen Relevanz der Historie im allgemeinen und in ihren Teilaspekten diskutieren. Weiterhin ist vorweg die Frage zu klären, wie denn die Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Historie, auf die Frage, worin diese gesellschaftliche Relevanz bestehe, formal aussehen muß oder kann, welches die Kriterien für ihre Wahrheit sein können, auf welche Art sie überhaupt zu gewinnen ist. Zunächst besteht für den Historiker natürlich die Möglichkeit, das Problem historisch zu untersuchen, wir können die Geschichte des Verhältnisses zur Geschichte zu unserem Gegenstand machen. Wir können erforschen, was für ein Verhältnis bestimmte soziale Gruppen, Kulturen, Religionen, Nationen oder Herrschaftsorganisationen zur Geschichte gehabt haben, warum es so gewesen ist, welche Funktion es im Insgesamt des Lebens gehabt hat und wie es sich gewandelt hat. Wir werden dabei zu der seit dem Historismus trivialen Feststellung kommen, daß es sehr verschiedenartige Motivationen und Zwecksetzungen und sehr verschiedenartige Weisen des Verhältnisses zur 14

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Geschichte gegeben hat und gibt. Und eine empirisch-soziologische Untersuchung würde vermutlich das gleiche Resultat haben. Damit aber ist gerade die Frage nach der Relevanz, nach dem Sinn und der Bedeutung der Historie nicht zu beantworten. Diese Frage zielt, auch wenn oder gerade weil über sie heute gestritten wird, auf eine eindeutige Antwort, sie ist eine systematische Frage. Die Geschichtswissenschaft kann die Frage mit ihren Methoden, mit der ihr eigenen relativierenden Historisierung nicht beantworten. Und es ist überhaupt fraglich, ob eine Wissenschaft sich in der Weise begründen kann, daß Grund und Sinn ihrer Beschäftigung mit ihrem Gegenstand von ihr selbst angegeben und gerechtfertigt werden. Eine solche Begründung ist der Wissenschaft in gewissem Sinne transzendent. Es erscheint möglich, einer vergleichenden anthropologischen Untersuchung die Zuständigkeit für unsere Frage zuzusprechen, einer Untersuchung, die historische, ethnologische, soziologische und psychologische Methoden und Ergebnisse kombinierte und sie vergleichend zusammenfaßte. Eine solche Synthese könnte versuchen, aus der empirisch ermittelten Variationsbreite des Interesses an der Geschichte seine Grundstruktur zu ermitteln, eine Theorie dieses Interesses aufzustellen, die sich wiederum empirisch verifizieren läßt. Man könnte ζ. Β. an der Beobachtung ansetzen, daß der Mensch sich vom Tier dadurch unterscheidet, daß er einerseits das Wesen ist, das seinen Großvater kennt, andererseits das Wesen, das für den Hunger von morgen sorgt (gesetzt, diese Beobachtung sei richtig); und man könnte nach dem Zusammenhang dieser beiden Phänomene mit Erinnerung und Planung fragen und danach etwa, ob Planung Erinnerung zur Voraussetzung habe, oder welcher Bezug zwischen beiden besteht. Aber eine solche plausible und verifizierbare Synthese ist einstweilen nicht vorhanden. Im übrigen würde sie aber wiederum die gegenwärtige Frage nach der Relevanz nicht beantworten können. Denn eine solche vergleichende Theorie des Interesses an der Geschichte, die die vielfältigen empirischen Variationen eines möglicherweise einheitlichen Interesses in Rechnung stellt, würde gerade nichts aussagen über die konkreten und differierenden Interessen und über die Wahl zwischen ihnen. Der Rekurs auf eine Seinsstruktur würde die strittige Sollensfrage - warum soll es Historie geben - nicht beantworten, so gewiß keine Antwort auf die Sollensfrage von einer festgestellten Seinsstruktur wird absehen können. Aber auch wenn wir von den empirischen Wissenschaften in den Bereich der Logik und der Wissenschaftstheorie übergehen, so scheint mir die Frage nach dem Sinn der Historie nicht beantwortbar zu sein. Die Sinn- oder Wertfrage liegt jenseits einer logisch-analytischen Reflexion, eine Norm des Handelns, nämlich des Betriebes von Geschichtswissenschaft oder des Betriebes einer bestimmt gerichteten Geschichtswissenschaft ergibt sich aus logischen Überlegungen nicht. Denn wissenschaftliche Aussagen, also auch die Aussagen einer wissenschaftlichen Wissenschaftstheorie, müssen sich empirisch oder logisch verifizieren oder falsifizieren lassen, und für die Entscheidung über Wahrheit oder Falschheit muß ein Kriterium angegeben werden, nur dann sind intersubjektive 15

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Nachprüfbarkeit und Gültigkeit, die Bedingungen wissenschaftlicher Wahrheit, möglich. In diesem Sinne sind wissenschaftliche Aussagen über Normen, die die Wissenschaft insgesamt begründen, nicht möglich. Zwar kann die Wissenschaft ihre eigenen Voraussetzungen logischer und kommunikativer Art analysieren, darin notwendig implizierte Ansprüche an das Handeln und Verhalten der Forscher herausarbeiten und als die ihr implizite und darum wissenschaftlich legitimierte Ethik, die normativen Bedingungen für die Existenz von Wissenschaft, explizieren - das ist seit Peirce der normative Ansatz neuerer Wissenschaftstheorien, bis hin zu dem m. E. mißglückten Versuch von Habermas, ein „emanzipatorisches“ Interesse an der Entwicklung der „Menschengattung“ als transzendentale Voraussetzung von Wissenschaft nachzuweisen und die beiden vagen Kernbegriffe dieses Versuches materiell mit einem „linken“ Inhalt zu füllen. Aber es ergeben sich dabei nur ganz fundamentale und sehr abstrakte Konsequenzen, für konkrete Streitfragen bleibt eine solche allgemeine Wissenschaftsethik, eine Minimalethik gleichsam, unbrauchbar. Das Problem der Relevanz steht aber deshalb zur Debatte, weil gegebene Antworten nicht befriedigen oder weil sie strittig sind. In einer solchen Situation des Streits ist es wenigstens grundsätzlich - die Aufgabe der Wissenschaft, den Streit zu entscheiden oder zu schlichten, indem sie eine Position als die wahre nachweist, ihr den Sieg zuspricht und sie aus dem Bereiche der subjektiven Meinungen heraushebt oder zwischen streitenden Wahrheitsansprüchen vermittelt. Das aber kann sie nicht. Zwischen Auffassungen, um ein extremes Beispiel zu wählen, die Geschichtswissenschaft solle dazu dienen, Tradition zu erhalten oder dazu, Revolutionen vorzubereiten, kann die Wissenschaft auch als Wissenschaftstheorie nicht entscheiden. Sie kann zwar die Voraussetzungen, die Implikationen, die beabsichtigten und zumal die unbeabsichtigten Konsequenzen dieser Positionen aufweisen, vor allem die Konsequenzen für die Möglichkeit und Qualität der wissenschaftlichen - nachprüfbaren - Erkenntnis von Vergangenheit, aber sie kann nicht über das Recht der divergierenden Sollensansprüche entscheiden. Die Wissenschaft kann auf die Frage nach ihrer eigenen Relevanz keine wissenschaftliche Antwort geben, sie kann die Frage, was sollen wir tun, zwar aufklären, aber sie kann sie nicht beantworten. Aber damit verschwindet unser Problem natürlich nicht, und es bleibt nicht einem universalen Skeptizismus oder der privaten Beliebigkeit des Dezisionismus, der sich für das eine oder andere entscheidet, überlassen. Was möglich ist, ist eine vernünftige Diskussion über Sinn und Zweck der Geschichtswissenschaft, die die wissenschaftliche Analyse der verschiedenen Positionen im Hinblick auf ihre Voraussetzungen und Konsequenzen einbezieht, eine Diskussion, deren Argumentation plausibel und nachvollziehbar ist. So hat sich die humane Diskussion über Sinn und Zweck des Handelns seit eh und je vollzogen. In diesem begrenzten, aber realen Sinne kann sie auch Lösungen strittiger Fragen finden. Schließlich müssen wir noch eine formale Struktur der Frage nach der Relevanz, nämlich die Art des Fragens, das hinter dieser Frage steht, erörtern. Die 16

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Frage nach dem Sinn der Historie ist im starken Maße eine Frage innerhalb des Faches, sie wird von Historikern weit eher als von Nicht-Historikern gestellt. Das ist erstaunlich. Menschen, die sich mit Geschichte befassen, fragen, als ob sie im Umgang mit Geschichte keine Erfahrungen hätten, als ob sie niemals selbst eine Wahl zugunsten der Beschäftigung mit Geschichte getroffen hätten. Das macht den abstrakten Charakter dieses Fragens aus. Man kann und man muß nun die Fragenden auf ihre Situation selbst zurückverweisen, darauf, daß sie schon lange im Umgang mit Geschichte gestanden und in diesem Umgang Entscheidungen getroffen haben; die Frage und in ihrer Folge auch die Antwort können nicht von der Erfahrung der Fragenden losgelöst werden. Das ist nun weit mehr als eine subjektivierende, pädagogische Reflexion. Vielmehr wird hier auf das Faktum verwiesen, daß vor allem unserem Fragen ein objektiver Bezug zur Geschichte immer schon besteht. Wir haben immer schon ein bestimmtes Geschichtsbewußtsein, so inexplizit es sein mag. Es gibt ein latentes, vorwissenschaftliches Interesse an der Geschichte, das als Bezug der Gegenwart zur Vergangenheit in Lust und Last der Erinnerung, der individuellen wie der kollektiven Erinnerung, begründet ist und das sich immer wieder aktualisiert. Das Geschichtsbewußtsein ist vorwissenschaftlich in den Realitäten der Lebenswelt verankert, von diesem Faktum kann keine Erörterung von Sinn und Bedeutung der Wissenschaft absehen. Wir haben oben eine Reihe von Beobachtungen über den Rückgang des Geschichtsbewußtseins in der Gegenwart zusammengestellt, man kann nun auch eine ganz andere Reihe von Beobachtungen anführen, die die Fortdauer eines vorwissenschaftlichen Geschichtsbewußtseins bezeugen; Bücher mit historischen Themen haben weiterhin, und vielleicht mehr noch als früher, einen breiten Markt; eine Ausstellung zum l00jährigen Jubiläum der Reichsgründung: Fragen an die deutsche Geschichte, hatte über Erwarten viele Besucher; der sich ausbreitende Tourismus löst immer wieder ein naives Interesse an Geschichtlichem aus; zugleich treffen wir immer wieder auf ideologische Ansprüche an die Geschichte, sei es im Theater, in der Pädagogik oder in der Politik: Politiker benutzen historische Argumentationen, um ihre Position zu stärken, es gibt öffentlichen Streit um Historisches. Es gibt ein durchaus virulentes außerwissenschaftliches Geschichtsbewußtsein. In diesem Zusammenhang ist es nützlich, die Trivialität zu wiederholen, daß wir nicht die Freiheit haben, uns für oder gegen historisches Bewußtsein zu entscheiden. Wenn man die Frage nach der - generellen - Relevanz der Geschichtswissenschaft negativ beantworten würde - eine logisch notwendige Denkmöglichkeit, vor der die Fragenden freilich fast regelmäßig zurückscheuen -, so würde an Stelle der Geschichtswissenschaft nur die wuchernde, halbverdrängte oder unaufgeklärte Erinnerung und die Manipulation dieser Erinnerung durch Interessenten und Ideologen treten. Schon angesichts dieser Alternative hat Geschichtswissenschaft eine wesentliche Legitimation, nämlich die Aufklärung der Erinnerung, die Abwehr der irrationalen Legenden. Aber mit dieser Abwehrfunktion ist die Frage nach Sinn und Bedeutung der Historie im 17 2

Nipperdey

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Gesamtgefüge der Gegenwart, also die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz noch nicht konkret, noch nicht positiv beantwortet. Nach diesen Vorerörterungen wenden wir uns unserer Hauptfrage nach der gesellschaftlichen Relevanz zu. Wir lassen die Meinung, Geschichtswissenschaft sei Selbstzweck, die Erfüllung eines menschlichen Urtriebes nach Wissen-Wollen, in unserer gegenwärtigen Situation außer acht, ebenso wie die Naivität, in dem Tatbestand der Geschichtswissenschaft nur ein pures Faktum zu sehen, über dessen Sinn und Recht nichts weiter auszusagen sei. Wir gehen vielmehr, ohne vorerst theoretisch zu reflektieren, von einem gewissermaßen praktischen Konsensus innerhalb der Wissenschaft wie zwischen Wissenschaft, Politik, Bürokratie und Öffentlichkeit aus. Wenn Historie überhaupt vor dem Forum der Zeit sich legitimieren will, wenn sie öffentliche Ansprüche auf Steuergelder oder auf Anteil an der Erziehung erhebt, dann deshalb, weil sie - das ist der Inhalt des Konsensus - unersetzliche Aufgaben in der Gegenwart und für die Gesellschaft hat. Diese Behauptung wird in der Tradition des Historismus damit begründet, daß die Gegenwart eine gewordene ist, daß Vergangenes in ihr mächtig sei. Und darum ist der Versuch, sich in der Gegenwart zu orientieren und mit anderen über das Handeln zu verständigen, ein Versuch, der zu den Voraussetzungen unseres Lebens gehört, an die Geschichte verwiesen. Die Geschichte dient der für das Handeln notwendigen Aufhellung der Gegenwart. Darüber also herrscht weitgehend Einigkeit. Aber wie das nun geschieht, wie die Beschäftigung mit dem Vergangenen der Aufhellung der Gegenwart oder der Verständigung des Menschen über sich selbst dient, darüber gerade besteht Streit. Das Aufkommen des Begriffes Relevanz ist ja etwas anderes als das Aufkommen einer neuen Bezeichnung für die Frage nach Sinn und Bedeutung der Historie, Relevanz ist mehr und ist anderes als ein neues Wort für die eben beschriebene inexplizite communis opinio von der unersetzlichen Bedeutung der Historie für die Gegenwart. Vielmehr: dieser Begriff ist ein Kampfbegriff, und er impliziert den Kampf gegen ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis. Wer von Relevanz heute spricht, fragt nicht nur, sondern er fordert Relevanz, er geht davon aus, daß die bestehende Wissenschaft zum guten Teil entweder überhaupt oder doch de facto irrelevant für diese Gegenwart und diese Gesellschaft sei oder geworden sei, daß sie ihren Bezug zu dieser Gegenwart nicht reflektiere, daß sie - trotz jener Konsensustheorie - im elfenbeinernen Turm einer sich selbst genügenden Wissenschaftlichkeit verharre. Der Begriff der Relevanz geht insofern über die generelle Frage nach Sinn und Bedeutung der Geschichtswissenschaft hinaus und zielt statt dessen eine bestimmte Richtung der Beantwortung an. Diese Richtung läßt sich zunächst dadurch charakterisieren, daß erstens der Bezug der Wissenschaft zur Gesellschaft und Gegenwart nicht etwas Auch-Vorhandenes, etwas Hinzukommendes oder ein Aspekt ist, sondern im Mittelpunkt des Wissenschaftsverständnisses steht; daß zweitens dieser Bezug ein unmittelbarer, d. h. nicht unendlich vermittelter Bezug ist, und daß drittens dieser Bezug der Wissenschaft zur Gegenwart nicht ein Bezug zur 18

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Theorie, sondern ein Bezug zur Praxis ist, und daß dieser Bezug gerade den Inhalt und die Methode der Wissenschaft bestimmt. Diese drei Aspekte - zentrale Bedeutung, Unmittelbarkeit und Orientierung an der Praxis - charakterisieren den spezifischen und polemischen Sinn des Begriffes der gesellschaftlichen Relevanz, und zwar sowohl im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft im ganzen wie auf einzelne Gegenstände, Bereiche und Frageweisen innerhalb der Geschichtswissenschaft. Freilich müssen nun innerhalb dieser formalen Übereinstimmung wiederum verschiedene inhaltliche Ausprägungen dieses Begriffes auseinandergehalten werden. 1. Relevant ist, was in unmittelbarem Bezug zur Gegenwart steht, unmittelbar zu ihrem Begreifen beiträgt, sei es zeitlich als Vorgeschichte der Gegenwart, als Zeitgeschichte oder als die Geschichte seit der Französischen Revolution, sei es sachlich als Geschichte gegenwärtiger, vornehmlich wichtiger Phänomene; die Geschichte der Wirtschaft und nicht die der Kirche, die Geschichte der Stadt und nicht die des Dorfes, die Geschichte von Klassen und nicht die von Rechtsinstitutionen sind primär relevant. Die Vergangenheit ist nicht als solche und um ihrer selbst willen bedeutsam, das gilt als antiquarisch, und sie ist nicht bedeutsam im Sinne einer Bildungsidee, die einen universalen Überblick über die Weltgeschichte anstrebt. Sie ist bedeutsam als Vorgeschichte der Gegenwart, und die Beschäftigung mit ihr dient dazu, eine - theoretische Orientierung in der Gegenwart zu ermöglichen. Von daher ergibt sich dann das Auswahlkriterium für Themen und Bereiche, Stoffe und Kategorien und für die Verteilung von Stellen und Mitteln in einer nach dieser Zwecksetzung zu organisierenden Wissenschaft. Wir können diesen Relevanzbegriff auch als den Begriff der präsentistischen Geschichtsbetrachtung bezeichnen. Irrelevant ist dann das, was für die Vorgeschichte der Gegenwart keine Rolle spielt; oder, da man von Graden der Relevanz sprechen kann und sich zwischen dem Relevanten und dem Irrelevanten ein Kontinuum ergibt, so ist das jeweils Irrelevantere das, was eine geringere Rolle in der Vorgeschichte der Gegenwart spielt. Die Relevanz nimmt von der Gegenwart her gesehen ab. 2. In einem zweiten Sinne wird Relevanz der Geschichte auf das Handeln in der Gegenwart, und zwar auf Ziele und Normen des Handelns bezogen. Es kommt nicht nur darauf an, die Gegenwart zu begreifen, sich in dieser Gegenwart zu orientieren und damit Einsicht in einen Handlungsspielraum und in Handlungsregeln zu gewinnen, sondern es kommt darauf an, in dieser Gegenwart zu handeln, von bestimmten Normen und Werten her auf sie hin zu handeln. Wir sollen, so meint man, aus der Geschichte nicht nur lernen, was getan werden kann, sondern auch lernen, was getan werden soll. Geschichte ist relevant, soweit sie im Dienste politischer Pädagogik steht. Sie hat einen moralischen Beruf, die Pflicht zur politischen Pädagogik. Das heißt nun zunächst: Geschichte soll politisch-moralische Wertordnungen unserer Gesellschaft, sofern über sie mehrheitlich Konsensus besteht, stabilisieren, ζ. Β. den Wert von Freiheit und Demokratie, Frieden und sozialem Fortschritt und den damit ver19 2*

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bundenen Institutionen, Zielen und Verhaltensweisen wie die Gefahren des Nationalismus oder des Autoritätsglaubens verdeutlichen, einprägen, zur Selbstverständlichkeit werden lassen. Geschichte soll zu einem dementsprechenden Verhalten erziehen, sie soll die dafür „relevanten“ Traditionen oder Modellsituationen aktualisieren. Von diesem pädagogisch-moralischen Ziel her bestimmen sich nicht nur die Auswahl von Gegenständen und Themen, sondern vor allem auch die Perspektive historischer Arbeit und Darstellung. Die Beschäftigung mit dem deutschen Widerstand gegen Hitler in den 50er Jahren ist sicherlich ein Beispiel für den Einfluß solcher Erwägungen auf die Historie. Und in dieselbe Richtung gehört eine Erklärung von Bundespräsident Heinemann im Jahre 1970, der dabei offenbar noch immer unter dem Eindruck eines Geschichtsunterrichtes stand, wie er vielleicht vor 50 Jahren üblich war: das freiheitlich-demokratische Deutschland müsse seine Geschichte anders als das frühere obrigkeitlich verfaßte Deutschland schreiben; man müsse in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, die dafür gelebt und gekämpft hätten, daß das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann, diese Geschichte - ein ungehobener Schatz an Vorgängen - müsse man ans Licht ziehen und im Bewußtsein verankern. Auch in den Arbeiten vieler jüngerer Historiker zur deutschen Geschichte, ich nenne nur H.-U. Wehler, ist diese Tendenz zur politischen Pädagogik lebendig und immer wieder auch ausdrücklich formuliert. 3. Der Bezug der Geschichte auf die Ziele und Normen des Handelns, auf die moralisch-politische Pädagogik kann nun - und die Übergänge sind hier fließend - so verschärft werden, daß Geschichte nicht so sehr auf die Gegenwart, sondern explizit auf die Zukunft bezogen wird. Relevant ist nicht, so meinen viele, was die Gegenwart im Sinne des obengenannten gesellschaftlichen Konsensus stabilisiert, sondern relevant ist, was der gegenwart- und weltverändernden Praxis dient. Geschichte im Sinne des die Wissenschaft bestimmenden Historismus diene, so heißt es, der Rechtfertigung der Vergangenheit und analog der Rechtfertigung der Gegenwart, sie stabilisiere den Status quo und lähme die Aktivität. Und Geschichte im Sinne einer vom sogenannten Konsensus eines herrschenden Systems ausgehenden politischen Pädagogik diene wiederum nur der Stabilisierung eines bestehenden, z. Β. parlamentarisch-li­ beralen Systems. Historie aber ist in diesem dritten Sinne erst relevant, wenn sie gegen Vergangenheit und Gegenwart von der Priorität einer Zukunft, der konkreten Utopie einer besseren Zukunft bestimmt ist, wenn sie die Frage: was sollen wir tun? im Sinne der Weltveränderung beantwortet oder zumindest zu dieser Antwort hilft. Geschichtswissenschaft dient daher einem eindeutig bestimmten (Zukunfts-)Programm, z. Β. der Emanzipation, der Ablösung von Herrschaftsstrukturen, der Befreiung von Unterdrückten, dem Sieg der Arbeiterklasse etc. Man kann auch sagen, Geschichtswissenschaft ist parteilich nicht im Sinne einer Parteilichkeit „der“ Gegenwart gegen die Vergangenheit, sondern im Sinne einer Parteinahme „in“ der Gegenwart für „ein“ Zukunftskon20

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zept, und darum ist sie eben relevant. Dabei ist diese Parteilichkeit ebensosehr Voraussetzung der relevanten Geschichtswissenschaft, wie solche Geschichtswissenschaft die Parteilichkeit bestätigt, konkretisiert oder gar vermeintlich begründet. Dieser Bezug zur Zukunft nun konstituiert natürlich einen besonderen Bezug zur Gegenwart, nämlich einen kritischen Bezug. Die zukunftsorientierte Historie ist Kritik der Gegenwart. Und insofern sind Geschichte und Historie dann relevant, wenn sie zur Kritik der Gegenwart in der Perspektive jenes Zukunftswillens beitragen, an diesem Moment der Kritik gerade läßt sich die Relevanz messen. Dieter Forte, der sich auf des Bundespräsidenten Mahnung an die Historiker beruft, schreibt ein vielgespieltes und vieldiskutiertes Stück über Martin Luther und Thomas Müntzer, weil im Kampfe Müntzers gegen Luther und Fugger der Kampf um Befreiung der Unterdrückten, um die Auflösung einer kapitalistischen wie feudalistischen Herrschafts- und Ausbeutungsordnung und der sie stützenden Ideologien einsichtig gemacht werden kann, weil an einem Stück Geschichte etwas, was der Autor für ein Gegenwartsproblem und eine Zukunftsaufgabe hält, exemplifiziert werden kann. Relevant ist in diesem Sinne z.B. die Rätebewegung von 1918/19 nicht aus dem historistischen Interesse daran, daß hier Entscheidungen über die Struktur der Weimarer Republik fielen, die vielleicht für ihre Geschichte wichtig gewesen sind, nicht auch aus dem Interesse eines „juste milieu“, die Tradition der parlamentarisch-liberalen Demokratie in ihrem Kampf mit rechten und eben auch linken Gegnern zu erhellen, sondern deshalb, weil hier die Idee von einer verratenen oder verschenkten und verspielten Revolution gewonnen und mit Hilfe der Kritik an Ebert gegen revisionistische Sozialdemokraten ins Feld geführt werden kann, weil hier Konzepte und Probleme des Klassenkampfes gelernt werden können. Relevant ist in diesem Sinne noch immer der Kriegsausbruch von 1914, weil man durch seine Analyse eine noch heute herrschende Schicht treffen kann - eine Meinung, die keineswegs Fritz Fischer, wohl aber einzelne seiner Anhänger und Schüler vertreten; relevant ist die Geschichte der Neger in den Vereinigten Staaten, weil und insofern sie ihrem Identitätsbewußtsein und ihrem Kampf um endliche Gleichberechtigung zugute kommt; relevant ist die Geschichte des Kolonialismus, weil und insofern sie dem Kampf der Dritten Welt gegen imperialistische Unterdrückung nützt (ich wähle absichtlich diese Beispiele, weil die moralische Legitimität der implizierten Folgen unterschiedlich beurteilt werden wird). Relevant ist dies alles, weil es eine bestimmte, heute mehr oder minder revolutionäre Praxis lehrt und ihr zugute kommt. Es lassen sich natürlich manche Beispiele aus der Historiographie der letzten 150 Jahre anführen, die demselben wissenschaftlichen Modell folgen, Historie als Parteinahme im Namen einer erstrebten, als „wahr“ angenommenen Zukunft betreiben, und zwar auch und gerade im umgekehrten gegenrevolutionären Sinne; in den 20er und 30er Jahren ist Geschichte von den rechten und den nationalsozialistischen Gegnern der Demokratie in diesem Sinne, von den einen mehr faktisch, von den anderen auch theoretisch betrieben worden, Walter Franks Kampf gegen die „Zunft“ ist ein Beispiel theoretischer Argumentation in dieser Richtung; und 21

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Ch. Beard hat, unter dem Druck des aufgestiegenen Faschismus, die Geschichtswissenschaft auf die Zukunft der Demokratie - nach formal ähnlichem Modell - verpflichtet. Man sieht aus unseren Beispielen: es kommt hier nicht allein und nicht einmal vornehmlich auf das Thema, auf den Gegenstand an, sondern wesentlich werden hier bestimmte Perspektiven. Das hängt zusammen mit dem, was jetzt im Umgangsstil der Neuen Linken als „kritische Geschichte“ bezeichnet wird. Gemeint ist hier mit dem Wort kritisch bekanntlich nicht mehr Quellenkritik und kritische Methoden bei der Ermittlung von Tatsachen und Zusammenhängen, sondern ein kritischer Standpunkt gegenüber der Vergangenheit, ihren Institutionen und Menschen. Nicht die Grundforderung des Historismus nach universaler Gerechtigkeit, danach, Menschen und Institutionen aus ihrer Zeit zu verstehen und zu beurteilen, soll mehr gelten; denn solche Gerechtigkeit ist entweder wertindifferent oder gar konservativ, sie rechtfertigt letzten Endes nur das Gewesene und in Konsequenz des historischen Relativismus das Gegenwärtige. Vielmehr geht es um eine Kritik an Gewesenem, weil und insoweit das Maß des Fortschrittes und des Erwünschten, der „Wünschbarkeiten“ Burckhardts, das der Kritiker setzt, nicht entsprechend verwirklicht ist. Das gilt unbeschadet des qualitativen Unterschiedes nicht nur für die naiven, sondern auch für die reflektierenden „Kritiker“, die - durch den Historismus hindurchgegangen - immerhin noch versuchen, ihr Fortschrittskriterium mit zeitgenössischen Beurteilungsmaßstäben, mit objektiven und subjektiven Möglichkeiten zu vermitteln und erst von daher Partei zu nehmen. In jedem Falle aber geht es darum, eine Art Geschichte der Wünschbarkeiten, der Optative, der Konjekturen - eine Art Gegengeschichte zu den wirklichen Ereignissen und Strukturwandlungen zu entwerfen. Die Kategorie der Möglichkeit, die in einer nicht absolut positivistischen Geschichtsschreibung immer einen bedeutenden heuristischen Wert hat, wird in diesem Sinne kritisch-progressiv zu einer substantiellen Zentralkategorie gesellschaftlich-relevanter Geschichte. Für einen überzeugten marxistischen Kommunisten schließlich wird unter einem ähnlichen Aspekt wieder - sozusagen - die ganze Geschichte relevant. Die Tendenz, die historische Gesetzmäßigkeit der Klassenkämpfe und des Verhältnisses von Basis und Überbau erkennen und vollständig nachweisen zu wollen, ein Tatbestand, der für die Zukunftsperspektive und die Praxis von eminenter Bedeutung ist, begründet dann, daß Relevanz kaum noch ein Auswahlkriterium ist, sondern in gewisser Weise alles Geschichtliche relevant ist, weil an ihm die Gültigkeit des Gesetzes nachgewiesen werden kann. Alle drei Argumente zugunsten eines unterschiedlich gefaßten Relevanzbegriffs gehen ganz legitim davon aus, daß das menschliche Interesse an der Vergangenheit mit dem Interesse an Gegenwart und Zukunft zusammenhängt. Sie antworten auf das, natürliche Verlangen, den Lebenswert der Beschäftigung mit Geschichte unmittelbar greifbar zu machen, und sie begründen die notwendigen Kriterien, um aus der Geschichte die Schwerpunkte, das der Erforschung 22

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und Darstellung Werte auszuwählen und zu entscheiden, für welche Forschungen Geld zur Verfügung zu stellen ist. Diese Argumente haben ihr partielles Recht. Historisches Fragen setzt unmittelbar an der Gegenwart an - mit der naiven Frage: Wo kommt das her? Zur Aufklärung der Gegenwart durch Geschichte haben die der Gegenwart zunächst liegende Geschichte wie die Vorgeschichte der in der Gegenwart besonders wichtigen Institutionen, Gruppen und Strukturen einen natürlichen Vorrang; das erscheint einleuchtend. Antiquarische Historie erscheint als ästhetisch-eskapistische Position. Die Bildungsidee des gleichmäßig-universalen Überblicks scheint durch die praktische Erfahrung mit der Möglichkeit der Bildung als unrealisierbar. Die im Geschichtsbewußtsein lebendige kollektive Erinnerung beeinflußt auch vor aller Wissenschaft das Handeln der Menschen, von daher ist das pädagogische Interesse einer Generation und also derer, die sich erinnern, daran, was weiterhin an eine neue Generation überliefert werden soll, und daran, was aus der Geschichte normativ zu lernen ist, nicht nur unvermeidlich, sondern durchaus legitim. Vergangenes schließlich ist nicht nur gegenwärtig, sondern es enthält immer auch Zukunft, darum ist ein im Namen der Zukunft gestellter Anspruch an die Geschichte durchaus verständlich. Zudem und vor allem aber: Die wissenschaftliche Historie hat immer schon - wenn auch nicht ausschließlich und vielleicht nicht immer beabsichtigt - der Orientierung in der Gegenwart, der politischen Pädagogik, den politischen Programmen gedient, und zumindest kann sich kein Ergebnis historischer Nachforschung solcher Verwendung entziehen. In den Reflexionen der Historiker, die die Geschichtswissenschaft zu begründen suchten, haben solche Überlegungen - wie z. B. bei Droysen - immer schon eine Rolle gespielt. Aber unabhängig davon: auch die Historiker sind als Zeitgenossen und Bürger von politischen und pädagogischen Interessen ihrer Zeit oder bestimmten Gruppen, Klassen oder Parteien beeinflußt, ja geleitet, die Historiker reproduzieren nicht die Vergangenheit, sondern sie vollziehen in ihrer Darstellung eine Begegnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Gegenstände der Forschung werden aus aktuellen Interessen gewählt, neue Kategorien und Perspektiven entstehen aus solchen Interessen, das kann jede Untersuchung der Geschichte der Geschichtswissenschaft oder des Geschichtsbewußtseins erweisen. Die Historie ist nach Ursprung wie Wirkung, nach Interesse wie Resultaten, durchaus in die Gesellschaft, in der sie lebt, hineingebunden und nicht von ihr isolierbar, so wie das für jede Wissenschaft gilt. Von hierher hat ein zentrales Argument der Protagonisten der Relevanz sein Recht. Die Versuche, die gesellschaftliche Relevanz zum Sinn und Zweck der Geschichtswissenschaft zu machen und den Wissenschaftsbetrieb von diesem Prinzip her zu organisieren, sollen nun im folgenden einer Kritik unterzogen werden. Vorweg will ich meine These angeben: Die genannten Versuche scheinen mir, wenn auch in unterschiedlichem Maße, den Dienst, den Historie der Gesellschaft und der Gegenwart leisten kann und gerade auch nach Meinung der Vertreter der Relevanzforderung leisten soll, zu verfehlen. Denn die Beziehung 23

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zwischen dem Interesse an der Vergangenheit und dem Interesse an der Gegenwart ist viel weniger unmittelbar, viel vermittelter und sehr viel komplizierter und schwerer einsichtig zu machen, als jene Anwälte der Relevanz glauben machen wollen. Es hat gute Gründe, daß die bisherige Geschichtswissenschaft nicht dieser Maxime gefolgt ist, und das liegt nicht daran, daß die Wissenschaft sich in einen elfenbeinernen Turm zurückgezogen hätte, daß sie zum Selbstzweck geworden oder daß sie gleichsam vom Gegenstand her traditionalistisch und konservativ wäre. 1. Aus dem Argument, alle Erkenntnis sei von praktischen Interessen motiviert und geprägt, wird gefolgert, das Streben nach wertneutraler Objektivität verschleiere nur die Interessen, ohne doch jene Objektivität erreichen zu können. Die wahre Erkenntnis müsse vom Interesse an der vernünftigen oder emanzipatorischen Praxis - was vernünftig, was emanzipatorisch ist, gilt als eindeutig - geleitet sein. Diese Art von Erkenntnis müsse gegen eine - nur angeblich - wertneutrale und indifferente Objektivität Partei nehmen, zumal solche Objektivität nicht nur der vernünftigen Praxis gleichgültig gegenüberstehe, sondern faktisch der Erhaltung des Status quo diene. Dazu ist hier nur zu bemerken: So sehr die Geschichtswissenschaft dem totalen Ideologieverdacht unterliegt, die Geltung wissenschaftlicher Thesen und Ergebnisse, Beschreibungen und Begründungen ist unabhängig von ihrer Entstehung, von den Motiven, Interessen oder der Weltanschauung der Historiker oder ihrer Zeit. Diese heute oft verkannte einfache, logische Unterscheidung zwischen Geltung und Genese einer These wird durch das Faktum, daß wissenschaftliche Diskussion zwischen Menschen verschiedener Positionen möglich ist und daß es unabhängig von Motiven und Interessen der Erkennenden einen Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis und ein Urteil über Wahrheit oder Unwahrheit von Erkenntnis gibt, schlechterdings bewiesen. Natürlich ist der Historiker standortgebunden, natürlich ist Historie nicht eine Wissenschaft, die einfach ein Abbild der Vergangenheit herstellt, sondern sie enthält die Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit als konstitutives Merkmal in sich, sofern nämlich von der Gegenwart her das Ende der in ihr verwobenen Geschichten sich bestimmt, dieses Ende sich mit einer Gegenwart ändern kann und darum - in einem spezifischen Sinn - jede Gegenwart ihre Geschichte neu schreibt. Aber so schwierig auch die hier implizierten und hier nicht zu behandelnden logischen und erkenntnistheoretischen Probleme sind: die Objektivität der Erkenntnis der Vergangenheit bleibt für den Historiker die regulative, seine Tätigkeit leitende und regulierende Idee. Das sogenannte Interesse der Praxis, so sehr es faktisch Historiker beeinflussen mag, ist nicht die Norm geschichtlicher Erkenntnis. Die Soziologie der Wissenschaft und der Forschung ersetzt nicht deren Logik. Und die Behauptung von der Status-quo-Orientierung der auf Objektivität verpflichteten Wissenschaft ist eine unbewiesene Polemik, die gerade im Falle der Historie - angesichts der revolutionierenden Auswirkungen des entschiedenen Historismus - besonders absurd ist. Historie ist jenseits von Rechtfertigungs- oder von Verwerfungserkenntnis. 24

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Man kann auch dem Ideologieverdacht nicht dadurch begegnen, dem Problem der Objektivität nicht dadurch entgehen, daß man ein leitendes, außerwissenschaftliches Interesse ausspricht und seine Parteilichkeit damit gerechtfertigt meint; vom Zwang zur intersubjektiven Nachprüfbarkeit der eigenen Ergebnisse kann man sich damit nicht dispensieren. Daher kann der Verweis auf das Faktum gesellschaftlicher Bindungen jedes Forschers niemals eine dezisionistische Erhebung partikularer Standpunkte, seien es die der Gegenwart, seien es die der Zukunft, zur Norm begründen. Damit würde gerade die die Wissenschaft konstituierende Kommunität der Forschenden und die Basis einer aus der Wissenschaft selbst abzuleitenden Minimalethik aufgelöst. Das besagt - noch einmal - nicht, daß Interesse an Gegenwart und Zukunft nicht faktisch Forschung motivieren kann und daß es sie beeinflußt oder daß solche Motivation und solcher Einfluß illegitim wären. Wohl aber besagt es, daß solche Interessen nicht Forschung nach Auswahl der Gegenstände und Methoden leiten und organisieren, Forschung bestimmen können. Denn nicht auf jene Interessen kommt es an, sondern auf die Geltung von Ergebnissen. Wo aus praktischen Gründen Prioritäten in der Forschung gesetzt werden müssen, werden solche Interessen ins Spiel kommen; ich werde im folgenden zeigen, daß diese Interessen nicht eindeutig und nicht kohärent sind, daß es vielfältige und gegenläufige Interessen gibt, die von der Gesellschaft mit gleichem Recht legitimiert werden können und müssen, und daß von einem Interesse her eine eindeutige Entscheidung zugunsten von Prioritäten nicht gewonnen werden kann. Der Pluralismus der Forschung, der für sie wie für unsere Gesellschaft konstitutiv ist, widerstreitet der Herrschaft des Relevanzprinzips. Die Frage nach wissenschaftsimmanenten Prioritäten läßt sich durch den Rekurs auf ein wissenschaftstranszendentes Interesse wegen dessen fehlender Eindeutigkeit nicht lösen. 2. Die Wissenschaft kann die Frage, was sollen wir tun? nicht beantworten, sie kann keine Richtung, keine Zielpunkte, keine Werte angeben, auf die hin die Welt zu verändern ist. Die notwendigen Konflikte innerhalb einer Gesellschaft über ihre Zukunft können nicht durch Rekurs auf die Geschichte gelöst werden. Die Historiker können nicht wissenschaftlich und nicht mit der Macht vergegenwärtigter vergangener Erfahrung die gesellschaftliche oder politische Praxis normieren, Ziele für weltveränderndes Handeln angeben oder legitimieren und mit dem Anspruch der Wissenschaft, d. h. der intersubjektiven Nachprüfbarkeit, Partei nehmen. Sie können sich auch nicht in den Dienst einer Partei und eines Absolutheitsanspruchs stellen und die Vergangenheit „kritisch“ im Sinne dieser Partei durchleuchten, ohne ihre Wissenschaftlichkeit aufzugeben. Relevanz in diesem Sinne ist kein wissenschaftsbegründender Begriff. Diese Parteilosigkeit der Wissenschaft aber ist nicht schwächliche Neutralität oder relativistische Resignation ohne eine Funktion für das Handeln, für Gegenwart und Zukunft. Wir erwägen in diesem Zusammenhang hier zunächst die mögliche Funktion der Geschichtswissenschaft in ihrem Bezug zur Zukunft. Nehmen wir einmal an, eine Gesellschaft oder eine Mehrheit der Gesellschaft 25

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wäre über ihre Zukunft, das „wahre Interesse der Gesellschaft“ einig und verlangte von der Historie, sich in den Dienst an der Realisierung dieser Zukunft zu stellen, diesen ihren „Auftrag“ zu erfüllen. In diesem Falle handelte es sich dann in Wahrheit darum, daß die angesprochene Zukunft ganz aus der Gegenwart gesehen wird, daß sie vorweggenommene, mediatisierte Zukunft ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit dient dann nicht mehr der Zukunft, sondern nur dieser gegenwärtigen Zukunftsperspektive, sie stabilisiert diese Perspektive. Gerade die Orientierung an der Zukunft bleibt auf diese Weise statisch, sie verfestigt ein bestimmtes gegenwärtiges Bewußtsein, das utopischideologische Gehäuse einer selbstgerechten Gegenwart und ihren totalen oder relativen Absolutheitsanspruch, und sie arbeitet damit an einer geschlossenen und präfixierten Zukunft. Demgegenüber kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit als Vergangenheit, die das natürliche Interesse an der Zukunft, ohne es zu vergessen, gewissermaßen einklammert, etwas ganz anderes für die Zukunft leisten. Aus der Beschäftigung mit vergangenen, verwirklichten, entworfenen und gescheiterten Möglichkeiten, mit Geschichten, die noch ein offenes Ende, noch die Möglichkeit eines anderen Endes haben, mit der Veränderlichkeit menschlicher Ziele und mit der Diskrepanz zwischen Absichten und Verwirklichungen, relativiert sie gerade die gegenwärtigen Fixierungen und Absolutheitsansprüche und hält die unverfügbare Zukunft unverstellt offen. Historie als Wissenschaft lehrt zudem die Skepsis gegen die Neigung aller auf Relevanz Eingeschworenen zu geschlossenen Geschichtsbildern, sie hält das Fragwürdige, das Nichtgewußte und Nichtwißbare bewußt. Diese Relativierung gegenwärtiger Absolutheitsansprüche an die Zukunft, auch wenn sie im Namen der menschlichen Freiheit auftreten, diese Skepsis gegen ein Totum von Wissen und Wißbarkeit, ist geradezu die Bedingung dafür, die endliche und relative Freiheit des Menschen und die schöpferischen Möglichkeiten, die Kreativität, in einer offenen Zukunft aufrechtzuerhalten. Offenheit der Zukunft und Zuwendung zur Vergangenheit als solcher bedingen einander. Geschichtswissenschaft hat eine Funktion, Zukunft offen zu halten. Aber man muß hier den schlampigen, ins Totale ausgeweiteten Gebrauch des Funktionsbegriffs vermeiden. Diese Funktion der Geschichtswissenschaft ist nicht ihr Motiv und nicht ihr Sinn oder Zweck; denn nur dann, wenn sie sich der Vergangenheit als solcher zuwendet, wird sie diese eine ihrer Funktionen erfüllen, das aber ist eben erst ein Ergebnis ihrer Bemühungen. Die Unterscheidung von Relevantem und Irrelevantem tritt unter diesem Aspekt zurück: Das jetzt scheinbar Irrelevante mag schon morgen eine enorme Relevanz haben, es wäre kurzsichtig, Bedürfnisse der Gegenwart zu verabsolutieren. Darüber hinaus aber: das scheinbar Irrelevante, das Alte, das Andersartige, das Fremde, das Untergegangene und nicht mehr Nachwirkende, mit dem sich Geschichtswissenschaft herkömmlicherweise auch beschäftigt, ist es gerade, das die Befangenheit im Eigenen relativiert, ohne das Engagement im Eigenen unmöglich zu machen, und den Raum des Möglichen erweitert. Die revolutionäre Implikation des Historismus, die alle diejenigen verkennen, die den Histo26

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rismus allein als eine Tradition stabilisierende oder dem Status quo verpflichtete Kraft ansehen, nämlich die Leistung, alles Seiende zu verflüssigen, als entstanden, sich wandelnd und darum auch als vergehend und veränderbar darzustellen, diese revolutionierende Leistung des Historismus muß auch auf die Zukunftsperspektiven einer Gesellschaft angewandt werden und das heißt: auch sie müssen in ihrer Endlichkeit und Bedingtheit dargelegt werden und ihrer falschen Absolutheitsansprüche entkleidet werden. 3. Auch die politisch-pädagogische Benutzung der Geschichte unterliegt einer ähnlichen Dialektik wie die futuristische, auch die These von der politischpädagogischen Relevanz gerät in Widersprüche zu ihrem eigenen Anspruch. Die Beschäftigung mit Geschichte, die Auswahl des zu Erforschenden und seine Darstellung, soll sich letzten Endes nach diesem Kriterium der Relevanz richten, es soll das objektive Motiv institutionalisierter Geschichtswissenschaft sein und also Zweck und Sinn der Historie bestimmen. Würde man aber nach den damit gesetzten Regeln verfahren, so würde man die politisch-pädagogische Funktion gerade nicht erfüllen, ja verfehlen. Es ist nämlich zum einen - und jeder Historiker weiß das - nicht vorher abzusehen, ob ein Gegenstand oder ein Ergebnis in jenem pädagogischen Sinne brauchbar ist, ob eine moralischpädagogische Perspektive wirklich etwas sehen läßt, und die Gefahr, das in die Geschichte hineinzulesen, wofür man sie verwenden will, ist evident und vielfältig belegt. Zum andern: Wo das pädagogisch-politische Interesse zur Norm gemacht wird, kann die geschichtliche Erkenntnis gerade etwas für die Praxis Wesentliches, nämlich Erweiterung des Erfahrungsraumes, Befestigung des Urteils durch Objektives nicht erreichen; sie bleibt in der Selbstbestätigung einer Gesellschaft oder ihrer Gruppen stecken und bietet nichts Neues mehr. Demgegenüber kann erst die Erkenntnis, die von ihrer praktischen Verwendbarkeit absieht, ohne sie zu vergessen, und die nicht nach moralischer Relevanz schielt und sich ohne gewollte, perspektivische Verzerrung und gegenständliche Verkürzung der Vergangenheit als Vergangenheit zuwendet, der Praxis einen wirklichen Dienst leisten. Von daher läßt sich dann die Frage, ob und wie wir aus der Geschichte lernen können, anders beantworten, und auch die Frage, welche Bedeutung die Möglichkeit des Lernenkönnens für die Geschichtswissenschaft hat. Wir können aus der Geschichte lernen, nicht im Sinne der moralischen oder religiösen Verbindlichkeit, des vorhistoristischen historia magistra vitae, nicht auch so, daß wir Rezepte vermitteln oder bekommen, die man mehr oder minder unmittelbar anwenden könnte. Denn der Historismus hat mit dem in dieser Hinsicht siegreichen Individualitätsprinzip Situationen und Normen als geschichtlich, d. h. als wandelbar erwiesen: die Situationen, auf die solche Rezepte angewandt werden könnten, sind immer wieder andere. Zwar lassen Vergleiche und Typenbildung Übertragbarkeiten möglich erscheinen. Man kann durch die Analyse von Krisen, von Friedensordnungen, vom Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, von sozialem und kulturellem Wandel Vermutungen über Regel27

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mäßigkeiten anstellen und daraus Schlüsse für die Gegenwart, Handlungsregeln folgern. Aber die Applizierbarkeit und die Applikation so gewonnener Erkenntnis bleibt immer ungewiß, die Wiederholung und die Wiederholbarkeit ist ein Problem. Die Frage, ob denn je aus der Geschichte jemand gelernt habe, unterstreicht nur in naiver Weise diese Problematik. Und ähnlich steht es mit der Möglichkeit der Historie, aus der Beobachtung von Regelmäßigkeiten und zumal von allgemeinen Trends einen Beitrag zur Prognose zu liefern; die Unmöglichkeit, mittels der Historie Gesetze des Geschichtsverlaufs zu ermitteln, ist die Zuspitzung dieser Problematik. Wir können jedoch in dem Sinne aus der Geschichte lernen, daß Möglichkeiten des Handelns, Freiheit und Determination, Größe und Grenze unseres Spielraumes, die Macht der Institutionen, Traditionen und Kollektive und die Möglichkeit ihrer Veränderung einsichtig werden. Wir können die unbeabsichtigten Folgen bestimmter Entscheidungen oder Unterlassungen, bestimmter Wertorientierungen mit Hilfe der Analyse vergangener Prozesse mit einem hohen Maß von Wahrscheinlichkeit deutlich machen. Die Geschichte wird z. Β. die Naivität des Fortschrittsoptimismus wie des Fortschrittspessimismus, die Naivität des reinen Ordnungs- wie des reinen Freiheitsglaubens in eine reflektiertere und differenzierte realistische Einsicht über den Fortschritt oder über das Verhältnis von Ordnung und Freiheit überführen. Sie gibt keine endgültigen hypothetischen Normen (wenn-dann), aber sie begrenzt den Spielraum des Möglichen, zumal indem sie Handlungsprogramme relativiert und aus historischer Erfahrung kritisiert. Damit aber stellt sie eine Grundlage des Handelns bereit. Hier ist die Möglichkeit einer unideologischen politischen Pädagogik begründet. Und es gibt Grenzfälle und extreme Situationen, bei denen auch die Historie als Historie zu moralisch-politischen und in dieser Weise pädagogischen Konsequenzen kommt - unabhängig davon, daß alle Historie in ihren Ergebnissen einer gewissen, nicht mehr wissenschaftlichen, moralischen „Benutzung“ offen oder ausgesetzt ist. Aber - und das ist für unseren Zusammenhang entscheidend: was aus der Geschichte zu lernen ist, ist nicht in einem Vorgriff verfügbar, so daß wir in der Zuwendung zur Geschichte das auswählen könnten, wo wir etwas lernen zu können meinen, oder gar das, von dem wir - vor aller Historie - meinen, es sollte gelernt werden. Nur wer sich, indem er vom Lernenwollen gerade absieht, der Fülle der wesentlichen Phänomene der Vergangenheit zuwendet, wird zu Ergebnissen kommen, von denen wir alle im eben beschriebenen Sinne vielleicht etwas lernen können. Das Lernenwollen ist, sofern es unbefangen ist, ein legitimes, subjektives Motiv für einen Historiker; daß wir aus Ergebnissen der Historie etwas lernen können, ist eine Funktion der Historie; ein leitendes Kriterium für die historische Arbeit und für die Organisation historischer Forschung kann der Gesichtspunkt des Lernenwollens und des Lernenkönnens gerade nicht sein. Wenn unter Relevanz verstanden wird, eine politisch-pädagogische Wünschbarkeit zum Prinzip oder zu einem der Prinzipien der Historie zu machen, dann hebt diese Art von Relevanzthese sich selbst auf. 28

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4. Aber bleibt es nicht doch wahr, daß es das Interesse an der Gegenwart ist, das Geschichtswissenschaft sinnvoll macht und allein rechtfertigt, und d. h., wenn denn Geschichtswissenschaft nicht selber Werte und Ziele setzen oder auch nur begründen kann, das Interesse an der Orientierung in der Gegenwart, an der Selbstverständigung der Gegenwart; und daß diese Begründung der Wissenschaft, die ihr transzendent ist und von der praktischen Vernunft geleitet ist, auch wissenschaftsimmanent zur Geltung kommen muß? Das soll nicht bestritten werden. Insofern Historie Vergangenheit, Geschichte erforscht und analysiert und darstellt, kann sie nicht davon absehen, daß diese Geschichte, dieser Prozeß, diese Entwicklung, jeweils ein Ende hat, und wie immer der Historiker dieses Ende bestimmt, es ist von der Gegenwart, dem Ort des Historikers, an dem einstweilen alle Geschichten, die Geschichte konstituieren, zu Ende gekommen sind, abhängig. Insofern ist der Bezug von Vergangenheit und Gegenwart auch ein immanentes Merkmal der Geschichtswissenschaft. Das Problem aber ist und bleibt, was hier Orientierung in der Gegenwart heißt, was genau solcher Orientierung dienen soll und wie solche Orientierung wissenschaftsimmanent zur Geltung kommen soll. Hier muß nun Kritik an der Forderung nach Relevanz in engerem Sinne angemeldet werden. Die legitime Forderung, daß die Geschichte der Orientierung in der Gegenwart dienen solle, führt unter dem Gesichtspunkt der Relevanz dazu, Vergangenheit nur für relevant zu halten, sofern und soweit sie in einem spezifischen Sinne Vorgeschichte der Gegenwart ist. Die Vergangenheit wird unter diesem Aspekt als Vorgeschichte angesehen. Die Vergangenheit aber ist mehr als Vorgeschichte, sie ist nicht eine „Pappelallee“, die auf uns zuläuft (von Raumer), sie ist mit der Fülle des Untergegangenen und Abgebrochenen etwas Eigenes, das macht ihren Charakter aus und erregt das unbefangene Interesse dessen, der sich ihr zuwendet. Wenn ich, nicht nur - subjektiv - motiviert, sondern - objektiv - geleitet vom Interesse an der Gegenwart die Vergangenheit angehe, also z. Β. den Zusammenhang der deutschen Geschichte von Luther bis zum Nationalsozialis­ mus begreifen will, dann werde ich nur einen partiellen Begriff der Vergangen­ heit einbringen, nämlich das, was in meine hypothetisch angesetzte Kontinuität hineinpaßt. Mein Ziel, die geschichtliche Herkunft der Vergangenheit zu begreifen, werde ich gerade nicht erreichen, weil ich die Herkunft der Gegenwart verkürze, ja verfälsche. In den gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Debatten wird gerne auf die Psychoanalyse verwiesen, und die Analogie zwischen Psychoanalyse und Historie ist augenfällig: beide bemühen sich um eine Erkenntnis von Vergangenheit, und unter dem Relevanzgesichtspunkt ist die Psychoanalyse deshalb besonders interessant, weil für sie die Aufklärung der Vergangenheit eindeutig von meinem Gegenwartszweck, der Therapie, bestimmt ist. Für unseren Zusammenhang ist nun aus dem Bereich der Psychoanalyse wichtig, daß der absichtsvolle Wille des Patienten, seine Not durch Aufklärung seiner Vergangenheit zu beheben, ein schlechter Ratgeber ist, weil dieser Wille gerade die wirkliche Vergangenheit nicht ans Licht bringt. Erst wenn ich von jenem den Willen leitenden Interesse an der Gegenwart absehe, 29

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bekomme ich die Vergangenheit des eigenen Lebens in den Blick. Erst dann kann ich einen adäquaten Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leisten. Auch wenn es das Ziel eines Historikers oder ein Ziel der Historie ist, die Gegenwart aufzuklären, so muß die Intention auf dieses Ziel hin gerade gebrochen werden, um dieses Ziel zu erreichen. Das Interesse an der Gegenwart muß in das Interesse an der Vergangenheit „aufgehoben“ werden, erst dadurch kommt es zum Ziel. Diese Erwägung darüber, daß und wie Historie als Vorgeschichte der Gegenwart nur möglich ist, indem man von dem Gesichtspunkt der „Vorgeschichte“ gerade absieht und die ganze Fülle der Vergangenheit in Betracht zieht, reicht aber nicht aus, zu begreifen, was Historie ist und was sie sein und wozu sie dienen kann; gerade wenn wir an dem Gegenwartsbezug der Historie als einer ihr wesentlichen Funktion festhalten. Auch die Vergangenheit, die mit unserer Gegenwart nur noch durch einen dünnen Faden von Kontinuität verbunden ist, die wir nur noch sehr indirekt und je weiter sie zurückliegt, desto weniger zum Verständnis der Gegenwart brauchen, ist nicht nur Gegenstand der faktischen Historie oder hat nur antiquarischen Charakter. Auch diese Vergangenheit ist für die Gegenwart und ihre Praxis von Bedeutung, und zwar in doppelter Beziehung. Einmal: Nur die weite historische Perspektive, der Rückgriff in eine lange Zeitreihe, in die sich verdünnende, aber doch universale Kontinuität der Weltgeschichte unserer Zivilisation läßt die Gegenwart in ihrem Stellenwert und ihren Möglichkeiten, ja läßt das Phänomen der geschichtlichen Zeit, der Dimension unseres Handelns, überhaupt begreifen. Der Nationalismus in Mitteleuropa ist nicht ohne die mittelalterliche Kaiser-, nicht ohne die mittelalterliche Siedlungsgeschichte zu verstehen, die bolschewistische Revolution nicht ohne die Geschichte des russischen Liberalismus, nicht ohne die Geschichte von Stadt und Bürgertum im russischen Mittelalter, nicht ohne die Entstehung und Geschichte der Orthodoxie. Zum anderen aber geht das durch die Wissenschaft geformte geschichtliche Bewußtsein, das nicht mehr Traditionsbewußtsein ist, über diesen wie immer erweiterten Gesichtspunkt der Kontinuität noch hinaus, die Bedeutung der Historie für die Gegenwart ist auch unter dem Gesichtspunkt der universalen, in die Tiefe der Vergangenheit zurückreichenden Kontinuität nicht voll zu begreifen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Diskontinuität behält die Beschäftigung mit Vergangenheit einen spezifischen, auf Gegenwart und Praxis bezogenen Sinn. Die Zuwendung zum Andersartigen und Fremden, das mit uns nicht in kontinuierlichem Zusammenhang steht, und der Versuch, es aus seinen eigenen Voraussetzungen zu begreifen, vermittelt die Erkenntnis unseres eigenen Standorts und unserer eigenen Bedingtheit in Dauer und Wandel, ja sie ist unerläßlich für diese Erkenntnis. Erst am Fremden erfahren wir das Eigene, Vergangenheit bildet den Menschen in sich selbst. Zugleich ist schließlich das Verstehen des Fremden, das gerade in der Beschäftigung mit geschichtlich Vergangenem, mit dem, was uns nicht durch unmittelbare Kontinuität zugänglich ist, gelernt wird, eine unabdingbare Voraussetzung, unsere gegenwärtige Welt, die 30

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aus ganz unterschiedlichen und ihrem Wesen nach ungleichzeitigen Gesellschaften, Kulturen und Zivilisationen zusammenwächst, zu verstehen. So gewiß zur historischen Erkenntnis der Gegenwart die Kenntnis der Strukturen und Tendenzen der industriellen Welt gehört, so gewiß gehört dazu als Pendant auch die Kenntnis der Struktur der vorindustriellen Welt und zwar in dem doppelten Sinn der Kenntnis einer weit zurückreichenden „Vorgeschichte“, aus der die eigene Welt kommt, wie der Kenntnis einer fremden Welt, an der die eigene Welt erst begreifbar wird. Niemand wird bestreiten, daß das unmittelbare Interesse einer Gegenwart an der Vergangenheit sich ganz legitim auf das ihr zeitlich oder sachlich Nächstliegende richtet, daß dieser präsentistische Relevanzbegriff angesichts der Notwendigkeit von Auswahl und Synthese eine praktisch-vernünftige Legitimation besitzt. Aber diese Legitimation ist nur relativ. Wenn unsere Bemerkungen über den Bezug der Gegenwart auch zur fernen und fremden Vergangenheit und die mögliche Bedeutung solcher Vergangenheit für die Gegenwart richtig sind, dann gehört es nicht nur zu den Aufgaben der Wissenschaft von der Geschichte, sondern auch zu den Aufgaben eines aufgeklärten und sich selbst reflektierenden geschichtlichen Bewußtseins, immer zugleich die Dimensionen der Tiefe der geschichtlichen Zeit und die Dimensionen des Anderen und Fremden in der Vergangenheit, der Dauer und des Wandels der Strukturen politisch-sozialen Handelns, offenzuhalten. Die unmittelbar auf die Gegenwart bezogene Historie, die mit dem Schlagwort der Relevanz aus der Geschichte auswählen zu können meint, versagt gerade gegenüber der möglichen Funktion, die Historie für die Gegenwart erfüllen kann und soll. Zum Schluß möchte ich noch eine letzte, über alles Bisherige hinausgehende Frage, einen gleichsam experimentierenden Gedanken vorbringen. Die Frage nach dem „Nutzen“ des geschichtlichen Bewußtseins und der Historie, die der Frage nach dem Sinn substituiert wird, kann in einer handlungs- und leistungsorientierten Erwartungswelt wie der unseren selbst fragwürdig werden. Sie setzt die menschliche Aktivität, die sogenannte Praxis und genauer die gesellschaftliche Praxis als einzigen und obersten Maßstab des Lebens. Diesen Primat der Praxis kann man mit Fug in Zweifel ziehen. Man kann Kontemplation und Spiel als Faktoren menschlicher Existenz zur Geltung bringen, man kann darauf abstellen, daß die Beschäftigung mit Dingen, die keine Handlungsansprüche stellen, eine kompensatorische Bedeutung in einem Gesamthaushalt des menschlichen, sozialen wie individuellen Lebens hat, das von der gesellschaftlichen Praxis präokkupiert ist. Vielleicht haben nicht nur die Künste, sondern vielleicht hat auch die historische Erkundung menschlicher Möglichkeiten jenseits unserer Möglichkeiten die Funktion, die individuelle Freiheit gegenüber technischen, institutionellen oder sozialen Zwängen - gegenüber der „Entfremdung“ - zu sichern. Eine solche Funktion würde freilich - wenn man nur vom Monismus einer Funktion abgeht - eine Funktion der Historie für die Praxis keineswegs ausschließen, ganz abgesehen davon, daß auch Kontemplation mit Praxis in der Einheit des Lebens zusammenhängt. 31

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Was der Sinn und Zweck der Historie sein kann, kann historisch und wissenschaftlich ermittelt, was er sein soll, kann so nicht entschieden werden. Aber es kann vernünftig diskutiert und legitimiert werden. Heute sieht sich jede solche Diskussion konfrontiert mit der Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz und der Behauptung, nur der Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Relevanz könne Historie legitimieren und organisierend bestimmen. Diese Behauptung sollte einer Kritik unterzogen-werden. Die unter dem Stichwort Relevanz formulierbaren und formulierten Vorstellungen von Aufgabe und Struktur der Geschichtswissenschaft widersprechen entweder wie die an der Zukunft orientierte Forderung der Parteilichkeit dem Wissenschaftscharakter der Historie; oder sie geraten wie die politisch-pädagogische und die präsentistische Position in Widersprüche mit sich selbst, indem sie zu einer Geschichtswissenschaft führen, die gerade das nicht leistet, was sie leisten will und soll. Um diesen Widerspruch zu entwirren, kommt es darauf an, zwischen einmal dem Motiv, zum andern Zweck und Sinn und zum dritten der Funktion oder den Funktionen der Geschichtswissenschaft zu unterscheiden. Die Funktion kann bei solcher Unterscheidung als unbeabsichtigte Folge intentionalen Handelns beschrieben werden, und empirisch lassen sich mehrere Funktionen nachweisen. Von diesen Funktionen muß man absehen, man muß sie gleichsam im Rücken lassen, wenn sie erfüllt werden sollen. Die Historie als Ort des geschichtlichen Bewußtseins hat unverzichtbare Funktionen in der Gegenwart, sie kann diese aber nur wahrnehmen, wenn sie sich gerade dem Diktat der Gegenwart, der Ausrichtung auf Relevanz entzieht. Nur dann bekommt sie eine nicht willkürlich reduzierte Vergangenheit zu Gesicht. Die Kategorie der Relevanz ist weder geeignet, die Funktionen, die Historie in der Gegenwart für die Gegenwart erfüllt und vernünftigerweise erfüllen soll, zu beschreiben, noch ist sie geeignet, den Sinn und Zweck der Historie zu bestimmen und die Geschichtswissenschaft zu organisieren, und zwar deshalb, weil sie Sinn und Organisation funktionalistisch von der - zudem einseitig verkürzten - Funktion her bestimmen will. Wo die Kategorie der Relevanz herrscht, wird die Geschichtswissenschaft gerade gegenüber den legitimen Ansprüchen einer gegenwärtigen Gesellschaft unheilbar verkürzt und verfälscht.

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2. Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft I. Der Titel der nachfolgenden Überlegungen1 mag verwunderlich erscheinen. Es mag schwierig sein, Übereinstimmung darüber zu erzielen, wie denn exakt der Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu bestimmen sei. Unstrittig aber ist, daß die Geschichtswissenschaft sich mit vergangenen Ereignissen und Prozessen, Institutionen und Zuständen, Werken und Sozialgebilden beschäftigt, in deren Mittelpunkt der Mensch als handelndes und leidendes (von Ereignissen und Handlungen betroffenes) Wesen steht. Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist die Vergangenheit des Menschen, sofern sie anderes und mehr ist als eine biologische Vergangenheit. Die Geschichtswissenschaft ist insofern eine Wissenschaft vom Menschen, wobei zunächst die Kategorien der Zeitlichkeit, genauer der Vergangenheit, und die Kategorien des „Mehr-als-Biologischen“ sie von anderen Wissenschaften vom Menschen unterscheiden. Ist darum unser Titel nicht eine Trivialität? Es kommt hier zunächst auf eine Begriffsklärung an. Der Begriff Anthropologie wird gegenwärtig unterschiedlich gebraucht. Innerhalb der empirischen Wissenschaften meint er die biologische Wissenschaft vom Menschen einschließlich der biologischen Verhaltensforschung - das bleibt in unserem Zusammenhang weitgehend außer Betracht. Im Sprachgebrauch der deutschen Geistesgeschichte, der Theologie oder Philosophie wird damit auch die Vorstellung, die Lehre vom „Wesen“ des Menschen, die einer Philosophie oder Kirchenlehre oder „Weltanschauung“ explizit oder implizit zugrunde liegt, bezeichnet, in diesem Sinne kann man die „Anthropologie“ von Hobbes, Rousseau oder Hegel, von Johannes oder Luther oder die Anthropologie des Katholizismus oder des Marxismus analysieren. Auch diese Verwendung des Begriffs soll hier außer Betracht bleiben. Wichtig für unseren Zusammenhang sind zwei andere Versionen von „Anthropologie“. Das ist einmal die im angelsächsischen Bereich wohl etablierte cultural anthropology2; diese beschäftigt sich primär mit dem Sachbereich, den im deutschen Sprachgebrauch die Fächer Völkerkunde (Ethnologie) und Volkskunde behandeln, und versucht mit Hilfe spezifischer Methoden und Modelle eine „Kultur“ nach allen Richtungen und Dimensionen zu erforschen und in ihrem inneren Zusammenhang zu begreifen; dabei geht sie aber mit ihrem Ansatz des Fragens über die einfachen Kulturen hinaus, d. h. sie tendiert dahin, auch komplizierte und differenzierte Kulturen oder Gesellschaften zu ihrem Objekt zu machen - eine Ausweitung der Forschungsgegenstände, für die die Abfolge der Untersuchungen von M. Mead 33 3

Nipperdey

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z. Β. charakteristisch ist. Zum andern ist zu nennen der im deutschen Sprach­ raum üblich gewordene moderne Begriff einer philosophischen Anthropologie. Arnold Gehlen etwa, der hier nur als Beispiel steht, hat versucht, eine solche philosophische Anthropologie als eine empirisch gesicherte Theorie des Menschen als handelnden Wesens zu entwerfen und durchzuführen. Die philosophische Anthropologie nun steht in enger Beziehung zur Kulturanthropologie, auch wenn beide von verschiedenen Ausgangspunkten und -interessen ausgehen, sich von unterschiedlichen Methoden leiten lassen und zu verschiedenen Ergebnissen kommen mögen. Von daher bestimmen wir den hier zugrunde gelegten Begriff der Anthropologie. Anthropologie fragt aufgrund empirischer Analysen nach Grundstrukturen und -kategorien des menschlichen Daseins, nach menschlichen Verhaltens-, Handlungs-, Denk- und Antriebsformen, nach ihrer Prägung durch soziale Institutionen und nach dem wechselseitigen Geflecht und dem Entstehungszusammenhang von Institutionen, Kultur und Person oder kurz: ihr Gegenstand sind die Strukturen menschlichen Handelns und Sichverhaltens. Eine systematische Anthropologie zielt dabei im Gegensatz zu den konkreten und abgegrenzten Untersuchungsobjekten der ethnologischen Kulturanthropologie auf invariable Gefüge und Gesetze ab, die für alle Gesellschaften gelten, das mag z. Β. gerade die Plastizität aller menschlichen Strukturen sein; oder sie stellt wie die systematische Kulturanthropologie, die jene Einzeluntersuchungen zusammenfaßt, ein Gefüge von Strukturvariationen, eine Typologie von Grundmöglichkeiten und Grundformen des menschlichen Daseins auf. Aus der Vielzahl anthropologischer Fragen nenne ich, um die abstrakte Definition einstweilen schon ein wenig zu konkretisieren, einige unterschiedliche Beispiele, die für den Historiker interessant sein können. Wenn es richtig ist, daß sich der Mensch unter anderem dadurch vom Tier unterscheidet, daß er zum einen seinen Großvater kennt und zum andern für den Hunger von morgen sorgt (W. Kamlah), so würden sich daraus eine ganze Reihe von Fragen ergeben, die die empirische Forschung und/oder die Theoriebildung leiten: Sind Erinnerung und Planung in diesen Tatbeständen begründet? Läßt sich aus der Erinnerung die Bildung von Tradition erklären, aus Planung die Bildung sozialer Institutionen und der Prozeß der Rationalisierung? In welchem Verhältnis stehen Erinnerung und Planung zueinander, und wie beeinflussen sie das Handeln? Gibt es verschiedene Typen des sozialen und des psychischen Systems, die auf einer unterschiedlichen Gewichtung dieser beiden Faktoren aufgebaut sind? und so fort. Oder: Bei dem Versuch der Kulturanthropologie, eine ethnische Gruppe zu beschreiben und durch Vergleich von anderen abzugrenzen, kann der Sozial- oder Nationalcharakter einer solchen Gruppe Gegenstand des Fragens und Element des Begreifens sein, in dem vielfältige Daten zusammengefaßt und von dem her neue Daten erfragt werden können; die vorwissenschaftlich naive Vermutung über solchen Gruppencharakter kann methodisch reflektiert zu einem wissenschaftlichen Begriff erhoben werden. Oder, um ein weniger generelles Beispiel zu wählen, die Frage, wie Affekte sozial und kultu34

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rell kontrolliert werden, wieweit sie sich durchschnittlich äußern, wieweit und auf welche Art sie gebändigt sind - auch das ist in unserem Sinne eine anthropologische Frage. Im bisher umschriebenen Sinne läßt Anthropologie die Zeit, den chronologisch fixierten Ort als konstitutives Merkmal ihrer Gegenstände und damit auch das Phänomen der Veränderung wesentlich außer Betracht; allenfalls kommt - bei der Übertragung ethnologischer Modelle auf hochkomplizierte moderne Kulturen oder beim Vergleich von „Urmensch und Spätkultur“ (Gehlen) - die Weite einer Weltzeit mit ganz wenigen epochalen Wandlungen vor. Für die Geschichtswissenschaft aber ist gerade die Zeit und die Veränderung in der Zeit das, was ihre Gegenstände konstituiert. Insofern ist Geschichte keine Anthropologie, Anthropologie keine Geschichte. Nun ist es aber ein sicheres Ergebnis anthropologischer wie historischer Forschung, ein sicheres Ergebnis der universalen Historisierung der Welt, die sich mit der Vollendung des Historismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts grundsätzlich durchgesetzt hat, daß auch anthropologische Strukturen geschichtlich wandelbar sind, daß sich die Grenze zwischen metahistorischen Konstanten und historischen Variablen bei der Beschreibung solcher Strukturen im Erkenntnisprozeß immer weiter vorschiebt. Der Mensch als Subjekt oder Objekt der Ereignisse und der sich wandelnden Institutionen gilt nicht mehr - wie bis tief ins 19. Jahrhundert hinein - als absolut gleichbleibend. Darum ist es möglich geworden, prinzipiell von einer Historizität des Anthropologischen, von anthropologischen Strukturen und ihrem Wandel in der Geschichte, von einer anthropologischen Dimension der Geschichtswissenschaft zu sprechen. Wir können die oben umschriebenen anthropologischen Fragen für eine geschichtliche, der Zeit unterworfene, je spezifische Welt, Kultur, Gesellschaft oder soziale Gruppe und ihre Wandlungen stellen. Ich nenne, ohne in eine Interpretation einzutreten, ein paar Beispiele für historisch-anthropologische Fragen, um noch einmal vorläufig zu veranschaulichen, was gemeint ist. D. Riesman hat in seiner Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft3 unter der anthropologischen Frage nach dem, was das Verhalten bestimmt und regelt, drei historische Typen, den traditions-, den innen- und den außengeleiteten Menschen, als drei Sozialcharaktere entwickelt; und in diese vom Standpunkt des Historikers hochabstrakten Modelle ist jeweils eine ganze Fülle von historisch-anthropologischen Einzelbeobachtungen eingegangen. Der Historiker Karl Lamprecht hat kurz nach der Jahrhundertwende den modernen Menschen unter dem Stichwort der Reizsamkeit beschrieben; das ist eine ganz ähnliche - sozialpsychologische - Betrachtungsweise, unter der ganz neue Phänomene für die Wissenschaft sichtbar gemacht wurden. F. J . Turner hat mit seiner berühmten Frontierthese versucht, die Institutionen und die Entwicklung Amerikas von der Tatsache der offenen Grenze her zu begreifen; dazu gehören nicht nur die Auswirkungen auf die soziale Mobilität, die industrielle Reservearmee etc., sondern auch bestimmte Verhaltensweisen der Leute an der Grenze, ein spezifisches Verhältnis von Individualismus und Koopera35 3*

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tion, aus dem sich die amerikanische Entwicklung erklären läßt4. Es ist eine sehr spezielle anthropologische Struktur, die hier einer genuin-historischen Interpretation zugrunde liegt und beobachtend gewonnen worden ist. Max Webers Untersuchung über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus ist eine anthropologische Untersuchung, sofern sie sich auf den Zusammenhang von Normen des Handelns und Verhaltens mit dem realen Handeln und Verhalten bezieht. Die Frage der Affektäußerung und Affektkontrolle hat schon Lamprecht an mittelalterlichen Beispielen untersucht; N. Elias5 hat sie aufgrund ζ. Β. von „Anstandsregeln“ und „T ischsitten“ ausführlich behandelt. Die Beispiele können, so mag man einwenden, unsere Terminologie in Frage stellen. Handelt es sich hier nicht um soziologische, sozialpsychologische oder psychologische Fragen und Kategorien, mit denen geschichtliche Vergangenheit angegangen wird? Es gibt doch so etwas wie eine historische Soziologie oder soziologisch bestimmte Historie, es gibt Ansätze jedenfalls zu einer historischen Psychologie und Ansätze zur Einbeziehung der Psychoanalyse in die Historie. Warum das anspruchsvoll gesuchte Wort anthropologisch? Das hier angesprochene terminologische Problem hängt wiederum von Definitionen ab und die Wahl des Begriffs dann davon, wieweit er Schwierigkeiten und Mißverständnisse möglichst gering hält. Unter diesem Aspekt scheint mir der Begriff Anthropologie vorteilhafter. Schon die doppelte Alternative Psychologie oder Soziologie - verweist auf den wesentlichen Punkt: Herkömmlicherweise befaßt sich die Soziologie mit der sozialen Welt, der Gesellschaft und ihrer Struktur, die Psychologie mit der Person, dem Ego und dessen Struktur und Entwicklung. Zwar bewegen sich beide Disziplinen aufeinander zu, Talcott Parsons z. Β., der von einer T rennung der Gesellschaft und der Person als zweier interagierender Systeme menschlicher Aktion ausging, ver­ tritt jetzt die Position, daß beide Systeme nur als Phasen, Aspekte, Ebenen ein und desselben Aktionssystems begriffen werden können6, und ähnliches läßt sich von manchen Entwicklungen der Sozialpsychologie sagen. Trotzdem bleiben die Arbeitsteilung, die unterschiedliche Fragerichtung, die unterschiedliche Gegenstandsbestimmung der genannten Wissenschaften bestehen, und sie überlappen sich nur partiell. Es erscheint mir nützlich, für den hier thematisierten konstitutiven Bezug von Person und sozialen und kulturellen Institutionen einen einzigen Terminus zu wählen. Damit vermeiden wir zugleich, uns in die Definitionsprobleme zweier großer Wissenschaften, den Streit um jeweils sehr profilierte unterschiedliche Wissenschaftsbegriffe zu verwickeln und damit die Aneignung bestimmter Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft zu erschweren. Die methodischen Anregungen, die von der philosophischen Anthropologie und Kulturanthropologie ausgehen, würden bei einer Subsumierung unter fixierte oder (und) strittige Begriffe von Wissenschaften zu kurz kommen. Schließlich vermeiden wir auch, einstweilen wenigstens, die Kontroversen über soziologische und historische, eher generalisierende und eher individualisierende Methoden, Theoriebildung und narrative Darstellung. 36

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Die Eigenart unserer anthropologischen Fragen, die systematisch zwischen Soziologie und Psychologie angesiedelt sein mögen, kommt vielleicht deutlicher zutage, wenn wir sie zu den Gegenständen und Frageweisen der Geschichtswissenschaft, so wie wir sie kennen, in Beziehung setzen. Hier gilt es zunächst die Unterschiede zu sehen. Historisches und auf Geschichte gerichtetes anthropologisches Fragen decken sich nur partiell. Offenbar gehören Individuum, Ereignisse und Ereignisreihen nicht als solche zu den Gegenständen, die anthropologisch erfragt werden. Und dasselbe gilt für die Geschichte von Ideen, von rechtlichen und staatlichen Institutionen, Werken und Werksystemen wie Kunst und Wissenschaft oder Wirtschaft und Technik. So sehr Individuen und Ereignisse, so sehr die genannten Teilgebiete des geschichtlichen Lebens für die anthropologischen Fragen Bedeutung haben. Diese anthropologischen Fragen sind im Unterschied zu den genannten historischen Fragen generell, und sie sind strukturell. Wenn man das „Gebiet“ der Geschichtswissenschaft als das Handeln pnd Leiden der Menschen in den von ihnen geschaffenen sozialen Gebilden, sofern und soweit dadurch Veränderungen in diesen Gebilden bewirkt werden, beschreibt, so gehört das, was anthropologisch erfragt wird, zu den Voraussetzungen oder zur Struktur jenes Handelns und Leidens. Insofern scheint es zu dem Frage- und Gegenstandsbereich zu gehören, der heute etwas unscharf als Strukturgeschichte oder - noch unschärfer - als Sozialgeschichte bezeichnet wird. Wir haben demgemäß auch von anthropologischen Strukturen gesprochen, die in ihrer Art wie in ihrem Wandel Gegenstand historischen Fragens sind. Aber soziale Strukturen und Prozesse wie Schichtung und Mobilität ζ. Β. sind nicht als solche anthropologische Strukturen. Die anthropologischen Fragen sind personbezogen, sie richten sich auf die Struktur von Handeln und Sichverhalten, und sie beziehen die institutionellen Bedingungen von Handeln und Verhalten immer auf dieses selbst. Insofern Handlungen und Ereignisse eine anthropologische Struktur haben und zeigen, können auch sie selbst wiederum zu Gegenständen des anthropologischen Fragens gehören. Man kann daher sagen, daß die anthropologischen Fragen an die geschichtliche Vergangenheit nicht so sehr einen eigenen Gegenstandsbereich konstituieren, sondern vielmehr einen bestimmten Aspekt, eine bestimmte Dimension der Geschichte betreffen. Darum spreche ich in dieser Abhandlung nicht von einer historischen Anthropologie, sondern von der anthropologischen Dimension der Geschichtswissenschaft. Die anthropologische Frage ist nicht eine allumgreifende und darum unpräzise und heuristisch wertlose Frage nach dem Menschen, mit dem auch die Geschichtswissenschaft sich beschäftigt. Sie ist vielmehr, so wie sie in anderen Wissenschaften entwickelt worden ist, eine durchaus präzise - und präzisierbare - Frage. Meine These ist, daß die Geschichtswissenschaft die anthropologischen Fragen nur rudimentär entwickelt, nur rudimentär rezipiert hat, und daß eine intensivere und reflektierte Rezeption solcher Fragen die Erkenntnis der Vergangenheit erweitern, differenzieren und zusammenschließen kann. Die Geschichtswissenschaft braucht das anthropologische Fragen. 37

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Es scheint mir nun im Zusammenhang dieser Überlegungen nützlich, zunächst in einer historiographischen Reflexion zu erörtern, welche Ansätze für unsere Fragen in der älteren Historiographie, zumal des 19. Jahrhunderts, gegeben waren, und welche Hindernisse für die Ausarbeitung und Durchführung dieser Fragen bestanden. Eine solche Erörterung hat keine antiquarische Absicht, sie dient weder der Legitimierung durch die Tradition noch dem ideologiekritischen Sichabstoßen von der Tradition, um eine neue Position zu begründen. Es sollen vielmehr bestimmte methodologische und wissenschaftstheoretische Probleme dabei deutlich gemacht werden, von deren kritischer Aneignung die gegenwärtige Geschichtswissenschaft nur gewinnen kann. II. Die große Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts hat sich von Voltaire über Hegel und Burckhardt bis zu Dilthey mit der Entwicklung oder den Wandlungen des Menschen und seines Bewußtseins befaßt, sie enthält darum, ebenso wie bestimmte speziellere Forschungen und Darstellungen, wichtige Ansätze zu anthropologischen Fragestellungen und Erörterungen. Trotzdem hat sich die Historie auf die anthropologischen Strukturen nicht eigentlich eingelassen. Das hat eine Reihe von Gründen. Die Geschichtswissenschaft ist in ihrem Wissenschaftscharakter zunächst im frühen 19. Jahrhundert durch den Historismus geprägt worden. Damals sind die Kategorie der Individualität und die Frage nach Individualität für sie leitend geworden. Diese Kategorie der Individualität hatte, das sollte man sich bei aller theoretischen Kritik klarmachen, ursprünglich eine durchaus legitime polemische Funktion gegen bestimmte Tendenzen der Aufklärung. Sie war gerichtet gegen die vorschnelle Klassifizierung eines Ereignisses, eines Tatbestandes, einer Entwicklung als Fall eines Allgemeinen; sie war gerichtet gegen die Tendenz, geschichtliche Phänomene aus einer Ursache oder einer begrenzten Zahl von angebbaren Ursachen bei eindeutigem Verursachungsprozeß zu erklären. Und sie war gerichtet gegen das Messen des Fremden am eigenen Standard. Dagegen sollte die Eigenart eines spezifischen geschichtlichen Phänomens, die Eigenart des Fremden, sollte die mögliche Unendlichkeit der Bedingungen und die Interdependenz der Phänomene zur Geltung gebracht werden. Das war die heuristisch-polemische Bedeutung des individualisierenden Verfahrens. Erst als sich die auf dem Prinzip der Individualität beruhenden sogenannten Geisteswissenschaften durchgesetzt hatten, gewann dieses Prinzip unabhängig von seiner ursprünglich polemischen Funktion Eigenwert. Doch auch im individualisierenden Historismus deckte die Kategorie Individualität eine breite Skala von Phänomenen und hatte daher immer nur einen relativen Charakter: Individualitäten „höherer Ordnung“, wie Völker, Staaten und Kirchen, Institutionen, Tendenzen, Ideen, waren immer Gegenstand von Forschung und Darstellung, wenn auch der jede Individualität chronologisch fixierende Ort dabei immer zentral blieb. 38

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Die Vorherrschaft der - wie weit immer gefaßten - Individualitätskategorie hatte nun für Methode und Darstellungsweise der Geschichtswissenschaft wichtige Folgen, und zwar vor allem die Orientierung an Anschauung und Beschreibung. Wo Geschichtswissenschaft über Ereignisreihen hinausgeht, über die Erzählung also, will sie die Physiognomie (Huizinga) vergangener Wirklichkeit darstellen. Details sind nicht Belege für eine These, Fälle einer generellen Regel, sondern Elemente der historischen Darstellung. Nur anschaulich detailliert und deskriptiv kann das geschichtlich Seiende absolut in die ihm eigene Zeitlichkeit hineingebunden werden, kann das Individuelle in seiner Individualität bewahrt zu Wort kommen. Von daher rührt eine gewisse Abneigung der Historie und der Historiker gegen eine vorwiegend begrifflich-abstrakte Analyse als Darstellungsform, gegen eine „Anatomie“ der Wirklichkeit, ja man kann von einer Angst, auf Begriffe zu kommen, sprechen. Begriffe sind geeignet, zergliedernd oder zusammenzwingend Anschauung und Individualität verschwinden zu lassen. Dieses Mißtrauen gegen die Abstraktion wurde empirisch immer wieder bestätigt, weil die Forscher und Denker, die versuchten, vergangene Wirklichkeit weniger anschaulich als begrifflich zu erfassen, von Hegel und Comte bis zu Lamprecht, einen gesetzmäßigen Ablauf der Weltgeschichte konstruierten, bei dem für den empirischen Historiker wie Jakob Burckhardt die Einzelheit und Einzigkeit jedes Geschehens im weltgeschichtlichen Prozeß zu verdampfen schien. Natürlich haben auch die klassischen Historiker, so die für die anthropologischen Fragen besonders wichtigen Kulturhistoriker, z. Β. Riehl oder Burckhardt, ihre Beobachtungen mit sehr komplexen analytischen Begriffen zusammengefaßt; Burckhardts Begriffe und Typen z. Β. - Krise, Potenz, Staat als Kunstwerk, der Mensch der Renaissance, der griechische Mensch - machen Strukturen sichtbar. Aber diese Strukturen bleiben der An­ schauung nahe, ihr Zusammenhang wird nicht durch analytisch-begriffliche Durchdringung eines Begründungs- und Interdependenzverhältnisses hergestellt, sondern ergibt sich aus der Summierung zum Bild, zur Vorstellung. Insofern behält die Anschauung ihren Vorrang. Diese methodische Einstellung war nun für die anthropologische Dimension der Geschichte von Bedeutung. Denn die anthropologischen Strukturen sind als nicht mehr sichtbare Voraussetzungen sichtbaren Verhaltens, als Strukturen, die relativ konstant sind und sich langsam wandeln, der individualisierenden und auf Anschauung ausgehenden Deskription gerade weitgehend entzogen, sie sind erst einer begrifflichen Analyse zugänglich. Das ist einer der Gründe, warum diese Strukturen gemeinhin nicht oder nur in Ansätzen Gegenstand historischer Erkenntnis wurden. Sodann lag im allgemeinen der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in der Zeit auch des antiaufklärerischen Historismus, ein ausdrückliches Modell des Menschen als eines rationalen Wesens zugrunde, eines Wesens nämlich, dessen Handeln und Verhalten zwar von wechselnden Ideen und Zwecken geleitet war, aber auf einer gleichbleibenden Antriebsstruktur von rational verstehbarem Macht-, Sicherheits-, Wohlstands- oder Heilsstreben beruhte und von ei39

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nem prinzipiell rationalen Verhältnis von Zwecken und Mitteln bestimmt war. Die romantische Phase der germanischen und klassischen Altertumswissenschaften, in der die Hypothese der unbewußten Antriebe und Prägungen der Menschen eine große Rolle spielte, blieb für das Ganze der Geschichtswissenschaft relativ folgenlos; Phänomene, bei denen das rationale Handlungsmodell auf Schwierigkeiten stieß, Massenphänomene zumal in revolutionären Epochen, blieben als Natur- oder Elementarereignisse Randphänomene, die das grundsätzliche Handlungsmodell des sich selbst kontrollierenden, verantwortlichen, prinzipiell zur Autonomie angelegten Menschen nicht modifizierten. Indem das anthropologische Modell rational und einheitlich blieb, kamen weder die Phänomene des Unbewußten noch auch der Wandel von Handlungs- und Verhaltensstrukturen in den Blick. Sieht man auf die konkreten Gegenstände, so ist Geschichtswissenschaft im engeren Sinne von bestimmten traditionellen Interessen bestimmt gewesen. Die politische Geschichte der Völker und Staaten im Sinne einer Ereignisgeschichte, die Geschichte der rechtlichen Institutionen und die Geschichte der Kirche haben zunächst einen fast selbstverständlichen Vorrang gehabt, einen Vorrang, der sich aus der Herkunft der Geschichtswissenschaft, dem aktiven Interesse der Historiker im Zeitalter des Liberalismus und des Nationalstaats und dem, was unmittelbar in den Quellen wie in der Gegenwart vor Augen lag, zu ergeben schien. Auch die großen Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts, die sich vom Schema der bloßen Ereignisreihen lösten und die Geschehnisse in ein Geflecht von Institutionen und Ideen, Prinzipien und Tendenzen, einordneten, blieben von dieser Priorität bestimmt. Für die anthropologischen Fragen besonders bedeutsame Bereiche blieben ausgegrenzt. Aber das für uns eigentlich Wichtige ist, daß auch innerhalb der politischen Geschichte, der Kirchen- und der Rechtsgeschichte die anthropologischen Fragen kaum aufkamen. Die Voraussetzung der politischen Historie z. B. war ein Modell des homo politicus, das als konstant galt, auch wenn Ziele und Inhalte des politischen Handelns sich änderten. Die Fragen nach den sich wandelnden Typen von Menschen, die jeweils Politik machen, nach der anthropologischen Struktur des politischen Handelns selbst, z. Β. nach dem Verhältnis von Motiv und Zweck, der Relation von Mitteln und Zielen, nach der Bedeutung der Machtantriebe, z. Β. des Ruhmes, nach der wachsenden Rationalität, nach der Art von Planung und Prognose, oder nach dem Prozeß der Entscheidung, nach dem politischen „Stil“ - solche Fragen kamen im 19. Jahrhundert in geschichtlichen Untersuchungen zwar gelegentlich bei der Erörterung von Einzelfällen vor, aber sie blieben vereinzelt und wurden nicht zu einem systematischen Fragezusammenhang erhoben und blieben so allenfalls Objekte intuitiver Spekulationen von „Geschichtsphilosophen“. Und ähnliches gilt für die anthropologischen Fragen innerhalb einer Geschichte der Kirche oder einer Geschichte der rechtlichen Institutionen. Der Bereich der älteren Geschichtswissenschaft, in dem sich die uns interessierenden Fragen am ehesten finden, ist der Bereich der sogenannten Kulturge40

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schichte. Die Kulturgeschichte verstand sich seit Voltaire als Oppositionswissenschaft zur politischen Geschichte, zur Kirchen- und zur Rechtsgeschichte. Sie wollte Zustände, allgemeine Dispositionen, „Strukturen“ einer jeweiligen Gesellschaft, die den Ereignissen zugrunde liegen, erforschen. Dabei wurde der Begriff der Kultur freilich in einem vagen Sinne - ähnlich wie Gesellschaft - oder auch äquivok verwandt. Es gab einen universalen Kulturbegriff, der das Ganze der menschlichen Welt umfaßte, und einen partikularen, der, vereinfachend gesagt, die menschlichen Lebensbereiche außerhalb von Staat und Kirche (gelegentlich war auch die Wirtschaft ausgenommen) betraf, und hier war wieder zwischen einem eher populären, an den Phänomenen des täglichen Lebens, und einem elitären, an Kunst und Wissenschaft orientierten Kulturbegriff zu unterscheiden. Trotzdem, in der Frage nach der - wie immer definierten - Kultur waren anthropologische Fragen und Tendenzen enthalten. Kultur wurde als Ausdruck des Menschen verstanden und zugleich als Objektivation, die Macht über ihn hat und sein gesellschaftliches und individuelles Dasein bestimmt. Von objektivierten Lebensäußerungen, z. Β. der Kunst, der Biographik, den Geselligkeitsformen oder dem Hausbau, suchte die Kulturge­ schichte auf die Handelns-, Verhaltens- und Denkweisen von sozialen Grup­ pen, auf Sozialcharaktere zu schließen; indem man z. Β. die Sitten und ihre so­ ziale Differenzierung zu erforschen suchte, befaßte man sich mit sehr ursprünglichen Institutionen, die die soziale Welt konstituieren und das individuelle Handeln und Verhalten geschichtlicher Menschen bestimmen. Von der Begründung der klassischen und der germanischen Altertumswissenschaften im frühen 19. Jahrhundert über Macaulay, Thierry und Michelet, Gustav Freytag und Jakob Burckhardt, mit seiner Thematisierung von Not und Arbeit, Leidenschaft und Instinkten, bis zu Lamprecht und seiner historischen Psychologie und Huizinga, um zwei sehr gegensätzliche Forscher zu nennen, lassen sich diese Intentionen und Fragestellungen nachweisen. Trotzdem blieb es in Bezug auf die anthropologische Dimension bei Intentionen und Fragmenten. Das hat seine Gründe. Die klassisch-romantische Grundlegung der Geisteswissenschaft ist von einem umfassenden Kulturbegriff ausgegangen und hat versucht, ihn einheitlich und, wie ich meine, anthropologisch zu interpretieren. Dabei sind für unser Problem zwei Dinge wichtig. Einmal die Annahme eines „Volksgeistes“, eines organisierenden Prinzips der sozial-kulturellen Welt, zum anderen die Annahme seines unbewußten Wirkens. Wir können den Volksgeistbegriff entromantisieren und als Sozialcharakter, in diesem Falle als Nationalcharakter, als Inbegriff von vor- oder unbewußten Verhaltens- und Ausdrucksnormen ansehen, der etwa in der Sprache die Auslegung der Welt als Eindrucks- und Handlungsfeld des Menschen prägt. Und wir können hervorheben, daß gegenüber dem stark rational bestimmten Modell des Menschen, das der neuzeitlichen Wissenschaft zugrunde liegt, hier die nicht-rationalen, unbewußten und emotionalen Wirklichkeiten des Menschen zur Sprache gekommen sind. Diese anthropologischen Entdeckungen freilich wurden als solche nicht entfaltet. Der 41

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Volksgeist blieb eine hypothetische Konstruktion zur Erklärung der Zusammenhänge verschiedener Gebiete des Lebens, z. Β. der Sprache, der Religion, des Rechtes und der Sitten, die als Ausdruck eines substanziell verstandenen Volksgeistes aufgefaßt wurden, ohne daß dieser selbst und seine Relation zum Ausgedrückten weiter analysiert und verifiziert werden konnten. Volksgeist bezeichnet so den Ort einer anthropologischen Struktur, eines sozialen Charakters, aber es bleibt ein dunkler Begriff. Auch der bedeutende und folgenreiche Verweis auf das Unbewußte leistete im ganzen zunächst nicht mehr, als einen Grenzbegriff zu etablieren. Das Unbewußte blieb aber noch im mythologischromantischen Rahmen, es wurde trotz heuristischer Fruchtbarkeit nicht zu einer wissenschaftlichen Kategorie. Sodann: Die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts stand, wie die Geschichtswissenschaft überhaupt, unter der Herrschaft der Modelle von Anschauung und Deskription. Strukturelle Beobachtungen blieben, bei den Romantikern, bei Riehl und Freytag, Macaulay, Thierry, Michelet usw., ganz in der Deskription eingebettet und wurden nicht analysiert. Das gilt insbesondere für den Bereich des täglichen Lebens. Kulturgeschichte gab „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, wo sie nicht gar zur bloß antiquarischen Kulturgeschichte wurde. Ähnliches gilt für die Volkskunde, jene merkwürdige deutsche Sonderwissenschaft, die man als eine romantische und nationale Version einer sozialwissenschaftlich orientierten, aber auf die vorindustriellen Stände verengten Kulturgeschichte verstehen kann. Ihre leitende Idee war, die Lebensform des unbekannten, sich sprachlich kaum objektivierenden Zeitgenossen im Verhältnis von Person, Mitwelt und Dingwelt zu erfassen, und wir können diese Intention mit Fug als anthropologisch bezeichnen. Aber diese Wissenschaftsrichtung ist, wo sie sich von romantisch irrationalen Interpretationen löste, gerade im späteren 19. Jahrhundert der Sammlung und Deskription der Stoffe des sogenannten täglichen Lebens verfallen, ohne sie analytisch zu interpretieren. Zudem gingen die Ergebnisse solcher Untersuchungen in die allgemeine Geschichte nicht ein. Auf der anderen Seite verengte sich die Kulturgeschichte zur Geistesgeschichte. Sprache und Recht, Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Religion galten als die eigentlichen Bereiche der Kultur, also Werke, Werksysteme und hochstilisierte Institutionen. Sprache, Kunst etc. wurden zu Subjekten einer Geschichte, und Kulturgeschichte blieb dann oft eine bloße Addition solcher Geschichten mit eigenen Subjekten. Die Geistesgeschichte im eigentlichen Sinne freilich etablierte sich als eine synthetische Wissenschaft. Ihr Gegenstand, Kultur als Geist, war die sprachliche oder künstlerische Auslegung, Interpretation und Formung der Wirklichkeit, war ein System der Interpretationen. Von diesem Ansatz wurde auch die soziale Welt als ein solches System aufgefaßt: sie ist, indem sie sich in Werken und Institutionen selbst interpretiert; nur darin ist sie faßbar. Die anthropologische Pointe liegt darin, daß sich in Recht und Religion, Kunst und Sprache Stadien der Welt- und Selbstauffassung des Menschen bezeugen, und darin lassen sich die anthropologische Struk42

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tur eines Zeitalters, lassen sich Verhaltens- und Handlungsmuster der Menschen greifen. Freilich nicht die Verhaltensweisen, das Handeln, seine Form und sein Stil, die politische oder wirtschaftliche Praxis, der mitmenschliche Umgang und die einfache Lebensbewältigung wurden Gegenstand der geistesgeschichtlichen Forschung, sondern die Auffassung von Selbst und Welt, die Auslegung und Theorie der Verhaltensweisen, die Reflexion solchen Handelns. Dieses Verfahren ist in doppelter Hinsicht legitim. Einmal ist die Geschichte solcher Auslegung und Reflexion - das muß gegen eine modische Abwertung zur Geltung gebracht werden - legitimer Teilbereich einer Wissenschaft, die Grundzüge einer vergangenen Welt erforschen will. Zum andern - und das ist entscheidend - entspricht ein solches Verfahren grundsätzlich dem, was unsere Erkenntnis von Vergangenheit ermöglicht, d. h. der Quellenlage. Die Überlieferung, aus der wir unsere Erkenntnis der Vergangenheit schöpfen und an der wir sie allein verifizieren können, ist sprachliche Überlieferung, d. h. sie stellt, was sie überliefert, immer schon in einen bestimmten Auslegungshorizont, in dem der Berichtende wie auch der Handelnde stehen. Denn die Bindung der Überlieferung an die Sprache gründet in der Bindung des Handelns an Sprache. Geschichtliches Handeln ist wie alles soziale Handeln intentionales Handeln, das sich in einem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Auslegungshorizont, einer vorgängigen Welt- und Selbstinterpretation als Orientierungs- und Wertsystem bewegt. Und alles Verhalten und Handeln ist an die Verarbeitung der Wirklichkeit im Wort und anderen symbolischen Ausdrücken gebunden. Nur durch die Analyse dieses Horizontes und der Selbstauslegung einer Intention ist vergangene menschliche Wirklichkeit uns zugänglich. Soziale oder historische Tatsachen an sich - unabhängig von Intention und Auslegung - gibt es nicht. Staatsräson z. Β. ist nicht einfach ein Faktum, das am Verhalten von Politikern beobachtet werden kann, sondern ist immer auch Er­ gebnis einer mehr oder minder theoretisch geleiteten Reflexion der Handelnden und ohne diese Reflexion weder zugänglich noch zu begreifen. In dieser methodischen Grundvoraussetzung aller Geschichtswissenschaft gründet die Legitimität des geistesgeschichtlichen Ansatzes, er konstituiert darum nicht nur einen Spezialbereich, sondern ist ein integraler Aspekt der allgemeinen Geschichte. Wo die Geistesgeschichte die Reflexion über Handeln und Verhalten zum Gegenstand macht, hat sie darum durchaus eine anthropologische Dimension. Ein klassisches Beispiel dafür scheint mir das Werk des Dilthey-Schülers Bernhard Groethuysen7; er hat aufgrund der moralisch-pastoralen Reflexionen die Entstehung der bürgerlichen Weltauffassung in Frankreich beschrieben und damit zugleich zur Geschichte des modernen Bürgers und seiner anthropologischen Struktur beigetragen. Aber die Geistesgeschichte hat im ganzen doch die anthropologische Dimension verfehlt und verkürzt, indem sie sich als Spezialgebiet etabliert hat, das einen allgemeinen Anspruch zwar erhob, aber ihn gerade nicht ausfüllte. Denn das allem Handeln und Verhalten schon zugrunde liegende Verständnis der Welt und des Selbst ist von der expliziten Selbst- und Weltauslegung einer 43

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Kultur, ist vom Selbst- und Wehbewußtsein zu unterscheiden. Die unauflösbare Bindung des sozialen Phänomens an vorgängige und begleitende Auslegung ist komplizierter und weniger eindeutig, als es vom Grundansatz der Geistesgeschichte her erscheint. Das Phänomen ist nicht die Auslegung, und es geht in ihr nicht auf, es steht in einer Spannung zur Auslegung, diese kann auch das Phänomen verstellen. Selbstverständlichkeiten der Selbst- und Weltauffassung, die nicht explizit zur Sprache kommen, Verhaltens- und Orientierungsweisen, die sich nicht oder nicht angemessen sprachlich objektivieren, und die unbewußten Grundlagen dieser Verhaltensweisen, die patterns of behaviour, die etwas anderes als explizite Normen sind, kommen bei einem geistesgeschichtlich sprachorientierten Ansatz nicht oder kaum in den Blick. Die Geschichte der Staatsräson ist, um beim Beispiel zu bleiben, nicht unabhängig von Reflexion und Auslegung der Handelnden und Mithandelnden, aber diese Art von Reflexion ist nicht identisch mit Theorien und theoretischen Ausführungen über Staatsräson. Technisches Verhalten im 19. Jahrhundert, Wirtschaftsgesinnung im Frühkapitalismus sind von Reflexionen abhängig, aber dieses Verhalten und diese Gesinnung reichen über theoretische Traktate weit hinaus. Die Welt von Haus und Stand legt sich im 18. Jahrhundert kaum noch selbst aus, und wo sie ausgelegt wird, ist die Sprache dieser Welt schon unangemessen, wie die Kritik, die aufgeklärte Pfarrer an der Dorfgesellschaft üben. Wenn wir die in ihr üblichen Handlungsabläufe und Verhaltensweisen, z. Β. Handwerksbräuche oder Formen des Lernens beschreiben, so haben wir zwar von ihnen sprachliche Kunde, aber ihr Sinn ist uns nicht sprachlich mitgegeben. Oder der Sinn von Handeln geht über das sprachlich Überlieferte hinaus, etwa wenn wir den politischen Stil als selbstverständliche Voraussetzung aus einer Vielzahl von politischen Handlungen herausheben. Schließlich gehen Voraussetzungen und Wirkungen des Handelns über die bewußten Intentionen der Handelnden überhaupt weit hinaus und müssen auch insoweit zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Die Verkürzung der anthropologischen Dimension kommt insbesondere darin zum Ausdruck, daß die Subjekte der auf sprachliche Weltauslegung festgelegten Geistesgeschichte diejenigen sozialen Schichten sind, die sich sprachlich objektivieren, Welt explizit auslegen und Verhalten explizit reflektieren, die in hochstilisierten Formen leben oder neue Formen der Weltauslegung schaffen. Sozialgeschichte ist hier Sozialgeschichte der Ober- und Bildungsschicht, deren Reflexion und Selbstverständnis gilt als zeittypisch oder als maßgebend für den Fortgang der Entwicklung. Die Legitimität der Geistesgeschichte liegt darin, daß eine der strukturellen Bedingungen für geschichtliches Handeln, für Institutionen, für Prozesse die Selbst- und Weltauslegung ist und daher für das Verständnis des Handelns, der Institutionen und der Prozesse von dieser Auslegung auszugehen ist. Sie kann durch keine „funktionale“ Betrachtung ersetzt werden. Aber in dieser legitimen Position steckt zugleich die Tendenz, sich auf Welt- und Selbstauslegung zu beschränken, das heißt, Geistesgeschichte zu einer Spezialdisziplin der allge44

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meinen Historie zu machen. Die anthropologischen Strukturen bleiben dann wie politische und soziale Strukturen durch die Auslegung verstellt. Man kann mit Habermas sagen, daß die menschliche Welt sich aus Arbeit, Herrschaft und Sprache konstituiert8. Die Geistesgeschichte beschränkt sich darauf, die Welt von der Sprache her zu verstehen, die zwar alles vermittelt, aber doch nur ein Element bei der Konstitution der Welt ist. Die anthropologischen, die personalen Strukturen, die uns hier beschäftigen, sind zwar nur in der und durch die Auslegung, die Sprache zu erfassen, aber andererseits auch nur im Zusammenhang mit Herrschaft und Arbeit, mit den politischen und mit den sozialen und ökonomischen Strukturen einer Zeit zu erkennen. Neben der Geschichte der populären Kultur und der Geistesgeschichte haben sich im beginnenden 20. Jahrhundert auch bestimmte Versuche der Universalgeschichte als Kulturgeschichte verstanden. Der späte K. Lamprecht, K. Breysig, O. Spengler oder Alfred Weber mögen als Repräsentanten solcher Tendenzen erwähnt sein. Solche Kulturgeschichte betraf das Ganze des menschlich-gesellschaftlichen Lebens und zugleich das Ganze des universalhistorischen Prozesses. Diese Versuche sind für uns deshalb interessant, weil das organisierende Zentrum einer solchen „Kultur“ anthropologisch aufgefaßt wurde - ζ. Β. als der faustische oder der gotische Mensch; in der T radition der „Geschichtsphi­ losophie“ als T heorie des sozialen Wandels hielten diese Versuche die anthro­ pologische Dimension offen. Zugleich freilich brachten sie sie in Verruf und verstellten den unbefangenen Blick. Denn diese Synthesen waren im allgemei­ nen aufgrund fragwürdiger metaphysischer oder ideologischer Kategorien konstituiert, die wissenschaftlich nicht ausweisbar waren. Die auch für die gegenwärtige methodische Diskussion wichtigste Voraussetzung solcher Versuche war zudem, daß man von der Einheit einer jeweiligen Kultur - zusammengefaßt in der Einheit ihres „Stils“ - ausgehen könne. Eine solche Annahme, wie sie noch jedem Verlagsprojekt einer universalen Geschichte zugrunde liegt, gehört zwar zu den regulativen Ideen der historischen Erkenntnis, aber sie bleibt problematisch. Denn die einzelnen Kulturbereiche haben in komplexen Gesellschaften eine Eigengesetzlichkeit und eine eigene Prozeßgeschwindigkeit, es gibt eine Diskrepanz (cultural lag) zwischen verschiedenen Lebensbereichen und dem Tempo, in dem sie sich verändern: die Technik entwickelt sich schneller und anders als die Familienbeziehungen oder die Moralvorstellungen. Die synthetischen Modelle von sozio-kulturellen Systemen, wie sie die universale Kulturgeschichte entwickelt, unterliegen ständig dem Zweifel des empirischen Historikers, weil für diese Synthese keine nachprüfbare Methode angegeben werden konnte. Solche Synthesen bleiben beliebig. Anthropologische Hypothesen, die einen synthetischen Anspruch stellen, sind darum besonders der Gefahr beliebiger Impressionen und Konstruktionen ausgesetzt. Schließlich: die drei Formen der Kulturgeschichte, volkskundliche Kulturgeschichte, Geistesgeschichte, Universalgeschichte, interpretieren das Verhältnis von Kultur und Person im wesentlichen einsinnig nach dem Schema des Ausdrucks. Die Person, eine gesellschaftliche Gruppe, eine Gesellschaft drücken 45

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sich in Werken und Institutionen auf bestimmte Weise aus. In der idealistischen Tradition werden das System des Geistes oder die Kultur als Objektivation, als Äußerung eines Inneren verstanden. Und noch K. Lamprecht, der sich vom Idealismus zum Positivismus wandte und Geschichte unter den Kategorien einer historischen Psychologie zu interpretieren suchte, ging von der Konstruktion einer Sozialpsyche aus, die sich nach eigenen Gesetzen entwickelt und allem historischen Geschehen und allen Zuständen zugrunde liegen soll, sich in ihnen ausdrückt. In allen diesen Modellen bleiben die Fragen, wie denn umgekehrt die Kultur die Menschen, die in sie hineinwachsen, prägt, wie es mit der Interdependenz von Kultur und Person, Welt und Person steht - eine Interdependenz, die in jeder Biographie unreflektiert zu Wort kommt -, unbeantwortet. Das hängt methodologisch mit einer alten Tradition der Philosophie zusammen, die gerade in der deutschen Wissenschaft fortdauerte, nämlich dem Vorrang der Kategorie der Substanz vor der Relation, der auch in der idealistischen Umdeutung der Substanz zum Subjekt trotz Hegel erhalten blieb. Das für die anthropologischen Fragen entscheidende wechselseitige Verhältnis von Person, Kultur und Gesellschaft konnte unter diesen Voraussetzungen nicht eigentlich begriffen werden. Ziehen wir ein Fazit. Die Historie des 19. Jahrhunderts ist über Ansätze zur Erkenntnis anthropologischer Strukturen nicht hinausgekommen. Das hängt zusammen mit dem traditionellen Vorrang von Politik, Recht und Kirche, mit dem Vorrang individualisierender Anschauung und Deskription, mit einem zugrunde liegenden relativ stabilen anthropologischen Modell, das von der Kategorie des rationalen Handelns bestimmt war, mit einem idealistisch bewußtseinsorientierten Kulturbegriff, einer Konzentration auf die Ober- und Bildungsschicht und mit einer substanzialistischen Ausdrucksontologie. Sie hat aber gerade als Kulturgeschichte eine Fülle von anthropologischen Beobachtungen gesammelt, die auch die anthropologischen Strukturen selbst historisiert haben. Sie hat Kultur als Selbst- und Weltauslegung, als Dimension sich wandelnder Handlungs- und Verhaltensweisen, also anthropologischer Strukturen, bewußt gemacht und zu einem integralen Bestandteil der allgemeinen Geschichte erhoben. Von dieser Leistung muß auch jede gegenwärtige Erörterung historisch-anthropologischer Probleme ausgehen. III. Die kritische Reflexion von Voraussetzungen und Verfahrensweisen der traditionellen Geschichtswissenschaft sollte die theoretische Möglichkeit sichern, die anthropologischen Probleme unmittelbar in die historische Forschung und Darstellung einzubeziehen. Denn die Voraussetzungen und Verfahren unserer Wissenschaft haben sich inzwischen gerade in dieser Hinsicht wesentlich geändert. Das Individualitätsprinzip hat nicht mehr die absolute Geltung, die ihm in der Blütezeit des Historismus zugeschrieben wurde. Es gibt eine heuristisch gerechtfertigte Interessenrichtung an, und es schränkt - korrektiv - die so46

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ziologischen Ansprüche auf Generalisierung und Gesetzeserkenntnis ein. Aber der Vergleich und die Bildung von Verlaufs-, Gestalt- oder Strukturtypen, die Tendenz, generelle Strukturen herauszuarbeiten, sind legitime Arbeitsweisen der Historie; die Grenzen zwischen individualisierender und generalisierender Betrachtungsweise sind fließend geworden. Die Geschichtswissenschaft ist nicht mehr vom Vorrang von Anschauung und Deskription und nicht mehr vom Vorrang der Erzählung beherrscht, so gewiß man gegen die modische Unterbewertung der narrativen Historie grundsätzliche Einwände erheben muß. Der Stil gegenwärtiger historischer Untersuchungen und Darstellungen ist von Begriff und Analyse beherrscht; die Frage nach den historischen Kausalitäten ist - im Bewußtsein, daß jede Antwort hier nur relativ ist - wieder ganz in die Wissenschaft integriert, und gerade die multidimensionalen Untersuchungen von Kausalitäten haben den analytisch-begrifflichen Stil der Historie wesentlich geprägt. Und das ist insbesondere deshalb möglich, weil die begriffliche Analyse nicht mehr im Dienst einer Suche nach weltgeschichtlichen Gesetzen steht. Das gegenständliche Interesse der Geschichtswissenschaft hat sich von Ereignissen auf die Strukturen (die longue durée) verlagert, von der politischen und Geistesgeschichte auf die sogenannte Sozialgeschichte, also z. Β. auf die Ge­ schichte von Massen, Kollektiven, Unterschichten, durchschnittlichen Zeitge­ nossen; an der Ideengeschichte interessiert die Sozialgeschichte der Ideen, also nicht das erste Auftreten einer Idee und ihre Fortentwicklung, sondern die Frage, wie und warum sie sich durchsetzt. Und mit diesen Interessen geht häufig zusammen die Intention auf eine integrale, die Einzelgebiete des Lebens zusammenfassende Geschichte. Schließlich haben sich philosophische und kryptophilosophische Grundlagen der Historie verschoben. Wie immer es mit dem Verhältnis von Historie und Psychoanalyse stehen mag, niemand kann nach Freud und nach bestimmten Erscheinungen in totalitären Systemen mehr ohne weiteres von dem Modell des rational handelnden Menschen ausgehen. Die Entwicklung des Denkens in diesem Jahrhundert hat dazu geführt, daß der Vorrang der Kategorie der Substanz vor dem der Relation nicht mehr besteht, relationale Modelle erweisen sich zur Erklärung von Phänomenen zunehmend geeigneter. Die Kategorien von Geist und Ausdruck, Innen und Außen, verlieren an Bedeutung. Wenn z. Β. in der philosophischen Anthropologie A. Gehlen vom handelnden Men­ schen seinen Ausgang nimmt, wenn er die Institutionen als Grammatik und Syntax, in denen sich Antriebe und Instinkte bewegen, die Kulturen als Syste­ me von Bildern und Symbolen, in denen sich Handeln bewegt, beschreibt und damit das Handeln in seiner Bedingtheit begreift, so geht dieser Ansatz und diese Analyse über jede Innen-Außen-Spannung hinweg. Und ähnliches gilt für den Ansatz der Kulturanthropologie, für die Kultur nicht ein Werk- und Ausdruckssystem der die Kultur schaffenden Menschen ist, sondern ebenso und in eins damit ein System, das Verhalten prägt, das Personen in ihrer spezifischen Art schafft. Diese hier grobmaschig charakterisierte Lage, zu der auch die Re47

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zeption soziologischer und teilweise auch psychologischer Kategorien gehört, ermöglicht es, der anthropologischen Dimension unserer Wissenschaft größere Beachtung zu schenken. Freilich hat auch die sozial- und strukturgeschichtliche Richtung die anthropologischen Fragen zunächst kaum aufgegriffen. Eine Erörterung des Verhältnisses dieser Richtung zu unseren Fragen soll unser Problem, jetzt gewissermaßen von der anderen Seite, weiter aufklären. Der Gegenstand der Sozialgeschichte9 wird bestimmt als Geschichte der Struktur gesellschaftlicher Gebilde, gesellschaftlicher Gruppen oder Institutionen, des „inneren Baus der menschlichen Verbände“ (Brunner), als Geschichte der gesellschaftlichen Prozesse und gesellschaftlichen Lagen oder des „Gesellschaftlichen in seinen politischen oder wirtschaftlichen Bezügen“. Typische Gegenstände der Sozialgeschichte sind Agrarverfassung, Geschichte der Arbeiterklasse oder des Bürgertums in Relation zu anderen Klassen, zu Wirtschaft, Politik und Herrschaft, Klassenlage, ζ. Β. Einkommens-, Arbeits-, Wohn- und Rechtsverhältnisse und Mobilität, Klassenorganisation, das Verhältnis von sozialen und ökonomischen Interessen zur Politik, die soziale Zusammensetzung einer Partei, Herkunft und Organisation der Bürokratie, der Prozeß der Verstädterung, Strukturphänomene wie „Öffentlichkeit“ etc. Typische Begriffe sind Strukturbegriffe wie Feudalismus oder Kapitalismus. Zur Bearbeitung dieser Gegenstände bedarf es objektiver Daten, die soweit möglich quantifizierbar sind, die Statistik ist eine der notwendigen und typischen Hilfswissenschaften. Die Sozialgeschichte in Deutschland nun geht vorerst noch von einem, wie ich glaube, wesentlich verkürzten Begriff des sozialen Phänomens aus. Indem sie sich gegen eine individualisierende Geschichte, für die das Handeln einzelner Personen zentral war, wandte, indem sie gegenüber und neben der Freiheit des Menschen im geschichtlichen Prozeß seine soziale Bedingtheit zur Geltung brachte, hat sie die Zwischenzone, die Struktur der Person, die soziale Struktur und individuelles Handeln vermittelt, aus dem Blick gelassen. Soziale Lage, soziale Gebilde, soziale Prozesse stehen im Blick der Untersuchung, der Mensch, der in diesen Lagen, Gebilden, Prozessen lebt, tritt dagegen zurück10. Man geht gleichsam „von außen“, von den gesellschaftlichen Umständen auf die Menschen zu, ohne die Welt, in der sie leben, auch von ihrer „Innenseite“ her zu erfassen, ohne zu fragen, wie Menschen durch die soziale Welt geprägt werden, wie sich ihr Handeln und ihr Verhalten konstituiert. Die „objektive“, statistische Beschreibung der Lage oder des Prozesses rangiert vor dem „subjektiven“ Verhalten, das erst als konkrete Reaktion auf solche Lagen - Maschinensturm, Hungerrevolten, Organisation und Ideologiebildung der Arbeiterschaft ζ. Β. - vorkommt. Familie wird unter diesem Aspekt nach objektiven Daten - der Bevölkerungsgeschichte, der Rechtsgeschichte von Ehe und Ehescheidung, der Auflösung der Großfamilie - nicht aber nach ihrer „Innenseite“, nach dem Verhalten in familiären menschlichen Bezügen, den Vater-Sohn-Beziehungen etc. untersucht. Die hier beschriebene Orientierung der Sozialgeschichte auf einen Bereich jenseits der personal-anthropologischen Strukturen 48

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hängt zusammen damit, daß in der Abwendung von jeder Art von Geistesgeschichte der Auslegungshorizont, die vorgängige Weltinterpretation, die jeweiliges Handeln und Verhalten bestimmt, nicht eigentlich in Betracht gezogen wird. Man kann die Verkürzung der anthropologischen Dimension in der Sozialgeschichte schließlich auch und gerade da feststellen, wo Verhaltensweisen zum Thema gemacht werden. Die Sozialgeschichte sucht Korrelationen zwischen Lagen und Verhaltensweisen herzustellen, also z. Β. Korrelationen zwischen Schweinepreisen und dem Wahlverhalten einer ländlichen Wählerschaft, zwischen Konfession und unternehmerischer Betätigung, Klassenlage und Antisemitismus, Wohnort und Selbstmord, Industrialisierung und generativem Verhalten. Solche präzisen und objektivierbaren Korrelationen sind zur Analyse von Verhaltensweisen unerläßlich. Damit aber solches Verhalten wissenschaftlich begriffen werden kann, muß die Vermittlung zwischen beobachtbaren Umständen und beobachtbarem Verhalten geleistet werden. Es genügt nicht, sich mit allgemeinen mehr oder minder ausdrücklichen Annahmen über menschliches Verhalten und Handeln zu begnügen - daß ζ. Β. ökonomische Not eine politische Radikalisierung bewirke, während sie doch in religiösen Zeiten religiöse Akte, z. Β. eine Wallfahrt zur Folge hatte; es genügt nicht, empirisch gesicherte Verhaltensmodelle aus der Gegenwart auf die Vergangenheit zu übertragen, also die Entstehung des Urchristentums aus der enttäuschten Erwartung der Wiederkunft nach Analogie des Verhaltens von Autokäufern zu erklären; es genügt nicht, Modelle wie das des „Kleinbürgers“ oder des „Mittelstandes“ zu konstruieren, um damit das soziale Reservoir des Antisemitismus zu erklären, ohne solche Konstruktionen verifizieren zu können. Die Aufgabe, solche Korrelationen zu erklären, ist genau die einer anthropologischen Analyse. Ich nenne zwei Beispiele. Ein sozialhistorisches Problem ist der frappierende Wandel, der sich im politischen Verhalten des schleswig-holsteinischen Landvolks zwischen 1918 und 1933, in der Wendung von der Demokratie zum Nationalsozialismus vollzogen hat11. Um das zu begreifen, kann man Ideologie und Meinungsbildung, Organisationen und Aktionen dieser Gruppe analysieren. Man kann auch eine Vielzahl von sozialstatistischen und ökonomischen Daten zur Erklärung heranziehen. Aber beides reicht nicht aus. Worauf es ankommt, ist vielmehr beides zu vermitteln, Handelns- und Verhaltensweisen dieser Gruppe zu untersuchen, einen sozialpsychologischen Erklärungsansatz zu verfolgen. Ein glänzender journalistischer Romancier wie Fallada erfaßt die menschliche Wirklichkeit, die zwischen ökonomischen Bedingungen und politischen Prozessen lag, besser als die in bestimmten methodischen Restriktionen gebundene soziologische und historische Wissenschaft. - Ich selber habe mich mit der Sozialgeschichte der Volksschullehrer im deutschen Vormärz, der Stellung dieser Gruppe zur Revolution von 1848 beschäftigt12. Viele Faktoren sind zu berücksichtigen: Herkunft, Ausbildung, Rechtsstellung, Gehalt, Organisation und politische Betätigung, die pädagogischen Ideen der Zeit, das Verhältnis zur Kirche, das Verhältnis zum Staat. Um die revolutionären Sympathien 49 4

Nipperdey

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dieser Gruppe zu erklären, bedarf es zuletzt einer Analyse des sozialen Typs, des sozialen Charakters, die jene Faktoren in Beziehungen zueinander setzt: Welche Folgen die Diskrepanzen zwischen Herkunft aus der Unterschicht, anspruchsvoll idealistischer Bildung und idealistischem Auftrag, dem dürftigen Erfolg jener Bildung, der Dürftigkeit der ökonomischen Lage und der sozialen Stellung in der traditionellen Gesellschaft hatten, wie alle diese Gegebenheiten und Spannungen eine bestimmte Form des Verhaltens prägten, förderten oder provozierten. Wenn man diese Frage stellt, kommt man zu Hypothesen, die die Quellen neu erschließen, die zwischen Sozialstatistik, Politik und Selbstverständnis eine wirkliche Verbindung stiften. IV. Wir haben nach dem Versuch, einleitend einen Vorbegriff von dem zu geben, was wir anthropologische Struktur nennen, die historiographische Tradition und die sozialgeschichtliche Richtung unserer Wissenschaft kritisch analysiert, um durch die Diskussion der Ansätze und der Hindernisse für anthropologische Fragen diese Fragen näher zu konkretisieren und zu profilieren. In diesem letzten Abschnitt soll versucht werden, nun positiv einiges zur inhaltlichen Bestimmung, zu Kategorien und Gesichtspunkten und zu Methoden eines historisch-anthropologischen Fragens zu sagen. Wir gehen - noch einmal sei es wiederholt - davon aus, daß sich die menschlich-historische Welt in einem Dreiecksverhältnis von Gesellschaft, Kultur und Person konstituiert: gesellschaftliche, kulturelle und personale Strukturen stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Interdependenz, ein Tatbestand, den ζ. Β. jeder gute Zeitroman des 19. Jahrhunderts schon der vorwissenschaft­ lichen Anschauung deutlich macht. Diese Interdependenz über die abstrakten Modelle der Soziologie hinaus historisch aufzuhellen, ist die Aufgabe einer anthropologisch orientierten Geschichtswissenschaft. Wir gehen des Näheren davon aus, daß ein soziales und kulturelles System auf die Person bezogen ist, sie formt und von ihr her zu interpretieren ist. Gerade diese Perspektive ist die spezifisch anthropologische. Ein sozio-kulturelles System ist ein System von Sitten und Gewohnheiten, Modellen und Standards, die das Verhalten mehr oder weniger rigide regeln, die Legitimität von Zwecken und Mitteln, Handeln und Unterlassen, Wünschen und Neigungen definieren, die persönliche Orientierung durch Pflicht und Befriedigung formen und Weisen der Selbstverteidigung, des Ausgleichs von Antrieben und Anforderungen konstituieren, indem die Person diese sozialen Kontrollen im Prozeß der Sozialisation und Erziehung internalisiert. Auf die mögliche Unterscheidung der kulturellen Faktoren (Symbole, Religion, Kunst, Wissen, Volkstradition, common culture z. Β.) und der sozialen Faktoren (Normen, Rollenerwartungen, Gruppenloyalitäten, soziale Institutionen etc.) gehe ich hier nicht ein. Genug, diese Faktoren formen unbewußt, da nicht wählbar, die Grundlagen des Verhaltens, die patterns of behaviour, und zwar so, daß in diese Formung gerade die affektiven Mo50

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mente positiver Bindungen und negativer Verwerfungen eingehen. Was hier Person heißt, ist ein Typus von Personalität, und wir können ihn mit der amerikanischen Anthropologie als Basis- oder Modalperson bezeichnen. Aus diesem Ansatz folgt nun, daß ein soziales System in Bezug auf personale Strukturen beschrieben werden kann, daß seine wesentlichen Charakteristika, z. Β. Offen­ heit oder Geschlossenheit, Kohäsion und Wandelbarkeit, Spannungen und Ambivalenzen, gerade so erhellt werden können. Zugleich und umgekehrt folgt, daß personale Strukturen in Bezug auf ein soziales System beschrieben werden können. Und dasselbe gilt für die Beschreibung und Interpretation von Wandlungen, von Prozessen: der Wandel von Verhaltensweisen, von personalen Strukturen und der Wandel eines Systems, einer Kultur korrespondieren einander, anthropologischer Wandel wird durch sozialen Wandel, sozialer Wandel durch anthropologischen beschreibbar und begreifbar. Es besteht die Vermutung, daß diese Verfahren in besonderer Weise geeignet sein können, das Ganze einer historischen Welt und eines historischen Prozesses zu erfassen. Von seiten der Soziologie haben T. Parsons und seine Schüler bisher am meisten zur Ermittlung von Kategorien einer solchen anthropologischen System- und, das muß gegen ideologische Kritiker heute gesagt werden, Prozeßanalyse beigetragen. Die anthropologisch gerichtete Interpretation wird mit anderen Interpretationen konkurrieren, weil die Phänomene einer Vielfalt plausibler Interpretationen offenstehen, und ihr Wert wird sich daran messen, ob sie die Wirklichkeit und ihren Zusammenhang vielseitiger, umfassender und tiefer als andere Interpretationen erfaßt und vorhandene Widersprüche zu lösen geeignet ist. Um aber die erstrebte bessere Erkenntnis einer historischen Welt realistisch in der Forschung und nicht im Überstülpen von neuen Kategorien und Modellen voranzutreiben, müssen wir versuchen, die anthropologische Frage zu spezifizieren, konkretere Phänomene als Forschungsobjekte und konkretere Gesichtspunkte als Forschungsperspektiven zu benennen. Da sich viele solcher Objekte nicht quellenmäßig und nicht wissenschaftlich isolieren lassen, müssen wir zunächst Objektfelder nennen, die in allgemeinen oder spezielleren historischen Untersuchungen als Elemente der anthropologischen Dimension mitbeachtet werden müssen, ehe wir am Schluß auch speziellere Forschungsansätze erwähnen. Wenn wir soziale Strukturen, Herrschaft, Gesellschaft, Klassen etc. anthropologisch zu erfassen suchen, so bietet sich zunächst zwischen Sprache und Handlung, zwischen Institution und Person ein Komplex von Erwartungs- und Verhaltensdispositionen, Modellen für Aktion und Reaktion in je spezifischen Situationen an, den man als Attitüden beschreibt. Die den mitmenschlichen Umgang regelnden „Sitten“ und ihre Varianzbreite sind die bekanntesten Phänomene, von denen aus Attitüden als ihr personales Korrelat zugänglich werden. Aber man muß Sitte und Konvention auf die ganze Breite der menschlich sozialen Welt, ins Politische und ins Wirtschaftliche ζ. Β. ausdehnen, und die - objektivierten - Sitten auf ihre (oft verborgene) personale Bedeutung hin analysieren, um die Fülle der Attitüden als Elemente der menschlichen Welt in 51 4*

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den Blick zu bekommen. Zu der Analyse von Attitüden gehört dann einmal die Analyse von Mentalitäten, jener vagen, wenig reflektierten und gruppentypischen Vorstellungsgeflechte, in denen Anschauungs- und Denknormen wurzeln und den Untergrund der explizierten Norm- und Wertsysteme bilden. Hier liegt die legitime Funktion einer modernen Geistes- und Ideengeschichte für eine anthropologische Sozialgeschichte. Denn die Mentalität ist geprägt von den vorgängigen Interpretationshorizonten, in denen Menschen leben und sich und ihre Welt verstehen. Die Objektivierung solcher Interpretationshorizonte in den Werken der Kultur wird darum auch für das Verständnis der Mentalität und der Attitüden relevant. Wenn wir oben gegen die Geistesgeschichte eingewandt haben, daß sie sich einseitig am Vorrang der Sprache orientiert, so gilt hier nun umgekehrt, daß die Sprache, und d. h. die Interpretation zu den konstitutiven Prinzipien der sozialen Welt gehört. Auch die Statistik der Selbstmorde z. Β. muß auf vorgängige Interpretation, auf subjektiv nicht bewußten Sinn hin verstanden werden, und dieser Sinn ist wiederum nur im Gesamtrahmen einer Kultur zu erfassen. In anthropologischer Perspektive können wir Person und soziale Struktur nur begreifen, wenn wir die Ergebnisse und Fragestellungen der Geistesgeschichte einbeziehen und die traditionelle Geistesgeschichte zu einer Sozialgeschichte »der Ideen, einer Geschichte der Massen- und Gruppenkultur erweitern. Dabei schließt eine solche Durchdringung die Arbeitsteilung zwischen beiden Richtungen nicht nur nicht aus, sondern setzt sie geradezu voraus. - Zur Analyse der Mentalität gibt es natürlich schon seit langem wichtige Beiträge, aber sie beschränken sich anders als bei Sitte und Attitüde im allgemeinen auf die Analyse der politischen Mentalität und der Mentalität im Verhältnis der sozialen Schichten, der Stände und Klassen zueinander, ζ. Β. der Einstellung des Bürgertums zum Adel etc.13. Es kommt aber darauf an, ähnlich wie in einer guten Biographie, alle relevanten Züge der Vorstellungswelt einer sozialen Schicht zu analysieren und aufeinander zu beziehen und das Verhältnis der einzelnen Züge zueinander - Zusammenhang, Unabhängigkeit, Widerspruch - zu klären. Zu der Analyse von Attitüden gehört sodann die Frage nach den sozialen Stilisierungen. Auch hier gilt es, hinter die Auslegungen und Objektivationen des Handelns zurückzufragen und die Selbstverständlichkeiten, die subjektiv nicht mehr bewußten Werte und Normen und die personalen Strukturen herauszuarbeiten, die die Form des Handelns historisch bestimmen. Nicht allein, was die Leute an der Grenze gesagt und gedacht haben, sondern mehr noch, was sie getan haben, und vor allem, wie sie es getan haben, bezeugt eine spezifische Handlungsform und einen spezifischen Handlungssinn. Beim politischen Handeln würden dann an die Stelle der Veränderungen der Vorstellungen und Ziele die Veränderungen seiner Struktur, des Verhältnisses von Zielsetzung und Mittelwahl, Antrieben, Motivation und prognostischer Orientierung, der Modelle und leitenden Autoritäten oder der Rolle der Rationalität und der Affekte in den Mittelpunkt einer Analyse rücken. Die Art der Kooperation, die möglichen Konflikte und ihre Regelungen, die Variationsbreite des legitimier52

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ten Verhaltens, die möglichen Abweichungen von der eigenen Schicht und die geltenden Sanktionen oder die Möglichkeiten und Bedingungen von Neuerungen - das alles könnte sich bei einer Analyse der Handlungsstruktur ergeben. Von so ermittelten Handlungsstrukturen und Verhaltensdispositionen her können dann auch Institutionen und soziale Gebilde, die ja keine sozusagen metaphysische Eigenexistenz haben, besser verstanden werden; erst so ist die Geschichte, die doch empirisch zunächst und zumeist Geschichte von Institutionen ist, im eigentlichen Sinne Geschichte des Menschen. In diesen Zusammenhang gehört dann die Geschichte von Emotionen, also die Geschichte von Furcht und Hoffnung, Freude und Aggression, Weinen und Lachen, Grausamkeit und Rache, Begierde und Großmut, Liebe und Haß, Stabilität und Ambivalenz von Gefühlslagen: das sind keine als historische Gegenstände abgrenzbare Bereiche, aber es sind Elemente der Lebenswirklichkeit, die in eine Systemanalyse eingehen müssen und in speziellere Bereiche des historischen Forschens eingehen können. Erst von der Einbeziehung der Emotionen her lassen sich die historischen Probleme der Modalperson klären. Warum sind die Menschen einer vergangenen Zeit und Welt so anders, und wie sind sie anders? Welches sind historisch die Kräfte, die die Person von innen oder außen integrieren, die Selbstkontrolle stabilisieren, Aktivität und Initiative oder das Gegenteil bedingen, die das Statusbewußtsein sichern oder gefährden, welcher Spielraum von Alternativen in der Ausbildung der Person ist gegeben, wie ist die Balance der Beziehungen des einzelnen zum andern, zur Gesellschaft, zur Umwelt? Von daher lassen sich das emotionale Klima und die emotionalen Dispositionen einer Zeit, Vitalität, Dynamik, Statik oder Stabilität, die Art der Instinktreaktion, das Verhältnis von Spontaneität und Konventionalität ermitteln. Ebenso ist die Geschichte der Wahrnehmung ein historisch-anthropologisches Problem, weil die Wahrnehmung, wie z. Β. Lucien Fèvre gezeigt hat14, von Emotionen und Interessen, unbewußten Überzeugungen und bewußten Wertorientierungen, von Stabilität und Instabilität der Person historisch bedingt sein kann. In diesem Zusammenhang ist auch auf das heute viel diskutierte Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse einzugehen15. Zunächst ist klar und durch vorliegende Untersuchungen erwiesen16, daß psychoanalytische Methoden und Theorien der historischen Biographie neue Dimensionen eröffnen, zur Lösung biographischer Probleme Wesentliches beigetragen haben. Aber die Frage ist, was die Psychoanalyse für unsere sozialgeschichtlich-anthropologischen Probleme leisten kann. Hier ergeben sich Einwände. Gegen die Übertragung psychoanalytischer Methoden auf Kollektivgebilde läßt sich einwenden, daß Probleme der individuellen Entwicklung nicht einfach auf Kollektive übertragen werden können. Zum Beispiel ist die Eriksonsche Kategorie der Identitätskrise von der Definition her an individuellen Lebenszyklus und Familie gebunden, und ihre Übertragung auf Sozialgebilde, wie das modische Reden von nationalen Identitätskrisen, ist außerordentlich problematisch17. Die Übertragung genuin psychoanalytischer Methoden auf eine Mehrzahl paralleler 53

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Biographien, die zu einem anthropologischen „Profil“ einer Generation, einer Gruppe, einer Zeit führen können, ist gemeinhin wegen der Quellenlage nicht durchführbar. Versuche, einen Sozialcharakter aus der Eltern-Kind-Beziehung herzuleiten, also streng an der Methode der Psychoanalyse festzuhalten, scheitern im Bereich der Geschichte zumeist, weil normalerweise das Material fehlt18. Im übrigen sind solche Versuche auch deshalb fragwürdig, weil bestimmte Erziehungsweisen eine sehr breite Skala von Ideen und Aktionen zulassen, so daß die Herleitung aus der Eltern-Kind-Beziehung zu allgemein bleibt, um konkrete Probleme klären zu können. Ähnliches gilt für die Methode des bekannten Werkes von Adorno und anderen, The Authoritarian Personality, ein Werk, das im Zuge der gegenwärtigen Mode gern als Vorbild für Historiker - z. Β. bei der Untersuchung des Antisemitismus im 19. Jahrhun­ dert - ausgegeben wird19. Die Frage, wie denn personale Faktoren und Moti­ ve mit politischen und sozialen Aktionen und mit entsprechendem Verhalten vermittelt werden, bleibt bei diesem Ansatz unbeantwortet und unbeantwortbar; mit Recht ist der Erklärungswert dieser Theorie mit dem solcher „Theorien“ verglichen worden, die das Klima als historische Ursache angaben20. Zudem beruht die Untersuchung auf einer fragwürdigen Voraussetzung: der Identifikation von autoritär und „rechts“ - von autoritären Strukturen im Kommunismus nimmt sie keine Kenntnis. Das ist kein Zufall. Die starke Neigung vieler psychoanalytischer Versuche, die über die individuelle Therapie hinausgehen, zu unsicheren Hypothesen und kühnen Konstruktionen21, deutlich am schnellen Wechsel von Forschungsansätzen zutage tretend, scheint Vorbehalt und Reserve des Historikers gegenüber diesen Methoden zu legitimieren. Trotz solcher Einschränkungen aber ist ein Beitrag der Psychoanalyse zur Historie auch jenseits der Biographie möglich. Die Psychoanalyse selbst hat sich historisiert, sie geht nicht mehr einfach von immer gleichbleibenden Elementen und Prozessen des psychischen Systems aus, sondern setzt diese in Beziehung zu einer je spezifischen sozialkulturellen Umwelt. Die Erkenntnis z. Β., daß Freuds Modell des Ödipus-Komplexes wesentlich von den historisch-sozialen Bedingungen seiner Wiener Umwelt und seiner väterlichen Traditionswelt abhängig ist, ist dafür ein Beispiel, das zugleich die Möglichkeit empirisch-historischer Korrektur von Modellen auch in diesem Bereich erweist. Die schon angeführten anthropologischen Probleme innerhalb der Historie verweisen ihrerseits mindestens auf die psychoanalytischen Fragen. Traditionell operiert der Historiker mit einer Logik, nach der Ideen, Meinungen und ökonomische oder soziale Interessen die handelnden und duldenden Menschen leiten; Passionen und Emotionen spielen bei solcher Betrachtung keine wesentliche Rolle. Nun gibt es aber Phänomene, die auf jene rationale Weise nicht erklärt werden können, Widersprüche, überschießende Leidenschaften, Verhaltensweisen, die man dann als pathologisch qualifiziert, und überdies kann, wie gesagt, die Beschreibung historischer Systeme und Prozesse unter anthropologischer Perspektive nicht auf den die Person mit konstituierenden Bereich der Emotionen verzichten. Das Begreifen von Irrationalem 54

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und Emotionalem aber wird durch Rezeption der Psychoanalyse wesentlich gefördert. Ein Beispiel: ein amerikanischer Soziologe und ein amerikanischer Historiker, Platt und Weinstein22, haben mit psychoanalytischen Kategorien versucht, ein bekanntes und fundamentales Problem revolutionärer Bewegungen neu zu erklären, warum sich nämlich im Namen der Freiheit rigide, autoritäre, totalitäre Züge ausbilden. Mit dem Wunsch - so diese Interpretation - nach Autonomie und Freiheit, gerade weil er sich auf seine Zukunft hin und gegen eine Vergangenheit richtet, geht die Verdrängung der affektiven Bindungen an die Vergangenheit und die Repression persönlicher Ängste einher, diese Verdrängung tendiert zur Rigidität; oder aus dem Kampf gegen eine internalisierte traditionelle Autorität und der unbewußten Bindung an jene Autorität ergibt sich eine Ambivalenz, bei der wiederum der unbewußt autoritäre Zug durchschlägt. Das wird m. E. mit Gewinn an Rousseau und Robespierre und der Französischen Revolution exemplifiziert. Und diese Autoren haben weiterhin versucht, typische Schuldgefühle zu ermitteln und zu klären, wie diese die Lebensbewältigung, die Weltorientierung und das politisch-soziale Handeln beeinflussen und wie dadurch diese Phänomene besser als bisher begriffen werden können. Mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien lassen sich, das zeigt sich an dieser Untersuchung, Quellen neu lesen; so bekommt etwa das aus der Strukturgeschichte verbannte Anekdotische einen neuen Stellenwert. Auch unserer bisherigen Annahme, daß sich die Person durch Internalisierung der Werte und Normen des sozialen und kulturellen Systems konstituiert, liegt ein im weiteren Sinne von der Psychoanalyse beeinflußtes Modell zugrunde. Die obengenannten Bedenken gegen die psychoanalytische Konstruktion einer Modalperson, eines Sozialcharakters müssen als Einschränkungen und Korrektive verstanden werden, nicht aber als Verbote. Der „psycho-historische“ Ansatz, daß wir von sichtbaren Änderungen des Verhaltens auf unsichtbare, z. Β. emotionale Voraussetzungen dieser Änderungen schließen wollen, führt nicht ins Leere; er hat aber zur Bedingung, daß die Strategien zum Beweis von Hypothesen, die auf solchen Modellen beruhen, mit besonderer Sorgfalt ausgearbeitet werden müssen. Die Entscheidung über die Anwendbarkeit solcher Kategorien und Modelle wird sich danach ergeben, ob sie genügend historisiert und einer Korrektur offen sind, ob die Quellenlage eine Verifizierung zuläßt, ob der bloße Analogieschluß vom Individuellen auf das Kollektive vermieden wird, ob die Reichweite solcher Modelle exakt begrenzt ist, letzten Endes, ob komplexe und widersprüchliche Phänomene besser, vielseitiger, differenzierter als mit herkömmlichen Methoden erklärt werden können. Ganz entscheidend ist dabei wiederum, die Interdependenz von Kultur, sozialer Welt und Person als methodischen Ausgangspunkt zu fixieren; wie jeder soziologistische oder geistesgeschichtliche, so muß auch jeder psychologistische Reduktionismus abgewiesen werden. „Psychohistorie“ wird weder die Fundamental- noch eine Spezialdisziplin der Historie werden können, wohl aber eine neue Perspektive. Die Voraussetzung all solcher Bemühungen ist ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Empirie. Während der Historiker für Sonderbereiche seiner 55

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Wissenschaft immer die Kenntnis entsprechender systematischer Wissenschaften wie der Rechts- und Staatswissenschaften, der Nationalökonomie oder der Theologie, vorausgesetzt hat, geht er gemeinhin beim Verstehen und Begreifen von Handeln und Verhalten der Menschen von einer unausdrücklichen und unreflektierten, gewissermaßen selbstverständlichen vorwissenschaftlichen Empirie aus. Das aber ist naiv23. Verfügbare Modelle, wie Soziologie und Psychologie sie erarbeitet haben, müssen genützt werden, weil sie bestimmte Dinge überhaupt erst sehen und erfassen lassen. Insofern ist die Rezeption psychoanalytischer Methoden für den Historiker, der die anthropologischen Fragen in seine Forschung einbezieht, sinnvoll und notwendig. Das Ziel der skizzierten Untersuchungen von Verhaltens- und Handlungsformen ist es zunächst, das Ganze von gruppen- und zeittypischen Sozialcharakteren zu ermitteln. Die Beziehungen von „privatem“ und „öffentlichem“ Verhalten könnten dann durchsichtiger werden. Das, was der gute Zeitroman des 19. Jahrhunderts der Anschauung vermittelt, zeittypische Charaktere, könnte dann jenseits von Intuition und Impression auf dem Boden der Wissenschaft behandelt werden - die Frage z. Β., ob Gontscharows Oblomow, wie Zeitgenossen und Nachfahren bis hin zu Lenin angenommen haben, eine cha­ rakteristisch russische Lebenshaltung, bedingt durch die Institutionen und sie wiederum bedingend, wiedergibt oder nicht. Von Basisperson und Sozialcha­ rakter her läßt sich dann auch das Ganze einer sozialen und kulturellen Welt mit ihren Institutionen und Interpretationen begreifen - und vielleicht einheitlicher begreifen als bisher. Und konkret lassen sich dann die oben genannten Korrelationen zwischen „objektiven“ sozialen Umständen und „subjektivem“ Verhalten erklären. Für die Beachtung dieser Gesichtspunkte werden alle Quellen, die sich auf das alltägliche Leben der Menschen in den verschiedenen Gruppen beziehen, wichtig, private Hinterlassenschaft in ihrer Privatheit, Prozeßberichte, Berichte von Landschafts- oder Schichtfremden und eben Zeitliteratur (so viele Schwierigkeiten das Medium des Autors hier schafft), um nur weniges zu nennen. Und zugleich wird vieles in Quellen, was für eine rein politische, ökonomische oder ideengeschichtliche Interpretation nebensächlich scheint, besonders wichtig. Die in dieser Abhandlung erwähnten historischen Werke beweisen m. E., daß es für die anthropologischen Probleme spezifisches Quellenmaterial gibt. Das Ziel der skizzierten Untersuchungen ist aber nicht nur die Erkenntnis einer - statisch aufgefaßten - historischen Welt von den personalen Strukturen her, sondern ebenso die Erkenntnis der Prozesse, des sozialen und kulturellen Wandels. Max Webers Ansatz, die abendländische Geschichte als Geschichte der Rationalisierung, und der korrespondierende Ansatz, die Moderne unter den Kategorien Autonomie und Emanzipation zu beschreiben, läßt sich anthropologisch explizieren: Wie sich die rationale Kontrolle und die Fähigkeit des Kalkulierens von Ergebnissen, das Selbstwählen von Zielen und Mitteln, die Strukturierung der Welt gemäß diesen Maßstäben entwickelt hat, wie die affekterfüllten dinglichen und sozialen Bindungen und Beziehungen des Men56

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schen sich entemotionalisiert haben, wie also die emotional affektive Seite des menschlichen Lebens sich von der rationalen Seite getrennt hat und die Vorherrschaft der Rationalität zugenommen hat und wie diese Tatsache auf das Insgesamt des Lebens zurückgewirkt hat. Ähnliches gilt für den Prozeß der Industrialisierung, der erst durch eine anthropologische Perspektive in seinem fundamentalen und universalen Charakter deutlich wird. Hier liegen bereits zwei wichtige historische Untersuchungen vor, die die anthropologische Dimension voll zur Geltung bringen und die insofern für meine Ausführungen exemplarischen Charakter haben. Freilich mit charakteristischem Unterschied. Das ist zunächst N. J . Smelser24. Smelser geht von dem Parsonschen Modell des sozialen Wandels aus und wendet es auf das historische Material an, ja erschließt dieses Material teilweise neu. Dabei kommt er zu bedeutenden neuen Ergebnissen über den Wandel von Mentalität und Attitüden, Normvorstellungen und Legitimationen, Phantasieverhalten, Rollen und Rollenerwartungen, vor allem im Bereich von Arbeit und Familie, aber auch im Bereich der ökonomisch-sozialen und der politischen Gruppenbildung. Der systemtheoretische Ansatz, die Frage nach Störung und Neubildung eines Gleichgewichts, ist dabei für die anthropologische Bedeutung der Untersuchung und ihrer Ergebnisse interessant, aber nicht ausschlaggebend; die Frage, ob Strukturen des sogenannten sozialen Wandels selbst wandelbar sind, braucht deshalb in diesem Zusammenhang nicht erörtert zu werden. Das ist zum andern Rudolf Braun25, der von einem zunächst ganz empirischen Ausgangspunkt mit den Mitteln der Volkskunde die Geschichte des Volkslebens in einer Landschaft während des Industrialisierungsprozesses beschreibt und analysiert; unter den Fragen nach dem Verhältnis von Mensch, Mitwelt und dinglicher Umwelt werden neue Quellengruppen erschlossen und traditionelle Quellen neu ausgewertet, es entsteht eine Geschichte der Wandlungen des Menschen in konkreten Gruppen und Zeiträumen, und damit wird das anthropologische Programm einer neuen Sozialgeschichte in hohem Maße erfüllt. Wir haben hier in der Hauptsache Kategorien und Gesichtspunkte genannt, die für die anthropologische Dimension bei der Gesamtinterpretation von Kulturen, Zeitaltern oder Gesellschaften („Systemen“) und für die Interpretation von Prozessen wichtig sind, sie verweisen zwar auch auf bestimmte Phänomengruppen, aber sie lassen sich schlecht operationalisieren, insofern die Phänomene schlecht isolierbar sind und daher kaum sinnvoll zum Gegenstand eigener Forschung gemacht werden können. Aber aus unserer Fragerichtung ergeben sich auch ganz spezielle Forschungsthemen, die zwar keineswegs neu entdeckt werden müssen, die aber unter unserer Fragestellung eine sehr viel größere und universal wichtigere Bedeutung bekommen. Solche Themen sind z. Β., und ich beschränke mich hier auf Themen aus dem Bereich der „industriellen Welt“, der Wandel der Familienstruktur seit dem 18. Jahrhundert: die Ausgliederung der Kernfamilie, die Entsachlichung, Individualisierung, das Schicksal der Autorität und die Widerspiegelung dieser Wandlung im Wohn-, Haushaltungsund Erziehungsstil und ihre Wirkung auf die Bildung der Charaktere; gerade 57

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der außerordentlich hohe Stellenwert der Familie und der Familienbindung für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts verdiente eine eingehende Untersuchung. Oder die Veränderung des Sozialcharakters durch die mit der Emanzipation verbundenen Veränderungen der Rolle der Frau. Oder eine Geschichte der Erziehung, die die Wandlungen des Prozesses analysiert, in dem die Gesellschaft ihre Anschauungen und Normen tradiert und in dem der einzelne bruchlos oder sie umbildend in sie hineinwächst, eine Wandlung, die in dem Zeitalter, in dem die allgemeine Schulpflicht entsteht und sich damit die nächsten Autoritäten des Kindes grundlegend verschieben, besonders intensiv gewesen ist - und in diesem Zusammenhang eine Geschichte der Jugend, für die etwa Η. Η. Mu­ chow und W. Roeßler interessante Ansätze vorgelegt haben26, oder überhaupt eine Geschichte der Generationen. Oder - eine andere Themengruppe - die Urbanisierung als ein Prozeß der Urbanisierung der Verhaltensweisen, z. Β. in der Entwicklung von der Landarbeiterschaft zum Industrieproletariat; das Problem der Frauen- und Kinderarbeit etwa könnte dann besser verstanden werden. Oder wieder ein anderer Untersuchungsgegenstand, die Bedeutung der Leistungsmotivation für die unterschiedliche Verteilung und Intensität des Industrialisierungsprozesses in verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Völkern, eine Frage, die über religionssoziologische und ideologiegeschichtliche Hypothesen hinaus untersucht werden muß27. Oder eine analytische Geschichte des moralischen Verhaltens oder eine Geschichte des Verbrechens und seiner Wandlungen, die für die historisch-anthropologischen Fragestellungen, als Beispiel der Anomie, von besonderer Bedeutung wäre. Alle diese Themen fassen sich dann wiederum zusammen in der Untersuchung der personalen Grundstrukturen innerhalb gesellschaftlicher Einheiten, der Biographie von Gruppen. Die hier genannten Ansätze gilt es einesteils zu historisieren, andernteils mit Reflexion, Systematik und Energie in der sozial- und strukturgeschichtlichen Forschung zu intensivieren und weiterzutreiben. Gerade die Untersuchungen von Smelser und Braun zeigen, daß die erheblichen methodischen Schwierigkeiten solcher Arbeit, das Auffinden neuer Quellen und die Neuinterpretation unter diesem Aspekt relevant werdender Quellen, die Unterscheidung von Verhaltensweisen und ihrer sprachlichen Reflexion in Eigen- und Fremdaussagen, die Anwendung theoretischer Modelle und ihre Korrektur an Quellen und Sachverhalten nicht unlösbar sind; das Studium von Phasen des sozialen und kulturellen Wandels und der Vergleich scheinen die wichtigsten Ansatzpunkte historisch-anthropologischer Forschung. Es kommt nicht darauf an, eine neue Spezialdisziplin zu begründen oder gar eine neue historische „Grundlagenwissenschaft“, sondern darauf, den Historiker in all seinen traditionellen wie jeweils neuen Arbeitsbereichen auf die erörterten Fragen zu verweisen, um auf diese Weise einer modernen, differenzierteren, vielfältigeren Erkenntnis der Vergangenheit und der Erkenntnis des Ganzen von Zeitaltern und Prozessen näherzukommen.

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3. Historismus und Historismuskritik heute Bemerkungen zur Diskussion I. Zur Frage nach der Funktion der Geschichte in unserer Zeit gehört angesichts des Doppelsinnes von Geschichte - geschehene und dargestellte Geschichte - auch die Frage nach der Funktion der Geschichtswissenschaft, der Geschichtsforschung und -darstellung. Wenn Geschichtswissenschaft - und davon gehe ich aus - auch in unserer Zeit eine Funktion oder besser eine Reihe von Funktionen erfüllt, wenn es aber zugleich strittig ist, welche Funktionen das sind, so kommt viel darauf an, welche Art von Geschichtswissenschaft wir meinen, auf welche ontologischen, logischen und methodologischen Voraussetzungen und Grundlagen wir uns beziehen. In diesem Zusammenhang ist darum die Frage nach dem sogenannten Historismus von besonderer Wichtigkeit. Formal verstehen wir dabei unter Historismus einmal die große geistige Bewegung, in der im 19. Jahrhundert die historischen Wissenschaften im modernen Sinne neu begründet worden sind, und sodann den Komplex der logisch-methodologischen (gelegentlich auch ontologischen) Grundlagen, auf denen insbesondere die Geschichtswissenschaft seither, und also traditionellerweise aufbaut. Mit Historismus wird also der traditionell gefaßte Komplex der historischen Methode (und ihrer logisch-ontologischen Implikationen) bezeichnet. Der Historismus ist heute wieder - wie zu Beginn des Jahrhunderts, wie in den 20er Jahren - Thema einer Grundlagendiskussion. Diese Diskussion ist freilich in vieler Hinsicht unbefriedigend. Die analytischen Wissenschaftstheoretiker der verschiedenen Spielarten greifen Grundelemente der historistischen Methodologie an, aber sie beeinflussen die Debatte der Historiker einstweilen nur am Rande. Auch der orthodox marxistische Angriff auf den Historismus spielt in der wissenschaftlichen Debatte keine ausschlaggebende Rolle. In der Debatte der Historiker dominiert nicht mehr, wie zur Zeit Troeltschs, die Krise des Historismus, sondern die Kritik des Historismus, die Parole von einer Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, einer nachhistoristischen, gelegentlich auch im Sinne der Frankfurter Schule „kritischen“ Geschichtswissenschaft. Und bei den radikaleren Angriffen wird Historismus zum Feindbegriff, Historismus ist nicht nur nicht mehr zeitgemäß, sondern ist eine Ideologie, er hat die Historie in die Irre geführt, es gilt, ihn zu „destruieren“. Wo solche Kritik das Feld beherrscht, ist die Diskussion emotionalisiert und moralisiert; Historismus gilt dann als unmodern, unwissenschaftlich, ideologisch und reaktionär - wobei die Ideologie„kritiker“, wie heute üblich, das Monopol der 59

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Ideologiefreiheit für sich selbst beanspruchen. Die Emotionalisierung hängt damit zusammen, daß das Problem des Historismus von den Kritikern nicht nur als wissenschaftsmethodisches, sondern als wissenschaftstranszendentes Problem, als Problem des „Praxisbezugs“ der Geschichtswissenschaft im Sinne nicht einer Feststellung, sondern einer moralischen Forderung gefaßt wird. Auf der anderen Seite gibt es in dieser Diskussion kaum prononcierte und sich explizierende Verteidiger des Historismus. Die antikritische Reflexion bewegt sich im Bereich der Modifikationen und Abschwächungen, im Bereich der Grenzberichtigungen. Die Selbstbehauptung des Historismus findet eher in der Praxis der Wissenschaft, jenseits von Grundlagenreflexionen, statt. Mit dieser Diskussionslage hängt zusammen, daß ungeklärt ist, was denn eigentlich Historismus sei, was ihn ausmache. Die Definitionen sind vage und sie sind strittig. Historismus gilt den einen als Methode, genauer als Methodologie, als Wissenschaftstheorie, den andern als metaphysisch begründete Weltanschauung mit politischen Implikationen. Den einen gilt er als status-quo-orientiert, weil er der Vergangenheit zugewandt ist und sie rechtfertigt, die Traditionen und die Institutionen betont; den andern als revolutionär, weil er - wie Karl Mannheim dargelegt hat - die menschliche Welt entnaturalisiert und enttheologisiert hat, weil er sie durch den Aufweis des Entstandenseins, des Entstehens und Sichveränderns historisiert und damit die Veränderbarkeit der Welt zu einem unverlierbaren Bestand unserer Lebenseinstellung gemacht hat. Den kritischen Rationalisten oder den von der analytischen Wissenschaftstheorie Beeinflußten gilt er als irrationalistisch-subjektivistisch, den dialektischen Neokritikern als objektivistisch. Auch die einzelnen Richtungen der Kritik sind oft in sich widersprüchlich; wo man den Historismus als Objektivismus kritisiert, zielt die Kritik auf Ranke und benutzt die Argumente Droysens, der doch ebenso zum Historismus zählt wie Ranke. Die Verfechter einer „emanzipatorischen“ Geschichtswissenschaft betonen gegen den vermuteten „Idealismus“ der Historisten die Bedeutung der sozialen Strukturen und ihrer Zwänge und zugleich das emanzipatorische Freiheitspathos, wie es die liberalen Historisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die Soziologie Comtes und seiner Nachfolger nicht weniger scharf getan haben. Gelegentlich hat man den Eindruck, daß bestimmte Richtungen der Geschichtswissenschaft das, was sie an deren Tradition nicht mögen, Historismus nennen und daß Historismus so zu einem bloßen polemischen Feind- oder Abgrenzungsbegriff wird, der kaum noch analytische Bedeutung hat, dessen Gehalt vage bleibt. Darum löst die Debatte um Historismus und Historismuskritik, bei mir jedenfalls, ein intellektuelles Unbehagen aus. Die kritische Unruhe in der Grundlagendebatte, die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der Kritik, die Vagheit und die Strittigkeit der Definitionen, die Zurückhaltung der Historisten, das Fehlen einer anerkannten gemeinsamen Basis, auf der der Streit ausgetragen werden kann - das liegt m. E. an einem Traditionsbruch, in dem wir schon lange leben. Alle ernsthaften Kritiker des Historismus und ebenso alle, die ernsthaft an seiner Umformung arbeiten, 60

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haben oft genug betont - und ich habe mich in meinen theoretischen Bemühungen um eine historische Anthropologie daran nach Kräften beteiligt -, daß die traditionellen Methoden und Fragestellungen und zumal die dahinterstehende Logik der Geschichtswissenschaft den modernen Problemen der Wissenschaft, wie sie sich aus dem Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst, aus der Entwicklung der Nachbarwissenschaften, zumal der Soziologie, und aus den Strukturen unserer Welt ergeben haben, nicht mehr voll gerecht werden. Aber mir kommt es hier zunächst auf etwas anderes an. Die Kategorien, in denen die Begründer des Historismus und noch unsere Väter und Großväter die Diskussion geführt haben, bereiten dem heutigen Problembewußtsein, der heutigen Reflexion erhebliche Schwierigkeiten: Individualität, Entwicklung, Verstehen, Geist, das sind Begriffe, denen unmittelbar kein eindeutiger Sinn mehr zuzuordnen ist. Eine heute noch oder heute wieder lesbare Geschichte des Historismus, die die Bedingungen der modernen Diskussion erfüllt, gibt es nicht, weder Meinecke noch Srbik erfüllen dieses Postulat. Trotz der Vielfalt und Widersprüchlichkeiten der heutigen Historismuskritik und trotz der Vagheit und Widersprüchlichkeit der Historismusdefinitionen lassen sich nun natürlich doch gewisse immer wiederkehrende Einwände und gewisse Kategorien feststellen, und von daher lassen sich dann der Diskussionsrahmen abstecken, die Diskussionsprobleme deutlicher und schärfer fassen. Ich nenne - ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Systematik und ohne jetzt über die Legitimität solcher Kritik zu urteilen - einige der wichtigsten heute vorgebrachten Gesichtspunkte. a) Historismus gilt als eine kontemplative Einstellung gegenüber der Vergangenheit, die auf die Reflexion des eigenen „Praxisbezuges“ verzichtet und sich von der Zukunft abschneidet. b) Historismus gilt als eine Form des Objektivismus, als geleitet von einem Objektivitätsideal, wie es klassisch von Ranke formuliert worden ist. Dagegen wird zweierlei eingewandt. Indem der zu Ende geführte Historismus gerade die Historizität historischer Erkenntnisse, vor allem angesichts der Fragen der Auswahlproblematik, erwiesen habe, habe er selbst diesen Objektivismus widerlegt: der Objektivismus sei nicht möglich. Daneben oder darüber hinaus gilt der Objektivismus als verwerflich, weil er die Parteinahme für bessere Möglichkeiten, für den Fortschritt, für die Emanzipation, was immer das heißen mag, ausschließe. Droysens Rede von einer eunuchenhaften Haltung dieses Objektivismus, der das Ich auslöschen wollte, um nur festzustellen, wie es eigentlich gewesen, wird gegen den ganzen Historismus ins Feld geführt. c) Historismus gilt als Ideologie des Status quo oder als Ideologie, die den Status quo befestigt, und d. h. als konservative oder bürgerliche Ideologie. Dafür werden die politische Haltung der Historisten und ihre Staatsideologie ebenso ins Feld geführt wie die apologetische Wirkung des Objektivismus, der Orientierung an offiziellen Quellen und des Prinzips, jede Zeit (nur) an ihren eigenen Maßstäben zu messen. 61

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d) Der Historismus ziele, so wird eingewandt, auf das Einmalige, auf die sogenannte Individualität in der Vergangenheit. Damit würden einerseits die lang dauernden Strukturen verkannt, andererseits beraube man sich der Möglichkeiten, durch generalisierende, typisierende und komparative Methoden Erkenntnisse zu gewinnen. Schließlich löse sich bei dieser Individualisierung die Kontinuität der Geschichte, die Möglichkeit einer Weltgeschichte (einstweilen im altmodischen Sinne einer Geschichte der mittelmeerisch-europäisch-atlantischen Völker) auf. e) Der Historismus gilt als an Anschauung, an Deskription und Erzählung orientiert. Wo er nicht gar das Unmögliche wolle, nämlich die Vergangenheit wieder erstehen lassen, da verfehle er doch die Möglichkeiten von Begriff und Analyse und damit die eigentlichen Instrumente der Erkenntnis. f) Der Historismus, so heißt es, sei methodisch fixiert an eine unklare und metaphysisch idealistische Kategorie, nämlich den Begriff des Verstehens. Dagegen werden vor allem drei Einwände vorgebracht. Die kritischen Rationalisten wenden ein, der vielleicht heuristisch brauchbare Begriff des Verstehens werde als methodologischer Begriff irrational - wie sich das etwa in dem alten Nachbarbegriff der „Einfühlung“ verrate. Der Gegensatz Verstehen/Erklären sei wissenschaftstheoretisch unhaltbar, die notwendige Bezugnahme auf allgemeine Gesetze (Popper-Hempel-Modell) in historischen Begründungssätzen - und damit das Problem der Kausalität - werde durch die Verstehenstheorie ignoriert. Die anti„idealistischen“ Historiker wenden ein, das Verstehen sei auf das Bewußtsein bezogen, das Selbstverständnis der Handelnden als Gegenstand des Verstehens auf das Selbstbewußtsein, auf die Intentionalität des Handelns beschränkt; damit würden aber die auf Bewußtsein und Intention übergreifenden strukturellen und zumal sozialen Bedingungen verkannt, ja aus der Vergangenheit ausgeschieden. Damit werde zugleich die Kausalanalyse abgewertet und durch bloße Beschreibung ersetzt. Schließlich, und das folgt aus beiden genannten Einwänden: die konsequent historistische Verstehenstheorie führe dazu, die individuellen Phänomene der Geschichte nur aus sich selbst zu interpretieren und d. h. in ihrer eigenen Begrifflichkeit. Hier hängt der Einwand gegen den Verstehensbegriff mit den Einwänden gegen Individualität und Objektivität besonders eng zusammen. Von daher kann ζ. Β. H.-U. Wehler Otto Brunner als „Neohistoristen“ bezeichnen. g) Mit der Kritik der kritisch-rationalistischen Wissenschaftstheorie am Ver­ stehensbegriff ist implizit die Kritik am Subjektivismus des Historismus, seine ausdrückliche Bezugnahme auf die eigene Gegenwart und die eigene Situation verbunden. h) Weiter wird dem Historismus vorgeworfen, unter seinen Voraussetzungen hätten die Historiker nur politische Geschichte und Geistesgeschichte betrieben und betreiben können, nicht aber Sozialgeschichte. Als Wissenschaftstheorie führe der Historismus nur zu einem verkümmerten und verengten Begriff von Vergangenheit. 62

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i) Schließlich die marxistische Kritik: Der Historismus verkenne das Gesetz oder die Gesetze der Geschichte, die den weltgeschichtlichen Prozeß in seinem Verlaufe bestimmten, ja er leugne solche Gesetze. Ich lasse es bei dieser rhapsodischen Reihung. Der Historismus gilt als kontemplativ, als objektivistisch, als Status-quo-Ideologie, als individualisierend, als nur deskriptiv, als vom Verstehen bestimmt, als subjektivistisch, als auf Politik und Geistesgeschichte allein konzentriert, als Gesetze verkennend. Die historistische Methode, so meinen wohl alle Kritiker, konstituiert den Gegenstand der Geschichtswissenschaft einseitig oder legt ihn vorweg einseitig aus. II. Ich gehe nun im folgenden davon aus, daß eine Diskussion und eine Klärung der wissenschaftstheoretischen Grundfragen der Geschichtswissenschaft - so gewiß man sie auch auf analytischer und phänomenologischer Basis weiterführen kann - in der Auseinandersetzung mit der historistischen Tradition nur gewinnen kann. Die gegenwärtige Historismuskritik gibt dazu Anlaß genug. Da diese Kritik „des“ Historismus heute in der Vorhand ist (und ich zu dieser Kritik Beiträge geleistet habe), scheint es mir nützlich, auch die Legitimität historistischer Ansätze deutlich herauszustellen. Es kommt nicht darauf an, den Historismus zum alten Eisen zu werfen, und nicht darauf, ihn gegen Kritik zu immunisieren oder einen Historismus redivivus zu propagieren. Es kommt mir darauf an, zu einem genaueren Begriff von Historismus beizutragen und diesen Begriff in die gegenwärtige Debatte zu stellen. Zunächst geht es mir nur darum, die Diskussion sinnvoller als bisher zu umgrenzen und zu gliedern, um damit einen Rahmen zur Prüfung der Argumente der Historismuskritik und des Historismus abzustecken. Ich stelle einige formalisierte Postulate auf, die mir zu einer sinnvollen Fortführung der Diskussion notwendig erscheinen und begründe sie; darin stecken natürlich bestimmte Vor-Hypothesen über Historismus ich werde versuchen, sie zu explizieren; von den Forderungen zu einer Diskussionsstrategie können sie - zum guten Teil wenigstens - getrennt werden. Ich versuche schließlich, einige Ansätze zu einer Neuinterpretation des historischen Phänomens Historismus in methodologischer und damit gegenwartsbezogener Absicht zu geben. 1. Die Diskussion des Historismusproblems muß enttraditionalisiert werden. Sie sollte aus der sprachlichen Fassung, den Reflexions- und Begriffsschichten der letzten 80 Jahre herausgelöst werden. Diese sprachliche Fassung entsprach einer Lage, die seit fast einem Menschenalter nicht mehr die unsere ist. Die Sprache Srbiks und Meineckes, Troeltschs und Diltheys ist uns fern gerückt, sie bedarf selbst schon der Interpretation; ja die Sprache der Väter und Großvätergeneration hat eine besondere Ferne, weil hier die Notwendigkeit einer „Übersetzung“ nicht so unmittelbar einsichtig ist und vielerlei Emotionen den Sprachgebrauch unklar machen. Der Begriff des Irrationalen z. Β., der seit dem 63

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Ende des vorigen Jahrhunderts bis hin zu Iggers durch die Literatur geistert, macht heute so viele Interpretations- und Verständnisschwierigkeiten, daß er zu einer Klärung der Diskussion nichts beitragen kann. Ähnliches gilt für Begriffe wie Entwicklung und Leben, die jede Eindeutigkeit und damit jede intersubjektive Diskutierbarkeit verloren haben. Ich weiß natürlich, daß wir nicht davon absehen können, daß wir in der Tradition solcher Diskussion stehen; aber wir können versuchen, die Historismusdebatte von Dilthey und Troeltsch über Heussi bis hin zu Iggers einzuklammern. Wir sollten die Fragen dieser Debatte neu stellen, die Intention der Fragenden von ihrem sprachlichen Ausdruck, der uns ein anderer geworden ist, lösen. Wir sollten positiv den Historismus an den Quellen aufsuchen - „zurück zu den Vätern“ -, die Ursprungsbegriffe klären und sie auf die gegenwärtigen Positionen der Wissenschaftslogik beziehen. 2. Die Diskussion des Historismusproblems muß enttheoretisiert werden. Wir müssen wegkommen von der primären Orientierung an den theoretischen Aussagen zur Geschichte und Geschichtswissenschaft, weg von der mühsamen Suche nach theoretischen Zitaten in Rankes Briefen oder Einleitungskapiteln, weg auch von der Vorherrschaft des größten theoretischen Denkers unter diesen Historisten, der Vorherrschaft Droysens. Wir müssen uns also auch von den Anfängen der Auslegungstradition, nämlich der Selbstauslegung, distanzieren. Zunächst kommt es darauf an, was die Väter des Historismus in ihren historischen Arbeiten und Darstellungen wirklich gemacht haben. Es ist selbstverständlich, daß die - um ein Modewort zu gebrauchen - wissenschaftliche „Praxis“ nicht unabhängig von der Auslegungsreflexion ist, von der theoretischen Fassung, die Historiker ihrem Tun geben. Aber ebenso selbstverständlich ist, daß man zwischen den expliziten Theorien und den im eigenen Tun implizierten Voraussetzungen unterscheiden muß, ja daß es hier Widersprüche gibt. Z. B. wird m. E. die theoretische Distanzierung vom Begriff der Ursache häufig durch das, was in der historischen Darstellung selbst geschieht, wesentlich eingeschränkt. Hierin liegen große Forschungsaufgaben, denn wissenschaftstheoretische Analysen älterer historiographischer Texte sind einstweilen kaum vorhanden. Die Diskussion kann freilich nicht darauf warten, daß solche Forschung zu Ergebnissen kommt, zumal diese Forschung von der allgemeinen Diskussion selbst wiederum abhängig ist. Trotzdem müßte diese Neuinterpretation weiter getrieben werden. 3. Die Historismusdiskussion muß entspezialisiert werden. Der Historismus ist, das wird heute, im Unterschied zur Zeit um 1930, häufig vergessen oder verdrängt, eine Bewegung, die die gesamten Geisteswissenschaften betroffen hat, nicht nur die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne. Ich sehe heute eine doppelte Gefahr. a) Die theoretische Debatte wird orientiert an den objektivierten Kulturphänomenen - Kunstwerken, Sprache, Philosophie, Recht - und an den Wissenschaften, die sich diesen widmen, und zwar unter der Herrschaft der Kategorie des Ausdrucks. So kann man sehr grob eine Implikation der Gadamerschen 64

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Thesen charakterisieren. Dabei treten dann Ereignisse und Prozesse, treten die soziale, die ökonomische und die politische Welt wesentlich zurück. b) Die andere Gefahr ist die, daß man sich nur an der politischen Geschichtsschreibung orientiert, an der Geschichtsschreibung von Ranke bis zu Treitschke oder den Neorankeanern. In diesem Zusammenhang wird dann mitunter der Individualitätsbegriff zur personalen Individualität verengt - bis hin zu der Meinung, eine Formel wie „Männer machen Geschichte“ sei eine wesentliche Aussage des Historismus. Ein angemessener Begriff von Historismus kann aber nicht gewonnen werden, wenn man nicht die eigentliche Historie und die anderen Geisteswissenschaften zusammen sieht, wenn man nicht Savignys Rechtsgeschichte, Jakob Grimms Germanische Altertumskunde oder Boeckhs „Staatshaushalt der Athener“ miteinbezieht. Die Beachtung der Rechtsund Verfassungsgeschichte wie der Altertumskunde - um Beispiele zu nennen - ist notwendig, um irreführende und polemisch verengte Vorstellungen von Historismus zu vermeiden oder zu korrigieren. Zwar muß ein geschichtlich und wissenschaftslogisch legitimer Begriff von Historismus so gefaßt sein, daß er die Verengungen und Verkümmerungen, die sich in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben, mit reflektiert; aber solche Verkümmerungen können nicht zum Ausgangspunkt der Erörterung gemacht werden. 4. Die Diskussion muß entnationalisiert werden. Gegenwärtig ist vor allem die Kritik in extremem Maße an die deutsche Tradition gebunden. Die Geschichte des Historismus, die Sache des Historismus, die theoretische Reflexion über den Historismus stehen unter einem germanozentrischen Aspekt. Historismus gilt nur zu schnell und zu leicht als deutscher Historismus. Das hat gute Gründe. Einmal, in der älteren Tradition ist - etwa von Meinecke - der Historismus als deutsche Revolution im Zuge der deutschen Sonderentwicklung gegenüber dem Naturrechtsdenken Westeuropas, als deutsche Sonderleistung herausgearbeitet worden, und gegen diese Ideologie etablierte sich die Gegenideologie vom Historismus als besonderer deutscher Fehlentwicklung (so bei Iggers). Bei unserer radikalen Kritik kommt jetzt eine Art umgekehrter Nationalismus, die Lust an der Ermordung der Großväter, hinzu. Die Diskussion angelsächsischer Historiker über diese Fragen ist deshalb viel gelassener als in Deutschland. Zum andern: die deutsche Geschichtswissenschaft und das deutsche Nachdenken über Geschichtswissenschaft und Geschichte hat tatsächlich eine herausgehobene Funktion in der Entwicklung der internationalen Geschichtswissenschaft gehabt. Trotzdem aber ist gegen diese germanozentrische Betrachtungsweise der durchschlagende Einwand geltend zu machen, daß der Historismus die gesamte wissenschaftliche Welt des Westens, ja zum Teil auch des Ostens, durchdrungen hat. Das gilt gerade dann, wenn man statt der Theorien über Geschichtswissenschaft diese selbst ins Auge faßt. Es gibt historische Besonderheiten der deutschen Geschichtswissenschaft, aber sie sind für die Debatte des Historismusproblems zunächst unerheblich. Hier müssen gerade die westlichen, die demokratischen Länder, etwa Frankreich, England und USA einbezogen werden. 65 5 Nipperdey © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Eine solche Einbeziehung erst ermöglicht die Überprüfung von m. E. ideologischen Thesen über die politischen und Status-quo-Implikationen des historistischen Ansatzes. 5. Die Historismusdiskussion muß entsoziologisiert werden, paradox gesprochen muß sie - in einem freilich relativen Sinne (vgl. Punkt 8) - enthistorisiert werden. Die Frage, wie und warum historistisches Denken entstanden ist, die Frage nach den ökonomischen und sozialen und politischen und religiösen und ideellen Bedingungen und Ursachen für dieses Entstehen, die geistesgeschichtliche Frage Meineckes nach der Vorgeschichte, die Frage ζ. Β. nach der Sonder­ rolle Deutschlands in diesem Prozeß, das sind durchaus legitime historische Fragen. Ebenso ist es legitim, nach den sozialen und politischen Implikationen des Historismus zu fragen, nach den Auswirkungen seiner Institutionalisierung auf Traditions- und Rollenbildung. Aber dies alles sind - ob soziologisch oder geistesgeschichtlich oder politisch - historistische Fragen an den Historismus, und ich halte es für wesentlich, von diesen Fragen wegzukommen. Die Wissenschaftsgeschichte nämlich kann sich nicht an Wissenssoziologie oder Geistesgeschichte orientieren. Die Historismusfrage, von der wir hier reden, ist kein Spezialproblem, sondern ein Grundproblem unserer Wissenschaft, sie muß sich darum an der Wissenschaftstheorie orientieren. Nicht der Entstehungs- und Entdeckungszusammenhang und nicht der Wirkungs- und Funktionszusammenhang, sondern der Begründungs- und Geltungszusammenhang ist hier entscheidend; nicht die Soziologie der Geschichtswissenschaft, sondern ihre Logik. Denn die Logik einer Wissenschaft ist nicht ihre Soziologie, ihre Soziologie ist nicht ihre Logik. Wenn man damit Ernst macht, so ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen. Die Kritik an der politischen Haltung der Sozialgruppe Historiker und an den politischen Wirkungen des sozialen Produkts Historie gehört nicht in die wissenschaftslogische Historismusdebatte. Wirkungen oder „Funktionen“ des Historismus sind nicht mit seinem logischen Gehalt identisch. Die politischen Intentionen und Wirkungen von Historikern sind, so interessant sie sein mögen, für die Frage nach der Geltung ihrer Methoden und Ergebnisse irrelevant. Jakob Grimm und Ranke, Droysen und Burckhardt, Treitschke und Mommsen, Troeltsch und Lamprecht, Michelet und Taine und Bancroft haben politische Positionen vertreten, die sehr viel unterschiedlicher waren als ihre methodologischen Positionen. (Und moderate Konservative wie Ranke und Lamprecht haben sehr unterschiedliche methodologische Positionen eingenommen.) Der Zusammenhang des Objektivitätspostulats, des Individualitätsprinzips oder der Methode des Verstehens mit politischen Intentionen oder Folgen bleibt, wenn man die generalisierenden Behauptungen an Beispielen überprüft, bisher dunkel, konstruiert und unbewiesen. Status-quo-Legitimation, Revolutionierung oder Kritik sind mögliche Positionen, die Historiker der Zeit des Historismus eingenommen haben; vom methodologischen Ansatz des Historismus her kann zwischen ihnen nicht entschieden werden. Für unsere Wissenschaftstheorie geht es darum, wie, mit welchen Methoden und Kategorien Vergangenheit erkannt wird, und darum, was die Bedingungen der Möglichkeit 66

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für solche Erkenntnis sind. Eine wissenschaftslogische Kritik der historistischen Lösung darf nicht auf politische Implikationen rekurrieren, sondern muß nachweisen, daß Vergangenheit nicht oder weniger gut erkannt worden ist als mit Hilfe anderer Methoden. (Widerspruchsfreiheit, Einbeziehung aller bekannten Quellen, komplexe Berücksichtigung aller bekannten Phänomene sind grobe, nicht hinreichende, aber notwendige Kriterien für bessere und weniger gute Erkenntnis.) Was zählt, ist nicht die Feststellung, daß die politische Haltung eines Historikers seinem Kritiker unsympathisch ist, sondern allein der Nachweis, daß der Kritisierte offenkundig Strukturen einer vergangenen Welt vernachlässigt hat, wie z. Β. sozialgeschichtliche Strukturen. Die Behauptung, daß zwischen politischer Position und sozialgeschichtlicher Erkenntnis ein eindeutiger Zusammenhang bestünde, ist, angesichts etwa des konservativen Blicks für Sozialstrukturen (vgl. etwa W. H. Riehl), absurd. Darum kommt die wissenschaftstheoretische Diskussion erst weiter, wenn man die methodologische Frage ins Zentrum stellt. Dann mag vielleicht auch ein neues Licht auf die Beziehungen zwischen der Logik einer Wissenschaft und ihrer sozialen Genese und ihren Folgen fallen. Ähnliches gilt für die Fragen nach Sinn und Zweck der Beschäftigung mit Geschichte, nach kontemplativer oder aktivistischer Einstellung. Zwischen Jakob Grimm, Ranke und Burckhardt, Droysen, Treitschke, Mommsen, Bancroft und Taine liegen auch hier wesentliche Unterschiede. Für die Gültigkeit und Fruchtbarkeit der Erkenntnisse und für die Forschungslogik in Bezug auf den Gegenstand Vergangenheit sind solche Einstellungsfragen gerade unwesentlich. Die Historismusdebatte sollte also die Wissenschaftssoziologie einstweilen beiseite lassen und sich auf die Geltung geschichtswissenschaftlicher Aussagen, Ansätze und Methoden konzentrieren. 6. Die eben besprochene Einklammerung der historisch-soziologischen Probleme des Historismus bedeutet den Versuch, die Diskussion zu entpolitisieren. Diese Forderung reicht aber noch weiter. Auch die Diskussion der wissenschaftstheoretischen Probleme des Historismus muß entpolitisiert werden. Diese Forderung bezieht sich auf den Versuch, die Geschichtswissenschaft mit der Theorie der kritisch emanzipatorischen Wissenschaft zu begründen und ihr im Sinne der Frankfurter Schule die - von einem emanzipatorischen Standpunkt aus zu übende - Kritik der Vergangenheit zur Aufgabe zu machen. Bekanntlich hat Jürgen Habermas diese Form der Wissenschaftstheorie jetzt besonders explizit und reflektiert entwickelt. Aus den kommunikativen Voraussetzungen aller Forschung und ihrer Logik, der Community of investigators (Peirce), versucht Habermas, ein transzendentales Interesse als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft zu konstruieren und dieses Interesse mit der Entwicklung der „Gattung“ zu verbinden; hier liegt geradezu der neue Ansatz einer materialen Geschichtsphilosophie zu Tage. Über die Tragweite einer solchen Theorie besteht Streit. Natürlich kann man aus den kommunikativen Bedingungen von Wissenschaft einen Komplex von apriorischen (ethischen) Normen für die Wissenschaften herauslösen. Aber es ist die Frage, ob das weiter als zu einer Mini67 5*

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malethik führt, die keine der wesentlichen gegenwärtig umstrittenen Probleme löst. Die Habermas'sche Theorie füllt das thematisierte „transzendentale“ Interesse mit einem aktuell politischen, nämlich „emanzipatorischen“ Inhalt, ein strittiges Sollen wird zur apriorischen Voraussetzung von Wissenschaft erklärt. Die Diskussion dieser Theorie ist - vielleicht gegen ihre Absicht - zu einer politischen Diskussion geworden. Empirisch zeigt z. Β. die Historie des 19. Jahrhunderts emanzipatorische wie nicht-emanzipatorische wie antiemanzi­ patorische T endenzen; der Erkenntniswert dieser Historie ist aber nicht nach diesen T endenzen zu differenzieren. Wie immer es aber auch mit dieser T heorie steht, über sie besteht - aus wissenschaftlichen und/oder politischen Gründen - kein Konsensus, und es besteht auch keine Hoffnung, einen solchen Konsensus zu erzielen. Über diese Theorie kann nicht im Rahmen einer Diskussion über Geschichtswissenschaft entschieden werden. Nun ist es strategisch günstig, für unsere Frage nach den logisch-methodischen Grundlagen zur besseren Erkenntnis geschichtlicher Vergangenheit letzte Prinzipien, Fragen wie die der transzendentalen Interessentheorie, einzuklammern und auf einer vorläufigen, empirischen Verständigungsbasis weiter zu diskutieren. Ein solches Verfahren entspricht der oben aufgestellten Forderung, die legitime Frage nach dem Sinn von wissenschaftlicher Erkenntnis der Vergangenheit einzuklammern und diesen Sinn als gegeben vorauszusetzen. Ohne ein solches Einklammerungsverfahren sehe ich nicht, wie man aus dem Austausch von Meinungen, die jeweils für sich ontologische und logische Gültigkeit beanspruchen, herauskommen soll. 7. Die Debatte sollte entontologisiert werden. Sie muß zunächst von den Problemen einer materialen Geschichtsphilosophie, die in der Hochzeit des Historismus mit den methodologischen Fragen verflochten waren, gelöst werden. Dazu gehören Fragen nach dem Fortschritt, nach dem Sinn oder dem Telos des Geschichtsprozesses oder nach der Sinnhaftigkeit allen historischen Geschehens, nach Gesetzen des Geschichtsprozesses oder nach seiner Kontinuität, nach dem Verhältnis von Kollektiven oder strukturellen Zwängen und individueller Freiheit. Zunächst gilt auch in diesem Bereich, daß die geschichtsphilosophischen Implikationen und die materialen Aussagen über „die“ Geschichte sich in der über 100jährigen Geschichte des „Historismus“ wesentlich geändert haben, ja unter den jeweiligen Zeitgenossen unterschiedlich waren, während die Methodologie gleichartig sich durchhielt. Von daher ergibt sich die Möglichkeit einer Trennung der Methodologie von einer materialen Geschichtsphilosophie. Schwieriger ist es, wenn nach ontologischen Voraussetzungen einer historistischen Methodologie gefragt wird. Auch hier plädiere ich für einen rigorosen Methodologismus, der zunächst vom Prozeß der Erkenntnis, von ihren Problemen, von der Suche nach besserer Erkenntnis ausgeht und die ontologischen Probleme einklammert. Man muß sehen, wie weit man damit kommt. 8. Schließlich: der Historismus sollte „entmythologisiert“ werden, oder weniger metaphorisch: entidealisiert werden. Bultmann verstand unter Entmythologisierung, die Aussagen, die innerhalb des mythologischen Weltbildes der neutestamentlichen Schriftsteller formuliert sind, im Lichte einer Situation zu 68

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interpretieren, die auch noch die unsere ist, und damit eine „Übersetzung“ jener Aussagen möglich zu machen, obwohl das mythologische Weltbild, in dem sie stehen, total vergangen ist. Das Weltbild, die Terminologie, die Ontologie, in der sich der Historismus als Methode und Tradition ausgebildet hat, ist idealistisch gewesen; dieses idealistische Weltverständnis ist für uns vergangen. Daraus ergibt sich die Forderung, nicht den Historismus simpel zu verabschieden oder abzuschwächen, sondern zunächst, ihn zu übersetzen. Das bedeutet zunächst, und das ist nur scheinbar ein Widerspruch zu unserer fünften Forderung, das Problem zu rehistorisieren. Die Logik des Historismus muß zunächst aus ihrer wissenschaftlichen, ihrer logischen Ausgangssituation begriffen werden: als Antwort auf die vorhistoristische Bemühung um Vergangenheit und deren immanente Logik. Es kommt für das gegenwärtige Nachdenken darauf an, die Probleme der Historiographie um 1800 zu explizieren und sie - jenseits der idealistischen Ontologie - auf reale methodologische Probleme zu beziehen, die die unseren sind: erst solche Übersetzung ermöglicht eine angemessene Debatte mit dem Historismus. III. Ich versuche schließlich, einige Ansätze zu einer Neuinterpretation „historistischer“ Kategorien zu formulieren und auf diesem Boden die Diskussion mit der Historismuskritik über Recht und Unrecht des Historismus weiterzuführen. a) Zunächst ein Beispiel für das eben formulierte Programm der „Entmythologisierung“. Im frühen Historismus finden wir häufig die Kategorie Geist, natürlich ein Stück idealistischer Ontologie, die für uns vergangen ist. Man kann aber fragen, welche konkreten historiographischen Probleme, die auch für uns noch reale Probleme sind, denn mit dieser Kategorie gelöst werden konnten. Das war zunächst das Problem, den Zusammenhang, die Interdependenz vieler Elemente und Faktoren in einer historischen Situation, einem Phänomen, einer Welt zu benennen und zu begreifen. Dem diente die Kategorie Geist. Sie hatte zugleich die polemisch korrektive Funktion, der Partikularisierung der Welt in Sparten zu begegnen und gegenüber der allein dominierenden Kausalität die Interdependenz zu akzentuieren. Schließlich wurde mit dieser Kategorie auch der methodisch höchst relevante Sachverhalt bezeichnet, daß die Gesellschaft ein Produkt von Menschen ist, das auf diese ihre Produzenten wesentlich zurückwirkt, ein Sachverhalt, der heute vielfach mit dem Begriff der Dialektik verbunden wird. Mag es sich auch bei der Verwendung der Kategorie Geist vielleicht um die Substanzialisierung eines Relationengefüges handeln, jedenfalls stellt die Kategorie Geist eine Chiffre für Probleme dar, die logisch und methodisch durchaus die unseren sind. b) Wie steht es mit der Kategorie der Individualität? Diese Kategorie hat zunächst einen polemisch-kritischen Sinn gehabt, sie war gerichtet gegen die Mediatisierung des Individuellen zu einem Fall des Allgemeinen und - das ist 69

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jetzt wichtiger - gegen die Verkürzung eines aufgeklärten Individualitätsbegriffs, der auf den rational und utilitaristisch bestimmten Menschen beschränkt war. Dieser Mensch galt den frühen Historisten als Fragment und dagegen sollte mit dem Individualitätsbegriff zunächst gerade die Universalität und Totalität des Menschen zur Geltung gebracht werden. Zugleich ist dieser Begriff, gerichtet gegen den puren Atomismus, wie man ihn der Aufklärung zuschrieb, auf Epochen, Gesellschaften und Kulturen übertragen worden. Meine These geht nun dahin, daß in diesem erweiterten Individualitätsbegriff das eingegangen ist, was heute als Struktur bezeichnet wird. Die romantische Historie hat mit der Entdeckung des Unbewußten gegen das planend zwecksetzende Handeln als bewegenden Faktors der Geschichte das „stille Hervorgehen“ von Recht, Verfassung, Agrarverfassung, Sitte und Sprache etc. aus dem „unbewußten Lebensstrom“, aus dem Volk zur Geltung gebracht. J . Grimms Germanische Altertumskunde ist ein Stück Strukturgeschichte. Der Begriff „Volk“ in älteren Texten ist sehr häufig nicht nur mit dem Terminus „Gesellschaft“, sondern mit „Struktur“ auswechselbar. Hegel hat mit der Entdeckung des objektiven Geistes in den Werk- und Sozialsystemen der Menschen, die ihr zweckhaftes oder leidenschaftliches Handeln prägen, einen anderen, politisch-sozialen Strukturbegriff formuliert; das Papsttum schafft sich seine Päpste. Von diesem Ansatz ist alle historistische Historiographie bestimmt. Das besondere Gewicht der überindividuellen Tendenzen und der Sachlogik der Institutionen zeigt an, daß gerade im methodischen Ansatz des Historismus Strukturgeschichte, das Eigengewicht von Prozessen und Strukturen und die Einbindung in Prozesse und Strukturen, impliziert ist. Die Individualitätskategorie ist nicht individualistisch, sondern durchaus auch strukturell. Damit geht der Historismus auch weit über die Analyse von „bloß“ subjektivem Bewußtsein der Handelnden hinaus. Die Verengungen späterer Historiker können nicht dem methodologischen Ansatz zugerechnet werden. Anders steht es mit der Polemik gegen das, was man als Methode der Aufklärung auffaßte, gegen die Generalisierung, und mit der Tendenz, der Erkenntnis des Individuellen allein Selbstwert zuzuerkennen. Die „Rettung“ des Individuellen kann zwar auch heute noch methodologisch sinnvoll sein, aber sie kann nicht mehr die allbeherrschende Parole sein. Hier ist die Erkenntnis über die Ansätze des Historismus mit Recht hinaus. Komparatistik, Typus, Generalisierung können mit und neben individualisierender Analyse die Erkenntnis nur fördern. c) Das Verhältnis von Historismus und Kausalität ist neu zu interpretieren. Der historistische Ansatz geht m. E. aus von der Abwehr bestimmter Erklärungsmodelle, einmal Erklärungen aus zweckrationalen oder leidenschaftsbestimmten Motiven von Handelnden (Verfassung als Werk von Gesetzgebern), zum andern Erklärungen aus nur einer Ursache (z. Β. dem Klima) oder einer begrenzten Summe angebbarer Ursachen bei Eindeutigkeit eines angebbaren Verursachungsprozesses. Individualität und Entwicklung sind Chiffrebegriffe, die gegen die älteren Kausalitätsmodelle einmal die Interdependenz und zum 70

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andern die noch unerkannte Fülle der Kausalitäten, der Institutionen und des Unbewußten, des objektiven Geistes und der Sozialstruktur zur Geltung bringen. Sieht man die Sache so an, so kann das nach über eineinhalb Jahrhunderten Historismus zu einer Rehabilitation der kausalen Analyse führen, ohne daß die Errungenschaften der historistischen Methode und ihre kritischen korrektiven Funktionen verloren gehen. d) Das Objektivitätspostulat, das als historistisch kritisiert wird, findet sich nur in dem Strang der Tradition, der von Ranke bis zu Max Weber reicht. (Hier gibt es eigentümliche Verbindungen vom Historisten Droysen zu den Historismuskritikern im Umkreis von Habermas oder von Ranke zu den analytischen Wissenschaftstheoretikern.) Das Thema ist unabhängig von aller Auseinandersetzung mit der Wissenschaftstradition aktuell. Trotzdem soll der ursprüngliche Sinn dieses Postulats noch einmal betont werden. Es richtete sich gegen die moralisierende und pädagogisierende Historie, die von einem herrschenden oder einem oppositionellen Parteistandpunkt ausging. Zwischen solchen Standpunkten und über sie ist wissenschaftlich nicht zu entscheiden, sie können nicht Maßstab der Wissenschaft sein. Wenn manche vergangene Historiographie apologetische Tendenzen zeigen sollte, so ist das keineswegs eine Folge des Objektivitätspostulats, dieses bleibt von solcher Kritik unberührt, wie es auch, auf den Geltungszusammenhang gerichtet, unberührt von der Analyse des Entdeckungs- und Wirkungszusammenhangs bleibt. Die Richtung des Objektivitätspostulats gegen die parteiliche Historie war zugleich eine Richtung gegen die Mediatisierung der Vergangenheit, bei der diese selbst nicht mehr zur Geltung kommt. Auch dieses Moment gilt heute weiter: die Mediatisierung der Vergangenheit verhindert gerade ihre Erkenntnis. Von daher ist der idealistische Grundsatz Rankes, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, auch jenseits seiner theologischen Implikationen eine methodologisch notwendige Forderung. Jede Hypothese über Fortschritt oder Dekadenz in der Weltgeschichte, über Gesetze, die für die Richtung des weltgeschichtlichen Prozesses gelten (Poppers Historizismus), muß schon methodologisch an diesem Postulat der Unmittelbarkeit gemessen und korrigiert werden. Die Frage nach der Kontinuität der Weltgeschichte und nach der Kontinuität der Tradition von einem zu begreifenden Phänomen der Vergangenheit bis zur Gegenwart des Forschers bleibt selbstverständlich ein Problem, das in der Debatte über Historismus und Historismuskritik weiter geklärt werden muß. Aber keine Hypothese über dieses Problem kann zur methodologischen Norm über historische Erkenntnis gemacht werden. e) Die historistische Verstehenslehre hängt zunächst eng mit der gegen moralisierende Historie gerichteten methodischen Regel zusammen, keine Vergangenheit zu mediatisieren. Daraus folgt die Regel, Vergangenheit aus ihren eigenen Voraussetzungen zu begreifen. (Von daher hat sogar der heute unverständliche Begriff der Einfühlung - entstanden in einer Zeit, die mit Kant noch über eine Theorie der Intuition verfügte - einen logischen Sinn gehabt.) Die Verstehenslehre hängt sodann damit zusammen, daß im Prozeß historischer Er71

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kenntnis keineswegs immer nach Kausalitäten gefragt wird, sondern nach dem Sinn, der Bedeutung von Äußerungen: die Interpretation, wie sie Theologie, Jurisprudenz und Philologie ausgebildet haben, ist hier die erste methodische Notwendigkeit - ein Sachverhalt, der von den Analytikern häufig nicht realisiert wird. Schließlich geht es dieser Methodologie darum, beim Begreifen von vergangenem Handeln (von Institutionen der Handelnden) den Auslegungshorizont der Handelnden mit ins Begreifen einzubeziehen. Die normale Aufgabe, Fremdes (Vergangenes) zu begreifen, läßt sich nur so lösen; nur so läßt sich begreifen, warum z. Β. der Verfall der Schweinepreise in demokratischen Gesell­ schaften des 20. Jahrhunderts die Bauern zur Opposition gegen die Regierung motiviert, im Mittelalter aber etwa zu einer Wallfahrt. Man muß für die methodologische Debatte nicht Spät- und Kümmerformen der Historiographie ins Zentrum rücken, bei denen der primäre Gegenstand des Verstehens das Selbstbewußtsein der Handelnden war. Für den ursprünglichen Historismus und, das ist wichtiger, für den methodologischen Ansatz kam es immer nicht allein auf subjektiv gemeinten Sinn, sondern auf den in Traditionen und sozialen Institutionen eingelagerten, objektivierten, unbewußten Sinn, auf die Selbstverständlichkeiten der Handelnden an. In diesen methodologischen Bezügen hat die Verstehenskategorie jenseits idealistischer Ontologie auch heute noch ihre Funktion: mit Habermas zu reden hält sie offen, daß die menschliche Lebenswelt nicht nur aus Arbeit und Herrschaft, sondern immer zugleich auch aus Sprache konstituiert ist. Freilich ist damit auch eine Grenze gegen jeden Monopolanspruch des Sinnverstehens, von dem die Welt her nur noch als Text angesehen wird, gesetzt. Von daher läßt sich aber in Fortführung des historistischen Ansatzes das Problem des Verhältnisses von politischer Geschichte, Geistesgeschichte und Sozialgeschichte zureichend lösen. Diese Ansätze zu einer entmythologisierten, entidealisierten, nämlich methodologischen Neuinterpretation des Verstehens lösen noch keineswegs die gegenwärtigen kritischen Fragen an die historistische Tradition. Aber ich glaube, daß von diesen Ansätzen her weiter zu denken ist. f) Schließlich muß man auch für die historistische Orientierung an Anschauung, Beschreibung und Erzählung im Gegensatz zu Begriff und Analyse auf die ursprüngliche Funktion zurückgreifen. Es ging um die Rettung der Phänomene gegenüber gewalttätiger Begriffskonstruktion. So legitim das war (und ist), so scheint mir doch unverkennbar, daß die Erkenntnis der Vergangenheit bei ihrem gegenwärtigen Stande von diesem Element historistischer Tradition Abschied nehmen muß, wenn sie weiterkommen will. Dieses Element scheint mir allerdings auch nicht notwendig in das methodologisch interpretierte Konzept des Historismus hineinzugehören. Die Frage nach dem Verhältnis von Erzählung und Analyse (oder gar „Theorie“, was immer das jeweils heißt) im Betrieb von Historie, scheint mir aber weiterhin offen, die Debatte mit Danto ist in der Grundlagendebatte der Geschichtswissenschaft noch keineswegs genügend weit gediehen. 72

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Ich versuche, der Diskussion über Historismus und Historismuskritik einen erweiterten und vor allem präziseren Rahmen zu setzen. Ich versuche, den Historismus im Zeichen gegenwärtiger Erforschung der Vergangenheit als Methodologie aus seiner idealistischen Fassung neu zu „übersetzen“ und in manchen Punkten umzuformen. Ob diese Übersetzung des klassischen Historismus gelingen kann, muß sich noch zeigen. Ob der so rekonstituierte Historismus als Typus von Methodologie im Streit der Methodologen und Historiker bestehen kann, muß sich erst recht zeigen. Aber alle Kritik sollte sich an den Stärken des Historismus orientieren. Sie habe ich hier für unsere Gegenwart zu akzentuieren versucht.

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II. ALLGEMEINE PROBLEME DER NEUZEIT

4. Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit Unserer Gegenwart ist die Utopie ein problematisches Phänomen1. Im politischen Sprachgebrauch hat der Begriff Utopie eine polemische Funktion. Gegnerische Zielsetzungen sollen mit seiner Hilfe disqualifiziert werden. Man will deutlich machen, daß ihre Verfechter sie zu Unrecht als wirklichkeitsgegründet, als Ergebnis richtiger Erkenntnis und wirklichkeitsadäquaten Willens verstehen; man will entlarven, daß sie entweder unbewußt oder uneingestanden von einem Wunschdenken und von Illusionen geleitet sind. Auch wo der Begriff noch nicht zur propagandistischen Scheidemünze im Tageskampf abgesunken ist, wo er vielmehr große Zielsetzungen mit einem menschheitlichen oder nationalen Vollendungsanspruch treffen will - die Nationalismen, den Glauben etwa an eine Weltsendung des „Reiches“, den Kommunismus und die Idee der klassenlosen Gesellschaft und sogar den angelsächsischen Moralismus -, ist sein Sinn durchaus polemisch. Ja, diese großen utopischen Zielsetzungen gelten in besonderem Maße als gefährlich, weil sie als Korrelat der verfehlten Einschätzung der Wirklichkeit einen extremen Absolutheits- und Vollkommenheitsanspruch enthalten und darum im Namen einer vergegenständlichten Zukunft eine Gegenwart nicht nur zu mediatisieren, sondern zu terrorisieren suchen. Nicht der Realismus, sondern der Utopismus hat, so meint man, in die Weltkrise, in die Krise der menschlichen Rechts- und Friedensordnung geführt. Kleine wie große Zielsetzungen sind diesem Sprachgebrauch gemäß nicht für ihre Urheber, sondern für die gegnerischen Beurteiler Utopien. Utopisten sind, so heißt es etwa 1847 im Brockhaus, Reformer und Politiker, die den „Boden der Wirklichkeit“ - unfreiwillig - „verlieren“2, nicht solche, die ihn freiwillig verlassen. Der hier zugrunde liegende Begriff einer unbewußten Utopie ist paradoxerweise von Marx und Engels weltgeschichtlich etabliert worden; im Kommunistischen Manifest haben sie den Frühsozialismus als kritisch-utopischen Sozialismus disqualifiziert3, um ihren „wissenschaftlichen“ Zukunftsentwurf davon abzusetzen. Die Utopien sind für Marx und Engels Produkt individueller Erfindung; ihre Verwirklichung beruht auf willkürlichen, vermeintlich freien, in Wahrheit aber irrealen Bedingungen, wie ζ. Β. ethisch begründeten individuellen Entschlüssen, während der wissenschaftliche Sozialismus auf dem entdeckten Gesetz der Wirklichkeit beruht und seine Verwirklichung dem notwendigen Gang der Geschichte, also der Klassenentwicklung anvertraut ist. Seither aber gelten Marx und Engels bei ihren Gegnern selbst als Utopisten, 74

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weil ihr Zukunftsentwurf in einer anscheinend illusionären Auffassung von Wirklichkeit gründet und einen illusionären Vollendungscharakter besitzt. Auch wo der Begriff Utopie nicht polemisch, sondern wertneutral oder positiv verwandt wird, gibt man ihm eine ähnlich weite Bedeutung. Karl Mannheim, dessen Utopie-Begriff die wissenschaftliche Diskussion stark bestimmt hat, versteht als utopisch „jene wirklichkeitstranszendente Orientierung, . . . die in das Handeln übergehend die jeweils bestehende Seinsordnung teilweise oder ganz sprengt“, und von solcher Definition her kommt er dann ganz legitim zu dem paradoxen Begriff der konservativen Utopie. Und Ernst Bloch vollends erweitert den Begriff Utopie über den Zwischenbegriff der „utopischen Intention“ zum „Prinzip Hoffnung“, dem auf Verändern der Welt, auf noch ungewordene Möglichkeiten gerichteten Grundzug menschlichen Wesens4. Auch wo im außerwissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht der disqualifizierende Kampfbegriff, sondern der qualifizierende Zielbegriff Utopie verwandt wird, hat er einen ähnlich erweiterten, nicht mehr fest umrissenen Sinn; wenn Walter Dirks in einem Vortrag davon spricht, daß die Gewerkschaften eine Utopie brauchen, so ist hier im Grunde eine über den Tagesbetrieb hinausreichende Perspektive für übermorgen gemeint, zu der der ausgreifende Weltentwurf der älteren Utopie abgeblaßt ist. Zugleich impliziert die Rede, man brauche eine Utopie, nicht nur eine Verteidigung der Utopie gegen ihre Verächter, sondern das sorgenvolle Bewußtsein, daß es eine solche Utopie heute nicht oder nicht mehr gibt. Mannheim rechnet mit der Möglichkeit, die Welt könne in absolute Utopielosigkeit verfallen und darin aufgehen, sich nur noch selbst zu reproduzieren, die Zukunft könne zum „leeren Worin möglicher Veränderung“ (Plessner) verblassen; eine solche utopielose Welt würde von einer statischen Sachlichkeit erfüllt, in der auch der Mensch zur Sache werde, in der er den Willen zur Geschichte und damit den Blick in die Geschichte verliere5. Dieses Problem werden wir am Ende unserer Überlegungen noch berühren. Vorerst verweisen die Ambivalenz, die Unbestimmtheit und die Fragwürdigkeit moderner Utopiebegriffe auf einen ursprünglicheren und enger umschriebenen, auf den klassischen Begriff der Utopie, dem wir uns zunächst zuwenden. Unter Utopie verstehen wir den theoretisch-literarischen Entwurf einer möglichen Welt, der bewußt die Grenzen und Möglichkeiten einer jeweiligen Wirklichkeit übersteigt und eine substantiell andere Welt anzielt, eine Welt, die sich durch ein hohes Maß an Vollendung auszeichnet. Dieser Entwurf ist ein Gedanken-Experiment, aber er ist nicht als bloßes Spiel gemeint, sondern beansprucht eine gewisse Verbindlichkeit des So-soll-es- und So-kann-es-sein. Utopia ist das Land Nirgendwo, das einmal - nicht in Gänze, aber in wesentlichen Strukturen - Irgendwo sein soll. Die Utopie entwirft - gleichsam in einem Sprung - eine Welt, die stimmt, eine Welt, die institutionell so geordnet ist, daß in ihr dem Menschen sein Leben glückt6. Auch diese ursprüngliche Utopie steht heute nicht hoch im Kurs. Die literarische Gattung ist verfallen; sie existiert nur noch in abgeleiteten Formen: als konfektionalisierte technische Utopie in den Science-Fiction-Reihen, als Dar75

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Stellung ästhetischer und beliebiger Ideale in „Kastalien“ oder anderswo und als Gegenutopie der Schreckenswelt bei Huxley und Orwell7. Die ursprüngliche, die politisch-soziale Utopie ist dem Verdikt des Wunschdenkens verfallen; in unserer Gegenwart kommt ihr keine eigentliche Realität mehr zu. Das ist Symptom eines epochalen Wandels. Denn während der Neuzeit, von der Renaissance bis zur Französischen Revolution, ja bis zur industriellen Revolution, hat ein wesentlicher Strang des politischen Denkens in der Gattung der politisch-sozialen Utopie seinen Ausdruck gefunden, und das ist keineswegs Zufall. Zwar, den Streit um die Utopie hat es immer gegeben. Die Utopie ist bestimmt durch die Kategorie Möglichkeit, und Möglichkeit kann entweder als Potentialität oder aber als Irrealität ausgelegt werden. Die Utopie hat ihren Gegnern immer als illusionistische Träumerei ins Unmögliche oder als verantwortungslose Flucht vor dem Ernst einer Gegenwart gegolten, und diese Gegner, die Realisten, sind von den Utopisten immer als Verteidiger des Bestehenden, als Verräter am Besseren, an der noch immer unerfüllten unbedingten Forderung angegriffen worden. Die Befremdlichkeit, die Unwirklichkeit, ja vermeintliche Unmöglichkeit der Utopie besage genauso wenig gegen ihre Wahrheit, wie die Absurdität der Forderungen Christi in einer korrumpierten Welt gegen ihre Wahrheit spreche - so läßt der christliche Humanist Morus in seiner „Utopia“ den Berichterstatter argumentieren, und es gehört zur Größe seiner Utopie, daß er den Streit um ihren Sinn in den Dialog selbst aufgenommen hat8. Gerade der Ernst des Streites aber zeigt schon das Gewicht, das der Denkform der Utopie in der Neuzeit zukommt. Das wird auch an einem anderen Faktum deutlich. Die Autoren der Utopien gehören zur führenden, ja zum Teil zur Verantwortung tragenden Schicht: die Staatskanzler Morus und Bacon, der Generalsuperintendent und Reorganisator der württembergischen Kirche Andreae, Campanella, einer der großen Philosophen der Epoche, oder Harrington, der Freund Karls I. und Cromwells und der bedeutendste politische Denker der englischen Revolution - und noch im 18. Jahrhundert, als die utopische Literatur in die Breite geht, bleiben es neben den Literaten Philosophen und Politiker, die Utopien schreiben, bis hin zu Kant und seiner Idee des ewigen Friedens, zu Fichte und seinem Geschlossenen Handelsstaat. Und auch die Resonanz der Utopien ist beim gebildeten Publikum wie bei den führenden Geistern der Zeit, von Erasmus bis zu Bayle, Voltaire und Condorcet erstaunlich groß gewesen. Die Utopie ist ernst gemeint, und sie wird ernst genommen. In ihr drückt sich eine spezifische Tendenz des neuzeitlichen Denkens aus. Die Utopie erfüllt eine spezifische Funktion innerhalb dieses Denkens9. Wir wissen natürlich, daß die Utopien nicht verwirklicht werden können, ja daß das nicht einmal wünschbar ist. Aber das ist eine müßige Feststellung, und die Utopien im einzelnen zu widerlegen, bliebe trivial. Sinnvoller wäre es, den Beitrag der einzelnen Utopien zur Entwicklung bestimmter Theoreme aufzuweisen, oder zu zeigen, wie die Utopien mit gegebenen Strukturen gedanklich experimentierend antinomische Positionen entwickeln und damit insgesamt ein Geflecht von Modellen und Typen neuzeitlicher politischer Ordnung herausar76

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beiten, das von liberalen bis zu totalitären, von demokratischen bis zu technokratischen, von elitären bis zu egalitären Positionen reicht. Aber darauf soll es hier nicht ankommen. Es soll vielmehr gezeigt werden, welchen positiven Beitrag die Denkform, die Gattung Utopie für die Ausbildung moderner Handlungs- und Denkstrukturen geleistet hat. Und zwar handele ich erstens vom utopischen Entwerfen - was es bedeutet, daß man überhaupt eine Utopie entwirft - und zweitens von der utopischen Welt, von dem, was da entworfen wird. Utopien entzünden sich an Krisen, daran, daß ein Ordnungssystem nicht mehr funktioniert, also z. Β. nicht mehr Friede wahrt, nicht mehr ein gewisses Maß wirtschaftlicher Sicherheit gewährleistet, nicht mehr Herrschaft stabilisiert und legitimiert, oder daran, daß das System mit dem Bewußtsein der führenden Repräsentanten des Geistes in einen grundsätzlichen Widerstreit tritt. Auf die Krise antwortet die Kritik. Auch die Utopie ist Kritik, und zwar grundsätzliche Kritik. Sie richtet sich nicht gegen Personen, sondern sie richtet sich gegen das System, und zwar nicht reformerisch gegen diesen oder jenen Zug des Systems, sondern gegen seine beherrschenden Prinzipien, gegen das ganze System, wie etwa gegen eine geburtsständische Privilegienordnung, eine Ordnung, die nicht auf Vernunft und Leistung beruht. Die Kritik des Morus z. Β. entzündet sich daran, daß in England die Diebe immer zahlreicher werden, und zwar weil die Bauern enteignet und von Haus und Hof vertrieben werden. Morus appelliert nun nicht moralisch an das Gewissen der Grundbesitzer oder gar an das der Diebe, er will auch nicht reformerisch die Krise durch vermehrten Bauernschutz lösen, sondern er radikalisiert die Kritik utopisch zur Kritik der Eigentumsverfassung überhaupt. Auch wo es keine solche explizite Kritik gibt, ist allein die Tatsache, daß der Utopist eine von der gegenwärtigen Welt grundsätzlich verschiedene Gegenwelt entwirft, eine radikale Kritik dieser gegenwärtigen Welt. Auf die Herausforderung der Krise antwortet der Utopist mit dem Entwurf seiner Gegenwelt. Diese Gegenwelt nun ist erstens eine andere mögliche, d. h. vorstellbare Welt, und zweitens eine bessere Welt. Sie ist eine andere Welt. Bei ihrer Darstellung arbeitet der Utopist mit der Fiktion, ein neuentdecktes Land zu beschreiben - Morus läßt seinen Berichterstatter an der dritten Reise des Amerigo Vespucci teilnehmen und verwertet dessen Nachrichten -, und diese Fiktion konnte im Zeitalter der Entdeckung und Erschließung der Welt auf breite Resonanz rechnen10. Die utopische Welt war mit einem Schimmer von Wahrscheinlichkeit umkleidet. Damit kommt die Absicht des Utopisten besonders zur Geltung: die wirkliche Welt in ihrer Wirklichkeitssicherheit zu erschüttern, sie in den Horizont anderer Möglichkeiten zu rücken. Jede Utopie provoziert den Leser, die eigene Wirklichkeit mit der utopischen zu vergleichen, sie zu prüfen und zu kritisieren und einen Maßstab der Kritik zu wählen, der außerhalb der Gegebenheit liegt, und zwar gleichgültig, ob der Leser die utopische Zeitkritik annimmt oder verwirft. Noch das Spiel der kosmonautischen Utopie des 17. Jahrhunderts, der lediglich unterhaltenden des 18. Jahr77

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hunderts hat diesen provozierenden Charakter. Die „andere Welt“ der Utopie hat die Funktion, die Wirklichkeit zu relativieren. Zugleich eröffnet sie neue Möglichkeiten. Die neu entworfene Welt ist eine bessere Welt. Und zwar ist sie als eine Konstruktion aus dem IntellektuellenEthos des Utopisten eine vernünftige, eine vernünftig geplante und eine moralische Welt; das gerade unterscheidet sie qualitativ von jeder gegebenen Welt. Mit dieser vernünftigen Welt will der Utopist keinen Traum erfabulieren, kein Schön-wenn-es-so-wäre, dem nur die Resignation des Aber-so-kann-es-nichtsein entspräche. Er stellt vielmehr den Anspruch einer verbindlichen Forderung: So-soll-es-sein. Nun ist zwar die Utopie kein Programm11. Indem sie den Sprung von der gegenwärtigen in die utopische Welt vollzieht, entbindet sie sich davon, die Probleme der Realisierung zu erörtern; sie läßt die Realisierung, ausdrücklich wie bei Morus oder unausdrücklich - und das nicht aus Angst von einer Zensur -, in der Schwebe; ihr Gedankenexperiment hält Abstand von der Aktion, es ist sich seiner revolutionierenden Bedeutung noch nicht bewußt. Aber in dieser merkwürdigen Schwebe zwischen Aktionslosigkeit und Sollens-Anspruch enthält die utopische Form ganz unmittelbar eine feste Aussage und eine unüberhörbare Aufforderung: Die Aussage heißt, daß diese Welt als eine unter möglichen anderen verändert werden kann, und die Aufforderung, daß sie verändert werden soll; die implizite Forderung bezieht sich freilich nicht unbedingt auf die entworfenen Strukturen, sondern auf das bare Faktum radikaler Verbesserung und auf deren Grundrichtung: daß die Welt auf Vernunft gegründet, mit Hegel zu reden „auf den Kopf gestellt“ und so ins Lot gebracht wird; der Anspruch auf Veränderung etabliert sich als Anspruch auf Vollendung der Welt, und gerade die Statik eines solchen Vollendungs-Entwurfes mobilisiert die Kräfte der Veränderung. Das ist der elementare Untergrund noch der blutleersten utopischen Konstruktion. Die Welt ist damit für die Utopie der Raum möglicher Gestaltung; sie ist nicht gegeben, fertig oder der menschlichen Aktivität weitgehend entzogen, sondern sie ist aufgegeben, ist vom Menschen in die Hand zu nehmen und neu und erst eigentlich zu formieren. Die Ordnung der Welt ist nicht etwas, was zu bewahren oder wiederherzustellen ist, sondern sie ist zu produzieren, sie ist heraufzuführen12. Damit gehört die Utopie in den Geschichtsprozeß hinein, in dem sich der neuzeitliche Geist vom Mittelalter absetzt. Im Mittelalter konnte es keine Utopie geben, denn Gottes Gerechtigkeit war in den Ordnungen des Lebens - wenn auch korrumpiert - gegenwärtig; eine innerweltlich bessere Ordnung konnte darum nicht eine grundsätzlich andere sein. Reform war Reformation, Wiederherstellung eines früheren richtigen Zustandes, nicht aber Neubau. Der Sinn des Lebens erfüllte sich in der Gegenwart und in der Ewigkeit, nicht in der Zukunft. Und auch wo trotz des Bezuges auf paradiesische Zustände von wirklicher Neuordnung die Rede war, wie in den chiliastisch-revolutionären Bewegungen, da war die Neuordnung primär nicht Sache des Menschen, sondern Sache Gottes; sie entsprach eschatologischer Notwendigkeit, war auf Gottes Stunde zentriert13. Für die kirchlich legitimen wie für die 78

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häretischen Bewegungen war die Zeit Gottes Zeit, die Geschichte Gottes Geschichte, die Zukunft, und zwar gerade die geschichtliche, innerweltliche Zukunft, Gottes Zukunft; sie war nicht grundsätzlich der menschlichen Aktivität anvertraut, sie war nicht der Raum, in dem sich ein immanenter Sinn des menschlich-irdischen Lebens erfüllte. Das aber konstituierte eben das Zeit- und Weltbewußtsein der Neuzeit. Für die Neuzeit ist die Zukunft die eigentliche Zeitdimension, die Dimension der autonomen Welt- und Selbstgestaltung des handelnden Menschen, der Erwartungsraum sinnvoller Erfüllung. Für die Ausbildung dieses Zeit- und Weltverständnisses ist die Utopie ebenso charakteristisch wie mitverantwortlich, und zwar haben gerade die aus christlichem Antrieb lebenden frühen Utopisten daran gearbeitet; sie haben ihr neues Zeitbewußtsein, das Bewußtsein einer offenen und der Herrschaft des Menschen überantworteten Zukunft, für ein durchaus christlich legitimes Bewußtsein gehalten14. Die Neuzeitlichkeit kommt auch darin zum Ausdruck, daß sich die Utopie nicht nur gegen das theologisch fundierte Zeit- und Geschichtsverständnis des Mittelalters, sondern überhaupt gegen die Tradition, gegen die Übermacht des Gewordenen, des Vergangenen und Gegebenen wendet. Morus hat im Mythos von Utopia diese Haltung symbolisch dargestellt; der Begründer des utopischen Gemeinwesens, Utopus, hat sein Land künstlich zur Insel gemacht, die Verbindung zum Kontinent abgeschnitten; er hat Utopia ein für alle Mal vom Raum aller bestehenden Kulturen, aller historischen Traditionen gelöst15. Jede Utopie löst sich durch ihre bloße Existenz von aller historischen Tradition; das gilt auch für die in der Vergangenheit angesiedelten Utopien, bei denen das immanente Zukunftsmotiv stärker ist als der ausdrückliche Bezug auf die Vergangenheit. Und in diesem Sinne radikalisieren alle Utopien die neuzeitliche Richtung auf Zukunft - und vereinseitigen sie freilich auch bis ins Irreale. In den frühen Utopien ist die Zukunftsrichtung erst implizit, noch nicht ausdrücklich gesetzt. Der Wunsch-Raum ist noch nicht explizit in Wunsch-Zeit überführt, die Erweiterung der Welt noch nicht direkt als Aktionsfeld erschlossen, der Wissensraum ist noch nicht Könnensraum: vordergründig überwiegt noch eine passive Erwartungshaltung des Wünschens. Immerhin hat der humanistische Freund des Morus Bude schon den Zeitakzent gespürt und von der Oudepotia, also dem Lande Nirgendwann-Irgendwann gesprochen. Die Entwicklung der Utopie geht nun dahin, die Zukunftsperspektive immer deutlicher herauszuarbeiten. Aus dem Entwurf eines Ideals ist im 18. Jahrhundert, als sich der Mensch seiner Veränderungs-, ja Schöpfergewalt bewußt wird, ein Leitbild des Handelns geworden16. Dieses Jahrhundert ist zwar nicht mehr die Zeit der großen Utopien, wohl aber die große Zeit der Utopien: an die 40 Utopien sind allein in Frankreich erschienen17, und die gesamte Literatur enthält eine Fülle utopischer Stücke, die Erziehungsutopie von Télémaque bis zum fimile oder die Robinsonaden; selbst Voltaires Satire Candide hat ihr utopisches Eldorado, und das Schrifttum über den ewigen Frieden ist eigentlich echte Utopie. Die Aufklärung, so kann man sagen, ist utopienahe Zeit. Der durch 79

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den Absolutismus politisch entmachtete, in die Privatheit von Gesinnungen und Theorien zurückgedrängte, aber da auch freigelassene Bürger beginnt im Namen der Tugend und im Namen der Vernunft den Prozeß, ja den Angriff gegen das absolutistische System, gegen den moralfreien Raum seiner absoluten Staatsräson und seine vorrationalen gesellschaftlichen Grundlagen. Die Tugend der bürgerlichen Gesellschaft soll den Staat und seine Institutionen überflüssig machen, so heißt das utopische Ziel der Freimaurer. Die Vernunft vollzieht im Namen des Naturrechts die Destruktion des Überkommenen, sie wird - seit Bayle - zugleich zur unendlichen Kritik, sie gerät in unendliche Bewegung, darum wird die Zukunft der Ort der Wahrheit. Man glaubt, ohne die Dialektik von Idee und Macht zu realisieren, Vernunft und Moral unmittelbar in Institutionen überführen zu können. Funktionen der Utopie sind so auf das Zeitalter übergegangen18. Die Utopie - der literarische Entwurf einer Welt - erweist sich als Übergang zum realen Um- und Neuschaffen der Welt; die in ihr vorweggenommene Schöpferkraft des Menschen erfüllt nun das Zeitalter. Aber die Zeit ist auch der eigentlichen Utopie noch günstig; die Zukunft wird nicht nur realistisch geplant, sondern auch im utopischen Sprung anschaulich und in einem Gesamtanblick projektiert. Und diese Projektion einer zukünftigen Welt versteht sich selbst als Programm, und sie wird so verstanden. Oft geben sich diese utopischen Entwürfe, wie bei Mably und Morelly, als Realisation des Naturrechts19. Sie binden sich an einen ewigen und ursprünglichen Maßstab, Zukunftsgestaltung wird unter dem Aspekt der Entdeckung und Wiederherstellung einer objektiven Ordnung gesehen: die zukünftige Wahrheit ist die ursprüngliche; doch bleibt die darin liegende Spannung den Utopisten wie den Vertretern des Naturrechts noch verborgen, der gemeinsame Wille zum Neubau des Systems überdeckt sie. Wenn auch der vorgestellte Vollendungszustand nicht ausdrücklich Schöpfung ist, so ist er doch endliche Realisierung ewig bestimmter Ordnung; es entsteht keine Vergangenheitsutopie, sondern die Intention auf Zukunft bleibt eindeutig führend, ja die Kategorien bewußter Planung und die Ideologisierung der gegenwärtigen Wirklichkeit durch den Zukunftsentwurf sind stärker, als das naturrechtlich sich legitimierende Selbstverständnis der Autoren erwarten läßt. Das Naturrecht übernimmt Ideologiefunktionen. Indem nun das utopische Denken Programmdenken und zumal naturrechtlich begründetes Programmdenken wird, vollzieht sich eine denkwürdige Verschiebung: es greift auf die Geschichte zurück. Die zuerst utopisch, dann naturrechtlich begründete radikale „Abwendung von der Geschichte als Tradition“ bewirkt „die intensivste Zuwendung zur Geschichte als Revolution“20. Die Utopie wird, wie die ganze Fortschrittsphilosophie, Geschichtsphilosophie. Sie sucht aus dem geschichtlichen Ablauf die Gewißheit der kommenden Lösung evident zu machen und sie auch im einzelnen zu verdeutlichen, diesseits des Sprunges, den sie vollführte, um ihr utopisches Land zu gewinnen. Damit gerät aber die Utopie schon in den Horizont ihres dritten Stadiums. Aus dem Ideal war sie zum Leitbild des Handelns geworden, jetzt wird sie zur Prognose 80

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zukünftigen Geschehens. 1770 schon erscheint der erste utopische Roman, der die Utopie in einem Zeitpunkt der Zukunft, im Jahre 2440 ansiedelt und nicht mehr verbindliche Forderung ist, sondern nur noch ausmalende und literarisch genießende Voraussage21. Das ist zunächst noch Ausnahme. Erst nach der Französischen Revolution wird der Wandel der Utopie zur Prognose deutlich. In den Kämpfen der Revolutionsparteien hat sich die Einheit der bürgerlichen Gewissensforderung und die letzte objektive Bindung aufgelöst, die Bindung an das Reich der Vernunft, die Legitimation durch das Naturrecht. Ein Zukunftsentwurf kann sich jetzt nicht mehr an einer übergeschichtlichen Vernunft orientieren, er legitimiert sich nur noch aus der Hinwendung zur Erfahrung, nur so kann der Boden politisch-sozialer Argumentation nach vorn gewonnen werden. Das Handeln wird in den sozialen Bedingtheiten verankert. Die Soziologie wird - das ist die Leistung Saint-Simons - Voraussetzung des Zukunftsentwurfs und als solche erst entdeckt; aus der Utopie als Leitbild wird die sich als Wissenschaft verstehende Prognose. Aus der Geschichte als Revolution wird die Geschichte als Evolution. Der „utopische“ Frühsozialismus steht genau zwischen diesen Positionen. Prognose und Leitbild werden nicht identisch, aber sie greifen ineinander. Zugleich hat die Revolution die geschlossene Welt aufgebrochen, die politische Zukunft als Raum planender Selbstgesetzgebung eröffnet. Die Theorie ist praktisch geworden. Damit aber ist die Utopie wiederum in programmatische Aktivität transformiert. Ein Zukunftsentwurf kann sich, seitdem eben die Theorie praktisch geworden ist, nicht mehr vom Problem der Realisierung dispensieren und verliert darum seinen die Wirklichkeit bewußt übersteigenden, seinen utopischen Charakter. Die Utopie hat sich selbst überholt und überflüssig gemacht. Der utopische Vollendungsanspruch geht auf dem Umweg über den Frühsozialismus in die eschatologischen Geschichtstheorien des Marxismus, auf dem Umweg über den Idealismus in die Nationalismen über. Aber deren politischer Messianismus lebt aus dem Glauben an eine geschichtliche Notwendigkeit - und nicht mehr aus dem freien Zukunftsentwurf, der die Utopie charakterisierte. Die literarische Form Utopie verkümmert zur flachen, literatenhaft blassen Prognose. Die Utopien des 19. Jahrhunderts halten zwar den Anspruch des Veränderungsdenkens und -handelns, des freien Herstellens einer Welt aufrecht, aber dieser Anspruch ist in der Wirklichkeit der Wissenschaft, der Technik, der Politik nunmehr viel vitaler gegenwärtig. Der freie Zukunftsentwurf der Utopie und seine Zeit- und Handlungsstruktur geht mit all seinem Ethos und Pathos auf das ganze Zeitalter über. Denn das 19. Jahrhundert ist eben charakterisiert durch den „Entschluß zur Zukunft“ (Freyer); es versteht, jedenfalls in den progressiven Tendenzen seines Handelns und Denkens, die Welt als Raum der vollendenden Veränderung und die Zukunft als eigentlich sinnerfüllte Dimension der Zeit. Noch im demokratisch humanitären Sendungsglauben ist ein Stück Utopie gegenwärtig. Der Blick in die Zukunft als Prognose begründet nicht nur ein Leitbild oder rechtfertigt es, sondern die Prognose überholt auch schon das Leitbild; die Zu81 6

Nipperdey

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kunft ist nicht mehr abgeschlossen, sondern ist selbst Durchgang, sie wird selbst dynamisch22. Das Ideal wird veränderlich und verliert damit zum guten Teil seine bewegende Kraft. Der Fortschritt, der auf die Veränderlichkeit der Welt setzt, historisiert damit die Welt und historisiert zuletzt seine eigene Zielsetzung, historisiert die Zukunft. Der utopische Vollendungsentwurf wird liberalisiert. Seine totalitären Züge schwächen sich ab. Von der daraus folgenden Problematik des Zukunftsglaubens in der Gegenwart wird am Schluß noch zu reden sein. Wir wenden uns zunächst unserem zweiten Gesichtspunkt zu und untersuchen die Strukturen der von der Utopie entworfenen Welt. Das allgemeine Bewußtsein hat sich gern an dem besonders konsternierenden Zug großer Utopie orientiert, an ihrem Kommunismus - bei Morus und Campanella etwa - und ihn für ein Charakteristikum der Utopie gehalten. Gegen diese Meinung lassen sich genügend nicht-kommunistische Utopien ins Feld führen, aber von den Gründern der Utopie, von Plato und Morus her, ist die Eigentumsordnung allerdings ein Zentralproblem aller Utopie; sie ist mit der politischen Verfassung immer aufs engste verflochten. Die These, die Harrington 1656 in seiner Oceana gegen Hobbes entwickelt hat: „Government follows property“, trifft mit gewissen Modifikationen auf alle Utopien zu. Dabei ist in unserem Zusammenhang nicht der Anklang an den historischen Materialismus entscheidend, nicht die Behauptung, daß der Wirtschaft eine Priorität vor anderen Lebensbereichen zukomme; darüber finden sich in den Utopien sehr unterschiedliche Standpunkte. Entscheidend für uns ist vielmehr, daß hier die Interdependenz, die Wechselbeziehung und Wechselwirkung, die unlösbare Verklammerung des politischen und wirtschaftlichen Bereichs im Mittelpunkt steht. Die politische Struktur eines Gemeinwesens geht keineswegs im rein Politischen, in der staatlichen Machtordnung auf, sondern sie ergreift die Universalität, ja Totalität der menschlichen Lebensbezüge. Von diesem soziologischen Begriff der politischen Welt lebt die Utopie, ja in gewisser Weise hat sie ihn entdeckt oder doch erst eigentlich entfaltet23. Dieser utopische Weltbegriff hat zwei geschichtliche Voraussetzungen, von denen her sich erst seine Relevanz erkennen läßt. Einmal geht er aus von der neuzeitlichen Ausgliederung autonomer Teilbereiche aus dem Gesamtgefüge der menschlichen Welt - der Wirtschaft, der Religion, der Kultur usw. -, die zu immer neuen Entgegensetzungen führt wie der von Geist und Gesellschaft, und zumal zur Isolierung, ja Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft, zur Ausbildung einer vom Gesellschaftlichen abgehobenen und wesentlich am Machtphänomen orientierten Eigenwelt des Politischen und zu einer Entpolitisierung der Gesellschaft, die wiederum die Emanzipation des Staates von der Kirche zur Voraussetzung haben. Gegen die faktische Vielfalt mehr oder minder autonomer Bereiche, die im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung auch theoretisch unterbaut wird, und zumal gegen die Abgehobenheit der reinen Politik und des reinen Staates also bringt der Utopist, ausdrücklich wie 82

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Campanella in seiner Polemik gegen Machiavelli, zumeist aber unausdrücklich die universale Interdependenz zur Geltung. Zum andern knüpft der utopische Weltbegriff an die antik-mittelalterliche Auffassung der menschlich-politischen Welt als eines Kosmos an, eine Auffassung, die ja in der Theorie bis tief ins 18. Jahrhundert hinein gewirkt hat24. Die Wissenschaft der Ethik, eingegliedert in die den gesamten Kosmos intendierende Philosophie, umfaßt Ethik im engeren Sinne, Ökonomik und Politik und erfaßt damit den Kosmos, in dem der Mensch als Einzelner wie als Glied der Gesellschaft existiert; und die Politik wiederum ist bestimmt als Handeln in allen öffentlichen, also in allen über den Bereich des Hauses hinausreichenden Angelegenheiten; sie ist Gesamtordnung des menschlich-gemeinsamen Lebens, res publica und societas civilis sind identisch. Die antike Staatstheorie hat seit Aristoteles die Bedeutung der Besitzverteilung für die Staatsform, der ökonomischen Gleichheit für die Realisierung der politischen Gleichheit der Bürger betont, und das europäische Denken hat auch vor Rousseau im Horizont eben des Kosmos-Denkens nie ganz vergessen, daß in der antiken Politie der Mensch, der Staatsbürger (citoyen) und der Wirtschaftsbürger (bourgeois) nicht wie in der abendländischen Welt zu unterscheiden waren, daß die Politie mit allen menschlichen Kräften zusammenhing. Aber nicht die Wiederbelebung dieser im Bewußtsein doch zurückgetretenen Elemente macht das Besondere des utopischen Weltentwurfs aus. Vielmehr unterscheidet er sich prinzipiell vom traditionellen Kosmos. Dieser ist eine göttlich gefügte Ordnung substanzieller und geschlossener Teilwelten, und er ist eine statische Ordnung. Die Teilbereiche sind in sich hierarchisch strukturiert, und das ordnet sie einander nach dem Prinzip der Analogie zu. Darüber hinaus stehen sie zueinander im Bezug gestufter Über- und Unterordnung, sind also wiederum durch ein Prinzip der Hierarchie zum Kosmos, zu einem Kosmos der Harmonie zusammengeschlossen. Die utopische Welt nun ist nicht in diesem Sinn ein Kosmos, sie ist vielmehr eine funktionelle Totalität. Das zusammenschließende Prinzip ist nicht das der hierarchischen Stufung, die Zuordnung gemäß einer Analogie spielt keine Rolle mehr. Vielmehr sind die Teilbereiche der utopischen Welt einander gleichgeordnet und gleichursprünglich auf ein gemeinsames, von ihnen gemeinsam erst konstituiertes Zentrum bezogen. Die Welt ist in sich selbst monistisch strukturiert. Die Interdependenz ist nicht organischer Aufbau, sondern die Vermittlung von allem mit allem, ein universales Ineinandergreifen, ein dynamischer Vorgang des Sichintegrierens. Die führende Kategorie ist nicht mehr die der Substanz, sondern die der Relation. Die Eigenwelt der Teilbereiche ist nicht mehr geschlossen, sondern funktionalisiert, diese Eigenwelt ist darum auch nicht natürlich vorgegeben, sondern dem planenden Zugriff aufgegeben. Erst jetzt tritt die im Bereich des traditionellen Kosmos vorstaatliche Sphäre von Familie und Haus ganz in den Bereich des Politischen, erst jetzt gewinnt die Wirtschaft, die unter der Vorstellung vom Kosmos metaökonomisch begründet war und darum ihren festen Ort hatte, ihre dynamische Relevanz für den Bereich des Politischen. Es ist ein qualitativer Sprung, wenn die Utopie 83 6*

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nicht wirtschaftliche und soziale Gesichtspunkte auch an irgendeiner Stelle des Systems erwähnt, sondern sie als Fundierung des Politischen ins Zentrum ihres Entwurfs stellt. Der neue Weltbegriff wird auch daran deutlich, daß die Utopie sich keineswegs darauf beschränkt, nur die Eigentumsordnung in die Komplexion der politischen Verfassung einzubeziehen; vielmehr vertreten die Utopien die Anschauung, daß alle gesellschaftlichen Bereiche, nicht nur mit der politischen Ordnung in irgendwelchen Beziehungen stehen, sondern sie insgesamt konstituieren und im Gegenzug auch politisch wiederum konstituiert werden. Die Utopie entdeckt etwa - aus schlaraffenländischen wie humanitären Motiven den Bereich der Arbeitsverfassung, den Bereich von Berufswahl, Arbeitszeit, Betriebshierarchie und Arbeitsgesinnung als einen eminent politischen Bereich. Die Arbeitsordnung ist nicht nur eine Aufgabe des Staates, der den Menschen von der Arbeitsfron zur Kultur befreien soll, sondern sie gehört zu den Grundlagen des politischen Systems; denn auch Berufswahl, Arbeitsteilung und Arbeitshierarchie entscheiden über Machtbildung und Machtkontrolle, auch die Arbeitsgesinnung entscheidet über das politische Ethos des Bürgers und damit über die Stabilität des Gemeinwesens. Die Staats- und systembegründende Rolle der utopischen Erziehung, die eben den utopischen Menschen bildet, ist ja bekannt genug; man kann die Utopien durchaus legitim geradezu als Erziehungsutopien darstellen. Ich kann hier auf die Einbeziehung anderer sozialer und kultureller Bereiche in das universal-politische Welt-Gefüge der Utopie nicht eingehen, auf die sehr akzentuierte Funktion der Wissenschaft etwa25, auf die Bedeutung der „Freizeitgestaltung“, die mit der Verkürzung der Arbeitszeit zum Problem wird, auf die Ansätze zur Familien- und Ehereform, oder auf den Haus- und Wohnungsbau, an dem die Stileinheit der großen Utopien besonders deutlich wird, - auf die festungsartigen Hochhäuser des totalitären Campanella, die flachen Gartenvillen des liberaleren Morus oder die Verbindung von Wohn- und Betriebsstätten schon bei Andreae, auf die Einbeziehung des Alltags also in die konkrete politische Totalität und endlich auf die intendierte Humanisierung der Natur, in der das Totum der Utopie sich erfüllt. Und auch auf ein komplementäres Phänomen kann ich nur hinweisen, darauf, daß die utopische Zeitkritik von ihrem Begriff der Interdependenz her die Eigenständigkeit der Bereiche, des Rechtes und der Religion ζ. B. nicht aner­ kennt, sondern sie als ideologische Systeme entlarvt, die nur der Machtbehaup­ tung oder Machtgewinnung dienen26. Hier ist die neuere Ideologiekritik vorge­ bildet. In all dem wird nun zwar deutlich, wie leicht eine Utopie zur totalitär einheitlichen Durchgestaltung von allem und jedem tendieren kann, zu einer totalen Vergesellschaftung des Menschen, wenn auch die Politik nicht als Machtübung, sondern als Verwaltung gesehen ist und darum die universale Integration nicht unbedingt den Freiheitsraum der Kultur vernichten muß27, und wenn auch durchaus nicht alle Utopien solcher totalitären Tendenz folgen28. Aber wie dem auch sei, in unserem Zusammenhang ist diese Linie nicht entscheidend. 84

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Vielmehr kommt es hier auf die Erkenntnis an, daß alle Lebens- und Kulturbereiche konstitutive Elemente der politischen Gesellschaft und ihrer Ordnung sind und einander wechselseitig bedingen, daß der politische Bereich, der Staat, nicht isoliert werden kann, daß er nicht im hierarchischen Kosmos, sondern nur im Ineinander mit Gesellschaft und Kultur wirklich ist und wirklich Welt ist. Und diese Erkenntnis hängt aufs engste mit der zuerst erörterten Zukunftsund Vollendungsorientierung zusammen; denn 1. kann nur die Ganzheit und Geschlossenheit der Welt alle irrationalen Störungen ausbalancieren und damit die Zukunft vollenden, und 2. ermöglicht nur die Radikalität der Zukunftsorientierung, die alles Gewachsene und Gelebte vernachlässigt, den einheitlichen und ganzheitlichen Weltanblick29. Im Zusammenhang mit dem Begriff einer Welt, die auf Interdependenz aller Bereiche beruht, fragt die Utopie mit neuer Eindringlichkeit nach dem Verhältnis von Institution und Person. Morus antwortet auf das Problem des Diebeswesens nicht mittelalterlich mit dem Ruf nach Buße, nach Änderung der Gesinnung also, sondern mit der Forderung, die Verhältnisse, die Eigentumsverhältnisse zu ändern. Das ist im Einzelfall immer die Meinung praktischer Politiker gewesen, aber in der Utopie wird dieser Grundsatz zentral. Die Änderung der Verhältnisse wird die Gesinnung ändern, die Institutionen bestimmen die Personen. Das christliche Ethos des Mittelalters hatte trotz der außerordentlichen Institutionalisierung der Religion theoretisch am Vorrang der Person, der Gesinnung, der Seele festgehalten. In der Utopie dagegen ergibt sich praktisch ein klarer Vorrang der Institution. Zwar kennt die Utopie einen Rest unableitbarer Personalität, und es geht ihr letztlich und eindeutig um die Person, um Ermöglichung und Verwirklichung der Person. Aber aller Ton liegt doch auf den Institutionen, die das Personsein, das sittliche Dasein des Menschen nicht nur stützen und fördern, sondern wesentlich bedingen und bestimmen. Die erziehende Kraft der Ordnung durchformt die Person bis in ihren Kern. Wenn die Ordnung gerecht ist, wird der Einzelne gerecht sein, wenn die Ordnung ungerecht ist, muß der Einzelne ungerecht werden, kann er nicht gerecht bleiben. Die Institutionen können die Seele töten, und sie können sie entwickeln. Institutionen müssen darum so umgebildet werden, daß sie die Personen nicht nur negativ freilassen, sondern sie auch positiv zum Guten bestimmen. Denn die Institutionen ermöglichen nicht nur die Person, sondern sie verwirklichen sie auch. Wer die Person will, muß die Institutionen gestalten. Von dieser Selbstgewißheit lebt die Utopie. Im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Institution und Person tritt das Phänomen der Entfremdung in den Blick des Utopisten. Unter Entfremdung verstehen wir seit Fichte, Hegel und Marx die Tatsache, daß in bestimmten von Menschen geschaffenen Verhältnissen der Mensch nicht zu sich selbst kommen, nicht bei sich selbst sein kann, weil er 1. und entweder der institutionalisierten und organisierten Welt, der Welt der Superstrukturen und der sekundären Systeme gegenüber keine Freiheit, keine Spontaneität behält und nur noch die ihm zugeteilten Rollen zu spielen hat, und - oder - 2. weil er sich nicht 85

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als sittliche Person verwirklichen kann, da in diesen sozialen Systemen die vitalen Notwendigkeiten der Selbsterhaltung und die Sollensforderungen nicht nur in einem relativen, sondern in einem absoluten Widerstreit liegen; und die Dialektik der Entfremdung liegt darin, daß der Mensch diese Institutionen selbst geschaffen hat, um das Leben bewältigen zu können. Für die Utopie nun, die davon ausgeht, daß die politischen und sozialen Institutionen den Menschen bis in seinen personalen Kern hinein bestimmen, sind die gegenwärtigen Systeme vom Menschen geschaffene Systeme der Entfremdung; in ihnen kann der Mensch seine Bestimmung als Mensch nicht erfüllen, mag diese Bestimmung nun als schlichtes Ethos, als Kultur oder als christliches Heil verstanden werden. Der utopische Angriff gegen bestehende Systeme erhält durch diese anthropologische Beziehung der Institutionen auf das Person-sein seine besondere und kompromißlose Radikalität, und unterscheidet sich darin von einer nur oder vornehmlich politisch argumentierenden Kritik. Für die Utopie sind die Systeme nicht nur schlecht, unvollkommen oder ungerecht, sondern sie sind ganz eigentlich unmenschlich. Konkret treten in der Utopie als Faktoren der Entfremdung hervor die feudale Privilegienordnung und die bürgerliche Konkurrenzordnung. Systeme, die ein extremes Maß an Macht- und Besitzunterschieden, an Armut und Reichtum, erzeugen und die Wirtschaftsbürger an die Arbeit oder den Müßiggang versklaven. In der Utopie wird die traditionelle Kritik des Reichtums durch eine Kritik der Armut ergänzt. Auch die Armut läßt den Menschen nicht zu seinem Heil, zum Himmelreich kommen, weil er entweder wie der Dieb auf unrechte Weise seinen Lebensunterhalt verdienen muß oder so viel Arbeit zu leisten hat, daß er keine Muße hat, lesen zu lernen, die Bibel zu lesen oder der humanen Bildung zu leben. Der Arme, so kann man Marx paraphrasieren, der hier ganz aus utopischem Erbe lebt, der Arme denkt primär nur ans Geld, aber das ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen, sondern es liegt im System. Auch der Reiche denkt ja primär ans Geld, auch er steht für den Utopisten unter dem Zwang des Systems. Die Theorie von Marx, daß alle wesentlichen gesellschaftlichen Realitäten im Kapitalismus Warencharakter annehmen, ist in der Utopie des 18. Jahrhunderts vorgebildet, die Wirtschaftssysteme verwandeln auch die nichtökonomischen Realitäten, wie vor allem die Ehe, in Waren, die am Geldwert zu messen sind. Zudem zwingen Ungleichheit und Konkurrenz den Menschen in ein ständiges Vergleichen, er lebt außengeleitet immer im Blick auf andere und von ihnen her, ohne in sich ruhen zu können - und das ist für die Utopisten wie für Rousseau das Grundübel der Menschen, und es ist eben Folge des entfremdenden Systems30. In der utopischen Welt soll diese Entfremdung des Menschen von seiner Bestimmung nicht mehr bestehen31. Die christliche Forderung, sich nicht an die Welt zu verlieren, und die christliche Eschatologie, die ja durchaus nicht privates Heil, sondern Erlösung der Welt meint, sind in der Utopie aufgenommen und zugleich ins Innerweltliche verwandelt; alle Trennung der Reiche fällt dahin, das Ungegebene der christlichen Forderung wird in der Vorstellung verfügbar, aber der Gehalt dieser Forde86

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rung wird eben doch aufgenommen: es kommt darauf an, die Verhältnisse so zu gestalten, daß es nicht mehr notwendig ist, sich an die Welt, an den fremden verwirtschafteten Betrieb nämlich, zu verlieren; im Extremfall - bei Campanella z. Β. - richtet sich die T endenz der Utopisten sogar darauf, die Freiheit von der Welt bis zur Freiheit vom Zufall zu erweitern. Die Wirt­ schaftsordnung wird gerade die Verwirtschaftlichung des Lebens verhindern und nicht nur einen äußeren, sondern auch einen inneren Freiheitsraum für den Menschen schaffen. Die relative Gleichheit wird das Konkurrenzdenken, das außengeleitete Verhalten des Menschen überwinden und den Menschen in sich selbst gründen. Das ist das Pathos der Utopie32. Die Einwände gegen diese Gedankengänge liegen nahe. Die ökonomische Ignoranz der meisten Utopisten ist offenkundig. Die Kritik an der entfremdenden Wirkung aller gegenwärtigen Institutionen steht in einer merkwürdigen Spannung zu dem Vertrauen in die befreiende Wirkung der eigenen utopischen Institutionen, ja hier waltet ein ungedachter Widerspruch. Denn die Entfremdung wird gerade neu erzeugt, weil die utopische Gesellschaft dem Menschen seine Rolle ganz und gar vorschreibt, den Menschen total vergesellschaftet, und weil sie alle Konflikte zwischen Teilbereichen der sozialen Wirklichkeit ausschaltet, die uns Nichtutopiern gerade immer wieder Freiheitsräume ermöglichen. Die Manipulation der Institutionen um der Person willen schlägt in eine Manipulation der Person selbst um. Dasselbe läßt sich natürlich am Verhältnis von Freiheit und Gleichheit aufzeigen: die als Voraussetzung der Freiheit erforderte Gleichheit wird ein Zwang und überwältigt die Freiheit, aber der antipluralistische Vollendungsaspekt der Utopie muß das Problem des Zwanges verkennen. Die gegen die Entfremdung antretende Utopie enthält so in sich die Tendenz, in eine neue und exzessive Entfremdung umzuschlagen, ein Phänomen, das ja an der Entwicklung des Marxismus vom jungen Marx bis zu Stalin allgemein einsichtig ist. Aber auch'auf dieses Mißlingen soll es hier nicht ankommen. Wichtig bleibt doch, wie in der Utopie die Selbstentfremdung und die Abhängigkeit der personalen Existenz von institutionell-politischen Bedingungen in den Blick kommt und wie darum Institutionenreform und Selbstbefreiung und Vollendung des Menschen ineinandergreifen. Diese Phänomene sind wie die Totalität einer politisch-sozialen Welt für uns - aus soziologischer Schulung wie historischer Erfahrung - einigermaßen selbstverständlich, sie bleiben aber für eine Zeit, für die der Innenraum der Person erst theologisch akzentuiert war und dann im Privaten und Außerpolitischen lag, eine originale Denkgestalt, die erst allmählich ins allgemeine Bewußtsein eingegangen ist. Es war die Funktion der Utopie, die Zukunft als Raum menschlicher Sinnerfüllung und als Raum planenden autonomen Handelns vorzustellen und zu eröffnen, es war ihre Funktion, die Totalität der politischen Welt und die Abhängigkeit der Personalität von den Institutionen zu erschließen. Damit ist die Utopie seit 1789 in die Struktur des politischen Handelns eingegangen. In den anderthalb Jahrhunderten seither hat sich das utopische Erbe, hat sich insbe87

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sondere der utopische Vollendungsglaube in der westlichen Welt immer weiter abgeschwächt, und zwar in der Konsequenz des utopischen Ansatzes selbst. Denn seitdem der utopische Endzustand der historischen Entwicklung anvertraut wurde, war seine Historisierung nicht aufzuhalten. Der Historismus hat alle Zielsetzungen als historisch bedingt erwiesen, er hat die Endlichkeit allen menschlichen Bemühens nun wirklich radikal zur Geltung gebracht. Die Zukunft ist, seitdem sie als Raum der Sinnerfüllung entdeckt war, selbstverständlich geworden, sie scheint zum leeren Worin möglicher Veränderungen oder bloßer Selbstreproduktion einer grundsätzlich fertigen Welt zu verblassen, aus dem Bereich freien Entwurfs zum Bereich festgelegter Sachzwänge zu werden, ja sie gewinnt gefährlich bedrohenden Charakter. Der gegenwärtige Mensch erwartet nicht mehr das Heil aus der politischen, der sozialen Zukunft, und er lehnt sich auf gegen die totalitäre Mediatisierung der Gegenwart durch die Zukunft. Die Interdependenz, ja Totalität der Welt ist zwar immer deutlicher ins Bewußtsein getreten, aber sie hat sich als ein pluralistisches Spannungsgefüge aus selbständigen Bereichen enthüllt. Und wenn die Erfahrungen der Totalitarismen wie der industriellen Massengesellschaft die Abhängigkeit der Person von den Institutionen in bisher nicht gekanntem Ausmaß zu bestätigen scheinen, so ist diese Abhängigkeit doch gerade als Gefahr entdeckt, die den Widerstand der Person provoziert. Das politische Denken und Handeln also hat keine ausdrücklich utopische Struktur mehr, ja es setzt sich in vielem dem Utopischen ganz entschieden entgegen. Aber seine Selbstverständlichkeiten sind doch auch utopisches Erbe: der planende Ausgriff ins Übermorgen, das Bewußtsein von der Komplexion der politisch-sozialen Welt und ihres wesentlichen Zusammenhangs mit der Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung der Person. Hitler hat in seinem sogenannten politischen Testament sich als den großen Realisten bezeichnet und sich gegen die Utopie der humanitären Idealisten, der Christen und der Kommunisten abgesetzt33. Nicht nur der Utopismus, die Ideologie, die nicht weiß, daß sie Utopie ist, hat in eine Weltkrise geführt, sondern ebenso der antiutopische Realismus. Eine Welt aber, die sich nun in extremer Selbstbescheidung an der Gegenwart genügen läßt oder sich ihre Möglichkeit zu Entwurf und Entscheidung angesichts der Gewalt der Sachzwänge absprechen läßt, bleibt problematisch. Wo ihr gegenüber - im Bewußtsein der Endlichkeit allen Planens und der begrenzten Möglichkeit von Alternativen das Gefühl des Ungenügens, der Anspruch der Zukunft, der Anspruch steigender Sinnverwirklichung aufrechterhalten wird, wo man sich eine künftige Gesellschaft prognostisch und programmatisch vorstellt und danach Politik formt, da ist die Funktion der Utopie in legitimer Weise aufgehoben.

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5. Grundprobleme der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert Bei dem Versuch1, das Spezifische der Parteientwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert greifbar zu machen, verzichte ich darauf, chronologisch zu beschreiben, wie aus schwachen Ansätzen am Anfang des Jahrhunderts bis 1914 ein differenziertes Parteisystem sich ausgebildet hat; das ist eine allgemeine Entwicklung der von liberaldemokratischen Ideen beeinflußten und vom Prozeß der Industrialisierung und der sie begleitenden Klassenbildung betroffenen Länder. Ich verzichte auch darauf, das spätestens seit den 40er Jahren in Deutschland kontinuierlich bestehende Fünfparteiensystem - konservative, katholische, liberale, linksliberal-demokratische und sozialistische Parteirichtung - im einzelnen zu besprechen, wesentliche Gründe, die zu dieser besonderen Differenzierung geführt haben, werden sich aus den folgenden Erörterungen ergeben. Ich frage vielmehr nach den eigentümlichen Strukturen des Parteiwesens und der Parteien in Deutschland und nach den Voraussetzungen und den Bedingungen für diese Strukturen. Und zwar behandele ich die folgenden Faktoren und ihre Bedeutung für das deutsche Parteiwesen: 1. Idee und Theorie; 2. die Konfessionsspannungen; 3. die nationale Frage; 4. und 5. die staatliche Ordnung, nämlich 4. die bürokratische Reform und 5. die obrigkeitsstaatliche Verfassung; 6. die gesellschaftlichen Grundlagen. Die Isolierung dieser Bedingungskomplexe ist selbstverständlich künstlich, in der durch diese Faktoren konstituierten Wirklichkeit der Parteien sind sie unlöslich miteinander verflochten, darum ist auch die Reihenfolge der behandelten Komplexe in gar keiner Weise - weder auf- noch absteigend - eine Rangfolge; darauf kann aber im folgenden nur gelegentlich hingewiesen werden. Zwei Vorbemerkungen scheinen mir noch wesentlich: a) Bei der Frage nach solchen durchgängigen Strukturmerkmalen kann man die Frage nach dem Schicksal der Demokratie in Deutschland, der späten und - in der Weimarer Zeit - nicht gelungenen Demokratisierung nicht ausklammern; ich glaube nicht, daß es sich dabei um eine vordergründige und unhistorisch wertende Gegenwartsperspektive handelt: denn es ist gerade der Erklärung bedürftig, warum der Versuch des größten Teils der Parteien, eine fundamentale Umbildung der politischen Herrschaftsstruktur in Deutschland durchzusetzen, gescheitert ist, warum die Parteien am Ende des 19. Jahrhunderts zwar konsoli89

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diert sind, aber weder im Staat noch in der politischen Gesellschaft eine entscheidende Position hatten, warum das politische System vor 1914 Funktionsmängel aufwies und welche historischen Voraussetzungen sich für das Scheitern der Weimarer Republik aus der Geschichte der deutschen Parteien ergeben. Man muß sich aber hüten, der Geschichte der Parteien und der Demokratie in Deutschland von dem Ereignis 1933 her einen falschen Schein von Notwendigkeit zu geben und ihre Offenheit in allen entscheidenden Situationen zu leugnen. Eine gerechte und das heißt auch zeitgerechte Beurteilung wird sich freilich erst dann ergeben, wenn man diese Strukturanalyse im europäischen Vergleich durchführt, b) Ich setze hier einen relativ weitgefaßten Parteibegriff voraus und verstehe daher unter Partei nicht erst und nicht nur mehr oder minder straff organisierte politische Zusammenschlüsse, die sich auf Wahlen und Wirksamkeit in Parlamenten orientieren, wie es sie in großem Maß in Deutschland erst 1848 und dann seit den 60er Jahren gegeben hat. Von einer Partei will ich auch beim Fehlen einer Organisation dann sprechen, wenn wir es mit einer politisch, d. h. auf die staatliche und öffentliche Willensbildung gerichteten Gruppe zu tun haben, die durch ein eigenes und abgrenzendes Selbstverständnis, ein Selbst- und Wirbewußtsein charakterisiert ist; im allgemeinen haben sich im frühen 19. Jahrhundert solche Gruppen um Zeitschriften (z. Β. die Hi­ storisch-Politischen Blätter), um bestimmte Literaturwerke (z. Β. Haller oder Rotteck-Welcker), aus Anlaß von Festen (z. Β. Hambacher Fest) oder in gesell­ schaftlichen Zirkeln gebildet. Die Grenzen bleiben bei dieser offenen Gruppen­ bildung natürlich fließend, aber programmatische politische Tendenz und Gruppenbewußtsein erlauben es m. E., schon im frühen 19. Jahrhundert von Parteien zu sprechen. 1. Ich beginne mit einem anscheinend konventionellen Thema und behandele die Bedeutung von politischen Ideen und Ideologien für die deutschen Parteien; dabei wird der Begriff Ideologie nicht in dem von Marx und der Ideologiekritik benutzten engeren Sinne - als Ausdruck oder Überbau wirtschaftlicher, sozialer oder politischer (Macht) Interessen - verwandt, sondern in dem von Napoleon aufgebrachten und heute üblichen weiteren Sinne eines theoretischen, philosophisch oder historisch fundierten Gesamtentwurfs, eines Komplexes von Ideen. Zunächst das Phänomen: Die deutschen Parteien im 19. Jahrhundert sind, das haben schon kritische Zeitgenossen bemerkt und seither wiederholen es die Historiker, verglichen mit den Parteien anderer Länder in besonderem Maße an Prinzip und Doktrin, Theorie und Idee gebunden, oder, auf weniger reflektierter Ebene, an Gesinnung und „Weltanschauung“. Auf das Verhältnis von Idee und Interesse wird selten und spät erst reflektiert, die Forderungen des Tages spielen, solange jedenfalls die Parteien keine konsolidierte Macht waren, keine dominierende Rolle: für das Selbstverständnis der Parteien sind die Ideen maßgebend. Das Politische hat ein spezifisch deutsches Pathos weltanschaulich-philosophischer Tiefe; noch die Debatten über die Frage des Schutzzolls in den späten 70er und den 80er Jahren ζ. Β. werden ganz explizit im Namen 90

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von Weltanschauungen und ethischen, kulturellen oder gar metaphysischen Werten geführt und damit auf eine grundsätzliche Ebene des Kampfes um letzte Überzeugungen gehoben. Im frühen 19. Jahrhundert haben sich die Parteien in Deutschland bekanntlich im Anschluß an philosophische Denker formiert, und in staatsphilosophischen Theorien haben sie sich immer wieder ihrer selbst vergewissert. Das gilt nicht nur für Liberale und Sozialisten, also zunächst relativ machtlose Gruppen des Bildungsbürgertums und der Intelligenz. Auch die konservative Partei, also eine traditionell mächtige und antiideologische Gruppe, ist nicht einfach aus ständisch-feudalen oder gar gouvernementalen Traditionen entstanden, sondern im Zusammenhang mit der Lehre Hallers und der Romantiker; erst Stahl hat sie durch philosophische Begründung zur vollentwickelten Partei umgeformt, auch sie hat aus der urkonservativen Gegnerschaft gegen alle Doktrinäre eine Doktrin entwickelt. Und bei der Begründung des politischen Katholizismus durch J . Görres (1838) spielt wiederum die theoretische Etablierung des Zusammenhangs von Konfession und Partei eine entscheidende Rolle. Besonders deutlich wird diese Orientierung an Theorie und Idee, zumal in der Frühzeit der Parteien, in ihrem zwiespältigen Verhältnis zur Praxis, zur politischen Aktion. Luthers Glaube, daß das Wort allein, „ohne Hand“, sich durchsetzen werde, und seine Trennung der zwei Reiche wiederholen sich in anderen Gestalten. Für Hegel und viele ältere Liberale z. Β. war eine Revolu­ tion in Deutschland überflüssig, weil die Reformation als die Revolution von innen die Wahrheit bereits im Bewußtsein der Menschen innerlich begründet habe: sie werde sich in Staat und Gesellschaft, in den Institutionen, auf die Dauer von selbst durchsetzen, das zeichne die deutschen Verhältnisse sowohl vor den „abstrakten“ Verhältnissen der romanischen, wie den pragmatischen der angelsächsischen Länder aus. Und von dieser Auffassung ist das Verhältnis des deutschen Bürgertums zur Revolution tief bestimmt worden; man glaubte, daß die Theorie sich, wenn sie nur zur Überzeugung immer größerer Kreise werde, von selbst durchsetzen würde. Ähnlich haben später Teile des von Kautsky bestimmten marxistischen Zentrums innerhalb der Sozialdemokratie an die revolutionäre Kraft der richtigen Theorien und der bloßen Bewußtseinsbildung des Proletariats geglaubt, das waren die entscheidenden Faktoren für den Weg zur Macht. Jean Jaurès hat das 1904 gegenüber den deutschen Sozialdemokraten angesprochen: „Hinter der Starrheit Eurer theoretischen Formulierungen, die Euch Genosse Kautsky bis ans Ende seiner Tage liefern wird, verbergt Ihr, daß Ihr unfähig seid zu handeln.“ Aber auch ohne solches Vertrauen in die Theorie blieb das Verhältnis zur Praxis eigentümlich gebrochen. Daß „Verwirklichung“ nicht nur eine - wie überall in der Welt - politische und aktuelle Selbstverständlichkeit, sondern seit den Junghegelianern ein Grundproblem des parteipolitischen Denkens jedenfalls aller linken Parteigruppen in Deutschland gewesen ist, über das Theoretiker theoretische Abhandlungen schrieben, kennzeichnet diesen Sachverhalt. 91

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Wo Politik nicht nur bedacht, sondern in Parlament und Öffentlichkeit praktisch getrieben werden mußte, dominierten gemäß dieser Ausgangslage lange Zeit Grundsätze und Prinzipien. Die Abgeordneten demonstrierten vielfach ihre Überzeugung, demgegenüber erschien das Ausnutzen realer Machtchancen, erschienen Teilerfolge weniger wichtig, ja suspekt, ein Phänomen, das die rechtsliberalen Kritiker seit der Mitte des Jahrhunderts - aber auch auf linksliberaler Seite noch Naumann und Barth - besonders und nicht ganz ohne Grund betont haben. Es gab infolgedessen wenig Kompromißbereitschaft unter den deutschen Parteien, der Kompromiß hatte noch für Eugen Richter durchaus etwas Kompromittierendes. Das Verhältnis der Parteien zur Wirklichkeit war, das ist entscheidend, auf diese Weise unsicher und gestört. Die Grundsätze standen der Wirklichkeit hart gegenüber und (oder) waren ihr übergeordnet, ja waren über sie hinaus. Auch im späteren 19. Jahrhundert spielt die ideelle Orientierung der Parteien noch eine wichtige Rolle: die Formulierung und Umformulierung programmatischer Erklärungen, das Einfügen neuer Ziele in eine bestehende Theorie, die sie erst rechtfertigt, das beschäftigt Parteianhänger, Parteijournalisten, Parteitage noch bis ins 20. Jahrhundert hin. Noch um 1900 gehört es zum üblichen Wahlkampfstil, einen Kandidaten nach seinem politischen, ja nach seinem wirtschaftspolitischen „Glaubensbekenntnis“ zu fragen. Für die Linksparteien mit ihren „Orthodoxien“ und Häresien ist dieses Phänomen ja besonders evident. Eugen Richter, Prototyp und „talentiertes Unglück“ des deutschen Linksliberalismus, führte den politischen Kampf, so bemerkte ein kritischer Beobachter2, wie eine wissenschaftliche Diskussion ohne jede Rücksicht auf die politischen Folgen; und welche Bedeutung die Lehre von Marx, die das Proletariat als den allgemeinen Stand deutete und damit das Klasseninteresse zur Idee umformte, für die Arbeiterbewegung hatte, welche Rolle die diese Lehre verwaltenden und die Wirklichkeit von ihr her interpretierenden Theoretiker spielten, welche Funktion ihre theoretischen Formeln für Entwicklung und Zusammenhalt der sozialdemokratischen Partei hatten - das ist ja allbekannt. Fundamental für dieses Phänomen war natürlich das Gegenüber von Regierung und Parteien. Solange dieses Gegenüber andauerte, blieb auch die praktische Politik prinzipiengeleitet, und für alle Parteien stellte das Abweichen von den noch immer in Programmen und Erklärungen konkret formulierten Prinzipien ein Problem dar. Freilich scheint es, als ob wie überall, so auch in Deutschland, bei den Rechtsparteien solche Bindung an Prinzip und Doktrin zurückgetreten sei, gerade die liberale Mitte hat sich ja von Haym über Rochau und Baumgarten bis zu Miquel im Kampf gegen die Prinzipienpolitik neu formiert. Aber ich glaube zeigen zu können, wie stark auch diese Wendung ideenbestimmt war und wie stark auch diese nach rechts rückenden Gruppen ideologieverhaftet blieben, obschon die ausformulierten Grundsatzprogramme zurücktraten. Ehe wir diese allgemeine ideelle Orientierung etwas stärker differenzieren, fragen wir nach den Ursachen dieses Phänomens. Warum hatten die Ideologien eine so besondere Bedeutung für die deutschen Parteien? Zunächst kann man allgemein darauf hinweisen, daß im Prozeß der 92

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Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft die Tendenz auftritt, Angriffs- und Verteidigungsideologien zu bilden; diese Tendenz wurde in Deutschland deshalb spezifisch verstärkt, weil parteibildend zunächst nicht starke soziale Gruppen mit praktischen Zielen waren, sondern Intelligenz und gebildetes Bürgertum, also Gruppen, die anfangs keine starke Position in der Gesellschaft hatten; weil die Parteien in dem konkreten Handlungsraum der Partikularstaaten unbefriedigt und überhaupt innerhalb der politischen Systeme im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts relativ machtlos blieben; schließlich - und das hängt natürlich mit den erwähnten Gründen zusammen -, weil die Parteibildung in Deutschland wesentlich durch die Französische Revolution ausgelöst worden ist: das bedeutet durch eine überwiegend theoretische Erfahrung und eine Erfahrung mit Theorien. Von diesen Gründen wird im einzelnen noch zu reden sein. Μ. Ε. reichen aber diese Verweise auf allgemeine Bedingungen der Parteibil­ dung in einer erst entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und auf besondere politische und soziale Bedingungen des 19. Jahrhunderts, zumal auf die maßgebliche Rolle der Intelligenz und der Bildungsschicht nicht hin, die Bedeutung der Ideologie für die deutschen Parteien zu begreifen. Man sollte vielmehr, das kann ich hier in Fortführung von Ansätzen etwa E. Troeltschs, Helmut Plessners und E. Rosenstocks nur gerade andeuten, noch auf ältere Strukturen der deutschen Geschichte zurückgreifen, und zwar auf die Begründung einer spezifisch deutschen intellektuellen Tradition und Mentalität durch die Reformation und besonders durch Luther. Indem ich diesen Komplex zur Erklärung eines spezifischen Charakters der deutschen Parteien heranziehe, bewege ich mich freilich im Bereich von Hypothesen, die nicht endgültig zu beweisen oder zu widerlegen sind. Ein heuristischer Wert kommt ihnen aber jedenfalls zu. Der Ort der Wahrheit, der Wahrheit über das Leben, die Welt, die Gesellschaft, ist seit Luther das durch die Schrift betroffene Gewissen des einzelnen. Das ist natürlich gemeinprotestantisch. Spezifisch aber für Deutschland ist es, daß diese Betroffenheit allein durch das Wissen der theologischen Wissenschaft ausgeformt und gehalten ist. Nicht die Institution Kirche oder die Gemeinde, sondern die Theologie expliziert und interpretiert die Wahrheit. Deshalb ist die Universität durch die Reformation die zentrale Institution geworden, die anders als in Westeuropa - die deutsche Kultur, die intellektuelle Orientierung und das Bewußtsein der Deutschen geprägt hat. In den deutschen Partikularstaaten hat sich dann das bekannte Wechselverhältnis von Obrigkeit und Theologie entwickelt und über alle Brüche der Praxis hinweg Lehre und Politik miteinander verbunden. Und weil es für die einzelnen in dem pluralistischen Mit- und Gegeneinander der deutschen Universitäten eine - durchaus eingeschränkte, aber doch immer wieder aktuelle - Freiheit gab, die Universität zu wählen und zu wechseln und gegebenenfalls auch das Land zu wechseln, war die theologische Doktrin einer Universität nicht einfach ein Zwang, sondern etwas, was man frei gewählt und internalisiert hatte. Darum haben 93

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Schrift und Buch, Wissenschaft und Lehre in Deutschland eine so starke religiöse Fundierung, darum spielen sie für die Interpretation von Leben und Welt eine so bedeutende Rolle. Das hat sich auf die Säkularisationsgeschichte des deutschen Geistes ausgewirkt. Der deutsche, wesentlich lutherische Protestantismus hatte die religiösen Energien der Laien zwar ständig bewegt, aber nicht wie in den reformiert geprägten Ländern in der Kirche organisiert, diese Energien blieben in der Amts- und Theologenkirche funktionslos, sie wurden in eine innerweltliche Geistigkeit abgedrängt. Das ist der Grund, warum die deutsche Kultur und Mentalität im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert einen quasi-religiösen, quasi-theologischen Zug gewann. Zu einer entschiedenen Trennung des säkularen Denkens von der Theologie kam es gerade nicht. Das wurde überdies, ein bisher kaum berücksichtigter Gesichtspunkt, durch die Selbstentfaltung der lutherischen Universitätstheologie seit dem 18. Jahrhundert begünstigt: sie hat die Umformungsprozesse des modernen Denkens wie kaum anderswo in sich selbst ausgetragen oder aus sich entlassen, sie ist für die Entbindung und Entfaltung der Modernität und ζ. Β. auch des liberalen Parteiwe­ sens von entscheidender Bedeutung gewesen. T heologisch-philosophische Spe­ kulation blieb auch für die nicht-theologische Bildung und ihre Träger prägend, wie zahlreiche Biographien konservativer und liberaler Politiker, der Pfarrerssöhne und der ehemaligen Theologiestudenten, erweisen können. Diese Tradition hat m. E. die Tendenz, politische Ideen philosophisch zu legitimieren, begünstigt, von daher läßt sich zu einem guten Teil erklären, warum Theorie und Doktrin im deutschen Parteiwesen eine so große Bedeutung gehabt haben. Haben wir einige historische Bedingungen für das in Rede stehende Phänomen angegeben, so vergegenwärtigen wir uns nun einige typische Abwandlungen dieser ideellen Orientierung, die innerhalb der einzelnen Parteien oft sich überkreuzend festgestellt werden können. Am augenfälligsten und vielleicht ursprünglichsten ist die ideelle Orientierung natürlich beim echten und einfachen Doktrinarismus. Mit der rigorosen Konsequenz der Theorie, die sich von Traditionen abstößt, wählte sich eine Partei einen Standpunkt, der der Wirklichkeit und den eigenen Zielen durchaus angemessen sein mochte. Aber im Laufe der Parteientwicklung verstand man eine solche Theorie nicht mehr als Antwort auf eine konkrete und wandelbare Lage, sondern als zeitüberlegene oder zeitlose, als klassische Theorie. Von einem solchen zeitüberlegenen Standpunkt wurden dann selbst Orientierung sichernde und Verhalten legitimierende Traditionen gebildet, alle spätere Wirklichkeit wurde unter den Anspruch jener fixierten Theorie der Anfänge gerückt und demgemäß wahrgenommen und gedeutet. Alle Parteiorthodoxien gehören hierher, zumal der von der Aufklärung, von Kant und der klassischen liberalen Wirtschaftstheorie bestimmte Linksliberalismus, wesentliche Teile des älteren Radikalismus oder das marxistische Zentrum in der Sozialdemokratie, aber auch Teile des altpreußischen Konservatismus. Das Problem solcher Theorien oder der sie verwaltenden alternden Parteiorthodoxien wurde dann aktuell, wenn die Theorie nicht mehr 94

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neue Wirklichkeiten - das soziale Problem der Großindustrie für die Linksliberalen, Fortbestehen oder Neubildung des Mittelstandes für die Marxisten erklärend bewältigen konnte. Neben dieser Form der philosophischen Begründung des Politischen, die auf eine zeitabgehobene Idealität ausging, gab es, ursprünglich oft damit verflochten, auch Formen des politischen Denkens, die ausdrücklich innerhalb der Zeit ihren Standort wählten. Seitdem Hegel die Philosophie geschichtlich verstanden hat, ihr die Aufgabe gestellt hat, die Zeit in Gedanken zu fassen, richtet sich ein Strang des philosophisch orientierten politischen Denkens auf die aus der Gegenwart in die Zukunft laufenden Tendenzen; an die Stelle des zeitlosen oder utopischen Ideals tritt die geschichtliche Prognose3. Solches Denken nimmt daher einen eigentümlich frühreifen und modernen, ja antizipierenden, Wirklichkeit überspringenden, Gegenwart überholenden Zug an und entwickelt dann eine spezifische Zukunftsgewißheit. Die weltgeschichtlichen Konsequenzen der Französischen Revolution werden bedacht, ehe sie wirklich werden, der liberale Volksbegriff ist der Realität der ständischen Gesellschaft weit voraus, und ähnlich steht es mit dem marxistischen Begriff des Proletariats oder auch der konservativen Witterung für das soziale Problem. Die Realität, von der man sprach, war oft eine intellektuell antizipierte Realität, und auch hier stellte sich das Problem, daß eine solche Interpretation die aktuelle Wirklichkeit gerade verfehlen konnte. Sehr wichtig für dieses Phänomen ist, daß die politischen Theorien der sich bildenden Parteien in der ersten Jahrhunderthälfte vielfach von den westeuropäischen, französischen Diskussionen beeinflußt sind und von daher mit der antizipierten Realität in Berührung stehen4. Scheinbar im Gegensatz zu solchen idealistischen oder antizipatorischen Ideologien und ihrem Wirklichkeitsverständnis steht eine Orientierung, die sich ausdrücklich auf die Gegenwart und die gegenwärtige Wirklichkeit bezieht, freilich wieder so, daß sie in den einzelnen Parteien zunächst ein Element neben den anderen ist. Es gab Gruppen, die an einer sicheren, ins Ideal hypostasierten philosophischen Tradition wie einer selbstgewissen Antizipation der Zukunft zweifelten und sich mehr oder minder konsequent an der in der Gegenwart jeweils dominierenden Gestalt des Denkens orientierten. Die Parteien, die sich auf Philosophie gründeten, waren an das Schicksal der Philosophie, und das bedeutete an das Schicksal der Auflösung der Metaphysik gebunden. Die Erben der Philosophie als der führenden Gestalt der Weltauslegung: Geschichte als Geschichtsphilosophie, Universalgeschichte, National- und Machtgeschichte, Ökonomie und Soziologie, der Realismus des Glaubens an die Wissenschaften oder die Wirtschaft, und schließlich Kulturkritik, Vitalismus und anthropologische Biologie haben die Theorie der Parteien nicht nur - wie überall in der Welt - überformt, sondern sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße durch Reflexion fixiert, in sie hineingenommen worden. Schon die Wendung zur Geschichte, durch die in den 50er Jahren die politischen Ideale zu geschichtsimmanenten Tendenzen umgedeutet werden (charakteristisch etwa die Meinung Twestens, die liberale Verfassung werde das notwendige Resultat des beobacht95

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baren ökonomisch-sozialen Aufstiegs des Bürgertums sein), gehört hierher. Die erstaunliche Intensität, mit der der politische „Idealismus“ und sein Prinzipienglaube in politischen Realismus und dessen Macht- und Situationsglauben umschlugen, dieses für die deutsche Parteigeschichte des 19. Jahrhunderts zentrale Geschehen, das wir exemplarisch an der Geschichte der nationalliberalen Partei zwischen 1867 und 1884, aber fast ebenso deutlich bei den Konservativen zwischen 1867 und 1893 beobachten können, hängt mit der Tendenz zur ständigen Neubegründung der Politik auf nachphilosophischen, zeitgerechten realistischen Weltansichten zusammen. Die geschichtliche Erfahrung von 1848/49 ζ. Β. schlug sich bei den Liberalen nicht in einer Änderung von Zielen und Mitteln der Politik nieder, sondern in einer grundsätzlichen Neufassung des Wesens von Politik. Die Wendung zur Wirklichkeit, zur pragmatischen Realpolitik, zur Kompromiß- und Kooperationsbereitschaft, die Einsicht in die Situationsgebundenheit des Handelns waren durchaus legitim, sie konnten das durch den Doktrinarismus gestörte Wirklichkeitsverhältnis der deutschen Parteien korrigieren. Aber bei den Rechtsliberalen wurde diese Wendung zwischen 1850 und 1890 durch theoretische Reflexion radikalisiert und zu einem neuen Prinzip hypostasiert. Noch die Opposition gegen die Prinzipienpolitik blieb dieser in ihrer Grundsätzlichkeit verpflichtet, war selbst eine prinzipielle Position, aus der Realität und Realpolitik ideell fixiert wurden. Darum konnte diese Realpolitik in die Anerkennung der bestehenden Zustände, konnte die Kompromißbereitschaft in den puren Opportunismus und die Preisgabe an die Wirklichkeit umschlagen. Der Ausgleich und die Vermittlung zwischen programmatischen Zielen und realen Möglichkeiten, die eigentliche Intention der Realpolitik, führte dann zum faktischen Verzicht auf die eigenen Ziele und die Umgestaltung der politischen Ordnung, zum Kompromiß als opportunistische Anpassung an die gegebene Machtlage. Grundsatzgeleitetes Wollen und situationsgerechtes Handeln, Strukturprinzipien jeder Partei, sind in Deutschland damals auf charakteristische Weise auseinandergetreten. Wir können von einer Polarisierung sprechen. Darin sehe ich ein Grundphänomen der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert. Die Abkehr von theoretisch ausformulierten Programmen und Grundsätzen und die stärkere Berücksichtigung von Situationen und Machtchancen bedeutete nun aber auch bei den Parteien der Rechten und der Mitte inhaltlich keineswegs eine „Entideologisierung“ der Politik. Vielmehr entstand etwas, was ich als „Kryptoideologie“ bezeichnen möchte. Diese Parteien blieben ihrer idealistischen Tradition weiterhin halbherzig verpflichtet, zwar traten theoretische Programme und Doktrinen zurück, aber man bildete aus Stücken der eigenen Tradition, aus Maximen des nun voll anerkannten Staates und aus der Rechtfertigung der Anpassung an diesen Staat ein neues ideologisches Konglomerat, eine nicht weiter explizierte „Weltanschauung“. Indem diese Kryptoideologien sich vor allem mit sozialen, nationalen oder konfessionellen Gruppensentiments intensiv verflochten, bestimmten sie Mentalität und Verhaltensweise der Anhänger einer Partei. Das ist an sich natürlich ein Phänomen, das in allen mo96

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dernen Parteien anzutreffen ist. Aber in Deutschland erwuchs es aus der Tradition der weltanschaulichen „Tiefe“ politischer Aussagen, die politische Mentalität bekam daher leicht einen Zug zur Starrheit, im politischen Kampf konnte das Weltanschauungselement außerordentlich emotional intensivierende Wirkungen entfalten. Ζ. Β. hat die bürgerliche Kryptoideologie des Klassenkampfes, der nicht als reales Phänomen anerkannt, sondern vom Leitbild der konfliktlosen Harmonie der Gesellschaft aus als Resultat sozialistischer Agitation verstanden wurde, die Heftigkeit des realen Klassenkampfes erheblich gesteigert und die Möglichkeiten einer klassenübergreifenden zeitweisen politischen Kooperation erheblich gemindert. Eine wichtige Folge der ideellen Orientierung ist noch zu streifen. Die Parteien traten lange Zeit mit einer Art unbewußten Absolutheitsanspruchs auf, so sehr er durch Rechtsgesinnung und Liberalität, durch die Atmosphäre der Toleranz eingeschränkt sein mochte. Die Liberalen etwa - das gilt freilich für das ganze kontinentale Europa - beanspruchten im Grunde, die eigentliche, die einzige Partei zu sein, sie repräsentierten das aufgeklärte und nicht durch die Obrigkeit oder den Adel, durch den Klerus oder durch Demagogen korrumpierte und mißleitete Volk oder wenigstens das Bürgertum als den „allgemeinen Stand“; die anderen Parteien, zumal Zentrum und Sozialisten, galten noch lange als unechte, als illegitime Parteien. Und die Konservativen erhoben für sich den entsprechenden Anspruch. Die Einsicht in die legitime Pluralität der Parteien hat nur sehr langsam Boden gewonnen und konnte immer wieder durch untergründig fortwirkende ideologisch begründete Absolutheitsansprüche durchbrochen werden. Solche Absolutheitsansprüche partikularer Gruppen, so abgeschwächt sie immer sein mochten, provozierten nun eine gegen die Parteien gerichtete Reaktion: eine positive Wendung zum bürokratisch monarchischen Staat. In der Tradition des deutschen, zumal Hegeischen Staatsdenkens wurde der Pluralismus der Parteien als Partikularismus verstanden, und dagegen wurde die integrierende Funktion des obrigkeitlichen Staates zur Geltung gebracht und legitimiert. Oder man bemerkte, wie etwa Bismarck, daß gerade die deutschen Parteien im Unterschied zu den vielberufenen englischen Parteien partikular auseinanderfielen, und folgerte, daß sie nicht in der Lage seien, die Nation zu integrieren, und deshalb keine dominierende Rolle im Staat spielen könnten. Nach etwa 1880 haben die rechtsstehenden Parteien diese Auffassung zu einem guten Teil selbst übernommen. Insofern begünstigte der ideenbestimmte Pluralismus der deutschen Parteien mittelbar ihre Selbstbeschränkung, begünstigte das wachsende Prestige des - konstitutionellen Obrigkeitsstaates. 2. Ein weiteres spezifisches Problem des deutschen Parteiwesens - das mit dem Problem der ideellen Orientierung eng zusammenhängt - ist die politische Auswirkung eines Grundtatbestandes der deutschen Geschichte: des Gegensatzes der Konfessionen. Zunächst gilt für die Inkubationszeit des deutschen Parteiwesens: es fehlte in Deutschland im großen und ganzen eine nennenswerte, aggressiv-antikatholische Parteibewegung, und, das ist die wichtigste Konse97 7 Nipperdey © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

quenz, damit fehlte auch dem deutschen Liberalismus im Unterschied zum Liberalismus der romanischen Länder ein Moment allgemeiner, massenwirksamer Aggressivität. Das hängt mit der Entwicklung des deutschen Katholizismus im 18. Jahrhundert zusammen. Die Konkurrenz mit den Protestanten, die Vielzahl der Herrschaftsgebiete im Reich, die Tatsache eigener geistlicher Territorien mit relativ ausgebildeter ständischer Gewaltenteilung und einer relativ lockeren Regierungspraxis und die katholische Aufklärung hatten dazu geführt, daß der Katholizismus jedenfalls im Vergleich zu Frankreich relativ wenig Gegnerschaft provozierte, der Katholizismus galt - wie der Protestantismus - nicht als besonders konservativer Faktor, ein Tatbestand, der sich erst im Zuge der katholischen Restauration geändert hat. Die wichtigste Folge des Konfessionsgegensatzes im 19. Jahrhundert ist natürlich die Bildung einer katholischen Partei in Deutschland seit den 30er Jahren, zumal seit 1837/38, seit Görres' „Athanasius“ und der Gründung der Historisch-Politischen Blätter, die dann unter dem allgemeinen Wahlrecht seit 1871/74 zwei Drittel bis drei Viertel aller katholischen Wähler repräsentierte5. Die allgemeine Spannung zwischen Katholizismus einerseits, modernem Staat und Liberalismus andererseits hat sich zu einem Parteigegensatz verfestigt. Die Gründe für die Entstehung und den Aufstieg dieser Partei sind relativ bekannt: das Vorgehen der Staaten, zumal der protestantischen, gegen die Kirche vom Konflikt des preußischen Staates mit der katholischen Kirche (Kölner Ereignis 1837) bis zum Kulturkampf und die Angriffe des Liberalismus gegen den Katholizismus, die historisch und politisch zu verstehenden großdeutsch-föderalistischen Sympathien der Katholiken in Deutschland und ihr Minderheitenbewußtsein zumal im Bismarckschen Reich; ausschlaggebend ist letzten Endes die Tatsache, daß den bewußten Katholiken nicht Auch-Katholiken gegenüberstanden - das hätte zu der Polarisierung konservativ und liberal geführt -, sondern daß ihnen Protestanten gegenüberstanden, die ihre politischen Positionen, mochten sie nun konservativ oder liberal sein, auch protestantisch zu legitimieren suchten. In einer Minderheits- und Defensivposition erwies sich die Konfessionsloyalität als stärker denn die rein politischen, ideologischen oder klassenmäßigen Loyalitäten, es kam zu einer sehr weitgehenden politischen Integration des katholischen Volksteils. In diesen Zusammenhang gehört als Bedingung wie als entscheidende Folge der katholischen Parteibildung, daß in Deutschland - anders als etwa in Belgien - ein liberal-demokratischer Katholizismus, zumal nach 1848, keine eigenständige Rolle gespielt hat. Die Minderheitensituation gegenüber dem Staat und dem protestantischen Liberalismus, der schwache Anteil der Katholiken am industriell-kapitalistischen Bürgertum (etwa im Rheinland), dann die absolute Beherrschung der katholischen Massen - Bauern und alter Mittelstand durch die integralen Kirchenkreise, die romantisch konservative Vororientierung der katholischen Intellektuellen seit den 30er Jahren, das sind m. E. die Gründe dafür, daß die liberale Komponente im politischen Katholizismus in Deutschland nur indirekt wirksam geworden ist. Die Loyalität gegenüber der 98

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anscheinend bedrohten antiliberalen Kirche und der antiliberalen Mehrheit des katholischen Volksteils war auf die Dauer und zunächst stärker als die vorhandenen liberalen Tendenzen in dem katholischen Bürgertum etwa Westdeutschlands. Das Verhältnis der katholischen Partei zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft blieb darum problematisch. Einerseits gab es im Zentrum eine entschiedene Opposition gegen den bürokratischen Charakter des Obrigkeitsstaates, das Zentrum hat mit Vehemenz den Rechtsstaat und das allgemeine Wahlrecht im Reich verteidigt, es gab starke populistische Strömungen in der Partei und nicht zuletzt die starken christlichen Gewerkschaften. Aber andererseits haben die ideologischen Traditionen des deutschen Katholizismus und vor allem die Sozialstruktur der für den politischen Machtanteil entscheidenden agrarisch-mittelständischen Wählergruppen dazu geführt, daß das Zentrum eine sozial und politisch eher konservative Position einnahm und bis 1914 durchhielt. Die Anpassung an das Bismarcksche und Wilhelminische System über alle latente Opposition hinweg war die Konsequenz dieser Grundeinstellung, dieses System sicherte - durch seine Rechtsstaatlichkeit - auf die Dauer die Existenz der katholischen Minderheit und schien gerade als nichtparlamentarisches System die bedeutende indirekte politische Machtstellung der nach allen Seiten koalitionsfähigen und nur kryptoideologisch festgelegten Zentrumspartei und die sozialökonomischen Interessen ihrer nichtindustriellen Wählermehrheit zu garantieren. Die Partei, ursprünglich im Gegensatz zu dem preußisch-deutschen Reich, ist in dieses Reich integriert, zu einer seiner tragenden Gruppen geworden, ohne doch die Position der Mitte und eine Möglichkeit zu systemändernden Reformen und Koalitionen aufzugeben. Die konfessionelle Gruppierung hat sich aber nicht nur in der Bildung einer katholischen Partei ausgewirkt. Denn das deutsche 19. Jahrhundert ist seit Schleiermacher kein bi-, sondern ein trikonfessionelles Zeitalter; und diese Tatsache ist nicht nur eine kirchen- und geistesgeschichtliche, sondern eine politische Tatsache ersten Ranges. Die eminente Bedeutung des sogenannten Neuprotestantismus für den Liberalismus der ersten Jahrhunderthälfte, mindestens in Norddeutschland, ist zwar noch nicht genauer erforscht, aber sie kann schwerlich überschätzt werden; der kirchliche Liberalismus hat die Stärken wie Schwächen des politischen Liberalismus in Deutschland mitbedingt. Die innerprotestantischen Gegensätze zwischen „Positiven“ und Liberalen, Orthodoxen und idealistischen Kulturprotestanten haben den konservativ-liberalen Gegensatz entscheidend mitgeprägt und weltanschaulich aufgeladen, wenn es auch eine unmittelbar eindeutige Zuordnung nicht immer gibt. Auch der ältere Radikalismus der 40er Jahre ist eng mit religiösen Bewegungen gegen die kirchliche Orthodoxie und die institutionelle Kirche verflochten gewesen (so etwa R. Blum). In und seit dem Kulturkampf haben dann die nichtkatholischen Parteien der Rechten massiv an konfessionelle Emotionen und Loyalitäten der Wähler appelliert, und dieser Appell behielt seine Bedeutung, obwohl sich die kirchlichen Bindungen des Bürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts stark lokkerten. Bei den Nationalliberalen hat gerade das zum Antikatholizismus zuge99 7* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

spitzte konfessionelle Element die gesamte politische Position wesentlich beeinflußt: die Umorientierung vom Vorwalten liberaler Freiheitsforderungen zum Arrangement mit dem noch überwiegend obrigkeitlichen Staat, dem Bundesgenossen im Kulturkampf, wurde dadurch erheblich begünstigt. 3. Die deutschen Parteien sind im 19. Jahrhundert immer sowohl partikularstaatliche wie nationale Formationen gewesen, das hat ihre Struktur wie ihre Stellung zueinander wesentlich bestimmt. Wir erörtern zunächst kurz die Auswirkungen von Regionalismus und Partikularismus. Einerseits hat, zumal am Ende des 18. Jahrhunderts, als in Deutschland politische Strömungen entstanden, Kleinheit und Mediokrität der partikularen Verhältnisse eine gewisse revolutionäre Aggressivität der liberal-demokratischen Bewegung erregt und diese Bewegung so begünstigt. Andererseits, und stärker, aber hat der Partikularismus diese Aggressivität gerade abgeschwächt. Weil dem politischen Denken ein größerer realer Handlungs- und Vorstellungsraum fehlte, war es auf das Jenseits der konkreten Staaten, das Reich der Theorie verwiesen. Zum Teil schwächten die kleinstaatlichen Verhältnisse auch den obrigkeitlichen Machtdruck, die sich entwickelnde gegenseitige Konkurrenz der deutschen Kulturund Verwaltungsstaaten gewährte dem einzelnen begrenzte Freiheitschancen, zumal des Orts- und Länderwechsels, wie er von Schiller über die Göttinger Sieben und die antipreußischen Intellektuellen in Bayern bis zu den Weifen in Österreich zum Schicksal politisch aktiver Deutscher im 19. Jahrhundert gehört. Dadurch wurde der aggressive Druck der Parteien gegen die bestehenden Verhältnisse in gewisser Weise gemindert. Dazu kam die deutsche Mittelpunktslosigkeit, die Tatsache, daß die politisch-sozialen Verhältnisse überall anders waren und damit die Beschwerden und Forderungen wie die politischen Möglichkeiten einer Partei innerhalb eines Staates; auch in ihrem Bewußtsein und ihren Theorien sind die Parteien vom Patriotismus des jeweiligen Landes, wie er sich nach 1815 gebildet hat, und von der besonderen Lage in ihrem Lande nicht unberührt geblieben, bekannt ist etwa der „Verfassungspatriotismus“ der badischen Liberalen oder die Abhängigkeit der Theorie des konstitutionellen Dualismus von der süddeutschen Verfassungswirklichkeit. All das machte trotz aller nationalen und ideologischen Homogenität den Zusammenschluß auf einer Linie der Theorie und der Aktion so schwer und minderte die einheitliche und geschlossene Stoßrichtung und Stoßkraft einer nationalen Partei. Insofern belastete der mit dem Staatenpluralismus gegebene Regionalismus die Funktionsfähigkeit der Parteien bei der Durchsetzung ihrer national- und verfassungspolitischen Ziele, so positiv man auch sonst seinen Wert immer einschätzen mag. Auch nach 1871 ist das regionalistische oder partikularstaatliche Element in den deutschen Parteien wichtig geblieben, selbst wenn man vom Sonderproblem Bayerns absieht. Bei den Nationalliberalen und im Zentrum etwa bestanden erhebliche Unterschiede zwischen den Vertretern der süd- oder südwestdeutschen und der preußischen Regionen, aber auch innerhalb Preußens gab es solche Unterschiede etwa zwischen den Nationalliberalen aus den preußischen Gebieten von vor 1866, die vom Verfassungskonflikt geprägt waren, 100

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und denen aus den 1866 gewonnenen Gebieten - oder seit den 60er Jahren in allen Parteien zwischen den westlichen und östlichen Landesteilen; und auch innerhalb der Sozialdemokratie spielt ja der Gegensatz süddeutscher Reformisten und norddeutscher Radikaler eine wichtige Rolle. Jede Wahlanalyse stößt auf das Faktum, daß regionale politische Traditionen die ökonomischen und sozialen Motive der Wähler überlagern. Im ganzen kann man sagen, daß die Probleme des Reichsaufbaues, das Verhältnis zwischen dem Reich und den Ländern und der Dualismus zwischen dem Reich und Preußen sich auch in den Parteien wiederholten (und das wurde ein wichtiger Grund dafür, daß die Parteien zur Koordination ihrer verschiedenen Machtzentren schon Anfang der 70er Jahre Organisationen schaffen mußten). Der Regionalismus also blieb ein bedeutendes, die Parteien in sich differenzierendes Moment, so sehr natürlich zwischen 1871 und 1914 das Gewicht der nationalen Integrationsfaktoren im ganzen wie in den einzelnen Parteien zugenommen hat. Augenfälliger und geschichtsmächtiger als die regionalen Faktoren sind die nationalen Tendenzen als parteiformierende und parteidifferenzierende Prinzipien, und G. Ritter sieht darin so etwas wie ein Primat der Außenpolitik im Parteiwesen. Das Ziel der progressiven Parteien war es bis 1871, gleichzeitig eine freiheitliche Verfassung durchzusetzen und einen Staat zu gründen. Die liberale Idee war national, die nationale liberal. Die Konflikte über das Verhältnis der beiden Ziele (Freiheit und Einheit) zueinander und über die Frage des Staatsumfanges und die Wege der Staatsgründung sind bekanntlich 1848 und 1866/67 parteibildend geworden, und zwar nicht nur innerhalb des Liberalismus, sondern auch im konservativen und etwas modifiziert im katholischen Lager, ja der Gegensatz der beiden sozialistischen Parteien vor 1875 hängt eng mit der nationalen Frage zusammen. Die nationalen Probleme formierten also die Parteien neu oder überformten ältere verfassungs- oder konfessionspolitische Gegensätze, und diese national-politischen Gegensätze dauerten auch nach 1871 fort, weil über die Struktur des neuen Staates, über Zentralismus oder Föderalismus, über das aufgeschobene Problem der Verfassung noch immer zu entscheiden war. Es sind aber noch andere Wirkungen zu bedenken, die die nationale Bewegung auf die Bildung und Differenzierung der Parteien hatte. Die Inkubationszeit des Parteidenkens war die Zeit der französischen Eroberung, Freiheit verflocht sich hier notwendig mit nationaler Befreiung, die Begründung des Nationalstaates konnte - bei Fichte und Arndt - schon als Integration der Freiheit in den Staat gedacht werden. Das nationale Prinzip konnte so von vornherein eine Vermittlungsfunktion zwischen liberalen Verfassungsordnungen und dem obrigkeitlichen Staat übernehmen. War zunächst auch die Nation noch demokratisch gedacht, so konnte eine solche Konzeption später leicht durch eine romantisch-organische oder machtbestimmte Konzeption überflügelt werden. Bismarcks revolutionäre Lösung der nationalen Frage von oben begünstigte diese Auffassung; ein Großteil des liberalen Bürgertums stellte die verfassungspolitischen Forderungen zurück oder verzichtete sogar weitgehend dar101

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auf und arrangierte sich mit dem national so erfolgreichen Obrigkeitsstaat. Die nationale Einigung war spät zustande gekommen und notwendigerweise unvollkommen - Opposition oder Vorbehalt gegen den neuen Nationalstaat waren noch weit verbreitet. Insofern gab es noch kein konsolidiertes und alle umgreifendes stabiles Nationalgefühl, die Nationalisten, Gralshüter der nationalen Einheit, hatten noch ein innen- und erst recht natürlich ein außenpolitisches Programm, der Nationalismus blieb ein konstitutives Moment für die Konstellation und die Umbildung der Parteien. Bei den Nationalliberalen und später auch bei den Konservativen gewann der machtstaatliche Nationalismus die Priorität vor innenpolitischen, konstitutionellen, ja auch ökonomischen und sozialen Fragen, so freilich, daß dieser Nationalismus den politischen und sozialen Status quo stabilisierte. Ähnliches gilt für die über den älteren Nationalismus hinausgehende besondere deutsche Ausformung des gemeineuropäischen Imperialismus: auch er wurde zu einem parteiprägenden oder jedenfalls parteidifferenzierenden Prinzip, mit mancherlei Ersatzfunktion für die innenpolitisch gehemmte Machtentfaltung des Bürgertums und die Kanalisierung des Klassenkampfes. Die endgültige Einordnung des ehedem reichsfeindlichen Zentrums in das herrschende System auf dem Wege über die Flottenbewilligung ist das hervorragendste Beispiel dieser parteiumgestaltenden Rolle des Imperialismus, die „Blockbildung“ von 1907, die die Linksliberalen an die Seite der Regierung brachte, ist ein anderes Beispiel für denselben Vorgang. 4. Die Parteien waren weiter bestimmt durch die innere politische Struktur der deutschen Staaten, und zwar zunächst durch das Prinzip der bürokratischen Reform. Die liberal-demokratischen Bewegungen, die hier in erster Linie zu berücksichtigen sind, weil von ihnen das Parteiwesen seinen Ausgang nimmt, entzünden sich an Ereignis und Theorie der Französischen Revolution; sie richten sich gegen den bestehenden Staat des Königs, seine Bürokratie, seine Armee, und sie richten sich gegen den Adel, mit dem doppelten Ziel, den Staat und die Gesellschaft umzugestalten, die staatliche Willensbildung zu kontrollieren oder in die Hand zu nehmen und die Gesellschaft zu verbürgerlichen. Das ist bekanntlich im 19. Jahrhundert nur sehr teilweise gelungen; die Parteien sind vielmehr in die bestehenden staatlichen Strukturen eingebaut worden, zu einer fundamentalen Umgestaltung der Herrschaftsordnung ist es nicht gekommen. Das hängt nun nicht nur mit der Stärke der deutschen Staaten und der sie tragenden sozialen Formationen, nicht nur mit den nationalen, den außenpolitischen Problemen und nicht nur mit der gemeineuropäischen liberalen Abneigung gegen die Revolution zusammen - so wichtig das alles ist -, es hängt auch zusammen mit dem besonderen, notwendigerweise ambivalenten Verhältnis der Parteien zu den bestehenden Staaten in Deutschland. Der ältere deutsche Staat ist nicht schlechthin Gegner der frühen liberalen Bewegung, denn er erscheint reformierbar, ja selbst reformerisch (und entsprechend bilden die Konservativen auch eine echte Opposition). Amtsethos und Gewissensverpflichtung der Fürsten, die Existenz einer verhältnismäßig wenig korrupten Verwaltung mit einem bedeutenden Anteil des Bürgertums, die Tat102

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sache, daß die Staaten um Verwaltungserfolge und um Personal konkurrierten und daß dabei ein begrenzter Freiheitsraum entstand, die Tendenz, die Staatssouveränität gegen feudale und korporative Strukturen durchzusetzen - das waren einige der historischen Bedingungen, die Rezeption der Aufklärung durch die absolutistische Staatspraxis und vor allem dann die „Revolution von oben“ nach 1806 die spezifische Ausprägung dieser Staatsstruktur. Die Staaten mußten sich modernisieren, um funktionsfähig zu bleiben. Das bedeutete Konzentration im Sinne ökonomisch-militärischer Leistungsrationalität und Integration des Staatsgebietes und der Bevölkerung. Beide Ziele, von einer keineswegs feudalen Bürokratie erstrebt, erforderten ein gewisses Maß von rechtlicher, politischer, ökonomischer und sozialer Emanzipation, von verfassungsoder gesellschaftspolitischem Liberalismus, und das kam dem Verlangen der auf Reform drängenden politischen Bewegungen durchaus entgegen. Der Staat gab nun, indem er sich selbst reformierte, einer reformerischen Bildungsschicht die Möglichkeit der Mitarbeit, ja er absorbierte diese Schicht zum guten Teil gerade in seinen Beamtenpositionen. Der Staat selbst liberalisierte sich so, der bürokratische Liberalismus als Weg zwischen feudaler Reaktion und intellektueller Revolution wurde zu seinem Charakteristikum. Er konnte daher durchaus legitim als Agent der Freiheit gegenüber der ständischen Ordnung aufgefaßt werden oder als Initiator und Garant einer Ordnung, die die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft erst ermöglichte und verbürgte. Die Liberalen konnten von einer zeit- und teilweisen Kooperation mit dem Staat die Durchsetzung eigener Ziele erhoffen. Die Aufnahme liberaler Elemente in die Staatspraxis nun vitalisierte den obrigkeitlichen Staat und sie schwächte den liberalen Widerspruch gegen diesen Staat ab. Freilich, diese Rezeption liberaler Forderungen durch den Staat war nur partiell und brach immer wieder ab; der bürokratische Staat setzte Kräfte frei und suchte sie gleichzeitig zu kontrollieren; er revolutionierte die bestehenden Verhältnisse nur, insoweit er gleichzeitig seine eigene Struktur stabilisieren konnte; er gewährte bürgerliche Freiheit, ließ jedoch noch lange die soziale Hierarchie und die autoritäre Struktur des Staates bestehen. Infolgedessen gab es zwei Weisen, auf die Lage zu reagieren: die Konfrontation mit dem Staat, das war der Weg der Radikalen, die enttäuscht und frustriert waren, gerade weil die geweckten Erwartungen in die Reform sich nicht erfüllten, weil der staatliche Liberalismus bürokratisch blieb, den Gegensatz zwischen Bürokratie und Bürgern nicht überwand, und die nun die ganze Freiheit und die ganze Verfassung forderten; oder die begrenzte Kooperation mit dem Staat, das war der Weg der Moderierten, die glaubten, ihre Ziele auf diese Weise durchsetzen, den Staat allmählich umstrukturieren zu können. Diese Grundsituation hat sich trotz aller Änderungen bis 1918 erhalten. Die geschilderte Teil-Liberalität des Staates, die vielfach ausgezeichnete, funktionsfähige, selbst reformierende und moderne Verwaltung, blieb erhalten, sie entschärfte den Widerspruch der Parteien gegen die obrigkeitliche Verfassungsstruktur, sie erhöhte auch bei den Parteien das Prestige dieses Staates, und sie schuf zudem in liberalisierten Teilbereichen, zumal in Wirtschaft und Kultur, 103

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überprivate Aktionsmöglichkeiten für das Bürgertum und milderte damit dessen Gegensatz zur bestehenden Herrschaftsstruktur, ja erleichterte abermals eine Anpassung im Politischen. Das gutlegitimierte Modell eines politischen Verhaltens, Kooperation mit einem teilliberalisierten Staat, wurde unterstützt durch eine Reihe von ideologischen Traditionen, etwa durch den Vorrang des „organischen“ Ganzen vor der „Abstraktheit“ des - aufklärerisch verstandenen - Individuums oder durch den Mangel einer Theorie pluralistischer Gruppenbildungen. Zudem führte die Neigung zur Theorie des idealen Staates und das hieß eines liberalen Staates, auch wenn es wie bei Dahlmann ausdrücklich und realistisch nur um einen „guten“ Staat ging, leicht dazu, den realen, obrigkeitlichen Staat dann in das Licht jenes Ideals zu rücken; die Reflexion, die sich auf den Staat als Raum der Freiheit richtete, war über die Wirklichkeit schon hinaus und konnte den Widerspruch zwischen Parteien und bestehendem Staat wiederum entschärfen. Endlich ist hier noch einmal das Faktum anzuführen, daß die deutschen Parteien sich nach der Erfahrung der Französischen Revolution formierten, d. h. aber nicht mehr im ungebrochenen Bewußtsein des Fortgangs und Aufstandes der Freiheit, sondern im reflektierten Bewußtsein der Konsequenzen und Schrecken der Freiheit und der Revolution, der Bedrohung durch eine totalitäre Demokratie. Das gilt zwar in gewisser Weise überhaupt für den europäischen Liberalismus, zumal für den französischen, aber in Frankreich etwa gab es doch daneben eine Tradition der siegreichen Revolution, und auch die Liberalen hatten zur Anfangsphase der Revolution ein positiveres Verhältnis als die deutschen Liberalen. In Deutschland gewann wegen dieses verschobenen Verhältnisses zur Französischen Revolution das Problem der Ordnung und staatlichen Autorität von Hegel bis Treitschke im politischen Denken einen besonderen Akzent. Die nationalen Probleme, von denen die Rede war, und die sozialen, von denen noch die Rede sein wird, wiesen das liberale Bürgertum später in die gleiche Richtung. Der Staat erschien als die Macht, die die beiden anderen großen Fragen des Jahrhunderts, die nationale und die soziale Frage, am besten lösen konnte. Es bildete sich - so auch die Hauptthese von L. Krieger - ein Grundmodell des politischen Handelns heraus: der Versuch, eine Synthese von Freiheit und Autorität zu konstruieren, Freiheit in den bestehenden Staat und seine Struktur einzuarbeiten und mit ihm, nicht gegen ihn evolutionär zu entfalten; auch die Rottecksche Theorie des konstitutionellen Dualismus ist von diesem Modell beeinflußt. Es ist deutlich, wie von hier das eigenständige Verfassungsmodell einer konstitutionellen Monarchie begründet ist. Natürlich ist diese Vorstellung keineswegs die einzige, die für die Parteibildung im frühen 19. Jahrhundert wichtig war; die verschiedenen Formen des Radikalismus haben aus der Lage eine ganz andere Konsequenz gezogen; in den 30er und 40er Jahren war, das brauche ich kaum zu erwähnen, das Verhältnis zwischen dem nur noch partiell reformierenden Staat und den progressiven Parteien vornehmlich durch Gegensatz und Spannung bestimmt, und in der Zeit des preußischen Konflikts ist es noch einmal ähnlich gewesen. Trotzdem war jenes evo104

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luclonäre Modell eine maßgebliche Leitvorstellung, und die Revolution von 1848 z.B. war doch für die Mehrheit der Liberalen Revolution wider Willen. Es war auch noch eine durchaus reale Chance, daß die evolutionäre Einbindung von Freiheit in die autoritären politisch-sozialen Strukturen zu deren allmählicher Umbildung führte (etwa durch die Ernennung liberaler Parteiführer zu Ministern innerhalb des konstitutionellen Systems). Der Verzicht auf solche Umbildung, die endgültige Anpassung an die bestehende Ordnung tritt bei den Anhängern jenes Modells, den Nationalliberalen, erst nach 1879 ein. Ich kann hier nur gerade darauf hinweisen, daß auch andere Parteigruppen sehr stark dahin tendierten, anfängliche Gegensätze zum bestehenden Staat auszugleichen, wenn das auch nicht mit dem partiell reformerischen Wesen dieses Staates zusammenhängt. So etwa die Konservativen: an sich war es gerade der reformerische Staat gewesen, der den Widerstand der Konservativen provoziert und sie als Partei eigentlich geschaffen hatte, aber gouvernementalroyalistische Tendenzen minderten die Opposition gegen liberale Konzessionen, und zuletzt ist es dann gerade die Begrenzung liberalisierender oder demokratisierender Reformen gewesen, die, weil sie die verbliebene Machtstellung der Konservativen stabilisierte, zur Basis für das Arrangement mit dem Staat wurde. Auch das Zentrum stand dem liberal reformierenden Staat eher ablehnend gegenüber und hat sich schließlich gegen eine Garantie der eigenen Position mit ihm arrangiert. Schließlich - 1914 - hat durch manche Reformen, vor allem aber durch die national-staatliche Integration veranlaßt, sogar die Sozialdemokratie sich über den Gegensatz zum Obrigkeitsstaat hinweggesetzt. 5. Auf der anderen Seite gehört zu den wesentlichen politischen Faktoren, die Realität und spezifischen Charakter der deutschen Parteien bestimmen, der konservative Grundzug der Macht- und Herrschaftsstruktur in Deutschland. Im frühkonstitutionellen System hatten die Parteien, genauer die Parlamente und die Abgeordneten, zwar ihren legitimen Ort und begrenzten Anteil an der Legislative, aber sie waren doch ohne wirkliche Macht und Verantwortung. Auch das bewirkte, daß sie Gesinnungsgemeinschaften waren, sich an ihren ideellen Zielen orientierten: nur so konnten sie allmählich Anhänger mobilisieren und eine politische Öffentlichkeit formieren. Im ganzen sind die Konstitutionen für die Parteien noch nicht endgültige Basis ihres politischen Handelns gewesen, sondern sie waren der Boden für den weiteren Kampf um die Verfassung. Auch die Machtgewinne in diesem jahrzehntelangen Kampf haben an jener Grundposition noch nichts Entscheidendes geändert. Erst das Bismarcksche System stellte dann - spätestens seit 1879 - auch eine stabile Basis für eine kontinuierliche Aktivität der Parteien dar. In diesem System hat sich einerseits - und das wird heute leicht übersehen - ein deutscher Parlamentarismus relativ kontinuierlich entfalten können, die Parteien haben seit den 90er Jahren an Macht gewonnen, die Parlamentarisierung von 1917/18 ist nicht allein durch die Krise des Weltkrieges ausgelöst worden, sondern auch das Ergebnis einer allmählichen Entwicklung gewesen. Aber andererseits waren gemäß dem in der Verfassung etablierten System der existenziellen Vorbehalte 105

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zugunsten der Entscheidungsgewalt des Monarchen (Exekutivgewalt, militärische Gewalt, auswärtige Gewalt) und gemäß der Art, in der Bismarck das System handhabte, die Aufgaben, Funktionen und Möglichkeiten der Parteien relativ begrenzt; Bismarck verfolgte später zeitweise geradezu die Taktik, den Reichstag und damit die Parteien auszuhungern. Ohne Führungschancen besaßen die Parteien kaum Anziehungskraft für politische Talente, zumal auch die Ämterpatronage wegfiel; ohne Verantwortung fehlte ihnen der Zwang zur Integration, für Kompromißbereitschaft winkte ihnen nicht der Preis des Anteils an der Macht, der Durchsetzung eigener Vorstellungen. Die Parteien wurden daher tatenarm, sie waren nicht eigentlich initiativ, sondern wesentlich reagierend, auf den Bereich retrospektiver Kritik beschränkt, kaum in der Lage, wenn sie sich nicht wie die Sozialdemokraten dem System ganz entzogen, große Perspektiven einer künftigen Politik zu entwerfen, ihren Blick über das Tägliche ins Morgen oder gar Übermorgen zu richten oder auch nur die disparaten Einzelbereiche der Politik zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufassen. Durch das Überwiegen retrospektiver Kritik und durch das Fehlen von Initiative und Verantwortung wurde nun einerseits die Tendenz zur prinzipiellen Orientierung innerhalb der Parteien wiederum verstärkt; und Bismarcks Regierungspraxis gegenüber gegnerischen Parteien, den Linksliberalen, dem Zentrum und den Sozialdemokraten, wirkte in derselben Richtung: die polizeiliche Unterdrückung und die Polemik gegen die sogenannten Reichsfeinde fixierten die ideellen Bindungen dieser Parteien tief im Emotionalen und stärkten ihre doktrinäre Opposition, zumal wo sie sich mit anderen konfessionellen und klassenmäßigen Sonderungen des deutschen Daseins verflocht. Eine etwa vorhandene Kompromißfähigkeit dieser Parteien wurde so schwerwiegend beeinträchtigt. Aber auch bei den nichtoppositionellen Parteien, zu denen ja bald das Zentrum gehörte, verfestigte jener retrospektive Zug vor allem bei den Anhängern die krypto- oder halbideologischen weltanschaulichen Fixierungen. - Andererseits verstärkten das System und Bismarcks Praxis, die auf die Polarisierung von Gouvernementalen und Antigouvernementalen, Reichsfreunden und Reichsfeinden hinauslief, die Tendenz zur Anpassung an die Regierung, an Umstände oder Situationen, ja die Tendenzen zum Opportunismus, zum Aufgehen im Täglichen, zum Verlust übergeordneter Zielsetzungen. Die systembedingte relative Machtlosigkeit der Parteien wirkte sich also wiederum in Richtung der früher bemerkten Polarisierung von Doktrinarismus und Anpassung aus. Zu einer haltbaren Synthese ist es nicht gekommen; in den Rechtsparteien, die an beiden Komplexen Anteil hatten, standen sie disparat nebeneinander. Die Polarisierung läßt sich etwa am Schicksal derjenigen liberalen Politiker nachweisen, die in den 70er und 80er Jahren zwischen den Alternativen doktrinäre Opposition (Fortschrittspartei) und opportunistischer Anpassung (Nationalliberale nach 1881/84) ihre Grundsätze vor den Verkrümmungen des liberalen Denkens nach der „Ausnahme“ Bismarcks hinüberzuretten suchten: sie blieben ohne Resonanz. Auch der späte Versuch Naumanns, eine Synthese von moder106

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nen liberalen Prinzipien und realistischer Politik zu finden, blieb letzten Endes ohne ausreichenden Erfolg. 6. Wir wenden uns schließlich den gesellschaftlichen Grundlagen des deutschen Parteiwesens im 19. Jahrhundert zu, und dabei müssen wir uns hier noch mehr als bisher auf einige Umrisse beschränken. Die politische Klasse, die die entstehenden Parteien trug, war im wesentlichen die Bildungsschicht, die freie und die beamtete Intelligenz, im Durchschnitt bürgerlich, aber doch mit einem beachtenswerten Anteil adeliger Elemente. Diese Schicht war zu Beginn des 19. Jahrhunderts schmal und lebte in einer gegenüber Westeuropa ökonomischsozial noch zurückgebliebenen und sich nur langsam entwickelnden Gesellschaft mit traditionellen Strukturen; sie lebte, wenn wir von den konservativen Gruppen absehen, wo die Intelligenz sich mit dem grundbesitzenden Adel oder anderen alten und konsolidierten Schichten verband, ohne vitale Interessenbasis, ohne Unterstützung mächtiger gesellschaftlicher Gruppen, eines wirtschaftenden Bürgertums und einer lebendigen städtischen Selbstverwaltung, in einer erst spät entstandenen und dann vornehmlich moralisch-literarisch bestimmten Öffentlichkeit, im ganzen also in einer gewissen Isolierung. Dabei will ich nicht bestreiten, daß es zu Beginn des Jahrhunderts, zumal in West- und Süddeutschland, größere Gruppen und Bewegungen gegeben hat, die liberale und radikale Ziele unterstützten, aber das war doch nicht charakteristisch und nicht von Dauer. Auffallend ist vielmehr für die Frühzeit der Parteien, ja in gewisser Weise für die Parteigeschichte des ganzen Jahrhunderts, die Diskrepanz von ideologischer Frühreife der politischen Intelligenz und ökonomischsozialer Spätentwicklung der sie tragenden Schichten. Diese Lage hat wiederum die beiden Haupttendenzen begünstigt, die wir früher beschrieben haben. Zum einen die Orientierung an der Theorie, die Überwindung der Realität durch die zeitlose oder antizipierende Doktrin: nur Ideen konnten gegen die mächtigen ständischen Formationen Parteien konstituieren; später hat sich das Proletariat, das infolge der ständischen Differenzierung der feudal-bürgerlichen Welt isoliert, traditionslos und zunächst ohnmächtig in einer ähnlichen Lage war, wiederum an einer Theorie als haltender und bewegender, zukunftssichernder Macht ausgerichtet. Zum andern entsprang aus der sozialen Isolierung die Tendenz, die eigenen gesellschaftlichen und politischen Ziele, zumal im Kampf mit der mächtigen Feudalität, mit Hilfe des reformerischen Staates und seiner Bürokratie durchzusetzen, also die partielle Kooperation mit diesem Staat zu suchen. Diese Ausgangslage hat sich nun freilich im Laufe des Jahrhunderts wesentlich verändert. Die ideologischen Gegensätze verflochten sich intensiv mit den schroffen ständischen Gegensätzen, die allmählich zu Klassengegensätzen wurden, und diese Verflechtung intensivierte die Spannungen. Seit den 40er Jahren konnte sich der Liberalismus - und von ihm als dem Protagonisten eines funktionierenden Parteisystems muß hier vor allem die Rede sein - auf breite oppositionelle Bevölkerungsschichten stützen, die zum Teil in mancherlei halbpolitischen Vereinen, wie Gesang-, Schützen- und Turnvereinen, auch organi107

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siert waren. Auch die städtische Selbstverwaltung wurde eine wesentliche Basis des Liberalismus. Wenn auch die Bindungen dieser Massen an den Liberalismus problematisch blieben, weil sie zum Teil noch in traditionalistischen Sozialund Denkstrukturen verharrten, konnte der Liberalismus seinen Kampf um den National- und Verfassungsstaat doch als bedeutende soziale Macht aufnehmen. Aber schon in der Revolution von 1848/49 wurde er von der sozialen Entwicklung und deren ideologischer Reflexion, der Marxschen Theorie des Proletariats, überholt; dabei ist es wiederum charakteristisch, daß das von der Erinnerung an die Jakobiner und von der Antizipation der sozialen Entwicklung geleitete Klassenbewußtsein des Bürgertums früher in Erscheinung trat als das Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft, das Gefühl der Bedrohtheit durch das Proletariat nahm die noch nicht aktuelle Bedrohung schon vorweg. Ehe der Liberalismus den bürgerlichen Verfassungsstaat durchgesetzt und damit einen entscheidenden Erfolg erzielt, ein konsolidiertes Selbstgefühl errungen hatte, stand schon die soziale Frage, das Problem der Massen, zur Lösung an. Der Liberalismus war zwischen zwei Fronten geraten, den konservativen Staat und die konservativen sozialen Gruppen einerseits, das sozialistisch sich organisierende Proletariat andererseits. Diese Situation ist erheblich verschärft worden, als Bismarck das allgemeine Wahlrecht einführte, zu einer Zeit, als das in den anderen Ländern Europas kaum üblich war. Die Liberalen wurden zur Minderheit zwischen agrarischen oder vorkapitalistischen und proletarischen oder industriellen Gesellschaftsgruppen. Seit 1878/79 wurde die Furcht vor den Sozialisten oder die - berechtigte - Furcht vor dem Appell der Regierung an die antisozialistischen Affekte der eigenen Wähler zum beherrschenden Motiv des politischen Verhaltens. Die - verstehbare - Reaktion der Liberalen auf diese Lage war die Selbstbescheidung und das Arrangement mit den bestehenden Gewalten. Daß das Bürgertum in den neuen Klassenspannungen nach rechts rückte, ist natürlich ein Vorgang, der sich in allen Industriegesellschaften vollzog, aber in Deutschland war er eben dadurch spezifisch charakterisiert, daß die konservativen Machtpositionen noch nicht tiefgreifend erschüttert waren: deshalb nahm er die Form der Anpassung an. Die gemeineuropäische Krise des Liberalismus ist in Deutschland besonders früh eingetreten, und zwar ohne daß ihr eine Phase der unmittelbaren Staatsgestaltung durch die Liberalen vorausgegangen wäre. Das Bürgertum konnte in dieser Lage seine ursprüngliche Gegenposition gegen die vorindustrielle Oberschicht nicht mehr zur Geltung bringen, zum Teil übernahm es konservativ-feudale Verhaltensnormen; es verzichtete auf den Versuch, seine neu gewonnene ökonomische und soziale Macht in politische Macht umzusetzen - und die Parteien mußten sich nach einigem Zögern diesem gesellschaftlichen Prozeß angleichen. Daher blieb die Diskrepanz politischer und gesellschaftlicher Verfassung zwischen Herrschaftssystem und ökonomisch-sozialer Struktur für Deutschland bis 1918 charakteristisch. Indem dann die neuen kapitalistischen Privilegien sich zum Teil mit alten feudalen Privilegien verflochten, verstärkten sie sich gegenseitig und verschärften in spezifischer Weise damit vor allem den Klassenkampf. Die be108

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sondere Lage des deutschen Liberalismus hatte so eine retardierende Wirkung auf die gesamte deutsche Entwicklung. Diese Verzögerung wurde durch sozial bedingte ideologische Erscheinungen verstärkt: der Prozeß der Mobilisierung der Gesellschaft durch die späte, dann aber rapide Industrialisierung war in Deutschland besonders dicht zusammengedrängt, und infolgedessen waren die Übergangsschwierigkeiten besonders groß. Dadurch zerfielen mehr oder minder rasch die regional, konfessionell und sozial bedingten partikularen Bewußtseins- und Verhaltensweisen, und das führte beim Fehlen eingelebter gemeinsamer Traditionen zu einer gewissen Orientierungslosigkeit der davon betroffenen Schichten, zur Angst vor der Mobilisierung, vor der Konkurrenz und zuletzt vor der dahinterstehenden Gleichheit, zu einem Bedürfnis nach Ideologie, die Halt und Sicherheit in einer schnell sich wandelnden Welt gewährte, das heißt gemeinhin nach konservativen Ideologien. Alle bürgerlichen Parteien, zumal Zentrum und Nationalliberale, sind von dieser Tendenz bestimmt worden und dadurch - trotz manchen Widerstrebens - zu einer konservativeren Orientierung gedrängt worden; die eigentlich konservativen Parteien haben mit Hilfe dieser Tendenz eine solide Massenbasis gewinnen können. Die Kräfte, die demgegenüber für eine Fortführung des begonnenen emanzipatorisch-egalitären Prozesses eintraten, waren im ganzen schwächer und fielen wegen der Ungleichheit des Wahlrechts und der Polarisierung des Klassenkampfes, des Gegensatzes von Bürgertum und Arbeiterschaft, für die bürgerlichen Parteien weniger ins Gewicht. Entscheidend für das Verhältnis der Parteien zur sozialen Basis wurde dann die Verwirklichung des allgemeinen Wahlrechts. Die Massen der Bürger wurden mobilisiert und politisiert, die Parteien gewannen einen Rückhalt im Volk und stabilisierten ihre Existenz, Wahlrecht und Politisierung führten zur Organisation der Parteien im Lande. Bei der gegebenen Struktur der Parteien - ihrem begrenzten Machtanteil und ihrer ideologischen oder kryptoideologischen Orientierung - bedeutete das zugleich eine wachsende Indoktrinierung der organisierten Anhänger; deren politische Stellungnahme wurde zum Glaubensbekenntnis; rückwirkend verstärkte dieser Geist der Organisation wieder die ideologischen oder kryptoideologischen Bindungen der Parteien. Neben diesem sozusagen demokratischen Effekt ergab sich aber eine eher gegenteilige Wirkung. Das allgemeine Wahlrecht konservierte innerhalb der bürgerlichen Parteien, beim Zentrum, aber auch bei den in der Mehrheit ihrer Führungsgruppe industriell-städtischen Nationalliberalen, das Übergewicht der ländlichen-mittelständischen Gesellschaft; das lag an der rasch veraltenden Wahlkreiseinteilung (von 1867 und 1871), die nicht nur die Städte außerordentlich benachteiligte, sondern vor allem seit dem Aufstieg der Sozialisten die soziale Basis der parlamentarischen Machtstellung der bürgerlichen Parteien in die ländlichkleinstädtischen Wählerschichten verlegte. Damit erhielt die soziale Basis auch des bestehenden politischen Systems ein erhöhtes Gewicht. Eine andere Folge des allgemeinen Wahlrechts (und der Umbildung des Staates zum Interventionsstaat) war die Entbindung wirtschaftlicher und so109

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zialer Interessen, die sich nun nicht mehr den Verfassungszielen unter- oder eingeordnet, sondern unmittelbar und massiv geltend machten. Die ursprünglich an Ideen orientierten bürgerlichen Parteien „sozialisierten“ sich, wie man damals sagte, ihre Bindungen an Klassen und Schichten traten stärker und eindeutiger in Erscheinung. Der Gesellschaft gegenüber gerieten sie in eine stärker reagierende und reflektierende Position, sie waren nicht mehr die führenden und initiativen Instanzen bei der Bildung und Formulierung des politischen Willens. Zwar haben die Parteien sich dagegen gewehrt, Klassenparteien zu werden, und bei der Aufspaltung der Klassen gelang es wenigstens den Mittelparteien, jeweils eine Koalition von Schichten zu vertreten. Aber bestimmte Interessen überwogen. Im allgemeinen bewirkte der stärkere Einfluß der organisierten Interessen eine Orientierung nach rechts und kam damit dem bestehenden Zustand zugute; denn wegen des Wahlkreissystems und des Ausschlusses der Sozialdemokraten von der Gestaltung der Politik fielen die Interessen der - selbständigen - Produzenten politisch stärker ins Gewicht als die Interessen der - unselbständigen - Konsumenten, und das wirkte sich zugunsten der Rechten aus. Neben die organisierte Ideologie der Parteien traten so die manifesten Interessen und verfestigten die Parteistruktur. - Trotzdem gelang es den Parteien aber im allgemeinen kaum, die entbundenen Interessen der eigenen Macht nutzbar zu machen und zu integrieren. Die Interessenbewegungen führten zu einer Teilpolitisierung der Wählerschaft, die lange Zeit neben der Art von Politisierung herlief, die die Parteien mit konstitutionellen, nationalen und konfessionellen Prinzipien zu betreiben suchten. Die Parteien, die ohne potentielle Regierungsverantwortung nicht unter dem Zwang zur Integration standen, vermochten nur sehr schwer, die divergierenden Interessen in einem gesamtpolitischen oder wirtschaftspolitischen Konzept aufzufangen: die Interessen wirkten daher auf die Dauer, mindestens zwischen 1890 und 1910, desintegrierend. Die Parteien gerieten in eine Zweifrontensituation zwischen den traditionellen Staat und die modernen Interessenbewegungen; und sie waren schnell geneigt, stillschweigend oder lautstark an den neutralen Staat zu appellieren und ihn als Schutzherrn vor den sie unterlaufenden Interessenbewegungen zu legitimieren, wie die organisierten Interessenbewegungen den Obrigkeitsstaat als Protektor gegen die theoriebefangenen und angeblich den Konsumenteninteressen hörigen Parteien anriefen. Im Ergebnis schwächte die interessenbestimmte Teilpolitisierung der Gesellschaft unter der Bedingung des konstitutionellen Systems daher die Parteien eher, als daß sie sie stärkte; sie vergrößerte den herrschenden desintegrierenden Pluralismus und stärkte damit indirekt den Obrigkeitsstaat und sein Prestige. Schließlich ist im Zusammenhang der gesellschaftlichen Bedingungen für die Entwicklung des Parteiwesens darauf hinzuweisen, wie stark die Parteien gerade in den beiden letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts von dem mit nationaler Ideologie aufgeladenen und emotionalisierten Klassenkampf bestimmt worden sind, so rabiat man diesen auch negierte. Das generelle Phänomen des Klassenkampfes war in Deutschland vielleicht deshalb besonders ausgeprägt, 110

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weil einerseits die Arbeiterschaft um eine verbal aggressive Ideologie herumorganisiert und durch die Verfolgung unter Bismarck mit einer tiefen emotionalen Solidarität erfüllt war und sich durch eine tiefe Kluft vom bürgerlichen Leben getrennt fühlte, weil andererseits die politische Machtstruktur nicht demokratisiert war und feudale und bourgeoise Privilegien sich miteinander verflochten. Beides verschärfte die Auseinandersetzungen. Bei den nichtsozialistischen Parteien gab es über alle Partikularitäten hinweg eine fast einhellige Frontstellung gegen die Sozialdemokratie, wie sie vor allem etwa in Wahlkompromissen real wurde. Erst nach der Jahrhundertwende, zumal seit 1909, hat das Konzept einer liberalen Reform, das Programm, die eigene bürgerliche Klassenposition zu behaupten oder auszubauen, größere Gruppen mobilisieren können, die sich nun auch gegen die sozial-konservativen Interessen an der bestehenden Machtverteilung wandten. Aber die Gruppen der bürgerlichen Reform blieben doch angesichts des Klassengegensatzes zur Arbeiterschaft unentschieden und vermochten bis zum Beginn des Weltkrieges noch nicht, stärkere Energien zur Durchsetzung ihrer Ziele zu mobilisieren. Geistesgeschichtliche, konfessionelle, nationale, staatliche und soziale Faktoren haben so das spezifische Wesen der deutschen Parteien geprägt und ihre besondere Partikularität bedingt. Sie waren durch Ideologien und Kryptoideologien stabilisiert und gegeneinander fixiert, auch die später hinzutretenden und mit der Zeit immer wichtiger werdenden Differenzen der Interessen, der Taktik, der Organisation, wurden davon überformt. Darum ist die eine Grundfigur des deutschen Parteiwesens die ideologische Orientierung und das damit oft verbundene gestörte Verhältnis zur Wirklichkeit. Daneben tritt in einem dialektischen Verhältnis die Figur der Anpassung, ja, beide waren gegeneinander polarisiert. Eine Synthese von Grundsatzgebundenheit und Kompromißgeneigtheit ist kaum zustande gekommen. Innerhalb des herrschenden Verfassungssystems, in dem Integration vor allem durch die monarchischen und bürokratischen Institutionen geleistet wurde, hat auf die Dauer die Führungs-, Initiativ- und vor allem die Integrationsfähigkeit der Parteien (in sich und untereinander) entschieden abgenommen. Die Parteien alterten, es fehlte ihnen entwerfende Kraft, überzeugende Selbstdarstellung, Offenheit für neue Tatsachen und Tendenzen - daher kommt es, daß die eine der ursprünglichen Figuren des parteitheoretischen Denkens, die Antizipation, seit den 70er Jahren nunmehr neben den Parteien bei einzelgängerischen Ideologen und Sondergruppen angesiedelt ist. Die politische Gesellschaft geriet gerade wegen der Struktur der Parteien in einen desintegrierten Zustand, so sehr natürlich umgekehrt der Zustand des Parteiwesens den Zustand der Gesellschaft reflektiert. Auch an der Sozialdemokratie ist zu beobachten, wie die prinzipiell doktrinäre Linie und der Vorgang der Anpassung nebeneinander herlaufen, ohne daß eine Synthese gelang: die Diskrepanz zwischen radikaler Theorie und Agitation einerseits, reformerischem Handeln andererseits ist der allbekannte Ausdruck dieser Lage, die Unentschiedenheit zwischen Orthodoxie und Kompromiß in der Weimarer Republik die wichtigste Konsequenz. 111

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Die Funktion der Parteien, Träger und Gestalter eines politischen Willens im Konnex mit Wählerschaft und Öffentlichkeit zu sein, ist von ihnen in den Jahrzehnten vor 1914 nur unzureichend wahrgenommen worden. Gesellschaft und Staat konnten bis zum Weltkrieg diesen Zustand aufgrund der allgemeinen Stabilität der Verhältnisse tragen. Es ist sicher, daß auch die Parteien die Möglichkeiten hatten, trotz der Belastung durch Tradition und Struktur in einem reformierten System größere Funktions- und Integrationsfähigkeiten zu entwickeln, Ideen- und Situationsorientierung zu verbinden. Die Frage ist, ob die im politischen System des Konstitutionalismus wie in jedem System angelegten Möglichkeiten der Evolution ohne die Existenzkrise des Weltkrieges hätten realisiert werden können, ob die von diesem System geprägten Parteien eine Reform des Systems durchsetzen wollten und durchsetzen konnten. Weder eine positive, noch eine negative Entscheidung dieser Frage wird sich, da es sich um eine nicht realisierte Möglichkeit handelt, beweisen lassen. Sicherlich gab es zwischen 1890 und 1918 eine Evolution des deutschen Regierungs- und Parteisystems, eine Zunahme der Macht des Reichstags, der Regierungs- und Koalitionsfähigkeit der Parteien, gab es - seit etwa 1909 - bemerkenswerte Ansätze zur Ausbildung von wirklichen politischen Alternativen, zur Integration der disparaten Teilstücke der Politik in den verschiedenen Parteigruppen und zu einer wirklichen Politisierung der Wählerschaft. Andererseits muß man konstatieren, daß in der Frage des preußischen Wahlrechts, der Veränderung der Wahlkreiseinteilung, der Ministerverantwortlichkeit und der - mehr symptomatischen als existenziell wichtigen - Wahl des Reichstagspräsidiums die entscheidenden weil systemtragenden Parteien: Zentrum und Nationalliberale, im Zusammen- und Gegeneinanderwirken eine wesentliche Reform nicht zustande brachten. Erst der Weltkrieg hat diese Situation geändert. Und in der Weimarer Republik hatten die Parteien dann jedenfalls die Chance, in einem parlamentarischen System größere Funktions- und Integrationsfähigkeiten zu entwickeln und Programm- und Situationsorientierung zu vermitteln. Aber sie standen auch unter der Belastung ihrer, zumal bei Anhängern und Wählern fixierten Tradition der starren Ideologisierung, der partikularen Orientierung und des korrespondierenden Antipluralismus und der national und obrigkeitsstaatlich überformten Klassensentiments. Und diese Belastung spielt natürlich für das Scheitern der Weimarer Republik eine wichtige Rolle. Insofern hängt das Ende der Republik auch mit den im 19. Jahrhundert ausgebildeten Strukturen des deutschen Parteiwesens und den von ihm ausgebildeten Strukturen des politischen Bewußtseins zusammen.

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6. Antisemitismus - Entstehung Funktion und Geschichte eines Begriffs* (gemeinsam m i t R e i n h a r d R ü r u p )

Das Wort ,Antisemitismu' ist eine Neubildung aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Seit der Antike und zumal seit der frühchristlichen Zeit hat es in Europa eine Judenfeindschaft gegeben, die wesentlich vom Religionsgegensatz bestimmt war. Im Mittelalter bildete sich infolgedessen eine ständische Absonderung der Juden heraus, die Glaubensgemeinschaft wurde zur isolierten Lebensgemeinschaft, die religiöse Judenfeindschaft verband sich mit der Feindschaft gegen eine außerhalb der ständischen Gesellschaft stehende Gruppe. Das Wort ,Antisemitismus' meint demgegenüber eine grundsätzlich neue judenfeindliche Bewegung, die sich seit dem Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zunächst in Deutschland, Österreich und Ungarn, dann vor allem in Frankreich und unter anderen Bedingungen in Rußland und anderen ost- und südosteuropäischen Ländern ausbreitete. Deutschland ist das Ursprungsland dieser Bewegung und zugleich die Heimat des Begriffs ,Antisemitismus', der von hier aus — vielfach ausdrücklich als aus dem Deutschen übernommenes Fremdwort bezeichnet - rasch in andere Sprachen eindrang: antisemitism (engl.), antisémitisme (franz.), antisemitismo (span., ital.), antisemitizm (russ.), antiszemitizmus (ungar.), antisemitism (rumän.) usw. Als Schöpfer des Begriffs Antisemitismus' gilt im allgemeinen der deutsche Schriftsteller Wilhelm Marr, dessen judenfeindliche Agitationstätigkeit 1879/80 ihren Höhepunkt erreichte; Belege für diese Annahme sind jedoch nicht vorgelegt worden. Die Wortbildung antisemitisch' ist bereits 1865 im Rotteck/Welckerschen „Staatslexikon“ nachzuweisen, wo das „Königtum unter den Juden als eine antisemitische Geburt“ bezeichnet wurde 1 . Es handelt sich dabei jedoch um eine zufällige und folgenlos gebliebene Formulierung, die etwa dem im gleichen Jahr im „Staatswörterbuch“ von Bluntschli/Brater zu belegenden „unsemitisch“ entspricht 2 . Ähnlich dürfte es sich auch mit einer gelegentlich behaupteten, aber nicht nachgewiesenen frühen Verwendung des Wortes durch Ernest Renan verhalten 3 , denn von einem etwaigen Wortgebrauch bei Renan gibt es jedenfalls keine Kontinuität zu dem um 1880 in der politischen Diskussion auftauchenden Begriff. Auch in Frankreich gilt Marr als der Schöpfer des Wortes ,Antisemitismus' 4 .

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Nipperdey

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1. ,Semitismus' und der säkulare Begriff des Juden als Voraussetzungen Sprach- und sachlogische Voraussetzung der Entstehung des Begriffs ,Antisemitismus' ist die Bildung und allgemeine Verbreitung des Begriffs ,Semitismus'. Der Begriff ,Semiten' entstammt der theologisch-historischen Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Er wurde vermutlich 1771 von A. L. von Schlözer im Anschluß an die Völkertafel im ersten Buch Moses, Kap. 10 geprägt5 und wenige Jahre später von J . G. Eichhorn in die Sprachwissenschaft eingeführt („Semiten“ bzw. „semitische Stämme“ als Träger der „semitischen Sprache“)6. Die neuen Begriffe bürgerten sich in der Sprachwissenschaft rasch ein und fanden trotz naheliegender Einwände - die „semitische“ Sprachfamilie und die als Nachkommen Sems genannten Völker sind keineswegs identisch - auch Eingang in die Völkerkunde7. Zugleich wurde mit diesen Begriffen „Geist und Charakter“ dieser Völker, die Summe ihrer Begabungen und Leistungen, der Typus ihrer Kultur beschrieben (z. B. von Chr. Lassen und E. Renan)8. Gobineau9 hat dann durch den entschiedenen und terminologisch fixierten Gebrauch des Begriffs ,Rasse' die linguistisch-ethnologischen Begriffe naturalistisch fundiert, aus dem geschichtlichen Volkscharakter wurde ein Rassencharakter. Gleichzeitig mit dem Begriff ,Semiten' wurden die ebenfalls der Sprachwissenschaft entstammenden Begriffe ,Indo-Europäer', ,Indogermanen', ,Arier' in die allgemeine Terminologie der Geisteswissenschaften aufgenommen; beide Sprachgruppen wurden auch als Völkergruppen einander gegenübergestellt. Die Verschiedenartigkeit wurde sehr bald als eine Verschiedenwertigkeit verstanden, das „Semitentum“ wurde zur dunklen Folie für die positiv akzentuierte Darstellung des Wesens der indo-europäischen bzw. arischen Völker10. Die Orientalisten Paul de Lagarde und Adolf Wahrmund haben in Deutschland aus dieser wissenschaftsgeschichtlichen Tradition heraus ihre entschiedene Judenfeindschaft entwickelt11. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dann diese spekulativen Begriffe der linguistischen und ethnologischen Wissenschaften in den allgemeinen Sprachgebrauch der Gebildeten übernommen und zugleich in die politische Diskussion eingeführt. Das Bluntschli/Bratersche (1857, 1865) und das Rotteck/Welckersche (4. Aufl. 1865) Lexikon enthalten entsprechende Artikel12. Bei Bluntschli wurden „Arier“ und „Semiten“ zwar gemeinsam vor allen anderen Völkergruppen herausgehoben, aber alle positiv verstandenen Werte wurden den Ariern zugeschrieben, während die Semiten negativ charakterisiert wurden; die Arier waren danach zur Herrschaft und Zivilisierung der Welt berufen. Beide Gruppen wurden im Anschluß an Gobineau mit dem Terminus der Rasse als biologischer Abstammungseinheit beschrieben13. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung veränderten die Begriffe Jude' und J u dentum' ihren Sinn. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der Begriff ,Jude' durch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft definiert. Zwar wurden die Juden als Lebens- und Abstammungsgemeinschaft auch als ,Volk' bezeichnet, aber dieses Volk war durch seine Religion konstituiert. Daneben wurde das 114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Wort Jude' seit dem Mittelalter als Synonym für eine vor allem in der jüdischen Minorität verbreitete Art von Geschäftsgeist als Schimpfwort gebraucht. Bei diesem Wortgebrauch konnte man, wie die alte Rede von „beschnittenen und unbeschnittenen Juden“ zeigt, auch über den Kreis der Religions- und Volkszugehörigen hinausgehen; der Begriff blieb aber auf das Verhältnis einer ständischen Gesellschaft und ihrer Wirtschaftsgesinnung zu einer außerhalb dieser Gesellschaft stehenden Gruppe bezogen, und er blieb noch in seiner Erweiterung an die Religionszugehörigkeit gebunden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewannen die Begriffe Jude' und Judentum' eine säkulare und nicht-ständisch gebundene Bedeutung. Zunächst freilich intensivierte sich die theologische Auseinandersetzung mit dem Judentum. Die protestantische Theologie der Aufklärung, des Idealismus und des Liberalismus und die Religionsphilosophie verstanden bei ihren Versuchen einer Neuinterpretation des Christentums das, was ihnen anstößig war, als Erbe des Judentums, gegen das die eigentliche Wahrheit des Christentums neu zur Geltung zu bringen sei. Diese Theologie war daher von Semler über Hegel, Fichte und Schleiermacher bis zum Theologen Lagarde ausgesprochen antijudaistisch. Indem nun diese Theologie das Christentum anthropologisierte, wurde auch Judentum' zu einer nicht nur theologischen, sondern auch anthropologischen Kategorie. Zugleich wurde ein „Geist“ des Judentums konstruiert, der weit über den Bereich des Religiösen hinaus das Insgesamt des politischen, sozialen und kulturellen Lebens der Juden einheitlich verstehbar machen sollte. Der Geist des Judentums wurde als Volks- und Nationalgeist oder (und) als weltgeschichtliches Prinzip aufgefaßt und blieb, gerade mit seiner negativ kritischen Tendenz, keineswegs auf das Judentum des Alten Testaments beschränkt. Diese Konstruktion ermöglichte die allmähliche Ablösung des Begriffs Judentum' von der Religion14. In Philosophie und Wissenschaft wurden solche Deutungen, im allgemeinen mit mehr oder minder negativen Wertungen verbunden, vielfach üblich15. Die Hypostasierung einer historisch festgestellten Eigenschaft zum „Wesen“ des Judentums haben dann vor allem zahlreiche Sozialisten vorgenommen. Sie knüpften an die ältere Identifikation von Jude und Wucher etc. an und übertrugen diese Beziehung aus der ständischen in die bürgerliche Gesellschaft; dabei verwendeten sie den Begriff Jude' von vornherein in einem eindeutig säkularen Sinn. Zumal in Frankreich hat sich im Anschluß an Fourier, besonders bei Toussenel und Leroux, die Identifikation des als Nation aufgefaßten Judentums mit Handel, Banken, Kapitalismus und Ausbeutung ausgebildet16. In Deutschland sind für diese Position die Thesen von Karl Marx aus seinem Aufsatz „Zur Judenfrage“ von 1844 charakteristisch17. Die Juden seien weder Religionsgemeinschaft noch Volk, ihre „Nationalität“ eine „schimärische . . .: Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld“. Das gelte auch für die Religion: ihre Grundlage sei „das praktische Be115 8*

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dürfnis, der Egoismus . . . Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden“. Inzwischen sei „der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker“ geworden; „. . . aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden.“ Das Judentum sei „der höchste praktische Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung“18. Auch in der fast ein Jahrhundert währenden Diskussion um die Judenemanzipation hat sich der Begriff des Juden allmählich säkularisiert. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden die Juden allgemein als „Nation“ mit einem besonderen „Nationalcharakter“ bezeichnet. Während die Befürworter der Emanzipation diese besondere „Nationalität“ als Folge der Unterdrückung ansahen und aufheben wollten, indem sie das Judentum auf bloße Religion oder Konfession reduzierten, betonten die Gegner der Emanzipation gerade den ursprünglichen, keineswegs von außen erzwungenen Sondercharakter der jüdischen „Nationalität“. Sie gaben der Nationalität neben der Religion ein eigenes Gewicht, stellten sie mit der Zeit über die Religion und lösten sie schließlich ganz von ihr. So galten die Juden als „Volk im Volk“, als „Staat im Staat“, als „Nation in der Nation“19. Die Juden sind „ein durchaus fremdes Volk“, schrieb Arndt, und es komme darauf an, „den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten“20. Und Hegel, der sich gegen solche Tendenzen wandte, bemerkte doch, daß die Juden „sich nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volke zugehörig ansehen sollten“21. Der rationalistische Theologe Heinr. Eberh. Gottlob Paulus veröffentlichte 1831 im Kampf um die Judenemanzipation in Baden eine Schrift: „Die jüdische Nationalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmitteln“, und der Judenfeind Schopenhauer bemerkte 1851: „Jüdische Konfession'“ sei „ein grundfalscher . . . Ausdruck . . . Vielmehr ist Jüdische Nation' das richtige.“22 Solche Auffassungen finden sich seit den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der Publizistik aller Richtungen, blieben allerdings zunächst in der Minderheit. Ähnlich wie der Begriff ,Nationalität' wurde etwas später auch der Begriff ,Race' im Sinne der Abstammungsgemeinschaft gebraucht23. Nur bei einer Minderheit aber, zumal natürlich bei den Judenfeinden, hatte der Begriff einen unaufhebbar deterministischen Charakter; für die Mehrheit derjenigen, die das Wort gebrauchten, war ,Rasse' offenbar nur ein Faktor neben anderen, geschichtlichen, religiösen oder sozialen Faktoren, denen im allgemeinen und auf die Dauer höhere Bedeutung zugemessen wurde. Daher konnten die Liberalen den Begriff der Rasse nach der Jahrhundertmitte anscheinend leichter adaptieren als den einer jüdischen Nation. Im Sinne dieser neuen Tendenzen, das Judentum zu definieren, gab es dann im allgemeinen Sprachgebrauch eine terminologische Differenzierung: für die „bloße“ Religionszugehörigkeit setzte sich die offizielle Bezeichnung ,Israelit' durch24; daneben aber blieb bei Christen und Juden die Bezeichnung Jude' gebräuchlich, und mit ihr meinte man etwas mehr als die Religionszugehörigkeit. 116

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Audi getaufte Juden wurden vielfach von Juden und Christen weiterhin als J u den' bezeichnet. W. Menzel konnte in seiner Polemik gegen das „Junge Deutschland“ ohne weiteres vom „Jungen Palästina“ sprechen25. Auch im liberalen Bürgertum verbreitete sich der neue Begriff vom Juden, der entscheidend durch die Abstammung bestimmt war. So bemerkte z. Β. der liberale Historiker L. Häusser 1862 zu dem populären Wort von den „getauften Juden“: „Mit dem Wechsel der Religion ändert nach Ansicht des Volkes der Israelit die natürliche Eigentümlichkeit nicht, die ihn vom Christen scheidet; er mag konfessionell zu den letzteren gehören, in allem übrigen bleibt er, was er vorher gewesen.“ 28 Häusser hielt diese Ansicht durchaus nicht für falsch, auch für ihn war es „in erster Linie die Verschiedenheit der Race“, durch die die Abneigung der christlichen Bevölkerung gegen die Juden bedingt war. Unter liberalen Prämissen mußten solche Überlegungen jedoch im allgemeinen politisch und rechtlich folgenlos bleiben. Bluntschli z. Β. hob in seinem Artikel „Juden“ trotz einer „rassi­ schen“ Interpretation und der außerordentlich negativen Wertung der „Semiten“ ausdrücklich hervor, daß aus Rassenunterschieden keinerlei rechtliche Konsequenzen mehr gezogen werden könnten, und er setzte hinzu: Die Juden „sind längst keine . . . Volksfremden“ mehr, „sondern Volksgenossen. Die Juden sind in Deutschland zu Deutschen . . . geworden“ 27 . Seit Beginn der siebziger Jahre wurde dann der Begriff ,Semit' immer häufiger als modisches, halbwissenschaftliches Synonym für J u d e ' verwandt. Dieser neue Wortgebrauch blieb im allgemeinen unreflektiert, hatte jedoch eine ganz spezifische Bedeutung. Denn der Begriff ,Semit' gab dem neuen Begriff des J u den, der durch die Abstammung bestimmt war, sprachlich Ausdruck. 1879 erklärte z. B. der jüdische Historiker H. Bresslau, daß er, obwohl er den Begriff ,Semit' als sachlich falsch und irreführend ablehnen müsse, „den Ausdruck Jude nur zur Bezeichnung der Abkunft, nicht der Religion anwenden“ werde: „Um jedes Mißverständnis auszuschließen, bemerke ich, daß ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.“ 28 Otto Glagau, der der Meinung war, bei den Juden handle es sich „weniger um den Glauben als um die Race“, schrieb von einem Gründungsunternehmer, er habe alle Konkurrenten überflügelt: „und doch ist er nicht einmal semitischer, sondern bloß germanischer Abkunft.“ Andere Autoren begnügten sich mit dem zusammenfassenden Begriff „Semiten“ 29 . ,Semitismus' konnte schließlich in diesem Sinne im „Brockhaus“ als eine „Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum“ definiert werden 30 . In die im 19. Jahrhundert entstandenen säkularen Begriffe des Juden und des Judentums waren viele der in der Tradition der abendländischen Judenfeindschaft erwachsenen negativen Vorstellungen eingegangen. Die Begriffe boten sich daher schon im frühen 19. Jahrhundert als Inbegriff des Negativen an: „Was man Verwerfliches und Verhaßtes wahrnehmen oder erdichten mochte - Zerstörendes und Vaterlandfeindliches im Gebiete der Politik, Unsittliches in dem der Moral oder der Ästhetik, Frivoles, dem Christentum und allen Heiligen

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Feindliches in dem der Religion — das . . . wurde den Juden oder Jüdischem Wesen, jüdischem Hasse, jüdischen Leidenschaften, jüdischer Frechheit' usw. zugeschrieben.“31 Solche negativen Wertungen und Vorstellungen dominierten in der Blütezeit des proemanzipatorischen Liberalismus keineswegs, sie waren oft nur unterschwellig virulent, aber sie waren vorhanden. Und sie prägten nun insbesondere den Bedeutungsgehalt der in den siebziger Jahren sich verbreitenden Begriffe ,Semiten', ,Semitentum' und ,Semitismus'32. ,Semit' (oder Jude') konnte einfach als abwertende Bezeichnung gebraucht werden33. Insbesondere aber gewannen die vereinzelten Ansätze zur Identifikation von Judentum und Modernität nun erheblich an Gewicht und Resonanz und verbanden sich zu einem einheitlichen Vorstellungskomplex. Alle Komponenten der Moderne und der eigenen Gegenwart, die man negativ bewertete, konnten mit den Begriffen ,Semitismus', ,Semitentum', semitisches Wesen', ,semitische Talente', semitischer Geist' verknüpft werden. ,Semitismus' usw. war mehr als nur das „vom ethnologischen Standpunkt betrachtete Judentum“, es war ein Zerrbild der Moderne34. ,Semitismus' war Synonym oder Ursache für den Kapitalismus, für die aus den Bindungen von Zünften, Ständen und Kirchen sich befreiende bürgerlich-liberale Gesellschaft, für ihre antagonistische und pluralistische Struktur, für die Auflösung der Tradition, für die Traditionskritik der Literaten, für die Macht der Presse, für linksliberale, aufklärerische und westlich-demokratische, ja auch schon für sozialistische Ideen, für den „Materialismus“ und die „Veräußerlichung“ der Zivilisation, schließlich für den vermeintlichen Mangel an nationaler Integration, an wahrem Deutschtum im Reich von 1871. Diese Identifikation von Modernität und Judentum hing mit der modernen ,Judenfrage' zusammen. Emanzipation der Juden und Ausbildung der Moderne waren gleichzeitig verlaufen. Die Emanzipation, die nicht nur Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch innere Ablösung vom traditionellen Judentum bedeutete, hatte ein „neues“ Judentum geschaffen. Die soziokulturelle Assimilation war aber noch keineswegs vollendet, und darin hatten bestimmte Besonderheiten der jüdischen Minorität, die traditionskritische Position der jüdischen Intelligenz, die im Vergleich zum Gesamtvolk disproportionale Berufsverteilung der Juden und ihre spezifische Wirtschaftsgebarung ihre Ursache. Der Anteil der Juden am kapitalistischen System, am kritischen Journalisten- und Literatentum und an politisch linksstehenden Führungsgruppen war relativ hoch, das Judentum stand in einer charakteristischen „Nähe“ zu den Einrichtungen der Moderne. Die von den Judengegnern vorgenommene Identifikation von Judentum und Modernität ist allerdings allein als Reaktion auf solche Nähe nicht zu erklären, die entscheidende Rolle spielten vielmehr alte Judenfeindschaft, Vorurteile gegen die Minorität und Opposition gegen die Moderne überhaupt. Für die siebziger Jahre nun ist der Gebrauch des Begriffs ,Semitismus' oder entsprechender Begriffe vor allem Ausdruck einer Fundamentalkritik an den Prinzipien und Erscheinungsformen der modernen liberalen Gesellschaft. So ur118

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teilte Treitschke 1879 in diesem modernitätskritischen Sinn: „Unbestreitbar hat das Semitentum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens großen Anteil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemütliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht.“ 35 In den „Ära“Artikeln der „Kreuz-Zeitung“ von 1875 war die damalige Politik des Reiches als „Judenpolitik“ und als „Banquiers-Liberalismus unter semitischer Führung“ diffamiert worden 36 , und Glagau meinte: „Das Judentum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchestertum . . . Die soziale Frage ist wesentlich Gründer- und Judenfrage.“ 37 Dühring schließlich schrieb: „Warum ist der Deutsche Geist gegenwärtig so unheimisch bei sich selbst? Weil er sich nicht bloß in der Religion, sondern auch im Geistesleben und namentlich in der Literatur vergessen und an das Judentum veräußert hat.“ 38 Manche der Kritiker gingen so weit, von einer drohenden oder wirklichen Herrschaft des Judentums über Deutschland und die Welt zu sprechen, so Marr im Sommer 1879: „Ich bin überzeugt, ich habe ausgesprochen, was Millionen Juden im stillen denken: Dem Semitismus gehört die Weltherrschaft.“ 39 Und Constantin Frantz schloß 1876 eine Polemik gegen den „allgemeinen Materialismus, den Kultus des Erfolges“, die Verdrängung des Christentums mit den Worten: „Wer regiert denn nun eigentlich im neuen Reiche? und wozu haben die Siege von Sadowa und Sedan gedient, wozu sind denn die Milliarden erbeutet, wozu wird Kultur gekämpft, wenn nicht vor allem zur Beförderung der Judenherrschaft? Und da will man uns von dem Aufschwung unserer Nationalität reden, wo viel mehr ein rechter Deutscher vor diesem verjudeten Neudeutschtum einen förmlichen Ekel empfinden möchte.“40 Es kann kaum überraschen, daß sich das Schlagwort ,Semitismus' in Deutschland in den siebziger Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise, des Kulturkampfes und des Niedergangs des Liberalismus mit großer Schnelligkeit verbreitete: mit Recht konnte man 1879 den Begriff „Semitentum als neudeutschen Jargon“ charakterisieren 41 . Angesichts der seit Mitte der siebziger Jahre einsetzenden, zunächst vor allem von Konservativen und Zentrumspublizisten 42 getragenen judenfeindlichen Bewegung konnte die Bildung eines entsprechenden Gegenbegriffs beinahe nur noch eine Frage der Zeit sein.

2. Entstehung u n d Verbreitung des Begriffs .Antisemitismus' Im Spätsommer 1879 schwoll die judenfeindliche Bewegung zumal in Berlin erheblich an; Stoecker hielt seine ersten judenfeindlichen Reden (19. 9. 1879: „Unsere Forderungen an das moderne Judentum“) und verhalf damit der Bewegung zum Durchbruch in die Öffentlichkeit der politischen Versammlungen und zur Massenwirksamkeit; Treitschke veröffentlichte im November 1879 seinen ersten Artikel zur Judenfrage und machte damit die Bewegung zum Thema

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der allgemeinen publizistischen Diskussion, machte sie gesellschaftsfähig. „Der Kappzaum der Scham war dieser ,tiefen und starken Bewegung' abgenommen.“ 43 In diese Zeit fällt die Entstehung des Begriffs ,Antisemitismus'. Der erste bisher bekannte Beleg findet sich in der „Allgemeinen Zeitung des deutschen Judentums“ vom 2 . 9 . 1879, wo die Ankündigung eines „antisemitischen Wochenblatts“ durch Marr erwähnt wurde. Diese Stelle ist insofern überraschend, als Marr selber nur eine „socialpolitische“ bzw. „antijüdische“, nicht aber eine „antisemitische“ Wochenschrift angekündigt hatte 44 . Die Formulierung antisemitisch' dürfte daher von dem Mitarbeiter der „Allgemeinen Zeitung“ entweder selbst geprägt oder aber - wahrscheinlicher - in Berlin, woher die Meldung stammte, aufgegriffen worden sein. Es ist zu vermuten, daß der Begriff im Frühherbst 1879 im Umkreis Marrs in Berlin entstanden ist, ein eindeutiger Beleg dafür ist jedoch nicht beizubringen. Die Bildung des Wortes lag „in der Luft“, und Marrs Name ist schon von Zeitgenossen in diesem Zusammenhang genannt worden; es darf jedoch nicht übersehen werden, daß Marr auch im Spätjähr 1879 durchweg noch die Vokabel „antijüdisch“ und erst von 1880 an „antisemitisch“, diese aber auch dann nicht ausnahmslos, gebrauchte 45 . Eine programmatische Einführung des Begriffs findet sich bei ihm ebensowenig wie an anderer Stelle. Der Begriff wurde weder definiert noch kommentiert, war jedoch in der Praxis für jedermann hinreichend verständlich. Sicher ist, daß der Begriff ,Antisemitismu' nicht wie der Begriff ,Semitismus' aus der Wissenschaft stammte, sondern gleich als politisches Schlagwort geprägt wurde, und zwar zunächst als Selbstbezeichnung einer Parteirichtung. Ende September 1879 wurde in Berlin durch Inserate zur Bildung einer „antisemitischen“ Liga aufgerufen, Anfang Oktober erschienen die „Statuten des Vereins Antisemiten-Liga'“ 4 6 . Diese „Antisemiten-Liga“, die wenig mehr als ein Schattendasein führte, erregte die Aufmerksamkeit auch der großen liberalen Zeitungen, die im Spätjahr 1879 mit immer neuen Berichten und Meldungen über die „Liga“ aufwarteten. Wenn Marr 1880 feststellte, sie sei „in Wahrheit mehr ein Name als eine Kraft“ 47 , so war damit die Bedeutung dieses Vereins sehr genau bezeichnet: die „Antisemiten-Liga“ beschäftigte die Phantasie, trug den Gedanken einer Sammlungsbewegung gegen den ,Semitismus' in weite Kreise und machte den Begriff Antisemitismus* binnen weniger Wochen populär 48 . Der endgültige Durchbruch des neuen Schlagwortes fällt in das Jahr 1880. Während man 1879 durchweg noch von der „antijüdischen Bewegung“, der „Judenhetze“, dem „Judenkrieg“, dem „neugermanischen Judenhaß“, „Judenfeinden“ oder „judenfeindlichen Schriften“ sprach, änderte sich das im folgenden Jahr deutlich. Treitschke hatte 1879 nur an einer einzigen Stelle von „Antisemitenvereinen“ gesprochen. Mommsen war dagegen ein Jahr später das Vokabular schon ganz geläufig: „die Mißgeburt des nationalen Gefühls, der Feldzug der Antisemiten“ (4); „Adolf Wagner, auch ein entschiedener Antisemit“ (5 f.); „der eifrige Antisemit“ (13); „ein richtiger verbissener Antisemit“ (14). Inzwischen war mit ,Philosemit' auch schon ein von den Antisemiten geprägter Gegenbe-

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griff entstanden 49 . Mommsen sprach von „pro- und antisemitischen Stimmungen (15), und Treitschke polemisierte im Spätjahr 1880 bereits gegen den „blinden philosemitischen Eifer der Fortschrittspartei“ 50 . Für die Durchsetzung des Begriffs ,Antisemitismus' wurde besonders die gegen die rechtliche und soziale Stellung der Juden gerichtete Petitionsbewegung von 1880/81 von Bedeutung: die von über 250 000 Bürgern unterzeichnete Petition wurde im politischen Sprachgebrauch ziemlich allgemein als „Antisemiten-Petition“ bezeichnet; sie führte weite Kreise des deutschen Volkes dahin, sich mit der Judenfrage' und den Forderungen der Antisemiten zu beschäftigen51. Während die „Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums“ sich noch im August 1880 von den Begriffen Antisemiten' und ,antisemitisch' durch Anführungszeichen distanzierte, wurde diese Übung schon zum Jahresende aufgegeben. 1881 erschienen dann bereits mehrere Publikationen, die den Begriff Antisemitismus' in irgendeiner Form im Titel führten 52 , und 1884 folgte ihnen die erste „Geschichte“ des Antisemitismus unter dem Titel „Die antisemitische Bewegung in Deutschland“ 53 . Von den Gegnern und von neutralen Beobachtern wurden jetzt alle Vertreter antijüdischer Tendenzen als „Antisemiten“ charakterisiert; bei den Vertretern dieser Tendenzen selbst gab es Unterschiede: Treitschke hat sich nie als „Antisemit“ bezeichnet oder gefühlt; Stoecker hat sich zwar nie vom Antisemitismus distanziert, hat aber seine Bewegung im allgemeinen - im Unterschied zu den unkirchlichen rassischen Antisemiten - als „antijüdisch“ oder „christlich-sozial“ bezeichnet 54 ; seine Anhänger aber, wie ζ. Β. Η. Leuss und H. v. Gerlach, ver­ standen sich wiederum als „Antisemiten“.

3. Bedeutung u n d F u n k t i o n des Begriffs ,Antisemitismus' Eine eigentliche Diskussion um den Begriff Antisemitismus' hat es nicht gege­ ben. Lediglich die „Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums“ protestierte in aller Form gegen den Begriff mit seinem „Schein der Wissenschaftlichkeit“, mit dem man sich außerhalb des geschichtlichen Begriffs der Nationalität stelle: „Sollte mit diesem klingenderen Wort doch nur der ganz gemeine Judenhaß verdeckt und der öffentlichen Meinung insinuiert werden, daß es nur [!] einen Kampf gegen die Rasse gelte, daß man mit ihm [dem Kampf] auf nationalem Boden stehe.“ 55 Noch in dem gleichen Aufsatz wurde jedoch resignierend festgestellt: „Aber das Wort hat sich bei Feind und selbst bei Freund eingebürgert, und da behalten wir es der Kürze wegen vorläufig bei.“ 56 Von Deutschland aus wurde der Begriff Antisemitismus' rasch in andere Länder getragen. In Österreich ist er bereits zu Beginn der achtziger Jahre nachweisbar, ebenso in Ungarn, wo es schon Mitte der siebziger Jahre erste Ansätze zu einer judenfeindlichen Organisation gegeben hatte 57 ; in Frankreich findet er sich ebenfalls seit Beginn der achtziger Jahre, so ζ. Β. in dem T itel einer kurz­ lebigen Zeitschrift „L'Antisémitique“ von 1883 oder in E. Drumonts Plan einer

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„Alliance antisémitique universelle“ von 1886 58 . Die Bedeutung des Begriffs ,Antisemitismus' blieb jedoch in diesen Ländern ebenso vage wie in Deutschland. „Bei den verschiedenen Strömungen, die alle in den Antisemitismus ausliefen“, schrieb 1884 E. Lehnhardt, „war ein bestimmter, faßbarer Begriff mit dem Wort Antisemitismus gar nicht zu verbinden.“ 59 Man konnte von einem nationalen, einem sozialen, einem religiösen und einem rassischen Antisemitismus60 oder von „der Richtung des Antisemitismus, welche sich Mäßigung und Zurückhaltung zur Aufgabe gemacht“ habe, und dem „extremen und gewalttätigen Antisemitismus“ 61 , von den „radikalen Antisemiten“ und einem „vernünftigen Antisemitismus“ nationaler und christlich-sozialer Prägung sprechen 62 ; neben den konservativen Antisemitismus Stoeckers trat schon 1880 der radikal antikonservative, demokratische Antisemitismus Henricis, und in den späten achtziger Jahren bezeichneten die Radikalen die Gemäßigten bereits als „Scheinantisemiten“ oder „falsche Antisemiten“ und polemisierten gegen einen „TalmiAntisemitismus“ oder gegen den „Quartalsantisemitismus“ der Mitläufer 63 . In Frankreich konstatierte Leroy-Beaulieu in ähnlichem Sinne: „L'antisémitisme est, en même temps, une guerre de religion, un conflit de races, une lutte de classes.“ 64 Gerade in seiner Unbestimmtheit aber lag, wie S. W. Baron treffend herausgearbeitet hat, zunächst die besondere Stärke des Begriffs ,Antisemitismus' und damit seine politische Funktion: „The very term ,anti-Semitism' became a source of strength to those who gathered under i t . . . Such an omnibus term could easily cover a multitude of motives and impulses.“ 65 ,Antisemitismus', soviel stand für die verschiedenen Anhängergruppen wie für die Gegner fest, meinte Feindschaft gegenüber Juden und Judentum, und zwar in einem von der traditionellen Judenfeindschaft, wie sie etwa gleichzeitig in Ost- und Südosteuropa noch anzutreffen war, durchaus unterschiedenen Sinn. Der Begriff definierte nicht nur einen alten Feind in neuer Weise, sondern beschrieb mit der neuen Definition einen neuen Feind. Zunächst: Antisemitismus' benannte die säkular gewordene Verhaltensform der Judenfeindschaft und ihre Ideologie; er richtete sich nicht gegen die Religion der Juden und basierte nicht auf der Religion der Christen, die Religionsfrage und die theologische Legitimierung wurden sekundär. Sodann, das ist das Entscheidende: Der Antisemitismus verstand sich als eine Reaktion auf die durch die Emanzipation neu und. anders gestellte ,Judenfrage', und er war, das ist die Wahrheit dieses Selbstverständnisses, eine post-emanzipatorische Bewegung. Der unmittelbare „Zweck der Antisemiten-Liga“ sei es, „die uns widerwärtigen Juden wieder in die Schranken zurückzuweisen, welche eine unbedachte Gesetzgebung zu unserem Schaden aufgehoben hat“ 66 . Der Antisemitismus richtete sich nicht mehr gegen eine ständisch abgesonderte, relativ machtlose Gruppe mit eigenen Lebensformen; er richtete sich auch nicht mehr gegen den bloßen Anspruch dieser Gruppe, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, sondern er richtete sich gegen eine nunmehr der Gesellschaft selbst zugehörige und mächtig gewordene, wenn auch nicht voll assimilierte Gruppe. Diese Tatsache wurde - trotz des Widerspruchs der Liberalen, die im Antise-

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mitismus nichts anderes als die Reaktivierung alter Vorurteile sahen67 - auch außerhalb des Lagers der eigentlichen Antisemiten im allgemeinen anerkannt: „Die antisemitische Bewegung . . . ist durch den immer mehr wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einfluß der von den früheren Schranken befreiten jüdischen Bevölkerung veranlaßt und strebt danach, diese Schranken wieder aufzurichten und die Juden aus den öffentlichen Ämtern zu verdrängen, ja sie ganz zu vertreiben.“68 Der Kampf gegen scheinbare oder tatsächliche jüdische Machtpositionen in der Gesellschaft, gegen die sogenannte „Judenherrschaft“, war es, in dem sich die Antisemiten aller Richtungen einig waren. „Der wahre ,Culturkampf' nicht gegen die Religion der Juden, nicht gegen die gesamte Judenschaft, aber gegen den Christentum und deutsches Wesen bedrohenden jüdischen Geist und gegen die unserem nationalen Wohlstande tödliche jüdische Geldherrschaft ist dringend notwendig geworden und glücklicherweise auch schon weithin populär.“69 1894 hieß es bündig im „Staatslexikon“ der Görresgesellschaft: „Juda ist eine Macht. Der Antisemitismus setzt sich derselben entgegen.“70 Diese Formel deckte ebenso die Ziele der radikalen, schon im biologischen Sinne rassisch denkenden Antisemiten, wie die der konservativen oder christlich-sozialen Antisemiten, die weniger die Juden als den „jüdischen Geist“, den „Semitismus“ bekämpften und die Juden bei Wahrung ihrer formalen Rechtsstellung „nur“ aus den staatlichen Ämtern (Schule, Justiz) verdrängen wollten. Die bei der Wahl des Begriffs ,Antisemitismus' prätendierte Wissenschaftlichkeit, mit der an die Stelle der älteren naiv-emotionalen Judenfeindschaft eine reflektierte und theoretisch begründete Position gesetzt werden sollte, hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt. Nur einige der Theoretiker des rassischen Antisemitismus sahen in der „Wissenschaftlichkeit“ der neuen Bewegung ein wesentliches Moment. Sozialer Träger der unter dem Begriff des Antisemitismus vereinten Bewegung waren Gruppen, die sich durch das liberalkapitalistische System benachteiligt fühlten: Handwerker, Kleinhändler und ein zunächst noch geringer Teil der Landwirte, sowie Angehörige der alten Führungs- und Bildungsschichten, deren Aussichten im Gefüge der Gesamtgesellschaft durch die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung bedroht zu sein schienen; dazu kamen die ideologisch - vom integralen Nationalismus, von der romantisch-pessimistischen Kulturkritik, von der Sorge um die christliche Lebensgestaltung des Volkes oder vom Antiliberalismus und Antikapitalismus motivierten Kräfte. Die Frage, warum gerade diese Gruppen Träger der Bewegung des Antisemitismus geworden sind, ist Gegenstand zahlreicher soziologischer Theorien. So hat man den Antisemitismus der Gebildeten als einen kollektiven Nationalstolz interpretiert, der ihre Deklassierung durch die kapitalistischindustrielle Schicht und das Trauma ihrer erzwungenen Identifikation mit dem ehemals bekämpften Obrigkeitsstaat kompensierte71. Oder es wird diesen Schichten in einer Krise ein besonderes Maß von Orientierungslosigkeit zugeschrieben, weshalb sie für die vom Antisemitismus gebotene Situationserklärung und Verhaltensregelung spezifisch anfällig seien72. Die begriffsgeschicht123

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liche Analyse kann solche Theorien weder diskutieren noch um eine weitere Theorie vermehren. Der Antisemitismus verstand sich als Reaktion auf die moderne ,Judenfrage'. Aber der Rekurs auf die Judenfrage' kann das Phänomen in keiner Weise zureichend erklären. Soziologisch wie ideologisch ist der Antisemitismus eine Protestbewegung gegen die Ideen von 1789, gegen die liberale Staats- und Gesellschaftsordnung und die mit ihr verbundene kapitalistische Ordnung. Die wirtschaftliche und soziale Krise nach dem Gründerkrach hatte in Deutschland den Boden für eine solche Bewegung bereitet. Hochkonservative und Teile des Zentrums hatten sie um 1875 zum Kampf gegen Bismarck und die Nationalliberalen benutzt, ihre Zeit war schließlich gekommen, als sich 1878/79 die große innenpolitische Wende in Deutschland vollzog. Denn die antisemitische Agitation von Treitschke über Stoecker bis zu Marr und Dühring galt mit ihren nationalistischen, kulturkritischen, monarchisch-konservativen, christlichen, antikapitalistischen oder antisozialistischen Argumenten den Juden als den exponierten Vertretern der „modernen“ Entwicklung, des liberalen Systems. Die traditionellen Vorurteile gegen die Juden verflochten sich mit dem Kampf gegen den Liberalismus. Lagarde z . B . meinte: „Juden und Liberale sind naturgemäß Bundesgenossen, denn jene wie diese sind nicht Naturen, sondern Kunstprodukte: Wer nicht will, daß das Deutsche Reich der Tummelplatz der homuneuli werde, der muß gegen Juden und Liberale . . . Front machen.“ 73 Über die katholische Agitation von 1875 urteilte eine jüdische Zeitung: „Indem sie auf die Juden losschlagen, glauben sie, den ganzen modernen Staat, die ganze liberale Tendenz der Gesellschaft“ zu treffen74. Und Ludwig Bamberger konstatierte 1880: „Der Angriff gegen die Juden ist nur eine Diversion im heutigen großen Feldzug gegen den Liberalismus.“ 75 Die deutschfreisinnige Partei und ihre Nachfolgerinnen schließlich hießen bei den Antisemiten nur die „Judenschutztruppe“ 76 . Aber nicht nur in seiner konkreten politischen Frontstellung, sondern auch in seinem innersten Kern war der Antisemitismus eine antiliberale Bewegung. Es war kein Zufall, daß Treitschke 1879 in seinem ersten antisemitischen Artikel „gegen die weichliche Philanthropie unseres Zeitalters“ polemisierte und feststellen zu können glaubte, daß durch die Entwicklung der letzten Jahre „der naive Glaube an die unfehlbare sittliche Macht der Bildung“ erschüttert sei und „Tausende zum Nachdenken über den Wert unserer Humanität und Aufklärung gezwungen“ worden seien77. Schon wenige Monate später polemisierte M. Busch im Namen der Selbsterhaltung der Völker „gegen doktrinäre H u m a nität* und empfindsam angekränkelten Kosmopolitismus“ und malte die Ausweisung aller Juden aus Deutschland aus 78 , zog H. Naudh gegen die Bildung und die Lehre von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen zu Felde 79 ; und Lagarde erklärte bündig: „Mit der Humanität müssen wir brechen: denn nicht das allen Menschen Gemeinsame ist unsere eigenste Pflicht, sondern das nur uns Eignende ist es. Die Humanität ist unsere Schuld, die Individualität unsere Aufgabe.“ 80 Angst und Sorge um die Nation und um die überlieferte Kultur, um die mon-

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archische Verfassung und um die traditionelle Sozialordnung und den durch sie garantierten Status wurden die bestimmenden Faktoren. Demgegenüber erschien der selbstverständliche Wert der Gleichheit ebenso fragwürdig wie die Werte der Humanität und der Aufklärung und eine an diesen Werten orientierte Bildung. Der Antisemitismus ist darum zugleich Symptom und Folge der Tatsache, daß die Wertvorstellungen der bürgerlich-liberalen Welt ihre Verbindlichkeit zu verlieren begannen, ist Symptom einer Krise der modernen Gesellschaft. Weit über den Rahmen des Parteipolitischen hinaus konnte der Antisemitismus deshalb von Anfang an als eine Ideologie der Unzufriedenheit mit der modernen Gesellschaft und des Widerspruchs gegen ihre konstitutiven Prinzipien fungieren. Trotz des Antiliberalismus ist der Antisemitismus keine konservative Bewegung, so sehr er auch politisch den Konservativen zugute kam. Er enthielt wesentliche demokratisch-revolutionäre Elemente 81 , ist zugleich aber auch von vornherein eine ausgesprochen antisozialistische Bewegung. Der Antisemitismus muß darum als ein Phänomen sui generis angesehen werden. Der Antisemitismus ist nicht nur eine antiliberale, sondern zugleich auch eine nationalistische Bewegung. Treitschkes Forderung an die „israelitischen Mitbürger“ war, „sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen“, seine Erwartung richtete sich auf „ein gekräftigtes Nationalgefühl“ 82 . Marr gab als Grund für die Macht der Juden an, daß „das Gefühl einer deutschen Nationalität, geschweige eines deutschen Nationalstolzes in den germanischen Ländern nicht existierte“ 83 , für Stoecker war das christlich-soziale Motiv ebenso integrierender Bestandteil seines Antisemitismus wie für Henrici und Böckel das deutsch-nationale 84 . Besonders deutlich ist das bei Lagarde ausgesprochen: „Ganz abgesehen von dem Inhalte des Judentums ist es unerwünscht, weil es fremd ist und durchaus als etwas Undeutsches und Widerdeutsches empfunden wird . . . Jeder uns lästige Jude ist ein schwerer Vorwurf gegen die Echtheit und Wahrhaftigkeit unsres Deutschtums . . . Je schärfer wir unseren Charakter als Nation . . . ausbilden, desto weniger Platz bleibt in Deutschland für die Juden . . . Deutschland muß voller deutscher Menschen und deutscher Art werden, so voll von sich wie ein Ei: dann ist für Palästina kein Raum in ihm.“ 85 Mommsen nannte den „Feldzug der Antisemiten“ 1880 die „Mißgeburt des nationalen Gefühls“ und sprach von einem „selbstmörderischen Treiben des Nationalgefühls“ 86 . Und Bamberger meinte: „Gerade der Cultus der Nationalität . . . artet leicht dahin aus, den H a ß gegen andere Nationen zum Kennzeichen echter Gesinnung zu machen. Von diesem Haß gegen das Fremdartige jenseits der Grenze bis zum H a ß gegen das, was sich etwa noch als fremdartig in der eigenen Heimat ausfindig machen läßt, ist nur ein Schritt.“ 87 Die Unsicherheit des deutschen Nationalbewußtseins und das Bemühen, die Gewißheit der nationalen Identität ständig zu intensivieren, mündete zum Teil in den Antisemitismus: das noch Fremdartige des nicht voll assimilierten Judentums, seine wirklichen und seine vermeintlichen internationalen Beziehungen wurden zu etwas Unerträglichem, ja, der „Jude“ wurde zu einem Gegenbild

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konstruiert, dem gegenüber erst die Nation - über alle Stammes-, Klassen- und Konfessionsgegensätze hinweg - mit sich selbst sollte identisch werden können. In diesem Sinne ist der Antisemitismus ein Symptom für die Loslösung des radikalen und integralen Nationalismus von dem gemäßigten Nationalismus der Liberalen.

4. Entwicklungen im Kaiserreich Seit 1879/80 entstanden in Deutschland antisemitische Parteien und Sammlungsbewegungen. Das neue Schlagwort wurde jedoch außer in der „Antisemiten-Liga“ nur im „Deutschen Antisemitenbund“ von 1884 aufs Panier geschrieben; die antisemitischen Parteien verzichteten zunächst auf diese Etikettierung. Unabhängig vom jeweiligen Parteinamen wurden jedoch die Mitglieder dieser Parteien im allgemeinen nicht nur von Gegnern und Neutralen als „Antisemiten“ bezeichnet, sondern sie nannten sich - abgesehen von einem Teil von Stoeckers „Christlich-Sozialer Partei“ - auch selber so, und seit der Mitte der achtziger Jahre trat in der antisemitischen Bewegung dann auch offiziell der Begriff ,Antisemitismus' immer stärker in den Vordergrund. 1885 gründete Th. Fritsch die „Antisemitische Correspondenz“, die seit Frühjahr 1888 als „Central-Organ der deutschen Antisemiten“ erschien; 1886 wurde mit der „Deutschen Antisemitischen Vereinigung“ ein provisorischer Dachverband geschaffen; 1887 ließ sich der hessische Antisemitenführer O. Böckel nach seiner Wahl in den Reichstag als erster Abgeordneter im Reichstagsalmanach als „Antisemit“ eintragen88. „Wir deutschen Antisemiten“ wurde zur geläufigen Wendung89, und Marr sprach sogar von seinen „lieben Mitantisemiten“90. 1891 wurde von liberalen Kreisen der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ gegründet. Unter den eigentlichen Antisemiten, für die der Antisemitismus das Zentralstück ihres politischen Programms war, gab es hinsichtlich der Organisation des Antisemitismus zwei Standpunkte. Für Böckel galt nur derjenige als Antisemit, der sich für die Aufhebung der Judenemanzipation und zugleich für wirtschaftliche und soziale antikapitalistische und antifeudale Reformen einsetzte91. Diese Bestimmung tendierte auf die Bildung einer fest abgegrenzten geschlossenen Partei. Dagegen vertrat Theodor Fritsch den Standpunkt, daß der Antisemitismus in erster Linie als parteipolitisch nicht gebundene Weltanschauung interpretiert werden müsse: es sei die Aufgabe der antisemitischen Bewegung, nicht eine besondere Partei zu bilden, sondern möglichst alle Parteien mit dem „antisemitischen Gedanken“ zu durchdringen92. Auf dem Bochumer „Deutschen Antisemitentag“ von 1889 setzte sich zunächst der Gedanke der Antisemitenpartei durch, jedoch wurde der Begriff ,antisemitisch' als ausschließlich negativ kritisiert93. Die neue Partei wurde schließlich „Antisemitische deutsch-soziale Partei“ genannt. Ein Jahr später jedoch gründete Böckel eine „Antisemitische Volkspartei“, und als 1890 fünf antisemitische Abgeordnete in den Reichstag ge126

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wählt wurden ,nannten sich vier von ihnen unter Böckeis Führung „Fraktion der Antisemiten“94; schon 1893 änderte aber auch Böckel den Namen seiner Partei in „Deutsche Reformpartei“95. Das Jahr 1893 brachte mit 2,9 % der Stimmen bei der Reichstagswahl und 16 Abgeordneten den Höhepunkt des parteipolitischen Antisemitismus älterer Prägung. Auch für die folgenden Jahre - bis zu den Wahlen von 1907 - lassen sich noch zahlreiche antisemitische Abgeordnete nennen, aber das eigentliche antisemitische Parteiwesen entwickelte sich stark rückläufig96. Ständige Parteispaltungen, die minimale Wirksamkeit im Reichstag, die geringe Integrität der Führer und vor allem die Wirtschaftsentwicklung, die auch dem kleinen Mittelstand die Anpassung an das industriell-kapitalistische System erlaubte - das waren die wesentlichen Gründe für den Rückgang der antisemitischen Parteien. Die antisemitischen Gruppen wurden zu sektenähnlichen Gebilden. Sie haben freilich gerade in dieser Sektenexistenz den Antisemitismus 1) zu einem umfassenden „System“, das Erklärung und Lösung aller Weltprobleme bot, entwikkelt; sie haben ihn 2) in der Nachfolge der radikalen Antisemiten der Entstehungszeit endgültig mit der biologisch-deterministisch aufgefaßten, pseudowissenschaftlich gewordenen Rassenlehre verbunden; sie haben 3) seine Ziele radikalisiert: an die Stelle der Zurückdrängung des jüdischen Einflusses und der Stellung der Juden unter Fremdenrecht traten mehr oder minder explizit die Forderungen nach Ausweisung oder Vernichtung der Juden97; sie haben 4) im Zuge der ansteigenden Klassenkämpfe die antisozialistische Komponente ihrer Ideologie verstärkt: neben den „jüdischen“ Kapitalismus trat - im Anschluß an manche älteren Vorbilder, ζ. Β. Dühring — gleichgewichtig der „jüdische“ Sozialismus, und zwischen beiden wurde eine imaginäre Einheit konstruiert. Th. Fritsch mit seiner Zeitschrift „Der Hammer“ und seinem „Antisemitenkatechismus“98 kann als Exponent dieser Gruppe gelten. Von diesem sektiererischen Antisemitismus distanzierte sich die überwiegende Mehrheit des deutschen Bürgertums. Der Begriff ,Antisemitismus' hatte als Name und Schlagwort jener Richtungen im Bürgertum keinen guten Klang; die extremsten Formen des Antisemitismus waren als „Radauantisemitismus“ disqualifiziert. Wichtiger als Parteien und Sekten wurde für den Antisemitismus eine Reihe von Verbänden, in denen sich der Antisemitismus mit mittelständischer Wirtschafts- und Sozialpolitik oder mit Nationalismus und Imperialismus verband: die 1893 gegründete mächtige Interessenvertretung der deutschen Landwirtschaft, der „Bund der Landwirte“, der zumal in seiner Dorfagitation und in seiner Publizistik ausgesprochen antisemitisch war; die wichtigste Gewerkschaftsorganisation der Angestellten, der 1893/95 von Parteiantisemiten gegründete „Deutschnationale Handlungsgehilfenverband“99, der weniger in der Propaganda als dadurch, daß er keine Juden aufnahm, antisemitisch orientiert blieb; die „Vereine deutscher Studenten“, die sich im Zusammenhang mit der Antisemitenpetition gebildet hatten; und schließlich der „Alldeutsche Verband“, der, nachdem der aus dem völkisch-antisemitischen Deutschbund hervorgegangene H. Class 1908 den Vorsitz übernommen hatte, sich immer eindeuti127

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ger zum Antisemitismus bekannte. Auch ein Teil der Korporationen und Burschenschaften ging mehr oder minder offen zum Antisemitismus über. Der feudal und traditionell bestimmte Antisemitismus des Offizierskorps wirkte über das Institut des Reserveoffiziers gerade auf die jüngere nationalistische Intelligenz und verstärkte die Tendenz zur antisemitischen Ideologie100. Für die Ausbreitung einer den Antisemitismus begünstigenden Haltung waren sodann bestimmte ideologische Entwicklungen wichtig. Die Kulturkritik von Lagarde und Langbehn, die das Unbehagen an der Moderne mit antisemitischem Einschlag formulierte, fand um die Jahrhundertwende große Resonanz101. Rassetheorien - im Anschluß an die Rezeption und Übersetzung Gobineaus durch den Lagarde-Schüler L. Schemann102 und die Vorstellungen des Sozialdarwinismus - fanden popularisiert Eingang in die allgemeine Bildung; der große Erfolg des aus dem Bayreuther Wagnerkreis hervorgegangenen H. St. Chamberlain mit seinem Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (1899) ist dafür symptomatisch. Nationalistische, mittelständische, kulturkritische und antiliberale Tendenzen verbanden sich in dieser Situation immer stärker mit rasseantisemitischen Gedanken. Die Rassetheorien fixierten endgültig den biologischen Sinn des Begriffs ,Rasse' und erhoben ihn zum obersten Erklärungsprinzip der geschichtlichen Welt: der Begriff der Rasse wurde historisiert und ideologisiert, ehe er politisiert wurde. Mit der Historisierung des Rassebegriffs vollendete sich die Naturalisierung der politisch-sozialen Welt. Das Volk war nicht mehr religiös konstituiert, seine Eigenart war nicht mehr durch Geschichte, Sprache und Kultur bedingt, sondern durch die Rasse bestimmt: ,Volk' hörte auf, ein geschichtlicher Begriff zu sein, wurde zum bloßen Naturbestand. Damit aber wurde jede Assimilation, an die noch Treitschke geglaubt hatte, unmöglich: die Abkehr vom Liberalismus wurde zur Abkehr von der europäischen und christlichen Tradition, wenn die Entwicklung des Menschen aus individuellem Willen gegenüber dem Faktor Blut und Rasse kaum noch Bedeutung hatte. Verbände einerseits und kultur- und zeitkritische Theorien andererseits haben antisemitische Vorstellungen in größeren Teilen der Gesellschaft, wenn auch zumeist in abgeschwächter Form, virulent gemacht. Auch wo solche Vorstellungen nicht akzeptiert wurden, galten sie vielfach doch als mögliche, nicht illegitime Positionen, denen man nicht mehr grundsätzlich Widerstand leistete. Schließlich breitete sich darüber hinaus auch ein „latenter“, nicht weiter theoretisch expliziter Antisemitismus aus, etwas, was F. Naumann als „antisemitische Gesellschaftsstimmung“ charakterisierte103, also die Beibehaltung und Fixierung oder die Erneuerung antijüdischer Vorurteile, die ihre potentielle Rechtfertigung in jenen antisemitischen Theorien hatten. Selbst bei den liberalen Parteien dieser Zeit lassen sich antisemitische Stimmungen und Rücksichten auf antisemitische Wähler nachweisen104. Die Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Antisemitismus blieb zunächst schwankend. Zwar lehnte F. Engels 1890 den Antisemitismus „als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft ab“105, gleichzeitig aber schrieb F. Mehring in der „Neuen 128

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Zeit“: „Über den Brutalitäten, welche der Antisemitismus, mehr in Worten als in Taten, gegen die Juden begeht, darf man die Brutalitäten nicht übersehen, welche der Philosemitismus, mehr in Taten als in Worten, gegen jeden begeht, der, sei er nun Jude oder Türke, Christ oder Heide, dem Kapitalismus widerstrebt.“106 Man wandte sich einerseits gegen die Antisemiten als „die Vertreter der Antikultur“ (W. Liebknecht)107, glaubte aber andererseits: „Ja, die Herren Antisemiten ackern und säen, und wir Sozialdemokraten werden ernten. Ihre Erfolge sind uns also keineswegs unwillkommen.“108 In diesen Zusammenhang gehört auch der zu Unrecht A. Bebel zugeschriebene, wohl aus Österreich stammende Satz: „Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls.“109 Auf dem Parteitag von 1893 erst nahm die Partei endgültig und eindeutig ablehnend zum Antisemitismus Stellung, und in der Praxis erwies sich dann die sozialistisch organisierte Arbeiterschaft als die einzige große Bevölkerungsschicht, die dem Antisemitismus gegenüber fast vollständig immun war. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sich die Situation äußerlich beruhigt: die radikalen Antisemitenparteien waren verschwunden, die wilden Versammlungen und Pressekampagnen hatten aufgehört, der Grundsatz der gesetzlichen Gleichberechtigung war trotz mancher gesellschaftlichen Diskriminierung zu keiner Zeit ernsthaft gefährdet worden. Gleichwohl war der Antisemitismus auf lange Sicht nicht ohne Wirkung geblieben: ein latenter Antisemitismus war weit verbreitet, und große Teile der wilhelminischen Gesellschaft hatten Bestandteile des „antisemitischen Gedankens“ in ihr Weltbild aufgenommen. Dieser Antisemitismus hatte keine bestimmte Zielsetzung, kein konkretes Programm, keine praktischen Konsequenzen, aber er war eine mögliche und mit anderen Positionen kombinierbare „weltanschauliche“ Position geworden. Die Beziehung auf die Judenfrage' hatte sich bei diesem „weltanschaulichen“ Antisemitismus gelockert; er wurde deshalb auch durch die tatsächliche Entwicklung der ,Judenfrage', die fortschreitende Assimilation der Juden, nur wenig beeinflußt.

5. Der Begriff ,Antisemitismus' im Nationalsozialismus Diese Situation änderte sich mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und der Revolution: der latente Antisemitismus wurde - im Zeichen der Suche nach einem „Sündenbock“ - aktuell. Der Antisemitismus bestimmte die Agitation radikal nationalistischer Gruppen, die ihre Schlagworte aus dem Arsenal der älteren antisemitischen Literatur entnahmen, ohne ihrerseits neue Elemente hinzuzufügen, und diese Agitation fand breite Resonanz. Entscheidend für die weitere Entwicklung wurde die Verbindung von Antisemitismus und Nationalsozialismus. Hitler, der unter dem Eindruck des österreichischen Antisemitismus eines Lueger und Schönerer vom „schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten“ geworden war110, wollte den epigonalen Antisemitis129 9

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mus seiner politischen Gesinnungsgenossen in einen „planmäßigen Antisemitismus“ verwandeln 111 . Das gelang ihm in dreifacher Hinsicht: 1. Hitler hat die Theorie des Antisemitismus konsequent systematisiert. Dem „älteren Scheinantisemitismus, der fast schlimmer war als überhaupt keiner“, wurde von Hitler ein „wissenschaftlicher Antisemitismus“ entgegengestellt 112 . Seine ,Wissenschaftlichkeit' wurde gesichert durch den Einbau in eine radikale Rassentheorie mit universalem Anspruch. Die Rassentheorie wurde zur einzigen Basis des Antisemitismus gemacht. 2. Der Antisemitismus der nationalsozialistischen Politik sollte nicht mehr „weltanschaulich“ unverbindlich sein, sondern er sollte sich auszeichnen durch Konsequenz und Praxis, d. h. „auf die Entfernung der Juden überhaupt zielen“ 113 . 3. Schließlich gab Hitler dem Antisemitismus einen anderen und neuen Stellenwert, indem er die „Judenfrage“ ins Zentrum seines Kampfes rückte. Er versuchte gerade mit dem Antisemitismus dem „deutschen Volk in dieser Frage den großen, einigenden Kampfgedanken zu schenken“ 114 . Der Jude wurde zum wichtigsten Antisymbol der nationalsozialistischen Propaganda, in der nun die verschiedenen Stoßrichtungen eines nationalen, wirtschaftlichen, kulturellen und biologischen Antisemitismus und alle Unzufriedenheiten mit dem liberal-demokratischen System gebündelt wurden. In diesem Sinne hat dann, wie Hitler darlegte, „die nationalsozialistische Bewegung die Judenfrage ganz anders vorwärtsgetrieben. Sie hat es vor allem fertiggebracht, dieses Problem aus dem engbegrenzten Kreise oberer und kleinbürgerlicher Schichten herauszuheben und zum treibenden Motiv einer großen Volksbewegung umzuwandeln“ 115 . Der Antisemitismus wurde zum Bestandteil eines umfassenden politischen Konzepts. Dabei richtete Hitler seinen Antisemitismus nicht nur gegen das deutsche Judentum, sondern gegen das „internationale Judentum“, gegen „Juda“ bzw. „Alljuda“: der Antisemitismus bekam im Nationalsozialismus eine weltgeschichtliche Dimension im Sinne eines manichäischen Weltbildes. Obgleich nach der Machtergreifung Hitlers zunächst in Deutschland und während des Krieges dann im größten Teil Europas dieser Antisemitismus skrupellos in die Praxis umgesetzt wurde, geriet der Begriff ,Antisemitismus' überraschenderweise in Mißkredit. 1935 gab das Reichspropagandaministerium eine Anweisung an die deutsche Presse: „Das Propagandaministerium bittet, in der Judenfrage das Wort antisemitisch oder Antisemitismus zu vermeiden, weil die deutsche Politik sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten schlechthin richtet. Es soll stattdessen das Wort antijüdisch gebraucht werden.“ 118 Das war eine eindeutige, mit außenpolitischen Rücksichten begründete „Sprachregelung“, der noch im gleichen Jahr die Anweisung, „arisch“ durch „deutschblütig“ zu ersetzen, parallel ging 117 . Ganz unerwartet kam diese Maßnahme nicht, und sie hatte auch nicht nur außenpolitische Gründe: in der Propaganda der sog. „Kampfzeit“ der NSDAP, in den Äußerungen Hitlers und schließlich in den offiziellen Verlautbarungen des „Dritten Reiches“ war ebenso wie im internen Sprachgebrauch der Nationalsozialisten selten von „Semiten“, vielmehr fast immer von „Juden“ die Rede. Auch die Begriffe ,Antisemitismus' und ,antisemi-

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tisch', die in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit jedermann geläufig waren, waren im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten seltener, als man vermuten würde. Der Antisemitismus' als „Weltanschauung“ war ein integrierender Bestandteil der nationalsozialistischen „Weltanschauung“ geworden, der ,Antisemitismus' als politische Bewegung war in der nationalsozialistischen „Bewegung“ aufgegangen: wer Nationalsozialist war, war in der Regel auch Antisemit, aber er hatte keinen Grund mehr, sich besonders als solchen zu bezeichnen. 1944 machte man schließlich im „Handbuch der Judenfrage“ — dem alten „Antisemitenkatechismus“ Fritschs — noch den vergeblichen Versuch, das „unzutreffende Schlagwort“ ,Antisemitismus' durch den Begriff „Antijudaismus“ zu ersetzen118. Im Zusammenhang mit der Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums, der furchtbaren „Realisierung“ des radikalen rassischen Antisemitismus, spielte deshalb die Vokabel Antisemitismus' keine oder nur eine nebensächliche Rolle: man sprach vom „Kampf“ oder von „Aktionen gegen die Juden“, von einer „Endlösung der Judenfrage“, von „Sonderbehandlung“ usw.119. Der Begriff ,Antisemitismus' war zwar nicht völlig außer Gebrauch - selbst Hitler verwandte ihn noch während des Krieges gelegentlich in seinen „Tischgesprächen“120 -, aber er wurde angesichts eines systematischen Massenmordens objektiv unbrauchbar. Daneben findet sich aber auch der in seiner Tendenz durchsichtige Versuch, Antisemitismus und „Endlösung“ voneinander zu trennen. So schrieb z. Β. Höss, der Kommandant von Auschwitz, in den Aufzeichnungen aus der Zeit der Gefangenschaft: „Heute sehe ich auch ein, daß die Judenvernichtung falsch, grundfalsch war. Gerade durch diese Massenvernichtung hat sich Deutschland den Haß der ganzen Welt zugezogen. Dem Antisemitismus war damit gar nicht gedient, im Gegenteil, das Judentum ist dadurch seinem Endziel viel näher gekommen.“121 Antisemitismus' war für Höss definiert als Kampf gegen die Vorherrschaft des Judentums: die Massenvernichtungen hatten sich nach seiner Interpretation lediglich als ein untaugliches Mittel in diesem Kampf erwiesen, sie sagten daher nichts aus über die Richtigkeit und Zuverlässigkeit des Antisemitismus.

Ausblick Das Wort Antisemitismus' ist nach 1945 in Deutschland zweifellos häufiger gebraucht worden als in den zwölf Jahren vorher. Wissenschaft, Publizistik und Pädagogik haben den Antisemitismus als ein Schlüsselphänomen analysiert. Dabei ist die Bedeutung des Begriffs Antisemitismus' außerordentlich erweitert worden: er meint nicht mehr nur die antijüdische Bewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert - die man nun meist als „modernen Antisemitismus“ bezeichnet -, sondern alle judenfeindlichen Äußerungen, Strömungen und Bewegungen in der Geschichte. Antisemitismus ist so zu einem „Synonym für eine un131 9*

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freundliche oder feindselige Haltung den Juden gegenüber“ geworden 122 . Versuche, die ältere, nicht rassisch bestimmte Judenfeindschaft als ,Antijudaismus' oder ,Antimosaismus' vom modernen Antisemitismus abzusetzen, sind praktisch erfolglos geblieben: im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich der Begriff A n t i semitismus' in seinem weitesten Sinne im wesentlichen durchgesetzt. Auch die Wissenschaft wird diesen Sprachgebrauch berücksichtigen müssen; für ein angemessenes historisches Verständnis des Phänomens Antisemitismus* kann sie jedoch auf den älteren, engeren Begriff nicht verzichten 123 .

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7. Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert I. Die Beschäftigung mit den Symbolen, in denen ein politischer, religiöser, kultureller historischer Bewußtseinszustand anschaulich geworden ist, oder mit den Objektivationen solchen Bewußtseins in der Kunst1 ist für den Historiker älterer Zeiten seit langem selbstverständlich geworden; für den Historiker, der sich mit der Neuzeit, spätestens mit der Zeit seit der Französischen Revolution befaßt, ist sie es bisher nicht gewesen; weil es nicht an schriftlichen Quellen mangelte, gab es keinen Zwang, der zur Erschließung solcher neuen Quellengruppen führte; weil es im 19. Jh. keinen alle Lebensbereiche bestimmenden „Stil“ gibt, mag der Aussagewert von künstlerischen Symbolen zweifelhaft erschienen sein. Im folgenden wird der Versuch gemacht, durch eine Analyse der Nationaldenkmäler Aufschlüsse über die Struktur von Nationalbewegung und Nationalidee zu gewinnen2; dabei werden freilich nicht nur die Denkmäler selbst, sondern die Fülle der Äußerungen der „Denkmalsbewegungen“, zumal die Denkmalsfeste mit berücksichtigt. Diese Analyse einer neuen Quellengruppe erscheint deshalb auch im 19. Jh. erfolgversprechend, weil in den hier untersuchten Denkmälern und Denkmalsbewegungen zum einen Äußerungen der Nationalbewegung vorliegen, an denen jeweils eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen - Stifter, Geldgeber, Planer, Künstler, Juroren, Kritiker, Propagandisten, die „Öffentlichkeit“ und das „Volk“ bei den Denkmalsfesten - beteiligt ist, die den Gedanken des Denkmals hervorbringen, mitformen oder ihm Resonanz verleihen. Die vergleichende Geschichte der Denkmäler und ihrer verschiedenen Formen kann darum ein Beitrag zur Sozialgeschichte der nationalen Idee werden. Zum andern: weil die Denkmäler objektiv gewordene Äußerungen von Ideen sind, Werke, die aus der Menge konkurrierender Vorschläge und einer Vielzahl von Entscheidungen hervorgehen, und Produkte, die ihrem Wesen nach einen besonderen Anspruch und eine besondere Art von Öffentlichkeit und von Dauer besitzen. In der „Objektivität“ der Denkmäler kommen zumal Momente zum Vorschein, die in den literarischen Explikationen des nationalen Bewußtseins nicht oder nur verstellt zu finden sind3. Zwei Einschränkungen sind sogleich zu machen. Zum einen: politische Denkmäler werden im wesentlichen von etablierten Kräften, vom Staat oder von „staatstragenden“ Gruppen gebaut. Die Opposition baut, solange sie nichts als Opposition ist, keine Denkmäler. Zwar kann die Opposition in einer Geschichte des Denkmals berücksichtig werden, indem Entwürfe und Ideen, Kritik der etablierten Denkmäler und „Ersatz“-Bauten zur Geltung kommen, 133

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trotzdem aber ist von vornherein klar, daß die nationale Idee der Opposition bei der Behandlung unseres Themas nicht oder nicht angemessen repräsentiert wird. Zum andern: man muß sich hüten - und insofern scheint die bisherige Zurückhaltung der Forschung nicht ganz unberechtigt -, das Kunstfaktum Denkmal und seinen Stil vorschnell mit den herrschenden Tendenzen des Nationalbewußtseins zu parallelisieren. Denn es gibt einen autonomen Bereich und eine autonome Entwicklung in der Kunst. Für die Künstler z. Β. ist die Aufgabe, eine angemessene Gestalt des Nationalbewußtseins zu bauen, meist sekundär, primär geht es für sie darum, eine große und zweckfreie Bauaufgabe zu haben; so hat Weinbrenner Denkmäler für Friedrich den Großen, für die französische Republik, für Napoleon und für die Völkerschlacht bei Leipzig, die Befreiung Deutschlands, entworfen, und noch Bruno Schmitz hat um 1900 nicht nur die großen Kaiser-Wilhelm-Denkmäler und das VölkerschlachtsDenkmal gebaut, sondern auch ein monumentales Kriegerdenkmal in Indianapolis, und für das italienische Nationaldenkmal, das Victor-Emanuel-Denkmal in Rom, hat er einen preisgekrönten Entwurf eingereicht. Bis etwa um 1900 sind die Wettbewerbe und die Kritik von Denkmalsentwürfen und -bauten überwiegend ästhetisch und nicht politisch und national orientiert. Schließlich gibt es auch zwischen der künstlerischen Form und dem nationalen Gehalt eines Denkmals Diskrepanzen; aus der ästhetischen Struktur und gar aus dem ästhetischen Wert oder Unwert eines Denkmals kann nicht unmittelbar und ohne weiteres auf Struktur und Wert oder Unwert des Nationalbewußseins geschlossen werden. Die Theatralik der Germania berechtigt nicht, generell auf ein theatralisches Nationalbewußtsein der 70er Jahre zu schließen, ebensowenig darf man aus der künstlerischen Überwindung des Wilhelminismus in den späten Bismarck-Denkmälern schon auf eine Überwindung des Wilhelminismus überhaupt schließen; und die Ansätze zu sachlicher, materialgerechter Modernität in diesen Denkmälern konvergieren nicht einfach mit den Ansätzen zu einem völkischen Nationalismus, der in ihnen seinen Ausdruck fand. Schon die für das 19. Jh. so ungemein charakteristische Tatsache des Stilpluralismus muß davor warnen, künstlerischen Ausdruck und politisches, nationales Bewußtsein unvermittelt einheitlich zu verstehen. Trotzdem, und gerade indem man die autonome Entwicklung der Kunst beachtet, ist es aber möglich, zwischen den im Kunstwerk objektivierten Form- und Weltideen und den nationalen Ideen Entsprechungen aufzuweisen. Nur deshalb kann eine Analyse der Nationaldenkmäler für die Geschichte der Nationalidee fruchtbar sein. Darum kann und muß in dieser Abhandlung nicht nur von Denkmalsideen und Denkmalsfesten, sondern auch und gerade von den Kunstwerken selbst die Rede sein. Der hier verwandte Begriff, der Begriff des Nationaldenkmals, scheint zunächst wenig eindeutig, im späten 19. Jh. kann jedes große patriotische Denkmal oder jedes von der Nation durch Sammlungen oder aus Steuermitteln finanzierte Denkmal oder auch nur das Niederwalddenkmal als Nationaldenkmal bezeichnet werden. Die Nation kann Stifter oder Adressat des Denkmals sein, das Denkmal kann ihr gewidmet sein, sie kann im Denkmal dargestellt 134

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sein, die Person oder die Personen, das Ereignis oder die Idee, denen das Denkmal geweiht ist, können eine repräsentative Bedeutung für die Nation haben. Man könnte in Ermangelung einer sachbezogenen Definition nominalistisch sagen, Nationaldenkmal ist, was als Nationaldenkmal gilt. Diese Geltung freilich hängt nun doch von Sachbedingungen ab, in erster Linie von dem letzterwähnten Faktor, davon, wieweit die Nation als Ganzes in einem Denkmal, in dem eine Vergangenheit, sei es Ereignis oder Person, Mythos oder Geschichte, vergegenwärtigt (Hermann 1875, Leipziger Völkerschlacht 1913), in dem eine Gegenwart verewigt (Reichsgründung: Niederwald 1883, Bismarck seit etwa 1895), in dem eine Idee sichtbar gemacht wird (Walhalla oder die in Deutschland nicht gebauten Freiheitsdenkmäler), sich selbst repräsentiert findet, wieweit ihr im Bekenntnis zu dem Dargestellten ihre Identität mit sich selbst anschaulich werden kann und wieweit darum dem Denkmal eine integrierende Funktion zukommt. Das Nationaldenkmal ist ein Versuch, der nationalen Identität in einem anschaulichen, bleibenden Symbol gewiß zu werden; das ist die Idee des Nationaldenkmals, die den Zeitgenossen des 19. Jh.s vorschwebte und die in allem unterschiedlichen Begriffsgebrauch noch gegenwärtig ist, sie muß die Grundlage jeder Untersuchung sein. Nun stellt aber die nationale Identität in Suchen und Finden, in Verlust, Bedrohung und Vergewisserung ein ständiges Problem dar; darum ist das Nationaldenkmal, zumal in Deutschland, eher Idee, Versuch, Anspruch und Problem als anerkannte Wirklichkeit, und die Geschichte des Nationaldenkmals muß darum zugleich Geschichte seiner Problematik sein, wenn sie für die Geschichte des Nationalbewußtseins aufschlußreich sein will. Auch darum muß der Begriff des Nationaldenkmals weit gefaßt werden, muß das nationale, das politische und das politisierte Denkmal berücksichtigt, müssen auch die nicht realisierten Entwürfe in die Betrachtung mit einbezogen werden. Dafür spricht schließlich ein methodischer Gesichtspunkt: nur wenn das Material, das der Untersuchung zugrunde gelegt wird, einigermaßen breit gestreut ist, ist es repräsentativ, nur dann läßt sich über die individuelle Beliebigkeit des einzelnen Denkmals, des einzelnen nationale Denkwürdigkeit beanspruchenden Symbols hinauskommen, läßt sich die Funktion eines Denkmals und einer Denkmalsidee für das Nationalbewußtsein erkennen. Ich gehe im folgenden nicht chronologisch vor, sondern versuche, Typen, Ideal typen des Nationaldenkmals herauszuarbeiten; und zwar orientiert sich diese Typologie daran, welche Nation es denn ist, die im Denkmal gemeint ist, daran, welches Moment sie eigentlich konstituiert. Gegen die Zuordnung eines bestimmten Denkmals zu einem Typus und gegen die Konstruktion eines solchen Typus überhaupt lassen sich im einzelnen gewiß manche Einwände erheben; trotzdem scheint mir das Arbeiten mit solchen Typen in unserem Falle aufschlußreich, weil es nicht in erster Linie um die Erkenntnis der Entwicklung, sondern zunächst um die Erkenntnis der unterschiedlichen und gegensätzlichen Gestalten des deutschen Nationalbewußtseins, um seine „Struktur“ geht. 135

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II. Der erste Typus, den wir zu behandeln haben, ist das Denkmal der durch den Bezug zum Monarchen konstituierten und geeinten Nation, das nationalmonarchische oder national-dynastische Denkmal. Die Nation, die in solchem Denkmal repräsentiert wird, ist selbstverständlich die Staatsnation, d. h. bis 1871 die partikularstaatliche Nation. In der Renaissance und im Barock ist der Typus des Fürsten- und Ruhmesdenkmals ausgebildet worden. Ein solches Denkmal repräsentiert zunächst nichts als sich selbst, den Ruhm und die Macht des Dargestellten, dessen Andenken es verewigen soll; zwischen dessen Sein als individueller Person und seinem Sein als Fürst kann nicht unterschieden werden. Im späten 18. Jh. dann setzt im Zuge der Aufklärung ein Vorgang ein, den man als „Moralisierung“ und „Patriotisierung“ der Denkmalsidee charakterisieren kann4; das Denkmal soll ein Verdienst ehren, und es soll zur bürgerlichen Tugend erziehen, insbesondere soll es den Patriotismus wecken und bestärken. Ein Denkmal ist „Belohnung für Verdienste, deren Andenken durch dasselbe auf die Nachwelt gebracht wird und die Gemüther zu gleicher Erlangung der Unsterblichkeit anfeuert“5. Von den öffentlichen Denkmälern der Griechen heißt es: „Welche starken und dauernden Eindrücke zu edlen Erinnerungen und Nacheiferungen mußten sie nicht einprägen. Es konnte nicht fehlen, der Bürger mußte da für das Vaterland und für die Tugend empfinden lernen . . .“6 Im Zuge dieser Tendenz wird einmal der Kreis derer, die eines Denkmals würdig sind, ja es beanspruchen können, weit über den Kreis der Fürsten und Feldherren ausgedehnt. Zum andern wird der Fürst nicht mehr als Fürst, sondern aufgrund seiner Verdienste als Individuum geehrt. Und mit dem Vordringen des Geniekults wird es die „Größe“ des Individuums, die man verherrlicht. Damit tritt die merkwürdige Paradoxie ein, daß das Denkmal für das verdienstvolle große Individuum zugleich zu einem Symbol der in seinem Genius sich offenbarenden überindividuellen Kräfte wird und daß schließlich das Denkmal des Fürsten auch zu einem Denkmal des in ihm repräsentierten überindividuellen Zusammenhanges, zu einem Denkmal des Staates, des Vaterlandes, der Nation werden kann. In diese Entwicklung gehören die seit 1786 diskutierten Pläne, ein Denkmal für Friedrich den Großen zu errichten, und in dieser Diskussion ist zuerst die Idee eines - partikularstaatlichen - Nationaldenkmals entstanden. Nach Friedrichs Tod hat die Akademie der Wissenschaften zunächst als allein würdige Ehrung ein neu entdecktes Sternbild nach dem König „Friedrichs Ehre“ genannt, ihn, den Heros, so zu den Sternen erhoben, ihm ein Sternendenkmal gesetzt. Gleichzeitig entstanden aber auch reale Denkmalspläne, 1791 und 1797 wurden auf Befehl Friedrich Wilhelms IL Konkurrenzen für ein FriedrichsDenkmal ausgeschrieben; von 1786 bis nach 1800 beschäftigte diese Angelegenheit die Künstler und das preußische, zumal das Berliner Publikum. 136

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Aus der Vielzahl der Entwürfe und der umfangreichen publizistischen Diskussion hebe ich nur die Momente heraus, die über das Fürstendenkmal oder das Denkmal des großen Genius hinaus zum Nationaldenkmal führen7. Zunächst stellte sich die Frage nach einer „nationalen“ Funktion des Denkmals in dem sogenannten „Kostümstreit“. Es war nicht mehr selbstverständlich, sondern eine Frage geworden, in welchem „Kostüm“ Friedrich darzustellen sei, ein Vorgang, auf dessen außerordentliche kunst- und geistesgeschichtliche Bedeutung ich hier nur gerade hinweisen kann. Die Alternative war, ob das antike oder das zeitgenössische Kostüm angemessen sei, und darüber wurde mit zunächst allein ästhetischen Argumenten gestritten. Immerhin, ein Vertreter der „Realisten“, der Geheime Finanzrat Vogel, gab schon eine ideologisch-politische, ja nationale Begründung mit einem fast revolutionären Unterton: Friedrich habe im Gegensatz zu den Römern, die ein Volk von Herren und Sklaven gewesen seien, Völker und Könige gelehrt, „daß die Könige um des Volkes willen da seien“8, und damit rechtfertigt er das nicht-antike, eben das zeitgenössische Kostüm. Schließlich gab es eine dritte Partei, die Anhänger der seit Klopstock aufgekommenen Hermanns-Mode, die Friedrich in altgermanischem, „teutschem“ Kostüm darstellen wollten; eine der Begründungen war, ein solches Kostüm sei passender und „dem Nationalgeist weit schmeichelhafter“ als das altrömische9; das germanische Kostüm hatte also eine nationale Funktion. Andere Momente, mit denen eine Reihe von Entwürfen über das herkömmliche Fürstendenkmal in Richtung auf ein Nationaldenkmal hinausgehen, sind die Repräsentation der Nation im Denkmal durch Zeitgenossen, Embleme oder allegorische Figuren und die Inschriften, in denen das Vaterland als Stifter des Denkmals genannt wird10. Vor allem aber haben ein gewisser, sonst unbekannter A. F. Krauss und der junge Architekt Friedrich Gilly diese Pläne in die Dimension eines Nationaldenkmals erhoben. Krauss veröffentlichte 179611 das freilich rein verbale Projekt eines großen Architekturdenkmals für Friedrich, und er nennt es ein „Heiligtum des Vaterlandes“, ein „Heiligtum der Nation“, das der „Verherrlichung des Vaterlandes“ diene. Der Denkmalsbezirk, zu dem man aus der Stadt heraus über eine Denkmalsstraße gelangt, die die neuere Geschichte Preußens versinnbildlicht, ist patriotischer Kultbezirk, in dem das Heer jährlich zu feierlicher Huldigung versammelt wird und die Alten den Jungen von den Taten Friedrichs erzählen. Friedrich steht „mit segnender Gebärde“ als der „Genius seiner Völker“ - hier noch der charakteristische Plural der Zeit, bevor der Nationalgedanke ganz durchgedrungen war - auf einem „ehernen Altar“, einem Bilde des Altars, den „jeder hochdenkende Borusse . . . im Herzen ihm weiht und später noch weihen wird“. Wichtiger als diese Phantasie in Worten sind die genialen Projekte Gillys von 1797. Gilly, der Friedrich „mit heiligem Enthusiasmus“ verehrte und zugleich tief von der französischen Revolutionsarchitektur, ihren Bauformen wie ihren patriotischen Zielsetzungen beeinflußt war, wollte ein Werk, „das zu einem Nationalheiligtum dienen sollte“, ein „Beförderungsmittel großer morali137

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scher und patriotischer Zwecke . . . wie es die großen öffentlichen . . . Denkmäler der Alten waren“. Das Denkmal soll am Rande der Stadt liegen, um die „Sphäre eines solchen Heiligtums“ den „profanen und skandalösen Auftritten“ der Stadt zu entziehen. Im Mittelpunkt einer weiten Platzanlage ist über einem dunklen Unterbau mit Gruft und Sarkophag des Königs ein großer, hell gehaltener dorischer Tempel vorgesehen, darin die thronende Gestalt des Königs, des „Heros der Menschheit“, der doch zugleich „für immer der Schutzgeist seines Volkes“ ist, als Herkules oder Jupiter, „entkleidet von allen Zufälligkeiten des Lebens, der Nation und des Zeitalters“12. Für Gilly verband sich, wie hier deutlich wird, das Nationale noch voll mit dem Antik-Humanen, das Nationale und das Menschheitlich-Weltbürgerliche lagen noch verschwistert nebeneinander, eine Haltung freilich, die, das zeigt der Kostümstreit, nicht mehr allgemein verbindlich war. Die Formidee des Denkmals entspricht dem revolutionären Klassizismus, dem Ideal der Erhabenheit und Größe, der Neigung zum Monumentalen, ja Ungeheuren und zu den einfachsten und klaren Formen, zu einem männlich heldischen und herben Stil, und in dieser Deutung erscheint die dorische Form als die Friedrichs allein würdige. Aber noch in anderer Beziehung ist der Tempel ein symbolischer Bau, er repräsentiert eine Unendlichkeit des Universums, er will „Empfindungen des Universums“ wecken; auf einem seiner Entwürfe bemerkt Gilly: „Ein einziges, der Menschheit ehrenvolles Monument. . . Pantheon das Weltall“, oder er spricht davon, mit dem hellen Material des Tempels, die „erhabene Wirkung seines Schimmers gegen den Himmel desto auffallender (zu) machen“. Auch der Aufbau des Baues von der Totengruft zum Tempel mit der Apotheose des Helden versinnlicht diesen Zug, die begrenzte Form verweist ins Unbegrenzte13. Für das Problem des Nationaldenkmals sind an diesen Entwürfen zwei Momente besonders hervorzuheben. Einmal: das nationale Denkmal hat einen sakralen Charakter, es ist Tempel und Heiligtum, herausgehoben aus dem Getriebe der Stadt, der Weg zu dieser Stätte ist als Wallfahrtsweg konzipiert, und kultisch-religiöse Feiern sollen dort begangen werden. Das Denkmal mutet darum dem Besucher eine andächtige, glaubensähnliche Stimmung zu, der Tempel, heißt es bei Gilly, „erfülle mit ehrfurchtsvollem Schauder schon aus der Ferne den sich nahenden Wanderer“14. Wir haben hier einen Ansatz zur Erhebung des Profanen ins Sakrale, zur Sakralisierung der Nation, und damit eine korrespondierende Erscheinung zu der Säkularisierung christlicher Gehalte in dem vom Pietismus beeinflußten Patriotismus der Jahrhundertwende15. Zum andern: diese Entwürfe zeigen eine ästhetische Struktur, die für das Nationaldenkmal überhaupt konstitutiv wird. Das Denkmal ist mehr als es selbst; was dargestellt wird, steht nicht für sich selbst, sondern vertritt, repräsentiert etwas, und zwar so, daß Repräsentierendes und Repräsentiertes nicht identisch sind. Das Denkmal verweist in seiner begrenzten Gestalt auf ein Unbegrenztes - ja Unendliches, in seiner Sichtbarkeit auf ein Unsichtbares, in seiner Bedingtheit auf ein Unbedingtes, in seiner Individualität auf ein Allgemeines, auf eine Idee, es hat formal eine sich selbst transzendierende Struktur, 138

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es hat Verweisungscharakter. Indem es nun eine unendliche Idee repräsentiert, stellt es zugleich einen Geltungsanspruch an den Betrachter: das Denkmal mutet dem Betrachter ein subjektives Empfinden und Erleben an, die Idee des Denkmals vollendet sich erst in der Einstellung des Betrachters. Der Betrachter muß jene Verweisung nach- und mitvollziehen, dazu muß er durch das Kunstwerk „gestimmt“ werden16. Verweisung und Anspruch also konstituieren wechselseitig das Denkmal, das macht seine Spannung und seine Problematik aus, darin gründet auch die Möglichkeit, daß es sakrale Funktion gewinnen kann. Dieser allgemeinen Struktur des modernen Denkmals entspricht nun im besonderen die Struktur eines Nationaldenkmals. Auch die Nation ist eine Idee, ein Unsichtbares, das im Sichtbaren dargestellt werden soll, auch die Idee der Nation ist etwas über jede reale Gestalt Hinausliegendes, auf das diese Gestalt nur verweisen kann. Auch die Idee der Nation stellt einen Anspruch an den einzelnen, sie fordert subjektive Realisierung, ihre Identität stellt sich erst in einem ständigen dynamischen Prozeß der Identifizierung her und dar; es ist für den Nationalismus seit dem 19. Jh. charakteristisch, daß sich die Nationalidee im subjektiven Bewußtsein ständig intensivieren und ihrer selbst vergewissern muß; auch die Idee der Nation also ist durch Verweisung und Anspruch konstituiert. So koinzidieren Strukturmerkmale des Denkmals und der Nationalidee, und von daher bestimmt sich die Struktur des Nationaldenkmals. Schließlich: das Denkmal kann das, worauf es verweist, nicht mehr in einer Welt objektiv geltender und selbstverständlicher Symbole anschaulich machen, daher muß der Künstler einerseits nach Symbolen in der Historie, der Allegorie oder dem Mythos suchen, und über die Aussagekraft eines Symbols kann gestritten werden - wie um das Kostüm Friedrichs -, andererseits muß der Künstler die Symbole der subjektiven Interpretation der unterschiedlich gebildeten Betrachter anheimgeben oder allenfalls versuchen, diese subjektive Deutung zu lenken - das aber bleibt immer problematisch. In dieser ästhetischen Problematik gründet die künstlerische Schwierigkeit bei der Gestaltung von Nationaldenkmälern im 19. Jh. überhaupt. Doch zurück zu den konkreten Sachverhalten. Die Pläne eines Denkmals für Friedrich den Großen sind noch längere Zeit erörtert worden, Friedrich Wilhelm III. hat zunächst diese „Nationalangelegenheit“ weitertreiben wollen17, aber nach dem Tode von Heinitz (1802) schlief die Sache ein. In den 20er Jahren griffen Rauch und Schinkel die Idee erneut auf. 1829 regten - auf Initiative des Freiherrn von Rochow - die kurmärkischen Stände an, das Denkmal durch eine nationale Sammlung in ganz Preußen zustande zu bringen, der König behielt aber nach langen Beratungen, wiederum im dynastischen Sinne, die Angelegenheit „seiner höchsteigenen Fürsorge“ vor18. Immerhin kam die Sache wieder in Gang, und die nächsten zehn Jahre waren von einer fortlaufenden Diskussion um immer neue Entwürfe von Schinkel und Rauch bestimmt; Rauch spricht, soweit ich sehe, 1830 als erster von dem „Nationaldenkmal“19, der Großherzog von Mecklenburg 1835 von dem „nationalen Monument, sei139

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nem Volke zur Vergegenwärtigung seines großen Daseins vor Augen gestellt“20. 1839 endlich erhielt Rauch den Auftrag für das 1851 vollendete Denkmal. An die Stelle der von Gilly und Schinkel geplanten architektonischen Monumentalisierung, die den Genius in die Unendlichkeit des Kosmos hineinstellt, tritt jetzt die Historisierung der Gestalt. Das Denkmal ist ein Reiterstandbild auf hohem Sockel, an dem in Freiplastik, Relief und Inschriften die Fülle der großen Zeitgenossen Friedrichs vergegenwärtigt wird. Der Held des Denkmals wird in seine Zeit hineingestellt, und in den Gestalten der geschichtlichen Welt kann die Nation sich repräsentiert finden. Im Denkmal wird so der Geist der Geschichte lebendig. An die Stelle des kultisch-sakralen Anspruchs der Nationaltempel tritt der schlichtere und freilich weniger mächtige Anspruch an die historische Bildung. „Die ganze reiche Komposition gleicht einer Aufforderung zum Studium der Geschichte, ist eine sprechende Gedenkschrift der Großtaten preußischer Männer, an welcher man nicht gedanken- und teilnahmslos vorübergehen kann“, schreibt ein Zeitgenosse21. Eine Schmalseite, mit 20 von 105 Personen, immerhin ist den Zivilisten eingeräumt, und sogar ein Gegner Friedrichs wie Winckelmann erscheint jetzt, wenn auch nur in einer Inschrift, am Denkmal. Aber 1851 war das Denkmal nicht mehr ein wirkliches Nationaldenkmal, in dem sich König und Volk in der Einheit der preußischen Nation hätten finden können. Die Grundsteinlegung, am 1. Juni 1840, war noch'ein „Nationalfest“ gewesen, das erste der monarchisch geprägten Denkmalsfeste des Vormärz, die eine Integration von Volk und Monarchen demonstrativ darstellen wollten; in den bürgerlichen Reden wurde der Geist des friderizianischen Preußens als der Geist der preußischen Reform und der friedlichen Entwicklung unter Friedrich Wilhelm III. angerufen22. Aber die Einweihung des „nationalen Ehrendenkmals“ von 1851 fand ein „verstimmtes Geschlecht“23. Friedrich Wilhelm sprach zwar davon, das Denkmal solle „für alle ein Zeichen der Versöhnung“ sein, aber er fuhr fort, „und für viele ein Zeichen der Umkehr“; die Versöhnung war nur durch Umkehr der Abgefallenen möglich. Das Fest wurde zu einem Siegesfest der konservativen Nation; Friedrich Wilhelm begann mit einer Rede an die Armee, in der ebenso wie in der Rede des Ministerpräsidenten von Manteuffel die gegenrevolutionären Töne ganz offenkundig dominierten. Soweit das Denkmalsfest noch Volksfest war, war es kein politisches Fest mehr, sondern ein Fest des Alten Fritz und seines neuen Denkmals24. In der nachrevolutionären Situation, in der die bürgerliche Gesellschaft zu der gegenwärtigen preußischen Monarchie in einem fundamentalen Gegensatz stand, konnte dies monarchisch gestiftete und stark militärisch geprägte Königsdenkmal nicht mehr zum Symbol der national-preußischen Integration werden. Fest und Denkmal wurden eine konservative Sache, aber auch die Konservativen konnten sich bei ihrem prekären Verhältnis zu Friedrich auf die Dauer nicht in seinem Denkmal repräsentiert finden. Zwischen 1815 und 1870 gibt es in Preußen noch zwei, nun freilich ganz andersartige Versuche zu einem monarchischen Nationaldenkmal; zunächst 1821 140

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das Denkmal auf dem Tempelhofer Berg in Berlin, dem späteren Kreuzberg. Die Idee eines Denkmals für die Gefallenen des vergangenen Krieges ging von Rauch und der Berliner Bürgerschaft aus, 1817 hat sie der König aufgenommen, das Denkmal wurde jetzt zu einem, wie es amtlich hieß, „Volksdenkmal“, einem „Denkmal für Preußen“, „der Nation als Anerkenntnis ihrer Aufopferung und Anstrengungen bestimmt“, mit der von Boeckh entworfenen Inschrift „Der König dem Volke, das auf seinen Ruf hochherzig Gut und Blut dem Vaterland darbrachte, den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur Anerkennung, den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung“25. Mit dieser Widmung bleibt das Denkmal trotz und gerade in der Wendung an das Volk ganz im Zeichen des monarchischen Prinzips, es ist die Aufnahme und Umwandlung der nationaldemokratischen Idee des Befreiungs- und Volksdenkmals26 durch die partikularstaatliche Monarchie - und die Feiern der Grundsteinlegung und Einweihung entsprechen dieser Intention. Auch das Bildprogramm, Allegorien der Hauptschlachten und das Eiserne Kreuz als Bekrönung, fügt sich in diese Idee ein, zwar fehlt die Gestalt des Monarchen, aber auch die Nation selbst wird nicht symbolisch dargestellt. Nur durch die Form, eine gotische Spitzsäule, wollte Schinkel, der damals mit seiner Generation die Gotik für den spezifisch deutschen Baustil hielt27, auf das Nationale Bezug nehmen. Aber der Versuch, mit diesem Denkmal die Verbundenheit von König und Volk zu dokumentieren und es zum Range eines Nationaldenkmals zu erheben, mußte in der Zeit der Restauration scheitern. Die preußische Nation konnte in dem Denkmal, dem steinernen Dank des Königs an das Volk, nur einen mehr als dürftigen Ersatz für die ausgebliebene Verfassung sehen und sich damit nicht begnügen. Noch weniger wurde das preußische Denkmal, das zuerst offiziell „Nationaldenkmal“ hieß, als Nationaldenkmal anerkannt, das war die 1854 aus offiziös gesammelten Beiträgen im ganzen Lande errichtete später sogenannte Invalidensäule, dem, so die Aufschrift, „Nationalkriegerdenkmal zum Gedächtnis der in den Jahren 1848/49 treu ihrer Pflicht für König und Volk, Gesetz und Ordnung gefallenen Brüder und Waffengenossen“, dem konservativen Versuch, den Begriff der Nation zu übernehmen, dem, so könnte man sagen, Nationaldenkmal der Reaktion28. Von anderen monarchisch partikularstaatlichen Nationaldenkmälern sei hier nur das 1834 an der Stelle der Burg Witteisbach errichtete Denkmal mit der Inschrift „Dem tausendjährigen Regentenstamm das treue Bayern“ erwähnt29. Die große Zeit des nationalmonarchischen Denkmals ist die Zeit nach 1870, die Zeit einer wahren Inflation von patriotischen Denkmälern. Das partikularstaatliche Nationalgefühl war doch zumal beim denkmalbauenden Bürgertum immer mehr hinter dem deutschen Nationalgefühl zurückgetreten. Erst mit der Gründung des Reiches war eine Harmonie von monarchischem und deutschem Nationalgefühl wieder bruchlos möglich geworden, erst mit dem Verfassungs141

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kompromiß schien der Bruch zwischen Gesellschaft und Staat geheilt, erst jetzt konnte das monarchische Denkmal wirkliches Nationaldenkmal sein. In gewisser Weise ist schon die zunächst für 1864 geplante, dann durch die Entwicklung zweimal überholte, 1873 vollendete Siegessäule ein Nationaldenkmal. Im Innern ist im Mosaik die Entstehung des Reiches dargestellt: dasZusammenstehen der Fürsten gegen die äußere Bedrohung und eine Borussia, die aus den Händen eines bayerischen Herolds die Kaiserkrone empfängt, hier auch schon das Motiv des vom Schlaf erwachenden Barbarossa. Aber die Aufschrift lautet „das dankbare Vaterland dem siegreichen Heer“, und die krönende Hauptfigur, die Viktoria, bleibt die Borussia, das Denkmal bleibt so nicht nur ein wesentlich monarchisch-militärisch geprägtes, sondern auch spezifisch preußisches Denkmal30. Auch Wilhelm IL hat dann mit der Berliner Siegesallee, den Standbildern der brandenburgisch-preußischen Fürsten, von den Büsten je zweier Zeitgenossen flankiert, dieser Transposition einer fürstlichen Ahnengalerie in den „steingewordenen Geschichtsunterricht“31 nicht ein deutsches, sondern ein borussisches und betont dynastisches Denkmal geschaffen und so die preußische Vergangenheit auch des deutschen Nationalstaates besonders betonen wollen; damit geriet er freilich in Gegensatz schon zu der großen Mehrheit der urteilenden Zeitgenossen32. Das eigentlich monarchische Nationaldenkmal ist die Fülle der Denkmäler Wilhelms I.; der mystische Nimbus, mit dem Wilhelm IL die Dynastie zu umgeben suchte, Zeugnis „der Bemühungen einer vom Zweifel an ihrem Gottesgnadentumsanspruch bereits in den Grundfesten unterhöhlten Monarchie“33, fand in diesem offiziös gelenkten patriotischen Kult für „Wilhelm den Großen“ einen beredten Ausdruck. Diese Denkmäler sind immer weniger individuelle Denkmäler des dargestellten Monarchen, sie sind vielmehr Denkmäler des fürstlichen Berufs, Denkmäler der Monarchie als Regierungsform, und dann auch Denkmäler der Nation. Sie reichen vom „Nationaldenkmal“ in Berlin über die Denkmäler der elf preußischen Provinzen, am Deutschen Eck oder an der Porta Westfalica etwa, bis zu den landschaftlichen (Hohensyburg) und städtischen Denkmälern. 300 bis 400 solcher Denkmäler sind gebaut worden; innerhalb Preußens ist ihre Zahl in den katholischen Gebieten der Westprovinzen geringer als anderswo und in den 1866 erworbenen Gebieten, vor allem in Hannover, am geringsten; die Denkmäler reichen aber auch über Preußen hinaus, kaum nach Bayern, wohl aber in größere Städte Mittel- und Südwestdeutschlands34. Zwei dieser Denkmäler sind besonders zu erwähnen: zunächst das offizielle „Nationaldenkmal“ für Kaiser Wilhelm I. in Berlin (1897) von R. Begas, das auf einen Beschluß des Reichstags zurückging und vom Reich mit 4 Millionen Mark finanziert wurde; die Inschrift nennt darum „das deutsche Volk“ als Stifter. Praktisch hat Wilhelm IL dem Reichstag die Planung aus der Hand genommen und sie ganz als seine eigene Angelegenheit betrieben. Das Denkmal hat die Form eines Reiterstandbildes mit einer triumphalen Festplatzarchitektur im Hintergrund, alle bisherigen Denkmäler „in Maßen und Massen gigantisch“ überbietend35. Es versucht im unendlichen Detail des Sockels und der Säulen142

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halle nicht mehr historisch wie das Friedrich-Denkmal ein Bild der Zeit zu geben, sondern mit Allegorien die deutschen Staaten und Stämme, die bürgerlichen Tätigkeiten, Krieg und Frieden darzustellen, ja eine Geschichte der Embleme vom Turnierhelm bis zur Kaiserkrone und zur Reichsverfassung zu geben und darin die Nation und eben die bürgerliche Nation zu repräsentieren. Aber das allegorische Detail tritt ganz zurück hinter der Reiterfigur. Das Denkmal ist auf die Apotheose des von einem Genius geführten Monarchen orientiert; wohin er geführt wird, in welche Unsterblichkeit er reitet, bleibt in einer Zeit, in der es eine gemeinsame religiös-symbolische Vorstellungswelt nicht mehr gibt, ganz unklar; die Transzendenz ist eine ästhetisch-theatralische Quasi-Transzendenz. Auch sie steigert noch die Gestalt des Monarchen, und der repräsentiert eigentlich wiederum nur die Monarchie. Letzten Endes dient alles der Darstellung der Macht der Monarchie, auch der architektonische „Machtraum“36 im Hintergrund und die am Sockel diagonal hervorspringenden mächtigen Löwen haben diese Funktion. Und wenn in diesem Denkmal etwas die Nation integrieren konnte, so war es weniger die Darstellung des Monarchen, als das Gefühl einer durch es vermittelten Teilhabe an der Macht. Das Denkmal entspreche, bemerkt ein zeitgenössischer Beurteiler, nicht eigentlich der Person des Kaisers, aber es sei ein Nationaldenkmal „des neuen deutschen Kaisertums und seiner Weltstellung“, es gleiche „einem nationalen Hymnus“ in ,,eine[r] volle[n] Instrumentierung mit Orgelklang und Posaunenschall“37; es ist das Nationaldenkmal des monarchischen Nationalstaates, der ein Machtstaat geworden ist. Es ist freilich darauf hinzuweisen, daß das ursprüngliche Programm und eine Reihe von Entwürfen eine andere Idee zu realisieren suchten: das Kaiserdenkmal sollte das Reich „als Triumph einer langen Kulturarbeit“ darstellen, und neben dem Kaiser sollten die großen Männer der Reichsgründung stehen, sie sollten mit den Tätern und Denkern des „immerwährenden Einheitsstrebens“38 die Nation repräsentieren. Von dieser Idee her ist dann das Denkmal von Begas schon bald zum Gegenstand heftiger Kritik geworden39; ein architektonisches Denkmal, so meinte man, würde dem Gedanken der Nation besser entsprechen; darin kündigte sich die Abkehr von der dynastisch-monarchischen Idee der Nation und vom theatralischen Machtstil des Wilhelminismus an. Solchen Ideen entspricht eher das Kyffhäuser-Denkmal, das Kaiserdenkmal der deutschen Kriegervereine, 1892-97 von Bruno Schmitz, dem Architekten der Kaiserdenkmäler an der Porta Westfalica und am Deutschen Eck, gebaut. Charakteristisch ist hier zunächst die Wahl des Ortes auf einem stadtfernen Berg, an einer durch Sage und Geschichte geheiligten Stätte mit einer staufischen Burg im Hintergrund. In der Grundsteinurkunde heißt es: „Auf dem Kyffhäuser, in welchem nach der Sage Kaiser Friedrich der Rotbart der Erneuerung des Reiches harrte, soll Kaiser Wilhelm der Weißbart erstehen, der die Sage erfüllt hat.“40 Die Anknüpfung an Geschichte und Mythos wird in Inhalt und Form des Denkmals aufgenommen. Im Untergeschoß der riesigen Architektur, im Berg und in ihn hineingebunden sitzt Barbarossa im Augenblick 143

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des Erwachens, und oben in der freien Höhe reitet Wilhelm, der Erfüller, gleichsam aus dem Berg heraus, vor einer „trotzigen“41 Turmarchitektur, mit Adler und Krone an der Spitze. Das Einzelereignis und die Einzelperson treten hinter historisch-mythischen Vorstellungen von alter deutscher Kaiserherrlichkeit zurück, das Reich wird in die Tiefe der Zeit hineingestellt und zugleich als Erfüllung der nationalen Geschichte gefeiert. Der aus dem Berg und der riesigen Turmanlage heraustretende Kaiser nun reitet, ganz anders als bei einem bloß plastischen Denkmal auf städtischem Platz, in den freien Raum hinein und damit gegen eine Unendlichkeit an, gegen ein Ungreifbares, Absolutes oder Transzendentes. Darin wird m. E. sichtbar, wie wenig das Nationalbewußtsein in sich ruht, wie stark es auf ein unbestimmtes Gegenüber und wie stark es auf ein Absolutes bezogen ist und wie es selbst Absolutheit beansprucht; wir werden auf dieses Problem noch an anderen Beispielen eingehen müssen. Die Form ist romanisch stilisiert, das sollte, nachdem die Wissenschaft die Identifizierung von Gotik und Deutschtum unmöglich gemacht hatte, ein Ausdruck des typisch Deutschen sein. Und die Form ist monumental, wenn sie auch ins mystisch Dumpfe und massig Auftrumpfende gerät. Monumentalität und Massenentfaltung sind gewollt. Sie sollen die Unbezwinglichkeit des Kaiserreiches, die Macht und Größe der in Urzeiten gegründeten Nation ausdrücken, und sie sollen die sich hier zu patriotischen Festen sammelnden Massen in eine geschlossene Gemeinschaft einbeziehen und verwandeln42. Das Denkmal ist noch ein durchaus monarchisches Denkmal, in allen Äußerungen der Denkmalsfeste ist der monarchische Ton - „treu zu Kaiser und Reich, Fürst und Vaterland“, zu den „Einrichtungen des monarchischen Staates, dessen Segnungen die neue Größe des Reiches zu verdanken ist“, „gegen jeden uns im Innern drohenden Sturm“ (!) - durchaus dominierend43. Aber es ist nicht nur monarchisches Denkmal, es ist zugleich eine Stätte „deutschnationaler Erinnerung und Erhebung“44, ein „Wahrzeichen der unerschütterlich festen Grundlage des in Sturm und Kampf geeinten Vaterlandes“45; und zumal die architektonische Form, ihr überdimensionaler Geltungsanspruch und ihr Sich-ins-Unbegrenzte-Hineinstellen, geht über das monarchisch-dynastische Symbol hinaus. Es ist die Nation selbst, die monarchisch verfaßte, aber vor allem die mächtige und geschlossene Nation, die sich hier in Erfüllung einer mythischen Geschichte selbst feiert. Die Zeitgenossen46 sahen in jenem Denkmal nicht die wilhelminische Attitüde, die gewollte Mythisierung, das Pochen auf die Macht, sondern sie sahen in der monumentalen einheitlichen Architektur einen künstlerischen Fortschritt, eine Überwindung der epigonalen Plastik und des barock dekorativen Pathos von Begas, und einen politischen Fortschritt, denn hier schien jenseits der dynastischen Loyalität ein zeitgemäßer Ausdruck der überindividuellen nationalen Solidarität und Größe gefunden zu sein. Das Kyffhäuser-Denkmal steht darum am Übergang vom Typus des monarchischen Denkmals zu dem Typus, den ich das Denkmal der nationalen Sammlung nenne. 144

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III. Der zweite Typus des Nationaldenkmals ist die Denkmalskirche. Dieser Typus ist zwar niemals gebaut worden, aber fast das ganze 19. Jh. hindurch hat es entsprechende Entwürfe gegeben, und sie sind für die Struktur des deutschen Nationalbewußtseins, das Verhältnis von Christentum und Nationalismus und das Problem der Sakralisierung der Nation von großer Bedeutung. Die Idee dieses Typus entsteht im Zusammenhang mit den Denkmalsplänen nach den Freiheitskriegen. K. Sieveking, der spätere Hamburger Senator und Begründer des Rauhen Hauses, meint in einer Schrift „Der deutsche Dom auf dem Schlachtfeld zu Leipzig“, 1814, ein „vaterländisches Heiligtum“ sei nur „aus dem Zwecke christlicher Gottesverehrung möglich“, er projektiert einen „Dom aller Deutschen“, für beide Konfessionen also, im gotischen Stil, an dem außen die Geschehnisse des Befreiungskrieges und die beteiligten Fürsten und Feldherren, in einer Vorhalle Ereignisse der Sage und Geschichte, und die „großen Verstorbenen unseres Vaterlandes“ dargestellt werden sollen47. M. W. L. de Wette schlug vor („Die neue Kirche oder Verstand und Glaube im Bunde“, 1815), in jeder Stadt eine Kirche für alle Konfessionen im gotischen Stil zu errichten, „zum Denkmal der wieder auferstandenen Religion und des geretteten Vaterlandes“. Vor allem hat Schinkel im Auftrag Friedrich Wilhelms III. 1814/15 Pläne für einen Dom als Denkmal für die Freiheitskriege, als „Dankdenkmal für Preußen“ (Rauch), als das „religiöse Monument dieser Zeit“ (Schinkel) entworfen48. Der Dom liegt außerhalb der Stadt „fern vom alltäglichen Gewühl“, der Gang zum Heiligtum soll eine Art von Wallfahrt sein, auf der das Volk zu den hier stattfindenden religiösen Hauptfesten „gestimmt“ wird, die „Wirkung des auf diese Weise seltener und in gehöriger Gemütsstimmung gesehenen Gegenstandes (wird dadurch) immer frisch erhalten“49. An diesem Dom sollte aber nicht nur die unmittelbare Vergangenheit, die Helden und Toten der vergangenen Kriege, verewigt werden, sondern auch die „ganze frühere vaterländische Geschichte in ihren Hauptzügen“ sollte daran „in Kunstwerken und dem Volk anschaulich“ leben und der Dom so ein „unmittelbar bildendes und im Volk historischen Sinn begründendes Monument“ werden50. Außen am Dom sind die Statuen der preußischen Fürsten, der Helden und Staatsmänner angebracht, über dem Eingang „Weihe und Verewigung des Eisernen Kreuzes“, im Inneren stehen an den Pfeilern neben den Aposteln „ausgezeichnete Religiose, Gelehrte und Künstler“, „was mehr aufs Innere gewirkt“, ja es ist davon die Rede, daß auch die Asche der großen Männer der Nation hier beigesetzt werden solle. An diesem Denkmal sind drei Dinge hervorzuheben. Zunächst: die Nation, die sich im Denkmal finden soll, ist die in der Geschichte gegründete, in den Taten und Werken ihrer großen Männer und in der Verbindung von Geist und Macht wirkliche Nation. Die Bindung an die Geschichte soll das Monument zu einem Monument der preußischen Nation machen. Die traditionelle Einbe145 10 Nipperdey

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Ziehung der Geschichte in das patriotische Bewußtsein ist hier durch die romantisch beeinflußte Rückbindung der Gegenwart an die Tiefe der geschichtlichen Zeit erweitert und verinnerlicht. Sodann: die nationale Geschichte ist auf eigentümliche Weise mit der Kirche verbunden. Die geschichtliche Welt ist nicht mehr wie im Mittelalter - Schinkel verweist auf das Straßburger Münster, an dem nach Meinung der Zeit Kaiser und Könige des Mittelalters dargestellt waren - in die christliche Heilsordnung einbezogen, sie steht vielmehr autonom neben der kirchlichen Welt und ist selbst unmittelbar zu Gott: sie hat selbst und von sich aus schon einen nicht-profanen, einen sakralen Charakter; auch die Nation hat in dieser Weise Teil an einer religiösen, wenn auch nicht mehr kirchlichen Transzendenz. Das Ergebnis der deutschen Säkularisationsgeschichte, die religiöse Färbung aller Weltbereiche, die Weltfrömmigkeit, kommt hier sinnfällig zum Ausdruck. Endlich: der Dom ist im gotischen Stil entworfen. Die Gotik51 schien Schinkel in besonderer Weise geeignet, „eine Ahnung des Ewigen“ zu erzeugen, auf das „nicht Darstellbare“ hinzudeuten, die Bauform hat so eine Verweisungsfunktion in die Transzendenz, in diese Verweisung wird im gotisch stilisierten Nationaldenkmal auch die Nation hineingestellt. Zugleich galt den Zeitgenossen die Gotik als der eigentlich „vaterländische Stil“ und schon darum als Ausdrucks„mittel“ einer nationalen Idee52. Die Idee der Denkmalskirche ist in Berlin wieder aufgetaucht, als Friedrich Wilhelm IV. nach seiner Thronbesteigung den Berliner Dom neu bauen wollte, und zwar als „nationale Hauptkirche“, als das „bedeutsamste nationale Denkmal Preußens“, und zugleich als Gruftkirche für die Dynastie, eine Idee, die seinen hochkirchlichen Bestrebungen ebenso wie seinen Vorstellungen vom christlichen Staat entsprach53. In den 40er Jahren haben deshalb eine Reihe von Architekten im Dom eine Gedächtnishalle der Großen der Nation projektiert. Und A. Hallmann hat diese Idee auch theoretisch neu begründet, vor allem, indem er sie von der Walhalla abzusetzen suchte: Angesichts der großen Toten müsse der Mensch erfüllt werden „von dem durch die Kirche versinnlichten Gedanken an Gott und seine Nähe“, nur dann würde nicht nur ein „gebildetes Publikum“, sondern „der größte Teil der Menschen“ angesprochen, „erwärmt“ und gerührt werden. Sein Vorbild war Westminster; und die Sehnsucht nach einem preußischen oder deutschen Westminster, nach der Sicherheit einer solchen religiös-nationalen Tradition, ist ein durch das ganze Jahrhundert gehendes Motiv, von der Idee Theodor v. Schöns, die Marienburg zu einem deutschen Westminster auszubauen54, an bis zu Hermann Grimms Projekt eines deutschen Olympia55. 1872 schlägt A. Teichlin vor, als eigentliches Siegesdenkmal einen „deutschen Dom der Invaliden“, eine Kirche - zwischen Invalidenwohnungen, einem Arsenal von Kriegstrophäen und einem Friedhof mit einem Gefallenendenkmal - zu errichten, in der in Zukunft auch die Großen der Nation begraben werden sollten56. 1888, nach dem Tode Wilhelms I., tritt der Gedanke ein letztes Mal auf, man erwog, einen „evangelischen deutschen Dom in Berlin als deutsches Nationaldenkmal für Kaiser Wilhelm zu errichten“, und 146

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zwar wiederum als ein deutsches Westminster, als eine Denkmals- und Festkirche der Nation57. An diesen Plänen und ihrem Mißlingen ist dreierlei bezeichnend. Einmal: die Verbindung des deutschen Nationalbewußtseins mit einem christlichen Bewußtsein, charakteristisch für den nichtrevolutionären Ursprung dieses Nationalbewußtseins, und die Fortdauer dieser Synthese bis zum Ende des Jahrhunderts. Zum andern: der Wunsch, die zwischen- und innerkonfessionellen Spaltungen der deutschen und preußischen Nation durch einen christlich-nationalen Inhalt zu überbauen, ein Wunsch, der allerdings fast nur von protestantischen Kräften getragen war. Endlich: die Ideologisierung der Idee, die Tatsache, daß man die Schwierigkeit, eine konfessionelle Kirche für eine mehrkonfessionelle Nation als Nationaldenkmal zu bauen, wesentlich ignorierte und daß man nicht zur Kenntnis nahm, daß zu den eigentlichen Triebkräften der nationalen Bewegung nicht mehr ein umschreibbarer und in Anschauung zu erhebender christlicher Glaube gehörte. Im Grunde hat die Kathedrale als Nationaldenkmal nur in dem kurzen Augenblick nach 1815 eine Chance gehabt und einem wirklichen Bewußtsein entsprochen, in den folgenden Jahrzehnten sind die zwischen- und innerkonfessionellen Klüfte viel zu stark aufgebrochen, als daß hier noch ein Integrationssymbol hätte entstehen können. Die Verbindung von Kirche und Nation wurde zur bloßen Sehnsucht, wenn nicht zum obrigkeitlichen Topos, der zwar noch verbreitete Stimmungen ansprach, aber keine bewegende Kraft mehr hatte. Auch am Schicksal des Kölner Dombaues läßt sich die Sehnsucht nach einer Kirche als - gesamtdeutschem - Nationaldenkmal und das Scheitern dieser Sehnsucht ablesen. Görres58 hat 1814, als er Arndts Vorschlag eines Denkmals für die Leipziger Schlacht erörterte, auf das unvollendete Vermächtnis der Vergangenheit, den Kölner Dom, verwiesen und den Ausbau dieses nationalen Werkes zum „Dankopfer für die Befreiung von französischer Knechtschaft“ propagiert, er hat den unvollendeten Dom zu einem Symbol „von Teutschland in seiner Sprach- und Gedankenverwirrung“ und den vollendeten zu einem Symbol „des neuen Reiches, das wir bauen wollen“ erhoben. Als seit 1840 die Vollendung des Doms wirklich in Angriff genommen wurde, galten Dom und Dombau als nationale Symbole, der Dom sei „ein deutsches Nationaldenkmal“59, ein Werk, „das in seinem Grundriß schon den Typus eines deutschen Nationaldenkmals trug“60, die Vollendung sollte ein „Denkmal deutscher Eintracht“, der vollendete Bau ein Denkmal des nationalen Wollens sein61. Der alte Görres sprach vom Dom als „Allerdeutschenhaus“62, und alle diese Stimmen klingen dann im Dombaufest vom 4. September 1842, diesem großen Volks-, Staats- und Kirchenfest, dem Fest auch der Integration von König und Volk, zusammen. Für Friedrich Wilhelm IV. war der Dombau ein Denkmal seiner Nationalidee und seiner Idee eines christlichen Staates, das Werk künde „von einem durch die Einigkeit seiner Fürsten und Völker großen und mächtigen . . . Deutschland . . .“, so hieß es in seiner Rede63. Und diese Haltung dauerte bis 1848 fort, als die sechste Säkularfeier der ersten Grund147 10*

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steinlegung den Reichsverweser, den Präsidenten der Paulskirche und eine ganze Reihe von Abgeordneten, Friedrich Wilhelm IV. und den Erzbischof Geissei vereinte. Freilich blieb dieser „Dombaupatriotismus“64 vage und politisch nicht klar artikuliert; während die Monarchen nicht über ein staatenbündisches Konzept der Einheit hinausgingen, suchten die Liberalen ihre eigenen Ziele dem neuen Symbol der nationalen Einheit zu unterlegen; Radikale schließlich ebenso wie Konfessionell-Konservative lehnten Dom und Dombau als Nationaldenkmal, als Integrationssymbol der Nation überhaupt ab. Nach 1850 im Zeichen der Reaktion, der Einigungskriege und des Kulturkampfes haben Dom und Dombau keine wirkliche nationale Funktion mehr gewonnen65. IV. Als weiteren Typus behandele ich das Denkmal der Bildungs- und Kulturnation, man könnte vom historisch kulturellen Nationaldenkmal sprechen. Die Nation soll sich ihres Wesens und ihrer Identität bewußt werden vor den durch Geist oder Tat großen Deutschen. Diese Großen der Nation repräsentieren und symbolisieren die Nation. Die Versammlung dieser Männer ist das wahre, nämlich ideale Denkmal der Nation, in dem sie sich mit ihrer Vergangenheit und ihrer Dauer identifiziert. Wirklich geworden ist diese Idee zunächst in der Walhalla, dem einzigen tatsächlich gebauten gesamtdeutschen Nationaldenkmal der ersten Jahrhunderthälfte66. Die Idee ist, wie die Idee des Kreuzbergdenkmals und des Schinkelschen Doms, des Völkerschlachtdenkmals und des Hermanns-Denkmals, eine Antwort auf die Herausforderung des Nationalbewußtseins durch die Ereignisse der napoleonischen Zeit. Unter dem Eindruck des „fremden Siegesgepränges“ und der „Beschimpfungen . . . des gemeinsamen Vaterlandes“67 hat der bayerische Kronpinz Ludwig 1807 die Idee gefaßt, einen „Ehrentempel für die großen Männer der Nation“68, eine „Ruhmeshalle für deutsche Geisteshelden“, einen „Ehrentempel des Vaterlandes für die rühmlich ausgezeichneten Teutschen“ zu errichten69. Nach langen Beratungen und Auseinandersetzungen ist 1821 die endgültige Entscheidung für ein Projekt Leo von Klenzes gefallen, am 18. 10. 1830 wurde der Grundstein gelegt, am 18. 10. 1842 der Bau eingeweiht, beide Male große Feste mit zahlreicher Beteiligung der offiziösen Gesellschaft wie des umwohnenden Volkes. Das Denkmal ist eine Idee und eine Stiftung des Königs, er hat den Bau aus seinem Privatvermögen finanziert; der König also ist es, der die großen Deutschen im Denkmal ehrt. Das Denkmal liegt fern der Stadt auf einem Berg, für die Wahl des Ortes waren nicht historische Gründe, etwa die Nähe Regensburgs als Sitz des Reichstags, ausschlaggebend, sondern allein die schöne Lage auf dem Berge, „von Eichen umkränzt, dem Sinnbild deutschen Sinnes“70. Hier kommt der romantische Antiurbanismus zum Ausdruck, der für die Geschichte des Nationaldenkmals im mittelpunktlosen Deutschland so außeror148

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dentlich charakteristisch ist: das eigentliche Heiligtum der Nation liegt fern von allem „Getriebe“ in der Natur, liegt auf dem Berg. Auf die nationale Funktion des Denkmals weist zunächst der germanische Name hin, der auf Johannes von Müller, auf die Jahre 1807-1809, zurückgeht. Aber das Denkmal hat die Form eines antiken Tempels, diese Idee hatte sich gegenüber anderen Projekten zuletzt durchgesetzt. Dieser Bau steht fremd und befremdend in seiner Landschaft und in seiner Zeit, er hat nichts Selbstverständliches, ordnet sich nicht in den Horizont des Vertrauten ein. Das ist Ausdruck zunächst der klassizistischen Baugesinnung Klenzes und auch Ludwigs, aber diese Baugesinnung hat eine sehr viel allgemeinere Bedeutung. Mit der griechischen Form wird an die ideale Ausprägung der Humanität erinnert: die Nation steht in einer unlösbaren Beziehung zum klassischen Ideal des Griechentums, die Synthese von Nationalität und universaler Humanität, für die die Griechen stehen, ist hier noch ungebrochen wirklich. Freilich haben gerade daran viele Kritiker schon Anstoß genommen, die für ein deutsches Nationaldenkmal auch einen spezifisch deutschen Stil forderten, ja im griechischen Stil dieses Denkmals geradezu eine Herausforderung des eigenen Nationalismus oder eine Minderbewertung der eigenen Nation sahen71. Der Bau ist ein Tempel. Und mag er auch seine ursprüngliche Funktion verloren haben, so verweist er doch auf sie: er hat noch immer einen quasi-kultischen, einen quasi-sakralen Charakter. Freilich, die von Klenze in Aussicht genommenen gemeinschaftlichen Feste, die säkularisierten Reste eines Kultus, sind nie zustande gekommen. Wenn von Kult gesprochen werden kann, so ist es der Kult der nationalen Heroen, der nationalen Größe. Faktisch jedoch wird der Tempel als Erinnerungsstätte der großen Deutschen in seinem Inneren zum Museum. Zwischen den sechs Viktorien von Rauch stehen in etwas verwirrender Gruppierung die einförmig stilisierten Büsten der großen Deutschen, 95 zunächst, darüber die Inschriftentafeln der Großen, deren Bildnisse nicht bekannt sind, dazwischen die karyatidenartigen Walküren von Schwanthaler. Auf dem großen umlaufenden Fries unter der Decke ist die Urgeschichte, das Leben der Germanen bis zur Christianisierung dargestellt, in den Senkgiebeln die germanische Mythologie, und außen wird dieses Thema in dem einen der Giebelfelder aufgenommen, in dem die Hermanns-Schlacht dargestellt ist: hier wird die in Personen greifbare Geschichte ins Germanisch-Archaische erweitert. Die im Tempel versammelten Großen nun sind nicht zu einer Einheit zusammengeschlossen, sie sind Individualitäten, und sie sind adressiert an den Einzelnen, mit der Anmutung, sich historisch-politisch zu bilden. Der Besucher gerät in die Rolle des reflektierenden Besuchers eines historischen Museums72. Der Bau ist so nicht nur in seiner äußeren Gestalt als Tempel, sondern auch in seinem inneren Aufbau als Museum an die Bildungsschicht der Nation, nicht eigentlich an das Volk adressiert. Die Identität der Nation ist in der musealen Summierung ihrer Großen, in der Beziehung auf ihre Geschichte und ihren Mythos, und in der Beziehung auf die antike Humanität präsent: sie ist eben damit 149

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vornehmlich der Bildung zugänglich, auch von daher ist das Denkmal Denkmal der Kulturnation. In der Auswahl der Großen, die Ludwig unter dem Einfluß Johannes von Müllers vorgenommen und in einer eigenen Schrift kommentiert hat, ist kaum ein durchgehendes Prinzip zu entdecken: es waltet hier ein eigentümlicher Historismus, der nicht an lebendige Traditionen anknüpft, sondern auf eine Sammlung gleichsam objektiver Größe überhaupt aus ist. Der Begriff des Deutschen ist weit gefaßt, deutsche Geburt oder Tätigkeit im deutschen Sprachraum ist ausschlaggebend, die Schweiz, die Niederlande und das Baltikum gehören auch über das 16. Jh. hinaus zu diesem Sprachraum, so kommen Wilhelm von Oranien und Katharina II. von Rußland, der russische Feldmarschall Barclay de Tolly, ein Balte schottischer Abkunft, und Moritz von Sachsen, „im Handeln und Denken“ „ein Franzos“, in die Walhalla, auch die Helden der germanischen Frühzeit gelten als Deutsche. Der einzige politisch gravierende Verstoß gegen die angestrebte Objektivität ist der Ausschluß der Reformatoren, insbesondere der Ausschluß Luthers, dessen Büste schon 1831 angefertigt worden war, - eine monarchische Subjektivität zur Zeit des Kniebeugungsstreites, die damals viel kritisiert worden ist und die Ludwig später revidiert hat. Hier waren Spannungen in der Nation auch durch museale Summierung der Großen noch nicht ausgeglichen. Der Sinn des Denkmals war Erbauung des Besuchers. Ruhm und Ehre der Gesamtnation sind in ihren Großen präsent, und ihre Vergegenwärtigung soll den Betrachter mit Stolz auf die Herrlichkeit und Größe seiner Nation erfüllen, soll ihm die Einheit und Solidarität der Nation darstellen und das Gefühl der Identität mit seiner Nation tiefer bewußt machen. Ludwig formuliert diese Intention so: „Rühmlich ausgezeichneten Teutschen steht als [!] Denkmal und darum Walhalla, auf daß teutscher der Teutsche aus ihr trete, besser als er gekommen“, und bei der Einweihung: „Möchte Walhalla förderlich sein der Erstarkung und Vermehrung deutschen Sinns. Möchten alle Deutschen, welchen Stammes sie auch seien, immer fühlen, wie sehr sie ein gemeinsames Vaterland haben . . . auf das sie stolz sein können, und jeder trage bei, soviel er vermag, zu dessen Verherrlichung.“73 Bei den Denkmalsfesten wird auf die Walhalla als ein Erinnerungs- und Mahnzeichen zu deutscher Eintracht und Einheit abgestellt. Aber diese Einheit ist über den Bereich der Kultur hinaus nichts anderes als die staatenbündische Einheit des Deutschen Bundes. Die einzig politische Darstellung am Tempel, der zweite Giebelfries zeigt eben auf ausdrücklichen Wunsch des Königs die Begründung des Deutschen Bundes 1815. Auch die vorgesehenen Neuaufnahmen sollten eine Angelegenheit des Deutschen Bundes sein74. Die Nation, die in diesem Denkmal repräsentiert war, sollte also auf Kultur und Gesinnung beschränkt bleiben, politisch erfüllte und erschöpfte sie sich in der Eintracht und Harmonie der Fürsten und Stämme. Das „Teutscherwerden“ der „Teutschen“ blieb politisch am Status quo orientiert. Das Nationaldenkmal der Kulturnation ist eben auch das Denkmal eines mittelstaatlichen Monarchen. 150

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Die Idee eines nationalkulturellen Denkmals nach Art der Walhalla aber blieb auch abgesehen von diesem Bau lebendig. Ludwig hat unmittelbar nach der Vollendung der Walhalla mit dem Bau einer „bayerischen Walhalla“ begonnen, der „Ruhmeshalle“ auf der Sendlinger Höhe, „ein für Bayern merkwürdiger Boden, der mit dem treuen Blut der Landleute getränkt ist, die sich für ihre Fürsten totschlagen ließen“75. Politisch enthält das Denkmal freilich eine viel konkretere Aussage als die Walhalla: es ist betont monarchisches Denkmal, „Errichtet von Ludwig I. von Bayern als Anerkennung bayerischen Verdienstes und Ruhmes“, und es ist im Sinne der bayerisch-zentralistischen Nationalidee des 19. Jh.s eine gesamtbayerische Aneignung der regional fränkischen, schwäbischen und reichsstädtischen Vergangenheit der neubayerischen Gebiete, der Versuch einer partikularstaatlichen Integration im Denkmal; und auch die Bavaria, vor der Ruhmeshalle und ihr zugehörig, muß in diesem Sinne verstanden werden. A. Hallmann hat76 1842 in eigenartiger Abwandlung der Walhalla-Idee eine „National-Geschichtshalle“ als Mittelpunkt der Baukomplexe der preußischen Ministerien entworfen, einen „Tempel der Bürokratie“, wie er spätere Kritik vorweg ironisierend sagt. - 1871 wird statt der Siegesdenkmäler eine neue Walhalla gefordert77, gegen die Siegesallee wird eine „Walhalla aller derer, die in der Geschichte und im Herzen des deutschen Volkes leben“, von Barbarossa über Hans Sachs und Karl Maria von Weber bis zu Werner Siemens vorgeschlagen78. Schließlich hat Hermann Grimm 1896 noch einmal eine ähnliche Idee geäußert79. Er wollte den Tempel von Olympia bei Berlin als deutsches Pantheon aufbauen, sein Inneres sollte den Dichtern und Denkern geweiht sein, denn: „In der geistigen Arbeit sind wir uns unserer Zusammengehörigkeit am reinsten bewußt. Wie die Griechen einst. . . . England hat seine Westminster-Abtei, Frankreich sein Pantheon . . .“ Aber diese Idee war nur noch ein Nachklang der Bildungsreligion der Klassik und ihrer Synthese von Griechentum und Nation, war ein später Versuch, den Einklang von Geist, Kultur und Nation sinnfällig zu machen. Im Reich von 1871, im realistischen nationalen Machtstaat, hatten solche Vorstellungen keine Aussichten auf Verwirklichung mehr. Noch eine wichtige andere Ausformung dieses Denkmalstypus ist aber zu berühren: es sind die, vornehmlich von Bürgern errichteten Individualdenkmäler für einzelne große Männer des deutschen Geisteslebens, die mit dem Durchdringen des Persönlichkeitskultes seit den 30er Jahren immer zahlreicher wurden. Wenn solche Denkmäler durch Sammlungen der ganzen Nation zustande kamen, hießen sie auch Nationaldenkmäler80, vor allem aber haben einige dieser Denkmäler bis in die 50er Jahre hin die Funktion von Nationaldenkmälern beansprucht und gehabt. Der in der Welt des Geistes Große galt als Repräsentant der einheitlichen deutschen und bürgerlichen Nation, die sich in einer Feier ihrer Identität gewiß werden konnte; und wenn sich die Nation dabei auch vornehmlich von der Einheit ihrer Kultur her verstand, so wurden daran doch zugleich politische Hoffnungen und Wünsche geknüpft. 151

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Am Anfang dieser Denkmalsgruppe sind die Pläne vom Beginn des Jahrhunderts zu nennen, ein Luther-Denkmal zu errichten. Hier tritt, soweit ich sehe, zuerst der Begriff des „Nazionaldenkmals“ auf81, hier wird zuerst der Gedanke des öffentlichen Verdienstdenkmals mit dem Nationalgedanken verbunden. Die Befürworter des Denkmals glauben noch an eine nationale Repräsentanz Luthers und an die Funktion eines Luther-Denkmals, „Ausdruck des Gesamtwillens . . . der Nation“ zu sein, und sie richten ihre Aufforderung, zum Denkmal beizutragen, ausdrücklich an ganz Deutschland und an alle Konfessionen. Nach 1815 ließ die zunehmende Rekonfessionalisierung ein solches Nationaldenkmal nicht mehr zu, das Wittenberger Luther-Denkmal von Schadow 1821 wurde ein protestantisch-preußisches und zudem monarchisch gestiftetes Denkmal. Schadows Blücher-Denkmal in Rostock (1819) ist das erste öffentliche individuelle Denkmal, das - nicht für einen Monarchen und nicht von einem Monarchen errichtet - zeitweise und mindestens für Nord- und Mitteldeutschland eine wirklich nationale Funktion gehabt hat und von einer allgemeinen Anteilnahme getragen war, Goethe ζ. Β. hat sich intensiv an Überlegungen und Planungen beteiligt; für unsern Zusammenhang ist daran vor allem wichtig, daß auch für diese erste Realisierung des individuellen Standbildes einer nationalen Figur das Erlebnis der Freiheitskriege motivierend und prägend gewesen ist. Seit Ende der 30er Jahre sind dann eine Reihe von Denkmälern nun für große nicht-politische und nicht-militärische Persönlichkeiten errichtet worden, die wirklich nationale Repräsentanz besaßen, so vor allem das GutenbergDenkmal in Mainz 1837 und das Schiller-Denkmal in Stuttgart 1839. Beim Gutenberg-Denkmal und dem Fest seiner Einweihung klingen vielfältig verschiedene Motive ineinander: das Denkmal gilt einem Bürger, einem Volksmann, der die geistige Freiheit und die liberale Kultur mitbegründet hat und den man in den Jahren der Zensur besonders gern feiern mochte, gilt einem Mann, der für die Menschheit und die Zivilisation eine entscheidende Leistung vollbracht hat, und darum sind auch alle europäischen Völker in die Denkmalssammlung und das Denkmalsfest einbezogen, und gilt doch einem Deutschen und „dem deutschen Geist“, der „diese Kunst ersonnen“ hat, wie es in der Inschrift heißt, die nun wiederum lateinisch abgefaßt ist. Das Einweihungsfest ist ein großes ständeübergreifendes Volksfest, ein Fest der populären Aufklärung, ein über- und antipartikularistisches Fest der nationalen Einheit mit Delegationen aus zahlreichen deutschen Städten, zumeist natürlich von Druckern und Verlegern, ein Fest „des Bewußtseins, daß wir eine gemeinschaftliche Heimat, eine gemeinschaftliche Sprache, gleiche Gesetze, gleiche Hoffnungen und gleiches Ziel haben“82, ein Fest der „brüderlichen deutschen Gemeinschaft der Gedanken und Gefühle“83. Etwas stärker politisch akzentuiert war das nationale Fest zur Einweihung des Schiller-Denkmals in Stuttgart, auch dies durch Sammlungen in ganz Deutschland zustande gekommen und darum „im wahren Sinne des Wortes“ ein „Nationaldenkmal“84. Welcker etwa wünschte, die Dichtung möge zur Wahrheit werden, „in einem stets herr152

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licheren Leben unserer großen deutschen Nation, in deutscher Männerfreiheit und brüderlicher Einheit, in unseres Volkes Blüte und Macht, Würde und Ehre“; und ein Professor Baur meinte „wie sonst Jerusalem und Olympia als Nationalvereinigungspunkte weithin in die Lande und Gemüter glänzen . . . so glänzen und wirken heutzutage die Musik- und Monumentalfeste weit hinaus in die deutschen Länder und Gemüter, durch das Morgentor des Schönen dringet und ist bereits gedrungen der Strahl der deutschnationalen Selbsterkenntnis“85. Bei den späteren Denkmalfesten und Denkmälern klingen die politisch nationalen Töne allerdings nur noch schwach an86. Und bei den Nationaldenkmälern der 50er Jahre, z.B. dem Herder- (1850), dem Schiller-Goetheund dem Wieland-Denkmal in Weimar (1857), dem Lessing-Denkmal in Braunschweig (1853), ist der Ausdruck des Nationalen ganz auf Kultur und Innerlichkeit beschränkt, diese Denkmäler waren nicht mehr Symbole, die die Nation integrieren oder politisch aktivieren konnten. Inzwischen hatte auch die Inflation der Individualdenkmäler Platz gegriffen, 1800 gab es 18, 1883 etwa 800 öffentliche Standbilder in Deutschland87; damit wurde der symbolische Wert eines jeden solchen Denkmals für eine überlokale Gemeinschaft illusorisch: auch aus diesem Grunde konnte es nicht mehr Nationaldenkmal sein. Die Tatsache, daß der hier erörterte Typus des Nationaldenkmals fast nur in der ersten Jahrhunderthälfte reale Bedeutung hatte, hängt damit zusammen, daß in dieser Zeit eben die nationale Bewegung noch stark aus dem Bereich der wirklichen Politik in den Bereich der Kultur abgedrängt war und daß dieser Bereich der Kultur als Ersatzraum der versagten politischen Aktivität fungierte. In der zweiten Jahrhunderthälfte ist dann trotz der gescheiterten Revolution die unmittelbare politische Selbstrepräsentation der Nation allein herrschend geworden: das hat die Form der Nationaldenkmäler bestimmt. V. Den vierten Typus nennne ich das Nationaldenkmal der demokratisch konstituierten Nation, das nationaldemokratische Denkmal. Auch es hat wie die nationale Kathedrale und wie die Walhalla seinen Ursprung in den Freiheitskriegen. Ernst Moritz Arndt hat 1814 im Zusammenhang mit seinen Plänen, den Tag der Leipziger Schlacht als nationales Fest zu feiern, vorgeschlagen, auf dem Schlachtfeld ein „Denkmal“ zu errichten, ein Denkmal für die Tat, „wodurch die Welt von dem abscheulichsten aller Tyrannen und dem tükkischsten aller Tyrannenvölker“ befreit worden ist. Das Denkmal ist nicht dem Gedenken an die Fürsten und Feldherren, sondern dem Gedenken an die Gefallenen und an das Volk geweiht: das Volk ist Täter der denkwürdigen Tat, Stifter des Denkmals und Adressat seiner Kult- und Erziehungsidee, in diesem Sinn ist es, obwohl Arndt das Wort nicht gebraucht, gemeindeutsches Nationaldenkmal. Die Gestalt des Denkmals ist bei Arndt romantisch-ahndungsvoll projektiert: ein großer Erd- und Steinhügel mit einem Kreuz und einer vergol153

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deten Kugel darauf, darum herum mit Wall und Graben umgeben „geheiligtes Land“, das künftig als Kirchhof großer Deutscher dienen soll. Das Ganze ist „ein echt germanisches und echt christliches“ Denkmal, „wohin unsere Urenkel noch wallfahrten gehen würden“88. Charakteristisch ist hier zunächst wieder die Ausgestaltung des Denkmalsbezirks zu einem sakralen Feierbezirk im Sinn einer engen Verbindung von Nationalgefühl und Christlichkeit, sodann die entschiedene auch formale Wendung zum Frühgeschichtlich-Germanischen und, das hängt damit zusammen, der demokratische Akzent: das Denkmal ist Denkmal des Volkes, das jenseits der bestehenden Staaten durch Tat und Bewußtsein der Freiheitskriege politisch konstituiert ist. Schließlich ist das Denkmal - anders als Schinkels Dom oder ein von Klenze entworfenes Denkmal des Weltfriedens, Projekte, die dem gleichen Anlaß entsprangen - durch die Wahl des Ortes und die Deutung seines Sinnes ausdrücklich und unmittelbar auf einen Feind bezogen: die Struktur des frühen deutschen Nationalismus, der sich erst an einem Feinde und gegen ihn konstituiert, ist hier unmittelbar präsent. Diese und andere Anregungen haben eine Reihe von Plänen hervorgerufen, so die erwähnten Pläne der Denkmalskirchen, so Friedrich Weinbrenners „Idee zu einem teutschen Nationaldenkmal des entscheidenden Sieges bei Leipzig“89. Weinbrenner zuerst knüpfte, das ist charakteristisch und bedeutungsvoll, an die alte Reichssymbolik und den Mythos vom wiedererstehenden Reich an, indem er im Unterbau seines Denkmalstempels eine sitzende Germania darstellt, die „schüchtern den Trauerschleier“ hebt und den Reichsapfel „halb erschrocken wieder als selbständiges Wesen hervorblicken“ läßt; auch bei ihm ist die Verbindung von Kirche und Nationaldenkmal und die Idee kultischer Feste sehr deutlich; trotz mancher im literarischen Entwurf wie im Bauprogramm enthaltenen Konzessionen an die monarchische Idee ist der Bau ein Denkmal des Volkes, „der teutschen Nation“ jenseits der staatlichen Begrenzung, und darum eben schon ein nationaldemokratisches Denkmal. Aber diese Ideen blieben Träume der Künstler und Patrioten; seit der beginnenden Restauration war an ein Denkmal für die Erhebung des Volkes, ein nichtmonarchisches und nichtföderalistisches politisches Nationaldenkmal nicht mehr zu denken. Die Kelheimer Befreiungshalle (1863) ist das einzige Denkmal mit nationalem Anspruch, das für 1813 im 19. Jh. gebaut worden ist. Aber dieses Denkmal ist nicht mehr ein Denkmal des Volkes: es ist eine Idee Ludwigs I. von Bayern, monarchisch gestiftet und vom König finanziert, „den deutschen Befreiungskämpfern Ludwig I. König von Bayern“ sagt die Widmung auf der Inschrift; es steht an keinem historisch sinnvollen Ort mehr und ist nicht einmal zentral gelegen. Vor allem aber: die politische Idee des Denkmals ist die der staatenbündischen Einigkeit Deutschlands. „Vergessen wir nie, was dem Befreiungskampf vorhergegangen . . . und was den Sieg uns verschafft! . . . Sinken wir nie zurück in der Zerrissenheit Verderben! Das vereinigte Deutschland - es werde nicht überwunden!“, so war das Programm Ludwigs bei der Grundsteinlegung am 19. 10. 1842, am Tage nach der Einweihung der Walhalla90. Und bei der Einweihung am 18. 10. 1863 sagte Ludwig in diesem Sinne: „Möchten die 154

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Teutschen nie vergessen, was den Befreiungskampf notwendig machte und wodurch sie gesiegt“, und diese Worte sind im Inneren in den Boden eingelassen91. Gemeint ist selbstverständlich, und in anderen Festreden ist das noch deutlicher apostrophiert, eine Einheit und Eintracht, wie sie im Deutschen Bunde wirklich geworden war. Das kommt auch in der Bauform zum Ausdruck. Zunächst ist bei diesem Bau, einem 18eckigen überkuppelten Zentralbau, noch die sakrale, kirchenähnliche Stimmung so vieler Nationaldenkmäler und Nationaldenkmalsentwürfe ganz offenkundig. Wichtiger aber ist die architektonisch-plastische Repräsentierung der Nation durch ihre Stämme. Im Inneren stehen im Kranze 34 Viktorien, die sich in zeitgemäßer Poetisierung der Eintracht wechselweise die Hände reichen und 17 Schilde mit den Namen der Schlachten der Befreiungskriege halten. An der Außenfront wiederholt sich das Bundesmotiv: hier stehen 18 germanische Jungfrauen, die auf Schilden die Namen der, etwas mühsam auf die 18 gebrachten, deutschen Volksstämme tragen. Die Befreiungshalle ist so nach politischer Intention wie Bauidee zu einem Denkmal des deutschen Föderalismus geworden. Aber 1863 war sie schon nur mehr ein merkwürdiges Zeugnis der patriotischen Gesinnung Ludwigs und seiner Generation, nationale Resonanz konnte dies Denkmal, das die Ideen von 1813 zur staatenbündischen Eintracht pazifiziert hatte, für die liberalnationale Bewegung der 60er Jahre nicht mehr gewinnen. Gerade 1863 wurde der nationaldemokratische Gedanke eines Denkmals für 1813 noch einmal aktualisiert. 540 Delegierte aus 214 deutschen Städten, „die Vertreter des deutschen Bürgertums“, feierten in Leipzig die 50. Wiederkehr der Schlacht, und am 19. 10. wurde der Grundstein zu dem so lange geplanten „großartigen Nationaldenkmal“ gelegt. Hier dominiert die gegen dynastische Reaktion und gegen den Deutschen Bund gerichtete liberal-konstitutionelle Nationalidee. „Möge bald ein neues Reich deutscher Nation erstehen, möge endlich der in Einheit und Freiheit sich konstituierenden Nation auch der deutsche Fürst offenen Sinns und tapferen Herzens nicht fehlen, der sich nicht scheut vor dem vollen Tropfen demokratischen Öls, mit welchem er gesalbt sein muß“, und es ist das deutsche Volk, das als Träger der Vergangenheit und der Zukunft gefeiert wird. Aber dazu tritt nun ein neuer Akzent, der eine Veränderung des Nationalbewußtseins anzeigt, das ist der Gedanke der Macht. Wir „feiern heute“, so heißt es in der Rede des Leipziger Oberbürgermeisters, „die Selbstherrlichkeit deutscher Nation . . . welche uns wieder einführen soll in die Reihe der Völker, die da mit zu entscheiden haben über die Geschicke der Welt“, Wunsch und Hoffnung gilt, „dem endlichen Siege des deutschen Volkes im Ringen nach nationaler Macht und Größe, Einheit und Freiheit“, das sei das Vermächtnis der Generation von 1813, das sei die Mahnung des künftigen Denkmals für die Lebenden und die Kommenden92. Aber die Ereignisse der 60er Jahre begruben diese Pläne, und als sie in den 90er Jahren wieder hervortraten, hatten sie eine ganz andere politische Funktion gewonnen. Die nationaldemokratische und liberalnationale Bewegung hat sich selbst bis 1871 kaum ein Denkmal gesetzt und als Opposition auch nicht setzen können. 155

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In Süddeutschland gibt es einige wenige partikularstaatliche Verfassungsdenkmäler aus der Zeit des Vormärz, die Konstitutionssäule in Gaibach mit der Inschrift: „Der Verfassung Bayerns, ihrem Geber Maximilian Josef, ihrem Erhalter Ludwig zum Denkmal 1828“, und die Denkmäler, die den Landesherrn als Gründer der Verfassung gewidmet sind: so der Karlsruher Obelisk von 1832, „dem Gründer der Verfassung“, dem Großherzog Karl gewidmet; das Darmstädter Ludwigs-Monument, vom „hessischen Volk“ 1844 errichtet, der Großherzog hält die Verfassung in seiner rechten Hand, die Einweihung wurde als großes nationales Integrationsfest gefeiert; oder das schöne Max-Josef-Monument von Rauch, eine Stiftung der Münchener Bürger von 1828, bei dem die Verleihung der Verfassung immerhin im Sockelrelief dargestellt ist; in diesen Fällen spielt die Verfassung als Integrationssymbol für die Einzelstaaten eine nicht unbeträchtliche Rolle. Die Revolution von 1848 konnte nach ihrem Scheitern nicht zum Anlaß eines feiernden Denkmals oder auch nur eines Mahnmals, eines anschaulichen Symbols liberaldemokratischer Bemühungen um eine neue Form der nationalen Identität werden. Erst am Ende der Reaktionsperiode gibt es noch einmal Ansätze zu nationaldemokratischen Denkmalsbewegungen: seit 1857 propagierten die Liberalen gegen zähen Widerstand der Konservativen und der Regierung ein von allen Deutschen zu errichtendes Stein-Denkmal, 1865 war das Denkmal dann vollendet und mit der merkwürdigen partikular-staatlich-monarchischen und nationaldemokratischen Doppelformel „Dem Minister Freiherrn vom Stein König Wilhelm von Preußen und das deutsche Volk“ in der Inschrift versehen, aber erst 1875 wurde es auf abgelegenem Platz mit geänderter Inschrift: „das dankbare Vaterland“, aufgestellt und konnte in dem neuen Nationalbewußtsein des Kaiserreiches eine nationale Funktion nicht mehr erfüllen93. Ähnlich ging es mit dem zwischen 1861 und 1872 von den deutschen Turnvereinen aus aller Welt, „wo immer deutsche Männer wohnen“, errichteten Jahn-Denkmal, bei dessen Enthüllung es noch heißt, man habe die deutsche Einheit „den Reaktionären aller Schattierungen im Inneren“ und dann allerdings auch den „Anmaßungen der Fremden“ abgerungen94. Erst als die nationalliberale Bewegung historisch geworden war, als sie nicht mehr beanspruchen konnte, die Nation als Ganzes zu repräsentieren, hat auch sie in der herrschenden Denkmalsinflation ihre Denkmäler bekommen, so freilich, daß die liberal-demokratischen Elemente ganz den nationalen untergeordnet wurden: es sind Denkmäler der Anpassung des Liberalismus an das Bismarcksche Reich. So wurde aus einem Frankfurter Denkmal für 1848, das Sonnemann angeregt hatte, das Denkmal „für die Vorkämpfer deutscher Einheit in den Jahren der Vorbereitung“ (1903), ein historisch-allegorisches Bilderbuchdenkmal, das dem kleindeutsch offiziösen Geschichtsbild entsprechend die Bismarcksche Reichseinigung - in Frankfurt freilich ohne die Etappe von 1866! - als Erfüllung der liberalnationalen Bestrebungen ansah95. So ist auch das Burschenschaftsdenkmal auf der Göpelskuppe bei Eisenach (1902) zu einem Denkmal für das „geeinte Vaterland“ und für alle die, die die Reichseinigung 156

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vollbrachten oder ihr den Weg bereiteten, geworden. Die Anpassung der Burschenschaften an den neuen - machtstaatlichen - Nationalismus wird in der Zurückdrängung der liberalen Anfänge deutlich: in den Festreden wird das Wort „Freiheit“ zur „Geistesfreiheit“ verharmlost96. Neben Wilhelm, Bismarck, Roon und Moltke steht von den Gestalten der burschenschaftlichen Geschichte nur Karl August als Figur im Zentralraum des Baues, der eigentlichen Großen ihrer Geschichte wird nur noch auf Tafeln hoch im Raum, kaum lesbar, gedacht; in der Höhe der äußeren Turmfront erinnert die Reihe der Köpfe, Hermann, Karl der Große, Luther, Dürer, Goethe, Beethoven, seltsam unverbunden, noch an die Walhalla-Idee. Die Bauform, ein gedrungener, turmartiger Rundtempel mit 9 enggestellten mächtigen Säulen mit dorisierenden Kapitellen, die durch ein Architrav zusammengehalten werden, mit der Inschrift: „Freiheit Einheit Vaterland“, das Ganze von einer Kaiserkrone gekrönt, drückt einen gesammelten Ernst, eine stark „nordisch“ orientierte, herbe Monumentalität aus; der germanische Akzent und der merkwürdig tragische Einschlag kommt in dem Deckengemälde, einer Darstellung der Götterdämmerung, besonders zum Ausdruck. Damit gewinnt eine neue Form des Nationalbewußtseins Gestalt, weniger auftrumpfende Siegesgebärde als verhaltene Kraft, „tiefer“, an idealen Werten orientierter Ernst, ein Gefühl für die Bedrohtheit der Nation und für die Notwendigkeit der Verinnerlichung und Konzentration, eine Haltung, die wir in den Bismarck-Säulen des gleichen Architekten, Wilhelm Kreis, und den Denkmälern der nationalen Konzentration wiederfinden werden. Der Bau ist seiner Form nach über den wilhelminischen Stil, der etwa die Festreden noch beherrscht, schon hinaus. Das eigentliche nationaldemokratische Denkmal hatte, seitdem der bürgerliche Liberalismus zwischen dem preußisch-monarchischen Machtstaat und der Sozialdemokratie sich in seiner Mehrheit an die vornehmlich konservativ bestimmte Ordnung angepaßt hatte, keine Chance mehr. Wohl aber haben sich im ersten Jahrzehnt des Reiches die nationaldemokratischen Tendenzen mit anderen nationalen Tendenzen verflochten. Die beiden großen Nationaldenkmäler der 70er und 80er Jahre, das Niederwalddenkmal und das HermannsDenkmal, muß man politisch als sinnfälligen Ausdruck des Kompromisses zwischen nationaldemokratischen und nationalmonarchischen Tendenzen und Kräften verstehen. Die Anregung zu einem Nationaldenkmal am Rhein zum Gedenken der Ereignisse von 1870/71 entstand im Frühjahr 1871 in der nationalliberalen Öffentlichkeit, die Kölnische Zeitung griff den Gedanken auf, hier ist schon von einer „Germania“ die Rede. Ein Wiesbadener Kurdirektor schlug den Niederwald als Standort vor, nachdem zunächst auch Drachenfels und Loreley als Standorte diskutiert worden waren, ein Zeichen für die merkwürdige Verbindung von Nationalgedanken und Rheinromantik97. Dieser Vorschlag fand, weil er in die überregionale Presse kam und weil sich der damalige preußische Regierungspräsident Botho Eulenburg einschaltete und die Zustimmung Bismarcks gewann, allgemeine Anerkennung. Ein regionales und ein Berliner Denkmals157

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komitee, vornehmlich aus nationalliberalen und freikonservativen Honoratioren, Bennigsen und Hohenlohe-Schillingsfürst waren die Vorsitzenden, nahm die Sache des Denkmals „für die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches“ (!) in die Hand98. Die Gelder sind zum großen Teil durch Sammlungen, zumal von Gesang-, Turn- und Kriegervereinen, von Schülern und Studenten aufgebracht, der Rest durch Spenden der Fürsten und Zuschüsse des Reiches. 1877 wurde nach langen Diskussionen über Standort und Entwürfe der Grundstein gelegt, am 28. 9. 1883 ist das Denkmal von Wilhelm I. in Anwesenheit fast aller deutschen Fürsten unter Anteilnahme einer großen Volksmenge eingeweiht worden. Der Versuch der Anarchisten, Fürsten und Denkmal in die Luft zu sprengen, scheiterte, immerhin ein Menetekel für das Fest nationaler Selbstvergewisserung in der Epoche eines sich verschärfenden Klassenkampfes. Eine historisch-politische Erörterung muß von der fatalen künstlerischen Unzulänglichkeit des Denkmals, der Theatralik der Figur, dem Mißglücken der Fernwirkung - eine Folge der Platzwahl und des Entschlusses zum plastischen, nicht-architektonischen Denkmal - absehen: die Stillosigkeit der Zeit steht mit dem Problem des nationalen Kultes in keinem aufweisbaren Zusammenhang. Das Denkmal ist wiederum Bergdenkmal, es sind gerade die Laien gewesen, die diesen Ort gegen die Künstler durchgesetzt haben, das entsprach der populären Vorstellung von einem Nationaldenkmal. Die Nation, die sich im Denkmal findet, ist zunächst die Nation des Krieges von 1870/71, die Nation der Wacht am Rhein, daher der Ort, daher das Relief am Sockel: der Rheinvater überreicht der Mosel das Wächterhorn, die Verse des Liedes sind rundherum angeschrieben, der Kehrreim besonders herausgehoben; daher das Mittelrelief, die deutschen Heere, symbolisch repräsentiert in den Portraits der regierenden Fürsten, bedeutender Generale und einiger begeisterter Soldaten, weiter zur Seite Reliefs mit Auszug und Heimkehr der Krieger; daher das Anbringen der Schlachtennamen, daher der Blick der schwertgerüsteten Germania nach Westen. Aber das kriegerische Element ist doch keineswegs dominierend. Die Wacht am Rhein ist eher defensiv als aggresiv verstanden, als Resultat des Sieges erscheint nicht die Macht, sondern der Friede; in der Darstellung der ausziehenden und der heimkehrenden Krieger überwiegt fast die Trauer, es sind keine Krieger im Kampf und Angriff dargestellt, wie ζ. Β. auf dem Sie­ gesdenkmal in Freiburg im Breisgau; das Schwert der Germania ist, anders als beim Hermann auf dem Teutoburger Wald, nicht geschwungen, sondern zur Ruhe gestellt, „den von ihr erkämpften Frieden andeutend“99; ihr Blick ist keineswegs drohend nach Westen gerichtet, sondern unklar versonnen in die Ferne schweifend. In einer zeitgenössischen Festschrift wird ausdrücklich das Fehlen von Triumphgebärden und Chauvinismus betont und die mögliche These vom Erbfeind abgewiesen: das Reich soll als Friedensreich dargestellt werden100. Schwierig ist es aber, das Verhältnis der nationalmonarchischen und der nationaldemokratischen Momente in der Auffassung der Nation, die im Denkmal Gestalt gewonnen hat, zu klären. Das Denkmal ist, wie die Inschrift sagt, errichtet „zum Andenken an die einmütige und siegreiche Erhebung des deut158

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schen Volkes und die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches 1870/71“. Zwar sind im Denkmal auch die deutschen Stämme und Staaten - in den Fürsten des Hauptreliefs und in den Wappen eines dritten Sockelfeldes - vertreten, aber die bündisch geeinte Nation, die Nation des Bundes der deutschen Fürsten, ist nicht die Nation des Denkmals, das ist vielmehr das deutsche Volk als Ganzes, wie es in der Germania - mit Märchen- und Symbolgestalten auf dem Mantel - symbolisiert ist. Die Germania nun steht vor dem Thron in ihrem Rücken und hält eine Krone vor sich hin, mit unentschlossen abgewinkeltem Arm, ihr Blick ruht nicht auf der Krone, sondern ist, wie gesagt, unklar in die Ferne gerichtet. Sie ist die Krönende, aber es bleibt unklar, wen sie krönt: ob sich selbst, so hatte es Schilling in einem ersten Entwurf vorgesehen, dafür spricht auch der Thron im Hintergrund, aber dagegen scheinen jetzt der Lorbeer- oder Eichenkranz in ihrem Haar, der Blick und die Armhaltung zu sprechen101; oder einen anderen, den Kaiser, der doch im Denkmal nicht einmal in ihrem Blick gegenwärtig ist. Eine solche Krönung des Kaisers durch Germania, selbst wenn man sie zur Gemeinschaft der Fürsten umdeuten würde, ist wie die Selbstkrönung der Germania eine merkwürdige Umdeutung der Kaiserproklamation nach dem Sieg der deutschen Heere. Auch die Meinung der Zeitgenossen gibt keinen Aufschluß über die politische Intention, sie geht vielfältig auseinander. Die politische Aussage zielt jedenfalls auf den Kompromiß nationalmonarchischer und nationaldemokratischer Prinzipien, aber sie ist künstlerisch gänzlich mißlungen. Bei den Denkmalsfesten kommt das Kompromiß nur ganz vage zum Ausdruck, die „einmütige Erhebung des deutschen Volkes“, die Einigung der deutschen Stämme, die Treue zu Kaiser und Reich, die Harmonie von Fürsten und Volk - das geht, ohne politisch näher artikuliert zu werden, ineinander über. Obwohl es zu den geplanten patriotischen Festen im Bereich des Denkmals nicht gekommen ist und das Denkmal zum Ausflugspunkt wurde, behielt es eine gewisse nationale Repräsentanz: im Mayerschen Lexikon heißt es 1909 unter Nationaldenkmal lapidar: „siehe Niederwald“, und eine Briefmarke mit der Germania hat bis 1922 Gültigkeit gehabt. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang das Hermanns-Denkmal im Teutoburger Wald, ein Werk seines monomanen Erbauers Ernst v. Bandel; in der Planungs- und Baugeschichte von 1819 bis 1875 spiegeln sich vielfältige Faktoren des deutschen Nationalbewußtseins des Jahrhunderts. Auch die Idee des Hermanns-Denkmals ist ein Resultat der nationalen Erregung der Freiheitskriege102; Arndt hat damals ein solches Denkmal propagiert, Schinkel hat einen Entwurf angefertigt103. Und Bandel, der sich seit 1819 mit Plänen für dieses Denkmal befaßte, ist, 1799 als Sohn eines altpreußischen Beamten in Ansbach geboren, Zeit seines Lebens von traumatischen Kindheitserfahrungen mit der französischen Besatzung und - beeinflußt durch seine Freundschaft mit dem Jahn-Schüler H. K. Maßmann - dem „teutonischen“ Nationalgefühl der ersten Jahre nach 1815 bestimmt gewesen. 1838 beginnt er mit dem Bau und wendet sich gleichzeitig mit Spendenaufrufen an das deutsche Volk, es 159

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wird eine Reihe von Denkmalsvereinen, von München bis Königsberg, gegründet, die Idee des Denkmals wurde populär, wurde zu einer „Nationalsache“104. Bändel, der seine eigene Arbeit „dem deutschen Volk“ zum Geschenk anbot, hat von Anfang an betont, das Denkmal solle „für das gesamte deutsche Volk und von demselben“ errichtet werden, sei „durch allgemeine Teilnahme... gesamtdeutsches Eigentum“, hier schon kommt die nationaldemokratische Komponente dieses Denkmalbaues zum Ausdruck105. Das im Denkmal Gestalt werdende Nationalgefühl ist nationale Erinnerung, die sich an der germanischen Frühgeschichte orientiert, am archaischen Ursprung, in dem das Wesen des Deutschen rein und unverfälscht zum Ausdruck kommt, und das Denkmal versucht, den historischen Helden dieser Frühzeit in die Dimension des nationalen Mythos zu erheben und ihm damit eine konkrete politische Funktion zu geben. Näher entfaltet sich diese Funktion zunächst in doppelter Weise. Das Denkmal ist Denkmal für den „Befreier Deutschlands“ und damit für die Befreiung, und ist ein „Mahnzeichen der Einigkeit aller deutschen Stämme“106. Denn die Befreiung ist zugleich die Einigung, ist die Gründung der Nation: Hermann ist der „Retter und Gründer“107 und darum „Träger und Repräsentant der deutschen Nationalität“108. Er hat den Herrschaftsanspruch des „Romanismus“ gebrochen und damit die nationalkulturelle Eigenständigkeit der Deutschen gesichert, ja für das ganze Menschengeschlecht das Prinzip der nationalen Unabhängigkeit begründet, dies internationale Prinzip der Nationalität ist so etwas wie die Weltsendung Hermanns: Auch die „übrigen Völker“ „wurden frei durch den Teutoburger Sieg“109. Hermann als Begründer der deutschen Nationalität nun ist Symbol und Vorbild, das angerufen wird, um das gegenwärtige Bewußtsein und Gefühl der Nationalität zu intensivieren: er soll das Volk „erheben und zu steter Nacheiferung . . . stärken“110. Insbesondere soll das Denkmal, sowohl die Erinnerung an den dargestellten Helden wie der gemeinsame Bau, die „Treueinigkeit unserer Volksstämme“ beschwören, es ist ein „Mahnzeichen zur Einigkeit aller deutschen Stämme“111. Auf einer Tafel im Grundstein heißt es: „Hermann dem Befreier Deutschlands gründen dies Denkmal Deutschlands Fürsten und Volksstämme in Eintracht verbunden. Er bleibe und dauere, der Sinn der Eintracht, welcher dies Denkmal schuf, und getilgt sei der Fluch der Zwietracht, den der Zorn des Überwundenen an der Wiege unseres Volkes aussprach“112. In der Dunkelheit der Frühgeschichte konnte man die späteren Stammesgegensätze symbolisch überwinden, hier war die Einheit sozusagen archaisch präfiguriert. Auch Gedanken des Liberalismus strömen in die Denkmalsbewegung ein, ihre Träger sind die „Freunde der Freiheit“113, und diese Freiheit ist auch nach innen gewandt; freilich dominiert zumeist das gemäßigt konstitutionelle Ideal der Harmonie zwischen Herrscher und Volk. Schließlich spielt der Gedanke der Macht, der Stärke und Größe der Nation in der Denkmalsbewegung eine besondere Rolle, vor allem bei Bandel selbst. Dargestellt wird Armins „Schwerterhebung“, aber in einem Augenblick nach dem errungenen Siege. Trotzdem bleibt das Schwert aufgereckt, weil es die Garantie der nationalen Existenz ist, weil Feind und 160

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Gefahr nicht und niemals vorüber sind. Bändel spricht von der „unseren Feinden Schrecken und Verderben bringenden Wiederaufpflanzung unseres alten deutschen Schwertes, das immer am deutschen Himmel im herrlichen Glanze der Freiheit leuchtete und sich als Haltepunkt unseres Seins bewährte, wenn es von echt deutscher Faust erhoben unsere Stämme in Treueinigkeit um sich scharte“. „So stehe in jugendlicher Frische, im Siegesbewußtsein Armin, das freie Schwert in kräftiger Faust erhoben zu gewaltigem Schlage bereit, das Sinnbild unserer ewig jungen K r a f t . . . ein Wegweiser zur Stätte unseres Ruhmes und zur Erkenntnis unserer Macht und Herrlichkeit.“114 Der politische Sinn, der im Denkmal gegeben wurde, zeigt sich auch in den Bau- und Formideen. Die Wahl des Ortes ist nicht nur historisch bedingt, bei Bandel kann man deutlich eine antiurbane Stimmung, eine Mythisierung des Waldes als der eigentlich deutschen Seelenlandschaft und die romantische Neigung zum Bergheiligtum bemerken. Der Unterbau sollte, in einem romanischgotischen Mischstil ausgeführt, spezifisch deutsch sein, nur ein „deutscher“ Stil schien dem Nationaldenkmal angemessen, das Fehlen eines nationalen Baustils galt Bandel gerade als Zeichen von Überfremdung und Identitätsgefährdung115. Die Figur war zunächst (1835/36) weniger kolossal, weicher und verbindlicher entworfen, der Arm mit dem Schwert war angewinkelt oder gekrümmt; Schinkel und Rauch haben in einem Gegenentwurf gar einen Hermann mit gesenktem Schwert vorgeschlagen; aber dann bildete sich die endgültige Gestalt, die straff hochgereckte Figur mit dem gerade in die Höhe gestreckten Schwert, das drohend in die Ferne weist, heraus, die herausfordernde, auf Kampf, Sieg und Kraft abgestellte Haltung des Helden. Damit hat Bandel das, was er für den Sinn des Denkmals hielt, besonders prägnant zum Ausdruck bringen wollen, durch das Senken des Schwertes würde „der Sinn des ganzen Denkmals aufgehoben“ (1861)116. Das Ganze bekommt so einen aggressiven und herausfordernden Zug, der unsichtbare Feind ist in das Denkmal mit einbezogen, der Beschauer wird in diese Frontstellung mit hineingenommen: im Kampf gegen den Feind konstituiert sich die hier gemeinte Nation als ein Machtgebilde, in ihrer Macht hat sie ihre Identität. Auch in der Orientierung des Nationalbewußtseins an der germanischen Frühgeschichte, am Teutonischen, schwingt dieses Moment mit: Hermann und die Germanen repräsentieren nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie die Freiheit, sondern auch das vorzivilisatorische Gewaltige, eben Kraft und Macht. In den 40er Jahren, endgültig 1846, kam der Bau zum Erliegen117. Erst Anfang der 60er Jahre kam das Unternehmen, von der neubelebten Nationalbewegung getragen, wieder in Gang und wurde, zuletzt mit Hilfe von Zuschüssen des Kaisers und des Reiches, bis 1875 vollendet, am 16. 8. ist es in Anwesenheit des Kaisers und vieler Fürsten mit einem großen patriotischen Volksfest, dem zumal Sänger-, Turner-, Kriegervereine und Studentenkorporationen das Gepräge gaben, eingeweiht worden. Die Teilnahme von einigen hundert Amerikadeutschen, zudem von Holländern und Österreichern wird besonders hervorgehoben, der Begriff der Volksnation war hier mindestens ebenso lebendig wie der 161 11 Nipperdey

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der Staatsnation; Bandel hat in einem Brief über den Sinn des Denkmals bemerkt: „Seid alle deutschen Völker, nicht bloß die Kaiserreichsler einig . . ,“118, obschon er durchaus zu den Befürwortern der Bismarckschen Reichseinigung gehörte. Das nationaldemokratische Motiv klingt noch in der Bezeichnung „Fest der Übergabe des Denkmals an das deutsche Volk“ an. Daneben stehen die zunächst nicht selbstverständliche Einladung des Kaisers und der Fürsten, die Betonung der Einigkeit von Fürsten und Volk in den Festreden und die Ehrung des Kaisers am Denkmal als nationalmonarchische Momente. Beide Tendenzen gehen, zumal sie nicht besonders akzentuiert werden, harmonisch zusammen. Die andern politischen Motive gewannen in der neuen Lage eine veränderte Funktion. Mit der ersten Befreiung wurde die gegenwärtige Abwehr des französischen Angriffs, der Sieg über „welschen Übermut“, über „romanische Anmaßung“ gefeiert119. Aus dem Mahnzeichen, dem Symbol einer Hoffnung, wurde ein „Ehrenzeichen, ein Ruhmesmal der vollbrachten Einigung“120, ja der „wiedererstandenen (!) Herrlichkeit des Deutschen Reiches“121. Wo die Parole der Einigkeit noch als Forderung laut wird, ist es die „Einigung nach innen“, gerichtet gegen „inneren Hader“ und für festes Zusammenstehen122. Gelegentlich kamen jetzt Kulturkampftöne auf, statt des ursprünglich vorgesehenen „Lobet den Herren“ wurde „unser Protestantenlied“ geblasen, ein Artikel der Gartenlaube über das Fest schließt, das Denkmal sei eine Mahnung, das „Panier der nationalen Freiheit.. . hochzuhalten auch mit den Waffen des freien Geistes. Wider Rom“123; der nationale und der konfessionelle Kampf gegen Rom klingen hier ineinander. Vor allem aber tritt das Moment der Macht besonders hervor, der Sieg im Kampf, die stete Kampfbereitschaft gegenüber einem im Denkmal unsichtbar präsenten Feind, die im Schwert symbolisierte Rüstung, das sind die Elemente, die die Bedeutung des Denkmals jetzt bestimmen. „Deutsches Volk hält sein Schwert frei und ruhmumstrahlt, wie Armin vor bald 1900 Jahren hoch in starker Faust zum Schrecken seiner Feinde und zum Friedensvertrauen seiner Freunde“124; das Denkmal, das er als Mahnzeichen gebaut habe, werde nun „ein Zeichen unserer Macht“125. Der Machtstaatsgedanke gewinnt so die Oberhand über ursprünglich liberale Vorstellungen, das Wort Freiheit kommt beim Denkmalsfest kaum noch vor; für den teutonisch gesonnenen Bandel freilich war dieser Machtgesichtspunkt, den er mit einem demokratisch mystischen, ungegliederten Volksbegriff verband, immer schon dominierend gewesen, hier reicht die Kontinuität von den Jahren der „Befreiungskriege“ bis eben in die 70er Jahre hin. Diese neuen politischen Momente sind auch im Bau selbst sinnfällig gemacht. Am Unterbau ein Relief mit dem Bilde Wilhelms I. mit der Unterschrift: „Der lang getrennte Stämme vereint mit starker Hand - der welsche Macht und Tücke siegreich überwand - der längst verlorne Söhne [die Elsaß-Lothringer] heimführt ins Deutsche Reich - Armin dem Retter ist er gleich“. Und darunter: „Am 17. Juli 1870 erklärte Frankreichs Kaiser Louis Napoleon Krieg, da erstunden alle Volksstämme Deutschlands und züchtigten vom August 1870 bis Januar 1871 immer siegreich französischen Übermut unter Führung König 162

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Wilhelms von Preußen, den das deutsche Volk am 18. Januar zu seinem Kaiser erhob“. Die Deutung der Reichseinigung enthält noch ein starkes Moment nationaldemokratischer Vorstellungen, in ihrer Verbindung aber sind beide Texte ein Ausdruck der Synthese von demokratischer und monarchischer Nationalidee, von demokratischem und monarchischem Nationalgefühl. Eine weitere Tafel gedenkt der Befreiungskriege, insofern wird die Frontstellung gegen den Feind von Hermann bis in die Gegenwart hindurch verfolgt. Das riesige Schwert endlich erhielt die Inschrift: „Deutschlands Einigkeit meine Stärke, meine Stärke Deutschlands Macht“. Das Denkmal ist ursprünglich einer nationaldemokratischen Intention mit stark nationalistischen, aber auch liberalen Einschlägen entsprungen und wird dann zu einem Denkmal der Reichseinigung und des monarchisch-liberalen Kompromisses; mit seiner Akzentuierung des machtstaatlichen Nationsbegriffs und der Feindbeziehung und seiner Funktionalisierung der Einheit zur Vorbedingung der Macht aber weist es über die Denkmäler der Zeit hinaus auf den letzten Typus des Nationaldenkmals, den wir nun noch zu behandeln haben. VI. Dieser letzte große Typus des Nationaldenkmals aus der Vorweltkriegszeit ist das Denkmal, in dem sich die Nation als geschlossene Volksgemeinschaft und als Macht versteht und das wir als Denkmal der nationalen Sammlung, der nationalen Konzentration bezeichnen können, ein Typus, der mit seinem Volksbegriff zwar auf nationaldemokratischer Grundlage beruht, aber dem Verfassungsmodell der Demokratie ganz fremd gegenübersteht und darum als eigener Typus bezeichnet werden muß. Hierher gehört einmal das Völkerschlachtsdenkmal, das 1913 im Jubiläumsjahr endlich zustande gekommen ist. Angeregt und durchgesetzt hat den Bau ein 1894 in Leipzig gegründeter „Deutscher Patriotenbund zur Errichtung eines Völkerschlachtsdenkmals bei Leipzig“, der es nominell schon 1895 auf 45 000 Mitglieder gebracht hat; die Führung war von Honoratioren aus der national gesinnten Bürgerschaft Leipzigs getragen, der Bund war vielfältig mit den älteren Organisationen des deutschen Patriotismus, den Sänger-, Schützen-, Turnvereinen, verflochten. Das Denkmal sollte ein „Denkmal des deutschen Volkes für das deutsche Volk“ sein; die enormen Kosten, 6 Millionen, sind ζ. Τ. durch Sammlungen, zu fast zwei Dritteln durch Lotterien aufgebracht worden. Das Denkmal war nicht mehr selbstverständlich: ein Denkmal für ein historisches Ereignis, das für niemanden mehr unmittelbare Wirklichkeit war, errichtet in einer Zeit, deren Gegenwart mit 1870/71 und nicht mit 1813 begann, für den Sieg einer Völkerkoalition, deren Internationalität dem zeitgenössischen Nationalismus nicht mehr recht entsprach, für einen Sieg, der gerade in Leipzig an alte Gegensätze zwischen deutschen Staaten und Stämmen erinnern 163 11* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

mußte oder der gelegentlich schon die Anhänger einer Völkerverständigung provozierte, für den Sieg in einem Volkskrieg, der manchem in der damaligen Klassenkampfsituation unheimlich war - und es mußte infolgedessen ständig gerechtfertig werden126. Daß es zustande kam, ist nicht nur der eifrigen Werbung und dem beträchtlichen Lokalpatriotismus zuzuschreiben, sondern entspricht auch bestimmten politischen Tendenzen. Die politischen Ideen, die in dieser Denkmalsbewegung und ihrem Erfolg wirksam waren, ergeben sich zunächst aus der verquollenen Weiheschrift. Das Denkmal steht für die Erhebung von 1813. Im Gedanken an sie wird die nationale Befreiung gefeiert, das Denkmal ist „Deutschlands Freiheitsdom“, und zugleich damit der Beginn der nationalen Einigung Deutschlands: „Das Bismarcksche Reich knüpfte nicht an das alte Reich, sondern an die Errungenschaften der Befreiungskriege an“ (S. 32). Diese Gründung der Nation wird nun nationaldemokratisch begriffen: Leipzig ist der „Geburtstag des deutschen Volkes“, der Sedan, „dem Geburtstag des Deutschen Reiches“, voranging (S. 14, 34); 1813 steht für den Beginn der „politischen Mündigkeit des deutschen Volkes“ (S. 78); dieses Volk hat die Einheit wesentlich mitgeschaffen, der „machtvolle Reichsbau“ ist „auf dem Grunde der Freiheit . . . erwachsen“ (S. 6 f.). Und in ähnlichem Sinne formuliert der Architekt, B. Schmitz, „der Held des Denkmals ist das ganze deutsche Volk, welches sich erhob“, darum ist das Denkmal ein „Volksmal“127. Aber dieser nationaldemokratische Gedanke der Konstitution des Volkes als Nation wird nun wesentlich abgeschwächt. Einmal wird er ganz nach innen, auf Ethos und Gesinnung, gewandt: was gefeiert wird, ist der „deutsche Gedanke“, der „deutsche Idealismus“, d. h. die Hingabe an die Nation (S. 6, 14,19), und dieser Idealismus, „die Fülle der inneren Güter des Geistes und des Gemütes“, „schlichteste (!) Einfachheit und Anspruchslosigkeit“ (S. 30), macht das wahrhaft Deutsche aus. Zum andern wird Nation im Sinne einer harmonisch solidarischen „Volksgemeinschaft“ (S. 19) verstanden, die das monarchische Prinzip wesentlich mit umschließt. Idealismus und Volksgemeinschaft sind die Faktoren, die das deutsche Volk als Nation konstituieren, sie erfüllen sich dann in der Kampfbereitschaft und der Machststellung nach außen. Hinter diesen Vorstellungen von dem, was die nationale Identität ausmacht, steht nun deutlich ein kritisches Unbehagen an der Zeit, steht die Angst, daß das gegenwärtige deutsche Volk dem Anspruch der Nationalidee, wie man ihn in das Ursprungsjahr 1813 zurückprojiziert hatte, nicht mehr gerecht wird. Materialismus und Verflachung, Kosmopolitismus und Sozialismus, Partei-, Konfessions-, Interessen- und vor allem Klassengegensätze bedrohen Idealismus und Volksgemeinschaft und damit die Nation, dagegen werden das „reine Deutschtum“ (S. 36), die „Erhebung zu den reinen Höhen des deutschen Idealismus“ (S. 35) angerufen und die nationale „Sammlung“ und Volksgemeinschaft propagiert (S. 37 ff.); Idealismus und Sammlung sind bürgerlich antisozialistisch gemeint, das Denkmal, das alle die angerufenen Werte symbolisieren soll, ist auch und gerade gegen die „vaterlandslosen Mächte“ (S. 17) gebaut. 164

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Das ist nun nicht nur Oberlehrerideologie, sondern wird auch im Bau Gestalt. Der Hauptraum des architektonischen Denkmals, eine riesige Kuppelhalle, wird als „Ruhmeshalle deutscher [Volks] art“ bezeichnet (S. 40, 95, 30). Hier stehen vier kolossale Figurengruppen, die spezifisch deutsche Tugenden, Tapferkeit, Opferfreudigkeit, Glaubensstärke und „deutsche Volkskraft“128, d. h. Geburtenfreudigkeit, verkörpern sollen. Es ist charakteristisch, daß diese „deutsche Art“ gerade nichts Spezifisches darstellt, sondern allein die Haltung der Hingabe an die Nation symbolisiert. Die Nation, die in diesen Figuren sich mit sich selbst identifizieren soll, soll so - fast tautologisch - im Dienste an der Nation ihr wahres Wesen finden. Zwischen diesen Kolossalgestalten sind Bilder des „Jammers und der Trauer“ angebracht, die von der „Macht und Zucht des Leides“ (S. 30), der Grundbedingung von Idealismus und nationalem Aufschwung, predigen sollen. In einer Krypta, einem Ehrenmal für die Gefallenen, halten riesige Kriegerfiguren auf Schwerter gestützt vor „Masken des Schicksals“ Totenwacht. Auf der Zinne der Kuppel stehen noch einmal zwölf riesige Kriegergestalten, die „Hüter der Freiheit und Einheit“. An der Außenfront zeigt das Hauptrelief den Erzengel Michael, der mit den Kriegsfurien über ein Leichenfeld fährt. Alle Figuren sind - ein Zeichen der Abkehr vom epigonalen Realismus der Konventionen der Plastik - stark architektonisch stilisiert, sind von einem strengen und schweren Ernst, ja von Trauer geprägt; es gibt keine Triumphgebärde, keine Heldenpose, aber auch keine ruhige Gelassenheit, das Opfer- und Leidenspathos der Weiheschrift ist auch im Bau gegenwärtig. Die Figuren sind ins Mythisch-Kultische und ins Heroische stilisiert: sie sind Träger und Symbol eines von Unendlichkeit und Tragik umwitterten Schicksals. Das Nationalgefühl, das in den Figuren sich repräsentiert finden soll, bekommt so einen deutlich tragischen Einschlag, eine Art Götterdämmerungspathos, und man wird darin zu Recht eine kritische Überwindung des bloßen Macht- und Prestigekults des Wilhelminismus sehen können. Die Bauform, eine ins Breite gezogene Pyramide, will durch ihre Kolossalität und massive Geschlossenheit und Wucht wirken, die „Breitenentfaltung“ der Massen soll die Wirkung des Baues bis „zu mächtigster Gewalt“ steigern, das „Titanenwerk“ ist „breit und trotzig wie deutsche Heldenart“, ist eine Darstellung des „furor teutonicus“129. Die Größe und Gewalt der Nation soll in der Bauform anschaulich werden. Damit bleibt das Denkmal architektonisch dem Wilhelminismus, dem Gestus des Imponierenwollens verhaftet; das Denkmal der deutschen Erhebung ist eben auch Denkmal der deutschen Macht. Aber die Bauform ist mehr als Darstellung von Macht und Geschlossenheit, auch sie ist vom schweren und lastenden Ernst der Plastik erfüllt, auch sie bezieht sich auf ein Unendliches, dem sie in festem Trotz entgegentritt. Die Monumentalität der Form dient der Mythisierung der Nation, dem Versuch, das Nationale tiefer im Elementaren, im Jenseits der ratio, im Irrationalen und Absoluten zu verankern, dem Nationalen die Dimension des übermächtig Schicksalhaften und des Kultischen zu geben130. Dahinter, so scheint mir, steht wiederum die geheime Angst um die Nation, um ihre Einheit und ihre 165

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Substanz, steht ein Ungenügen daran, daß die nationale Wirklichkeit nicht dem unendlichen Anspruch der nationalen Idee entspricht; die angestrengte und überdimensionierte Selbstdarstellung scheint mir ein Versuch, jene Angst und jenes Ungenügen zu überwinden. Die das Denkmal leitende Idee der nationalen Sammlung zeigt sich endlich darin, wie mit der Bauform das Verhältnis von Individuum und Nation neu bestimmt wird. Das architektonische Denkmal ohne individuelles Standbild will die Beschauer als nationale Gemeinschaft zusammenbinden. Der einzelne soll „die Kleinheit des Ich“ erkennen und sich, ohne Distanz und Reflexion, erfüllt von „mystischem Schauer“ und „Erhabenheitsgefühl“131 in die Nation einfügen. In diesem Sinne gehörte es wesentlich zur Idee des Denkmals, daß ihm ein Stadion für ein „deutsches Olympia“ angegliedert werden sollte132. Die Nation, die sich im Denkmal mit sich selbst identifizieren soll, ist nicht mehr Kultur- und Glaubensgemeinschaft, sondern Kampf-, Schicksals- und Opfergemeinschaft; sie ist nicht mehr in einem konkreten Sinne politisch, nämlich monarchisch und demokratisch verfaßte Gemeinschaft, sondern sie ist im Mythos der Innerlichkeit und der - antisozialistisch gerichteten - Solidarität zusammengefaßte Nation. Der demokratische Begriff der Nation, der am Anfang der Idee eines Leipziger Denkmals gestanden hatte, ist zum integralen Begriff der Nation geworden, das Denkmal zum Denkmal der nationalen Konzentration, das zwar 1913 durchaus noch den herrschenden politischen Zuständen entsprach, aber davon auch ablösbar war. Denkmäler der nationalen Sammlung sind zum andern eine Reihe von Bismarck-Denkmälern. Die Bismarck-Denkmäler überhaupt übertreffen an Zahl und Verbreitung durchaus die Zahl der Kaiser-Wilhelm-Denkmäler, insbesondere in Bayern - eines der ersten Turmdenkmäler ist das Bismarck-Denkmal am Starnberger See von 1896/98 - und auch in katholischen Gebieten, ja sie reichen noch über die Reichsgrenze hinaus, etwa ins Sudetenland; und sie sind, anders als die Kaiser-Wilhelm-Denkmäler, weniger Ergebnis einer offiziösen Patriotismuspflege als spontaner Bewegungen133. Durch diese Verbreitung waren sie gewissermaßen allgegenwärtig, sie waren offenbar wirklich populär und haben jedenfalls eher als jedes andere sogenannte Nationaldenkmal im Bewußtsein großer Volksteile die Funktion eines eigentlichen Nationaldenkmals ausgefüllt. Auch unter diesen Denkmälern gab es zunächst und vor allem den überlieferten Typ des repräsentativen Statuendenkmals auf einem Sockel, dazu gehört auch noch das vom Reich finanzierte, vom deutschen Volk gestiftete sogenannte Bismarck-Nationaldenkmal von Begas vor dem Reichstag von 1901. Zum neuen Typus des Denkmals der nationalen Sammlung gehören aber erst die architektonischen Bismarck-Denkmäler, und zwar zunächst die BismarckSäulen oder -Türme. Sie gehen auf eine Anregung von Vertretern der deutschen Studentenschaft zurück. In einem Aufruf vom 3. 12. 1898 an das deutsche Volk heißt es: „Wie vor Zeiten die alten Sachsen und Normannen über den Leibern ihrer gefallenen Recken schmucklose Felsensäulen auftürmten, deren Spitzen Feuerfanale trugen, so wollen wir unserm Bismarck zu Ehren auf allen 166

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Höhen unserer Heimat, von wo der Blick über die herrlichen deutschen Lande schweift, gewaltige granitene Feuerträger errichten. Überall soll, ein Sinnbild der Einheit, das gleiche Zeichen entstehen, von ragender Größe, aber einfach und prunklos, in schlichter Form auf massivem Unterbau, nur mit dem Wappen oder Wahlspruch des Eisernen Kanzlers geschmückt. Kein Name soll der gewaltige Stein tragen, aber jedes Kind wird ihn deuten können.“ „Überall, wo Deutsche wohnen, werdet Ihr dasselbe Wahrzeichen sehen . . . “ „unsern Nationalhelden nicht im Prunk, sondern einfach und würdig, aber dauernd und gewaltig zu feiern, wie niemals ein Deutscher vor ihm gefeiert worden ist.“ „Von der Spitze der Säulen sollen“ (am 1. April und „nach altgermanischem Brauch“ am 21. Juni) „aus ehernen Feuerbehältern Flammen weithin durch die Nacht leuchten, von Berg zu Berg sollen die Feuer mächtiger Scheiterhaufen grüßen, deutschen Dank sollen sie künden, das Höchste, Reinste, Edelste, was in uns wohnt, sollen sie offenbaren, heiße innige Vaterlandsliebe, deutsche Treue bis zum Tode“134. Die Nation, die mit diesem Aufruf angesprochen ist, ist, das ist auffallend, nicht mehr die Staatsnation, sondern die grenzübergreifende Volksnation; und ihre Tradition ist nun ganz stark germanisch akzentuiert. Auch die Form des stadtfernen Bergdenkmals, die als typisch deutsch galt, wird wieder aufgenommen. Die Anregung führte zu einem Wettbewerb, aus dem Wilhelm Kreis als dreifacher Sieger hervorging. Die Bauidee seiner Säulen ist ein steinernes, altarartiges Flammenbecken auf einem gedrungenen quadratischen und blockartigen Unterbau, der - in dem ersten der prämiierten Entwürfe - an den Kanten von vier enggestellten Säulen bestimmt ist, deren Kapitelle mit dem krönenden Mauerviereck verwachsen sind. Der Sinn dieser architektonischen Form war es einmal, spezifisch nationale, deutsch-germanisch stilisierte Denkmäler zu bauen, zum zweiten, das Individuum Bismarck zum Symbol, zur mythischen Figur der nationalen Einheit zu erhöhen und darum von seiner konkreten Individualität als Figur gerade abzusehen; die Nation sollte in einer gedrungenen, schlichten und ernsten Form, in der Form der Sammlung und Konzentration angesprochen und repräsentiert werden. Schließlich sollte die einfache architektonische Form selbst Gemeinschaft stiftend wirken: die Denkmäler aktualisieren ihren Sinn erst durch gemeinsame Handlungen, Feuer und Feste; der individuelle Betrachter wird durch den in eine Gemeinschaft hineingebundenen Festteilnehmer ersetzt, dem überindividuellen Gegenstand sollte der nicht mehr individuelle Adressat entsprechen135. Im übrigen aber hat es auch noch viele andere Formen von Bismarck-Säulen und -Türmen gegeben, deren nationalpolitische und -pädagogische Bauidee in dieselbe Richtung wies, wenn sie auch im allgemeinen architektonisch weniger geglückt waren als die Kreisschen Säulen. Die Tatsache, daß diese Säulen vielfach zu Aussichtspunkten wurden, konnte ihrem patriotischen Sinn zunächst keinen Abbruch tun. Dann gehört in den Zusammenhang der Denkmäler der nationalen Sammlung das große Hamburger Bismarck-Denkmal von Schaudt und Lederer 167

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(1901-1906), das weit über seinen regionalen Ausstrahlungsbereich hinaus schon bald die „Stellung eines Nationaldenkmals errungen hat“136. Das Denkmal stellt Bismarck als Roland dar und knüpft damit an die deutsche mittelalterliche Tradition der Rolands-Säulen an. Freilich, es ist im Unterschied von den Vorbildern nicht eigentlich Stadtdenkmal, es liegt isoliert halblandschaftlich auf einer Anhöhe über dem Hafen, am Aus- und Eingang Deutschlands zur Welt, weithin sichtbar. Sein Raum ist nicht ein Platz, sondern wie bei den Bergdenkmälern eigentlich der Himmel. Und es hat, abgehoben vom Stadtkern, einen autonomen Maßstab, es konkurriert, obwohl mit insgesamt 23 m nicht extrem hoch, durch seine in die Ferne wirkende Silhouette mit den Kirchtürmen der Stadt. Die menschliche Figur ist ins Riesenhafte, auf 15 m, gesteigert und zu einer monumentalen architektonischen Form stilisiert: Bismarck ist mit gepanzerter Rüstung umkleidet, die Hände liegen vor der Brust auf dem Griff des zur Ruhe gestellten Schwertes, von der Schulter fällt ein Mantel in schweren Falten herab und endet in zwei am Sockel sitzenden Adlern; die Figur ruht so in ihrer Größe und Mächtigkeit ganz in sich. Alle menschlich individuellen und zeitlich historischen Züge sind in eine übermenschlich zeitlose Objektivität, ja in eine archaische Starrheit aufgehoben. Die durchgehaltene vertikale Symmetrie und die als Material verwandten Granitquader verstärken die blockartige, geschlossene Wirkung. Die Statue ist zum Turm geworden. Diese Form galt vielen Zeitgenossen als ausgesprochen deutsch. „Schlichtheit und Geschlossenheit“, „Wucht und Größe“ zeichneten das Werk aus, „es ist das die entschlossene Abkehr von der eingerissenen Veräußerlichung der Kunst, ihrer Abhängigkeit von der Nachahmung des Fremdländischen in Vergangenheit und Gegenwart, das Ringen nach Schlichtheit, Innerlichkeit und Kraft, kurz nach einer, manchmal zwar noch etwas ungeschlachten, aber doch ausgesprochen deutschen Eigenart in Wurf und Werk“137. Endlich schien einmal in einem Denkmal der nationale Gehalt auch in einer spezifisch nationalen Form ausgedrückt zu sein. Der politische Sinn der Denkmalsform war es, die Person Bismarcks ins Heldenhafte und Ideale zu steigern, ja ihn zum mythischen Symbol zu erheben138. Bismarck war nicht nur, sondern er ist - gegenwärtig und immer der Hüter des Reiches und wird es bleiben. Seine Kraft und Unerschütterlichkeit wird zum Symbol der Kraft und Unerschütterlichkeit des Reiches, der Einheit und Geschlossenheit des deutschen Volkes139. Die Form des Denkmals macht ein distanziertes und reflektiertes Verhalten des Betrachters, wie es allen Porträts und allen Allegorien gegenüber unvermeidlich ist, unmöglich: der Betrachter wird in den Bann des monumentalen Denkmals einbezogen und damit in die Unerschütterlichkeit des Reiches, in die Geschlossenheit des Volkes. Dabei steht Bismarck da ohne triumphierende Geste, ohne drohende oder „provozierende Züge“140, wie sie vom Hermanns-Denkmal bis zu den Kaiser-Wilhelm-Denkmälern vielfach üblich waren, in gesammelter Ruhe, ohne Bezug auf einen konkreten Feind. Freilich, so scheint mir, er steht in seiner übermenschli168

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chen Starre und seinem schweren Ernst, in seinem isolierten Aufragen in den Himmel doch in einem Gegenüber, und zwar in einem Gegenüber zur Unendlichkeit, hinein in eine Unendlichkeit, unmittelbar zu einem Absoluten, und von daher stammt die Haltung des eigentümlich festen Trotzes, der die Figur auszeichnet. Diese Haltung überträgt sich auf den Betrachter, und sie meint die Nation: auch die Nation hat einen solchen Stand im Absoluten, auch sie ist von Ernst und Gefahr umwittert. Der heroisch-tragische, schicksalsbestimmte Nationalismus korrespondiert der Forderung der nationalen Konzentration. Beides ist im Denkmal Gestalt geworden. Auch in den Planungen für ein Bismarck-Nationaldenkmal, das 1915 bei Bingerbrück errichtet werden sollte, kamen ähnliche Tendenzen zum Ausdruck. Zwar hat eine maßgebliche Gruppe des künstlerisch interessierten Publikums sich entschieden gegen alle heroisch-monumentalen Entwürfe, gegen allen substanzlosen Größenwahn und allen pseudoteutonischen Stil, gegen alle Götzenbilder gewandt, und die Jury hat einen fast klassizistischen, zurückhaltenden, eher idyllisch-lyrischen Entwurf mit der Gestalt eines jünglinghaften Siegfried in einem an frühgeschichtliche Bauformen erinnernden Steingehege prämiiert. Aber nach erbitterten Konflikten und einer schier unendlichen öffentlichen Diskussion wurde ein revidiertes Projekt von Kreis und Lederer zur Ausführung bestimmt, dessen Bau- und Formidee der der Bismarck-Säulen und des Hamburger Bismarck-Denkmals grundsätzlich entspricht, wenn es auch auf die zunächst geplanten riesigen Dimensionen verzichtete und im ganzen differenzierter und klassizistischer geworden ist. Aber, und das ist für unseren Zusammenhang wichtiger, jenseits solchen Streites um den Stil tendierten alle Richtungen doch dahin, Bismarck zur nicht mehr individuellen, mythisch-symbolischen Gestalt zu erhöhen, in die die Nation ihre Hoffnungen und Erwartungen und ihr Vertrauen legen konnte, tendierten alle Entwürfe dahin, das Denkmal zum (Fest-)Ort der nationalen Gemeinschaft zu machen. Auch die Gegner des monumentalen Stils blieben Anhänger der nationalen Sammlung. Das Gemeinsame dieser Bismarck-Denkmäler und Entwürfe ist also die Erhebung Bismarcks zu einem schützenden und gemeinschaftsstiftenden Ursymbol der Nation jenseits aller Rationalität und Individualität des Politikers Bismarck. Das Selbstverständnis der Nation, die sich in diesen Denkmälern zu finden sucht, bekommt einen irrationalen mythischen Zug. Politisch liegt das neue Nationalbewußtsein jenseits der Unterscheidung nationalmonarchischer und nationaldemokratischer Tendenzen. Die Nation ist die geschlossene Gemeinschaft des Volkes, geeint in der parteien- und klassenübergreifenden und darum antisozialistischen nationalen Sammlung, orientiert an einem Gründer und Führer. Sinn und Ziel der nationalen Einheit ist die Behauptung, nicht die Erweiterung der Macht und die Behauptung des idealen Wesens der Nation. Die Macht aber und das Wesen der Nation, ihr Ernst und ihre „Tiefe“, scheinen gefährdet. Hinter den Bismarck-Denkmälern steht nicht nur ein künstlerischer, sondern auch ein politischer Protest gegen den Wilhelminismus, gegen Pathos und Prestige, Veräußerlichung und Renommiersucht. Dahinter noch 169

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aber steht eine Unsicherheit, eine geheime Angst vor der Auflösung der Volksgemeinschaft und dem Machtverlust in einer glücklosen Weltpolitik. Der dem Begriff der Nation in Deutschland inhärente dynamische Bezug, daß Nation nicht ist, sondern ständig erst wird, und daß das deutsche Nationalgefühl darum ständig intensiviert werden müsse: das kommt auch und gerade in der Bewegung für die Bismarck-Denkmäler zum Ausdruck. VII. Wenn wir zusammenfassend auf die behandelten Typen des Nationaldenkmals und die Fülle der ihnen zugeordneten einzelnen Denkmäler und Entwürfe zurückblicken, so ergeben sich einmal eine Reihe positiver und negativer Gemeinsamkeiten: es ergeben sich Merkmale, die das deutsche Nationaldenkmal als ein einheitliches Phänomen begreifen lassen. Die Idee des Nationaldenkmals ist in der Zeit und unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Freiheitskriege entstanden, und zwar in einer Mehrzahl von Ausprägungen, und die Idee wie die Ausprägungen der Entstehungszeit haben die Geschichte des Nationaldenkmals in Deutschland ein Jahrhundert lang fast durchweg bestimmt oder doch mitbestimmt. Die Anschauung war dem Jahrhundert noch eine lebendige Wirklichkeit und Kraft, ja die Kunst gewann gerade innerhalb der Wertordnung des gebildeten Bürgertums einen besonders hohen Stellenwert; nach Kirche, Rathaus und Schloß wurde nun in dem vom Bürgertum geprägten Jahrhundert das Denkmal neben Museum und Theater zum repräsentativen öffentlichen Bau. In diesen Zusammenhang gehört die Idee des Nationaldenkmals. Es sollte Symbol der nationalen Identität sein: und von ihm her sollte ein immer erneuter Anstoß zum Gewinnen und Befestigen der Identität ausgehen, es hatte einen spezifischen nationalpädagogischen Sinn, einen dynamischen Anspruch, wie er der Struktur des neueren Nationalismus entsprach. Und da im Zeitalter des Nationalismus die Nation in die Reihe der höchsten Werte einrückte, ja zum innerweltlich höchsten Wert werden konnte, war mit der Idee des Nationaldenkmals vielfach mehr oder minder explizit die Idee eines nationalen Kultes verbunden, und auch die Bauform der Denkmäler enthielt kultische Züge, Reminiszenzen und Ansprüche. Die Verbindung der Idee des Nationaldenkmals mit religiösen Elementen - Nationalkirche und Nationaltempel - oder die am Jahrhundertanfang wie am Jahrhundertende bestimmende Tendenz, die im Denkmal dargestellten Personen oder Ereignisse mythisch zu erhöhen, und damit die Nation selbst, oder die zahlreichen Berufungen auf die germanische Urgeschichte gehören in diese Richtung; nur in der Zeit des historistisch geprägten Individualdenkmals und des nichtarchitektonischen allegorischen Denkmals, von Rauchs Friedrichs-Denkmal bis zum Niederwalddenkmal, treten diese kultisch mythischen Züge zurück oder werden in den Historismus aufgehoben; das Hermanns-Denkmal allerdings hält trotz seiner Form durch die Wahl seines Helden die mythische Dimension offen. 170

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Schließlich gehört in diesen Zusammenhang die fast durchgängige Vorliebe für das stadtferne Denkmal, das Bergheiligtum, in ihr zeigt sich, wie Nation und Geschichte jenseits der Zivilisation in einem übergeschichtlichen Grund festgemacht werden, indem sie in einen „tieferen“ Bezug zu der religiös verklärten Natur, die zum Abbild der Unendlichkeit und zur eigentlichen Region der Seele, ja der deutschen Seele wird, gestellt werden. - Aber, das ist nun die negative Gemeinsamkeit, das Nationaldenkmal ist in Deutschland fast das ganze Jahrhundert hindurch mehr Idee und Anspruch als anerkannte Wirklichkeit. Im mittelpunktlosen Land hat es keinen eigentlichen Ort, die Denkmäler bleiben diffus über das Land verstreut, jeder Ortswahl haftet etwas Künstliches an, erst mit der Allgegenwart der Bismarck-Denkmäler scheint dieses Problem gelöst. Der nationale Stil als Ausdruck der im Denkmal präsenten nationalen Idee blieb in einem Jahrhundert, das mit dem Klassizismus begann und ihn dann durch eine immer noch ansteigende Stilunsicherheit und einen dementsprechenden Stilpluralismus ersetzte, eine Illusion, so sehr sich Künstler und Kritiker darum bemühten. Das „Nationale“ ist darum niemals unbestritten zur künstlerischen Form geworden. Vor allem aber blieb der Inhalt des Nationaldenkmals problematisch. Die Vielzahl der in Deutschland lebendigen staatlichen, kulturellen, historischen und politischen Traditionen und der Streit um diese Traditionen haben bewirkt, daß wiederum bis fast zum Ende des Jahrhunderts kein Ereignis und keine Person, keine Allegorie und keine Sammlung der großen Deutschen eindeutig den Rang eines nationalen Symbols errungen hat. Die Einheit der Ereignisse, in denen die nationale Bewegung gründete, der Freiheitskriege, zerrann in der partikularstaatlichen Wirklichkeit und der Mehrzahl der Auslegungen; selbst die Reichsgründung, die für alle zum nationalen Ereignis geworden war, blieb in ihrer Deutung umstritten, die liberalmonarchischen, die dynastischen, die machtstaatlichen und die integral-nationalen Momente standen nebeneinander und gewannen - trotz mancher Kompromisse - in verschiedenen Denkmalsgruppen Gestalt: Niederwalddenkmal, Kaiser-Wilhelm-Denkmäler und Bismarck-Türme beziehen sich eben ganz verschieden auf die Reichsgründung. In den Denkmälern, die Nationaldenkmäler zu sein beanspruchten, treten so die gegensätzlichen Ausprägungen des deutschen Nationalbewußtseins zutage: das national-monarchische, das nationaldemokratische, das nationalchristliche und das nationalkulturelle Bewußtsein; das Unterschiedliche ist gleichzeitig. Gerade darum aber konnte kaum eines den Anspruch, Symbol der nationalen Integration zu sein, real erfüllen. Und als in den Bismarck-Denkmälern die gegensätzlichen nationalen Traditionen zu verschmelzen schienen, war die nationale Einheit durch Sozialistengesetz und Klassenkampf erneut zerspalten: diese Denkmäler richteten sich gerade gegen einen Teil der Nation, auch ihr Anspruch auf nationale Repräsentanz blieb fragwürdig. Neben diesen Gemeinsamkeiten in Idee, Wirklichkeit und Problematik der Nationaldenkmäler lassen sich Linien der historischen Entwicklung und Veränderung feststellen. Es ändert sich die Gestalt des Denkmals. Auf die symboli171

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sehen Architekturen des Klassizismus und der Romantik folgen die historistisch individuelle Porträtplastik und die plastische Allegorie, und sie werden schließlich wieder - getrieben vom Willen zur Überwindung des epigonalen Realismus und vom Zug zum Pathetischen oder Heroisch-Monumentalen - von einer symbolischen Architektur oder einer architektonischen Stilisierung des Porträts abgelöst. Es ändert sich der Adressat des Denkmals: an die Stelle des Individuums tritt die Masse oder die Gemeinschaft, an die Stelle der Gebildeten das politisierte Volk, zunächst das Volk der liberal-bürgerlichen Gesellschaft, dann das Volk der nationalen und antisozialistischen Sammlung. Darin zeigen sich das Ausgreifen der nationalen Bewegung auf das ganze Volk wie die Verschiebungen, die im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im Liberalismus und im Nationalismus vorgegangen sind. Vor allem schließlich verschieben sich die Inhalte. Trotz der lange bestehenden Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Nationalideen und -traditionen, trotz der Pluralität der symbolwürdigen Ereignisse, Ideen und Gestalten gibt es eine Entwicklung: was in den nicht nur projektierten, sondern faktisch gebauten Denkmälern dominiert, das ändert sich im Laufe des Jahrhunderts deutlich. Bis zur Reichsgründung ist, wenn man von den partikularstaatlichen Denkmälern absieht, im wesentlichen nur das nationalkulturelle Denkmal wirklich gebaut worden, Kultur und Geschichte bestimmen vorrangig das Wesen der Nation; die Ideen der nationalen Kirche und des nationaldemokratischen Denkmals blieben Ideen oder kamen über Ansätze nicht hinaus, das staatenbündisch-föderalistische Denkmal, die Kelheimer Befreiungshalle, bildet eine Ausnahme. Mit der Reichsgründung wird die Politik - genauer die Verfassungsfrage - für das Nationaldenkmal prägend, die monarchische und die demokratische Integration werden für das Wesen der Nation konstitutiv und damit zum Symbol der Repräsentation: die Monarchie ist nun erst mit der gesamtnationalen Bewegung verbunden, und diese ursprünglich liberal-demokratische Bewegung ist aus der Opposition herausgetreten, ist staatlich-institutionell legitimiert. Die monarchisch-demokratischen Kompromißdenkmäler der 70er und 80er Jahre, die zuerst die gegensätzlichen Nationalideen zu versöhnen suchten, und die etwas künstlich inaugurierten nationalmonarchischen Denkmäler des Wilhelminismus bezeugen die Bedeutung, die die verfassungsmäßige Ordnung für die Identität der Nation gewonnen hat. Gleichzeitig spielt das Machtmoment eine größere Rolle und drängt die Feier demokratischer Freiheit oder monarchischer Ordnung zurück, die Nation versteht sich mehr als Machtgebilde und findet Einheit und Wesen in ihrer Macht. Am Ende dieser Entwicklung steht schließlich, ältere Traditionen verschmelzend und umbildend, das Denkmal der nationalen Sammlung, in dem der pathetische Machtgestus des Wilhelminismus schon wieder zurückgenommen wird. Freilich bleibt die Macht wesentliches Element der Identitätsfindung, dazu aber tritt die Idee der blockartigen Geschlossenheit der Nation und die Neuorientierung an einem - allerdings vagen - Komplex innerer Werte. Die heroische Stimmung der Denkmäler dieses Typus aber zeugt von einem Gefühl der inneren und äußeren Bedrohtheit der Nation, das den Erfahrungen 172

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der glücklosen Welt- und Klassenpolitik korrespondierte, auch in der ruhigen Unerschütterlichkeit der Bismarck-Denkmäler ist das Nationalgefühl noch nicht in eine ruhige Gleichgewichtslage gekommen. Auch und gerade an diesem Typus der „geglückten“ Nationaldenkmäler wird darum die Problematik von Nationalidee und Nationalbewußtsein in Deutschland deutlich.

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III. ZWISCHEN DEN REVOLUTIONEN: VOM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT BIS 1848

8. Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I I. Das Phänomen 1765 wurde in Hamburg die Patriotische Gesellschaft gegründet. Sie stellt - willkürlich herausgegriffen - den Typus sozialer Organisation dar, den wir - unabhängig vom wechselnden Sprachgebrauch der Zeitgenossen1 - als Assoziation oder als Verein bezeichnen. Assoziation ist zunächst ein freier organisatorischer Zusammenschluß von Personen, d. h., in ihr besteht Freiheit zum Beitritt, zum Austritt und zur Auflösung; sie ist sodann unabhängig vom rechtlichen Status der Mitglieder und verändert diesen Status auch nicht, sie ist also im Rechtssinne statusneutral; sie ist schließlich dazu begründet, selbst und frei gesetzte und in gewisser Weise spezifizierte Zwecke zu verfolgen. Die Assoziation unterscheidet sich von der älteren sozialen Organisationsform, der Korporation, insofern diese eine nichtvoluntaristische, sondern durch Geburt und Stand bestimmte, auf das Ganze des Lebens unspezifisch ausgedehnte Organisation ist, die für ihre Mitglieder statusbestimmende Rechtsfolgen hat. Zum Zeitpunkt der Gründung der Patriotischen Gesellschaft gab es in Deutschland einige ähnliche Bildungen: z.B. die Patriotische Gesellschaft in Erfurt (die „Erfurter Gesellschaft oder Akademie gemeinnütziger Wissenschaften von 1754“2), einige landwirtschaftliche oder ökonomische Gesellschaften in Weißensee/Thüringen (1762), in Leipzig (1763) und in Celle (1764), in Franken (die Physikalische Ökonomische Gesellschaft, 1765) und in Altötting (1765 die „Gelehrte Gesellschaft“, die 1768 „Verein für Sittenlehre und Landwirtschaft“, 1769 „Churbayerische Landesökonomiegesellschaft“ hieß), hie und da eine musikalische oder eine gelehrt-literarische Gesellschaft, so in Hamburg das Collegium Musicum von 16603, in Leipzig das „Große Konzert“ von 1743 oder in Berlin die „Musikübende Gesellschaft“ (1745) und ähnliche Gesellschaften anderswo4, oder die - seit 1727 so benannt - Leipziger „Deutschübende poetische Gesellschaft“5, eine „Medizinische Lesegesellschaft“ in Berlin (von 1764)6, hie und da einen Club wie in Hannover (seit 1752)7 und dann, vom Typ her sicher eine Form des modernen Assoziationswesens, die sich seit 1737 von Hamburg aus über Deutschland verbreitenden Freimaurerlogen8. Insge174

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samt ist die Zahl solcher Zusammenschlüsse jedoch zu dieser Zeit noch sehr gering. In den folgenden 80 Jahren ist dann die Zahl der Vereine so gewachsen, daß das Vereinswesen zu einer die sozialen Beziehungen der Menschen organisierenden und prägenden Macht wurde. Jeder, der sich mit irgendeinem Bereich der deutschen Geschichte dieser Zeit beschäftigt, stößt auf Vereinsgründungen und Vereinsaktivitäten. Zunächst, in den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts, sind es vor allem die landwirtschaftlichen, die patriotischen und die Lesegesellschaften - am Ende des 18. Jahrhunderts gab es schätzungsweise 270 solcher Lesegesellschaften9 - und die Musiziergesellschaften, dann auch die ersten rein geselligen Vereinigungen (Club der Freundschaft, Montagsclub, Harmoniegesellschaft etc.) in den großen Städten wie Hamburg und Berlin, die ersten philanthropischen Wohlfahrtsvereine (die „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde“ in Kiel von 1792) und die ersten pietistischen Vereinsgründungen, die sich von der Deutschen Christentumsgesellschaft in Basel (1780) aus entwickelten, schließlich die ersten im Zuge der Revolution sich organisierenden politischen Gruppen - und das alles vor dem Hintergrund der vielen informellen Gruppenbildungen, der Salons, der „Kreise“, der Cafehausgesellschaften. Nach 1815, zumal in den 20er Jahren, verbreiten sich besonders die Kunst-, die Konzert- und Gesangvereine10, die gelehrt-geselligen Vereine von Wissenschaftlern und „Freunden“ einer Wissenschaft, und die Gewerbe vereine; die ersten Kriegervereine entstehen; reformerisch-humanitäre Bestrebungen beginnen sich in Vereinen zu organisieren, etwa in den Gefängnisgesellschaften. Um 1840 ist aus der Vereinsbereitschaft der Bürger eine Art Vereinsleidenschaft geworden11; alle bürgerliche Aktivität organisiert sich in Vereinen. Die älteren Vereinstypen, Geselligkeits-, Bildungs- und Gesangvereine vor allem, dehnten sich über das ganze Land aus12. Neue Situationen führten zu neuen und sehr spezialisierten Vereinsgründungen: öffentliche Aufgaben wurden von Vereinen, von Schulvereinen bis hin zu Landesverschönerungsvereinen, aufgegriffen. Wirtschaftliche und soziale Gruppeninteressen organisierten sich - im Zuge des entstehenden Marktsystems - in Vereinen. Für die Zeitgenossen stand der wirtschaftlich-industrielle Aufschwung um 1840 überhaupt mit dem Vereinsprinzip in Verbindung; die Aktiengesellschaften, die „Actien-Vereine“, galten als Produkte des „modernen Associationsgeistes“, und gerade ihre Vereinsstruktur garantierte ihren Erfolg, ja sie dienten nicht nur dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt, sondern sie bezeugten und beförderten Freiheit, Gleichheit und Solidarität13. Die Verschärfung der sozialen Frage und die öffentliche Anteilnahme an sozialen Problemen führten zu immer neuen Vereinsgründungen - so gab es etwa Vereine zur Beförderung des Schulbesuchs armer Kinder, Frauenvereine zur Pflege armer Wöchnerinnen, Vereine zum Kartoffelbau durch Arme, Vereine gegen das Branntweintrinken, Frauenvereine zur Unterstützung verschämter Armer, Vereine für die Errichtung des Krankenhauses XY14 oder den Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen, Handwerker-, Gesellen- und Arbeiterbildungsvereine. Ja, die Lösung der andrängenden sozia175

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len Frage hing für fast alle Zeitgenossen, die sich mit ihr befaßten, wesentlich vom Assoziationsprinzip, der Ausbreitung des Vereinswesens, ab15. Im Schatten einer gemilderten Polizeipraxis bildeten sich politische oder halb- und kryptopolitische Vereine wie die neuentstehenden Turnvereine und die volkspädagogischen Vereine. 1845, 80 Jahre nach der Gründung der Hamburger Patriotischen Gesellschaft, im Jahre der Gründung des ersten katholischen Gesellenvereins in Elberfeld, sind die Vereine nicht mehr zu zählen, das ganze bürgerliche Leben ist mit einem Netz von Vereinsbildungen überzogen. Es ist eine „Zeit der Vereine“16. Auch innerhalb und neben so alten und traditionellen sozialen Mächten wie den Kirchen mit ihren Amts- und Anstaltsstrukturen hat sich weit über den pietistischen Bereich hinaus das kirchliche Vereinswesen, die „freie christliche Association“ (Wichern), durchgesetzt: Vereine, die entweder nach innen, auf die eigenen Mitglieder, gerichtet waren (evangelische Jünglingsvereine) oder nach außen wirken wollten (Gustav-Adolf-Verein, Missionsvereine)17. Die Kirche, die im paritätischen Staat und einer sich säkularisierenden Gesellschaft ihre Selbstverständlichkeit verlor, wurde ein Stück bürgerlicher Gesellschaft und nahm sogleich manche von deren Lebensformen auf, darunter eben das Organisationsmodell Verein. Um der anhebenden Verdrängung aus der Öffentlichkeit zu begegnen, das Volk (wieder) kirchlicher zu machen und für die kirchliche Selbstbehauptung zu aktivieren, mußte die Kirche volkstümlicher werden - dem diente der Verein, der Amts- und Anstaltsstrukturen abschwächte18. Es gibt kaum etwas, was den Siegeszug des Vereinswesens stärker bezeugt als diese Übernahme einer neuen Organisationsform durch eine traditionelle soziale Macht wie die Kirche. Wo die Reflexion nicht nur die dem bürgerlichen Dasein selbstverständlichen Vereine, sondern das Vereinswesen, das Vereinsprinzip, ins Auge faßte, wurde es positiv und emphatisch als Fortschritt, als Errungenschaft der modernen Zeit, als Basis für die Bewältigung der Zukunft gewürdigt. Zu der Gründung des Vereins für hamburgische Geschichte 183919 wird der „unserer Zeit eigentümliche Associationsgeist“ charakterisiert: „Vereinte Kräfte leisten vieles, was der einzelne mit allen Anstrengungen oft nicht vermag. Die Leistungen jener wachsen nicht in arithmetischer, sondern in geometrischer Progression . . . “ Otto von Gierke, der einzige Gelehrte, der wenig später versucht hat, das Gesamtphänomen historisch zu erfassen, steht - auch in seinen mediävistisch-germanistischen Interessen - unter dem Eindruck der Ausbreitung des Vereinswesens. Er spricht von dem „aus kleinen Anfängen in kurzer Frist zu einer Weltmacht erwachsene[n] moderne[n] freie[n] Vereinswesen“; und er, der Liberale, beurteilt es überaus positiv, seinen „Anteil an den gewaltigen Kulturfortschritten“ im politischen, geistigen und sozialen Bereich und seine politisch-soziale Funktion: es sei ein notwendiges Korrektiv gegenüber den Gefahren des allgemeinen modernen Lebensprozesses, weil seine „lebendige Kraft“ im Organisieren und Umbilden allein den „Volksorganismus vor Erstarrung und endlichem Bruch“, vor Reaktion und Revolution also, bewahren könne20. 176

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Angesichts dieses Phänomens fragen wir: warum setzt sich das Vereinswesen im angegebenen Zeitraum durch und welche Bedeutung hat es für die Herausbildung der modernen Gesellschaft in Deutschland? Die Behandlung dieser Frage muß freilich, solange es nur sehr wenige moderne und ausreichende Untersuchungen über einzelne Vereinsgruppen gibt, ein Versuch bleiben; ich kann vorerst nur einige Überlegungen zu ausgewählten Problemen des ganzen Prozesses vorbringen.

II. Ursachen der Vereinsbildung; alte und moderne Welt Versucht man, die bekannten Motive der Vereinsgründungen und damit die ausgesprochenen Ziele der Vereine in unserem Zeitraum ganz generell zu erfassen, so lassen sich etwa vier Motiv- und Zielkomplexe, verschieden akzentuiert und vielfältig miteinander gekoppelt, unterscheiden. Dabei setzen Vereinsgründer und -mitglieder immer voraus, daß das Zusammenwirken vieler in einer Organisation dem Erreichen der gesetzten Ziele besonders dienlich sein werde. 1. Die Vereinsgründer möchten sich jenseits der Beschränkungen von Haus, Stand, Beruf und traditionellem Zeremoniell in freier Geselligkeit zu „vergnügter“ Unterhaltung zusammenfinden. Dieses Motiv spielt außer bei den zunächst im 18. Jahrhundert noch seltenen Gründungen rein geselliger Vereine auch bei der Entstehung von Lese- und Museumsgesellschaften, von wissenschaftlichen Vereinen, Musik- und Gesangvereinen und selbst von Berufsvereinen eine wesentliche Rolle21. Ja, bei einzelnen Vereinsgruppen - von den Freimaurern über die Burschenschaften bis zu den Gesellen- und Arbeiter-Assoziationen, aber auch bei Gesangvereinen oder Geschichtsvereinen22 - findet sich diese Intention gesteigert als Bedürfnis nach Intensivierung der mitmenschlichen Bindungen, nach Brüderlichkeit und Freundschaft, nach einem gemüthaften Zusammenhalt. 2. Die Vereinsmitglieder wollen und sollen sich untereinander „friedfertig“ belehren, um den „Bau der Menschheit“23 oder die „Glückseligkeit“ bei sich selbst zu fördern. Sie wollen sich bilden, und zwar in dem emphatischen Sinne, den der Begriff seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in Deutschland angenommen hat, zu neuen, vernünftigen und aufgeklärten Menschen, zu universaler Humanität. Sie wollen ein neues, weltbürgerliches oder nationales, aufgeklärtes oder idealistisches oder romantisches, liberales oder soziales Bewußtsein, eine neue Gesinnung bilden, sich darin bestärken und fortentwickeln. Das Verlangen, sich in einem kontinuierlichen und nie abzuschließenden dynamischen Prozeß zu bilden, ist, wie das neue Geselligkeitsbedürfnis, ein Novum, für dessen Befriedigung der Verein die organisatorische Voraussetzung schaffen soll. 3. Betrifft das Angebot von Geselligkeit und Bildung nur die Ziele der Vereinsmitglieder, die innerhalb des Vereins erreicht werden können, so setzen sich in der Anfangszeit fast alle und später immer noch sehr viele Vereine weitere 177 12 Nipperdey

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mehr oder weniger spezielle gesamtgesellschaftliche Zwecke, die über den Verein selbst hinausweisen. Diese Ziele lassen sich im allgemeinen unter den Begriffen des Gemeinwohls, des Gemeinnützigen oder des Politischen subsumieren - öffentliche Aufgaben, die bis dahin Obrigkeiten (als „Polizey“) und Korporationen wahrgenommen hatten oder hatten wahrnehmen sollen, neue Aufgaben von allgemeinem öffentlichen Interesse oder christliche Werke, die von der Kirche nicht oder anscheinend nur unzureichend getan wurden. Die Vereine wollten die allgemeinen, öffentlichen, gesellschaftlichen Zustände verändern und verbessern. Soweit sie der Aufklärung verpflichtet waren, sahen sie etwa ihre Aufgabe darin, nützliche Kenntnisse, wie sie u. a. von der Wissenschaft bereitgestellt wurden, zu verbreiten und zu popularisieren und auf das praktische Leben anzuwenden, um damit den gemeinen Nutzen und die Ausbreitung der Glückseligkeit zu fördern24. Eine derartige Aktivität diente gleichzeitig der Propagierung der eigenen Ideen und Wertvorstellungen, der „Mittheilung und Ausbreitung aufgeklärter Grundsätze und Erfahrungen... in anderweitige bürgerliche Verhältnisse“25. Ähnliches gilt auch für spätere Vereine, bei denen zum Beispiel die aufgeklärten Grundsätze durch die volkstümliche Bildung abgelöst wurden oder die gemeinnützige Zielsetzung, wie es bei den politischen Vereinen explizit geschah, in eine politische Zielsetzung überging. Als Grenzfall gehören schließlich auch die Motive der Interessenvertretung hierher; auch die so motivierten Vereine erstrebten eine Veränderung öffentlicher (rechtlichökonomisch-sozialer) Zustände oder die Abwehr solcher Veränderungen, freilich in einem durch Privatinteressen sehr spezialisierten Sinn. Doch ist darauf hinzuweisen, daß Vereine zur Vertretung von Gruppeninteressen sich erst allmählich, am Ende unseres Zeitraumes unter den Bedingungen einer freigesetzten und durch Konkurrenz bestimmten Wirtschaftsgesellschaft entwickelt haben. 4. Endlich gibt es Vereinsziele - und also Motivationen für Vereinsgründungen -, die weder mit dem Begriff der praktischen, pädagogischen oder politisch-sozialen Veränderung noch mit dem der Befriedigung von Geselligkeitsund Bildungsbedürfnissen zureichend beschrieben werden können. Musik-, Kunst- oder wissenschaftliche Vereine wollen - zumindest auch - ihrer Kunst oder ihrer Wissenschaft „dienen“. Hier wird nicht die Welt verändert und primär auch nicht die Persönlichkeit gelebt oder gebildet - so sehr Kultur und Bildung in einem Korrespondenzverhältnis stehen -, sondern es wird etwas Objektives und Allgemeines in einem sozialen Zusammenhang so manifestiert und repräsentiert, daß es in neuer Form existiert. Die hier genannten Motive der Vereinsbildung und die Bedürfnisse und Tendenzen, auf denen sie beruhten, waren offenbar neu und fanden in der herrschaftlich-korporativ organisierten alten Welt keine Erfüllung. Den neuen Bedürfnissen entsprach, so scheint es, der Verein als neuer Typus sozialer Organisation. Trifft diese Annahme zu, so mag eine Reflexion auf die Struktur der alten Welt und auf die neuen Tendenzen die Ursachen der Vereinsbildung und -entwicklung, die jenseits der bewußten Motive liegen, weiter aufhellen. 178

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Die alte Welt, von der sich die Assoziationsbildung abhebt, ist die Welt des „ganzen Hauses“, in die der Einzelne kraft Geburt und Stand eingegliedert ist und in der er die Fülle seiner sozialen Beziehungen lebt. Wo der Stand korporativ organisiert ist, ist die Zugehörigkeit des Hausvaters zur Korporation Pflicht und zugleich mit bestimmten Rechten verbunden. Die Korporation ist ein polyfunktionales, unspezifizierte Interessen bündelndes Gebilde, das den ganzen Lebenskreis des Menschen außerhalb von Haus und Kirche umspannt; die Wertorientierung der Korporation ist partikularistisch auf die Gruppe, nicht auf die ganze Gesellschaft bezogen26. Die Lebensinterpretation ist im wesentlichen der als Anstalt hierarchisch organisierten Kirche, der man von Geburt zugehört, überlassen; in ihr spielt das Gemeinde- oder Assoziationsprinzip, als die freie Initiative der Glieder, keine oder kaum eine Rolle. „Kultur“ ist noch nicht allgemein zugänglich, sondern mehr oder minder von bestimmten Gruppen monopolisiert. In erster Linie sind Kunst, Musik und Theater noch an ältere soziale Mächte, an Kirche und Hof und allenfalls den Adel, gebunden und haben da ihre repräsentativen (und kultischen) Funktionen; die Wissenschaft ist Sache des Gelehrtenstandes, der ständisch strukturierten Universitäten und der höfischen Akademien. Mit dem Öffentlichen, Allgemeinen befaßt sich, abgesehen von dem genau definierten Einflußbereich der Korporation, ausschließlich die Obrigkeit, ihr obliegt die Sorge für das Gemeinwohl27. Das Private ist vom Öffentlichen im wesentlichen getrennt, die Polarisierung beider Bereiche wird fixiert im Verhältnis von privatem und öffentlichem Recht. Der Privatmann fungiert innerhalb des politischen Verbandes nur als Objekt eines öffentlichen Handelns. Der Einzelne lebt also in dem durch Haus, Korporation, Kirchengemeinde und eventuell noch die Nachbarschaft strukturierten Lebenskreis. In diesem Lebenskreis nur gibt es die Möglichkeit von Initiative und Zwecksetzung, in ihm erfüllt sich von der Spinnstube bis zum Meisteressen das Bedürfnis nach Geselligkeit. In dieser Welt ist Sinn vornehmlich im Sinnenhaften präsent, Sitte und lang geübter Brauch, nicht Reflexion, bestimmen Auffassen und Verhalten; der Einzelne lebt und versteht sich in den Mustern der Tradition. Eine Diskrepanz zwischen seinem Selbstverständnis und dem seiner Gruppe, die ihn aus dieser heraustreten ließe, ihn individualisierte, ist nicht das Normale; er lebt mit seiner Gruppe konform28. Freie Assoziationen, Überbleibsel aus früheren Jahrhunderten oder Neubildungen, sind in dieser Welt Ausnahmen, zum Teil erstarrt und auf minimale Funktionen festgelegt29. Im Kreise des „Standes“, der am meisten aus dieser Welt herausragt, des Gelehrtenstandes, gibt es einzelne freie Assoziationen, wie die Sprachgesellschaften - oft nur als korrespondierende Gesellschaften -, deren Bedeutung aber im 18. Jahrhundert seit der Bildung der staatlich-höfischen Akademien ganz zurückgeht30. Die Studenten, unständisch Existierende in der ständischen Gesellschaft, bilden, etwa in den Landsmannschaften, sehr lockere Assoziationen. Hie und da entsteht eine bürgerliche Musikgesellschaft. Ein größeres Gewicht haben solche Bildungen nicht besessen. Allein die sozia179 12*

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len Neubildungen des Pietismus, die Konventikel, und des radikalen Pietismus, die philadelphischen Gesellschaften, können als Vorformen des modernen Assoziationswesens gelten: der Typ der Freiwilligkeitsgemeinde als Heiligungsgemeinde, bei der Wille und Erweckung, eine gegen Tradition und Konformität gerichtete Subjektivität jedenfalls zunächst Grund der Zugehörigkeit sind. Sie stellen einen ersten Ausbruch aus der durch Stand und Korporation, Amt und Obrigkeit bestimmten Welt dar. Eigentliche Assoziationen sind sie wegen ihres geringen Organisationsgrades und ihrer Beschränkung auf religiöse Andachten noch nicht; die Vereine aus pietistischem Geist sind erst sehr viel später, nach 1780, aufgrund englischer und wohl auch bürgerlich-säkularer Vorbilder begründet worden. Das Assoziationswesen, wie es sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland durchsetzte, war keineswegs Wiederbelebung einer Tradition, sondern ein Novum. Das neue Phänomen legt den Schluß nahe, daß die alte Welt mit Familie und Haus, Messe und Markt, Zunft und Rat, Kirche und - wieder erstarrenden - Konventikeln keinen Raum bot, um ein neues Bedürfnis, das sich bei alten und neuen sozialen Gruppen regte, das Bedürfnis nach geselliger, diskutierender Selbstverständigung und gemeinsamem Handeln zu erfüllen. Die überlieferten Ordnungen des Lebens und ihre sozialen Bindungen lockerten sich oder lösten sich auf, der Mensch fing an, sich von der Tradition zu lösen, von der Korporation und von der das Allgemeine monopolisierenden Obrigkeit; es begann der Prozeß der Individualisierung, Dekorporierung und Emanzipation. Das ist ebenso die Voraussetzung der Vereinsbildung, wie dieser Prozeß durch die Vereinsbildung befördert worden ist. Diese generelle Feststellung gilt es zu spezifizieren. Zunächst: Voraussetzung und Komplement der Vereinsbildung ist sozialwie geistesgeschichtlich gesehen ein neuer, auf Vernunft und Autonomie gegründeter Individualismus, ist die Tatsache, daß der Mensch sein Leben nicht mehr traditionsgeleitet in seinem Geburtsstand hat, sondern innengeleitet einen „persönlichen Stand“ aus Bildung und Leistung gewinnt31. Es ist das Individuum, das gegen die Bindungen von Haus, Korporation und Herrschaft und gegen die statisch gewordene Tradition Anspruch auf einen Raum der freien Initiative und Betätigung erhebt, das Zwecke frei setzen und sich mit anderen zu solchen frei gesetzten Zwecken verbinden kann, das ein neues soziales Bedürfnis entwickelt - das Bedürfnis nach individuellem Zusammenschluß mit anderen zu Geselligkeit und Freundschaft. Der Individualismus also ist die Voraussetzung der Assoziation. Die Assoziation ergibt sich nicht wie die Korporation aus quasi natürlichen Ordnungen, sondern beruht auf der Freiheit des auf sich selbst gestellten Menschen. Für ihn soll Assoziation an Stelle von Korporation treten. Für das Verhältnis von Individualisierung und Assoziationsbildurig ist, so scheint mir, noch ein weiterer Gesichtspunkt wichtig. Der Mensch, der aus den sehr konkreten und begrenzten sozialen Gebilden der Traditionswelt heraustrat, geriet, von seiner Herkunftswelt gelöst, in eine gewisse Isolierung; er 180

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orientierte sich zumeist neu an großen und abstrakten Gruppen, denen er sich zugehörig fühlte und die seine Loyalität beanspruchten, die ihm Selbstgewißheit und Identifikationsmöglichkeit boten: an der Menschheit, der Nation, den Gebildeten, den Aufgeklärten, den Gleichgesinnten. Diese Gruppen waren nicht unmittelbar, nicht gegenwärtig. Erst in den neuen, an einem überindividuellen Zweck und an solchen Großgruppen orientierten Vereinen gewannen sie Konkretion, insofern vermittelten die Vereine zwischen der Nähe der alten und der Ferne der neuen Orientierungsgruppen und stellten anschauliche soziale Beziehungen freier Individuen her32. Individualistisch waren auch die Organisationsprinzipien des Vereins: die Freiheit, einem Verein aus persönlichem Willen und aufgrund persönlicher Eigenschaften beizutreten, und die Freiheit, wieder auszutreten, die Tatsache, daß, in gewissem Grade jedenfalls, die Vereine zur Disposition der Mitglieder gestellt und den sich ändernden Interessen der Individuen angepaßt werden können, also die Elastizität der Organisation, die der Mobilität moderner Individuen entspricht, und schließlich die gegenüber der Korporation geringere Intensität der Zugehörigkeit, die dem Individuum mehr Freiheit ließ. Sodann: Voraussetzung und Komplement der Vereinsbildung ist ein Vorgang, den wir als Individualisierung und Verbürgerlichung der Kultur bezeichnen können. Kunst und Wissenschaft werden aus festgelegten Funktionen in einer ständisch-hierarchischen Gesellschaft herausgelöst und damit freigesetzt und grundsätzlich allgemein zugänglich33 ,die Diskussion der Welt- und Lebensinterpretation wird von den Theologen- und Amtskirchen und den ständischen gelehrten Institutionen abgelöst und durch Nichtbeamtete, durch Laien, aufgenommen. In diesem Prozeß wird Kultur zum Gegenstand eines allgemeinen Interesses von Privatleuten. Es bildet sich ein Publikum34, das die bisher spezialisierte und monopolisierte Beschäftigung mit Kultur für sich und seine Initiative beansprucht, das sich informiert, das Kunst und Wissenschaft und insbesondere Probleme der Welt- und Lebensinterpretation, der Lebenspraxis und der Gesellschaft zuerst im Medium von Literatur, Religionskritik und Philosophie und dann auch direkt diskutiert. Diese Diskussionen erweisen die Selbständigkeit der diskutierenden Personen ebenso, wie sie sie befördern. Für das entstehende rege Diskussions- und Informationsbedürfnis des Publikums und den damit aufkommenden bürgerlichen Kunst- und Wissenschaftsbetrieb bedurfte es neuer, und zwar überprivater, öffentlicher oder quasi-öffentlicher Orte: einer davon wurde der Verein. Weiterhin gehört zu den Voraussetzungen und Komplementen der Vereinsbildung der in der Aufklärung entstehende bürgerliche Glaube an den Fortschritt, an die grundsätzliche Verbesserung der Institutionen und der Zustände, an die Höherentwicklung des Menschen durch Freiheit und Bildung; erst jetzt wird Sich-Bilden über alle Ausbildung hinaus als ein dynamischer und nie abzuschließender Prozeß zu einem wesentlichen Ziel des bürgerlichen Lebens. Auch wenn das spezifisch aufklärerische direkte Anstreben eines Fortschrittes später in den Vereinen fehlen mochte, so blieb der Bezug zur Veränderung und 181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Veränderbarkeit der Welt und des Menschen doch die implizite Voraussetzung aller zweckgerichteten Vereine. Auch ein Geschichtsverein wollte den Sinn für das Vergangene gerade im Hinblick auf die Modernisierung der Welt erhalten oder pflegen. Die Elastizität der Vereinsstruktur ermöglichte die Anpassung der Vereine an die Dynamik der modernen gesellschaftlichen Prozesse, in die die Individuen sich planend oder ungewollt verstrickten. Als in der späteren Phase unseres Zeitraumes die Mobilität der Gesellschaft zunahm, bestehende Unterschiede eingeebnet und neue geschaffen wurden, korrespondierte gerade die Vielfalt der Vereine der Vielfalt der sich bildenden und wechselnden Gruppen und ihrer Interessen. Sodann: die Assoziationen zielten auf öffentliche Wirkung, aufs gemeine Wohl; sie beanspruchten Tätigkeitsbereiche, die bis dahin älteren Mächten, zumal dem Staate, vorbehalten waren. Die Assoziationsbildung korrespondierte einer beginnenden Emanzipation vom obrigkeitlichen Staat. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß der Staat seit dem aufgeklärten Absolutismus selbst es gewesen ist, der eine Reihe von Voraussetzungen für die Assoziationsbildung geschaffen und diese damit befördert hat. Indem der Staat die Vereinheitlichung der Untertanenschaft vorantrieb und bis zu einem gewissen Grade die Rechtsgleichheit der Individuen durchsetzte, indem er Korporationen zurückdrängte und in der Reformzeit - wenigstens in Preußen - aufhob, förderte er den Individualisierungsprozeß und damit die Tendenz zur Assoziation. Die strikte Trennung von privatem und öffentlichem Recht ermöglichte darüber hinaus die freie und assoziative, nichtkorporative Organisation der Individuen, und in Preußen gewährte der Wegfall des Genehmigungsvorbehalts im Allgemeinen Landrecht den Assoziationen einen wenn auch beschränkten rechtlichen Entfaltungsraum. Zusammenfassend ergibt sich die Hypothese: das Aufkommen des Vereinswesens und das Aufkommen der Welt des persönlichen Standes sind korrespondierende Phänomene; der Verein ist weder einfach Folge noch einfach Ursache der bürgerlichen Gesellschaft, aber er ist eines ihrer Elemente, ein Symptom für ihren Aufstieg und gerade in den Anfängen ein Faktor, der die weitere Ausbildung dieser Gesellschaft begünstigt und beschleunigt hat. Die Frage nach den ökonomischen, sozialen, politischen und geistig-religiösen Ursachen für diese Entwicklung und ihre Besonderheiten in Deutschland muß in unserem Zusammenhang beiseite gelassen werden. Für die Frühphase der Assoziationsbildung spielen ökonomische Ursachen keine erhebliche Rolle. Die ersten Assoziationen sind durchweg „Assoziationen für ideale Zwecke“35, die aus einem neuen Selbstverständnis der Aufklärung und neuen kulturellen, gesellschaftlichen und praktischen Ansprüchen entstehen, und dieses neue Selbstverständnis kann in Deutschland einstweilen nicht ökonomisch erklärt werden, so gewiß ökonomische Faktoren bei der Herausbildung einer Schicht der Intelligenz mitspielen. Erst als Dekorporierung und Mobilisierung die Gesellschaft schon verändert hatten, im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, wurden ökonomische Faktoren für die Vereinsbildung primär wichtig. 182

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Die These von der Korrespondenz von Vereinswesen und bürgerlicher Welt, vom Vereinswesen als einem Element der bürgerlichen Gesellschaft, bleibt freilich eine Hypothese. In England steht das Assoziationswesen offenbar in einer langen Tradition, die in die vormoderne Welt zurückreicht. Eine Reihe von Theoretikern, die den Aufstieg der bürgerlichen Welt reflektieren, Rousseau und viele der Protagonisten der französischen Revolution, Kant und Fichte zumal, stehen negativ zum Vereinswesen; die Vereinigungsfreiheit gehört nicht zu den klassischen Grundrechten der französischen Revolution. Die Entwicklung des Assoziationswesens in Frankreich ist, wie es scheint, anders als in Deutschland verlaufen; die Assoziationen haben dort nicht dieselbe Bedeutung gehabt wie in Deutschland. Die Beziehungen zwischen bürgerlicher Gesellschaft, Vereinswesen und Staat sind, wie wir sehen werden, sehr viel komplizierter, als daß man sie mit einer simplen Zuordnung von Verein und Gesellschaft beschreiben könnte. In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts organisieren sich auch nicht-„bürgerliche“ Gruppen - kirchliche, konservative und zumal proletarische - in der Form von Vereinen. Trotz solcher Einwände drängt sich aber die Interdependenz von Vereinswesen und bürgerlicher Gesellschaft dem Beobachter auf. Ich versuche im folgenden, drei Zusammenhänge, die mir an dem Phänomen Vereinswesen für eine Strukturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, also der bürgerlichen Gesellschaft, wichtig scheinen, näher ins Auge zu fassen. Damit wird zugleich versucht, die oben genannte Hypothese und ihre Problematik weiter zu differenzieren und zu klären.

III. Verein, Stand und Klasse Zunächst wende ich mich dem Verhältnis von Verein, Stand und Klasse zu und damit der Rolle des Vereins im Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft. Die Schicht, die in Deutschland die Assoziationsbildung in Gang gebracht und zunächst getragen hat, war das aufgeklärte Bürgertum, die schmale Schicht der Gebildeten, der vom traditionellen Bürgertum unterschiedenen „Bürgerlichen“36. Die Aristokratie hatte es, weil sie familiär, korporativ, höfisch und militärisch genügend untereinander verbunden war, nicht nötig, eigene Adelsassoziationen zu bilden; ein Bedürfnis, sich mit Bürgern zu assoziieren, bestand nicht: Der Adel lebte selbstverständlich im eigenen Stand. Assoziationen also bildeten die Bürgerlichen, und zwar Assoziationen, die in Intention und Praxis ausdrücklich gegen das Prinzip der Ständeordnung gerichtet waren. Für den aufgeklärten „bürgerlichen Menschen“ war allein die Unterscheidung zwischen Aufgeklärten und Nichtaufgeklärten maßgebend. Allein das Aufgeklärtsein definierte den Menschen, der „dazugehörte“, der zählte37. Darin war zunächst das gegen die Unterscheidung nach Ständen gerichtete Pathos der bürgerlichen Schicht begründet. Grundsätzlich galt für jede Assoziation das 183

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Prinzip der Beitrittsfreiheit, das Prinzip, daß jeder dazugehören konnte, zwar aufgrund bestimmter Voraussetzungen der Bildung und Leistung, aber eben unabhängig von Geburt und Stand. Für die Kooperation und Diskussion unter den Mitgliedern einer Assoziation war daher nicht der gesellschaftliche Status, sondern das „bloß Menschliche“ entscheidend38. Diese neue Bestimmung von sozialer Zugehörigkeit und sozialem Rang richtete sich zunächst gegen die ständisch abgesonderte und privilegierte Aristokratie und hatte insofern einen revolutionären Zug, wenngleich auch bürgerlicher Aufstiegsdrang und der Wunsch nach Geltung innerhalb einer adligen Gesellschaft mitspielen mochten. Wo sich in Assoziationen Aristokraten auf den neuen Boden von Humanität und Bildung gleichrangig und gemeinsam mit Bürgerlichen stellten und also das bürgerliche Wertsystem übernahmen, da muß man zunächst von einem Sieg des Bürgertums sprechen. Unter diesem Aspekt gewinnen die Freimaurerlogen ihre Bedeutung, die als erste große Assoziationen Bürgertum und Adel vereinen39. Von Ethos und Telos einer neuen Humanität her verstehen sich die Ordensangehörigen als Menschen; sie nennen sich emphatisch und zeremoniell Brüder und wollen damit in ihrem Kreise die künftige Gesellschaft antizipieren. Auch die für die Spätaufklärung eigentlich charakteristischen literarisch-ästhetisch oder wissenschaftsbestimmten Gesellschaften vereinen Bürger und Adlige. Die in diesen Gesellschaften gepflogene Diskussion, die das aristokratisch-höfische und kirchliche Quasi-Monopol für Kultur aufhob, war zwar eines der Medien, in denen sich das Bürgertum vom Adel löste, ermöglichte zugleich aber eine Vermittlung zwischen gebildetem, politisch meist einflußlos gewordenen Adel und gebildetem Bürgertum. In diesen Vereinen hatte sich ein adliges Mitglied dem selbstverständlich gewordenen bürgerlichen Umgangsstil und der bürgerlichen Moral der Gleichheit anzupassen40. Auch auf den Bereich der philosophisch-politischen und politisch-praktischen Diskussion hat sich diese überständische Kooperation ausgedehnt; man denke etwa an die Berliner Mittwocrisgesellschaft oder an den Tugendbund, in dem adlige und bürgerliche Offiziere, Beamte und Literaten zusammenarbeiteten. Ähnliches gilt für die wichtigste Gruppe der praktisch gerichteten Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, die landwirtschaftlichen und ökonomischen Gesellschaften, in denen im Zeichen einer „rationellen Landwirtschaft“ adlige Gutsbesitzer, bürgerliche Domänenpächter, Pfarrer und bürgerliche Beamte zusammen wirkten. Natürlich fand sich in den Vereinen, von der Ausnahme des Pietismus abgesehen, im wesentlichen die Schicht der Bürgerlichen, die sich aus Beamtenschaft und akademisch Gebildeten rekrutierte, mit dem Adel zusammen, also die neu sich bildende Oberschicht, die für den bürokratisch-monarchischen Staat des frühen 19. Jahrhunderts charakteristisch wurde. Freilich, die egalisierende, das Verhältnis von Bürgertum und Adel objektiv revolutionierende Wirkung des Assoziationswesens hat sich nach 1815 abgeschwächt. Selbst wo, wie in landwirtschaftlichen und kirchlichen Vereinen, die Kooperation des Adels mit den Bürgerlichen üblich wurde, entsprang sie auf die Dauer mehr einer adligen 184

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Pflicht denn einem neuen Selbstverständnis. Die soziale und politische Machtstellung des Adels befestigte sich neu, und das beeinflußte auch die Verhaltensweisen. Die partielle Kooperation zwischen Adel und Bürgertum, die - nach englischem Modell - zu einer ständigen Erneuerung des Adels hätte führen können, kam letzten Endes eher einer Feudalisierung der bürgerlichen Oberschicht zugute. Immerhin aber trug das Vereinswesen entscheidend dazu bei, daß der Adel in die bürgerlich-staatsbürgerliche Gesellschaft eingebürgert wurde und sich - in einem beachtlichem Maße - eben „verbürgerlichte“41. Eine andere, ebenfalls gegen das ständische Wesen gerichtete Tendenz der Assoziationen ist noch geschichtsmächtiger geworden. Indem nämlich die Bürger aus allen ständischen Gruppen, aus den verschiedenen Berufen, aus den wirtschaftlich tätigen wie den akademisch-gelehrten, beamteten wie freiberuflichen Kreisen, aus Bürgerlichen und Bürgern, in den Vereinen zusammentrafen, konnte sich das neue Bürgertum konstituieren. Aus einem objektiven, rechtlichsozialen und - von wenigen freien Städten abgesehen - abstrakten Begriff Bürgertum wurde in den Vereinen eine unmittelbar lebendige, konkrete Wirklichkeit: Hier zuerst bildeten sich gemeinbürgerliche Lebensformen42. Daß die innerhalb eines Vereins praktizierte gesellschaftliche Gleichheit integrierend für die Gesamtgesellschaft, eben im Sinne einer neuen gemeinbürgerlichen Schicht wirkte, ist nicht nur Feststellung des nachgeborenen Historikers, sondern war die Überzeugung schon der Zeitgenossen. In allen Berichten über Vereinsgründungen und Vereinstätigkeiten, zumal der Frühzeit, wird betont, daß hier Menschen verschiedener Stände und Berufe, verschiedener sozialer Gruppen, verschiedener Klassen, verschiedener Erfahrungen und Weltkenntnis zusammenkamen, und darin wurde der besondere Wert dieser Vereinigungen gesehen. Man wollte durch „eine nähere Verbindung einsichtsvoller Männer von verschiedenem Stand, Alter und Beruf ein genaueres Band der Freundschaft, des Patriotismus, der gegenseitigen Mitteilungen nützlicher Kenntnisse und Erfahrungen knüpfen“, eine Vereinigung „aus gebildeten Männern und Frauen der gelehrten sowohl als der kaufmännischen Klasse“ bilden und Gäste aus Wissenschaft und Kunst und Handwerk zuziehen43. Von einer 1800-02 geplanten Gesellschaft heißt es, in ihr dürfe „nach den Gesetzen der vernünftigen Freiheit und Gleichheit. . . kein Rang, keine Würde, kein Stand gelte[n], aber Humanität und Urbanität [sollten] ihre Hausgötter“ sein44. W. Roeßler45 hat aus Varnhagen von Ense für das, was hier erstrebt und als neue Lebensform realisiert wurde, den Begriff der „arbeitenden Geselligkeit“ erhoben, das heißt den Austausch von Welt- und Lebenserfahrung und -kenntnis aus verschiedenen Lebenskreisen, um sich gegenseitig zu belehren, einen universaleren Standpunkt zu vermitteln, die Verschiedenheiten der ständischen und beruflichen Gruppen auszugleichen. In einem an solchen Vorstellungen orientierten Verein wachsen die Mitglieder als Gebildete, als Patrioten, als an praktischen Aufgaben und gemeinsamen Zielen gleichermaßen Interessierte zu einer gemeinsamen Gruppe zusammen. Auch wo die Zwecke eines Vereins spezieller sind, wo also ζ. Β. Kunst- oder Altertumsfreunde oder die Förderer des 185

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Gewerbes sich organisieren, ist die Wirkung die gleiche: das Zusammenwachsen verschiedener Gruppen und die Bildung eines gemeinsamen Bewußtseins. Ja auch dort, wo das Ziel eines Vereins nicht arbeitende Geselligkeit, sondern vielmehr zweckfreie, spielerische, müßige Geselligkeit war, strebte man die Mischung unterschiedlicher Gruppen an46. Haben die beiden beschriebenen Tendenzen, die antiaristokratische und die gemeinbürgerliche, einen in gewisser Weise egalitären Zug, so ist auf der anderen Seite ein elitärer Zug im Prozeß der Vereinsentwicklung nicht zu verkennen. Die ersten Vereinsgründer entstammen zunächst der schmalen Schicht derer, die von der Aufklärung erfaßt waren. Da die Voraussetzung der Mitgliedschaft Bildung und Bildungsinteresse war, blieb der Kreis der möglichen Zugehörigen beschränkt. Vernunftbildung war der Ausweis einer neuen Elite. Der Idee nach war damit keine Beschränkung, keine Klassenbindung gesetzt, denn Bildung war prinzipiell jedermann zugänglich und insofern etwas Allgemeines. Der Verein blieb Verein des allgemeinen Standes. Aber faktisch waren sehr viele ältere Vereine auf eine, wenn auch unabgeschlossene bürgerliche Oberschicht beschränkt47. Die ständische Differenzierung wurde durch die neue Bildungsdifferenzierung ersetzt, und diese Differenzierung wurde im frühen 19. Jahrhundert offenbar bewußt festgehalten. Das Interesse der Mitglieder konsolidierter Vereine, sofern sie eine intensivere Gemeinsamkeit, wöchentliche oder monatliche Zusammenkünfte, pflegten, war, insbesondere bei den allgemein gerichteten Vereinen, selbstverständlich auf eine bestimmte Homogenität des Lebensstils, auf einen bestimmten, an soziale Voraussetzungen gebundenen „Ton“ gerichtet; man wollte unter sich, unter seinesgleichen sein. Mitgliedsbeiträge in bestimmter Höhe und das System der Aufnahme von Mitgliedern etwa über Empfehlungen und Ballotage - waren geeignet, diese Homogenität zu sichern. Das schränkte zwar das Prinzip der Assoziation, die Freiheit zum Beitritt, nicht grundsätzlich, wohl aber praktisch erheblich ein. Wo solche Exklusivität in einem Verein Platz griff, kam es, zumal in größeren Städten, zu Neugründungen von Vereinen ähnlichen oder gleichen Typs, und zwar vor allem bei allgemeinen Geselligkeits- und Bildungsvereinen wie den Museumsund Harmonievereinen48. Es gibt die Vermutung, daß der Typ der Museumsvereine mit ihrem ausgeprägten Bildungsanspruch ebenso wie jener der Casinovereine mehr der Oberschicht, der Typ der stärker geselligen Harmonievereine mehr der Mittelschicht ensprachen49. Eine Reihe von Vereinen stand nur Schichten mit spezifischen Bildungsvoraussetzungen offen, andere, wie die Sozial- und die Wohlfahrtsvereine, waren von Mitgliedern mit bestimmtem Besitz und Einkommen abhängig, wieder andere, wie die zwar sozial sehr gemischt zusammengesetzten wirtschaftspädagogisch orientierten Vereine, durch ein zunächst fast selbstverständliches Gefalle zwischen den Beamten und Lehrern und den in der Produktion Tätigen differenziert. Im Vereinswesen setzte sich, kann man zusammenfassend sagen, entsprechend der Entwicklung einer durch Besitz und Bildung strukturierten Klassengesellschaft eine gewisse Klassenschichtung, zumal zwischen dem Groß- und Bildungsbürgertum und dem 186

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Kleinbürgertum, durch und veränderte den ursprünglich gemeinbürgerlichen Anspruch und die gemeinbürgerliche Funktion der Vereine. Neben dieser - gelegentlich elitären - Tendenz zur Klassendifferenzierung standen freilich „demokratische“ Tendenzen im Vereinswesen, die solche Klassenschranken nicht beachteten oder sich bewußt gegen sie richteten oder die sich prononciert gegen eine Oberklasse kehrten. Schon die Lesegesellschaften und andere Bildungsvereine am Vorabend und während der französischen Revolution haben Handwerker zu Mitgliedern gehabt50. Die Turner wollten eine national-demokratische, alle Volksschichten umfassende egalitäre Bewegung sein, was sie mit der Gleichheit der besonderen Kleidung und der allgemeinen Anredeform des „Du“ zu akzentuieren suchten; freilich zählten vor 1819 im wesentlichen doch nur Akademiker, Studenten und Schüler zu ihrem Kreis. Auch die Gruppe der pietistischen Vereine, zumal der Missionsvereine, verband Angehörige aller Schichten. Vor allem und weit über diese Ansätze hinaus sind es dann seit den 20er Jahren die Gesang- und besonders die Männergesangvereine gewesen51, die im Sinne eines volkstümlichen Liberalismus bewußt alle Kreise des Volkes und neben den Missionsvereinen - zum erstenmal auch das Volk in den ländlichen Gegenden zu einer Art demokratischer Geselligkeit zusammenführten und zusammenschlossen52. Im Medium der Musik trafen sich alle Schichten, und das Zusammenwirken im Verein war keineswegs auf das Musikalische beschränkt, sondern wurde bewußt auf das allgemeine, gesellige und politische Leben ausgedehnt. So konnten die großen Feste der Sänger zu Demonstrationen des liberal begriffenen ganzen Volkes ohne Standes- und Klassenschranken werden, und gerade das wurde auf diesen Festen betont. „Keine Standesschranken sollen im Kreise der Sänger trennen“, hieß es 1827 auf dem ersten, dem Plochinger Liederfest53, und 1845 in Eckernförde werden wieder „alle Stände“ apostrophiert, „durch keine Form und Etikette getrennt, der Städter bei dem Landmann und zwischen beiden der Edelmann . . . Vornehm und Gering, Beamte und Untergebene“54, und Eiben, der zeitgenössische Historiograph, hebt neben dem nationalpolitischen gerade diesen gesellschaftlich-geselligen, volkstümlichen, das heißt das ganze Volk umgreifenden Charakter der Vereine hervor. Auch die um 1840 (neu)gegründeten Turnvereine erfaßten, zumal in Süddeutschland und in Sachsen, handwerkliche, untere, „kleinbürgerliche“ Schichten; sie entwickelten sich zu volkstümlichen Organisationen, teils mit gesamtbürgerlichem, teils mit kleinbürgerlichem Charakter. Ähnliches gilt wohl für die neubelebten Schützenvereine55. In den 40er Jahren kann man allgemein eine Welle der „Demokratisierung“ bemerken: das Vereinswesen, von der Oberschicht inauguriert, hatte sich ungeheuer ausgebreitet und war damit populär geworden. Alle Volksteile fanden in den Vereinen ein Feld der Aktivität. Ältere Vereine betonten generell ihre Offenheit für Beitrittswillige aus allen Schichten und die in ihrem Kreis herrschende Gleichheit56. Neue, meist halbpolitische Gründungen, zumal der radikaleren Richtung, wie die Bürgervereine oder Robert Blums Sächsischer 187

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Vaterlandsverein, wandten sich an alle sozialen Schichten. Zum Teil gaben diese Vereine den gesamtbürgerlichen Anspruch auf, um statt dessen als gegen die besitzende und gebildete Oberschicht gerichtete Assoziationen den Unterschichten die Möglichkeit zur Artikulation und gegenseitiger Verständigung zu bieten. Unter dem Einfluß radikaler Intellektueller wurden die Vereine dergestalt zu Instrumenten gegen die vorgebliche Exklusivität einer bürgerlichen Oberschicht. Die demokratisch-egalitäre Tendenz im Vereinswesen konnte also im liberalen Sinne das ganze Volk, d. h. vornehmlich die Selbständigen, die Besitzer und Kleinbesitzer, als auch im radikalen Sinne gerade das niedere Volk meinen und betreffen. Wie sich in den Vereinen der 40erJahre die konträren Tendenzen zur Schichtendistanzierung oder zur Schichtenintegration und Schichtensolidarität zueinander verhalten, wird sich erst durch weitere Forschung klären lassen. Für die Analyse der Wechselbeziehung von politischem und sozialem Verhalten, etwa in der Revolution von 1848, wären die Ergebnisse solcher Forschungen von großer Bedeutung. In diesen doppelten Zusammenhang gehört auch die Bildung der Arbeitervereine. Die Liberalen wollten, soweit sie sich überhaupt damit beschäftigten, die soziale Frage durch die Bildung von Assoziationen lösen, und auch Konservative, wie V. A. Huber und Stahl, und katholische Theoretiker, wie Baader, Buß und Kolping, hatten ähnliche Vorstellungen, obwohl sich in ihre Assoziationsideen viele korporative Elemente einmengen. Assoziation oder „Vergesellschaftung zur gegenseitigen Hilfeleistung“57, das war das Rezept, das Heilmittel angesichts der Probleme des Pauperismus und des Proletariats. „Das Vereinswesen ist die wahre Schule des Gemeinsinnes, es ist das Heilmittel, das uns die Geschichte darbietet, um im freien Sinne unserer Tage die Schäden zu bessern, die Lücken auszufüllen, die unsere gesellschaftliche Organisation ohne Zweifel dadurch erlitten hat, daß Standesunterschiede und Korporationen von der französischen Revolution als zu durchgreifend hinweggeschwemmt worden sind. Das also ist es, was wir wünschen: daß ein neuer Stand der Arbeiter aus dem Proletariat auf dem Wege der Vereine sich bilden möge“, so schreibt J . Fallati 184458. F. Harkort hat dieses Programm am weitesten ausgebaut und am kräftigsten vertreten; Vereine, „von der Wiege bis zur Bahre“59, sollten das Leben der Arbeiter begleiten und es menschenwürdig machen. Das Assoziationsprinzip, das den Aufstieg der liberalen Gesellschaft gegen die korporativ-obrigkeitliche Gesellschaft begleitet und mitgetragen hatte, sollte nun auch das Prinzip sein, mit dem man die aus dieser Gesellschaft selbst entstehenden sozialen Schwierigkeiten, Widersprüche und Nöte meistern konnte, sollte das Prinzip der Selbstheilung der Gesellschaft sein. Der Grundsatz der individuellen, der privaten Selbsthilfe konnte, so glaubte man, durch assoziative, genossenschaftlich organisierte Selbsthilfe auch auf nichtkapitalistische Schichten übertragen werden und dadurch auch dem ökonomisch und sozial Schwachen die Vorteile der liberalen Gesellschaft bieten, die Wahrung seiner Freiheit ermöglichen und seine Vereinzelung und Ohnmacht überwinden. 188

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Das Ziel der Theoretiker war es dabei, die Handwerksgesellen und die entstehende Arbeiterschaft durch eigene Organisationen in die liberale Gesellschaft einzugliedern. Im Glauben an die Harmonie der wohlverstandenen Klasseninteressen konnten sie auf eine Lösung der sozialen Frage hoffen, wenn es gelang, das Proletariat zu entproletarisieren, zu einem neuen Stand, dem Arbeiterstand, zu machen. Zur Realisierung dieser Ideen wurden Organisationen gegründet, die Bürger mit Arbeitern und Handwerksgesellen zusammenschlossen. So wünschte etwa der „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“, jedenfalls in seiner Ortsgruppe in Köln, in der die liberalen Kaufleute und Unternehmer mit den junghegelianischen Intellektuellen der Rheinischen Zeitung zusammenarbeiteten, die Mitgliedschaft und Mitarbeit von Arbeitern im Verein als ein Mittel zur Mischung der Klassen und zum Ausgleich der Stände60. Vor allem gründete man Arbeiter- und Handwerker- (Gesellen-)Vereine, die der Organisation, der Bildung und Selbsthilfe dieser Gruppen dienen sollten und in denen Bürger - Professoren, Beamte und Lehrer - mitarbeiteten61. Radikalere bürgerliche Gruppen, wie ζ. Β. in Berlin Advokaten und Litera­ ten, versuchten dagegen, die Kräfte der Unterschichten gerade gegen die bürgerlich-liberale Gesellschaft zu mobilisieren, und das kam Tendenzen entgegen, die in diesen Schichten selbst entstanden. Denn der Versuch der Liberalen, sich mit der neu entstehenden Klasse zu verbinden, sie durch Organisation zu stärken und in die bürgerlich-liberale Gesellschaft zu integrieren, führte zu einer artikulierten Selbständigkeit der neuen Klasse, die anfing, sich gegen die Liberalen und ihre Ideologie der Klassenharmonie zu wenden, führte dazu, daß die Organisationen von Handwerksgesellen und Arbeitern Organisationen zur Emanzipation dieser Schichten wurden62. Der Verein sollte in diesem Sinne nicht mehr die Gegensätze der entstehenden Klassen ausgleichen, wie es das Ziel der Liberalen war, sondern er sollte diese Klassen gerade organisieren. Die Entwicklung der Klassengesellschaft schien eine neue Klasse notwendig zur Selbstbehauptung und Emanzipation durch Vereins- oder „Assoziations“-bildung zu drängen. Dabei blieb in diesen neuen „demokratischen“ Klassenorganisationen freilich eine besondere Form der klassenübergreifenden Kooperation erhalten, nämlich die zwischen Arbeitern und bürgerlichen Intellektuellen. Die Bedeutung des Vereinswesens für die soziale Schichtung ist schließlich noch unter einem weiteren Gesichtspunkt zu betrachten, den wir hier freilich nur gerade andeuten können. Allem Anschein nach hatte die Vereinstätigkeit Einfluß auf den sozialen Rang, den Bürger im öffentlichen Leben einnahmen. Die Vermutung liegt nahe, daß die Schicht des Bürgertums, die später in Selbstverwaltung und Politik eine Rolle gespielt hat, die Fähigkeit dazu in aktiver Tätigkeit in Vereinen, zumal in Vereinsvorständen, ausgebildet hat. So gehören etwa die Stadtverordneten in Bielefeld, einer der wenigen daraufhin untersuchten Städte, in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei ihrer Kandidatur schon in der Regel bestimmten Vereinen und deren Vorständen an63. Die Vereine scheinen die Basis für die Bildung einer politisch aktiven und führenden Schicht innerhalb des Bürgertums zu sein. 189

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Im ganzen: die Vereine haben am Prozeß der Dekorporierung und Verbürgerlichung der Gesellschaft, ja, an der Konstituierung eines neuen Bürgertums wesentlich mitgewirkt. In und mit den Vereinen hat sich dann eine neue Differenzierung nach vornehmlich durch Bildung bestimmten Schichten durchgesetzt. Im Zuge der Ausbildung der Markt- und Klassengesellschaft wurden zugleich nichtbürgerliche Schichten zu eigener Assoziationsbildung veranlaßt. Parallel zu diesem Differenzierungsprozeß zielt aber eine in den 40er Jahren besonders ausgeprägte demokratische und sozial-liberale Tendenz darauf ab, Einheitlichkeit und Harmonie des Volkes auch in den Vereinen als klassenübergreifenden Organisationen zu realisieren. Unter diesem Aspekt gehören die Vereine in den Prozeß von Aufstieg und Differenzierung der bürgerlichen Gesellschaft.

IV. Spezialisierung und Entpartikularisierung Wir wenden uns zweitens einem auffallenden Phänomen in der Geschichte des Vereinswesens zu, dem Prozeß der Spezialisierung, der wiederum für die Entfaltung der bürgerlichen Welt charakteristisch ist. Die frühen Vereine sind in der Regel wenig spezialisiert, es überwiegt der Typ des allgemeinen Vereins, so etwa der Lesegesellschaft und der Patriotischen Gesellschaft oder der Freimaurerloge. Die Motive und Zwecke der Vereine sind zwar nicht mehr wie bei den Korporationen im wesentlichen unspezifiziert, aber sie sind doch noch auf das Allgemeine des Lebens gerichtet. Die Bildung wird üblicherweise unspezialisiert verstanden, sie ist Selbstverständigung im Medium der neu ergriffenen Kultur. Bei den praktischen Zielsetzungen findet sich - wie bei den Patriotischen Gesellschaften - zumeist eine Mehrzahl von Zwecken. Bildung, Pflege der Wissenschaft, Geselligkeit und gemeinnützige Praxis hängen zunächst direkt oder indirekt fast immer zusammen: gerade in der Intention auf Volksbildung, die den aufgeklärten Assoziationen gemein ist, kommen die kulturellen, pädagogischen und praktischen Absichten, Kenntnis und nützliche Anwendung überein64. Charakteristisch für das wenig spezialisierte Vereinswesen und die Tatsache, daß Vereine oft mehrere Aufgaben und Interessen verbanden, ist es, daß vielfach ein „und“ oder ein Bindestrich oder ein Kollektivum im Namen der Assoziationen vorkommen. Ich gebe einige Beispiele: die „naturforschende und Industriegesellschaft“ in Schlesien von 1803, die seit 1810 elf Sektionen für verschiedene Wissenschaften, Künste und Technik hatte und sowohl Kunst- wie Industrieausstellungen veranstaltete65; die „Κ. Κ. Mährisch-Schlesische Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaus, der Natur- und Landeskunde“ oder die „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften“ von 1779, die die Beschäftigung mit Geschichte, Naturwissenschaften und gewerblicher wie landwirtschaftlicher Technik in sich vereinte66, der „Verein für vaterländische Industrie 190

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und Geschichte“ in der Altmark (1836) oder der „Verein für Cultur, Gewerbe und Sittlichkeit“ in Ahaus/Westfalen (1836), die für alle Wissenschaften zuständigen „Philomatischen Gesellschaften“ in Berlin und Breslau67, die „Gesellschaft für Nützliche Forschungen“ in Trier68, die Philosophisch-Medizinischen Gesellschaften, die Gesellschaften für Geschichte und Naturgeschichte, für Erforschung des vaterländischen Altertums und Bewahrung der vaterländischen Altertümer69, oder eine Vereinigung wie der Tugendbund, der sich „SittlichWissenschaftlicher Verein“ nannte. Die im eigentliche Sinne allgemeinen Vereine, Geselligkeits-, Lese- und Bildungsvereine, haben nun ihre Allgemeinheit vielfach ausdrücklich zum Programm erhoben: Die Vereinigung sollte ein Gegengewicht gegen die Spezialisierung des Menschen, der er in der Arbeitswelt unterliegt, darstellen. An Stelle der Einseitigkeiten und Beschränktheiten der alten zünftlerisch-ständisch arbeitsteiligen, partikularisierten Welt sollte die Universalität von Welt und Lebenserfahrung, von Bildung und Persönlichkeit zur Geltung gebracht werden: das ist der Sinn der „arbeitenden Geselligkeit“70. Erst in der gesellig bildenden und tätigen Wechselwirkung mit anderen wird der persönlich individuelle Horizont zum Ganzen erweitert, erst im Zusammenwirken treten die gleichgesinnt Unterschiedenen in Korrespondenz zum Ganzen. Zugleich aber wandte man sich - gerade im Fortschreiten über die Aufklärung hinaus - gegen die neue Spezialisierung der Berufs- und Leistungsgesellschaft; auch hier sollte die arbeitende Geselligkeit mit dazu beitragen, die wahre, nämlich universale Menschlichkeit zu realisieren71. Der Einseitigkeit der Ausbildung sollte durch Universalität der Bildung begegnet werden. Dieses Konzept, das die deutsche Kultur um 1800 mehr und mehr bestimmte, war auch das Konzept des Vereinswesens; der Verein trug mit dem Prinzip des wechselseitigen Austausches und der Orientierung am Allgemeinen an seinem Teil zu dieser allgemeinen Bildung bei. Der gebildete Laie, der nur in seinem Beruf spezialisiert ist, ist der eigentliche Typus des Vereinsmitgliedes. Bildung, arbeitende Geselligkeit und ihre tätig gemeinnützige Auswirkung sollten den Menschen als Bourgeois mit dem Menschen als Homme, die bürgerliche Welterfahrung mit den Idealen von Individualität und Humanität im Medium der Kultur vermitteln. Freilich gibt es um 1800 auch einen ganz anderen Ansatz, dem Problem der Spezialisierung zu begegnen - und dieser Ansatz ist später in die Vereinsbildung eingegangen. In der frühromantischen Theorie der Geselligkeit ist die Überwindung der Einseitigkeit ein Hauptthema; hier wird die Humanität des Individuums in Gegensatz zu der bürgerlichen Person des prosaischen Lebens gestellt. Bildung und Humanität sollen sich in zweckfreier Geselligkeit in „freiem Umgang vernünftiger, sich untereinander bildender Menschen“72 verwirklichen; nicht Austausch und Einbeziehung des bürgerlichen Daseins, sondern Absehen von der bürgerlichen Existenz und den prosaischen Notwendigkeiten und Beschränktheiten des Berufs erscheint als Ideal. Im Gespräch treffen sich nicht Bürger, sondern autonome Individuen zu „vollendete[r] Wechselwirkung“73. Das Menschlich-Universale wird gegen eine abgespaltene Sphäre 191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

von bürgerlichem Dasein zur Geltung gebracht, die Humanität wird zum Gegengewicht gegen die Einschränkung dieses bürgerlichen Daseins. Die Bildung der Individualität ist von der bürgerlichen Existenz abgehoben, sie scheint darum auch vom gemeinnützigen Wirken gelöst. Bourgeois und Homme werden nicht vermittelt, sondern der Homme soll den Bourgeois ausschließen und überwinden. Ähnliches gilt für den jungen Humboldt, für den der Verein ein wichtiges Medium ist, in dem erst die Individualität, nicht entfremdet durch die Zwänge der Praxis und ihre Gebote von Nützlichkeit, zur vollen, d. h. harmonischen Entfaltung kommt74. Diese Theorien haben zunächst für das bürgerliche Vereinsleben und die Geselligkeit keine große Wirkung gehabt, aber sie zeigen den theoretischen Ansatz zu einer aus anderen Gründen einsetzenden Entwicklung: ich meine die Ausgliederung eines Sonderraumes der Kultur, die für das Vereinsleben und das bürgerliche Leben seit der Biedermeierzeit sehr charakteristisch geworden ist und die wiederum für das hier in Rede stehende Problem der Spezialisierung von besonderer Wichtigkeit scheint. Um dieses Phänomen zu begreifen, müssen wir etwas weiter ausholen. Die Freisetzung einer autonomen Kultur und ihre Verbürgerlichung hat bekanntlich dazu geführt, daß die Beschäftigung mit Kultur und ihren Produkten durch eigene Tätigkeit oder durch Diskussion oder Erwerb zu einem wesentlichen Element des bürgerlichen Lebens geworden ist. Der gebildete Bürger orientierte sich in der Kultur, an ihren „Werten“; er konnte sein Leben in ihrem Horizont interpretieren, sein Lebensgefühl mochte von ihr geprägt sein. Die Beschäftigung mit der Kunst überstrahlte den Alltag des Menschen nach dem rührenden Glauben der Sänger etwa - mit dem Abglanz einer „höheren“, edleren Welt. Kultur wurde zu einem Stück bürgerlichen Lebens. Kunst- oder Wissenschaftsvereine hatten darum auch die selbstverständliche Tendenz, den Sinn und die Anteilnahme für ihre Kunst und ihre Wissenschaft bei einem größeren Publikum, einer wie immer unbestimmten Öffentlichkeit durch wissenschaftliche Belehrung und quasi-wissenschaftliche oder musische Tätigkeit - Sammlungen, Ausstellungen und Museen, Kunstübung und Publikationen - zu wecken und zu pflegen. Die Kunstvereine hätten, so schreibt der Brockhaus 1845, der „Kunst ein größeres Publikum vermittelt“ und angefangen, „sie von neuem mit dem Leben zu versöhnen“75. Die Vereinsgründungen des interessierten Publikums haben die von traditionellen Bindungen emanzipierte Kultur in ein neues Verhältnis zur Gesellschaft, nämlich zur bürgerlichen Gesellschaft gesetzt. Die Kunstvereine ζ. Β. verbanden die Künstler, die nach dem Verfall repräsentativer Funktion der Kunst in der Gefahr standen, auftragslos zu werden und zu vereinsamen, mit der bürgerlichen Gesellschaft, schufen ihnen außerhalb des Hofes und der Akademien einen bürgerlichen Ort und förderten die allgemeine Teilnahme durch Organisation einer bürgerlichen Kunstöffentlichkeit76. Dieser Demokratisierung der Kultur, der Kunst wie der Wissenschaften, im Zuge ihrer Verbürgerlichung entsprach die Rolle der Dilettanten als der eigentlich legitimen Repräsentanten der bürgerlichen Kultur und ihrer Organisa192

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tion in Vereinen. Die Liebhaber und Kenner, die Sammler, die Interessierten, die Kunst- und Altertums- und Naturfreunde, die gebildeten, aber keineswegs unbedingt die akademisch gebildeten Laien, sie prägen das Leben der musischen und vielfach auch der gelehrten Vereine77. Der Umgang mit Wissenschaft oder Kunst nun hatte für diese Laien eine besondere Bedeutung im Leben, stellte ein wichtiges Stück ihres Initiativ- und Tätigkeitsraumes dar. Gerade damit aber stellte sich das Problem der Spezialisierung. Je intensiver die Aneignung der Kultur und das Engagement für Kultur sich vollzogen, desto eher konnte sie sich von dem allgemeinen Leben ablösen. Im 19. Jahrhundert wird das Leben in und mit der Kultur zu einer eigenen „Provinz“ des Lebens neben den Provinzen Arbeit und Politik. Neben die Arbeitszeit tritt eine neue Art bürgerlicher Freizeit, die nicht nur - wie bis dahin - durch die Tätigkeit in Beruf und Haus, durch müßige spielerische Geselligkeit, durch Tätigkeit im „Allgemeinen“, der Politik im weitesten Sinne, oder durch die Kirche erfüllt ist, sondern durch Bildung, durch zweckfreies Sich-Einlassen auf Kultur, durch ernsthafte Tätigkeit, die doch dispensiert ist von allem unmittelbar praktischen Bezug. Kultur wird etwas, was um seiner selbst willen da ist; sie kann aus dem allgemeinen Leben ausgegliedert werden und gleichsam neben das Leben treten. Die Aktivitäten des Menschen spalten sich auf. Die Vereine haben an diesem Prozeß besonderen Anteil gehabt oder sind in besonderem Maße von ihm betroffen worden. Erst nach 1815 eigentlich läßt sich das „kulturelle“ Vereinsmotiv von der Gesamtheit der Motive wirklich ablösen. Die musischen und gelehrten Vereine werden zu einem eigenen Typ. Sie sind auf besondere Bereiche der Kultur spezialisiert und setzen besondere Kenntnisse voraus; sie lösen sich allmählich von der aufklärerischen Tradition, Bildung, Kultur und gemeinen Nutzen gleichzeitig anzustreben. Durch diese Entwicklung wurde sicherlich der Rückzug in die Kultur, ins Unpolitisch-Ästhetische, in Kunstreligion oder Wissenschaftsglauben - zwei im Bürgertum des 19. Jahrhunderts so wichtige Haltungen - möglich. Aber es scheint mir unzulässig, die Zuwendung zur Kultur und ihren Bereichen als einer besonderen Lebenswelt und die entsprechende Neu- oder Umbildung von Vereinen einfach als Resignation und Entpolitisierung zu verstehen. Denn erstens hat die später zu besprechende Politisierung und Kryptopolitisierung - etwa innerhalb der Gesangvereine - diesen Zusammenhang schon bald wieder verstärkt, zweitens bedeutete die Spezialisierung kultureller Aktivität in einem Verein keineswegs, daß die Mitglieder eines solchen Vereins nicht sehr viel umfassendere Interessen hatten und dadurch pflegten, daß sie mehreren Vereinen beitraten. Erst eine die einzelnen Bereiche und Aktivitäten verbindende Gesamtbilanz des Lebens, die man aufgrund von biographischem Material für einzelne und für bestimmte Gruppen entwickeln könnte, würde darüber Aufschluß geben; die Gliederung der Lebensinteressen in verschiedenen Vereinen war nicht identisch mit einer Aufspaltung und Vereinseitigung des Lebens selbst. Drittens blieb zumindest programmatisch - die kulturelle Aktivität solcher Vereine, ja die 193 13 Nipperdey

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Kultur als Provinz, eingegliedert in den Gesamtbereich des menschlichen Lebens. Die Autonomie der Kultur in der bürgerlichen Welt hatte eine komplementäre und kompensatorische Bedeutung; gegenüber der vita activa des modernen ökonomischen und politischen Lebens und der Herrschaft des Leistungsprinzips konnte die vita contemplativa nicht mehr in den Formen der alten Welt bestehen, sondern mußte eine neue Form annehmen: diese Form war die Eigenständigkeit der Kultur. Die zweckfreie Kultur wurde gerade so in das Leben hineingenommen. Trotz dieser Relativierung aber ist festzuhalten, daß sich die im Vereinswesen organisierten kulturellen Aktivitäten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker als zuvor von anderen menschlichen Aktivitäten sonderten und daß die Vereine sich stärker in differenzierte Gruppen aufgliederten. Die Entstehung eines Sonderbereichs Kultur gehört nun in den allgemeinen Rahmen der zunehmenden Spezialisierung des Lebens und des Vereinswesens und ist selbst wieder davon betroffen. Die „steigende sachliche Differenzierung der Kulturansprüche“, Interessen und Zwecke, und die bei näherem Eindringen zunehmende Kompliziertheit der Dinge sowie die „zunehmende persönliche Differenzierung der Kulturinteressen unter den Individuen“78, die sich aus der verschiedenen Intensität des Engagements und der steigenden Zahl von Organisationsmöglichkeiten - etwa in Vereinen - ergab, hat - ebenso wie die Differenzierung ökonomisch-sozialer Interessen - die zunehmende Präzisierung von besonderen Interessen und Zwecken und also die zunehmende Spezialisierung des Vereinswesens ganz wesentlich vorangetrieben und damit seine Ausbreitung weiter begünstigt. Die wissenschaftlichen, die technischen, die volkspädagogischen, die sozialen, die reformerischen Interessen organisieren sich nicht mehr in allgemeinen, sondern in spezialisierten Vereinen, die sich entweder aus älteren Vereinen ausgliedern oder neu begründet werden79; in den allgemeinen geselligen Vereinen, den Klubs und Ressourcen, scheint sich der gesellige Zweck gegenüber den Bildungsansprüchen der Anfänge eher zu verselbständigen. Auch die für solche großen Interessenrichtungen organisierten Vereine wiederum spezialisieren sich durch Neugründung oder Teilung weiter, so die gemeinnützigen Vereine, die sich in Schul-, Wohlfahrts-, Gewerbeförderungs-, Sparkassenvereine, ja vielfach in Sondervereine für einzelne Projekte gliedern, so die Gelehrten-Vereine, die der Differenzierung der Wissenschaft folgen80. Auch für diesen allgemeinen Prozeß der Spezialisierung gilt das, was oben zu der Ausgliederung des Kulturbereichs gesagt worden ist: ein gewisses Maß an Universalität blieb, zumal über die Kryptopolitisierung, in vielen Vereinen erhalten. Die Verbindung von Engagement für einen Sachzweck mit allgemeiner Geselligkeit und politischen Zielsetzung war auch für speziell gerichtete Vereine der 40er Jahre noch charakteristisch, wie umgekehrt die stärker politischen, allgemein gerichteten Vereine die spezielleren Formen des Vereinslebens - Gesang, Bildung und Geselligkeit - bewahrten81. In der durch Arbeitsteilung im Bereich von Wirtschaft und Kultur bestimm194

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ten bürgerlichen Gesellschaft haben sich so einerseits die Möglichkeiten des Einzelnen differenziert, andererseits haben sie sich auch erweitert, insofern jeder freien Anteil an allem nehmen konnte. Wir können von der Spezialisierung und der Entpartikularisierung als zwei gegenläufigen Prozessen innerhalb der bürgerlichen und allgemein der modernen Gesellschaft sprechen, die für diese Gesellschaft charakteristisch sind. Beide Prozesse spiegeln sich in der Entwicklung des Vereinswesens, beide Prozesse sind aber auch durch die Entwicklung des Vereinswesens mitbedingt, ja beschleunigt worden. Am Ende des hier behandelten Zeitraumes ist freilich das Verhältnis von Spezialisierung und Entpartikularisierung noch nicht fixiert.

V. Verein, Gesellschaft und Staat Wir befassen uns schließlich mit dem Verhältnis von Verein und Staat, von Verein und Politik; dieses Verhältnis ist für die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Die Vereine beanspruchten zunächst einen Raum privater Aktivität, der über den häuslichen und den ökonomischen Bereich des einzelnen hinausging und der vom Staat freigelassen, ihm gegenüber autonom sein sollte. Die liberale Forderung nach einer von staatlicher Bevormundung und korporativen Regelungen emanzipierten Freiheitssphäre des Individuums galt auch für den Zusammenschluß der Individuen und ihren gemeinsam organisierten Freiheitsraum. Dieser Freiheitsraum wurde bei den Vereinsgründungen des 18. Jahrhunderts gemeinhin als unpolitisch verstanden. Formal schlossen die Vereine Politik aus ihren Aktivitäten aus. Faktisch gewinnen die Vereine jedoch vielfach politische Bedeutung. Wenn die in ihnen zu einer Art kollektiver Privatheit zusammentretenden Personen diskutieren, werden sie zu einem Faktor der öffentlichen Meinung, und damit mindestens zu einer Quasi-Öffentlichkeit. Sie bestreiten das Interpretationsmonopol von Staat und Kirche, indem sie bisher nicht fragwürdige Dinge zur Frage stellen. Insbesondere ziehen sie die gesellschaftlichen und staatlichen Dinge, etwa über den Umweg der literarisch-philosophischen Erörterung, in die Debatte; sie diskutieren über öffentliche Moral, Institutionen und Grundsätze des allgemeinen Besten, und fordern dabei von der öffentlichen Gewalt, sich vernünftig zu legitimieren. Sie bilden Orte des öffentlichen Räsonnements über die Zustände des Gemeinwesens, eine private Öffentlichkeit82. Die aufs Theoretische beschränkte private Diskussion schlägt so aufs Politische zurück, sie wird über den Prozeß der Bewußtseinsbildung selbst politisch virulent. Der scheinbar unpolitische Raum der philosophisch-moralischen Diskussion ist ein Raum der Ersatzpolitik, der für die Vorbereitung und Ingangsetzung politischer Reformen unmittelbar relevant geworden ist83. Mindestens in der Epoche der anhebenden Politisierung der Staatsbürger hat das private Räsonnement im 195 13*

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Verein - in den Logen und Lesegesellschaften oder in Vereinigungen wie der Berliner Mittwochsgesellschaft, wo man mit Suarez die Entwürfe zum Allgemeinen Landrecht diskutiert hat - politische Bedeutung: durch die Diskussion reichen die Vereine aus dem staatsfrei gewordenen Raum wieder in den Bereich des Staates hinein. Zugleich verschiebt sich die Grenze zwischen staatlichem und privatem Handeln. Ständig erweitern die Vereine das ihnen zugestandene Aktionsfeld und verschaffen damit der Aktivität von Privatleuten mehr Spielraum. Indem Vereine, zumal im kommunalen, sozialen, schul-, volks- und wirtschaftspädagogischen Bereich gemeinnützig tätig werden, nehmen sie öffentliche „patriotische“ Angelegenheiten in die private Regie oder wirken an solchen Angelegenheiten mit84. Indirekt stellen sie damit den Monopolanspruch des Staates oder der Obrigkeit auf die Sorge für das gemeine Wohl, für die öffentlichen Dinge überhaupt, in Frage. Zwar waren es begrenzte Bereiche des öffentlichen Wohls, um die es hier ging; eminent politische Fragen, mochte es sich um Strukturfragen oder um konkrete Entscheidungen handeln, waren aus dem Aktionsbereich der Vereine ausgeschlossen. Aber die Frage der Abgrenzung war relativ, eine Summe begrenzter Veränderungen konnte eine strukturelle Veränderung bewirken. Wichtig war vor allem die Tatsache, daß die Grenze zwischen bürgerlicher und staatlicher Tätigkeit im öffentlichen Bereich durch die Aktivität von Vereinen fließend wurde. Dieses Hineinwachsen der Vereine ins Öffentliche beförderte zugleich die Emanzipation des Individuums im Staat; die Vereine wurden zu Schulen bürgerlicher Selbsttätigkeit im öffentlichen Bereich. Aus diesen Voraussetzungen entstanden dann auch Vereine, die mehr oder minder direkt auf Mitbestimmung im Staat, auf Anteil an der politischen Willensbildung zielten - also in erster Linie die eigentlich politischen Vereine, aber auch die ersten Berufs- und Interessenverbände der Apotheker, Buchhändler, Ärzte oder Landwirte, bei denen sich aus der Tendenz zur staatsfreien Selbsthilfe die Tendenz zur Einflußnahme auf staatliches Handeln gebildet hat. Das Verhältnis zwischen Verein und Staat entwickelt sich also zwischen den Polen einer liberalen staatsfreien Sphäre der privaten Initiative und eines Anspruchs auf Mitwirkung am Staat, zwischen liberaler und konstitutionell-demokratischer Zielsetzung. Das Vereinswesen gehört zunächst zum „System der Bedürfnisse“ (Hegel), zur vom Staat isolierten bürgerlichen Gesellschaft; indem aber die Einzelnen im Verein ein Allgemeines in ihre Zwecksetzung aufnehmen, gehen sie objektiv über das System der Bedürfnisse schon hinaus und stehen gerade nicht mehr einfach negativ oder in einem Gegenüber zum Staat. Die letzte Hypothese läßt sich durch einen Blick auf das konkrete Verhältnis zwischen Verein und Staat bestätigen. Dieses Verhältnis ist auf beiden Seiten durch Ambivalenz gekennzeichnet. Zunächst: die Vereine verstanden sich keineswegs in einem Gegensatz zum Staat, und zwar auch und gerade, wo sie öffentlich tätig wurden, sondern sahen sich vielmehr in einem kompensatori196

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schen und korrespondierenden Verhältnis zu ihm. Die Patriotischen Gesellschaften und alle älteren sozialen Vereinigungen wollten sich an die Seite des Staates stellen, um ihn überall dort zu ergänzen, ihn überall dort zu unterstützen, ihn überall dort anzuregen, wo seine Einrichtungen und Tätigkeiten nicht genügten. Die bürgerlichen Interessen waren den staatlichen nicht entgegengesetzt85. „Eine freie Bürgervereinigung“ wie die Patriotische Gesellschaft in Hamburg sei, so heißt es 1792, dem Staat „unendlich viel wichtiger und nutzbarer, als man gewöhnlich zu glauben geneigt ist“; hier „können Privatmänner so manches debattieren, so manches prüfen und versuchen, was der Staat nicht direkt prüfen oder versuchen kann, so manche Berichtigung und Belehrung hören, die ihnen sonst auf immer verborgen bleiben“86. Oder, um ein ganz anderes und späteres Beispiel zu wählen: J . H. Wichern, der konservative Protagonist der freien „christlichen Assoziation“, hat Staat, Kirche und Vereine als Trias zur Bildung der Volkskirche angesehen; die Aktivität der Laien in Vereinen sollte die staatlichen und anstaltlichen Möglichkeiten ergänzen und ihre Mängel, die Tendenz zum Staatssozialismus, zur bloßen Administration oder zur bloßen Philanthropie, kompensieren87. Auf der anderen Seite hat der Staat in weiten Bereichen und lange Zeit das Vereinswesen angeregt und gefördert oder mit den Vereinen kooperiert. Noch der spätabsolutistische Staat hatte einen Freiraum für kulturelle und karitativsoziale, pädagogische und „nützliche“ Tätigkeiten eröffnet und die Initiative bürgerlicher Vereinigungen zugelassen, ja gelegentlich begrüßt; die Patriotische Gesellschaft in Schlesien etwa wurde geradezu vom Staat gegründet. Die wirtschaftspädagogischen Vereine, die landwirtschaftlichen (und ökonomischen) Gesellschaften und später die Gewerbevereine, die die Erziehung zur rationellen Landwirtschaft und zur „Industrie“ zum Ziel hatten, sind von staatlichen Stellen und hohen Beamten inauguriert und gefördert worden. In Preußen sind die Landwirtschaftsvereine zwischen 1810 und 1840 ziemlich planmäßig organisiert und vom Staat finanziell unterstützt worden; ihre 1838-42 errichtete Zentralstelle, das Landesökonomiekollegium, wurde zu einem Beratungsorgan für den Staat88. Die preußische Gewerbepolitik hat im östlichen Landesteil, wo es die Zwangsorganisationen der Handelskammern nicht gab, relativ freie kaufmännische Korporationen angeregt und ihnen ein bestimmtes Maß an öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltung und Mitwirkung an staatlicher Verwaltung zugestanden; im Unterschied zu den Handelskammern, die vornehmlich die Effektivität der staatlichen Verwaltung verbessern sollten, sollten diese Korporationen auch und vornehmlich die bürgerliche Verfassung verbessern89. In den landwirtschaftlichen Vereinen und den kaufmännischen Korporationen entstanden so Vereinigungen mit halböffentlichem Charakter; als Hilfs- und Beratungsorgane der Behörden und Interessenvertretungen nahmen sie eine Zwischenstellung zwischen Staat und Gesellschaft ein. Auch die Übernahme von sozialen und sozialreformerischen Vorhaben und Aufgaben oder von Schulgründungen etc. durch Vereine wurde vom Staat unterstützt90. Die Organisation des neu konstituierten Standes der Volksschullehrer in Konferenzen und dann 197

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auch in Vereinen gehörte zu den Zielen der staatlichen Bürokratie91. Geschichtsvereine wurden in den 20er Jahren als Integrationsfaktoren in den rheinbündischen Staaten vom Staat aus gegründet, wobei obrigkeitliche Initiative und bürgerlich-gesellschaftliche Tendenz zusammenkamen92. Ähnlich ist es in der protestantischen Kirche gewesen: trotz mancher Widerstände der Amtskirche gegen die freien Vereine hat die preußische Generalsynode von 1846 ihnen das Recht ungehinderter Tätigkeit neben dem Pfarramt zubilligen wollen. Es gab also keineswegs eine Isolierung der sich in Vereinen organisierenden bürgerlichen Gesellschaft gegen den Staat, sondern eine sehr breite Zone der Kooperation, die von beiden Seiten getragen wurde. Es sind - nach manchen spätabsolutistischen Vorläufern - der reformerische Erziehungsstaat und sein bürokratischer Liberalismus, die hinter dieser Praxis stehen: der Staat sollte sich konsolidieren und modernisieren, indem er die Bürger teilweise von korporativen Bindungen oder von staatlichen Bevormundungen emanzipierte93, indem er mit staatlichen Mitteln und gelegentlich einer Form von Zwang ihre Eigeninitiative, ihre Aktivität und ihre wirtschaftliche Produktivität anregte, indem er die Bürger zur Freiheit und zur Übernahme bestimmter, ehedem obrigkeitlicher Aufgaben erzog, die Gesellschaft zur Selbstorganisation entband und sich selbst entlastete, und indem er die Integration des Staatsvolkes durch ein frei sich bildendes staatliches Bewußtsein zu fördern suchte. Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft und Verstärkung der staatlichen Leistungsfähigkeit, das hing für die liberal-reformerische Beamtenschaft - trotz aller Unterschiede in Preußen wie in Süddeutschland in gleicher Weise - wesentlich zusammen. Darin lag vom Staat her gesehen die Basis für die Kooperation mit den Kräften der bürgerlichen Gesellschaft und für die Kooperation mit den neuen Organisationen dieser Gesellschaft: den Vereinen. Von daher ist der Typus des staatlich geförderten Vereins als Organisation zwischen Bürokratie und bürgerlicher Gesellschaft zu begreifen. Und es war dieser reformerische Staat, der der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland die Möglichkeit zur Kooperation bot. Mit dem Staat und nur mit ihm war die Auflösung der alten ständisch-feudalen Gesellschaft durchzusetzen. Der Staat erschien nicht als Gegner, sondern als Inaugurator und als Hüter der bürgerlichen Gesellschaft, er war ein Agent der Freiheit. Dementsprechend kann im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts von einer isolierenden Trennung oder einer absoluten Entgegensetzung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft nicht die Rede sein. Beides ist vielmehr vermittelt, und eine ganze Reihe von Vereinen fungieren als Elemente solcher Vermittlung. Freilich muß man diese These nun sofort relativieren: die Kooperation zwischen Staat und Gesellschaft war von beiden Seiten her begrenzt. Die deutschen Staaten haben nach 1819 den Raum assoziativer Aktivitäten und den Raum der Kooperation entschieden eingeschränkt. Die Emanzipation war nur partiell, und sie sollte partiell bleiben. Politische Konsequenzen für die staatliche Willensbildung und für die Gesamtverfassung, etwa im Sinne einer Einschränkung des monarchischen Prinzips, sollten in konstitutionellen wie nicht198

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konstitutionellen Staaten ausgeschlossen werden. Die Selbstorganisation der Gesellschaft sollte sich allein auf einen zwar öffentlichen, aber eben unpolitischen Raum erstrecken. Die partielle Emanzipation ließ vom Standpunkt des Staates aus eine wirkliche Politisierung der gesellschaftlichen Verbände gerade nicht zu; vom Standpunkt der Verbände aus lag die Politisierung und damit die vollendete Emanzipation in der immanenten Tendenz ihrer Entwicklung. Dem Anspruch der sich assoziierenden Gesellschaft auf Mitbestimmung in den öffentlichen und letzten Endes den politischen Dingen also stand der Staat durchaus restriktiv gegenüber, so daß hier ein eklatanter Gegensatz von Staat und Gesellschaft aufbrach94. Neben die Möglichkeit der Kooperation trat die der Konfrontation. Dieser Gegensatz entzündete sich an der Stellung der Vereine zur Politik im engeren Sinne. In fast allen deutschen Staaten galt in unserem Zeitraum ein unbedingtes Verbot politischer Vereine, das im Zusammenhang mit revolutionären Ereignissen immer wieder, so in den 90er Jahren, 1819 und 1832/34, erneuert oder verschärft wurde. In bezug auf gesamtdeutsche Politik ist diese Einstellung klassisch formuliert in einer Kundgebung des nassauischen Ministers Ibell gegen die Deutschen Gesellschaften: „Es ist eine ebenso unvernünftige als gesetzwidrige Idee, wenn Privatpersonen glauben mögen berufen oder ermächtigt zu sein, einzeln oder auch in Verbindung mit anderen selbständig oder unmittelbar so jetzt als künftig zu den großen Nationalangelegenheiten Deutschlands mitzuwirken.“95 Gemäß diesen Grundsätzen wurden auch die halb- oder kryptopolitischen Vereine und die Politisierungstendenzen in unpolitischen Vereinen mißtrauisch überwacht, und gegebenenfalls wurde gegen sie eingeschritten. Doch war die diesbezügliche administrative und polizeiliche Praxis keineswegs einheitlich. Es gab immer wieder Phasen und Regionen einer relativen Lockerung, ja Toleranz96. Die Gesellschaften der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts, zumal die Lesegesellschaften, spielten wie gesagt durch Diskussion, Propagierung von Grundsätzen und Anteilnahme an öffentlichen Dingen ganz sicher eine wichtige politische Rolle. Sie können als Vorformen der Parteibildung gelten. Selbst die antirevolutionären, später konservativen Kräfte wählten die Form der Assoziation, um sich politisch zu organisieren97. In der Zeit der französischen Revolution, der napoleonischen Herrschaft und der Freiheitskriege entstanden eine ganze Reihe kleinerer politischen Organisationen, die Bewußtsein bilden und politische Aktionen mindestens vorbereiten wollten. Bezeichnend für das komplexe Verhältnis von Staat und Verein ist in dieser Zeit ζ. Β. die Geschichte des Tu­ gendbundes, der als Privatverein die Unterstützung des Hofes anstrebte und sich keineswegs im Gegensatz zum Staat befand, aber doch als mit dem Staate konkurrierend verboten wurde98. Arndt, der den freien Verein als Element einer öffentlichen Meinung ansah, propagierte die Gründung der Deutschen Gesellschaften, die die patriotischen Angelegenheiten zur allgemeinen Sache machen sollten. Turner- und Burschenschaften waren die ersten organisierten Bewegungen, in denen größere Teile der Nation mit Anspruch auf politische 199

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Selbständigkeit hervortraten. Obwohl diese Gruppen sich nicht unmittelbar an politischen Zielen orientierten, hatten sie doch den Charakter apokrypher Parteien, die mit Propaganda und Aktion in den politischen Bereich vorstießen. Mit Worten wie Turnstaat und Studentenstaat antizipierten sie gesamtpolitische Zielsetzungen; in ihren über alle Staatsgrenzen hinwegreichenden Organisationen wurde ihr gegen die Einzelstaaten gerichteter Anspruch besonders evident. Die für unsere Fragestellung wichtigste Phase ist die Zeit zwischen den Karlsbader Beschlüssen und der Revolution 1848. Einerseits tritt eine gewisse Entpolitisierung ein, und zwar aufgrund der rigorosen Polizeipraxis gegen alle politische Aktivität, aufgrund der besprochenen spezialisierenden Auffächerung des Vereinswesens, aufgrund der Entpolitisierung öffentlicher, den Bürgern freigegebener Angelegenheiten im kommunalen, sozialen und zum Teil im ökonomischen Bereich und aufgrund der zunehmenden Orientierung an der Kultur als einer autonomen Sphäre, die um ihrer selbst willen existierte. Der Staat verstärkte derartige Tendenzen, indem er etwa Landwirtschafts- und Gewerbevereine auf rein technische Probleme, Geschichtsvereine auf politisch „harmlose“ Bereiche, wie die Anfertigung von Regesten und die Beschäftigung mit dem Mittelalter, festzulegen suchte“. Andererseits aber bewirkte das Parteiverbot eine Kryptopolitisierung von Vereinen. Vereine konnten einen Ersatzraum politischer Aktivität bieten, konnten politische Bewußtseins- und Gesinnungsbildung, ja politische Demonstration ermöglichen. Gerade die nationalen und liberalen Tendenzen der Epoche haben sich auf diese indirekte Weise in den Vereinen und ihren über die Einzelstaaten hinausreichenden Tagungen ihr Forum geschaffen: in den Gelehrtenvereinen und ihren Kongressen100, in Denkmalsvereinen101 und zumal in den Gesang- und Turnvereinen und ihren großen überregionalen und überstaatlichen Sänger- und Turnerfesten. Im Meyerschen Lexikon von 1848 heißt es über die Gesangvereine: „Politik ist wohl in allen deutschen Gesangvereinen durch die Statuten aus den Versammlungen der Mitglieder verbannt und wohl mit Recht, wenn man unter Politik nur ein politisches Kannegießern versteht, das fernab liegt von der Kunst, oder ein direktes Eingreifen des Vereins in die Verhältnisse des Staates. Der Gesang soll nicht den Demagogen spielen, aber er soll veredelnd und kräftigend auf die Gesinnung und die nationale und sociale Erhebung des Volkes wirken, er soll ertönen, wo es in seiner Macht steht, ein vaterländisches volksthümliches Unternehmen zu fördern, er soll die Ideen wahrer menschlicher Freiheit verbreiten helfen. Diese Art Politik, wenn solches Streben mit diesem verdächtigen Namen bezeichnet werden kann, liegt seinem Wesen nicht fern, sie ist vielmehr nach dem eben Gesagten aufs Engste mit ihm verknüpft. . . Aus dem Kern des Volkes hervorgegangen, haben die Gesangfeste unzweifelhaft den Beruf, ächte deutsche Volksfeste zu werden, ähnlich den Olympischen Spielen der Griechen. Wie diesen liegt ihnen zunächst der Zweck ob, die durch politische Grenzen getrennten deutschen Stämme durch das Band der Kunst zu vereinigen.“ Die „Aufgabe des Männergesangs“ sei „als eine 200

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vorzugsweise nationale und sociale“ anzuerkennen102. Sicherlich war das, was in solchen Vereinen politisch war, wesentlich Stimmung und Gefühl; sicherlich ging die Intention nur auf Bildung einer gemeinliberalen und gemeinnationalen Gesinnung und nicht auf konkretes politisches Handeln, obwohl es auch dafür Ansätze gab103. Aber nicht die biedermeierlichen Momente sind das für den Bezug dieser Vereine zur Politik Charakteristische, sondern vielmehr das bedeutende Stück Politisierung der Bürger durch die Bildung eines liberalen und nationalen Bewußtseins. Die Unterscheidung von politisch und unpolitisch wird hinfällig, wo die private Öffentlichkeit einer bürgerlichen Bildungs- und Kunstbewegung dergestalt auf den Staat zurückwirkt. Bei den Turnvereinen war die Politisierung stärker und auch offenkundiger; schon das Turnen selbst war ja für die Generation der 40er Jahre von seinem Ursprung bei Jahn her noch immer eine politische Demonstration; in den Turnvereinen waren auch radikalere Kräfte organisiert, die Turnfeste waren mehr noch als die Sängerfeste politische Kundgebungen104. Lese- und Kasinovereine nahmen in den 40er Jahren mancherorts einen halbpolitischen Charakter an. So hatte Jacoby in der Königsberger Bürgergesellschaft seine politische Basis, Robert Blum im Sächsischen Vaterlandsverein, einer pädagogisch-politischen Organisation, und im Leipziger Literatenkasino105. Die Hamburger Bürgervereine wurden in den 40er Jahren zu politischen Vereinen, die sich für eine Verfassungsreform einsetzten; die Patriotische Gesellschaft konnte in der besonderen Situation des Stadt-Staates geradezu als Ersatz einer Volksvertretung, als Repräsentant der „öffentliche[n] Meinung der gebildeten Kreise“ gelten106. Ludwig I. von Bayern bemerkte 1845 zu einer Eingabe bei der Gründung des katholisch-karitativen Vincenz-Vereins in München: „Dass Vereine zu politischen Umtrieben angewendet werden, ist heute zu Tage gang und gäbe“107. Radikale Gruppen gründeten entweder, wie schon in der Periode des Hambacher Festes, eigene, propagandistisch-politisch tätige Vereine, oder sie versuchten, bestehende Vereine zu politisieren108. Hier entstanden im eigentlichen Sinne politische Vereine. Eine andere Form der Politisierung ergab sich bei den Vereinen von Angehörigen bestimmter Berufe. Ursprünglich hatten sie Fortbildung und Geselligkeit zum Ziel, aber infolge der Differenzierung der Markt- und Klassengesellschaft aktivierten sie die Vertretung ihrer Interessen und begaben sich ganz auf den Boden der Iriteressenpolitik. Die Entwicklung ist besonders deutlich bei den Volksschullehrern; Gesang- und Bildungsvereine, Vereine zur Durchsetzung von Gehaltsforderungen und allgemein schulpolitische Vereine, das waren die Stationen der Politisierung dieser Berufsvereine109. Entsprechendes gilt aber auch für die Vereinigungen der Ärzte und die ersten Handwerkervereine mit gewerbepolitischen Zielen. Ähnlich war es schließlich mit den Gesellen- und Arbeitervereinen. Aus den traditionellen Vorformen der Bildungs-, Geselligkeits-, Gesang- und Unterstützungsvereine haben sie sich in den 40er Jahren zu politischen Vereinen entwikkelt, oder sie traten sogleich als politische Vereine in Erscheinung. Das Medium, in dem sich die Politisierung vollzog, war die „Bildung“ - und auch in 201

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den politisch gewordenen Vereinen blieben die älteren Funktionen aufgehoben110. Ganz sicher hat die Organisation in Vereinen für Arbeiter und Handwerksgesellen eine besondere Bedeutung gehabt. Diese Organisationsform ermöglichte den Arbeitern in sehr viel stärkerem Maße noch als den Bürgern den Eintritt in den politischen Prozeß, die Parteibildung und letzten Endes die Emanzipation. Von daher läßt sich verstehen, warum gerade organisatorische Fragen, ζ. Β. die Frage der Statuten, eine ganz außerordentliche (und offenbar integrierende) Rolle für die Anhänger der frühen Arbeiterorganisationen spielten111. Die in den 40er Jahren ansteigende Welle der Politisierung des Vereinswesens hat in abgeschwächtem Maße auch auf katholische und konservative Kreise übergegriffen, wobei allerdings der Staat als Gründer von politischen Vereinen vor 1848 offenbar nicht in Erscheinung getreten ist112. Indem sozialistische wie konservative Kreise das Organisationsmodell der Liberalen übernahmen, wurden die Vereine zur Form politischer Organisation überhaupt. Mit der Aufgliederung der bürgerlichen Gesellschaft in Parteien entstand eine Nötigung, sich zur Propagierung der eigenen politischen Ziele direkt oder indirekt zu organisieren, politische Vereine zu bilden. Diese politischen Vereine gehören nicht mehr einfach zum staatsfreien Raum der bürgerlichen Gesellschaft, und sie gehören auch nicht mehr zum Bereich der Kooperation zwischen Staat und Gesellschaft in öffentlichen, aber nicht eigentlich politischen Dingen. In ihnen treten vielmehr der Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft zu dem um seine Autonomie besorgten bürokratischen Staat und der Machtanspruch dieser Gesellschaft zutage. Das Problem und die Entwicklung des Verhältnisses von Verein und Staat spiegeln sich auch in der ausgebreiteten theoretischen Diskussion über die verfassungsrechtliche Stellung der Vereine und über die Vereinsfreiheit113. Hier ist zunächst wichtig, daß nur die Liberalen - gemäß ihrem individualistischen Ausgangspunkt - eine positive Theorie der Assoziation gegeben haben. Rousseau lehnte von seiner radikal-demokratischen und in gewisser Weise totalitären Theorie jeden Sonderwillen von Teilverbänden und darum jeden Teilverband überhaupt ab, weil er den Einzelnen vom Gemeinwillen abführen könne. Dieser Ansicht ist der radikale Flügel der Revolutionäre gefolgt. In Deutschland haben Kant und Fichte unter Rousseaus Einfluß den Vereinen zwischen Staat und Einzelnem keine Funktion zugebilligt. Galt diese Ablehnung allen Gruppen überhaupt, seien es Korporationen oder Assoziationen, so haben die romantisch-konservativen Theoretiker und - wenn auch auf sehr andere Weise - Hegel zwar nicht die Gruppen, wohl aber die freie Assoziationsbildung abgelehnt und nur das Recht der Korporation vertreten. Allein in der liberalen Diskussion wurden das Problem und die Wirklichkeit der Assoziation angemessen reflektiert. Auch in der liberalen Theorie über die Stellung des Vereins zu Staat und Gesellschaft finden sich, mit zeitlicher Verzögerung, die Positionen, die sich in 202

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unserer Analyse aus der Wirklichkeit der Vereine ergaben114. Vereinsfreiheit, negativ als Freiheit vom Korporationszwang, positiv als Freiheit zur Assoziation verstanden, ist zunächst ein Teil der individuellen Freiheit, ein Freiheitsrecht, das zur staatsfreien Sphäre des Einzelnen gehört. Vereinsfreiheit definiert eine Schranke für den Staat, und sie wird zunächst individualistisch, natur- und vernunftrechtlich begründet115. Vereine sind in diesem Sinne ohne Bezug auf das staatliche Gemeinwesen, das öffentliche Recht und staatliche Regelungen, ja sie dienen in Abkehr vom Staat und seinen Zwecken allein der Ausbildung und den Zwecken des Individuums. Auch bei weniger radikalem Ansatz gehören die Vereine zur Privatsphäre, sie sind „Mittel zur Ausbildung und Glückseligkeit“ und können „für die Beförderung der Cultur und Humanität (der Einzelnen) äußerst wohltätig wirken“116. Sie rechnen, so meint Schlözer, unter „die schöne, die unschuldige Seite der bürgerlichen Gesellschaft“117. Rotteck begreift in diesem Sinne die Vereinsfreiheit als vorstaatliches Recht und verteidigt sie gegen die polizeirechtliche Auffassung, nach der die Vereine strikt der Aufsicht des Staates unterstanden, weil ihre Tätigkeit eine Usurpation von Regierungstätigkeit, und sie selbst einen Staat im Staate darstellen könnten118; Mohl hat dann zwar die natur- und vernunftrechtliche Begründung der Vereinsfreiheit aufgegeben und durch eine positiv verfassungsrechtliche ersetzt, aber auch er betont die grundlegende Bedeutung der individuellen Freiheitssphäre119. In einer zweiten Stufe der Diskussion werden die Vereine als Organisationen beschrieben, die den Staat durch Selbsthilfe entlasten. Die Vereine erstreben „erlaubte Privatzwecke“, zumal auf den Gebieten der Bildung und des Sozialen, und können hier die staatliche Tätigkeit ersetzen; der Staat tritt dann nur subsidiär in Funktion. Gerade für die Lösung der sozialen Frage wird diese primäre Funktion der gesellschaftlichen Assoziationen betont. Die Vereine verschieben, so kann man sagen, die Grenze zwischen privat und öffentlich, indem sie einen öffentlichen Bereich gesellschaftlicher Aktivität beanspruchen und ausfüllen. Die Tätigkeit der assoziierten Bürger m diesem Bereich führt nicht zur Trennung von Staat und Gesellschaft, sondern verbindet sie. Vor allem Robert von Mohl hat - wenigstens zeitweise - diese theoretische Position vertreten120. Schließlich wird das Freiheitsrecht gegenüber dem Staat und das Recht auf Aktivität in einem gesellschaftlich-öffentlichen Bereich politisch funktionalisiert. Das Freiheitsrecht wird zu einem politischen Recht, und zwar zu einem Recht auf Mitwirkung, das Recht des Individuums und des Menschen wird zu einem Recht des Staatsbürgers. Die Vereinsfreiheit folgt „aus der Natur konstitutioneller Staatseinrichtungen“121; Verein ist ein Mittel zur Ausübung der freien Debatte und der Gesetzgebungskontrolle, zur Ausübung des Adressen- und Petitionsrechts und zur Realisierung von öffentlicher Meinung122. Rotteck hat im „Staatsrecht der constitutionellen Monarchie“ von den Vereinen als „Befestigungsmittel für die bestehende Verfassung“ gesprochen; bei ihm ist diese Position freilich die Ausnahme - eindeutiger wird sie von Welcker vertreten123. 203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Mohl hat in den Schriften seiner mittleren Periode die Ansicht ausgeführt, es sei die Funktion der Vereine, die Ausübung der politischen Bürgerrechte vorzubereiten und zu sichern; die freien Vereine werden hier als intermediäre Organisationen zwischen Individuum und Staat begriffen, die Konstitutionalismus und Demokratie, reale Mitwirkung der Gesellschaft am Staat erst ermöglichen124. Diese liberalen Theoretiker betrachten die Vereine wesentlich als Vermittlungsinstanzen zwischen Staat und Gesellschaft125. Zwischen den nichtpolitischen und den politischen Funktionen der Vereine besteht für sie kein Widerspruch, oder vielmehr, der reale Widerspruch, der sich an der politischen Funktion der Vereine zwischen Gesellschaft und Staat entzündet hatte, ist in der Theorie überwunden. Gierke konnte im Sinne seines moderierten Liberalismus später diese Zwischenposition noch stärker ideologisch begründen: der Verein stehe zwischen dem Atomismus der Individuen und einer rein individualistischen Gesellschaft einerseits und dem obrigkeitlich-bürokratischen Staat andererseits und sei daher ein Bundesgenosse des „freien“ Staates, weil er die Bürger zur Anteilnahme und Selbsttätigkeit erziehe, weil er als lebendige Neubildung den Staat vor Erstarrung, also vor Reaktion, ebenso wie vor Revolution bewahre126. Die radikale Theorie freilich hat solche Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft nicht mitgemacht. G. von Struve beschreibt 1848 die Vereine als Selbstorganisation des entmündigten Volkes und als Rückschlag gegen den Ausschluß von den Staatsgeschäften127. Die Wirklichkeit der Vereine, die Ambivalenz zwischen Kooperation und Konfrontation mit dem Staat das spiegelt sich in diesen gegensätzlichen Theorien.

VI. Schluß Der Verein ist eine soziale Organisationsform, die sich mit der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland entwickelt hat. Die Ausbildung des modernen Individualismus und die Ausbildung des modernen, bis zu jedem einzelnen Bürger durchgreifenden Staates im frühen 19. Jahrhundert werden, erstaunlich genug, von dem Aufschwung des freien Assoziationswesens begleitet. Dieses Vereinswesen und seine Entwicklung haben für die Struktur der Gesellschaft, des Gemeinwesens und des Lebens große Bedeutung gehabt. 1. Der Verein war zunächst und vor allem ein Faktor der Mobilisierung im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, in den Vereinen wird sich diese Gesellschaft ihrer selbst bewußt. In den 40er Jahren diente er dann sowohl der Emanzipation neuer Klassen und Gruppen von der bürgerlichen Gesellschaft als auch umgekehrt der Stabilisierung dieser bürgerlichen Gesellschaft gegen den Zerfall in Klassen, gegen das Aufkommen der Klassengesellschaft. 2. Der Verein hat im Prozeß der Spezialisierung der modernen Kultur und Gesellschaft eine wichtige Rolle gespielt, zugleich aber den entgegengesetzten Prozeß der Entpartikularisierung begünstigt, so daß durch die Vereine bei aller 204

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Spezialisierung doch die Einheit der bürgerlichen Lebenswelt noch aufrechterhalten worden ist. 3. Schließlich haben die Vereine eine wesentliche Funktion im Übergang vom bürokratisch-obrigkeitlichen zum konstitutionell-liberalen und sich demokratisierenden politischen System erfüllt; sie haben sowohl die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft als auch den prekären und labilen Ausgleich zwischen ihr und dem Staat befördert. Die bisher vorgetragenen Überlegungen sind fragmentarisch, und sie sind einstweilen notwendig fragmentarisch. Bislang gibt es, von einzelnen Vereinsgeschichten abgesehen, im wesentlichen nur - meist ältere - Untersuchungen über bestimmte Typen und Gruppen von Vereinen. Die Bedeutung des Vereinswesens für die soziale, kulturelle und politische Welt des Bürgertums, der Stellenwert des Vereins für das Leben des Einzelnen, der Gruppe und der Gesellschaft im Gesamtgefüge anderer sozialer Strukturen - Familie, Nachbarschaft, Arbeitsstätte, Orts- und Kirchengemeinde -, die Bedeutung des sozialen und sozial-psychischen Faktums Verein für die Politik, für die politische Orientierung von Einzelnen und Gruppen zumal, - das wird sich erst aufgrund von neuen Lokal- und Regionalstudien erhellen lassen; erst dann lassen sich auch hier vernachlässigte Differenzierungen untersuchen, wie die zwischen stärker und weniger stark industrialisierten Gebieten oder zwischen dem sozial-ökonomisch liberalen und politisch obrigkeitlich strukturierten Preußen und den sozial-ökonomisch konservativen und politisch konstitutionellen süddeutschen Staaten. Die Bedeutung des Vereinswesens für die bürgerliche Gesellschaft und insbesondere für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft läßt sich schließlich nur zureichend erfassen, wenn man die deutschen Verhältnisse mit nichtdeutschen, vor allem den angelsächsischen und französischen vergleicht. Erst dann läßt sich das gemein-bürgerliche Element von den spezifisch deutschen Sonderbedingungen unterscheiden, erst dann wird man die Voraussetzungen und Implikationen des Vereinswesens in Deutschland differenzierter und begrifflich schärfer analysieren können.

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9. Volksschule und Revolution im Vormärz. Eine Fallstudie zur Modernisierung II I. Aus dem Januar 1849 wird eine Äußerung Friedrich Wilhelms IV. vor einer Abordnung von Seminarlehrern berichtet, die die konservative Interpretation des Verhältnisses von Volksschule und Revolution1 klassisch formuliert. „AIP das Elend, das im verflossenen Jahre über Preußen hereingebrochen, ist Ihre, einzig Ihre Schuld, die Schuld der Afterbildung, der irreligiösen Massenweisheit, die Sie als echte Weisheit verbreiten, mit der Sie den Glauben und die Treue in dem Gemüte meiner Untertanen ausgerottet und deren Herzen von mir abgewandt haben. Diese pfauenhaft aufgestutzte Scheinbildung habe ich schon als Kronprinz aus innerster Seele gehaßt und als Regent alles aufgeboten, um sie zu unterdrücken. . . . Nicht den Pöbel fürchte ich, aber die unheiligen Lehren der modernen frivolen Weltweisheit vergiften und untergraben mir eine Bürokratie, auf die ich bisher stolz zu sein glauben konnte.“2 Und diese Auffassung bleibt bis in die 60er Jahre hin die communis opinio der Konservativen. Eine differenzierte und präzise Analyse über den Zusammenhang von Volksschulbildung und Revolution läßt sich nicht durchführen, weil Korrelationen zwischen Gebieten intensiver Volksschulbildung und solchen intensiver revolutionärer Tätigkeit aufgrund der Quellenlage nicht mehr festzustellen sind3. Ganz sicher sind für die Revolutionierung breiter Volksschichten nicht die Fortschritte der Bildung, sondern andere Gründe ausschlaggebend gewesen, ja die Schulbildung ist im allgemeinen, wie das Beispiel der Revolution von 1789 zeigen kann, keine notwendige Voraussetzung eines revolutionären Bewußtseins. Es läßt sich aber, wie noch zu erörtern ist, vermuten, daß unter den besonderen Bedingungen des vormärzlichen Deutschland die Volksschule bei den Unter- und Mittelschichten eine revolutionäre Disposition begünstigt hat. Daß die Lehrer, die Volksschullehrer, nicht nur in der Lehrerbewegung von 1848 schulpolitische Forderungen vorgebracht haben, sondern sich auch in auffallend hohem Maße an der allgemeinpolitischen Revolution und zumal an den radikalen Bewegungen beteiligt haben, ist ein Faktum, das in der nachrevolutionären Diskussion viel erörtert und vom Staat vielfach untersucht worden ist. Der Zusammenhang erhellt schließlich daraus, daß schulpolitische Maßnahmen für die Reaktion der 50er Jahre zentrale Bedeutung hatten. Der Auflösung der Tradition und der Erschütterung der Autorität durch die Schule sollte durch eine Umformung dieser Schule, durch Reduktion auf einen betont einfachen Inhalt und eine einfache Form - Erziehung nicht mehr zur Selbständigkeit 206

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des Denkens, sondern zum Glauben an gegebene Wahrheiten - und durch Verkirchlichung begegnet werden. Das galt insbesondere für die Lehrerbildung, die auf eine einfache Ausbildung nach Art des Elementarunterrichts zurückgeschraubt werden sollte. Diese Maximen bestimmten mit den Stiehlschen Regulativen von 1854 die Schulpolitik in Preußen, und fast alle anderen deutschen Regierungen haben ähnliche Maßnahmen ergriffen. Die konservative These vom revolutionierenden Charakter der Volksschule und die ihr zugrunde liegenden Fakten sind erstaunlich. Denn schon wenig später wurde dem disziplinierenden Wirken der preußischen Volksschule und ihrer Lehrer der Sieg von Königgrätz zugeschrieben4; und verbreitet ist die Meinung, die preußische Staatsschule habe seit 1815 vor allem zu „Gehorsam und Subordination gegenüber den Erwachsenen und den Vorgesetzten erzogen“5. Vor allem aber: die Volksschule war ein Geschöpf des Staates, und sie blieb in sehr viel stärkerem Maße als Universitäten und Gymnasien der Bestimmungsgewalt des Staates und der von ihm beauftragten Kirche unterworfen. Zudem hatte die seit Beginn der Restauration verbreitete konservative Auffassung spätestens seit den 30er Jahren die schulpolitischen Programme aller deutschen Staaten bestimmt. Wir fragen, warum trotzdem die Volksschule, und jedenfalls die Volksschullehrerschaft, einen relativ revolutionären Charakter entwickelt hat.

II. Der Staat hat in Deutschland das moderne Volkschulwesen erst geschaffen. Die vorrevolutionäre Erziehungswirklichkeit war nicht die Schulwirklichkeit, sondern die Wirklichkeit von Haus und Stand, in die der einzelne mithandelnd und mitahmend hineinwuchs. Das Verhalten war traditionsgeleitet, an handhaften, sinnenhaften Beispielen eingeübt, nicht durch Abstraktion und methodisches Lernen bestimmt. Eine solche Welt war Welt des allgemeinen Lehrertums, Schule und Lehrer waren sekundär; im Dorf konnten reihum die Alten unterrichten, die Lehrertätigkeit war immer Nebenerwerb; die Schule war Hilfsinstitution des ganzen Hauses. Die erforderliche Weltinterpretation leisteten Bibel, Katechismus und Gesangbuch, das Lesen und Lernen von Bibel- und Katechismusstellen und von Choralversen genügte zur Welt- und Lebensorientierung. Der ganze Lebenskreis war demgemäß durchweg statisch. An dieser Erziehungswirklichkeit setzt auch der Absolutismus an und überschreitet sie zunächst nicht prinzipiell. Zwar wird die Schule Staatssache: der um die Wohlfahrt und die Steuerleistung seiner Untertanen besorgte Staat setzt die Schulpflicht als Untertanenpflicht fest; die Volksschule ist überall in Deutschland ein Kind der „Polizei“. Die bestehenden kirchlich beaufsichtigten Schulen werden formal mehr oder weniger dezidiert in die Regie des Staates übernommen: die faktische kirchliche Schulaufsicht wird uminterpretiert und als staatliche Delegation verstanden, und das ist möglich, weil die Kirche fast 207

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überall fest in den Staat eingegliedert ist. Die Verstaatlichung verflicht sich mit einer gewissen Verweltlichung: Tüchtigkeit und Nützlichkeit, Untertanengesinnung und Untertanenbrauchbarkeit im jeweiligen Stande werden die weltlichen Erziehungsziele des absolutistischen Staates, seitdem dieser die Pädagogik der Aufklärung zu rezipieren beginnt. Aber das alles bleiben Ansätze. Der Absolutismus greift gegen den Feudalismus und die unendliche historisch gewachsene Partikularität der Verhältnisse nicht wirklich durch; die Schulpflicht wird nicht durchgeführt, in vielen Orten fehlen überhaupt noch Schulen; wo sie bestehen, bleiben sie der lokalen Obrigkeit überlassen, bleiben sie als bloße Winterschulen mit Handwerkerlehrern auch weiterhin Hilfsinstitutionen des ganzen Hauses. Erst zwischen 1790 und 1815, im Übergang von der Spätaufklärung zum Neuhumanismus, vom Spätabsolutismus zur bürokratisch emanzipatorischen Reform, entsteht ein modernes, allgemeines, relativ einheitliches Volksschulwesen. Die Bewegung einer pädagogisch seit Rousseau aufs stärkste engagierten Öffentlichkeit dringt, zumal über das gebildete Beamtentum, in den Staat hinein. Die Erziehungsideen werden Verwaltungsgrundsätze, begründen und gestalten die Institutionen, der Staat wird zum Protagonisten einer tiefgreifenden Schulreform. Für diesen Vorgang gibt es eine Reihe von Gründen. Dazu gehören zunächst bestimmte ökonomische und soziale Verschiebungen, die die traditionsgeleitete Welt nicht mehr auffangen konnte: etwa das Anwachsen einer unterbäuerlichen Schicht, die nicht mehr fest in das Wirtschaftsgefüge des Dorfes eingegliedert ist, keine festen, an Mustern zu übenden Berufserwartungen hat. Pestalozzi hat gerade am Problem der Dorfarmen das Versagen des Hauses als Erziehungsinstitution, den „Wohnstubenraub“, erlebt und ist von daher zu seinem neuen, an Person und Autonomie orientierten Erziehungsdenken gekommen; die Industrieschulbewegung geht auch und gerade vom Problem der Armen aus; Hardenberg hat 1817 das Problem der Kinderarbeit, die den Menschen durch einseitige Ausbildung unfähig mache, sich auf wechselnde Lagen einzustellen, und die ihn so zum Proletarier prädestiniere, mit der Notwendigkeit einer Schulerziehung in Verbindung gesetzt6. Dazu kam die Tendenz, die ökonomische Produktivität durch Bildung nicht mehr nur der gewerblichen Schichten, sondern auch der Landbevölkerung zu stärken, und diese Bildung sollte angesichts der aufkommenden Spezialisierung gerade eine allgemeine Bildung sein. Sodann spielen die großen geistigen Bewegungen der Zeit eine Rolle: die Erziehung zur Humanität ist für Aufklärung wie Idealismus ein eigener, nicht auf ökonomische oder politische Gesichtspunkte zu reduzierender Wert. In der ausgebreiteten öffentlichen Diskussion pädagogischer Probleme in der Spätaufklärung wird die Erziehung, deren eigentliches Ziel bisher verfehlt worden sei, als Eigenbereich aus der Wirklichkeit des allgemeinen Lebens herausgehoben; die Schule wird dabei zur wichtigsten Stätte der Erziehung und muß deshalb aus ihrem bisherigen Schattendasein herausgeführt werden. Durch Pestalozzi 208

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und die idealistisch-neuhumanistische Reform dann wird die alte Welt und ihr Erziehungsverständnis endgültig überwunden. Der Mensch tritt aus Haus und Stand, aus Geburts- und Traditionswelt heraus und gewinnt persönlichen Stand, ein autonomes oder innengeleitetes Verhalten, er tritt ein in eine Welt planender Selbstgestaltung. Die Führungskategorie Herkunft wird abgelöst durch die Kategorie Zukunft. Der Mensch wird verstanden als Werk seiner selbst. Der neue Personbegriff fordert nun, nicht mehr - wie noch die Aufklärung wollte - Kenntnisse zu bilden, sondern Kräfte; nicht die Verhaltensmuster zu übertragen, sondern Spontaneität und abstrahierende Einsicht zu wekken; nicht das für gegebene Lagen Nützliche zu vermitteln, sondern den Menschen gerade durch das Nicht-Nützliche so zu bilden, daß er in verschiedenen Lagen das Nützliche selbsttätig wählt. Bildung steht vor Ausbildung, allgemeine Bildung vor Standesbildung. Damit erst gewinnen Erziehung, Schule und zumal Volksschule endgültig einen neuen Gehalt und eine neue Funktion, sie bekommen einen weltgeschichtlichen Beruf: sie sind Vorstufe einer zu gewinnenden neuen Menschlichkeit. Bei den staatlichen Schulreformen haben diese hochfliegenden Ideen nur in Preußen eine entscheidende Rolle gespielt. Die Schulreformen der Rheinbundstaaten dagegen waren im wesentlichen aufklärerisch-bürokratisch geprägt und hatten bescheidenere Ziele, aber durch die Rezeption Pestalozzis kam es auch hier zu ähnlichen Ergebnissen wie in Preußen, so daß sich die Unterschiede in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eingeebnet haben. Schließlich gibt es ein eminent politisches, und zwar staatliches Interesse an der Organisation des neuen Schulwesens. Die Motive des Absolutismus, die „Verbesserung“ der Untertanen als Wirtschaftssubjekte, als Steuer- und Militärpflichtige und als Objekte der Kriminalstatistik, werden umgeformt: der Staat will die gesamten potentiellen Kräfte der Nation wecken und steigern, um seine Macht zu verstärken. Dazu gehört der emanzipatorische Zug: die Freisetzung gebundener Kräfte und Energien, die nicht mehr direkt, wohl aber indirekt dem Staate zugutekommen sollen, die Modernisierung der Gesellschaft. Gerade die Volksschulerziehung gilt als fundamentales Stück dieses Prozesses. Bauernbefreiung, allgemeine Wehrpflicht und Volkserziehung hängen für die preußischen Reformer ganz unmittelbar zusammen. Süvern, der Protagonist der idealistischen Reform, spricht 1817 von der Schulreform als „dieser wichtigsten aller Spekulationen, die, wenn auch nicht im Augenblick, doch unfehlbar und desto reichlicher auch ihre wahren Zinsen trägt“7. Und es ist der Kriegsminister Boyen gewesen, der 1819 bei den Beratungen über die demagogischen Umtriebe als Hauptmaßnahme gefordert hat, alle „noch disponibel zu machenden Mittel zur Verbesserung der Elementarschule“ anzuwenden8. Ähnliche Überlegungen bestimmen auch in den anderen modernen Staaten Deutschlands die Schulpolitik. Weiterhin dient in allen Staaten die Organisation und Neuorganisation des Volksschulwesens der politischen Integration, der Eingliederung der alten und neuen Landesteile, ja - wie besonders in Nassau und Bayern - auch der Konfessionen in den neuen Gesamtstaat, dient der 209 14

Nipperdey

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Durchsetzung der Staatssouveränität gegenüber allen feudalen und korporativen Gewalten, die noch über die Schule bestimmten, und dient damit der Herstellung eines Immediatverhältnisses zwischen dem Staat und allen seinen Untertanen und der Bildung eines einheitlichen Bewußtseins der Staatsangehörigen. Die Schule, die der Staat energisch in die Hand nimmt und deren Besuch er nun auch faktisch zur Pflicht macht, dient dem Aufbau des modernen bürokratisch-integrierenden Staates, wie wiederum erst die durchorganisierte Bürokratie ein effektives allgemeines Schulwesen ermöglicht. Das staatliche und das gesellschaftlich-ideelle Motiv der Schulreform standen in einer gewissen Spannung zueinander. Die reformerische Intelligenz setzte auf den Staat, der als Agent der Modernität gerade durch freie Bildung die Gesellschaft reformieren und mobilisieren sollte; aber innerhalb des Staates gab es natürlich auch rein etatistische Tendenzen, die auf einen sehr direkten Dienst der neuen Bildung für den Staat zielten. Die Bildung eines neuen Staatsbewußtseins konnte auf Teilnahme am Staat oder auf eine verinnerlichte und schärfer gefaßte Gehorsamspflicht gegenüber der Autorität abstellen: das schulpolitische Grundproblem der Restauration, wie nämlich Modernisierung der Gesellschaft durch Bildung und Sicherung der bestehenden Herrschaftsordnung zu vereinbaren seien, war schon in der Reform selbst latent vorhanden. Die Durchführung der Schulreform - Aufbau von Schulverwaltung und -aufsicht, Errichtung oder Ausbau und Verbesserung von Schulen und deren finanzielle Sicherung, Aufbau städtischer Schulsysteme, generelle Durchsetzung des Schulbesuchs, staatliche Aus- und Fortbildung der Lehrerschaft - war ein langwieriger Prozeß. Gerade in Preußen, dem wir uns zunächst zuwenden, sind die Jahrzehnte der Restauration zunächst und vor allem von diesem Prozeß erfüllt; in der Verwaltung, die ihn durchführt, leben die Antriebe der Reform fort. Das Schulwesen konnte, zumal ein Gesetz fehlte, nur langsam gegen die Gemeinden durchgesetzt werden, die, wie in allen deutschen Staaten, die finanzielle Last zu tragen hatten, und dabei ist man besonders schonend und vorsichtig vorgegangen. Aber letzten Endes hatte die Verwaltung, die in diesem Prozeß die Interessen der bürgerlichen Gesellschaft, ja der ländlichen und kleingewerblichen Massen gegen deren zurückgebliebenes Selbstverständnis antizipierte, Erfolg. Die Zahl der Analphabeten ging bis 1848 entscheidend zurück9; charakteristischerweise sind allerdings die Argumente der Schulverwaltung gegen die Kinderarbeit erst endgültig mit Hilfe des militärischen Interesses an der Schulbildung zur Wirkung gekommen. Ein Kernstück der Reform war die Umformung der Lehrerschaft: ein zufällig und aus hergelaufenen Randexistenzen zusammengesetzter Stand, auf dem Lande der unterbäuerlichen Schicht zugehörig, im allgemeinen ungeschult und meist von grober Unbildung, wurde zu einem systematisch aus- und durchgebildeten Stand von Fachleuten. Die Gründung oder Neuorganisation von etwa 40 Seminaren ist die eigentliche schulpolitische Leistung des preußischen Staates in der Restaurationszeit; noch 1832 wird in Berlin ein Seminar für die gehobenen Ansprüche der städtischen Schulen gegründet. Daneben spielt die staatliche Fortbildung der älteren und der 210

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neuen, seminaristisch gebildeten Lehrer eine wesentliche Rolle, wobei sich der Staat zweier ganz moderner Mittel bedient: der Gründung von Vereinen, Konferenzgesellschaften der Lehrer, und der Gründung und Förderung einer pädagogischen Presse. Aber die Zeit der Restauration ist nicht nur durch das Fortwirken der reformerischen Tendenzen bestimmt. III. Mit Beginn schon der Restauration wird die seit dem späten 18. Jahrhundert virulente konservative Kritik an der modernen Schule und der Schulreform zur Theorie erhoben und als Programm der staatlichen Politik maßgebend, und zwar zunächst wiederum in Preußen10. Wir vergegenwärtigen kurz die wesentlichen Argumente der Konservativen. Die moderne Schule und die moderne Pädagogik sind nicht in erster Linie nach den Absichten ihrer Vertreter, die persönlich konservativ sein mögen, zu beurteilen, sondern nach ihren realen, ihren politisch-gesellschaftlichen Auswirkungen; alle pädagogische Argumentation - die sehr berechtigte Kritik an den pädagogischen Albernheiten, Obertreibungen und Fehlern des Reformenthusiasmus - hat Grund und Ziel in dem politischen Argument. Politisch nun ist die moderne Volksschule revolutionär, sie ist eine der Ursachen des „Verderbens der Zeit“. Und zwar im doppelten Sinne. Zum einen will sie, ausgehend vom anthropologischen Optimismus der Pädagogik, zur Autonomie, zur Selbstentfaltung des Menschen erziehen und zerstört damit die Bindung des Menschen an gegebene, positive Wahrheiten, an Tradition und Autorität. Die erstrebte Selbstbildung führt zur Selbstvergötzung und zum Dünkel. Dabei werden sowohl die modernen Methoden, die Bildung von Kräften und Fähigkeiten, die Selbstentwicklung der Wahrheit verworfen wie die Fülle der modernen Wissensinhalte, die über den begrenzten Kreis des einzelnen hinaus Welt und Kultur vermitteln, und ihre Überschätzung. Beides macht die Menschen kritisch und „räsonniersüchtig“ und gefährdet durch ein verderbliches Übergewicht der intellektuellen Kräfte die sittliche Gesinnung. Außerdem ist der Anspruch der modernen Schule schon deshalb gefährlich, weil er utopisch ist: indem die Schule faktisch auf eine Überbildung des Menschen aus ist, erzeugt sie nur Halbbildung; darin aber wurzelt wieder die ständige Unzufriedenheit des Menschen mit seiner jeweiligen Lage. Zum andern: die moderne Volkserziehung erstrebt eine allgemeine und (grundsätzlich) gleiche Bildung und setzt solche Gleichheit der ständischen Realität und Ungleichheit entgegen. Diese Gleichheit gilt den Konservativen als künstlich, sie befördert die Gleichheit der Ansprüche, die lieblose Konkurrenz, sie bringt den einzelnen dazu, über seinen Stand und seine Möglichkeiten hinauszugreifen, sie ermutigt den aufsässigen Geist der niederen Stände und zerstört endlich die notwendige Unterordnung in den „geselligen“ Verhältnissen. Die moderne, auf Autonomie und Intelligenz abzielende Bildung 211 14*

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also bedroht die bestehende Herrschafts- und Gesellschaftsordnung; anstatt den Menschen in die bestehenden Zustände ein- und anzupassen, sucht sie ihn für neue und vielfältige Möglichkeiten zu erziehen, anstatt die Gesellschaft und den einzelnen in ihr zu stabilisieren, sucht sie sie gerade zu mobilisieren. Dagegen wird nun, ausgehend vom anthropologischen Pessimismus der Konservativen, ein anderes Bildungsideal gestellt: Erziehung innerhalb der ständischen Ungleichheit und zu ihr, Erziehung zu Autorität und Gehorsam, zu Demut und Entsagung, Geduld und Vertrauen, zu Genügsamkeit und Zufriedenheit in der von Gott verordneten Lage und dem jeweiligen Unterordnungsverhältnis, zur Tradition und zu gegebenen Wahrheiten, darum zum Gedächtnis, nicht zur Denkkraft, zu festen Gesinnungen und zu begrenztem Können. Sofern man sich auf Pestalozzi berief, stellte man dessen antirationalistische Motive einseitig heraus, spielte Herz, Sinn und Gemüt gegen Verstand und Urteilskraft aus. Gegen die aktivistische Dynamik der Moderne soll zu einer eher quietistischen Statik erzogen werden, und das geht bei W. Harnisch und Eichhorn bis zur Propagierung des Gartens als eines sentimentalischen Idylls, mit dem man den moralischen Übeln der Zeit begegnen will. Hinter diesen Zielsetzungen steht zuletzt die Bildungsangst. Daraus ergeben sich praktisch zwei Folgerungen. Negativ wenden sich die Konservativen gegen alles Zuviel in der Bildung, sei es rationalistisch-realistischer, sei es idealistisch-formaler Art, gegen alles, was über die Vermittlung elementarer Kenntnisse und Fertigkeiten hinausgeht, ζ. Β. gegen den U nterricht in den sogenannten Realien (Naturkunde, Geschichte) und in den formalen Fächern wie Mathematik und Sprachlehre. Die Aufgabe der Schulpolitik ist Reduktion und Restriktion der Schule; nicht die Bildung, sondern die Grenzen der Bildung stehen im Mittelpunkt. Positiv soll die Schule die konservative Ordnung erhalten, ja konservative Gesinnung erzeugen. Der konservativen Absage an die Schule steht der konservative Zugriff auf die Schule zur Seite, beides dient der konservativen Immunisierung der Jugend gegen die Modernität. Das Mittel der positiven Indoktrinierung ist der Religionsunterricht: er muß im Zentrum aller Erziehung stehen und bleiben; vor allem aber muß er - denn Religionsunterricht stand damals in allen Schulen und allen Bildungskonzepten im Mittelpunkt - orthodox-positiv umgeformt werden, also von allen rationalistischen und idealistischen Interpretationen, allen Umdeutungen der Religion zu einer humanistischen und autonomistischen Ethik gereinigt werden. Erst im Gehorsam gegen die unwandelbare Autorität Gottes, die in objektiven Institutionen und Maximen fixiert ist, kann der Gehorsam gegenüber der weltlichen Autorität und die Stabilisierung der gesellschaftlichen Ungleichheit begründet werden, das ist noch keine bewußte Instrumentalisierung, sondern ungebrochene Selbstverständlichkeit. Das eigentliche Kampffeld für den konservativen Gegenangriff gegen die Reform war die Lehrerbildung: hier schien die Gefahr von Überbildung, Halbbildung und Unzufriedenheit besonders groß. Darum sollten gerade die Seminare, fern von aller Wissenschaftlichkeit, aller theoretischen Reflexion, und frei von der Fülle nicht-elementarer Stoffe, nach den 212

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Maximen der Reduktion und der Konfessionalisierung konservativ umgestaltet werden, auf ein einfaches, ζ. Τ. handwerkliches Niveau gebracht werden, während umgekehrt die Erben der Reforjm, die Liberalen, die Lehrerbildung in den Seminaren gerade wissenschaftlich-theoretisch extensivieren und intensivieren wollten. Diese Polemik gegen die moderne Schule und diese Ideale bilden bis 1848 die Grundpositionen der preußischen wie nichtpreußischen konservativen Schultheorie und Schulpolitik; in den 40er Jahren rückt dabei die Entfremdung des „städtisch“ gebildeten Lehrers von der traditionellen Lebensordnung des Dorfes und der Zusammenhang von Schulbildung und sozialer Gärung immer stärker in den Mittelpunkt der Argumentation11. IV. Die konservative Restauration, die wir zunächst und einigermaßen ausführlich wiederum in Preußen betrachten, hat seit 1819 eine Reihe von Erfolgen gehabt. An ihr letzten Endes ist der Süvernsche Entwurf eines Unterrichtsgesetzes gescheitert; damit geriet der Ausbau des Volksschulwesens in Schwierigkeiten, und zu einer befriedigenden Lösung der Finanzkalamität der Schulen ist es nicht mehr gekommen. Vertreter der schulpolitischen Reaktion kamen als Räte ins Kultusministerium, und ihr Geist prägte insbesondere die Volksschulabteilung des Ministeriums, die 1820 bis 1827 von Beckedorff geleitet wurde. Die Stellung der Kirche gegenüber der Schule wurde verstärkt. In einer Fülle von „Bremserlassen“ wurden die Grenzen der Schul- und Seminarbildung und die positiven Erziehungsideale der Restauration eingeschärft, die Seminarordnungen wurden entsprechend redigiert. Auch die Personalpolitik, zumal die Auswahl der Seminardirektoren, war von diesen Prinzipien bestimmt; freilich, da die Beamten so gut wie unabsetzbar waren, konnten sich hier Erfolge nur langsam einstellen. Trotzdem: im ganzen blieb bis in die 40er Jahre hin die Restauration ohne nachhaltige und durchschlagende Wirkung; gerade die konservativen Schulpolitiker der 40er und 50er Jahre haben das immer wieder betont. Das preußische Volksschulwesen war keineswegs einheitlich durchgestaltet und konservativ, es war vielmehr von vielfältigen sich frei entwickelnden Tendenzen und Prinzipien erfüllt, es war - darüber sind sich alle zeitgenössischen Beurteiler einig - wesentlich pluralistisch. Volksschule und Lehrerschaft waren darum bis 1848 nicht eigentlich antirevolutionär, ja sie hatten ihren dominierenden, vermeintlich revolutionären, liberal-rationalen Charakter noch keineswegs verloren. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. a) Die maßgebenden konservativen Politiker, von Beckedorff bis Eichhorn, waren antizentralistisch gesonnen. Das konservative Mißtrauen gegen Gesetz und Bürokratie, gegen das Machen, Nivellieren und Normieren, die Hochschätzung der Vielfalt, des Wachsenlassens, der persönlichen Wirkung, der Vorrang des Geistes vor den Institutionen, bestimmte den politischen Stil. Der 213

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Staat dürfe nicht, so schrieb Beckedorff in seiner Kritik an Süverns Entwurf, „eine von ihm beabsichtigte Erziehungsweise der gesamten Nation als einen Zwang aufdringen“ wollen, daraus spreche nur das bürokratische Mißtrauen gegen die Vorfahren, die Nachkommen und auch die Zeitgenossen, er könne nur „in Liebe mahnen, nicht aber befehlen und zwingen, sei es auch, um dem Menschen zu seinem Heil zu verhelfen. Wer bürgt dafür, daß es nicht am Ende von Stufe zu Stufe bis zu Inquisition und Autodafe kommt“12. Diese Haltung die die Wahl wirksamer Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ziele scheute, wenn sie zentralistisch waren, bestimmte auch die Praxis. Die Behörden, so hieß es in einem Erlaß 1822, sollten regulieren, zurückhalten und antreiben, nicht aber normieren13; Irrtümer könnten nicht durch Vorschriften abgeschafft werden, sondern man solle sie so behandeln, daß sie sich aus eigener Kraft von ihrer Einseitigkeit befreiten14. 1832 lehnte das Ministerium die Gründung eines Zentralverlags für Schulbücher, wie er ζ. Β. in Bayern bestand, ab, weil man die freie Entwicklung nicht beschränken und nicht ein Monopol schaffen wolle, „das sich mit den übrigen Institutionen des Staates nicht wohl vertrüge“15. Es gab weder für die Volksschule noch für die Seminare allgemein verbindliche Lehrpläne, Stundenpläne und Lehrbücher, die Verwaltung arbeitete vielmehr mit Einzelverfügungen. Die restaurativen Maximen wurden in Gestalt von patriarchalischen Empfehlungen, Mahnungen oder Warnungen, nicht aber - oder nur in besonders extremen Fällen - als Verordnungen und Befehle ausgesprochen. Man bevorzugte die allmähliche Korrektur vor dem radikalen Eingriff. Auch die Seminare hatten jeweils ihre eigene Ordnung, und obwohl diese Ordnung vom Ministerium redigiert wurde, hatten die Direktoren erhebliche Freiheit und bestimmten im Grunde den Geist der einzelnen Institute; sie wurden vom Ministerium kritisiert und ermahnt, aber solche Kritik hatte bei den nichtkonservativen Direktoren kaum wesentlichen Einfluß auf ihre Wirksamkeit. Zu diesem Verwaltungsstil gehörte schließlich das Unternehmen des Volksschulreferenten Beckedorff, durch eine offiziöse Zeitschrift den amtlichen Standpunkt zu propagieren. Indem aber das konservative Ministerium sich auf das Strukturprinzip der modernen Politik, auf die Öffentlichkeit, einstellte, mußte es auch seinen Gegnern diesen Boden einräumen. Es ist daher gerade für Preußen charakteristisch, daß es eine größere Zahl von Schul- und Lehrerzeitschriften gab, die von staatlichen Schulverwaltungsbeamten und Seminardirektoren und -lehrern geleitet wurden; in den „Rheinischen Blättern“ des Staatsbeamten und Seminardirektors Diesterweg konnte der schulpolitische Liberalismus seine stärkste Position ausbauen. b) Das monarchisch-bürokratische Herrschaftssystem war nicht nur antizentralistisch, sondern war auch in sich selbst nicht einheitlich, und das galt gerade auf dem Gebiet der Schulpolitik. Die von König und Hof gestützten Konservativen hatten Machtpositionen errungen, aber sie sahen sich starken Gegenkräften gegenüber, die ihre Effektivität entscheidend hemmten. Kultusminister blieb Altenstein, der dem König durch die Unionspolitik unentbehrlich geworden war. Er hat seine reformerischen Bildungsvorstellungen zwar konservativ 214

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modifiziert, aber doch im wesentlichen durchgehalten. Gerade er ist es gewesen, der 1832, als nach der Juli-Revolution und dem Hambacher Fest die schulpolitische Reaktion außerhalb Preußens sich verschärfte, das Berliner Stadtschullehrerseminar begründet hat; er war noch von genügend progressivökonomischer und idealistischer Staatsräson erfüllt, um anzuerkennen, daß das städtische Bürgertum ein ansteigendes Bildungsbedürfnis habe, das der Staat befriedigen müsse. Er hat - nicht scharf durchgreifend, sondern eher lavierend - der konservativen Volksschulpolitik nicht direkt widersprochen, aber er hat sie wesentlich abgeschwächt und eine durchgreifende Reaktion verhindert. Zu den Gegenkräften der Reaktion gehörte vor allem die Mehrheit der preußischen Bürokratie: ein Teil der Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten und zumal die mit Schulangelegenheiten betrauten Regierungsräte. Sie setzten sich aktiv für den Ausbau und die Verbesserung der Schule und der Lehrerbildung ein, ohne die konservative Angst vor der Schule, vor einem Zuviel an Bildung, zu teilen. Und sie standen den schulpolitischen Zielen der Restauration häufig distanziert und ablehnend gegenüber. Bis in die 30er Jahre hin war das die allgemeine Haltung der Verwaltung in fast allen Provinzen; seither drang dann die konservative Tendenz vor, aber in Sachsen und Westfalen, im großen und ganzen auch in Preußen und Schlesien blieb die Schulverwaltung in der Hand von schulpolitisch überwiegend liberal eingestellten Beamten. Zudem verzögerte eine ständige Kompetenzrivalität zwischen Regierungen und Provinzialschulkollegien und -konsistorien auch sonst das Vordringen der Konservativen, denn die Regierungen blieben im allgemeinen länger liberal als die Provinzialbehörden. In dieser Situation kam es nicht selten zu Gegensätzen zwischen der regionalen Verwaltung und der Zentrale. Die Verwaltung kritisierte Maßnahmen des Ministeriums, lehnte bestimmte Empfehlungen von Büchern oder Grundsätzen ab, trieb nach Möglichkeit eine eigenen Personalpolitik, schützte jedenfalls die nichtkonservativen Seminardirektoren und führte, das ist der allgemeine Eindruck der Zeitgenossen, die sogenannten Bremserlasse nicht wirklich durch16. Im ganzen erwies sich die Bürokratie als ein relativ autonomer Faktor, sie vertrat gegenüber der Regierung eigenständige Tendenzen. In ihr dauerte die Tradition der Reform, der bürokratischen Liberalisierung, noch bis in die 40er Jahre hin fort; und in ihr war zugleich eine sachliche Notwendigkeit der staatlichen Existenz Preußens lebendig, die Notwendigkeit, die Gesellschaft durch Freisetzung zu modernisieren, um den Staat zu stärken. Die überwiegend bürgerliche Verwaltung bleibt auch als Schulverwaltung für die Gesellschaft ein progressiver Faktor, und ihre Progressivität ist zunächst noch nicht von der reaktionären Angst angesteckt, daß der Bestand der Herrschaftsordnung durch das Fortschreiten der Bildung gefährdet sei. c) Ein weiterer Faktor, der das Durchdringen eines reaktionären Kurses verhinderte, war die Kirche, genauer die Tatsache des innerprotestantischen Pluralismus17. Die schulpolitische Reaktion begünstigte die später so genannte 215

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„positive“ Richtung, also Neupietismus und Orthodoxie, und geriet gerade dadurch in erhebliche Gegensätze zu anderen Machtfaktoren. Besonders das gebildete Beamtentum war vom theologischen Rationalismus und vom idealistischen Liberalismus bestimmt; es widerstrebte schon der stärkeren Verkirchlichung der Schule und setzte die Interessen der Schule oft über die der Kirche, mit besonderer Emphase aber widersetzte es sich jeder Begünstigung der kirchlichen Rechten und jeglichem „Gesinnungszwang“; selbst Anhänger der Erwekkungsbewegung stimmten darin mit den Liberalen überein. Altenstein hat in seiner philosophischen Christlichkeit die konservative Bevorzugung der Orthodoxie abgelehnt, seine Toleranz kam im Bereich des Schulwesens objektiv den Rationalisten und Liberalen zugute. Aber auch in der Kirche selbst gab es erhebliche Widerstände. Die einzige zentralistische Maßnahme, die Beckedorff plante, eine Normierung des Religionsunterrichts an den Seminaren, scheiterte am Einspruch der Kirchenabteilung seines Ministeriums gegen die Orthodoxie seines Entwurfs18. Die Kirchenbehörden, die über die Provinzialkonsistorien einen starken Einfluß auf Schule und Seminarwesen ausübten, waren mindestens bis in die 30er Jahre - in Westfalen und Sachsen bis in die 50er Jahre - von Rationalisten, Idealisten und Vermittlungstheologen bestimmt; hier blieb eine ältere Tradition noch lange institutionell wirksam, die oft im Gegensatz zur restaurativen Politik stand oder jedenfalls nicht-konservative Ziele und Personen deckte. Und auch in der Folgezeit kam es keineswegs zu einer unbestrittenen Herrschaft der Orthodoxie. Die schulpolitischen Ziele der Konservativen und ihrer kirchlichen publizistischen Bundesgenossen waren nicht identisch mit der Haltung der Kirchenverwaltungen, und auf der Ebene der Orts- und Bezirksaufsicht konnte von einer einheitlichen Position der Kirchenvertreter erst recht keine Rede sein. Schließlich geriet die staatliche Kirchenpolitik, die Politik der Union, in Konflikte mit kirchlich-konservativen Gruppen, Konfessionalisten, Pietisten und „Separatisten“; die Verwaltung ist in den 20er und noch in den 30er Jahren von starkem Mißtrauen gegen alle bestimmt, die im Verdacht des „Pietismus“ standen: das waren aber gerade die von der Bekkedorffschen Volksschulabteilung geförderten Seminardirektoren. Die staatliche Kirchenpolitik geriet so in einen gewissen Gegensatz zur konservativen Schulpolitik. Weil die Kirche ein pluralistisches Gebilde war, traf die verkirchlichende Schulpolitik auf die internen Spannungen dieser Kirche und konnte darum ihr eigentliches Ziel nicht oder nur ganz unvollkommen durchsetzen. d) Weiterhin wurde das Schul- und zumal das Seminarwesen, die institutionalisierte Pädagogik, zu einem Bereich mit Eigentendenzen und beanspruchte gegenüber den staatlichen Direktiven eine gewisse Autonomie. Die Schulreform hatte sich zunächst der Theologen als der einzig verfügbaren pädagogischen Fachleute bedient. Hier waren es vor allem Rationalisten gewesen, die an Volksbildung besonders leidenschaftlich interessiert waren und oft, man denke an J . P. Hebel, über eine bezwingende Volkstümlichkeit verfügten. Dann wurden auch idealistisch liberale Reformer hinzugezogen. Alle pädagogisch Interessierten, Protestanten wie Katholiken, standen um 1815 in der Nachfolge des 216

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philanthropischen Rationalismus und (oder) im Banne Pestalozzis. Als die Restauration an die Macht kam, waren Rationalismus und Reformismus in der Praxis gerade der pädagogisch tätigen Theologen eingewurzelt und allen amtlichen Anordnungen, zumal bei dem herrschenden Verwaltungsstil, überlegen. Eine ganze Reihe der Seminardirektoren und eine noch viel größere Zahl der Seminarlehrer hingen diesen Tendenzen an, beharrten auf ihnen und entwickelten sie im Sinne des aufsteigenden Liberalismus weiter. Hierbei hatten sie zunächst immerhin eine gewisse Freiheit, ihre Intentionen zu realisieren. Gerade der Rationalismus gedieh, noch als er längst nicht mehr die dominierende Tendenz in der Theologie war, in den Bereichen der Praxis und zumal der Pädagogik fort. Das hing sachlich damit zusammen, daß die Grundthesen von Rationalismus und Idealismus dem sozusagen „natürlichen“ Glauben der Pädagogik von Rousseau bis Pestalozzi entsprachen und daß von diesem Boden aus die pädagogische Aufgabe, die Elementarisierung der Bildungsstoffe, zunächst am besten lösbar schien. Die didaktische Literatur der Zeit ist vornehmlich von einem rational verstandenen Pestalozzianismus her geschrieben, und diese Literatur blieb, gerade auch im Religionsunterricht, bis in die 40er Jahre hin auch unter konservativen Schulverwaltungen und konservativen Seminardirektoren bestimmend; die rationalistische Dintersche Schullehrerbibel war bis zum Verbot durch Eichhorn eines der populärsten und am meisten verbreiteten Lehrerbücher. Aber auch abgesehen von diesen älteren fortdauernden Traditionen entwickelte sich im pädagogischen Bereich ein Expertentum, das eigene Geltung beanspruchte und dem der Staat auch eigene, freilich begrenzte Geltung zugestand. Die schulpolitischen Forderungen der Lehrer, etwa nach Ersetzung der geistlichen Aufsicht durch eine Fachaufsicht, wurden von den Erfordernissen des eigenen Bereiches, den Notwendigkeiten der Schule und den Interessen des Kindes her begründet. Auch konservative Pädagogen haben darum an dieser Entwicklung Teil. Die meisten der durch die Erweckung christlich gewordenen Pestalozzischüler, die eigentlichen pädagogischen Träger des restaurativen Schulwesens, wie W. Harnisch, haben, obwohl sie Pestalozzi antirational umformten, ihre Herkunft aus der Reform nie ganz verleugnen können und bei allem Vorrang kirchlicher Religiosität Methoden, Fächer und Bildungsziele der Reform übernommen; sie haben die Konzentration, nicht aber die Restriktion der Lehrstoffe gefordert, und sie wollten die Lehrerbildung keineswegs zur bloßen Ausbildung degradieren. Das reaktionäre Ideal des alten Handwerkerlehrers wurde auch vom konservativen Sachverstand nicht akzeptiert, ja in den 40er Jahren treten einzelne Konservative aus sachlichen Erwägungen für eine Trennung der Schule nicht von der Kirche, wohl aber von der kirchlichen Aufsicht ein: die Sachproblematik splitterte hier die ursprünglich einheitliche konservative Position auf. Diese allmählich sich ausbildende relative Selbständigkeit des Schulwesens stand mit der Schulpolitik der Regierung in dialektischer Wechselwirkung: einmal verhinderte sie den Erfolg der Regierung, zum andern aber provozierte sie gerade immer neue Maßnahmen der Regierung, die die Restauration schulpolitisch zur Reaktion werden ließen. 217

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Charakteristisch für das Zusammenwirken der erwähnten Faktoren ist die Karriere von Adolf Diesterweg. In einem langen Konflikt mit dem Ministerium, das Diesterweg ablehnte, weil er, der Gymnasiallehrer, Nichttheologe war und eine vom dogmatischen Religionsunterricht getrennte philosophische Pflichtenlehre eingeführt hatte, haben Regierung, Provinzialverwaltung und letzten Endes kirchliche Stellen über eine Intervention beim Minister 1822/23 seine endgültige Ernennung zum Seminardirektor in Moers durchgesetzt. Er hat trotz ständiger Kritik des Ministeriums an seinem rational-idealistischen Programm der Lehrerbildung festgehalten und auch die Lehrerfortbildung in einem ganz anderen Geiste als dem vom Ministerium anempfohlenen betrieben19. Seine Zeitschrift, die „Rheinischen Blätter“, baute er seit 1827 zum Zentralorgan der liberal-pädagogischen Bestrebungen aus. 1832 wurde er auf Empfehlung des Oberkonsistorialrats Ross von Altenstein zum Direktor des neuen Berliner Stadtschullehrerseminars ernannt: der Nichttheologe, an dessen Liberalismus ebenso wenig wie an seiner fachlichen Qualifikation gezweifelt werden konnte, erhielt eine der wichtigsten Stellen im Seminarwesen der Monarchie; zwar wurde er wegen seiner Schriften, zumal zur Sozialpolitik, Ende der 30er Jahre öfter amtlich kritisiert, als er aber mit seinem Dienstvorgesetzten 1839 in die ärgerlichsten Gegensätze geriet, wurde er auf eigenen Antrag 1839 einem anderen Vorgesetzten zugeteilt. Seit 1844/45 dann betrieb das Ministerium Eichhorn die Amtsentsetzung dieses Protagonisten der liberalen Lehrerschaft; aber man hatte noch rechtsstaatliche Skrupel, daß man diesen Mann eigentlich nicht wegen seiner Ansichten entlassen könne, da er sie schon bei seinem Amtsantritt gehabt habe, und ein solches Verfahren die Kontinuität des Staates erschüttern würde; so kam es erst 1847 zu seiner Entlassung. Aber nicht die Entlassung ist erstaunlich, sondern die Tatsache, daß dieser Mann 27 Jahre lang in Preußen in wichtigen Stellungen wirken konnte. e) Schließlich wurde die schulpolitische Restauration gehindert durch die Selbstverwaltung der Städte; in den 20er und 30er Jahren hat die staatliche Verwaltung, wie erwähnt, noch erheblichen Druck auf die Städte ausüben müssen, aber allmählich haben diese dann ihr Schulwesen organisiert und ein positives Interesse an der Schule genommen. Da die Grenzen zwischen Elementar- und Bürgerschulen in den Städten fließend, die städtischen Schulen gegenüber Staatsbehörden und Kirchen unabhängiger und die Lehrer stärker in die bürgerliche Gesellschaft integriert waren, kam es hier, gerade als in den 40er Jahren die Reaktion sich verstärkte, zu einer relativ fortschrittlichen selbständigen Entwicklung des Schulwesens und der Lehrerschaft20. Zwar entstand natürlich mit der Zeit infolge der konservativen Politik auch eine konservative Machtbastion in der Schulverwaltung und im Seminarwesen, aber bis etwa 1840 war die konservative Richtung doch noch nicht dominierend. Erst das Ministerium Eichhorn hat, weil man die revolutionären und zumal Sozialrevolutionären Unruhen mit der Schule und dem Fehlschlagen der bisherigen staatlichen Maßnahmen in Verbindung brachte, einen entschiedeneren Reaktionskurs eingeschlagen. Aber auch jetzt blieb man im wesentlichen beim Verzicht 218

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auf generelle Normen und arbeitete lieber mit Einzelverfügungen - Bücherverboten, Beschränkungen der Unterrichtsstoffe, Empfehlungen des Gartenbaues, Verbote gegen die Lehrerbewegung, Auflösung des Breslauer Seminars - und personalpolitischen Entscheidungen; wichtige Maßnahmen wie die Verlegung der Seminare in Kleinstädte blieben in der Vorbereitung stecken. Diese Maßnahmen konnten gegenüber dem fortbestehenden Pluralismus in der Verwaltung nicht kurzfristig wirken, sie erhöhten aber ganz wesentlich die Unzufriedenheit und Unruhe der Lehrer: gerade die Eichhornsche Politik der Unterdrückung und der Begünstigung der Orthodoxie brachte es dahin, die Opposition der Schullehrer mit der allgemeinen bürgerlich-liberalen Opposition zu verbinden, ihr eine breitere Resonanz zu sichern. Gerade die gebremste, „halbe“ Reaktion hat bewirkt, daß man Druck und Hemmungen besonders stark empfand, und hat damit die revolutionären Tendenzen in Volksschule und Lehrerschaft verschärft. V. Die Ambivalenz im Verhältnis des preußischen Staates zur Schule, die Gleichzeitigkeit von Ausbau und Restriktion, die Hemmung der schulpolitischen Restauration durch Verwaltung, Kirche und Pädagogik - das läßt sich mit charakteristischen Modifikationen auch in den meisten anderen deutschen Staaten beobachten. Freilich, es gibt eine Gruppe von Staaten, in denen die Ambivalenz der staatlichen Zielsetzung und die schulpolitischen Konflikte nur eine untergeordnete Rolle gleichsam am Rande der Politik spielen. Das sind zum einen die Länder altertümlicher Struktur wie die beiden Mecklenburg und Hannover, die noch kaum über ein durchorganisiertes Volksschulwesen verfügten, und Österreich, das zwar Schulpflicht und Schulorganisation durchsetzte, aber die moderne Schulidee des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht mehr rezipierte und vor allem keine institutionalisierte Lehrerbildung kannte: da es keine moderne Schule gab, waren besondere Maßnahmen der Reaktion hier nicht notwendig. Zum andern gehören hierher die Mehrzahl der mitteldeutschen Kleinstaaten, Sachsen (seit 1835) und Nassau. Sie haben ein relativ modernes Schulwesen aufgebaut, in dem das Erbe von Aufklärung und Reformzeit erhalten blieb; das lag vor allem daran, daß Kirche und (oder) Schul Verwaltung stark vom theologischen Rationalismus und Liberalismus bestimmt blieben, oder daß wie in Nassau, dem Land der Simultanschule, die Bürokratie bis in die Mitte der 40er Jahre gegenüber dem Drängen zumal der Katholiken nach Rekonfessionalisierung an ihrem Integrationsideal und damit an den ursprünglichen Intentionen der Schulreform festhielt. Es ist auffallend, daß es gerade in Nassau, wo die Regierung gesamtpolitisch einen scharf konservativen Kurs einschlug und in dem gemäßigt konservativen Sachsen zu keiner schulpolitischen Reaktion gekommen ist. 219

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In den süddeutschen Staaten und in Kurhessen tritt der schulpolitische Konflikt dagegen deutlich ausgeprägt in Erscheinung. Baden blieb im ganzen bei einem liberalen Kurs und so auch bei einer liberalen Praxis: die staatsliberale Bürokratie, deren Repräsentant Nebenius 1833 aus ökonomisch-sozialen Gründen für die durchgreifende Verbesserung gerade des Volksunterrichts eintrat21, der gleichgesinnte Wessenberg22 und die Wessenbergianer, die bis 1848 einen beherrschenden Einfluß auf das katholische Volksschul- und Seminarwesen hatten, und die rational-liberale Richtung der protestantischen Kirche (J. P. Hebel) bewirkten, daß Tendenzen und Maßnahmen zu einer konservativen Umformung des Schulwesens keine wesentlichen Veränderungen zur Folge hatten. In Württemberg blieben die kirchlichen Schulverwaltungen liberal und haben, zuerst gegenüber konservativen Tendenzen der Kammern, dann gegenüber den reaktionären Bestrebungen des Königs und des Geheimen Rates, mit gewissen Konzessionen (starke Einschränkung des Realienunterrichts 1836) einen gemäßigt-liberalen Kurs durchgehalten; auch die protestantische und katholische Lehrerbildung, die freilich noch nicht den gesamten Lehrernachwuchs deckte und darum erst langsam ins Zentrum der konservativen Reaktion rückte, war in der Hand liberaler und (1848) demokratischer Theologen. Dieser Kurs wurde zudem dadurch ermöglicht, daß die staatskonservative Bürokratie sich 1836 zusammen mit der liberalen Kammermehrheit gegen die kirchlichen Forderungen nach einer totalen Konfessionalisierung der Schule zur Wehr setzte: der aufkommende Konflikt der beiden konservativen Mächte Staat und Kirche ließ der liberalen Schulpolitik einen gewissen Spielraum. Schärfer und durchdringender war die Reaktion in Hessen-Darmstadt, die 1832 unmittelbar nach dem Hambacher Fest einsetzte - hier wurde auch das Argument der entschieden katholischen Kräfte, die simultane „Kommunal“-Schule und das Zuviel an Unterricht und Schule begünstige die Revolution23, vom Staat aufgegriffen und die Simultanschulen infolgedessen eingeschränkt-, und in HessenKassel seit dem Ende der 30er Jahre; allerdings sind in beiden Ländern die Seminare erst zu Beginn der 40er Jahre wirklich konservativ umgestaltet worden, allerdings behielten die großen Städte eine relative Selbständigkeit im Schulwesen, und in Hessen-Darmstadt behielt, im Unterschied zum orthodoxen Kurhessen, auch der Liberalismus in Kirche und Kirchenverwaltung seinen Einfluß. Am schärfsten und durchgreifendsten war die schulpolitische Reaktion in Bayern, die vom König, zumal seit 1830-32, in die Wege geleitet wurde: sie führte über generelle Verordnungen über Lehrpläne, Lehrerbildung und Schulzeit auch zu grundlegenden institutionellen und personellen Veränderungen in der Schulverwaltung und dem Seminarwesen und stellte so einen wirklichen Bruch mit der bayerisch-rheinbündischen Aufklärung und ihrem Fortwirken im ersten Jahrzehnt nach 1815 dar. Die Reaktion war durch keine nennenswerte Diskrepanz zwischen staatlichen und kirchlichen Interessen und keinen ins Gewicht fallenden Pluralismus innerhalb der Kirche behindert, die Eigenständigkeit der Verwaltung war bei noch gestraffter Zentralisierung gering. Freilich, selbst hier gab es gegenläufige Tendenzen: Oettingen-Wallerstein 220

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nahm gegen die ausgesprochene Intention des Königs 1836 doch auf die ökonomischen Erfordernisse der gesellschaftlichen Entwicklung wenigstens in den Städten Rücksicht und verstärkte dort den Unterricht in den technischen und mathematischen Fächern; er hat auch die vom König beabsichtigte Aufhebung der Seminare verhindert; die pädagogische Literatur der Aufklärung und Reformzeit wirkte im Vormärz weiter. Die erneute schulpolitische Reaktion von 1857 wurde gerade damit begründet, daß die früheren Maßnahmen nicht genügend Erfolg gehabt hätten. VI. Wir werfen einen Blick auf die Stellung der Liberalen zum Problem Volksschule und Revolution. Die spätaufklärerischen und idealistischen Reformer hatten dazu zwei, gelegentlich miteinander verbundene, Auffassungen entwikkelt. Einmal sollte die Reform der Erziehung die gesellschaftlich-staatlichen Verhältnisse verwandeln, insofern an die Stelle der politischen Revolution treten und ihre Aufgabe erfüllen24. Schleiermacher schreibt 1805, „wer eine Nationalerziehung in diesem Sinne . . . zu schaffen vermöchte, der würde unabwendbar der Stifter einer Revolution, indem der Regierung nichts weiter übrig bliebe, als sich ganz dem neuen Charakter (des Volkes) zu fügen und ihm gemäß umzugestalten“25. Und Süvern spricht 1807/08 von der notwendigen „totalen Reformation“ sowohl der Politik wie der Pädagogik26. Zum anderen sollte die reformierte Schule die Revolution verhindern, weil sie mit der Einsicht Gehorsam gegen Gesetz und Autorität vermittele27. Nach 1815 tritt das Problem, vielleicht aus taktischen Gründen, vielleicht weil die Volksschuldiskussion überhaupt stark zurückgeht, in den Hintergrund; erst seit der Juli-Revolution und zumal mit den aufkommenden Erörterungen über die soziale Frage gewinnt es neue Aktualität: in einigen Schriften von Adolf Diesterweg und Friedrich Harkort ist diese Aktualität theoretisch reflektiert. Diesterweg beginnt seine Erörterungen28 mit einem kritischen Argument gegenüber den reformerischen Erwartungen und den konservativen Befürchtungen: die Schule könne die politischen und sozialen Verhältnisse überhaupt nicht unmittelbar verändern, ihre Wirkung sei durch andere Erziehungsmächte begrenzt, sie sei, selbst von der Gesellschaft abhängig, weder Ursache noch Heilmittel für die Probleme der Zeit, den Intellektualismus, die revolutionäre Gärung oder den Pauperismus29. Aber korrektiv zu dieser skeptischen Einsicht steht ein positives Argument über die relative Wirksamkeit der Schule. Die moderne Schule setze, indem sie die Selbsttätigkeit erwecke, allerdings notwendig Veränderungen in Gang, aber diese seien evolutionär, nicht revolutionär. „Wo Schulen blühen, da ist der Fortschritt gesichert, der langsame, allmähliche, aber unausbleiblich“30; gerade Reform und Evolution seien die einzigen Mittel, die wirklich vor der Revolution Sicherheit gewährten. Zudem vermittele die Erziehung die notwendige Einsicht in die gesellschaftlichen und politi221

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schen Zusammenhänge und begründe damit zusätzlich zu ihrer disziplinierenden Funktion erst eigentlich den wahren, nämlich freien und einsichtigen Gehorsam. „Weiß er [der Pöbel], daß das Wohl Aller und jedes Einzelnen von dem Gehorsam der Bürger gegen das Gesetz abhängt, alsdann finden revolutionssüchtige Menschen keinen Boden mehr, in dem ihre böse Saat Wurzeln schlagen und emporschießen könnte.“31 Darum müsse eine Politik, die die Revolution und vor allem die soziale Revolution vermeiden wolle, gerade das Schulwesen intensivieren und verbessern. Nicht die Übertreibungen der Schule, sondern ihre Mängel begünstigten die Revolution. Hier hält sich trotz aller realistischen Skepsis angesichts der sozialen Frage doch der liberale Bildungsglaube noch durch: die ausgebaute und moderne Schule erst vermag gegen die Revolution zu erziehen; freilich wird sie damit nur Erfolg haben, wenn die reformerische Evolution, zu der sie den Anstoß gibt, wirklich wird. Progressive und prohibitive Wirkung der Schule sind für Diesterweg wechselseitig aneinander gebunden32. In den 40er Jahren hat Friedrich Harkort, einer der ersten Nicht-Fachleute, dessen politische Diskussion der Schulfrage weitere Resonanz gewinnt, ähnliche Thesen entwickelt33. Nicht das Übermaß an Bildung, sondern die Unbildung der Volksmassen seien die Ursachen der Revolution, aus der Unwissenheit entstehe die Feindschaft gegen die Gesellschaft und die Anfälligkeit für die Demagogen des Sozialismus und Kommunismus, während umgekehrt gerade die Bildung zur Achtung vor dem Gesetz, zur Einsicht in die Notwendigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, ja zur positiven Bindung an Nation und Gesellschaft führe und damit dem Bürgertum die weitere Demokratisierung auch zugunsten der unteren Klassen erst ermögliche. Zugleich sei die Volksschulbildung nach Überzeugung des Industriellen Harkort - das eigentliche Mittel gegen Pauperismus und Proletarisierung, indem sie allgemein Produktivität und Konsum hebe und den einzelnen erst zum vielseitigen und differenzierten Einsatz seiner Möglichkeiten und damit zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit ermächtige; und mit dem Pauperismus bekämpfe die Schule wiederum die Revolution. Harkort hat von diesen Prämissen her scharfe Kritik an der zeitgenössischen Schule und Schulpolitik geübt, an der absolut wie relativ gänzlich unzureichenden Finanzierung, den unrealistischen Lehrplänen, der Konfessionalisierung und der eingeschränkten Lehrerbildung, und er hat entsprechende Reformen gefordert. Allein die progressive Entfaltung der Schule sichere nicht nur den Staat, sondern, das ist das Neue gegenüber den reformerischen Ansätzen des Jahrhundertbeginns, auch und gerade die bürgerliche Gesellschaft vor der drohenden Revolution34. Freilich, diese Haltung ist für den Liberalismus noch nicht typisch: Harkorts Bildungspropaganda blieb doch vereinzelt; Hansemann und Camphausen haben sich ausdrücklich dagegen gewandt, den Bildungsstand der unteren Klassen immer weiter zu heben und sie mit ihren Ansprüchen und Rechten vertraut zu machen35. Bei der breiten Schicht des liberalen Bürgertums, die die städtischen Schulen finanzierte, blieb der praktische Einsatz für Volksschulbildung be222

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grenzt; darüber dürfen die Stimmen der liberalen Theoretiker und der liberalen Landtagsabgeordneten, die ideologisch den konstitutionellen Staat auf die allgemeine Bildung des Volkes gründeten, nicht hinwegtäuschen. VII. Entscheidend für das Verhältnis von Volksschule und Revolution war, solange sich der konservativ-reaktionäre Kurs nicht voll durchsetzen konnte, die Lehrerschaft. Die Haltung der Lehrer hing nun nicht nur mit dem Geist der Seminarbildung, sondern wesentlich mit ihrem sozialen Status zusammen; und dieser Status war charakterisiert durch eine enorme Diskrepanz zwischen Selbstverständnis und sozialökonomischer Position. Vom Seminar her hatten die Lehrer ein hohes Bewußtsein ihres Auftrags, ihrer zivilisatorischen Funktion: sie sollten die traditionsgeleitete Gesellschaft umbauen, indem sie Vorurteile und Aberglauben bekämpften, sollten rationalere und effektivere Verhaltensweisen erziehen, Kultur und Humanität verbreiten, Sitten und Gesinnungen veredeln. Sie fühlten sich als gebildete, mit der allgemeinen Kultur in Konnex stehende Menschen, als Mittler des objektiven Geistes. Dieses Selbstbewußtsein war das Erbe des reformerischen Pathos, das bis in die Wortwahl hin noch fortwirkte; Seminare und Verwaltungen, die einen neuen Lehrerstand erst erziehen sollten, Liberale und Konservative gleichermaßen apostrophierten ständig die besondere Bedeutung und Verantwortung der Lehrer in diesem Sinn36. Dieses Selbstbewußtsein wurde einmal dadurch verstärkt, daß die Lehrer einen ausgesprochen neuen sozialen Status einnahmen. Söhne aus unterbäuerlichen und kleinen Handwerkerschichten, wurden sie sehr schnell und sehr jung vom Staat gefördert, intellektuell heraufgebildet, in einer höheren Funktion eingesetzt und, als „neue“ Lehrer vom Lehrer älteren Schlages unterschieden, schon institutionell in eine kritische Haltung zur Tradition gedrängt. Sie konnten sich in dieser Lage nicht aus einer biographischen oder beruflichen Tradition oder einer sicheren Klassenlage verstehen; isoliert gegen ihre Herkunft waren sie, auf ihre eigene Position reflektierend, an ihren Auftrag verwiesen, aus dem sie ihr Selbstbewußtsein beziehen mußten; ja gerade das Abstreifen der rustikalen und plebejischen Herkunft führte zu einer starken Ideologisierung des Berufes. Zum anderen wurde ihr Selbstbewußtsein dadurch gestützt, daß sie mit der Pestalozzischen Methode ein besonderes Wissen beherrschten und - etwa gegenüber den Pfarrern - den eigentümlichen Leistungsstolz des Fachmanns entwickelten. Schließlich mochte ihr Selbstbewußtsein noch dadurch gesteigert werden, daß sie eine gewisse Unsicherheit, ein Mißverhältnis zwischen Anforderungen und Bildungserwartungen einerseits, Leistungen und wirklicher Bildung andererseits zu kompensieren suchten. Dieses Selbstverständnis ist nun mit der sozialen und ökonomischen Lage zu konfrontieren. Sie war schlechterdings elend. Die Rechtsstellung der Lehrer war unsicher, die Bezahlung miserabel, sie lag unter den Einkünften der Feld223

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webel, Landgendarmen und Gerichtsdiener etc. und unter denen der Facharbeiter, ja auf dem Lande vielfach gerade in der Höhe der Löhne von Bauernknechten, Tagelöhnern oder Handwerksgesellen, und bei jüngeren Lehrern auch durchaus darunter. Die Gehälter waren also ökonomisch unzureichend, außerdem aber standen sie in schneidendem Gegensatz zu den allerbescheidensten Bildungsansprüchen, zu dem erstrebten und prätendierten sozialen Ansehen, das der Funktion entsprochen hätte. Weiterhin waren die Lehrer mit Aufgaben betraut, die für ihr neues Selbstgefühl entwürdigend schienen, mit den Aufgaben des Kirchendieners - von daher stammte ein Teil ihres Einkommens. Die Stellung zum Pfarrer, der sein Aufsichtsrecht über den neuen Lehrer oft nicht angemessen ausüben konnte oder seine Autorität überstrapazierte, war gespannt; gegenüber den weltlichen Vorgesetzten mußten sie vielerorts Jahrzehnte lang, bis zur Revolution von 1848, um die Anredeform „Sie“ und „Herr“ kämpfen. Auch gegenüber der Mehrheit in der Gemeinde, die die neuen Lehrer oft noch als Last empfand, war ihre Stellung schwach; daher waren ihre Heiratschancen ungünstig, und im gesellschaftlichen Verkehr waren sie, disziplinarisch zu besonderem - christlichem - Ernst verpflichtet, vielfach isoliert. Diese problematische Lage war darin begründet, daß die Lehrer in dem sich wandelnden Gesellschaftsgefüge eine „neue“ Schicht darstellten. Aus einer Schicht unterhalb der eigentlichen ständischen Gesellschaft aufgestiegen, waren sie noch nicht in die bürgerliche Berufs- und Klassengesellschaft wirklich integriert; darum traten die gleichen Schwierigkeiten in fast allen Gesellschafts- und Herrschaftssystemen der Zeit auf, ζ. Β. auch in den demokrati­ schen Kantonen der Schweiz. Auf diese zwiespältige Situation konnten die Lehrer nun nicht allein mit Anpassung reagieren oder mit einem Rückzug in die Idylle des „Biedermeier“ oder in die skurrile Originalität, die in der zeitgenössischen Literatur ja häufig beschrieben worden ist, sondern auch mit einer revolutionären Stimmung, ja einem revolutionären Willen. W. H. Riehl spricht davon, daß die seminaristische „Halbbildung“ das - von Riehl angenommene - „Bauerntum“ des Lehrers ausgerottet habe und ihn erfülle mit der „ächt moderne[n] Stimmung, daß sich der Mann nicht wohlfühlt in seiner Haut und fort und fort die Schranken seines Standes und Berufs durchbrechen möchte“, ja, daß er „als eine leibhaftige Aufforderung zum Umbau der Gesellschaft sich darstellte“. An anderer Stelle spricht er von dem „kleinen Beamten“, „der die Gesellschaft reformieren will, weil er seinen knappen Gehalt nicht reformieren kann“37. Eine solche Interpretation ist einseitig. Denn die persönliche Existenz der Lehrer war nicht isoliert, sondern sie war mit der Existenz der Schule unlösbar verflochten. Aber auch das Interesse der Schule verwies die Lehrer auf die Umformung der Gesellschaft in emanzipatorischen Bahnen, auf eine Umformung des Staates mit stärkerer Mitbestimmung von Volk und Intelligenz, auf einen Vorrang des Kulturstaates vor dem Militärstaat, auf die Emanzipation der Öffentlichkeit und speziell der Schule von der konservativ gewordenen Kirche. Und weil die Gesellschaft noch nicht, wie später, in hohem Maße aufgespalten war, deshalb 224

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konnte sich aus der revolutionären Disposition der Lehrerschaft eine relativ einheitliche Tendenz im Bündnis mit dem Liberalismus entwickeln. Die revolutionäre Politisierung des Lehrerstandes ist an der Geschichte der Lehrerbewegung, der Lehrervereine, Lehrerfeste und der Lehrerpresse vor 1848 deutlich zu erkennen. Ursprünglich gingen die Lehrervereine vor allem aus staatlicher Initiative hervor. Erst in den 30er Jahren emanzipierten sie sich von Regierungseinflüssen oder wurden als freie Vereine neu gegründet. Diese Vereine dienten zunächst der Fortbildung und waren dann ein Ort der Geselligkeit; das erklärt sich aus der Vereinsamung des neuen Lehrers in der Dorfgesellschaft. Gesangvereine und Lehrerfeste waren typische Formen der Bewegung in den 20er und 30er Jahren. Dann setzte in den späten 30er Jahren eine langsame Politisierung ein, die Privatheit der Gesangvereine wurde kritisiert, die Vereine übernahmen die Vertretung der sogenannten Standesinteressen. Schließlich formulierten und propagierten sie die schulpolitischen Forderungen des pädagogischen Liberalismus: stärkere realistische Orientierung und Wekkung von Spontaneität und Aktivität in der Schule, umfassendere wissenschaftliche Bildung in den Seminaren als Grundlage zur möglichen Weiterbildung, zur „inneren Emanzipation“ der Lehrerschaft, Emanzipation von der geistlichen Aufsicht und Sicherung einer gewissen Autonomie der Schule. Die Entwicklung der Schulpresse, die Gründung reiner Lehrerorgane, und der sich verschärfende Ton wiesen in die gleiche Richtung; auch die Feste, etwa das Amtsjubiläum Diesterwegs 1845 sowie die Pestalozzi-Feiern desselben Jahres, wurden in den 40er Jahren zu Akten politischer Repräsentation. Die Versuche der Regierungen, diese Bewegung zu unterdrücken, verstärkten dann erst recht die Opposition der Lehrerschaft. Vor der Revolution waren daher die vom Staat ausgebildeten, beaufsichtigten und abhängigen Lehrer schon ganz in den Prozeß der emanzipatorischen Gesellschaft gegen den obrigkeitlichen Staat einbezogen. Die Tatsache, daß auch und gerade in Ländern mit einer relativ liberalen Schulpolitik oder einer wesentlich rationalistischen Schulverwaltung wie in Baden und Sachsen die revolutionäre Bewegung der Lehrer besonders stark war, zeigt, daß im ganzen die strukturellen Bedingungen für die moderne Volksschule und ihre Lehrer wichtiger waren als die jeweiligen Maßnahmen der staatlichen Verwaltung. Die vom Staat formierte neue Lehrerschaft war, noch ohne sicheren Status in der Gesellschaft und im Konflikt mit dem ihre Modernität zurückschraubenden Staate, eine in ihrer Mehrheit zur Revolution disponierte Gruppe38.

VIII. Wir erwägen endlich noch die anfangs gestellte Frage, ob die Lehrerschaft auch in der Volksschule selbst und durch sie revolutionierend gewirkt hat. Nach Riehl suche der Lehrer den „Zustand der Halbbildung, zu welchem er übergegangen, auch den dummen Bauern mitzuteilen und dieselben von Bräu225 15 Nipperdey

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chen und Herkommen gründlich zu befreien“, er trage das Gefühl der „Zerrissenheit und Weltverbitterung in das Dorf“, in der „Charaktermaske des nichtsnutzigen Literaten“ habe er die Macht, „wenigstens einen Teil des sonst so spröden Bauernvolkes aus dem gewohnten Kreislauf der Sitte und des Herkommens herauszureißen“, ja er fungiere als der „böse Dämon“ der heruntergekommenen Bauern; sein Auftreten habe vielfach zu einer „Spaltung“ des Dorfes geführt: während die Älteren und zumal die Aristokratie des Dorfes den Lehrer ablehnten, habe sich eine jüngere Genossenschaft um ihn geschart39. Im Anschluß an ein solches Urteil, in dem Beobachtung und konservative Interpretation nicht mehr zu unterscheiden sind, lassen sich einige schulund sozialgeschichtlich begründete Hypothesen formulieren. Einmal: mit dem modernen Lehrer tritt für das Kind und den Jugendlichen in der noch vorindustriellen Welt eine neue zweite Autorität in Erscheinung, die neben der Autorität von Vater, Familie und Haus und der sie überwölbenden Autorität von Pfarrer und Kirche eine selbständige Bedeutung beansprucht. Die neue Institution Schule nimmt den Jugendlichen schon durch das mit den neuen Methoden vermittelte, elementare Maß kritischer Reflexion, ja schon durch ihre Distanz zur Tradition, aus der Vorgeformtheit selbstverständlicher Verhaltensmuster heraus und bietet ihm eine andere Weltinterpretation und andere Verhaltensmodelle an. Diese Konkurrenz zweier frühzeitig angebotener Weltinterpretationen ermöglicht und fördert dann das Entstehen einer kritischen Haltung des einzelnen, die auf politisch-soziale Institutionen übergreifen kann. Zum andern: die Schule setzt durch die von ihr vermittelten Stoffe das konkret Vorliegende in Beziehung zu den Wirklichkeiten der Kultur und des Zeitgeistes, ja schon die Beseitigung des Analphabetismus stiftet diese Beziehung. Damit dringen das Öffentliche und Aktuelle - und also das Politische - in die traditionelle, ständisch-häusliche Welt vor, und auch dadurch werden Gedanken und Einstellungen mobilisiert. Beide Faktoren, die Einsetzung einer neuen, zweiten Autorität und die tendenzielle Politisierung, wirkten in einer Übergangsperiode zunächst revolutionierend, und zwar unabhängig von der mehr oder minder konservativen Orientierung der Schulpolitik und der Lehrerbildung. Schule und Lehrerschaft waren in Gesellschaft und Staat noch nicht voll eingegliedert, waren noch nicht einer Ideologie unterworfen, die die Modernität der Schule aufhob oder politisch neutralisierte oder - wie der spätere Nationalismus - Staat und Gesellschaft zeitweilig versöhnte; deshalb konnte die Schule zunächst noch keine stabilisierende Wirkung haben, sondern ihre Modernität kam gegenüber einer traditionellen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung noch durchweg zur Geltung, und diese Modernität begünstigte eine revolutionäre Disposition. Der sich auf Intelligenz gründende, sich modernisierende Staat des 19. Jahrhunderts mußte um seiner selbst willen ein Schulwesen organisieren und die Schulbildung intensivieren. Aber er vermochte die damit entbundene Macht nicht in seinem Plan und Dienst zu halten, so groß die Anstrengungen auch waren, die er dazu unternahm. Seine eigene Regierungs- und Verwaltungs226

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struktur, die Struktur der mit ihm verbundenen Kirchen, die Eigentendenzen der Schule und der sozial unterprivilegierten Lehrerschaft und die Wirkung, die die neue Institution Schule notwendig in der traditionellen Gesellschaft hatte - das alles verhinderte die Eingrenzung der Schule auf das Ziel, die staatliche Herrschaftsordnung zu erhalten und zu befestigen. Der Geist der Schule kehrte sich gegen ihren Initiator und Förderer, den vorkonstitutionellen und teilliberalisierten Staat; der Staat hatte mit der Schule die Gesellschaft, die zu seinem Widerpart wurde, stärken müssen und hat so durch die Schule den Versuch der Gesellschaft, ihn zu revolutionieren, selber mit ermöglicht.

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10. Geschichtsschreibung, Theologie und Politik im Vormärz: Carl Bernhard Hundeshagen1 1847 erschien ein Buch mit dem Titel: „Der deutsche Protestantismus. Seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesamten Nationalentwicklung beleuchtet von einem deutschen Theologen.“ Das Buch wurde lebhaft besprochen und fand im bürgerlich-protestantischen Lager eine relativ starke Resonanz2. Noch im September erschien eine zweite, 1850 eine erweiterte dritte Auflage. Als Verfasser stellte sich bald der damals in Bern wirkende Theologieprofessor Carl Bernhard Hundeshagen heraus. Das Werk ist in doppelter Hinsicht interessant. Einmal und formal durch die Verknüpfung politischer, theologischer und historischer Reflexion; als solches ist es für das Verhältnis von Politik, Geschichtsschreibung und Theologie im Vormärz wichtig. Zum anderen und inhaltlich dadurch, daß hier versucht wird, angesichts der engen Verbindung von religiösem und politischem Radikalismus in den 40er Jahren, der ebenso engen Verknüpfung von Orthodoxie und Konservativismus und der Begründung des Zusammenhangs von Konfession und Partei von seiten des Katholizismus in Görres „Athanasius“ eine Synthese und wechselseitige Begründung von konstitutionellem Liberalismus und „positivem“ Christentum darzulegen, den Konstitutionalismus positiv protestantisch zu legitimieren, der Misere des Protestantismus durch eine allgemeine politischsoziale Reform zu begegnen3, und die Notwendigkeit des protestantischen Christentums für den konstitutionellen Liberalismus aufzuzeigen. Es hat insofern zwei Adressaten: die Protestanten, die apolitisch oder konservativ dem Liberalismus fremd oder gar feindlich gegenüberstanden, und die Liberalen, die im Gefolge der Bildungsgeschichte des deutschen Bürgertums sich von einem konfessionellen Christentum distanzierten. Das Buch ist für die noch ungeschriebene Geschichte der politischen Theologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie für die unter dem Signum des Bündnisses von Thron und Altar häufig mißinterpretierte Geschichte des Verhältnisses des deutschen Protestantismus zur Politik von hohem Interesse4. I. Carl Bernhard Hundeshagen wurde 1810 in der Gegend von Hersfeld als Sohn eines Oberförsters geboren, der, einer der Begründer der neueren Forstwissenschaften, seit 1818 als Professor in Tübingen, Fulda und Gießen wirkte. Der Sohn studierte seit 1825 in Gießen und Halle zunächst Philologie, dann Theologie, habilitierte sich 1831 und 1833 in Gießen, wurde im Herbst 1834 228

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außerordentlicher Professor der Theologie an der neugegründeten Universität Bern, 1841/42 war er daselbst Rektor, 1845 wurde er ordentlicher Professor, 1847 wurde er nach Heidelberg berufen - zum guten Teil'aufgrund des Buches, das uns hier beschäftigt-, von 1867 bis zu seinem Tode 1872 wirkte er in Bonn. 1848 hat er an den Vorbereitungen zum Kirchentag teilgenommen und in der Diskussion mit Abgeordneten der Paulskirche die Schul- und Kirchenartikel mit zu beeinflussen versucht5. Für unseren Zusammenhang sind aus der Geschichte seines Lebens zunächst drei historisch-politische Grunderfahrungen, die seine theologischen und politischen Positionen geprägt haben, von Bedeutung. a) Hundeshagen, der seine beiden Eltern als „zur liberalen Parthey gehörig“ bezeichnete5*, ist seit Beginn seines Studiums Mitglied der Burschenschaft gewesen und war in Gießen einer ihrer Sprecher. 1828 ist er mit anderen wegen Teilnahme an einer verbotenen Verbindung, die zu inneruniversitären Konflikten mit den Corps, den Landsmannschaften, geführt hatte, relegiert worden6. 1829 begnadigt, blieb er auch in Halle Mitglied der Burschenschaft und gehörte dort zu den Führern der Richtung der Germanen, die den Arminen gegenüberstand. Ob dabei politische Gründe eine Rolle spielten - die Germanen waren im allgemeinen politischer orientiert als die Arminen -, muß offen bleiben7. In der Zeit zwischen der Julirevolution, dem Hambacher Fest und dem Frankfurter Wachensturm stand er mit den oberhessischen Radikalen in engem Kontakt. Als er im Herbst 1834 sein Amt in der Schweiz antrat, haben seine wegen revolutionärer Umtriebe verhafteten Bekannten ihn als einen der eigentlichen Führer ihrer Zirkel bezeichnet, als solcher erscheint er in den Akten, darum wurde gegen ihn 1835 eine Untersuchung eröffnet und 1836 ein Steckbrief erlassen8. Daß er die ihm zugeschriebene Rolle gespielt hat, ist außerordentlich unwahrscheinlich: die Inhaftierten konnten ihn ohne Gefahr belasten, er ist keineswegs zum Zeitpunkt des Wachensturms und seines Scheiterns geflüchtet; er war 1835 bereit, zur Vernehmung nach Hessen zu kommen und hat die Beteiligung an der revolutionären Bewegung zu diesem Zeitpunkt entschieden bestritten, die Beschuldigung sei das Werk der „verabscheuungswürdigsten Immoralität“ von Denunzianten9. 1845 ist er mit der Zusicherung, in keiner Weise gehindert zu werden, nach Hessen gereist; er, der sehr offen über sein Leben und seine Tätigkeit gesprochen und geschrieben hat, hat auch später nie etwas über eine revolutionäre Tätigkeit geäußert. Immerhin wird man sagen dürfen, daß er den herrschenden politischen Zuständen sehr kritisch gegenüberstand10 und die Möglichkeit ihrer Veränderung intensiv mit anderen, vielleicht auch politisch radikaler Gesinnten, diskutiert hat, daß er als Mitwisser in viele Erwägungen eingeweiht war. Daß er in die Schweiz ging, hing wesentlich mit den politisch-reaktionären Verhältnissen zusammen und mit der Tatsache, daß er als Sohn eines freigesinnten Mannes in Hessen keine Berufsaussichten sah11. Insofern kann man mit seinem Freunde W. Beyschlag12 sagen, er sei einer von denen gewesen, „welche die Sehnsucht nach dem deutschen Rechtsstaat und der deutschen Einheit mit jahrelanger Verbannung gebüßt hatten“. 229 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Damit sind die beiden fortwirkenden Motive seiner politischen Jugend sicher richtig angegeben. In seinen späteren Schriften hat er sich immer wieder auf das Jahr 1813 bezogen; es war für ihn wie für viele Angehörige seiner nachgeborenen Generation das epochale Ereignis und das durch die Burschenschaft vermittelte politische Grunderlebnis: der Einsatz für nationale Einheit und einen Verfassungsstaat, in dem der Bürger Anteil am öffentlichen Geschehen hatte. Zumal in den Intentionen Steins fand er die Tendenzen seiner eigenen Generation exemplarisch vorgeprägt. Nationale und liberal-konstitutionelle Elemente seines politischen Denkens und Wünschens können wir als Erbe der burschenschaftlichen Erfahrungswelt in der Zeit sich verschärfender Reaktion und aufflammender revolutionärer Bewegungen ansehen13. b) Die zweite bedeutende politisch-soziale Erfahrung, die Hundeshagen gemacht hat, war die des Berner Kirchentums und seines Verhältnisses zum Staat. Er spricht von „dem im ganzen in seiner altreformierten Eigentümlichkeit noch wohlkonservierten Leben“, seiner charaktervollen Geschlossenheit, und er hatte, von Haus aus reformiert, zu diesem Kirchentum, das nicht vornehmlich theologisch-theoretisch oder sentimentalisch und nicht individualistisch, sondern praktisch, gemeinschaftlich, kirchlich bestimmt war, ein besonders nahes Verhältnis14. Die Theologen der Universität waren in das Kirchenleben Berns, die Synoden der Geistlichkeit, eingegliedert - Hundeshagen wurde 1836 in die Berner Geistlichkeit aufgenommen und war seither mehrfach Synodale - und beteiligten sich voll an der praktischen Arbeit. Zugleich stand dieses Kirchentum in enger Verbindung mit dem öffentlichen Geist des Gemeinwesens und den agierenden politischen und sozialen Gruppen, eine Verbindung, die Hundeshagen - später immer am englischen Beispiel - besonders positiv akzentuiert hat. Die Kirche manifestierte sich noch öffentlich und stellte öffentliche Ansprüche. Die Verknüpfung des kirchlich verfaßten Christentums mit dem allgemeinen sozialen und politischen Leben und den alten und neuen sozialen Aufgaben, das war für Hundeshagen die entscheidende Erfahrung, die Bewahrung dieser Verbindung von Kirche und Volk, etwa über die Volkserziehung in der Kirche, das war für ihn eines der zentralen kirchlichen Probleme. Im Lichte dieser Erfahrung hat sich seine Opposition gegen herrschende Lebensformen des deutschen Protestantismus, gegen die Abkapselung in private Innerlichkeit oder Intellektualität, ausgebildet und befestigt und ist zu einem entscheidenden Element seines Wirkens geworden15. Zugleich formte sich sein politisches Ideal: die politische Tugend des Bürgers als Anteilnahme an den öffentlichen Dingen, als Voranstellen des gemeinen Wohls und als praktische Gediegenheit, nüchterne Klarheit und Orientierung am Wirklichen. Diese Tugenden sah er als Ergebnis freier und republikanischer Verfassungen an, von daher hatten sie für ihn etwas Vorbildhaftes. Die freie Öffentlichkeit erschien als notwendige Atmosphäre zur Entfaltung bürgerlicher Tugend, die bürgerliche freie Verfassung schien das für das Zusammenleben der Menschen notwendige überprivate Ethos am besten tragen und konstitutionell begründen zu können. Das Ideal des deutschen Idealismus, das im An230

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schluß an Rousseau und geprägt von der Vorstellung der antiken Polis entstanden war, das Ideal des aktiven politischen Lebens als eines integralen Bestandteils der menschlichen Existenz, wirkte hier, sehr nüchtern und realistisch, fort - anders als bei Jakob Burckhardt etwa, der in den vierziger Jahren gerade auch unter dem Eindruck von Schweizer Erfahrungen zur Apolitie überging. c) Die dritte konkrete Grunderfahrung Hundeshagens scheint mir die Begegnung mit dem Schweizer Radikalismus. In Bern trat, wie seit den späten dreißiger Jahren in Zürich, der Radikalismus unter Führung Jacob Stämpflis in den Vordergrund, zumal als in der Folge eines gescheiterten Freischarenzuges gegen Luzern Ulrich Ochsenbein Regierungspräsident wurde. Die Radikalen erstrebten die Weiterbildung des liberalen Staates zu einem demokratischen Wohlfahrtsstaat, die Verstärkung der demokratischen Elemente: der Volkssouveränität, des Mehrheitsprinzips, des Plebiszits gegenüber den liberalen Elementen: dem Repräsentationsprinzip, der Gewaltenteilung, den individuellen Freiheitsrechten16. Freischarenzüge und Umsturzversuche brachten darüber hinaus das Problem der Achtung vor dem Gesetz und dem Willen der Mehrheit auf die Tagesordnung: Teile der Radikalen schienen den „eigentlichen“ und wahren Willen des Volkes gegenüber seinem faktischen, nach ihrer Meinung unaufgeklärten Willen für sich monopolisieren und durchsetzen zu wollen; sie forderten Straflosigkeit für ihre Rechtsverstöße17. Ob und wie Hundeshagen zu diesen politischen Forderungen des Radikalismus Stellung genommen hat, wissen wir nicht; nach seiner konstitutionellen Einstellung wird er ihnen reserviert gegenübergestanden haben. Für seine Erfahrung war etwas anderes viel wichtiger. Der Radikalismus hatte sich am Kampf gegen Jesuiten und Katholiken entzündet, und er richtete sich sehr bald auch entschieden gegen den, wie man meinte, kirchlich und theologisch konservativen, etablierten Protestantismus. Unter den Parolen von religiöser Aufklärung, Vernunftautorität, Befreiung von Dogmenzwang und Priesterautorität bildeten sich freie Gemeinden, die radikale Publizistik wandte sich gegen die Traditions- und Lehrbindungen der Kirche, gegen ihre öffentliche Stellung, ja zum Teil gegen das Christentum überhaupt18. Der politische Radikalismus war - so schien es - nur Teil einer weit über das im engeren Sinn Politische hinausreichenden, allgemein radikalen Tendenz des Zeitgeistes. Jeremias Gotthelf hat diese Tendenz in einer Verbindung von grandioser Polemik und Realismus am eindringlichsten geschildert, vor allem in „Zeitgeist und Berner Geist“ oder - mit besonderem Akzent auf den Übergang vom Radikalismus zum Atheismus - in „Jacobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz“ (1847). Das Rabulisten- und Kannegießertum mit seiner Flachheit, die Tendenz zur totalen Politisierung, die angeheizte Eigensucht und Unzufriedenheit, die Demagogie, die einseitige Betonung von Rechten und das gänzliche Verschwinden öffentlich-moralischer Pflichten - das waren für ihn die menschlich-politischen Wesenszüge des Radikalismus, die ihn als menschlichen Verfall und in religiöser Perspektive als eschatologischen Abfall charakterisierten. Noch Gottfried Keller, in den vierziger Jahren auf der Seite der Radikalen, hat später in 231

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seinem politischen Alterswerk, dem „Martin Salander“, milder und ohne das christlich-eschatologische Moment, aber grundsätzlich ähnlich kritisch die menschlichen Gefahren dieses Radikalismus beschrieben. Dieses weitgefaßte Phänomen des Radikalismus war das, mit dem Hundeshagen konfrontiert war, mit dem er sich auseinanderzusetzen hatte. Hnndeshagen sah in der radikalen Bewegung eine akute Bedrohung der ethischen Grundlagen des Volkslebens. Sie akzentuierte für ihn einseitig die Emanzipation des Subjektes von einem in öffentlichen Institutionen verankerten individuellen und öffentlichen Ethos. In einer Rektoratsrede von 1841 hat er, an die Radikalen gerichtet, betont, daß keine Staatsform und keine Verfassungsänderung die Freiheit garantieren könne, wenn das Volk einer inneren „Verderbtheit“ anheimfiele, wenn die Bürger nicht mehr den Willen hätten, sich auch und vor allem innerlich freizumachen19. Substantielles Korrelat politischer Freiheit und freiheitlicher Verfassung war ihm die Selbstbindung des Menschen und des Volkes in einem durchgestalteten und disziplinierten Ethos, die durch Tradition und öffentlichen Konsensus gesicherte, von der Kirche gehütete Stabilität ethisch legitimierter Verhaltensnormen und Verhaltensweisen. Gerade das sah er durch den Radikalismus und seinen Aufstand gegen Pflicht und Verantwortung gefährdet. Das menschliche Ethos aber war für Hundeshagen notwendig christlich begründet. Die Speerspitze des Radikalismus war darum sein Angriff auf das Christentum, auf die christlich-traditionale Substanz des Volkslebens. Die Gefahr der Entchristlichung war zugleich Gefahr der Entsittlichung. Die spezifische Erfahrung mit dem Schweizer Radikalismus war schließlich die, daß er die in Deutschland schon lange zu beobachtende Entkirchlichung, ja Entchristlichung der Intellektuellen auf das Volk zu übertragen schien. Die Erfahrung der sozialen Umschichtung und das Aufkommen der sozialen Frage war gerade in der Schweiz angesichts der frühsozialistisch-kommunistischen Tendenzen besonders aktuell. Schon 1845 hat Hundeshagen das Problem des Kommunismus, das er für eines der dringendsten Probleme der Gegenwart hielt, zum Thema einer kirchenhistorischen Abhandlung gemacht. Für ihn bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Entchristlichung, Radikalismus und Kommunismus, und in seinem Protestantismusbuch hat er diesen Zusammenhang, der dem Zusammenhang von bürokratischer Herrschaft, einseitig intellektueller Bildung und sozialer Not korrespondierte, näher expliziert. Man wird vermuten können, daß die Erfahrungen von 1834 bis 1846 Hundeshagens ursprüngliche, burschenschaftlich entschieden liberal-demokratische Position beeinflußt und ihn zu einem Mann der Mitte gemacht haben, der im Sinne des konstitutionellen Liberalismus gegen Reaktion und Radikalismus zugleich focht. Bei dieser Modifikation spielt aber anders als bei den meisten Liberalen ähnlicher Richtung nicht nur die allgemeine Sorge vor einer politischsozialen Revolution, sondern zumal die Sorge vor der Zersetzung der christlichen Volkssubstanz eine besondere Rolle20. Zum Verständnis des Protestantismusbuches gehören vorweg noch einige Bemerkungen über die Stellung des Verfassers als Theologe und Historiker. Hun232 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

deshagen hat wie viele Theologen seiner Generation zunächst in Gießen unter dem bestimmenden Einfluß der Aufklärungstheologie gestanden, er ist dann in Halle mit der Theologie der Erweckungsbewegung, mit Tholuck, in Berührung gekommen, hat sich aber schon hier wesentlich den Repräsentanten der Vermittlungstheologie, vor allem Ullmann und Thilo, angeschlossen. Er ist, das bekundet auch seine Mitarbeit an der führenden Zeitschrift dieser Gruppe, Vermittlungstheologe, d. h. er versucht, das für ihn reformatorische Prinzip der freien Schriftforschung, der intellektuellen Redlichkeit, der Gewissensbindung an den modernen kritischen Wahrheitsbegriff mit dem Festhalten am kirchlichen Bekenntnis und mit dem entschiedenen Akzent auf der unaufhebbaren personalen Sündhaftigkeit und Endlichkeit des Menschen als der eigentlichen Tatsache seiner Existenz zu verbinden. Dabei ist für ihn wesentlich, daß die Religion nicht nur Privatsache ist, sondern wirkende Kraft in der Gesellschaft, daß also neben und vor das Thema „Gott und die Seele“ das Thema „Gott und die Welt“ tritt und von daher die Existenz der Kirche als eines sozialen Phänomens besondere Bedeutung gewinnt. Die Kirche soll primär Volkskirche und als solche allerdings auch Bildungskirche sein, sie läßt also einen gewissen latitudinarischen Pluralismus (broad church) zu. Sie ist weder hierarchische Anstalt noch Institution eines fixierten Dogmas noch nur freier Verein (und Konventikel), sondern die soziale Formation der vom Heil Betroffenen und Erlösten. Die Wissenschaft, die Theologie, ist in die Wirklichkeit der Kirche eingegliedert, die praktischen, die sozialen Notwendigkeiten der Kirche prägen ganz wesentlich ihre Aufgaben. Von daher führt er einen doppelten Kampf sowohl gegen die - zum Teil neupietistische - antiintellektuelle Neoorthodoxie wie gegen den in der Theologie waltenden Intellektualismus, gegen den entschiedenen theologischen Liberalismus und seine Auflösung des Christentums in eine humanitäre und intellektuelle Lebensphilosophie für eine Verbindung von Kirche und Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft; das drückt sich auch in seinen kirchenpolitischen Zielen aus: einer stärker gemeindlich-synodal organisierten Kirche, die dem konfessionspluralistischen Staat freier gegenübersteht, ohne daß die Zuordnung zwischen Staat und Kirche aufgelöst wird. Versucht man seine Stellung als Historiker zu erfassen, so scheinen mir drei Dinge von Bedeutung. a) Das Interesse an der Geschichte und der Sinn der historischen Forschung und Darstellung haben einen aktuellen Bezug. Geschichte wird - ohne weiterreichende Reflexion - ganz selbstverständlich als eines der „einflußreichsten Bildungsmittel der neueren Zeit“21, als „Beitrag zur Verständigung über die wichtigsten unsere Zeit beherrschenden Tendenzen“22 aufgefaßt - die historische Analyse hat also immer eine pädagogische Absicht; und diese besteht nicht einfach im Stiften von Kontinuität oder im Zerstören von Tradition, sondern in der kritischen Aktualisierung von Tradition. Das wahre Bild der Reformation sichert gegen Fehlinterpretationen, die verhängnisvolle politisch-theologische Folgen für die Gegenwart haben könnten; indem Abweichungen vom Ansatz der Reformation (ζ. Β. das Zurücktreten des personalistisch-ethischen An233 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

satzes hinter einer objektivierten Religiosität) konstatiert werden, wird es möglich, diese Ansätze aufzunehmen. Die Forderungen an Theologie und Politik der Gegenwart setzen eine Diagnose der Zeit, und das ist in diesem Fall eine Pathologie, voraus, die nur historisch zu vollbringen ist. Die historische Erkenntnis von Ursachen krisenhafter Erscheinungen befähigt dann zu praktischen Vorschlägen und zum Handeln. Dabei bleibt aber ein Eigenrecht der Geschichte - gegenüber ihrer Abzweckung auf Praxis - durchaus und unreflektiert gewahrt, - die konkrete Geschichtsschreibung ist doch nur mittelbar von jenem Gegenwartsinteresse geleitet, sie ist aktuell, aber nicht aktualisierend. Man kann vielleicht sagen, daß Hundeshagen als Historiker zwischen Ranke und den politischen Historikern der Generation nach Ranke steht. b) Geschichte wird - das gilt gerade für Hundeshagens Arbeiten aus den vierziger Jahren - auch und wesentlich als Volksgeschichte angesehen. So schreibt er 1845 nach Zimmermann und vor Engels über den Bauernkrieg ähnlich wie über andere Volksbewegungen des Mittelalters mit spürbarer Sympathie: es sei der Versuch gewesen, sich des unerträglichen Drucks der Herren zu erwehren. Die Geschichtswissenschaft habe bisher versäumt, die „offenkundigen und geheimen Leiden des Volkes“23 zu schildern, die doch weder Sophistik noch Romantik hinwegeskamotieren könnten - erst jetzt werde dem Bauernkrieg, diesem „von einer servilen Historiographie bis dahin schreiend mißhandelten Abschnitte vaterländischer Begebenheiten“ von seiten „der unparteiisch richtenden Geschichte“ Gerechtigkeit zuteil24. In seinem Geschichtsbild kommt so ein antielitäres, antiaristokratisches, antiintellektuelles Engagement zum Tragen, sein Liberalismus ist an Interessen und Bedürfnissen „des Volkes“ orientiert, er ist demokratisch-sozial getönt. c) Das auffallendste und wichtigste Spezifikum seiner historischen Arbeiten, verglichen mit der älteren Tradition der Kirchenhistorie25, ist das Interesse für die Totalität einer geschichtlichen Wirklichkeit oder genauer das Interesse für die Wechselwirkung politischer, sozialer und kirchlicher Geschehnisse und Entwicklungen vor dem Hintergrund eines romantisch geprägten Historismus, der in Völkern und Staaten eine innere Bestimmtheit ihres Wesens oder einen verborgenen Lebensgeist, „welcher die tiefste Wurzel ihres Daseins bildet“, sieht26. Es geht um den Lebenszusammenhang, in dem sich religiöse, politische und soziale Motive und Faktoren ineinander verschlingen und - das ist entscheidend - wechselseitig beeinflussen, in dem politische und konfessionelle Gegensätze und Verbindungen sich ständig überkreuzen27. Auch die Kirchengeschichte ist keine Geschichte der Dogmatik und der Kirchenbildung, die dogmatischen Begründungen für das unterschiedliche Verhältnis der Konfessionen zum Staat ζ. Β. werden zum guten Teil durch realpolitische Begründungen ersetzt. Das aber ist für ihn keineswegs säkularisierte Historie. Gerade an der engen und steten Wechselbeziehung von Kirchengeschichte und politisch-sozialer Geschichte erweist sich seiner Meinung nach die Bedeutung des Christentums für das gesamte soziale Leben, und von daher erst ergibt sich die ihm besondere Frage nach der Kirche als der jeweiligen sozialen Gestalt des Christentums. 234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Die beiden Themen, die ihn auf der Höhe seines Lebens wissenschaftlich und praktisch bewegt haben, hängen ganz eng mit dieser Auffassung der interdependenten Lebenswirklichkeit zusammen: die Frage nach dem Einfluß des Christentums auf Staat und Gesellschaft, zumal nach dem Einfluß der reformatorischen Konfessionsbildung auf die politisch-gesellschaftliche Entwicklung und ihre nationalen Besonderungen28, und die Frage nach der jenen Einfluß ζ. Τ. begründenden sozialen Ausgestaltung und Institutionalisierung christlicher Gemeinschaften, nach der sozialen Dimension der Kirchen und kirchlichen Gruppen. Problemstellungen von Troeltsch, Rosenstock oder Plessner sind hier in vielem vorweggenommen29. II. Wir wenden uns zunächst den historischen Abschnitten unseres Buches zu. Es beginnt mit einem - kurzen - Kapitel über die Reformation, in dem Hundeshagen versucht, ihre zentralen Motive und deren Verhältnis näher zu bestimmen. Der Abschnitt richtet sich gegen eine moderne, rationalistisch-liberale Interpretation, für die die Reformation von dem Streben geleitet ist, die Autonomie des Subjekts (wieder)herzustellen, den freien Intellekt von der überlieferten, ja von jedweder objektiven Autorität zu emanzipieren, für die also die Reformation eine Epoche auf dem Wege zur Geistesfreiheit ist, für die Renaissance und Reformation parallele Phänomene sind. Solche Interpretation nun mißversteht nach Hundeshagen das zentrale Motiv der Reformation und ihren eigentlichen Charakter, weil sie den zentralen Begriff der Sünde außer acht läßt. Die Reformation geht nicht von einem Ruf zum Wissen, sondern vom Ruf zur Buße aus, sie entspringt einer ethischen Not, sie ist eine Tat des sittlichen Gewissens und hat mit dem sola fide und den nun nicht mehr naturhaft, sondern personal gefaßten Begriffen von Sünde und Schuld das Ethos neu begründet. Das ist das, was der Verfasser das „ethische“ Motiv nennt. Freilich, und insofern ist Hundeshagen Vermittlungstheologe, auch das „intellektuelle“, das humanistische Motiv gehört unaufhebbar zur Reformation. Der reformatorische Protestantismus ist, das ist die wesentliche Aussage, eine Synthese des ethischen Anspruchs mit dem freien Intellekt, so aber, daß der ethische Anspruch dominiert. Traditionskritik (das sola scriptura), Schriftkritik und freie Forschung werden - wie in der gegenwärtigen Theologie etwa bei G. Ebeling - als Konsequenz der Lehre vom rechtfertigenden Glauben, das „Formalprinzip“ als Konsequenz des „Materialprinzips“ nachgewiesen. Die beiden Elemente der Synthese freilich können auseinanderfallen, insofern ist im reformatorischen Ansatz die Möglichkeit zur Entwicklung von Rationalismus wie Orthodoxie begründet - und von der Notwendigkeit, diese gegenwärtigen Phänomene geschichtlich zu erklären, ist die Interpretation der Reformation als Synthese natürlich geleitet-, ohne daß diese einseitigen Richtungen in ihrer Einseitigkeit reformatorisch legitimiert wären. Von dieser Interpretation der Refor235 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

mation her begründet Hundeshagen seine theologische Position in der Gegenwart und seinen Versuch zur Erneuerung des Protestantismus. Die Unterscheidung von ethischem und intellektuellem Motiv hat noch eine andere Pointe. Die intellektuellen Bewegungen des Humanismus und der Renaissance waren eine Sache der Gebildeten und Gelehrten, einer elitären Oberschicht, waren auf eine literarisch-kritische, intellektuelle Kultur abgestellt. Dem gegenüber entstammte die Reformation einer „ethischen“ Not des Volkes, sie war an das Volk adressiert, das gerade verkennen die rationalistisch-liberalen Intellektuellen der Gegenwart. Die Polemik gegen einen elitären Intellektualismus und gegen die Selbstüberschätzung der Bildungsschicht und die Orientierung am - einfachen - „Volk“ gehören, wie wir sehen werden, ganz wesentlich zu Hundeshagens sozusagen konservativ-demokratischem Liberalismus und bestimmen sein Urteil über die Gegenwart ebenso wie sein Programm für die Zukunft. Die nächsten Kapitel behandeln die deutsche Geschichte von der Reformation bis zur Gegenwart unter dem besonderen Gesichtspunkt des Zusammenhanges der politisch-sozialen und der kirchlich-religiösen Verhältnisse mit der Entwicklung des „Nationalgeistes“; es ist ein Versuch, die deutsche Sonderentwicklung - im Vergleich mit Westeuropa - unter „religionssoziologischen“ Kategorien zu interpretieren. Die historische Untersuchung soll die besondere Lage der Gegenwart erklären und ihre positiven wie negativen Möglichkeiten erhellen. Interessant ist zunächst die Analyse der Beamtenschaft, weil sich für Hundeshagen gerade in ihr politische Geschichte und Geschichte des „Nationalgeistes“, Bildungsgeschichte vermitteln. Der Absolutismus riß, so das Urteil eines Romantisch-Liberalen, gerade durch die Beseitigung der politischen Stände und durch die Emanzipation von konkreten Traditionen eine Kluft zwischen Fürst und Volk auf, weil sich mit der Regierungstätigkeit „keine gehörig organisierte Teilnahme der Volksglieder an den Geschäften verband“30, - wennschon der Absolutismus und der aufgeklärte Absolutismus zumal in der Nachfolge Hegels als Durchgangsstufe zum modernen Staat und seiner Herrschaft der Gesetze gerechtfertigt werden. Das Instrument des Absolutismus nun war das Beamtentum; zwischen Fürst und Volk stand es auf der Seite des Fürsten oder des Staates, der rational abstrakte, antitraditionalistische, sich auf Intelligenz gründende Staat war seine Heimat, die Beamten waren, mit Hegel zu reden, der „allgemeine“ Stand. Aus dieser Funktion entsprangen spezifische Interessen und eine spezifische Mentalität. Die Beamten waren den „tieferen“ Interessen, Bestrebungen und Bedürfnissen des Volkes, den „moralisch-religiösen Substanzen“ und den freien Kräften entfremdet, sie waren Repräsentanten des vernünftigen Obrigkeitsstaates mit seinem ganzen „Übermut“ gegen alle Selbsttätigkeit von unten. Zudem, weil sie in Deutschland einerseits in kleinen Lebenskreisen, nicht Weltstädten, und nicht in Verbindung mit Hof und Adel lebten und weil andererseits die zersplitterten historischen Territorien im 18. Jahrhundert nicht mehr relativ selbstverständlich legitimiert waren, lebten sie sozusa236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

gen jenseits der großen politischen Realität wie der kleinen Realität der konkreten Traditionen. Die Beamtenschaft war wie der absolutistische Staat, begünstigt durch die Diskontinuität der historischen Entwicklungen in Deutschland, geschichtslos, pietätlos, ja schonungslos gegenüber den Lebenstendenzen des Volkes, die zurückgedrängt wurden und in der Vereinzelung verkümmerten; und sie schrieb sich zugleich - abgelöst von Tradition und Volk - eine antizipatorische Funktion zu, aus der sie ihre gebietenden und leitenden Befugnisse legitimierte31. Diese Mentalität der absolutistischen Bürokratie, diesen Charakter des bürokratischen Absolutismus bezeichnet Hundeshagen in der Nachfolge Hegels und des deutschen Idealismus mit dem Begriff „abstrakt“. Das Beamtentum nun ist, darum ist die Beschreibung seiner Mentalität von allgemeiner Bedeutung, der „Erzeuger des gebildeten Mittelstandes in Deutschland und seiner abstrakten Intelligenz“32. Die Schicht der bürgerlich Gebildeten ist nicht aus dem alten Bürgertum oder den neuen wirtschaftlichen Kräften hervorgegangen, sondern eben aus der gelehrten Bürokratie, zu der auch die Prediger gehören, und hat damit im Zuge der traditonskritischen Aufklärung die „abstrakte“ und antizipatorische Mentalität der Bürokratie übernommen und sich mit dieser aufgeklärt-wohlwollenden, aber anordnenden und verfügenden Bürokratie sozusagen künstlich vom „Volk“ isoliert. Ohne wirklichen Bezug zum Staat oder zum Volke habe sie, so die These Hundeshagens, eine eigene und unabhängige Sphäre des sozialen Lebens und der Bildung erzeugt, aus der die deutsche Kultur des späten 18. Jahrhunderts lebte. Diese politisch- und kultursoziologische Reflexion wird nun durch die religionssoziologische Reflexion ergänzt und erweitert: die politisch-soziale Entwicklung hat sich in ständiger Wechselwirkung mit der kirchlichen Entwicklung vollzogen. Im Gefolge der Konsolidierung der Reformation und deren politischen Implikationen verlor die protestantische Kirche ihren Charakter als Volkskirche: sie wurde zur Kirche der gelehrten Theologen und ihres Intellektualismus, zur Lehr- und Wissenschaftskirche, sie wurde zur juridisch bestimmten Amtskirche, und sie wurde zur Staatskirche33. Sie nahm eine „unvolksmäßige Richtung“34 an, sie wurde „antisozial“, d. h. uninteressiert an ihrer gesellschaftlichen Gestalt, sie gründete sich nicht mehr auf den „freien, lebendigen Geist der Gemeinde“35. Die innere Auflösung der Orthodoxie, der absolutistische Staat und die Aufklärung haben dann die gänzliche Verstaatlichung der Kirche bewirkt, die Theologen wurden staatliche Kirchenbeamte, die aus aufklärerischem Ethos das Volk „regierten und bevormundeten“36. Die Kirche wurde zur „Vernunfts- und Polizeikirche“37. Diese Entwicklung hat, so sehr sie durch die allgemeine deutsche Entwicklung bedingt war, ihrerseits deren Grundtendenzen wesentlich verstärkt und befestigt. Der Intellektualismus der Orthodoxie wie der sie ablösenden Aufklärungstheologie mit ihrem Akzent auf der Bibelkritik - im ganzen ist Hundesha gens Urteil über die Aufklärungstheologie keineswegs polemisch negativ — haben die Ausbildung eines abstrakten Denkens, eines Doktrinarismus und die Selbstüberschätzung der intellektuellen Klasse befördert, die Amts- und Staats237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

kirche hat den bürokratischen Charakter des Obrigkeitsstaates und die elitäre Mentalität des gebildeten Mittelstandes miterzeugt. Die - von Hundeshagen negativ beurteilte - politisch-soziale Entwicklung und die Entwicklung des „Nationalgeistes“ sind auch eine Folge der negativen kirchlichen Entwicklung. Produkt all dieser politisch-sozialen, geistigen und kirchlichen Entwicklungen ist die deutsche Bildung des späteren 18. Jahrhunderts. Sie ist „abstrakt“, insofern sie in einem Jenseits der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit lebt, in dem esoterischen Bereich von Wissenschaft und Philosophie, Literatur und Kunst, in einer Welt der wirklichkeitsfernen, wirklichkeitsüberholenden, wirklichkeitsüberfliegenden Ideale, in die der deutsche Geist sich „flüchten“38 konnte, als die historischen, politischen und religiösen Lebensformen des alten Deutschland zerfielen, und sie ist abstrakt, insofern sie nicht-volkstümlich und nicht-national, sondern „kosmopolitisch“ ist. In seinen späteren Arbeiten seit dem Anfang der fünfziger Jahre39 hat Hundeshagen diese deutsche Bildung als „Humanitarismus“ beschrieben, als ein Säkularisationsprodukt, als Erbe und „Zerrbild“ der christlichen Humanität. Weil die Humanitätsideen wegen Unrecht und Tyrannei im Staat, Scholastik und Hierarchie in der Kirche und der „Verdumpfung“ des Menschen in der Privatexistenz in diesen Bereichen nicht hätten zum Zuge kommen können, hätten sie sich in die öffentliche Meinung und das „soziale Leben“ der gebildeten Gesellschaft gerettet und dort im Zuge der Aufklärung (wie der französischen Revolution) säkularisiert. Die gebildete Gesellschaft habe die fundamentale Wirklichkeit der „Sünde“ geleugnet oder verkannt und versucht, die Menschheit und Menschlichkeit ganz profan aus sich selbst zu verwirklichen. Der anthropozentrische Optimismus sei das Charakteristikum dieser Bildung. Indem nun die Humanität in Deutschland ihren Ort in der literarisch-ästhetischen Bildung fand, wurde ihre christlich-ethische Bestimmtheit durch eine ästhetische oder intellektuelle ablöst, wie sich das in der herrschenden Kunst- und Wissenschaftsreligion ausdrückte. Diese Tendenzen konnten sich in Deutschland - im Unterschied zu England ζ. Β. - ge­ rade deshalb so stark durchsetzen, weil hier die „lebendige Realität“ eines politischen Lebens fehlte. Die „Abstraktheit“ der deutschen Bildung drückt sich also aus in einem wirklichkeitsfremden Idealismus, einer überwiegend ästhetisch-intellektuellen und darum nicht politisch-ethischen Orientierung, in einer mangelnden Bindung an das Volk und dem Kosmopolitismus-Phänomen, die der Theologe Hundeshagen geneigt ist, auf das andere, große, von ihm konstatierte Phänomen: den anthropozentrischen Optimismus zurückzuführen. Für Hundeshagen ist, wie wir noch sehen werden, jeder ethisch bestimmte Realismus - und das ist der Maßstab seiner Analyse und Kritik - christlich bestimmt. III. An die historische Untersuchung schließt sich die Analyse der gegenwärtigen Situation an. Sie ist politisch bestimmt durch die Aufeinanderfolge von Re238 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

form und Restauration. Die Bewegung der Reformzeit und der „Befreiungskriege“ entstanden nach Meinung des Verfassers nicht aus dem Beamtentum und der Schicht der Gebildeten - hier verstellt ihm sein Schema von Beamtentum und gebildetem Mittelstand versus Volk offensichtlich den sonst realistischen Blick -, sondern aus dem Volke. Und es war eine moralische Bewegung, die auf Lebendigkeit und freie Selbstbestimmung des Volkes abzielte, für den Burschenschaftler, der zur Wartburg „gewallfahrtet“ war, eine Erneuerung der reformatorischen „Synthese“ des Protestantismus. Diese Bewegung wurde nach 1815, so das Urteil des Liberalen, durch die Reaktion zurückgedrängt und unterdrückt. Der obrigkeitliche Staat, nicht das „Volk“, wurde wieder zum dominierenden Faktor, und das Beamtenregiment formte diesen Staat durch Vormundschaft und Kontrolle gegenüber den Bürgern zum „Polizeistaat“40, in dem „freiwillige Bewegungen des individuellen Bürgergeistes“ nicht nur nicht angeregt oder begünstigt, sondern abgewürgt wurden, in dem ein freies öffentliches Leben als Wechselspiel verschiedener Kräfte - das englische Modell nicht vorhanden war. Der Staat wurde als Verwaltung zur „Maschine“. Dieser Polizeistaat nun gilt dem Verfasser als „geschichtswidrig“ - auf diese Kategorie werden wir noch zurückkommen -, weil der „Nationalgeist“ über ihn hinausgewachsen sei. Aus diesem Widerspruch erkläre sich die Krise, die „Krankheit“ oder der „pathologische Zustand“ der Zeit. An einer Reihe von Symptomen sucht Hundeshagen zu zeigen, wie sich die „starre Objektivität des Polizeistaates“41 auf das gesamte politisch-soziale Leben und insbesondere auf die Mentalität ausgewirkt und die problematischen Züge der deutschen „Bildung“ wesentlich intensiviert habe. Große Ziele fehlen, Indolenz und Passivität, der resignierte Rückzug in die Privatheit, die „Gemütlichkeit“, der „weichliche Subjektivismus“, der leere Kunstenthusiasmus nehmen überhand, ein inneres Leben des Gedankens wird vom äußeren Leben des Erwerbs, die Wissenschaft vom öffentlichen Interesse geschieden42. Die geistig-moralische Existenz der Nation sei vornehmlich eine literarisch-ästhetische und wissenschaftliche geworden. „Es ist nicht gut, wenn ein Volk, das alle Bedingungen einer umfassenden Entwicklung in sich trägt, auf eine ausschließlich literärische Existenz zurückgedrängt wird.“43 Und da zudem Literatur und Wissenschaft vom Leben der Nation abgetrennt seien, seien sie in Gefahr, von spitzfindiger Sophistik und leerer Phrase bestimmt zu werden. Die sittliche Aktivität, wie sie sich zumal im öffentlichen Leben entfalte, sei durch den Polizeistaat und die ihm korrespondierende literärische Existenz entscheidend geschwächt, er spricht geradezu von einer „sittlichen Depotenzierung unserer Nation“44; die deutsche Bildung leide an einem Defizit an „Energie, Charakter, Gewissen“45, die in eine irreale Intellektualität gedrängte Opposition wende sich von allen objektiven Normen ab. Schließlich hätten Polizeistaat und aristokratisch-elitäre Bildung die Standesunterschiede und die kastenartige Trennung zwischen Gebildeten und Ungebildeten wesentlich verstärkt. Die Kritik der Zeit und der deutschen Bildung richtet sich nun auch gegen den deutschen Liberalismus, dem sich Hundeshagen zugehörig fühlt und der 239 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

für ihn Repräsentant der Ideen von 1813, der „Begeisterungszeit“, ist. Die Kritik der Realpolitiker der fünfziger Jahre klingt hier schon vor 1848 an: der deutsche Liberalismus neige zu sehr zu Abstraktion und Theorie, zu doktrinären Erörterungen, zur „abstrakten Allgemeinheit der politischen Ideen“, zu der abstrakten Differenz von Sollen und Sein, zu wirklichkeitsfernen Antizipationen, ja teilweise zu Träumen und Poesien, zu Illusionen und nebelhaften Zielen. Im ganzen: es mangele ihm an Sinn für die Wirklichkeit, an Realismus, an konkreter Modifikation allgemeiner Grundsätze, die zu praktischen Maßnahmen führten, an, so kann man Hundeshagen aus seinen anderen Schriften ergänzen, wesentlichen politischen Tugenden wie Umsicht, Besonnenheit, Maß, Nüchternheit oder Rechnen mit den geschichtlichen Realitäten46. Diese Kritik wird in drei Punkten konkretisiert. a) ein Teil des Liberalismus neige noch immer - oder wieder - dazu, die „Weltreform“ vor die „deutsche Reform“, das Kosmopolitische vor das Nationale zu setzen. b) Die Liberalen - am Bildungsbürgertum als dem allgemeinen Stand orientiert - kümmerten sich viel zu wenig um die materiellen und geistigen Bedürfnisse und Lebensformen der nichtliterarischen Volksklassen. Der Liberalismus aber müsse - hier wird sein demokratisch-konservativer Volksbegriff politisch relevant - sozial werden, um bestehen zu können 47. c) Der Liberalismus verhalte sich zur Kirche wie die Bürokratie - Hundeshagen spricht vom „verborgenen Polizeigedanken“ im Liberalismus; er verkenne die religiösen Grundlagen des Staatslebens und sei unduldsam gegen eine allseitige, nämlich auch kirchliche Entwicklung des Freiheitsprinzips - damit verfehlt er aber für Hundeshagen wiederum die Wirklichkeit. Hundeshagens Kritik impliziert ein reales und tragisches Dilemma des Liberalismus. Die Entfaltung eines praktisch-konkreten Parteiwesens setzte ein öffentliches Leben, eine konstitutionelle Gewöhnung, einen Konsensus über Verfassung und nationale Fragen voraus; solange diese Voraussetzungen fehlten, war auch die Entwicklung einer realistischen Partei behindert, die diese Voraussetzungen allererst hätte schaffen müssen. Der Ausschluß vom Staat hielt den Liberalismus in seiner Abstraktion fest, seine Abstraktion hielt ihn von der Realität und damit auch vom Staat fern. Die kirchlich-theologische Entwicklung steht wiederum mit dieser allgemeinen Entwicklung des obrigkeitlichen Beamtenstaates und einer hypertroph literarisch-theoretischen Bildung in Wechselwirkung. Die Amtskirche, von der staatlichen Bürokratie beeinflußt, hat keine freiere, assoziative Bewegung der Gemeinden zugelassen, die Theologie hat sich als eine esoterische Wissenschaft über dem Volksleben etabliert, eine „aristokratisch-bürokratische Haltung, welche unsere gebildeten Stände dem Volk gegenüber einzunehmen sich längst gewöhnt haben“48. Diese Theologie ist, vor allem durch das Übermaß der Kritik, zur Sache des puren Intellektualismus geworden und hat sich von jeder überprivaten, d. h. sozialen Wirklichkeit getrennt, ja zum Teil ist diese Theologie politisch abstinent geworden. 240

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Aus dieser politisch-geistigen Situation nun haben sich für Hundeshagen zwei wesentliche Konsequenzen ergeben. Einmal: aus dem radikalisierten Intellektualismus - zumal der von aller sozialen Wirklichkeit abgelösten Theologendiskussion - entsteht bei den Junghegelianern, den Kreisen des Jungen Deutschland und den sozialistisch-kommunistischen Bewegungen das, was Hundeshagen den „Antichristianismus“ nennt, also die dezidierte und aggressive Abwendung vom Christentum. Sie ist zunächst eine typische Intellektuellenbewegung, und Hundeshagen erklärt sie im wesentlichen als Folge des politischsozialen Zustands, insbesondere aufgrund seiner - soziologischen - Analyse der Intellektuellen und ihrer Mentalität. Weil es in Deutschland beim gegenwärtigen Zustand des allgemeinen Bewußtseins, des „Nationalgeistes“, kein öffentliches Leben, keine Selbstverwaltung und Mitverantwortung im politischen (und kirchlichen) Bereich gibt, und weil - infolgedessen - Aktivität und Energie der einzelnen Angehörigen der gebildeten Klassen sich wesentlich auf einen isolierten ästhetisch-intellektuellen Bereich konzentrieren und dadurch in eine Sphäre der idealistischen, spekulativen, antizipatorischen, radikal polemischen Unwirklichkeit geraten - deshalb werden die „sittlichen Lebenskräfte“, die ethischen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die über den privaten Bereich hinausgehen, nicht geübt, sondern geschwächt, ja zersetzt. In der Rangfolge der Werte treten ästhetische und intellektuelle Werte vor die ethischen, die die politisch-sozialen mit einschließen; von der praktisch-sozialen Wirklichkeit isoliert, tendieren die Intellektuellen dahin, alle „objektiven“ Normen aufzulösen. Und weil das Ethos für Hundeshagen noch selbstverständlich an christliche Grundlagen gebunden ist, führen die Zurückdrängung eines konkreten - öffentlichen und aktiven - Ethos, des eigentlichen Ansatzes für die christliche Predigt von Sünde und Erlösung, von Selbstdisziplin und Nächstenliebe, und der korrespondierende hypertrophe Intellektualismus zur Abkehr vom Christentum49. Der politisch bedingte pathologische Zustand Deutschlands und der deutschen Bildung ist für ihn eine der wesentlichen Ursachen für die Abkehr vom Christentum, das konstitutionelle England das wichtigste Gegenbeispiel für einen anderen politisch-religiösen Zustand in dieser Gegenwart. Und die wesentliche Gefahr dieser antichristlichen Intellektuellenbewegung - hier wirken die Schweizer Erfahrungen ein - scheint ihm darin zu liegen, daß sie auf breitere Gruppen des Volkes, er demonstriert es an den Auswanderern, überzugreifen droht. Zugleich ist diese Bewegung ein wenn auch nicht notwendiges, so doch keineswegs zufälliges und durchaus legitimes - Ergebnis der deutschen Bildungsgeschichte. Feuerbach ist der Erbe Herders, der „Antichristianismus“ zieht die Konsequenz aus dem anthropologischen Optmimismus des „Humanitarismus“50. Die andere Konsequenz aus der politisch-geistigen Misere, eng damit zusammenhängend, sieht Hundeshagen in der falschen Verquickung von politischen und kirchlichen Bewegungen. Wir werden sehen, daß seine Position hier widersprüchlich ist, sofern er für seine eigene Position doch eine Sonderstellung impliziert; aber im Hinblick auf die gegenwärtige Lage tritt er als Kritiker auf. 241 16 Nipperdey

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Die - protestantische - Kirche ist von wilden Kämpfen und Oppositionsbewegungen betroffen, zumal von der radikalen Theologie und der Gruppe der Lichtfreunde. Diese Bewegungen sind wieder zum guten Teil eine Folge des politischen Zustands, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Die Unterdrückung eines ausgebildeten öffentlichen Lebens und einer durchgebildeten politischen Aktivität und die Abdrängung der deutschen Bildung in die abstrakte Intellektualität hat die Radikalisierung einer isolierten Theologie zur Folge, die - anstelle der Kirche - im Zentrum des Interesses der Gebildeten steht; der Ausschluß von der Politik hat Kritik und Opposition in die Kirche hineingedrängt, weil sie nur hier ein Betätigungsfeld fanden. Bei aller Simplifizierung, die der Verfasser zweifellos vornimmt, sieht er sehr genau, wie sich etwa in der Bewegung der Lichtfreunde politische und kirchliche Opposition verbinden, wie die kirchliche Opposition - gerade wegen der Verbindung von Amtskirche und Obrigkeitsstaat - ein Ersatz (und ein Ventil) für politische Opposition ist. Andererseits ist auch die von Hundeshagen tief beklagte und scharf verurteilte Verbindung von „positiver“ orthodoxer und pietistischer Kirchlichkeit mit dem Konservativismus und der Reaktion eine Folge des politisch-geistigen Zustands: Reaktion auf die abstrakte Bildungsreligion der Liberalen, Konsequenz eines in der Staats- und Amtskirche unentwickelten öffentlichen, politisch-praktischen Bewußtseins. Ein „lebendiger christlicher Volksgeist“ wird - anders als in England - zurückgedrängt oder erstarrt in überlebten Formen der Vergangenheit. Kurz, die Lage der Kirche erscheint stark negativ, und das wird auf den politischen Zustand und seine Auswirkung auf die Bildung und die Mentalität der Gebildeten zurückgeführt - so sehr die kirchliche Entwicklung auch ein bedingender Faktor für die politische und geistige Entwicklung in Deutschland gewesen ist. Wir verzichten darauf, die Stärken und die Schwächen dieses Zeitbildes und dieser Zeitkritik zu erörtern51. Die in der Beschreibung und Analyse gewonnenen und implizierten Maßstäbe, die Hundeshagens Zukunftsperspektive ebenso begründen wie sie von ihr begründet sind, werden uns noch beschäftigen. Im ganzen kann man das Buch - über Historie und Zeitkritik hinaus - als Versuch einer politischen Theologie begreifen. Diesem Problem wenden wir uns zu. IV. Das Problem einer politischen Theologie war seit der französischen Revolution in spezifischer Weise aktuell geworden. Die politische Auseinandersetzung über die Revolution hatte - in einer Zeit, in der die Entchristianisierung erst langsam einsetzte - für die Zeitgenossen noch selbstverständlich eine metapolitische und das hieß theologische Dimension. Dabei verflocht sich die Frage nach dem Wesen der Revolution konkret mit der Frage nach dem Verhältnis von Revolution und Konfession, die Konfessionen waren noch eine mächtige und lebenbestimmende Wirklichkeit, und im Zuge der Restauration hat sich 242

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bekanntlich das Konfessionsbewußtsein noch einmal wesentlich intensiviert. Die Frage nach dem Verhältnis von Konfession und Revolution aber spitzte sich zu der Frage nach dem Verhältnis von Reformation und Revolution zu. Der politisch-theologische Konflikt wurde ausgetragen im Rahmen einer historischen Interpretation der Reformation und ihrer Folgen. Die Historie wurde in den Dienst der politischen Auseinandersetzung gestellt, sie war das Arsenal der Argumentation, sie sollte politische Programme legitimieren, sie war eine Macht, ja sie wurde - Zeichen für die Bedeutung wie für die Vitalität des historischen Bewußtseins - als eine (potentielle) Entscheidungsinstanz im ideologischen Konflikt aufgefaßt. Und im Zuge der Historisierung des Bewußtseins hat sich die historische Dimension der politisch-theologischen Reflexion noch intensiviert, ehe sie sich seit der Mitte des Jahrhunderts mehr und mehr relativierte und auflöste. Die Schriftsteller der französischen Gegenrevolution Bonald, de Maistre und der frühe Lamennais - haben die These aufgestellt, die Reformation sei die erste und ursprüngliche Revolution, „die“ Revolution sei eine Folge der Reformation; der radikale Bruch mit einer legitimierten Tradition, der Subjektivismus, der Autorität und Objektivität zerstörte oder dahin tendierte, die Objektivität an die sich ständig wandelnde Subjektivität anzugleichen oder sich - scheinbar - in Anarchie aufzulösen - das bezeichne das revolutionäre Wesen der Reformation; diese These ist von vielen Theoretikern der Restauration, zumal von Haller und anderen - romantischen - Konvertiten aufgenommen worden, die ersten Ideologen einer katholischen Partei, schon der alte Görres, vor allem aber die Schriftsteller der „Historisch-politischen Blätter“, wie Jörg, haben sie intensiviert: die Reformation ist als Mutter der Revolution der „zweite Sündenfall“52. Gegenüber dieser These steht die These der Protestantisch-Hochkonservativen (E. L. v. Gerlach, H. Leo, F. J . Stahl ζ. Β.): die Reformation sei das schlechthin antirevolutionäre Ereignis und Prinzip, nicht zufällig sei ja die Revolution in katholischen Ländern ausgebrochen; dabei wird freilich je länger, je mehr zwischen lutherischem und calvinistischem Protestantismus unterschieden und nur dem ersteren die „Reinheit“ des gegenrevolutionären Prinzips zugesprochen. Diese These war die ideologische Grundlage der neubegründeten konservativ-kirchlichen Solidarität. Das monarchische Prinzip galt als christlich und protestantisch, schon das konstitutionelle Prinzip als unchristlich und revolutionär, aus ihm sollten sich für Ethos und Christlichkeit die schlimmsten Konsequenzen ergeben: das konservative, in den Kategorien des Entweder-Oder polarisierende Denken identifizierte die Positionen der Mitte mit dem extremen Radikalismus53. Beide Positionen waren ganz explizit Formen einer politischen Theologie. Schließlich ist für unseren Zusammenhang noch eine dritte Position - die Position Hegels und der Liberalen - von Bedeutung54. Die Reformation ist die deutsche „Revolution“, das Ereignis, das eine Revolution von der Art der französischen in Deutschland überflüssig gemacht hat, weil sie Evolution, Reform und Fortschritt, Angleichung der Objektivität an die erreichte Stufe der Subjektivität, Reform durch Erziehung, Revolution von innen, Durchsetzung von Freiheit 243 16* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

und Selbstbestimmung ermöglicht und begründet hat - und zwar entweder im liberal-konservativen Sinn von Hegel (mit einer noch theologisch-philosophischen Interpretation der Reformation) oder im liberal-demokratischen Sinn etwa von Gervinus (mit einer mehr humanistisch-philosophischen Interpretation der Reformation); freilich war im Liberalismus der dreißiger und vierziger Jahre die Reformation aus einem theologisch-kirchlichen eher zu einem geistesgeschichtlichen Faktum geworden. Diese Diskussion - und die ihr entsprechende Legitimierung der konservativen und der katholischen Partei55 - war zu Beginn der vierziger Jahre in Deutschland etwa zwischen den Historisch-politischen Blättern, Stahl und den Junghegelianern und allen, die von Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte geprägt waren, sehr lebendig. Auf diese Diskussion muß man Hundeshagens Erörterungen wie seine politisch-theologische Position überhaupt beziehen, wenn er auch, durch die Objektivität der Rankeschen Darstellung der Reformation hindurchgegangen, genauer, gelassener und - im Historischen - objektiver ist. Im Schlußkapitel seines Buches versucht Hundeshagen, das angeschnittene Thema unter dem Titel: Der Protestantismus als politisches Prinzip56 zu erörtern, und zwar vornehmlich historisch. Er untersucht die Stellung von Reformation und Protestantismus zu Staat und Politik. Die Reformation hat - und hier befindet er sich im Einklang mit Hegel wie mit Stahl - das Eigenrecht des Staates, der nicht wie im Katholizismus von der Kirche mediatisiert und profaniert wird, zur Geltung gebracht, eines Staates, der an sich, als ordinatio dei, „eine höhere sittliche Gemeinschaft“ darstellt - freilich so, daß erst das Christentum seinen ethischen Charakter vertieft und festigt. Die neugewonnene Innerlichkeit des Glaubens hat die Staatsähnlichkeit der Kirche beseitigt, sie wirkt allein geistig auf ihn ein. Staat und Kirche sind einander zugeordnet. Die Auffassung von der eigenen und ursprünglichen, keiner Kirche unterworfenen sittlichen Legitimität des Staates führt im Protestantismus dazu, daß der einzelne innerlich dem Staat verpflichtet wird, weil er darin seinen sittlichen Beruf erfüllt: an die Stelle von Handlung und Legalität - die dem Katholizismus zugeschrieben werden - treten Gesinnung und Moralität. Daraus wird und auch das ist in jenen Jahrzehnten gemeinprotestantisch - gefolgert, daß der Vorwurf, der Protestantismus habe revolutionären Charakter, unberechtigt ist: er erzeugt - anders als der Katholizismus - gerade moralische Loyalität gegenüber dem Staat. Nur „dem Schein nach“, sei „das Element der Unruh e . . . dem Protestantismus reichlicher zugeteilt als dem Romanismus“57, denn gerade die - katholische - Überordnung der Kirche über den Staat führe zu ständigen Verwicklungen der Kirche in die weltlichen Dinge, zu Opposition, die wiederum andere Oppositionsbewegungen begünstige58. Nun ist natürlich ganz unverkennbar, und zumal für einen konstitutionellliberalen Historiker, der im Bereich eines reformierten Kirchentums lebte, daß die modernen politischen Ideen von Volksfreiheit, Gewaltenteilung und Widerstandsrecht eine reformatorische, und zwar calvinistische Wurzel haben. Hun244

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deshagen ist dem in der schon angeführten Rektoratsrede von 1842 nachgegangen. Die Ideen der bürgerlichen Freiheit und der republikanischen Verfassung sind auf dem Boden des Calvinismus als Reflexion überlieferter Verhältnisse entstanden. An der Beschreibung und Analyse dieses Sachverhalts sind für uns vier Dinge interessant. a) wird schon hier darauf hingewiesen, welch bedeutenden Anteil die historische Situation - die Situation der Hugenotten und die Ausbildung einer ihr entsprechenden Gemeindeverfassung - auf die Ausbildung dieser Ideen gehabt hat. b) Die Idee der bürgerlichen Freiheit, d. h. für Hundeshagen der Gründung des Staates auf dem Gesamtwillen der einzelnen, hing für ihn innerhalb des Calvinismus unlösbar dialektisch mit der calvinistischen Kirchenzucht, der ethischen Disziplinierung des einzelnen zusammen. Erst in solcher Erziehung und der ihr entsprechenden „willenstüchtigen“ Gesinnung hatte die freiheitliche Verfassung ihr ethisches Substrat, sie war an den Ernst des Christentums und seiner Idee der Sünde gebunden. Bürgerliche Freiheit als Einwirkung des einzelnen auf den Staat hatte daher die Einordnung des einzelnen in das unter göttlichen, vernünftigen Normen stehende Ganze zur Voraussetzung, bürgerliche Freiheit war nicht Emanzipation oder gar Willkür der Subjektivität. Die calvinistische Freiheitsidee war nicht revolutionär. c) Die Volkssouveränitäts- und Widerstandslehre der Jesuiten im 16. und 17. Jahrhundert - ein Lieblingsthema der politisch-theologischen Diskussion der Zeit (bis hin zu Ranke) - war wesentlich von der calvinistischen unterschieden, weil sie ohne ethische Substanz ein austauschbares Mittel im Kampf der Kirche um den Staat war59; sie konnte unmittelbar in eine absolutistische und mittelbar in eine revolutionäre Staatslehre umschlagen. Zudem habe das ist ganz hegelisch - die Nichtachtung der freien Subjektivität, der „tieferen Bedürfnisse des vernünftigen Geistes“, des Gewissens und die Mediatisierung und Instrumentalisierung des Politischen im katholischen Absolutismus und „Jesuitismus“ gerade den „bodenlosen Subjektivismus“ der antireligiösen Aufklärung, des atomistischen Republikanismus produziert, insofern habe gerade der Katholizismus die eigentliche Basis der Revolution geschaffen60, deshalb erkläre sich das Faktum, daß die revolutionären Länder die katholischen Länder seien und ihnen eine Konsolidierung nicht gelinge. d) Die Entwicklung des 18. Jahrhunderts (und die französische Revolution) hat freilich die calvinistische Freiheitsidee pervertiert, indem an die Stelle der „Selbstverleugnung“ und vernünftigen Willensbestimmtheit die absolute Emanzipation und die Willkür des Individuums - die Politik des „aufgeklärten“ oder des „sentimentalen“ Subjekts - zum Wesen der bürgerlichen Freiheit gemacht worden sei, und der Staat damit sein ethisches Substrat und zugleich seinen eigentlich ethischen Zweck verloren habe, die Verfassung zu bloßem Mechanismus geworden sei. „Die Feststellung der formellen Rechte aller durch eine Berechnung der Gewalten im Staate und eine solche Verteilung derselben, wodurch sie sich nach Naturgesetzen gegenseitig am Mißbrauch verhindern, ist 245 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

ein Gewinn und eine Ehre der unter dem Impulse der Reformation stehenden neueren Zeit. Ihr ist die Gestalt der Staaten zu verdanken, durch welche sie allein erst diesen Namen verdienen, nach der die Ordnung des zu einem höheren Selbstbewußtsein erhobenen Ganzen alle Teile durchdringt und wonach sie in sich selbst der Freiheit einen Schutz gegen individuelle Willkür gewähre. Aber die formellen Einrichtungen gewinnen einen positiven Inhalt nur durch die Gesinnungs- und Willenstüchtigkeit der Staatsgenossen, der regierenden wie der gehorchenden, durch die ernste Zucht, welcher jeder zuerst an sich selbst und danach einer an dem andern zu üben hat. Diese aber finden wieder nur in einer vom ganzen Ernst des Christentums durchdrungenen und aus seiner Tiefe geschöpften sittlich-religiösen Weltanschauung ihre Gewähr.“61 In der Auseinandersetzung über Reformation, Konfession und Revolution schreibt Hundeshagen hier - wie Hegel - dem Protestantismus die Position der Mitte (zwischen Unterdrückung und Emanzipation der freien Subjektivität) zu: gerade er vermeidet die Polarisierung der politischen Kräfte, die Blokkierung der Evolution und den revolutionären Umschlag der Extreme. Hier ist in nuce schon die politische Theologie Hundeshagens gegeben. Aber wir müssen die historische Erörterung noch etwas weiter verfolgen. Der Versuch, ein „Prinzip“ in der Theologie der Reformation zu finden - ein Prinzip, das noch sehr abstrakt bleibt -, und die Darlegung der calvinistischen Freiheitsideen geraten in Widerspruch mit der Tatsache, daß sich im Bereich des Protestantismus sehr unterschiedliche politische Verhältnisse ausgebildet haben und legitimiert worden sind, ja das protestantische Prinzip könnte konservativ als innerliche Anpassung an den jeweiligen Staat interpretiert werden - das gilt auch für den Calvinismus mit seinen theokratischen Gemeinwesen. Hier tritt nun für den Historiker Hundeshagen eine neue Kategorie, die Macht der historischen Konstellation ein - sie hat ganz wesentlich die unterschiedliche Entwicklung des deutschen und des westeuropäischen Protestantismus, der Oppositionskirche und der obrigkeitlichen Territorialkirchen in Richtung auf ein „Pathos der Freiheit“ und ein „Ethos des Gehorsams“ (Heimpel) bestimmt, so gewiß auch theologische Unterscheidungslehren eine Rolle dabei spielen62. Insbesondere gilt ihm die Verbindung der deutsch-lutherischen Kirchen mit dem Staat als historisch, also nicht grundsätzlich, nicht theologisch bedingt, - wobei freilich Hundeshagen, der einen politischen Traktat, keine abschließende wissenschaftliche Darstellung geben will, das Verhältnis historisch-politischer und theologischer Momente etwas in der Schwebe läßt. Jedenfalls, der Ansatz der Reformation: der ethische, die Gesinnung des Christen verpflichtende Staat und die Zuordnung von Staat und Kirche haben sich in Deutschland vornehmlich aus politisch-historischen Gründen - differenziert: das Luthertum hat eine „habituelle Abneigung gegen politische Lebensformen“ ausgebildet, während der Calvinismus unmittelbar das Christentum zur Lebensordnung der ganzen Gesellschaft machen will und freiere Formen des Kirchen- und Staatslebens und ihrer Zuordnung ausgebildet hat. Es ist evident, daß die Sympathien des Autors der calvinistischen Position gehören, aber indem er sich an 246 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

den gesamten deutschen Protestantismus wendet, vermeidet er jede Schärfe; als Anhänger der Union versucht er auch den Lutheranern die Übernahme des reformierten Erbes der politischen Erfahrung und Aktivität nahezubringen, ihre Abneigung gegen die Politik zu überwinden. Der wesentliche Punkt der Argumentation ist dabei, die gewordene historische Tradition der Kirchentümer, die „unter Einwirkung zwingender Tatsächlichkeiten“63 zustande gekommen ist, vorsichtig von einem ursprünglichen Ansatz zu unterscheiden. Die geschichtliche Erkenntnis lockert die Bindung an eine kontinuierliche Tradition - indem sie sie rational-historisch erklärt und damit relativiert - und ermöglicht die Wiederaufnahme eines Ursprungs. Diese Unterscheidung von Ansatz und späterer Entwicklung begründet die befreiende Funktion der Historie. Zugleich, das ist ein Stück neuer Geschichtstheologie, das Hundeshagen erst in seinen späteren Schriften expliziert hat, ist die Idee eines ursprünglichen Ansatzes verbunden mit der Idee, daß dieser entwickelt werden, sich entfalten müsse: insofern wird aus der Geschichte eine Norm hergeleitet, konkret die Norm, ein klares und durchgebildetes Verhältnis des protestantischen Glaubens zu Kirchenbildung und politisch-sozialen Verhältnissen zu entwickeln64. Insofern vermag die historische Interpretation politisch-theologische Positionen zu legitimieren. Freilich, die historische Interpretation, wie wir sie bisher kennengelernt haben, gibt nur die Basis, von der her eine solche Legitimation möglich ist. Um diese Position zu konkretisieren, bedarf es noch anderer Argumentationsreihen. Wir wenden uns zunächst noch einmal Hundeshagens Interpretation seiner eigenen Gegenwart zu. Die in unserem Zusammenhang hier entscheidende These ist die, daß den politisch-ideologischen Positionen der Gegenwart theologische Positionen, politische Theorien zugrunde liegen. Das gilt in besonderer und expliziter Weise für die revolutionäre Position. Schon 1845 in einem Aufsatz über den Kommunismus bemerkt er, daß die Kommunisten die neue „Weltreform“ als neue Religion, wenn nicht gar als wahre Auslegung des bisher unverstanden gebliebenen Christentums auffaßten65. 1850, im Vorwort zur 3. Auflage des Protestantismusbuches66, spricht er von der „Predigt einer roten Theologie . . . im Bunde mit der roten Politik“, und 1854 heißt es: „Wir haben Religionskrieg . . . zwischen der roten Theologie und allem, was auf der anderen Seite steht.“67 Die radikale Demokratie und der „kommunistische“ Sozialismus - den er gelegentlich auch mit den Wiedertäufern vergleicht - beruhen auf theologischen Positionen, und zwar deshalb, weil jede Politik eine Anthropologie voraussetzt und jede Anthropologie eine Theologie, jede Theologie eine Anthropologie impliziert. Feuerbach und die Religionskritik der Junghegelianer erscheinen als ideelle Grundlage des politischen Radikalismus. Der anthropozentrische Optimismus, der „Materialismus“, die Negation der „Sünde“ und der Endlichkeit des Menschen und die Hypostasierung dieser Haltungen zu einem Menschheitsglauben und zu einem Glauben an die totale Machbarkeit der Gesellschaft - das kennzeichnet den Radikalismus als Religion. Die Idee einer (Neu-)Ordnung der Welt hängt mit der Anschauung der Welt 247

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und des Menschen wesentlich zusammen. Sodann kann die „neue“ Religion auch als Säkularisation und Perversion des Christentums verstanden werden, indem sie etwa versucht, die christliche Idee der Gleichheit der Individuen unmittelbar (und abstrakt) durchzusetzen, ohne auf die „natürlichen“ Grundlagen der Gesellschaft und auf die „Macht der Sünde“ zu reflektieren. Gerade der im Radikalismus virulente Heilsanspruch aber erweist ihn als religiös (oder theologisch) begründetes Phänomen - und noch in der Verkehrung christlicher Positionen hat der Radikalismus seine theologische Grundlage an sich. In Hundeshagens Abriß der deutschen Bildungsgeschichte war der Radikalismus die konsequente Weiterführung und Vollendung der klassischen deutschen Bildung, die er mit dem Begriff des „Humanitarismus“ zu charakterisieren suchte68. Auch der Humanitarismus ist eine theologisch-anthropologische Position, er begründet die Intelligenz- und Bildungsreligion der Mehrheit der Liberalen, den säkularen Idealismus, den anthropozentrischen Optimismus in ihrer Haltung. Die Kritik Hundeshagens am Liberalismus - an seinem Verhältnis zur Wirklichkeit und seiner Wertordnung, vor allem in bezug auf das „Volk“ und die Kirche - zielte auf seine theologischen Grundlagen, auch der Liberalismus impliziert eine politische Theologie, und das kommt gerade in seiner Abneigung gegen die Kirche, in seiner reservierten Haltung gegenüber dem Christentum zum Ausdruck. Freilich, im Unterschied zu den Radikalen ignorieren die Liberalen diese Implikation, und bei der Vielfalt und Differenziertheit des Liberalismus ist es schwer, „die“ Liberalen auf eine explizite politische Theologie festzulegen. Von daher rührt wohl, daß Hundeshagen, obwohl er zu einer Konstruktion „des“ Liberalismus neigt, die konkrete Position der Mehrheit der Liberalen nur sehr vorsichtig und vage umschreibt, und die These von der politischen Theologie des Liberalismus sich im wesentlichen aus der Interpretation der Geschichte der deutschen Bildung und der Beschreibung der politischen Konflikte der Gegenwart als religiöser Konflikte, als Konflikte politischer Theologien ergibt. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt dann aber die geistesgeschichtliche, anthropologische Verbindung von Liberalismus und Radikalismus noch einen besonderen Akzent: die ideelle Basis des herrschenden Liberalismus ist für Hundeshagen inkonsistent, sie bietet keinen Halt, sie zerfällt vielmehr angesichts der Konsequenz des Radikalismus - der Abbau eines einmal christlich bestimmten Ethos und sein Ersatz durch ein humanistisches Ethos schlägt auf die Dauer in Radikalismus um -, sie bleibt als Intellektuellensache jenseits des „Volkes“ und damit jenseits der Wirklichkeit, und sie vermag - darauf kommen wir sogleich zurück - nicht, eine Gesellschaft und Staat tragende Gesinnung zu erzeugen und zu konsolidieren, sie bietet für den Kampf gegen Radikalismus und Reaktion keine Basis. Die politische Theologie des Liberalismus wird der Situation der Gegenwart nicht gerecht. Aus dieser - im Grunde konservativen - Kritik aber versucht Hundeshagen ein liberales Konzept zu entwickeln. Für den Konservativismus und die Reaktion schließlich ist die Begründung in einer politischen Theologie schon in der Selbstinterpretation dieser Gruppen 248 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

evident und zugleich in dem Bündnis zwischen „kirchlichen“, „frommen“ Kreisen und dem Konservativismus augenfällig. Hundeshagen hat sich immer wieder - bedauernd, zornig, polemisch - gegen diese Verbindung und die ihr zugrundeliegende Position gewandt. Die politische Theologie des Konservativismus ist ζ. Τ. unehrlich69, z. Τ. unreformatorisch, indem sie die Subjektivität und ihr Wahrheitsstreben leugnet, den Staat durch eine hierarchisch verfaßte Amtskirche zu klerikalisieren trachtet und eine bestimmte, nachweislich gewordene politische Form absolut durchsetzt und mit dem Anspruch auf Ausschließlichkeit christlich legitimiert. Die historische Erörterung über das Verhältnis des reformatorischen Protestantismus zur Politik - die These von der Begründung eines neuen Staatsethos und die Unterscheidung eines reformatorischen Ansatzes von dem, was „unter Einwirkung zwingender Tatsächlichkeiten“ zustande gekommen ist - und die zeitkritische Interpretation der politischen Konflikte unter dem Gesichtspunkt einer politischen Theologie schließen sich nun zur Begründung seiner eigenen politisch-theologischen Position zusammen durch eine spezielle geschichtstheoretische Voraussetzung, die Idee der Entwicklung und des Rechtes der geschichtlichen Situation. Hundeshagen ist kein Geschichtsphilosoph, und er hat diese Idee nicht eigens expliziert, aber sie liegt seinen Erwägungen zweifellos zugrunde. Zum einen, es gibt eine geschichtlich-heilsgeschichtliche Entwicklung des Staates, er kann in Richtung auf das Gottesreich umgebildet werden, und die Umbildung der Objektivität des Staates im Sinne einer freieren Subjektivität, der Ausgleich der Spannung von Innen- und Außenwelt, indem das Innere in das Äußere hineingebildet wird, erscheint im Anschluß an Hegel als legitime Aufgabe70, von daher liegt die Geschichte nicht sozusagen jenseits der christlichen Ethik, es gibt ethisch normierte Entwicklungsmöglichkeiten in der Geschichte und von daher eine historisch-politische Ethik, wenn auch Ansätze zu einer Fortschrittsidee durch den Tatbestand der Sünde gebrochen bleiben. Zum andern, unabhängig von der unmittelbar heilsgeschichtlichen Betrachtung, die Entwicklung der Menschheit ist ein Faktum, und sie ist legitim, die Menschheit „soll“ sich entwickeln. Die Form eines Staates ist die „sittlichrechtliche Gestalt des in einem bestimmten Lande und Volke erscheinenden Lebens“71, es gibt sich wandelnde, „sittliche und rechtliche Bedürfnisse der Völker“72, es gibt „Entwicklungsphasen“ des „Nationallebens“ und eine Angemessenheit oder Unangemessenheit der politischen Organisation an das jeweilige Stadium des Nationalgeistes73. Auch die historische Situation, die von natürlichen und historischen Bedingungen bestimmt ist, gilt als von Gott gesetzt. Es gibt daher so etwas wie eine auch christliche Legitimierung politischer Forderungen aus der historischen Situation. Die Zurückhaltung des Urchristentums gegenüber dem Staat war legitim, weil und solange das Individuum und das Innere der christlichen Bildung sich erst ausprägen mußten74. Die orthodoxpietistische Ablehnung der konstitutionellen Bewegung gilt als „Verzicht auf den dieser Entwicklungsphase unseres Nationallebens gebührenden Beitrag zur Sittenbildung“75, die Fähigkeit des Protestantismus, „sowohl freiere als be249

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schränktere Staatsformen als seine Forderungen zu entwickeln“76, beruhte darauf, daß er die jeweils verschiedenen „rechtlichen und sittlichen Bedürfnisse der Völker“ anerkannte. Nach Hundeshagen war das „protestantische Prinzip“ abstrakt genommen gleichgültig gegenüber Verfassungsformen, allein an dem im Staat lebendigen Ethos orientiert77, die Frage der Institutionen war Sache der Freiheit der Menschen, aber die Situation stellte Forderungen, die für Hundeshagen christlich-legitime Forderungen sind. Es gibt ein Recht des Lebens und ein Recht der Entwicklung. Dabei besteht eine Situation nicht nur aus sozusagen statischen, sondern auch aus dynamischen Elementen, „welche als das flüssige Element die zeitweilige Umgestaltung der (politischen) Formen ebenso vermitteln wie notwendig machen“78. Die politische Objektivität des Protestantismus bedeutet so im Sinne dieser Situationsethik, daß der - reformatorische - Respekt vor der tatsächlichen Staatsgewalt nicht zur prinzipiellen, d. h. zeitlosen Begünstigung einer Staatsform umgedeutet werden kann. Im ganzen also ergibt sich die Konkretisierung einer abstrakten ethischen Forderung in bezug auf den Staat aus der jeweiligen historischen Situation; aus ihr erwachsen für die christliche Gestaltung von Leben und Welt jeweils andere und neue Aufgaben: die politisch-ethische Forderung ist, bis zu einem gewissen Grade, historisch. Die Frage, ob und wie die Eindeutigkeit der Forderungen der historischen Situation und damit die Legitimität politischer, d. h. verfassungspolitischer Positionen nachgewiesen werden kann, ob ζ. Β. der Nachweis der Vielfalt im Protestantismus entstandener politischer Formen, der die Situa­ tionsgebundenheit politischer Forderungen jenseits eines bindenden Prinzips ge­ rade begründen soll, nicht letzten Endes die ethische Forderung der Situation mit der „zwingenden Macht des Tatsächlichen“, d. h. aber der Machtlage vermengt, ob es Kriterien solcher Legitimität gibt, diese Fragen werden nicht gestellt, die Forderung der Situation, der Zustand des Nationallebens, die Bedürfnisse der Zeit sind eindeutig ablesbar, die ganze historische und zeitkritische Analyse dient diesem Zweck. Im ganzen, die von Hundeshagen erstrebte politische Theologie - die theologische Fundierung von Politik und die politische Konsequenz von Theologie - ist historisch vermittelt, die Beachtung der Situation ist die eigentliche Forderung konkreter Theologie. Man kann sagen, daß die politische Theologie, die ursprünglich einen Absolutheitsanspruch erhebt, hier schon historisch gebrochen oder jedenfalls relativiert ist: sie erhebt nurmehr einen - an der Situation orientierten - relativen Absolutheitsanspruch. Die Historisierung der politischen Norm ist ein Ergebnis der historischen Analyse selbst. Solche Analyse bindet den Menschen weder an und in die Kontinuität einer vergangenen Geschichte noch an die Notwendigkeit einer weltgeschichtlichen Entwicklung der Zukunft, sie ist weder konservativ79 noch progressiv, sie eröffnet vielmehr gegenüber der Macht gewordener Institutionen und Ideen - einen Handlungsspielraum, in dem sie absolute und konkrete Forderungen vermitteln kann, sie macht den Menschen nicht geschichtslos, aber frei gegenüber und in der Geschichte. Das ist die Leistung der Historie für die Gegenwart. Freilich, die Hi250 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

storisierung der politischen Theologie durch Situationsanalyse ist nur eine relative - selbstverständliche Voraussetzung der politisch-ethischen Reflexion bleibt die Überzeugung von einer sich durchhaltenden Identität der Menschennatur und von einer Identität christlicher, protestantisch-reformatorischer Forderungen an die politisch-sozialen Ordnungen, nur deren Konkretion ist jeweils historisch bedingt. Beide Gesichtspunkte stehen in einer nicht aufgelösten Spannung zueinander. In der Begründung seiner politischen Theologie mischen sich bei Hundeshagen historische und systematische Gesichtspunkte. Das Ziel von Hundeshagens politischer Theologie ist es, Konstitutionalismus und - vermittlungstheologisch aufgefaßte - positive Christlichkeit in Beziehung zu setzen, den Konstitutionalismus auf diese Christlichkeit zu gründen und ihn als - gegenwärtig erforderliche - Konsequenz dieser Christlichkeit zu erweisen. Die bisher analysierten Gedankengänge haben einerseits dargetan, daß diese Verbindung möglich ist, andererseits, daß die herrschenden Richtungen politische Theologien implizieren. In welche Beziehung setzt der Verfasser nun Protestantismus und konstitutionellen Liberalismus? a) Der Konstitutionalismus - wenn wir diese abkürzende Formel für das gemäßigte liberale Programm des Verfassers benützen dürfen - ist die Forderung der Zeit. Die allgemeine Krise der deutschen Zustände ist eine Folge der Reaktion, der versagten Verfassung, der Diskrepanz zwischen dem „Nationalgeist“ und den politischen Zuständen. Die Schaffung eines gesunden öffentlichen Lebens ist die Aufgabe der Zeit - und Hundeshagen identifiziert in diesem Punkt ohne weiteres seine politische Überzeugung mit der objektiven Notwendigkeit. Der Konstitutionalismus aber, der von einer für Hundeshagen achristlichen und inhumanen Revolution wie einer die bisherige Krise verewigenden Reaktion bekämpft wird, bedarf einer tieferen Fundierung in Ethos und Mentalität der Menschen, er ist mehr und anderes als ein Mechanismus der Gewaltenteilung. Diese Fundierung nun kann nach seiner Meinung nur das - protestantisch aufgefaßte - Christentum leisten. Das Verfassungsleben beruht auf der Mitverantwortung für die Gemeinschaft, auf dem Gemeinsinn der Bürger, also auf einem gesellschaftbezogenen individuellen Ethos und einem entsprechenden öffentlichen Ethos, nur dadurch wird die natürliche Selbstsucht in Schranken gehalten, auf der Ausbildung einer Vielzahl von starken sittlichen Charakteren. Der Staat ist - das scheint bei Hundeshagen eine Konsequenz aus dem „protestantischen Prinzip“ der Reformation - nicht wie im bürokratischen Obrigkeitsstaat ein Mechanismus gebietender oder verbietender Gewalten80 unter den Prinzipien der Legalität: Gewalt und Gehorsam und auch nicht Kants reiner Rechtsstaat, er ist vielmehr „sittliche Lebensgemeinschaft“ und daher auch - in Fortbildung protestantischer Staatsanschauungen von Idealismus und Reformzeit - Erziehungsstaat; die ethische Spontaneität im Gemeinwesen entspricht dem protestantischen Prinzip in besonderer Weise, damit ist eine „Nähe“ von Konstitutionalismus und - idealistisch aufgefaßtem - Protestantismus konstituiert. Zugleich beruht der Konstitutionalismus auf der nüchternen Orientierung an der Wirklichkeit, dem allem utopischen Illu251 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

sionismus fernen verantwortungsbewußten Realismus - der überschwängliche Idealismus ist die eigentliche Gefahr für das öffentliche Wesen. Beide Momente - Gemeinsinn und Realismus - sind die notwendigen Elemente einer Gesinnung, auf die ein konstitutionelles Gemeinwesen angewiesen ist, die es tragen. Beide Elemente nun sind an das Christentum gebunden. „Die Sittlichkeit“ sei, so der Historiker Hundeshagen, heute ein Erzeugnis des Christentums, daher sei der Staat „auf fortdauernde Einwurzelung in den Elementen der christlichen Religion“81 angewiesen, nur das Christentum - so sagt er auch gegen Hegel - vermöge das den Staat begründende Ethos zu erhalten, zu stärken und innerlich zu konsolidieren. Und das gleiche gilt für den Realismus, der für Hundeshagen in seinem Kampf gegen einen abstrakten Idealismus an die Erkenntnis von Endlichkeit und „Sünde“ gebunden ist82. Ein „tieferes objektives Religionsbedürfnis“ sei „die Basis für den gedeihlichen Bestand des öffentlichen Wesens“83. Der Staat also bedarf einer ethisch-religiösen Fundierung, er muß „christlicher Staat“ sein - und das gilt für den konstitutionellen Staat in besonderer Weise84. Die Gemeinschaft der Christen muß der „belebende Mittelpunkt“ „für die Sittenbildung des bürgerlichen Lebens“ sein85. b) Andererseits bedarf das protestantische Christentum heute des Konstitutionalismus - Hundeshagen neigt dazu, das „politische Prinzip“ des Protestantismus und den liberalen Konstitutionalismus einander grundsätzlich stark anzunähern, aber er macht daraus keine explizite These-, denn die beschriebene Krise der Gegenwart hat die schlimmsten Rückwirkungen auf die religiös-kirchlichen Verhältnisse, und sie ist nur durch konstitutionelle Reform zu beheben. Erst in einem „gesunden“ konstitutionellen öffentlichen Leben kann die Fehlentwicklung der deutschen Bildung zu einem extremen Intellektualismus und Ästhetizismus, die Polarisierung von abstraktem Idealismus und purer Privatheit ausbalanciert werden, findet die Predigt eines christlichen Ethos ihren Ansatzpunkt. Denn die christliche und christlich gehütete Humanität reicht für Hundeshagen weit über die bloße Privatsphäre hinaus ins Politisch-Soziale, die Durchdringung der politisch-sozialen Welt, das gesellschaftsbezogene Ethos gehört für ihn wesentlich zum Christentum. Humanität und Personalität waren vom Raum der politisch-sozialen Aktivität kaum zu isolieren, und jedenfalls waren sie es dann nicht mehr - so darf man heute den Autor interpretieren-, als die in Haus und Stand beschlossene Welt in die Welt des Individuums und der Assoziationen, die Welt der bürgerlichen Öffentlichkeit übergegangen war. Öffentlichkeit und Gemeinwesen waren daher notwendigerweise einer der vordringlichsten Gegenstände christlich-ethischer Reflexion und waren ein unabdingbares Korrelat der Privatsphäre in der christlichen Lebenspraxis. 1864 hat Hundeshagen seine Gedanken über die christlich-ethische Bedeutung des öffentlichen Wesens in einer Reflexion über Zwingli ausgedrückt: „Die hohe Bedeutung der sozialen Sinnesweise Zwingiis wird erst vollkommen ermessen mit der Erwägung, wieviel die frühe Gewohnheit lebendiger Einreihung in ein größeres Ganzes, einer unbefangenen begeisterten Hingabe an allgemeinere Zwecke dazu beiträgt, den natürlichen Egoismus in allen seinen Ge252 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

stalten niederzuhalten, wie sie namentlich schützt gegen Isolierung in Standesund Fachinteressen, ein gesundes Gegengewicht bilden hilft gegen die schweren Versuchungen doktrineller Eigenlebigkeit, bewahrt vor Versenkung in religiösen Selbstgenuß und ein Bemühen um die reine Wahrheit, das für diese am Ende gleichwohl keinen anderen Zweck kennt, als in getroster Zuversicht auf eine permanente Selbstzwecklichkeit sich immer nur um die eigene Achse zu drehen.“86 Insofern nun der Protestantismus unter der Krise des nationalen Lebens leidet, ist die „Reform“ des Protestantismus auf die Reform des nationalen Lebens angewiesen: nur so kann er die gegenwärtigen Gefahren abwehren und seine spezifischen Möglichkeiten ergreifen. Der Konstitutionalismus ist, kann man zugespitzt sagen, das Heilmittel für die krankhaften religiös-kirchlichen Zustände. Im ganzen also: das protestantische Christentum fundiert „gesunde“ öffentliche Verhältnisse, und es bedarf ihrer, und gegenwärtig können als gesund nur die konstitutionellen Verhältnisse bezeichnet werden87. Dieses Plädoyer für die Verbindung von liberalem Konstitutionalismus und einem „positiven“, aber latitudinarischen Protestantismus wird dadurch unterstützt, daß der Verfasser des öfteren auf die englischen Verhältnisse als exemplarisch Bezug nimmt. Das englische Beispiel dient zunächst dazu, die orthodox-konservative Meinung über den Zusammenhang des Protestantismus mit nichtkonstitutionellen politischen Systemen zu relativieren, also der Historisierung politischer Theologie. Sodann soll es zeigen, wie einerseits ein „lebendiges“ Christentum ohne die krisenhaften Symptome der deutschen Kirchen die Entchristianisierung der Bildungsschicht - gerade in einem konstitutionellen Land besteht, und andererseits, was die notwendigen „Tugenden“ und Werte des konstitutionellen Lebens sind - praktischer Sinn, Konkretheit, Gemeinsinn, Ausbildung des Charakters in der Sphäre freier Bewegung und freier Öffentlichkeit -, und wie sie alle christlich fundiert sind, auf der Durchdringung des öffentlichen Lebens mit christlichem Geist beruhen. Der konstatierbare Tatbestand, daß beides zusammen besteht, wird als Interdependenz interpretiert. Das soziale Ethos des Protestantismus konnte sich in dieser Verfassung ausprägen und sie tragen, und zugleich konnte sich der Protestantismus in einem durch die bürgerlichen Institutionen freien und sich evolutionär weiterbildenden „Nationalgeist“ ständig verjüngen, lebenskräftig und wirklichkeitsbezogen erhalten. Darum ist das englische Beispiel ein Vorbild88. Die Verbindung des Protestantismus mit der liberal-konstitutionellen Tendenz der Zeit impliziert natürlich auch die Verbindung mit der nationalen Tendenz, protestantisches Prinzip und deutsches Nationalinteresse gehen überein. Die Verbindung gilt als grundsätzlich: das Christentum ist universal und durchbricht damit die natürliche Nationalität, aber es ist nicht kosmopolitisch: es achtet die Nationalität als sittliche (weil überindividuelle) Realität und durchdringt sie, macht sie zu seinem Wirkungsfeld. Die Kirche als Kirche des Volkes ist notwendig nationale Kirche. Dazu tritt als Argument das situationsethische: die Theologie und die Kirche müssen in die Strömungen des Natio253 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

nalgeistes eintreten, damit er nicht aller christlichen Elemente bar wird89. In diesen Begründungszusammenhang gehen dann - wenig oder gar nicht reflektiert - die nationale Stimmung und Begeisterung ein, die Forderung des Nationalstaates ist auf der Basis der Volksnation so selbstverständlich, daß sie nicht weiter begründet wird, nur gelegentlich klingen liberalnationale Argumente gegen die Kleinstaaterei - Kleinlichkeit und Verdumpfung - an. Zeitgenössische Topoi über das „innigste Verhältnis zwischen Protestantismus und deutschem Wesen“90 finden sich immer wieder: die Reformation war mit ihrer personal gerichteten Rechtfertigungslehre „ganz eigentlich ein Ereignis des . . . deutschen Geistes“, seine „Vollendung des Nationalgeistes in religiöser Richtung“91, sie ist ein Produkt der „reinsten Entwicklung der germanischen Gesamtmentalität“92, und sie hat zugleich eine „spezifische Substanzialität deutschen Geisteslebens . . . erst geschaffen“93. Von daher erscheint die Verbindung von Protestantismus und deutschem Nationalismus, ja ihr Bündnis als selbstverständlich94.

V. Damit haben wir den Gehalt von Hundeshagens politischer Theologie dargelegt. Sie ist wie alle politischen Theologien Programm und begründende Analyse und Interpretation von Wirklichkeit in einem. Die Analyse ist insofern neu, als sie im wesentlichen nicht mehr theologisch oder philosophisch und auch nicht mehr geschichtsphilosophisch (wie bei Hegel)95 argumentiert, sondern historisch. Darin besteht ihre Originalität, darauf beruht zugleich etwas von ihrer Schwäche: die historische Argumentation eines Mannes der theologischen und politischen Mitte ist differenzierter, vermittelnder, diskutierender als die metaphysisch-theologisch bestimmter Theoretiker: sie ist abgewogener, und sie ist weniger durchschlagskräftig. Als Programm in eine Interpretation der Gegenwart einbezogen, definiert die Schrift Gegner und Koalitionsgenossen, und ihre Originalität besteht wiederum darin, daß sie die Koalitionspartner neu zu definieren sucht. Die Gegner sind - für die Zeitgenossen - alt: die Orthodoxie und die radikal-liberale und antichristliche Theologie - die Gegner des Vermittlungstheologen, die Reaktion und der Radikalismus - die Gegner des Liberalen. Im Zuge der Revolution hat Hundeshagen zwar seine Gegnerschaft gegen den Radikalismus besonders scharf ausgedrückt, wir haben oben von der Polarisierung zwischen der „roten Theologie“ und allem, was dawider steht, gesprochen, aber die entschiedene Kritik an der Reaktion und ihrer pseudotheologischen Verhüllung, ihrer machiavellistischen Ausbeutung des Christentums zu ihren Gunsten96 behält er auch in den Aufsätzen von 1852 und 1854 bei, und zugleich beharrt er auf der politisch wie theologisch begründeten These, es sei das dringendste Bedürfnis der Zeit, unverzüglich liberale und nationale Institutionen zu schaffen. Er bleibt der Liberale der Mitte. Aber er versucht, die bestehenden „Koalitionen“ aufzubrechen und eine neue Koalition zu 254

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begründen. In dieser Tendenz adressiert er seine Schrift an die Protestanten und an die Liberalen. Zunächst an die Protestanten. Ein gut Teil seiner Polemik wie seines Programms leben aus dem tiefen Schmerz des liberalen und religiös-kirchlichen Mannes über die von fast allen Seiten weitgehend akzeptierte Identifikation der „Frommen“, der positiv Kirchlichen und Orthodoxen, mit den Konservativen und der Reaktion. Die systematischen, die historischen und vergleichenden und die zeitkritischen Erörterungen dienen alle dazu, die Verbindung von „protestantischem Prinzip“ und Konservativismus zu relativieren, ja aufzulösen und die Verbindung von protestantischem Prinzip und liberal-nationalem Konstitutionalismus theologisch-historisch zu ermöglichen, zu legitimieren, ja als Notwendigkeit zu begründen: die drohende Gefahr für Kirche und Christentum, die in den „pathologischen“ Zuständen in Deutschland, der literarisch-intellektuellen Existenz der Nation liege, könne nur durch eine liberal-nationale Reform abgewandt werden, die jene pathologischen Zustände normalisiere und der Nation eine ethische Existenz ermögliche, nur diese Reform würde dem Protestantismus im Bereich des öffentlichen Ethos seine eigentlichen positiven Möglichkeiten wieder eröffnen. Darum ist es erlaubt, ja geboten, daß die Protestanten für die Forderungen des Liberalismus eintreten. Es gibt Schwankungen in Hundeshagens Argumentation. Gelegentlich scheint er nur für die „politische Objektivität“97 des Protestantismus, d. h. für einen Pluralismus möglicher politischer Positionen innerhalb des Protestantismus zu plädieren; die Teilnahmslosigkeit gegenüber der konstitutionellen Bewegung soll nicht als „Unterlassungssünde“, nicht als illegitim gelten98; aber die Gegnerschaft gegen den Konstitutionalismus im Namen des positiven Christentums ist „(Begehungs-)Sünde“99, weil sie die „Objektivität“, die Freiheit gegenüber den Staatsformen, verletze. Freilich, Hundeshagen geht implizit doch über die Forderung nach Neutralität hinaus, denn indem er eine theologische Begründung für die neue Solidarität mit dem Liberalismus gibt, plädiert er nicht mehr für die Auflösung aller einseitigen politisch-theologischen Solidaritäten, sondern für die Ersetzung der konservativen durch die liberale. Aber im Kampf um eine neue Position ging es zunächst explizit nur um deren Lebensrecht, nicht schon um ihre alleinige Legitimität100. Dieser Versuch, den Protestantismus für die liberale Politik zu gewinnen und den Protestanten innerhalb des Liberalismus ein gutes Gewissen zu verschaffen, beruhte freilich, wiederum weniger explizit als implizit, auf Hundeshagens vermittlungstheologischer Position - wer sie mit ihrer Forderung einer latitudinarischen Kirche, die im Dogmatischen verschiedene Positionen zuließ, nicht anerkannte wie die eigentlich orthodoxe Theologie, für den war die ganze Position unbegründet. Hundeshagen hat sich wohl auch mehr an das fromme Kirchenvolk, die frommen gebildeten Laien gewendet, die nicht einen durchreflektierten orthodoxen Standpunkt einnahmen. 1854 hat er dann versucht, Frontstellung und Koalition innerhalb des Protestantismus noch anders zu definieren, und zwar wohl wesentlich unter dem Gewicht des Zusammenhangs zwischen der nationalen Frage 255 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

und der Konfessionsfrage. Im Bestreben, seiner nationalen und protestantischen Position den antikatholischen Affront zu nehmen, definiert er den konfessionspolitischen Gegensatz als Gegensatz zwischen „pfäffisch-jesuitischer“ und „lauterer inwendiger Christlichkeit“, wobei der orthodox-protestantische Konservative E. L. von Gerlach für die Protestanten der einen Seite, der Katholik Radowitz für die Katholiken der anderen Seite steht101; er wirbt um die Zustimmung der Katholiken zu einer kleindeutschen Lösung und für eine gemeinsame Position von - nicht extremen - Katholiken und Protestanten gegen den radikalen „Humanitarismus“ - aber er hat diese Position später nicht weiter ausgebaut. Der andere Adressat Hundeshagens waren die Liberalen, seine „lieben Freunde“102, mit denen er sich bei aller Kritik verbunden fühlte und um die er rang. Einerseits hatte die Allianz weiter Teile des neuen positiv kirchlichen Protestantismus mit der Restauration zur Folge, daß die Liberalen weitgehend von der Anschauung bestimmt waren, der kirchliche Protestantismus sei ein Gegner ihrer Sache. Andererseits hatte der Liberalismus - aus seiner „humanitaristischen“, rationalistischen oder idealistischen Tradition - eine entschiedene Antipathie gegen Orthodoxie und Pietismus, und diese Antipathie der Bildung entwickelte sich unter den gegebenen Umständen und nach dem Verfall des kirchlichen Rationalismus leicht zur Antipathie gegen die Kirche und zur Sympathie mit den radikalen Entwicklungen der protestantischen Theologie. Hundeshagen versucht, die Liberalen von ihrer un- (oder anti)kirchlichen Haltung, die in einem faktisch wohlbegründeten Vorurteil gegenüber dem Protestantismus und in ihrer Bildungsreligion gründet, abzubringen und sie - freilich weniger theologisch als politisch-historisch - für eine andere und positivere Haltung gegenüber der Kirche zu gewinnen: dem diente die Ausarbeitung seiner latitudinarischen Vermittlungstheologie und sein Versuch nachzuweisen, daß ein konstitutionelles System nur auf einem religiös begründeten Ethos von Verantwortung und Realismus aufgebaut werden könne und daß dieses Ethos die volle Wirksamkeit der Kirche erfordere. Auch die liberal-nationalen Fragen könnten nur gelöst werden, wenn gleichzeitig die Religionsfrage gelöst werde. Zudem geht Hundeshagen mindestens bis 1848 davon aus, daß das Volk - und die konservativ-demokratische Orientierung am „Volk“ gehört zu den obersten Grundsätzen seiner politischen Wertordnung - „christlich“ sei und die bildungsaristokratische liberale Reserve gegenüber dem Christentum die Wirklichkeit des Volkes verfehle. Jedenfalls - das ist sein Argument gegenüber den Liberalen -, der Liberalismus wird sich nur durchsetzen und angesichts der ansteigenden Flut des Radikalismus behaupten, wenn er sich auf einen religiösen Boden stellt, mit den Kräften eines freieren Protestantismus verbindet. Die Wirkungen dieses Programms und der ihm zugrundeliegenden Pathographie der Zeit können wir nur erwägen, mehr als eine positive und relativ breite, aber doch vergehende Resonanz des Buches können wir nicht feststellen; wenn es längerfristige Wirkungen gehabt hat, sind sie allenfalls mittelbar. Daß 256 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Hundeshagens Argumentation einen Kirchlich-Konservativen für den politischen Liberalismus gewonnen hätte, ist unwahrscheinlich, obwohl es diese Kombination gegeben hat, bis zu einem gewissen Grade bei Moritz August von Bethmann Hollweg, ganz sicher in den sechziger Jahren bei dem Erlanger Theologen und fortschrittlichen Landtagsabgeordneten J . C. Hofmann. Das Protestantismusbuch (und seine Resonanz) ist eher der Ausdruck für eine verbreitete Stimmung innerhalb der der kirchlichen Mitte zugehörigen Bildungsschicht. Und man kann vermuten, daß Publikationen wie diese die Aussöhnung des Protestantismus mit der liberalen Bewegung, die Konsolidierung einer politisch liberalen und zugleich kirchlich gesinnten - und über den kirchlichen Liberalismus weit hinausreichenden - Gruppe innerhalb des Bürgertums und die Adaption des Protestantismus an die nationale Bewegung wesentlich gefördert haben. Μ. Ε. kann gerade im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts das Klischee vom obrigkeitsgläubigen, reaktionären oder unpolitischen Protestantismus nicht aufrechterhalten werden, und eine nähere Untersuchung des Verhältnisses von Liberalismus und Protestantismus würde zeigen, daß Hundeshagens Position kein Sonderfall ohne historisches Gewicht ist. Anders war es, so scheint mir, mit der Wirkung auf die Liberalen bestellt. Sicher hat Hundeshagens Programm die liberale Identifikation der Kirche mit dem Staat der Restauration da, wo sie vorhanden war, gelockert und die Möglichkeit, sich mit einzelnen Anhängern der kirchlichen Mitte zu verbinden, gestärkt. Auch waren seine Überlegungen über die religiösen Dimensionen des politischen Miteinanderlebens (und seine Hinweise auf England) in der Zeit der Auseinandersetzung um Lichtfreunde und Deutschkatholiken durchaus aktuell und gehörten zur allgemeinen Diskussion; Gervinus etwa hat sich in seiner vieldiskutierten Schrift „Die Mission der Deutschkatholiken“ von 1845 ebenfalls zu der Notwendigkeit bekannt, daß ein konstitutionelles Gemeinwesen eines religiösen Fundaments bedürfe. Und es mag sogar sein, daß die zunehmende intellektuelle Radikalität und ihr Übergreifen auf breitere Volksschichten die Resonanz solcher Überlegungen verstärkte. Im ganzen aber mußte der Versuch, die Liberalen durch historische und politisch-ethische Argumente zu einer anderen Stellung gegenüber dem Christentum zu bewegen, mißlingen. Nur wo man an Traditionen anknüpfen konnte, latente Zustimmung aktualisieren konnte, mochte diese Argumentation erfolgreich sein. Aber die Mehrzahl der angesprochenen Liberalen lebte distanziert oder abgewandt von jeder Kirchlichkeit in einem von der kirchlichen Form abgelösten säkularisiert idealistischen Ethos, und so sehr sie sich bewußt waren, daß politische Institutionen in einem öffentlichen Ethos fundiert sein mußten, so schien doch das profane Pflicht- und Kulturethos des Idealismus noch ungebrochen. Sie kehrten nicht zu Hundeshagens kirchlicher Position zurück, sie glaubten ihre politischen Ziele auch ohne Verbindung mit der von Hundeshagen repräsentierten Christlichkeit durchsetzen zu können. Die Konservativen sind unter dem Druck der Revolution zu Bündnissen mit der Kirche, zu Rückkehr oder Übertritt bereit gewesen, es gab politische Konversionen, es gab einen quasi-atheistischen Katho257 17 Nipperdey © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

lizismus. Diese Situation war für die Liberalen nicht gegeben, sie waren nicht in der Weise bedroht, sie waren keine Dezisionisten und lebten als diskutierende Mitte jenseits von Polarisierungen, die neue Solidarisierungen gestiftet hätten. Kein politisches Argument konnte sie zur Übernahme einer prokirchlichen Position bewegen. Dazu war die idealistische Bildungstradition und die - lutherisch geprägte - Scheidung von Innenwelt und politisch-sozialer Welt zu stark. Und insofern konnte Hundeshagens Versuch einer politischen Theologie des Liberalismus, so interessant er als historischer Entwurf, als Zeitanalyse wie als Neudefinition einer Position im Spannungsfeld von Politik und Konfession ist, nicht und nicht mehr geschichtsmächtig werden.

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11. Kritik oder Objektivität? Zur Beurteilung der Revolution von 1848*

Jeder Historiker und jeder historisch Interessierte kennt den Leitsatz Rankes, er wolle nur feststellen, wie es eigentlich gewesen sei - gerichtet gegen die spätaufklärerische Historie, die Handlungen und Handelnde der Vergangenheit wertend beurteilte; solch hoher Dinge, meint Ranke mit leichter Ironie, unterfange er sich nicht. Wir Heutigen können, das muß man zunächst sehen, dieses Ideal der wissenschaftlichen Historie, das wir als das Ideal der Objektivität bezeichnen wollen, nicht mehr mit der anscheinend naiven Gewißheit und Einfachheit hinstellen wie Ranke. Natürlich hat auch er gewußt und gesagt, daß kein Historiker sich gänzlich von seiner Subjektivität, seinen Perspektiven, seiner Zeitgebundenheit lösen könne, aber diese Einschränkung hat sich in 150 Jahren verschärft, seitdem wir auch das Tun der Historiker und die Urteilsbildung über Vergangenheit historisch und dann soziologisch und ideologiekritisch untersucht haben. Wissenschaftliche Erkenntnis ist in ihren sozialen und politischen Kontext, in ihre Zeit und ihre Perspektiven hineingebunden. Wir können das auch auf andere Weise, sprachanalytisch, sagen: Die Historiker erzählen eine Geschichte oder ein Knäuel von Geschichten (und auch wenn das Erzählen heute außer Mode gerät, ändert sich daran grundsätzlich nichts), und jede erzählte Geschichte ist, wie von ihrem Anfang, so wesentlich auch von ihrem Ende geprägt. Das Ende aber verschiebt sich mit unserem Standpunkt, gleichgültig wann wir mit unserer Geschichte Schluß machen, 1849 oder 1871 oder 1948 oder 1974, zum Ende gehört auch das Ende der Wirkungsgeschichte. Das heißt in unserem Fall, daß die liberale Demokratie in dieser Wirkungsgeschichte für uns zu einer selbstverständlichen Voraussetzung unseres politischen und menschlichen Daseins geworden ist und daß wir als Historiker davon nicht einfach absehen können. Dazu kommt ein anderes. Wir können auch das historische Fragen nicht mehr so schlicht auf das „Wie“ es eigentlich gewesen oder verlaufen ist beschränken. Wir fragen aus außerwissenschaftlichen wie aus wissenschaftlichen Antrieben schärfer und deutlicher als unsere Urgroßväter: Warum es so gewesen ist - obwohl diese Frage auch bei den Urgroßvätern in der Praxis nie ganz ausgefallen ist. Wir fragen auch, warum es so und warum es nicht anders gekommen ist, warum also die Revolution von 1848 in jedem unmittelbaren Sinne mißlungen und gescheitert ist. Und bei den Erwägungen über so „hohe“ Fragen ziehen wir Reflexionen über Möglichkeiten und Alternativen der jeweiligen Vergangenheit mit in Betracht, ziehen - mit aller methodischen Vorsicht, aber eben doch - in Betracht, was 259 17*

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hätte sein können. Solche Reflexionen klären das Erkennen der vergangenen Wirklichkeit, auf das wir aus sind. Gerade solche Reflexionen aber verstricken sich nur zu leicht mit unserem gegenwärtigen und partiellen Standpunkt, mit dem „Ende“ der Geschichte, und so scheint das Rankesche „Nur feststellen, wie es gewesen sei“ gefährdet. Schließlich müssen wir den Einwand gegen Ranke gelten lassen, daß die Feststellung, wie es eigentlich gewesen sei und warum, zu einer Apologie der Vergangenheit werden kann, in der wir aus der Erkenntnis von wie immer relativen Notwendigkeiten unversehens zu einer Rechtfertigung des vergangenen Geschehens und des Verhaltens der damals Handelnden unter dem Kriterium des Erfolges kommen könnten. Solche Einwände haben wir zu prüfen, und zwar zunächst ganz kurz im allgemeinen und dann am Beispiel der Revolution von 1848. Wir halten trotz der erwähnten Schwierigkeiten daran fest, daß sich die Geschichtswissenschaft der Objektivität verpflichtet weiß, sonst hörte sie auf, Wissenschaft zu sein, Sie ist nicht und kann nicht sein die Geschichte der Sieger und nicht die der Besiegten; sie ist in unserem Beispiel nicht die Geschichte der Konservativen, nicht die der Liberalen, nicht die der Demokraten, nicht die der Sozialisten. Das ist leichter gesagt als getan, denn wir sind mit der Vergangenheit ja nicht nur als einem Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis verbunden, sondern zugleich mit einem Stück noch lebendiger Tradition unseres Gemeinwesens, solange wir in dem liberaldemokratischen und sozialen Rechtsstaat leben, als der die Bundesrepublik gegründet und bisher entwickelt worden ist. Wir stehen in einer Traditionsverbundenheit mit der Revolution. Aber diese Tradition kann sich dem Säurebad der Wissenschaft nicht entziehen, unsere Sympathien und Parteinahmen können vor dem Forum der wissenschaftlichen Analyse der Vergangenheit nicht gelten. Ich kann hier keinen Vortrag zur Wissenschaftstheorie der Geschichte halten und muß mich mit Andeutungen begnügen. Die Schwierigkeiten, in die das Objektivitätsideal gerät, beseitigen es nicht. Die Herkunft, die Genese historischer Erkenntnis bestimmt nicht ihre Geltung und relativiert diese Geltung nicht. Die Motive und die Meinungen der Historiker interessieren nicht, wenn wir uns dem Gegenstand zuwenden. Die Soziologie der Historie ist nicht ihre Logik. Diese simple Wahrheit muß gegen die heute herrschenden Verwechslungen eines totalen Ideologieverdachts immer wieder zur Geltung gebracht werden. Die Geltung historischer Aussagen erweist sich im intersubjektiven Gespräche der internationalen Forschung, im Gespräch über die Jahrzehnte und über die Parteien hinweg, im Gespräch, das auch für zukünftige Erkenntnisse offen ist, und sie erweist sich an den Sachen, den Quellen und den Sachverhalten. Mit Kant kann man sagen, daß die Objektivität historischer Erkenntnis, der Erkenntnis, wie es eigentlich gewesen ist und warum, eine regulative, eine unsere Erkenntnis leitende Idee ist, und daß darum das Einklammern unserer differierenden Interessen, die sich in unserem Bezug zur Vergangenheit mengen, eine der wichtigsten Aufgaben der wissenschaftlichen Erkenntnis von Vergangenheit ist. Das Interesse mag uns motivie260

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ren, der Begründung wahrer Erkenntnis ist es gleichgültig, ja kann es im Wege stehen. Der gegenwärtig herrschende Wind weht anders. Geschichtswissenschaft und Beschäftigung mit Geschichte soll, weil immer an Interessen gebunden, nun ausdrücklich in den Dienst eines gegenwärtigen Interesses gestellt werden, sei dies nun ein herrschendes, sei es ein auf radikale Veränderung und angeblich gegen die Herrschaft gerichtetes, in Wirklichkeit nur neue Herrschaft etablierendes Interesse. Geschichtswissenschaft hätte dann ihre Aufgabe darin, politische Pädagogik zu sein oder zu begründen, sie sollte sich in den Dienst von Selbstbefreiung, Emanzipation oder Demokratisierung stellen, und das wäre nicht nur eine zusätzliche Aufgabe oder Funktion der Wissenschaft, sondern es würde ihre Inhalte und ihr Vorgehen bestimmen. Das ist die Zumutung und die Aufforderung von Politikern, wie Gustav Heinemann, wie von renommierten Vertretern des Faches wie H.-U. Wehler. Sieht man auf die Traktate radikaler Studentengruppen oder, wo deren Zöglinge schon Teile des intellektuellen Establishments sind, auf manche Ausstellungen zum Thema 1848, so ist die Aktualisierung und Parteinahme im Sinne gegenwärtiger Interessen und Tendenzen Trumpf. Diese Art der Beschäftigung mit Geschichte - wie wir sie andersherum schon aus der nationalistischen Schule des 19. Jahrhunderts kennen - läuft unter der Bezeichnung „kritisch“. Kritisch nicht mehr im altmodischen Sinne des methodischen, des unterscheidenden Zugriffs, sondern im neuen Sinne: Nicht Quellen, sondern die Tatbestände und Ereignisse, die Handlungen und die Handelnden werden kritisch betrachtet: Sie sind Gegenstände der Kritik, sie werden in den Prozeß der Kritik verwickelt, ihnen wird der Prozeß gemacht, wobei die „kritischen“ Historiker Ankläger und Richter in einer Person sein wollen, ja eigentlich auch Gesetzgeber. Historische Personen oder Gruppen werden auf diese Weise leicht und schnell zu Angeklagten. Zum Beispiel: Die liberalen Bürger von 1848/49 oder die Sozialdemokraten von 1918/19 und diese Parallelität in den modischen Geschichtsmythen, die uns aufgedrängt werden sollen, ist mir sehr wichtig -, diese Liberalen und diese Sozialdemokraten werden dadurch charakterisiert, daß sie die „Verräter“ der jeweiligen Revolution sind. Das Urteilen im Namen der jeweiligen politischen Moral oder eines den Kritikern bekannten Zieles der Weltgeschichte, im Namen z. Β. der „Freiheit“ oder des „Fortschritts“ nimmt wieder zu. U nd das heißt - bei aller Differenzierung, die die wissenschaftlichen Vertreter solcher Tendenzen versuchen - letzten Endes die polarisierenden Urteile über gut und böse, freiheitsund fortschrittsfreundlich oder freiheits- und fortschrittsfeindlich. Der Maßstab solcher Urteile ist eine gegenwärtige Wertsetzung, entweder eines erreichten oder eines erstrebten Zustandes, z. Β. der Aufhebung von Herrschaft, wo­ bei auf jeweils unterschiedliche, zumeist dunkle oder sophistische Weise der ei­ gene subjektive Parteimaßstab zu dem der Vernunft, der Menschheit u. ä. stilisiert und verabsolutiert wird. Geschichte ist in Gefahr, wieder parteilich zu werden, und das wird gar als die neueste Errungenschaft der Wissenschaft ausgegeben. Ich habe anderswo darauf hingewiesen, wie dieser Standpunkt, dieser 261

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präsentistisch-futuristische Aktualismus, der die Auswahl von Vergangenem und die Beurteilung von Vergangenem unter das Schlagwort der Relevanz stellt, und die kurze und vorübergehende Gegenwart, die eigene Position, auf eigentümliche Weise absolut setzt, wie dieser Standpunkt eine der wichtigsten Funktionen, die die Geschichtswissenschaft für die Gesellschaft hat, nämlich die Funktion, die Zukunft offenzuhalten, offene Entscheidungsmöglichkeiten freizusetzen, gerade ausschaltet. Die Herrschaft des „kritischen“ Relevanzkriteriums fixiert und präformiert die Zukunft, indem das bloß gegenwärtige Bewußtsein verabsolutiert wird. Zudem leugnet solches Vorgehen den Pluralismus gegenwärtiger Positionen und will mit jeweils einer solchen Position die Geschichte erschließen. Im Extremfall wird die Geschichte „gleichgeschaltet“, im Lichte der eigenen Parteimeinung interpretiert und aktualisiert, und dann zur Waffe im politisch-ideologischen Kampf, sei es als Vorbild, sei es als Schreckbild. In jedem Fall tritt an die Stelle von Geschichte als vergangener Wirklichkeit eine Geschichte der Möglichkeiten, der Konjekturen, der Wünschbarkeiten, wie Jakob Burckhardt das genannt hat, der Konstruktionen. Das „hätte“ und das „hätte man nicht“, das Versagen, das Versäumnis, die Schuld, kurz eine Geschichte der Nichtwirklichkeiten überwuchert die Geschichte der Wirklichkeit. Diese Art des Ringens mit der Geschichte, zumal der eigenen und der jüngeren, hat sicherlich in dem natürlichen Verhältnis des Menschen zur Tradition ihre Wurzeln. Der Mensch, der quasi natürlich in einer umbrechenden Tradition steht, ringt und rechtet mit dieser Tradition, wir kennen das von unserem Verhältnis zur Nazizeit her. Aber die Wissenschaft distanziert unser Verhältnis zur Tradition und verwandelt es in Erkenntnis. Es ist evident, daß die Geschichte der parteilich konstruierten Möglichkeiten in ihrer extremen Form weit hinter alle Errungenschaften distanzierender historischer Wissenschaft zurückfällt; denn die Wissenschaft läßt gerade durch den Versuch, der jeweiligen vergangenen Zeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und das Parteiurteil einzuklammern, Wirklichkeiten sehen und kommt erst so dazu, die Probleme zu analysieren. Demgegenüber ist die kritische neue Wissenschaft gerade die unkritische. Nun ist es aber nützlich, sich nicht an extremen Formen der antiobjektiven kritischen Richtung festzubeißen. An den sozusagen milderen Formen, die ja seit Droysen bekannt genug sind, läßt sich sachlich und methodisch mehr zeigen. Ich habe eingangs darauf verwiesen, daß der Anspruch der Objektivität die Erörterung von Möglichkeiten und Alternativen nicht ausschließt; freilich muß man das so einschränken, daß nur die Möglichkeiten und Alternativen in Betracht kommen, die in der Zeit, von der die Rede ist, auch wirklich - objektiv und subjektiv - möglich waren. Und die ernst zu nehmenden Historiker der kritischen Richtung versuchen so vorzugehen, wenn auch meist so, daß sie dabei für eine von ihnen bevorzugte Richtung der vergangenen Zeit Partei nehmen. Ich habe darauf verwiesen, daß Objektivität sich vor der Gefahr der Apologie, dem extremen Parallelfall der Kritik, zu hüten hat, daß das Ende der Geschichte, die wir erzählen, ζ. Β. der Sieg der liberalen Demokratie und 262

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ihre Anerkennung, nicht einfach von der Struktur unserer Geschichte getrennt werden kann. Ich breche diese abstrakte Überlegung hier ab. Objektivität, d. h. intersubjektive Nachprüfbarkeit und Geltung von Aussagen über Vergangenheit, ist als regulative Idee des wissenschaftlichen Arbeitens nicht entkräftet, sondern heute nötiger denn je, und zwar sowohl im Sinne der Wissenschaft wie im Interesse der Gesellschaft, die sich nicht in ihren herrschenden Vorurteilen über Vergangenheit und nicht in den Vorurteilen derer, die sie verwandeln wollen, bestätigen lassen darf. Die sich vordrängende Parteilichkeit, die als Kritik der Vergangenheit und Aktualisierung für die Gegenwart sich geriert, vernichtet gerade die Erkenntnis von Vergangenheit und damit das, was solche Erkenntnis für Gegenwart und Zukunft leisten kann; sie schafft nur ein neues ideologisches Kampffeld, in dem Vergangenheit zu einem instrumentalisierbaren Mythos wird. Die gegenwärtige Situation von Geschichtswissenschaft und öffentlichem Geschichtsbewußtsein aber ist so, daß es notwendiger als je ist, sich mit jener Neokritik auseinanderzusetzen und diese Bemerkungen, die einmal selbstverständlich waren und es in anderen Ländern sind, neu und ausdrücklich und immer wieder vorzubringen. Genug der abstrakten Einleitung und hin zu den Sachen, also zur 48er Revolution. Eine Schlüsselfrage für die Erkenntnis dieser Revolution ist die Frage, warum sie gescheitert ist. Von der Antwort auf diese Frage hängt unsere Erkenntnis des revolutionären Geschehens und der in ihm wirkenden Faktoren wesentlich ab. Prüft man die historischen Urteile über die 48er Revolution aus den letzten Jahrzehnten nach, so findet man - in Deutschland seit den 20er Jahren schon, dann auch in der angelsächsischen und französischen Literatur - erstaunlich häufig die folgende These: Eine wesentliche, wenn nicht ausschlaggebende Ursache der Niederlage sei die Spaltung der vormärzlichen Opposition in Liberale und Demokraten gewesen. Und diese Spaltung wird dahingehend interpretiert, daß das liberale Bürgertum sich angesichts radikaler und sozialrevolutionärer Strömungen nach rechts orientiert habe, revolutionsscheu geworden oder immer schon gewesen sei. Das liberale Bürgertum habe, weil es unsicher und schwächlich war, damit entscheidend zum Scheitern der Revolution beigetragen. Die „mildere“ Variante dieser These impliziert, daß dieses Verhalten des Bürgertums faktisch oder „objektiv“ der Gegenrevolution zugute gekommen sei, die schärfere, daß das Bürgertum vor der Alternative radikaler Revolution oder gegenrevolutionärer Ordnung die letztere bewußt gewählt habe, sich für die Priorität der Ordnung und gegen die der Freiheit entschieden habe, sich der Reaktion angeschlossen habe. Anders gesagt: das Bürgertum sei nicht nur einfach kräftemäßig und im Hinblick auf die alten Mächte nicht in der Lage gewesen, die Macht an sich zu reißen, sondern es sei gar nicht gewillt gewesen, die einzige Möglichkeit zu benutzen, die Macht zu ergreifen, nämlich sich mit den sogenannten revolutionären Volksmassen zu verbinden. Am deutlichsten, und hier dann moralistisch und weltgeschichtlich überhöht, findet sich diese These bei Marx und den Marxisten: das Bürgertum habe die Revolution verraten; darum sei sie letzten Endes gescheitert. (Und die Parallele zu den 263 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

heutigen radikalen Interpretationen der Revolution von 1918 ist deutlich, hier wird die Rolle der Verräter den Sozialdemokraten zugesprochen.) Des näheren heißt das im Sinne der marxistischen Geschichtskonstruktionen: es sei die „Aufgabe“ des Bürgertums gewesen, den halbfeudalen Absolutismus, den obrigkeitlichen Polizeistaat zu zerstören, die bürgerlich kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechende Herrschaftsorganisation durchzusetzen - das aber sei nur im Bunde mit den „revolutionären Volksmassen“ möglich gewesen. Feigheit und Verrat hätten dazu geführt, daß das Bürgertum in das Lager der Gegenrevolution übergegangen sei, das „Klassenbündnis“ mit der Monarchie geschlossen habe. Die Politik des Kompromisses mit den herrschenden Gewalten widersprach nach dieser Theorie den eigenen Interessen des Bürgertums und zugleich denen der Nation; deshalb war sie Verrat. Es seien im Frühjahr gerade die Volksmassen gewesen, die das Bürgertum erst zur dezidierten Vertretung seiner eigenen Forderungen gebracht hätten. Es habe eine und nur eine klare Alternative gegeben, nämlich die, ob die Liberalen mit den Arbeitern und Bauern die alten Gewalten überwinden oder ob sie mit den alten Gewalten sich gegen die Massen stellen wollten. Sie hätten die letztere gewählt. 2. T. wird jetzt sogar behauptet, die inkrimierte Haltung des Bürgertums habe sich nicht erst im Laufe der Revolution entwickelt, sondern sie sei schon vor Beginn der Revolution gegeben gewesen, so daß manche Autoren sogar meinen, die Revolution sei deshalb schon im Februar, also vor ihrem Ausbruch gescheitert oder zum Scheitern verurteilt gewesen; eine These, die freilich ganz im Gegensatz zu den zeitgenössischen Urteilen von Marx und Engels steht. Ich möchte mich nun aber nicht auf eine Diskussion dieser marxistischen These konzentrieren, sie soll nur am Rande unserer Erörterung stehen. Die nicht-marxistische These, die ich diskutieren will, verzichtet auf die metaphysische Konstruktion des Verlaufes der Weltgeschichte und die Konstruktion von Aufgaben, die es zu lösen galt. Und sie legt den Ton auf die Wandlungen des liberalen Bürgertums vom Frühjahr bis zum Herbst 1848. Je mehr, so sagt man, die Linke drängte, desto mehr lehnte sich die Mitte an die staatlichen Gewalten an; damit gab sie ihnen die Möglichkeit zur Erholung, zum Wiedererstarken und führte damit zum Übergewicht der Reaktion. Der - wenn auch gemäßigte - kritische Ansatz und der Ton des Vorwurfs sind in dieser Argumentation unverkennbar. Die Grenze zwischen den Absichten und den unbeabsichtigten Folgen wird dabei im allgemeinen logisch nicht scharf gezogen, beides geht ineinander über. Wir werden uns mit beidem zu beschäftigen haben, wenn wir versuchen, diese These jetzt zu überprüfen. Wir haben zu fragen: Was sind die Fakten? Hat sich das Bürgertum nach rechts orientiert? Was sind die Wirkungen? Ist die Politik der Mitte der Gegenrevolution zugute gekommen? Ist die Revolution überhaupt oder vornehmlich am Verhalten des Bürgertums gescheitert? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir aber zunächst andere Fragen stellen. Wir müssen fragen: Was sind die Ursachen für die Politik der Liberalen, und: Welche realistischen Alternativen gab es? Erst dann läßt sich entscheiden, ob man die Politik 264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

der Liberalen neokritisch als ein Versagen interpretieren kann. Denn man muß jenen Vorwurf gegen das Bürgertum umkehren in die darin steckende Erwartung: die Mitte hätte die Politik der Linken oder jedenfalls eine andere und entschiedenere Politik mit der Linken machen sollen. Gab es dazu eine Möglichkeit? Kurz, wir kommen nur weiter, wenn wir prüfen, warum die Mitte die Politik getrieben hat, die sie getrieben hat, und welche Möglichkeiten und Chancen es für eine Alternative gab. Erst von daher kann man über so etwas wie „Schuld“ reden. Diese Prüfung begibt sich auf das Feld der Reflexion über Alternativen und Möglichkeiten, jenseits des „wie es eigentlich gewesen ist“, aber ich hoffe, diese Überlegungen so realitätsnah zu führen, daß sie nicht den Boden nachprüfbarer wissenschaftlicher Aussagen zugunsten der Spekulation verlassen. Diese Prüfung begibt sich zugleich auf den Boden des von den Kritikern gegen die Liberalen angestrengten Prozesses und wird vordergründig selbst zur Prozeßpartei, die sich der Verteidigung der Liberalen annimmt. Aber es kommt mir darauf an, zuletzt aus einer solchen Situation, dem Gegeneinander von Kritik und Apologie herauszukommen, jenseits von beidem zu Urteilen zu kommen, die vor der Leitidee der Objektivität bestehen können. Dem dient eigentlich die hier vorgebrachte Auseinandersetzung mit der „Kritik“. Wir versichern uns zunächst der Fakten, über die sich alle Kenner einig sind. Der Bruch zwischen Liberalen und Demokraten, zwischen Radikalen und Gemäßigten, Konstitutionellen und Republikanern, die im Vormärz gemeinsam „die Opposition“ gebildet hatten, ist zweifellos seit dem Vorparlament oder sogar seit dem Vorabend der Märzunruhen ein wichtiges Moment im Gang der Ereignisse; und es ist ein Bruch, in dem Fragen der Taktik, die politischen Ziele, die sozialen Vorstellungen und die Einstellung der tragenden sozialen Gruppen ineinander verflochten sind. Das gilt, obwohl die Grenzen im einzelnen, ζ. Β. zwischen linkem Zentrum und rechten Demokraten, fließend sind. Während im März noch die Einheit der Opposition das Auffallende ist, ist im Sommer schon die Bedeutung der Spaltung mindestens ebenso auffallend; wir haben es nunmehr mit drei Hauptgruppen zu tun. Zugleich (wenn auch nicht notwendig deswegen) ist der ursprünglich große Elan des Märzsturms abgeklungen. - Weiter: Die Liberalen sind Revolutionäre wider Willen gewesen; sie wollten die Revolution nach den Siegen des März nicht weitertreiben, sondern in geordnete Evolution lenken; sie machten vor den Thronen halt, sie traten in die neuen Regierungen ein, und nach marxistischer Ansicht haben sie gerade damit die alten Gewalten vor dem Zusammenbruch gerettet; sie wollten ihre Ziele auf dem Wege der Vereinbarung mit den alten Gewalten, den Fürsten und Einzelstaaten, erreichen; sie lehnten die Permanenz des Vorparlamentes ab, und das heißt: sie wollten die beanspruchte souveräne Gewalt des Volkes nicht gegen Fürsten und Staaten zur Geltung bringen; sie ließen die alten Heere und die alten Verwaltungen bestehen, sie haben nicht versucht, der Nationalversammlung durch Militär und Verwaltung eine eigene Machtbasis zu schaffen und ihre Position zu sichern, sondern sich der monatelangen Diskussion der Grundrechte zugewandt; sie haben sich nach kurzem Aufbäumen mit 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

dem Waffenstillstand von Malmö und dem Verhalten Preußens gegenüber der Paulskirche abgefunden; sie haben sich seit dem Pariser Juni und dem Frankfurter September noch stärker als vorher von der Linken abgesetzt, das Reden von der drohenden „roten Republik“ bezeugt das zur Genüge; sie sind dann im Herbst der sich abzeichnenden zweiten Revolution entgegengetreten und haben sie im Ansatz verhindert; sie haben die Gegenrevolution in Wien und Berlin im Oktober hingenommen; sie haben schließlich nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. kapituliert. Kurz, sie haben die Revolution evolutionär kanalisieren wollen, ihnen fehlte ein entschlossener revolutionärer Wille zur Macht; sie haben sich gegen die radikale demokratische Linke mit zunehmender Entschiedenheit abgegrenzt, sie fühlten ihr Ziel der geordneten, der bürgerlichen Freiheit durch die vermeintlich drohende „rote Anarchie“ gefährdet. Gilt das für die führenden liberalen Politiker zweifellos, so lassen sich mit einiger Vorsicht ähnliche Feststellungen für die sozialen Gruppen, die man als Bürgertum bezeichnen kann, treffen. Auch das Bürgertum hat, phasenverschoben und graduell anders, im ganzen vom März bis zum Oktober 1848 eine ähnliche Entwicklung durchgemacht, vielleicht (vielleicht!) war es im März etwas entschiedener revolutionär als die liberalen Führer. - Nun gibt es freilich auch einige Tatsachen, die dieser Linie nicht einfach entsprechen. Dazu gehört vor allem der Kompromiß der Erbkaiserlichen mit den Linken bei der Verabschiedung der Reichsverfassung, die Zustimmung zum allgemeinen Wahlrecht, die gelegentlich, ζ. Β. bei Max von Gagern, ausgesprochene „republikanische“ Alternative für den Fall, daß die Vereinbarungspolitik mißlingen würde, der sogenannte „kühne Griff“, also die Einsetzung einer Zentralgewalt, oder auch das Verhalten der Liberalen in der Berliner Nationalversammlung. Diese Tatsachen, die für eine entschiedenere Politik der Liberalen sprechen, stehen nicht in einem absoluten Gegensatz zu der erstgenannten Tatsachengruppe, aber man muß sie mitbedenken, wenn man nun Folgerungen zieht, wie es unsere kritische These tut. Es gibt die Mitte, und es gibt die Linke, und es gibt den Bruch zwischen beiden. Mit einer gewissen Radikalisierung erweitert sich das Spektrum nach links, so daß die Mitte, ohne sich ändern zu müssen, nach rechts gerückt wird (nicht etwa: rückt). Das ist eine Verschiebung der Relationen, nicht eine Veränderung der Handelnden. All das besagt noch in keiner Weise, daß die Mitte sich damit an die Rechte, die bestehenden Gewalten, gar die Gegenrevolution angelehnt hätte. Das war, wie die zweite Tatsachenreihe beweist, nicht die subjektive Absicht der Liberalen. Es ist aber auch keineswegs schon notwendig die „objektive“, die unbeabsichtigte Folge. Es ist eine mögliche Folge. Ob sie wirklich geworden ist, ist empirisch zu überprüfen. Hier ist eine Bemerkung zur Logik am Platz. Die Behauptung über die Rechtsorientierung des Bürgertums setzt allgemein voraus, daß Politik von einem Entweder-Oder, einer FreundFeind-Beziehung bestimmt ist, dazwischen hat man zu wählen; die Situation ist polarisiert zwischen extremen Möglichkeiten. Es ist politisch die alte These der Konservativen wie der Radikalen, daß es keinen dritten Weg gibt, keine Mitte, 266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

die sich halten kann, daß die Mitte objektiv einer Seite zuzurechnen ist. Das kann im Einzelfall und gerade im Krisenfall sein (und das ist zu prüfen). Generell liegt darin eine unbedachte und unausgewiesene Vorentscheidung zugunsten eines polarisierenden Instrumentariums. Eine politische Mitte muß sich nicht notwendig gemäß den von anderen gesetzten Alternativen entscheiden, sie hat die Möglichkeit, selbst Alternativen zu bilden; die Liberalen von 1848 konnten grundsätzlich eine Politik gegen die Radikalisierung der Revolution und gegen die Konterrevolution treiben. Das verborgene Vor-Urteil, das solche Möglichkeit ausschließt, verfälscht die gesamte Interpretation. Die Politik der Mitte war zunächst einmal die Politik der Mitte, als solche war sie noch nicht - auch nicht „objektiv“ - eine Politik zugunsten der Rechten. Warum haben die Liberalen diese Politik getrieben? Ist das gemäßigte und keineswegs notwendig marxistische Klassenkampfmodell, nach dem die Bourgeoisie angesichts der sozial-revolutionären Bedrohung konservativ geworden ist und ihre politischen Ansprüche zugunsten der Sicherung ihrer ökonomischsozialen Position preisgegeben hat - ein Modell, das grundsätzlich für das 19. Jahrhundert aufschließende Kraft besitzt -, geeignet, das Phänomen der liberalen Politik von 1848/49 zu erklären? Ganz sicher spielte die Sorge oder, kraß gesagt, die Angst vor der „roten Republik“, vor den Unterschichten eine wichtige Rolle. Das ist ein Faktum. Es ist aber eigentlich nicht besonders erstaunlich und bietet keinen Ansatz zur „Kritik“. In einem berühmten Aufsatz hat Friedrich Engels im Januar 1848 nach dem Siege der radikalen Demokraten im Schweizer Sonderbundskrieg geschrieben: „Kämpft nur mutig fort, Ihr gnädigen Herren vom Kapital. Wir haben Euch vorderhand nötig. Ihr müßt uns die Reste des Mittelalters und die absolute Monarchie aus dem Wege schaffen, Ihr müßt den Patriarchalismus vernichten, Ihr müßt zentralisieren, Ihr müßt alle mehr oder weniger besitzlosen Klassen in wirkliche Proletarier, in Rekruten für uns verwandeln, Ihr müßt uns durch Eure Fabriken und Handelsverbindungen die Grundlage der materiellen Mittel liefern, deren das Proletariat zu seiner Befreiung bedarf. Zum Lohn dafür sollt Ihr eine kurze Zeit herrschen. Ihr sollt Gesetze diktieren, Ihr sollt Euch sonnen im Glanz der von Euch geschaffenen Majestät, Ihr sollt bankettieren im königlichen Saal und die schöne Königstochter freien, aber, vergeßt es nicht, der Henker steht vor der Türe.“ Es wäre irrational und instinktlos gewesen, wenn das Bürgertum sich angesichts solcher Prognosen und Drohungen, und die gab es zahlreich, nicht zur Wehr gesetzt hätte. Wo aus der Feststellung eine Kritik wird, verlangt diese Kritik von den Bürgern, daß sie keine Bürger, von den Liberalen, daß sie keine Liberalen sein sollten, und sie endet dann mit der aggressiv oder resigniert platten Feststellung, daß Bürger eben Bürger, daß Liberale Liberale sind. Daraus ist kein Gran Erkenntnis zu gewinnen. Die neuere marxistische Literatur versucht diesem Einwand dadurch zu entkommen, daß sie behauptet, a) das Bündnis des Bürgertums mit den revolutionären „Volksmassen“ sei notwendig gewesen, um die Interessen der Bürger selbst durchzusetzen, und b) der Gegensatz der Bürger zum feudalabso267 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

lutistischen System und nicht ihr Gegensatz zum Proletariat sei der Hauptgegensatz gewesen, so daß die Bürger im Moment nichts zu befürchten gehabt hätten. Aber diese Behauptungen sind Konstruktionen, die wiederum der antagonistischen Polarisierung, in der es keine Mitte geben kann, entspringen. Auch die nichtmarxistische richtige Aussage, die proletarische Klassenrevolution sei 1848 ganz unmöglich gewesen, sei auch von der Arbeiterschaft nicht erstrebt worden und sei also nur ein Bürgerschreck gewesen, hilft nicht viel weiter. Sicherlich hat ein unrealistisches und nur antizipierendes Element der Angst eine Rolle gespielt. Aber das war nicht entscheidend. Die Möglichkeit einer zwar nicht proletarischen, aber radikal-demokratischen Revolution war keineswegs nur ein Angstprodukt, sondern erschien als reale Möglichkeit. Warum hat sich das liberale Bürgertum dagegen gestellt? Es ist heute weit verbreitet, ein politisches Konzept ideologiekritisch auf soziale Interessen hin nicht nur zu analysieren, was legitim und notwendig ist, sondern zu reduzieren, also das liberale Konzept auf bourgeoise Interessen. Aber im Normalfall ist bisher nichts anderes gelungen, als die Parallelität, die Affinität, die Verflechtung von Interessen und Ideen aufzuweisen, in manchen Fällen, ζ. Β. bei der Entstehung der amerikanischen Verfassung, ist die Interes­ senreduktion geradezu widerlegt worden. 1848 war, so behaupte ich, zunächst das Politische, das Verfassungspolitische ein Faktor eigenen Gewichts. Das liberale Bürgertum war inhomogen, es bestand ja nicht nur aus rheinischen Großkaufleuten und Industriellen und dem Titelpatriziat, die akademische Intelligenz hatte eine ganz ambivalente Position, Bauern und Kleinbürger haben die liberale Linie gestützt. Die Ablehnung der radikalen Revolution ist nicht simpel auf ein bourgeoises Klasseninteresse reduzierbar. Man kann ganz allgemein sagen: ohne soziale Analyse können wir keine Revolutionsgeschichte mehr schreiben, aber das heißt noch nicht, daß die politischen Probleme deshalb auf soziale reduziert werden müßten. Nehmen wir ein berühmtes Beispiel. Die Vorliebe der Liberalen für ein Zensuswahlrecht, für die Herrschaft von Besitz und Bildung, ist leicht und mit tiefem Recht als besitzbürgerliche Ideologie zu erklären. Trotzdem reicht diese Erklärung nicht aus. Die plebiszitäre Diktatur Napoleons III. und Bismarcks Versuch einer Instrumentalisierung des allgemeinen Wahlrechts zeigen sehr deutlich, daß das allgemeine Wahlrecht in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch keineswegs dem liberal-demokratischen Verfassungsstaat zugute kommen mußte. Die liberalen Argumente können daher nicht ausschließlich als Klassenideologie erklärt werden, sie entsprachen auch einem sehr realistischen - ganz eigentlich politischen Konzept. Die Liberalen hatten politisch andere Ziele als die Radikalen, sie wollten eine liberal-konstitutionelle Verfassung, eine gewaltenteilige Verfassung, in der die Mitbeteiligung der Bürger und die Sicherung der Freiheit Priorität hatten. Im Konzept der Radikalen sahen sie das rousseauistisch-jakobinische Ideal der Demokratie, sahen sie die Gefährdung der Freiheit durch die pure Herrschaft der Mehrheit wie durch die Dominanz der Gleichheit. Das waren keine Phantome. Die deutsche Revolution ist ja ohne die Erfahrung der Französischen Re268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

volution, die Erfahrung der „terreur“ und der cäsaristischen Militärdiktatur Napoleons nicht zu denken, sie ist eine von der Last des Wissens gezeichnete, gewissermaßen nachgeborene Revolution. Der Revolutionspessimismus ist im deutschen und bekanntlich auch im europäischen Liberalismus eines der wichtigsten Phänomene des 19. Jahrhunderts und ein leicht erklärbares. Die theoretischen Debatten von Constant bis Tocqueville handelten ja gerade von dem problematischen Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Man kommt daher nicht darum herum, das Verfassungskonzept der Liberalen als ein Faktum sui generis zu bewerten, das nicht auf bourgeoises Interesse reduzierbar ist. Dieses Verfassungskonzept hat gegenüber dem der Radikalen seine eigene Notwendigkeit, sein eigenes Recht - und darum auch der Bruch der Liberalen mit den Radikalen. Damit hängt nun ein zentrales Problem aller Revolutionsdiskussion zusammen, die Frage nämlich nach der Legitimität. Die Liberalen haben sich im Vorparlament gegen die Radikalen darauf berufen, daß erst die Nationalversammlung die eigentlichen Entscheidungen, ζ. Β. die über Republik oder Monarchie oder die über die Auslegung und Realisierung ihrer Souveränität, treffen könne - und sich damit gegen den Plan, die Permanenz des Vorparlaments zu erklären, durchgesetzt. Man erinnert sich der Entscheidung der Sozialdemokratie und der Räte für die Nationalversammlung im Winter 1918/19 und der Angriffe, die dagegen gerichtet wurden und gerichtet werden. Die Liberalen haben sich bei allem Stolz auf das Repräsentationsprinzip und der Ablehnung eines imperativen Mandates und bei allen Vorbehalten gegen ein allgemeines Wahlrecht auf den Konsensus mit der Mehrheit und auf die Entscheidung der Wähler berufen. Es ist mindestens begreiflich, daß sich die Liberalen an die Entscheidung des Subjektes der Demokratie, und zwar des tatsächlichen Subjektes der Demokratie, nicht eines gedachten und utopischen, d. h. an die Entscheidung der Wähler gebunden fühlten. Der demokratisch-liberale Inhalt ihrer Zielsetzungen forderte nach ihrer Meinung demokratische Methoden, d. h. Wahl und Parlament, nicht weiter gewaltsame Revolution, Minderheitsdiktatur oder Vorwegentscheidung. Bei den Demokraten war das anders. Das Prinzip war die Herrschaft der Mehrheit, aber sie sollte gegebenenfalls auch ungeachtet der Meinung der Mehrheit durchgesetzt werden. Die Mittel entsprachen nicht notwendig dem Ziel. In der radikal-demokratischen Debatte der Schweiz 1847 ist das Recht der aufgeklärten demokratischen Minderheit gegenüber der unaufgeklärten Mehrheit auch deutlich ausgesprochen worden. Der Radikale Heinzen hat - allerdings nach der Niederlage, 1850 - davon gesprochen, daß allein durch eine Diktatur die Revolution in Europa erfolgreich sein könne. Die rituelle Berufung auf das Volk hat bei der radikalen Linken (im Unterschied zur gemäßigten Linken, ζ. Β. zu Robert Blum) die Tendenz, das reale Volk nur zu meinen, wenn es mit den Demokraten übereinstimmt, sonst aber - wenn die Mehrheit gegen die Demokraten ist - ein imaginäres aufgeklärtes Volk zu antizipieren und eine Art Erziehungsdiktatur der Minderheit anzuvisieren (so ζ. Β. bei G. Herwegh). Man kann darum von einer Selbstlegitimation 269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

der Revolution als Revolution sprechen. Auch der Antiparlamentarismus der Linken hat hier seine Wurzel - selbst wenn sich die Parlamentskritik auf das Volk oder den gewandelten Sinn des Volkes berief. Die Liberalen haben die Kritik demokratischer Vereine und Versammlungen an Abgeordneten im Namen des Volkes immer als eine Okkupation des Volksbegriffes abgewehrt. Und die Heftigkeit der Parlamentskritik, die schnell in Parlamentarismuskritik umschlug, (die Paulskirche als Versammlung alter Weiber, nicht einmal ein Debattierclub, volks- und freiheitsfeindliche Macht, Volksverräter, Kretinismus) muß jede wirkliche Analyse der Linken mit in Rechnung stellen. Es gehört zu den Verirrungen heutiger „Kritik“, daß die Frage der Legitimationsbasis der 48er Demokratie gar nicht mehr gestellt, die Parlamentskritik ignoriert und die Berufung auf das Volk schlicht für bare Münze genommen wird. An dieser Stelle ist es sehr wichtig, sich der falschen Alternative zwischen Kritik und Apologie zu entziehen. Auch die Berufung der Liberalen auf Demokratie, auf Wahlen und auf die Souveränität der Nationalversammlung ist anfechtbar. Die Abgeordneten waren ja - so wie die Wahlen faktisch verliefen - nicht alle um ihrer besonderen politischen Richtung willen plebiszitär legitimiert worden. Die Legitimität der Liberalen beruhte auf den Märzereignissen - also auch auf Revolution. Die Radikalen andererseits konnten das Recht der Selbstbehauptung der Revolution, die doch auf einem breiten Konsensus ruhte und die - ob radikal oder nicht - in Gefahr war, für sich ins Feld führen. Man muß hier die Auseinandersetzung zweier Prinzipien sehen, des Prinzips der Revolution und ihrer Selbstbehauptung, ja ihres Fortschreitens, und des Prinzips der realen Demokratie, der Mehrheit und der Repräsentation; beide Prinzipien können Legitimität beanspruchen. Es wäre Apologie, die liberale Position gegen die Revolutionsposition als allein legitim herauszustellen. Aber die sogenannte Kritik wäre nur eine umgekehrte Apologie, die der Revolutionslegitimität das Monopol zuspricht. Über konkurrierende Legitimitätsansprüche - über den Streit der Götter, wie Max Weber das genannt hat - zu urteilen, ist nicht im Bereiche der Möglichkeit wissenschaftlicher Historie. Freilich, in dem neokritischen Urteil über das liberale Bürgertum schwingt eine ganz eigentümliche Revolutionstheorie mit. Revolution gilt hier per se als etwas Positives; die deutsche Geschichte gilt als unglücklich, weil sie ohne erfolgreiche Revolution verlaufen ist. Diese Trauer über das Fehlen der gelungenen Revolution - die Revolutionsnostalgie - schlägt sich in der Kritik an den Liberalen nieder. Ein solches Urteil ist möglich, aber es geht von vorausgesetzten Wertungen aus, die den Bereich der Wissenschaft überschreiten. Ich habe zu zeigen versucht, daß die liberale Revolutionsskepsis angesichts der jakobinisch-totalitären Möglichkeiten, die uns im 20. Jahrhundert ja wieder vertrauter geworden sind, angesichts der Dialektik, daß Freiheit im Namen von Freiheit abgeschafft werden kann, auch ihre Legitimität hat; der emphatische Revolutionsglaube ist demgegenüber naiv. Sicher, das Verhältnis der Liberalen zur Revolution und zur Tat bekam dadurch etwas hamlethaftes - und man 270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

kann dem die elementare Frische der Radikalen gegenüberstellen und betonen, daß der Radikalismus, wie das Schweizer Beispiel zeigt, ja nicht unbedingt zu den von den Liberalen befürchteten Konsequenzen führen mußte. Worauf es hier ankommt, ist im Sinne objektiver Wissenschaft, historischer Gerechtigkeit und im Sinne des unser Leben begründenden Pluralismus, diesen Streit der Götter auszuhalten und die gefährdete Unparteilichkeit wieder herzustellen. Nur dann können wir auf Erkenntnis der Vergangenheit rechnen. Es ist apologetisch, wie man es früher gelegentlich versucht hat, den Spieß schlicht umzudrehen und dem Radikalismus nun vorzuwerfen, den Sieg der Gegenrevolution verschuldet zu haben. Immerhin ist diese Umkehrung nicht ganz uninteressant. Robert Blum, der Führer der gemäßigten Linken, dem das Mehrheitsprinzip, zumindest im Frühjahr und Sommer 1848, über dem Wunsch nach der „Republik“ und dem Forttreiben der Revolution stand, hat den Aufstand von Hecker und Struve geradezu als Wahnsinn empfunden, diese Radikalen hätten das Volk verraten und mitten im Siegeslauf aufgehalten, weil sie die Revolution diskreditierten; auch Marx und Engels haben den illusionären Putschismus des großen Volksmannes hart kritisiert. Der große Radikale J . Fröbel hat einmal die Niederlage der Liberalen gewünscht, weil dann, nach der heraufziehenden reaktionären Sintflut erst die Stunde der Demokraten schlagen könnte. Man könnte also eine Gegenrechnung aufmachen und die Kritik am Liberalismus mit einer Kritik am Radikalismus beantworten - und in beiden Fällen kann man sich auf Tatsachen berufen. Aber solche Rechnungen führen letzten Endes nicht weiter. Wir haben die Tatsachen gegeneinander abzuwägen - aber auf dem Boden jenseits von Apologie und Kritik, auf dem Boden historischer Objektivität. Ich habe versucht, die Legitimität der Position der Mitte und die Eigenständigkeit dieser Mitte und ihres politischen Konzeptes gegenüber der Kritik darzulegen, und zugleich aus dem Parteienstreit von Apologie versus Kritik herauszukommen. In diesem Zusammenhang müssen wir nun nach den Realisierungschancen der Alternativen fragen und damit nach ihrem Realitätsgehalt und hier wenigstens Wahrscheinlichkeiten zu ermitteln suchen. Denn wenn es keine realistische Alternative gab, läßt sich das kritische Urteil über die Liberalen nicht aufrechterhalten. Zunächst: Die Republikaner, also die Gruppen, die die Revolution weitertreiben wollten, und die Sozialrevolutionären Kräfte, die die Revolution begleiten, waren eine Minderheit. Davon kann der Blick auf den deutschen Südwesten oder auf Sachsen, auf Berlin oder Köln oder auf die Bewegung der Märzvereine oder auf die Masse (vielleicht die Mehrheit) der „proletaroiden“ Existenzen, die die sozialgeschichtliche Forschung ermittelt hat, sowenig ablenken, wie die Repetition der radikalen Berufungen auf das Volk und auf die revolutionären Massen. Gewiß gab es hier Schwankungen, aber die Tendenz der Mehrheit ist doch unverkennbar. Dreiviertel des deutschen Volkes lebten auf dem Lande; die Bauern sind nach den Frühjahrsunruhen durch die Versprechungen und die Maßnahmen der Märzregierungen zum großen Teil befriedet worden. Die latente Mentalität der Mehrheit war noch 271

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stark einzelstaatlich und monarchisch geprägt, und diese Mentalität schlug zumindest seit dem Sommer 1848 durch. Die Erfolge der Preußenvereine und die Ergebnisse fast aller späteren Wahlen weisen in diese Richtung. Auch die gemäßigten Republikaner gingen notgedrungen davon aus, daß die Einzelstaaten und Monarchen bei der gegebenen Mentalität des Volkes fortbestehen würden. „Republik“ bedeutete auch für ihre Anhänger vielfach nur: wenig Steuern in einer Monarchie. Und die bitteren Urteile von Marx und Engels nach dem Scheitern der Revolution über das, was sie das Kleinbürgertum nannten, ja auch über die Arbeiter, entsprechen diesem Befund. Zudem muß man auf das oft unterschätzte Phänomen der konfessionellen, zumal der katholischen Loyalität hinweisen: die von dem „Wühler“ Buss organisierten Piusvereine stellten, durch den Gegensatz zu der häufig religionsfeindlichen Linken mitgeprägt, ein mächtiger werdendes Potential dar, das bei einer Radikalisierung der Revolution leicht hätte aktiviert werden können. Angesichts dieser Lage ist es nicht verwunderlich, daß die Revolution (wie alle ersten westeuropäischen Revolutionen) zunächst vor den Thronen Halt gemacht hat. Droysen hat gemeint, daß eine Nationalversammlung in Berlin vielleicht den Griff nach der Exekutive hätte unternehmen können, daß aber eine solche Politik zwangsläufig viele Vendées hervorgerufen hätte, also den Bürgerkrieg. Das bestätigt unser Urteil: auf die Dauer hätte die Mehrheit des deutschen Volkes eine radikalere Politik als die der liberalen Mitte nicht getragen (und der plebiszitäre Cäsarismus, der in Frankreich aufkam, weist in dieselbe Richtung). Sodann: Die Linke war weder politisch noch sozial geschlossen oder homogen, sie war, Mehrheit hin, Mehrheit her, nicht eigentlich handlungsfähig und darum zwar ein revolutionäres Potential, aber kein dominanter revolutionärer Faktor. Alle Sozialanalysen, marxistische wie nichtmarxistische, zeigen die Inhomogenität der kleinen Leute, der Unterschichten: des Kleinbürgertums, der Gesellen, des entstehenden Proletariats, der radikalen Intelligenz. Die Entstehung der modernen Klassen war in Deutschland noch im Fluß, von daher erklärt sich die Inhomogenität, das Schwanken, die Ambivalenz dieser sozialen Gruppen. Ich möchte mit Stadelmann daraus folgern, daß die Interpretation der deutschen Revolution unter dem Aspekt der französischen Klassenkämpfe nicht möglich ist, weder Stephan Born noch die Demokraten haben ihre Politik als Klassenpolitik aufgefaßt oder betrieben. (Und im marxistischen Sinn kann man auch diese Tatsache, daß nämlich auch die radikale Linke den Klassenkampf vermeiden wollte, als ein retardierendes, die Revolution schwächendes Element interpretieren.) Das Begehren des einfachen Mannes, um die Revolution sozial auf die einfachste Formel zu bringen: ein bißchen mehr Freiheit, ein bißchen mehr Gleichheit, ein bißchen mehr Gerechtigkeit - gibt den Stimmungskonsens an, auf den die Linken sich stützen konnten, zum politischen Handeln war das nicht ausreichend. Und auch die politische Analyse der verschiedenen linken Gruppen (der Paulskirchenlinken, der außerparlamentarischen Demokraten, der Sozialisten und ihrer jeweiligen Untergruppen) zeigt, daß diese Linke in sich wenig - und weniger als die Mitte - geschlossen war 272 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

und daß sie kaum ein positives und strategisches gemeinsames Konzept besaß. Die wechselvolle Taktik und die wechselnden Urteile von Marx und Engels 1848/49 bestätigen diesen Eindruck. Das Ziel der Linken war die Sicherung und Vollendung, damit verbunden auch die Radikalisierung der Revolution. Eine Strategie mit kalkulierbaren Realisierungschancen, dieses Ziel durchzusetzen, eine Alternative also, finden wir eigentlich nicht. Aufstände, Volksbewegungen, zweite Revolutionen (über die man sich nicht einig war) hatten unter den beschriebenen Bedingungen geringe Chancen. Niemand hat angegeben, wie denn die Paulskirche sich eine exekutive Macht hätte schaffen können, ohne einen wenig erfolgversprechenden Bürgerkrieg und eine russische Intervention zu riskieren, oder wie man den ersten Erfolgen der Gegenrevolution hätte begegnen können. Auch die Linke wußte kein Mittel gegen die Gegenrevolution. Die einzige große und politisch wirklich gewichtige strategische Alternative war der große nationaldemokratische Krieg - und das ist am deutlichsten und scharfsichtigsten von Marx und Engels, aber auch von Robert Blum oder Heinrich Simon ausgesprochen worden; die heutigen Neokritiker kehren diese nicht gerade pazifistische Idee allerdings am liebsten unter den Teppich oder lassen sie im Dunkeln. Man muß dabei unsere Neokritiker daran erinnern, daß der Nationalismus der Linken nicht geringer war als der der Mitte (und gelegentlich schärfer), und daß bei Marx und Engels neben ihrem Engagement für die Befreiung Polens die Verachtung für die anderen slavischen Völker, die Heerscharen der Reaktion, und die Ablehung einer nationalen Emanzipation der Tschechen stand. Die große Strategie war also die Idee des Volkskrieges, in dem die nationalen, an Schleswig-Holstein entzündeten Tendenzen und die demokratischen sich verbanden und in den Kreuzzug gegen den Hort der europäischen Reaktion mündeten: in den Kreuzzug gegen Rußland. Ein solcher Krieg hätte nach dem Vorbild von 1793 zweifellos eine revolutionierende und radikalisierende Wirkung gehabt und die Idee des russischen Krieges findet sich bekanntlich auch bei Liberalen (Gagern) und in ministeriellen Planspielen. Freilich, ein Krieg ohne oder gar gegen die preußische Armee, die nicht mehr die von 1806 war und für die Revolution kaum anfällig war, schien den kühler urteilenden Zeitgenossen wie den späteren Historikern eine ziemlich illusionäre, eine wenig realistische Vorstellung. Die Liberalen sahen aus diesen Gründen in ihrer Politik die größeren Realisierungschancen. Man sollte die Politik der Liberalen einmal - ungeachtet ihrer späteren Selbstkritik im Zeichen der Realpolitik - stärker unter dem Gesichtspunkt des Realismus durchanalysieren. Die Vereinbarungspolitik hatte, so durfte man mit guten Gründen annehmen, bessere Chancen als die revolutionäre Konfrontationspolitik. Die alten Gewalten waren im Frühjahr wie im Nu zurückgedrängt worden und die Regierungen vorsichtig auf Reformkurs gegangen. Andererseits mußte man mit der Macht des Bestehenden, den Staaten, die nicht verschwanden, der Mentalität der Mehrheit, den drohenden Vendées, dem Einmarsch des Zaren, dem Übergang zur Diktatur rechnen. Man mußte 273 18

Nipperdey

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mit den deutschen Großmächten rechnen, und das hieß bis zum Herbst - bei der scheinbaren Agonie Österreichs - mit Preußen. Stadelmann hat gemeint, allein eine „Coburger“ Politik des preußischen Königshauses, also ein Arrangement mit den gemäßigten Liberalen, hätte eine Chance für einen partiellen Erfolg der Revolution geboten - wie dem auch sei, das lag in der liberalen Konzeption. Die von links und rechts (von Marx über die Bismarckorthodoxie bis zur gegenwärtigen Pseudorevolution) vorgebrachte Kritik an der Paulskirche lautet, daß sie anstatt zu handeln, monatelang die Grundrechte debattiert habe. Die wissenschaftliche Diskussion von 1948 hat nachgewiesen, welche eminente und ganz unmittelbare Bedeutung diese Diskussion als Integrationsund Emanzipationsprozeß gehabt hat. In unserem Zusammenhang muß man aber zusätzlich darauf hinweisen, daß diese Diskussion auch im Rahmen der realistischen Vereinbarungspolitik stand, daß sie gerade im Hinblick auf Preußen die Dinge im Sinne der Liberalen reifen lassen sollte. Die Schonung Preußens durch die Mehrheit der Paulskirche von Malmö bis zum Staatsstreich und die Ablehnung einer Strategie, die die Monarchie unter den Druck der Straße gesetzt hätte, entsprang auch diesem realistischen Kalkül. Die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. schließlich ist bekanntlich im Kreise der preußischen Regierung sehr umstritten gewesen, sie war also keineswegs mit Sicherheit prognostizierbar. Und bis zum Herbst war auch das Wiedererstarken Österreichs nicht voraussehbar. Mußte man nicht versuchen, so kann man den Realismus der Liberalen zusammenfassen, das real Mögliche herauszuholen, war nicht der Weg der begrenzten Kooperation erfolgversprechender als der der Konfrontation? Die Analyse der Kräfte und Gegenkräfte führt zu dem Ergebnis, daß die radikale Alternative eine relativ geringe Realisierungschance, die liberale aber, soweit das damals erkennbar war, eine sehr viel bessere hatte. Die inneren Voraussetzungen zu einer radikalen Revolution waren kaum gegeben. Unter diesen Aspekt ist auch die Kritik, die uns beschäftigt, zu stellen. Die Antikritik, die ich unter dem Aspekt der Realisierungsmöglichkeit versucht habe, ist keine Apologie. Es bleibt eine offene Frage, ob im Frühjahr 1848 eine - nicht radikale, aber - entschiedenere Politik der Liberalen die Mehrheit des Volkes hätte mitziehen können und die alten Gewalten zu größeren Konzessionen bewegt hätte (auch wenn man hier vor nachträglichem Optimismus warnen muß). Und es ist eine offene und weiterer Forschung werte Frage, welche Möglichkeiten für ein Zusammengehen der Liberalen mit den gemäßigten Linken im Sommer 1848 bestanden und welche Chancen damit verbunden gewesen wären. Die liberale Politik ist nicht nur von realistischer Einsicht geleitet gewesen, sonden auch von einem moderierten Programm, auch von Hoffnungen und Wünschen. Und sie ist bekanntlich gescheitert. Bei der Frage, ob eine Alternative realistisch war, bleibt das Moment des Ungewissen, des Risikos - auch das Unwahrscheinliche konnte sich - so mochten die Radikalen denken - durchsetzen, von daher hat auch die radikale Alternative (mit ihrer geringeren Realisierungschance) ihre Legitimität. Aber die liberale Re274

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volutionspolitik war eine realistische Politik, sie war weder von der Absicht noch von den Folg en her eine verkappte Kapitulationspolitik. Eine Niederlag e ist nicht notwendig die Schuld der Besieg ten. Aber haben, und das war unsere erste Frag e, die Liberalen nicht doch die Niederlage - „objektiv“ - mitverursacht? Zur Klärung dieser Frag e müssen wir noch erörtern, inwiefern das Scheitern der Revolution auf die Spaltung zwischen Liberalen und Demokraten und sodann auf die zög ernde Kompro­ mißpolitik der Liberalen zurückzuführen ist. Ich kann in der Kürze der Zeit aus den hier notwendig en Überleg ung en nur g erade die Resultate andeuten. Die erste g roße Niederlag e der Paulskirche war der Waffenstillstand von Malmö und nach dem ersten protestierenden Sichaufbäumen die endliche Annahme dieses Waffenstillstandes. Die entscheidende Ursache dafür war der Druck der Großmächte, zumal Rußlands, es war der Druck übermächtig er Umstände. Die Liberalen haben den Waffenstillstand nicht deshalb ang enommen, weil sie eine Stärkung der Revolution vermeiden wollten - so die marxistische These -, sondern weil sie die Alternative des jakobinischen Volkskrieg es und des Bru­ ches mit Preußen für keine realistische und keine erwünschte Alternative hal­ ten konnten. Nicht die Geg nerschaft g eg en die Demokratie, sondern die Ein­ sicht in die Machtrealitäten in Deutschland und Europa hatte die Priorität. Gerade hier g ibt es nicht, wie die Demokraten und die Kritiker heute meinen, einen Primat der Innenpolitik, sondern g anz eindeutig eine Auswirkung der Außenpolitik. - Der erste g roße Sieg der Geg enrevolution, der Sieg in Wien, ist g änzlich unabhäng ig von den Problemen zwischen Liberalen und Demokra­ ten. Es sind die slavischen Reg imenter von Jellačič g ewesen, und letzten Endes das Großösterreichertum des slavischen, z. Β. des tschechischen Nationalismus und die Beharrungskraft der alten Monarchie, die diese Niederlage herbeigeführt haben. - Schwieriger ist es beim Sieg der Gegenrevolution in Berlin. Sicher spielt hier die unabhängig vom Verhalten der Liberalen und Demokraten wiederaktivierte Stärke der alten Mächte eine entscheidende. Rolle. Es gibt keine Beweise oder Argumente dafür, daß es die politischen Differenzen unter den Parteien der preußischen Nationalversammlung und also Kompromißneigungen der Liberalen waren, die den Erfolg der Gegenrevolution ermöglichten. Wohl aber spielt hier der Stimmungswandel der öffentlichen Meinung und der Masse der Bürger, des Volkes eine Rolle. Hier ist die Abkehr ehemals liberaler Schichten von der Revolution, die erschreckte Reaktion auf linke Radikalisierungen, das Akzeptieren der konservativ gesetzten Alternative: Freiheit als Anarchie versus Ordnung in Rechnung zu stellen. Hier könnte man vom Übergang ehedem revolutionärer Kräfte zur Gegenrevolution oder besser: zu einer gewissen Apathie, die die Gegenrevolution begünstigte, sprechen; und man kann dieses Berliner Modell natürlich auch auf manche andere Region übertragen. Man muß allerdings dreierlei berücksichtigen. a) Der Stimmungswandel betrifft nicht nur die „Groß- und Bildungsbürger“, sondern ebenso die sogenannten Kleinbürger - darauf haben gerade die Marxisten hingewiesen und die Bauern. Das Problem ist kein Problem der Liberalen allein, sondern 275 18* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

ein Problem aller revolutionären Kräfte. b) Niemand kann sagen, ob die preußische Armee bei der Entschlossenheit der Reaktion nicht auch ohne diese konservativen Verschiebungen der politischen Stimmung den Staatsstreich durchgesetzt hätte, und vieles spricht für diese Annahme, c) Es ist nicht die liberale Politik, es sind nicht die Politiker der Mitte gewesen, die diesen Wandel verschuldet oder verursacht haben. Sie waren und sie blieben entschiedene Gegner der Gegenrevolution und sie waren immer noch so mächtig, daß die oktroyierte preußische Verfassung vor ihrer Revision einen liberalen Inhalt hatte. Die außerpreußischen Liberalen haben sich ja auch keineswegs mit dem preußischen Staatsstreich abgefunden. Man muß in diesem Zusammenhang auch noch einen weiteren Gesichtspunkt für die Niederlage der Revolution anziehen: Das ist die Aufspaltung der Revolution in partikulare Revolutionen, der Partikularismus der Revolutionäre, der quer zu der Scheidung liberal-demokratisch steht. Das Miteinander der Revolutionen wurde häufig zu einem Gegeneinander, das die Revolution insgesamt schwächte und das Vordringen der Gegenrevolution erleichterte, eine Konsequenz der deutschen Lage, der Partikularstaatlichkeit, eine Konsequenz der Tatsache, daß es in den Einzelstaaten um eine freiheitliche Verfassung bei eingewurzelter Bindung an die einheimischen Monarchen ging, in Frankfurt aber um das Doppelprobelm einer freiheitlichen Gesamtstaatsverfassung und einer neuen Staatsgründung. Gerade an den Auseinandersetzungen um die preußische Verfassung läßt sich dieses Gegeneinander deutlich zeigen. Auch die preußische Linke wollte nicht mediatisiert werden, wollte Frankfurter Beschlüsse nur in eigener Souveränität akzeptieren. Die Frankfurter Linke war gegen das preußische Parlament gewesen und unterstützte es mitsamt seinem preußischen Partikularismus erst in seiner Niederlage. Auch diese Gegensätze waren es, die die Revolution schwächten. Endlich zeigt die letzte Phase der Paulskirche die zentrale, die absolut dominierende Bedeutung des großdeutsch-kleindeutschen Problems, des preußisch-österreichischen Dualismus und seiner österreichisch-nationalitätenpolitischen Implikationen. Das ist eine Trivialität. Aber man muß sie angesichts der Überbetonung des Gegensatzes zwischen Liberalen und Demokraten deutlich aussprechen. Dieser Dualismus ist es, der letzten Endes die Alternative gesetzt hat. Die Umgruppierung der Parteien im Winter 1848/49, das Bündnis der antiösterreichischen Linken mit den proösterreichischen großdeutschen Gemäßigten zuerst, die rigorose österreichische Gesamtstaatspolitik Schwarzenbergs und sodann der Kompromiß zwischen Linken und Erbkaiserlichen, auf deren Gegensatz doch die ganze hier behandelte These beruht - das zeigt, daß an dieser Frage stärker als an jenem Parteigegensatz die Entscheidung über die Revolution hing. Das Problem des Dualismus wäre angesichts der Stabilisierung Österreichs und der Position Friedrich Wilhelms IV., die keine andere, keine wünsch- oder ausdenkbare Politik der Liberalen hätte ändern können und angesichts der erwähnten Unmöglichkeit einer jakobinischen Massenrevolution gegen alle bestehenden Staaten in jedem Falle zum 276 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Schicksal der Revolution geworden. Die Revolution, so möchte ich meinen, ist primär, und ich gebrauche bewußt ein altmodisches Wort, an der Tragik der deutschen Situation, der Tatsache der Partikularstaaten und des Dualismus, an der Stärke der beiden deutschen Großmächte und an der internationalen Lage, in der es keine Internationale der Revolutionäre gegen die Gegenrevolutionäre geben konnte, gescheitert. Die Doppelaufgabe, einen Staat zu gründen und die Verfassung in Freiheit zu erringen, war zu dieser Zeit revolutionär oder parlamentarisch nicht lösbar. Sozialgeschichtlich kommt dann dazu, daß in der Übergangslage, in der sich die deutsche Gesellschaft befand, die Kräfte der Revolution nicht die klare Mehrheit darstellten, zumal nach der Beruhigung der Mehrheit der Bauern. Die Spaltung zwischen Liberalen und Demokraten und die Auswirkung der liberalen Kompromißpolitik sind demgegenüber durchaus sekundär, wie es eben zumal bei der Verabschiedung der Reichsverfassung und der Kaiserwahl deutlich wird. Insofern ist die These, die liberale Politik sei die eigentliche Ursache der Niederlage, entscheidend relativiert. Erkennt man diese Relativierung an, kann man dann in der Spaltung und zumal in der liberalen Politik Faktoren sehen, die den Sieg der Gegenrevolution erleichterten? Hier ist zu differenzieren. Sicherlich hat die Spaltung der revolutionären Kräfte den Sieg der Gegenrevolution erleichtert, wenn sie ihn auch kaum bewirkt hat. Aber, die Konstruktion einer einheitlich liberalen oder radikal demokratischen oder einer dazwischen liegenden Politik, von der her dann die Spaltung als Abweichung „kritisiert“ werden könnte, ist eine unhistorische Konstruktion und Illusion. Die Alternativen waren unvermeidlich. Gerade darum gibt es hier keine Schuldfrage. Vordergründig haben die Demokraten ebenso die Einheit gefährdet und zersetzt wie die Liberalen, und wenn die moderierte Politik der Gegenrevolution zugute kam, dann ebenso die radikale. Aber es kommt darauf an, von diesem unhistorischen Postulat einer wünschbaren Einheit wegzukommen. Wenn man der Mitte vorwirft, ihre Politik sei objektiv der Rechten zugute gekommen, dann impliziert das die These: die Mitte hätte eine Politik mit der Linken machen sollen. Diese Forderung ist nicht falsch oder richtig, sie ist sinnlos. Diese gemeinsame Politik war von beiden Seiten her nicht möglich. Das lag nicht an einem liberalen Verrat oder Unwillen, das lag auch nicht an einer radikalen Illusion über die eigenen Möglichkeiten - solche Kategorien stimmen nicht -, es war historische Notwendigkeit. Das relative Recht der These, von der wir sprechen, liegt darin, daß sich in größeren Teilen des Volkes eine Thermidor-Stimmung entwickelte, daß sie vom Radikalismus erschreckt nach rechts oder in die Neutralität abwanderten und die konservative Alternative, Ordnung statt der Anarchie der Freiheit, als das kleinere Übel hinnahmen. Diese Bewegung war, wie gesagt, nicht auf das liberale Honoratiorenbürgertum beschränkt; daß sie für die Niederlage der Revolution entscheidend gewesen sei, bleibt eine wenig wahrscheinliche Hypothese. Die liberale Politik der Mitte ist davon zu unterscheiden. Sie hat trotz aller Distanz zum Radikalismus nicht jene Tendenzänderung der Volksstimmung er277

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zeugt. Am Ende, bei der Kaiserwahl, stehen die Liberalen mit einem guten Teil der Demokraten gegen die alten Mächte. Die Liberalen haben mit ihrer legitimen Politik der Mitte nicht den Anschluß an die Gegenrevolution vollzogen, sie haben sich der von anderen aufgestellten Alternative radikale Revolution oder Gegenrevolution entzogen. Es ist eine Konstruktion, diese Alternative als die allein wirkliche auszugeben. Die Liberalen sind die Besiegten von 1849 so gut wie die Demokraten und nicht von der Art der düpierten Compagnons einer Gegenrevolution. Die liberale Politik hat auch nicht das Erstarken der Gegenrevolution in einem sogenannten objektiven Sinn begünstigt. Denn: Die radikale Alternative war zur Abwehr der Gegenrevolution keineswegs besser, vielmehr nach allem, was wir wissen, weniger gut geeignet, sie hätte die Kräfte der Gegenrevolution ganz sicher noch mehr verstärkt. Das kritische Urteil über die Liberalen ist darum unhistorisch. Das Rechten mit den Großvätern führt zu keinem brauchbaren Ergebnis, das man als Erkenntnis bezeichnen könnte. Man entkommt der historischen Gerechtigkeit und der Tragik der Situation nicht durch die besserwisserische und parteinehmende Kritik der Nachgeborenen. Natürlich bewegen wir uns mit solchen Erwägungen über das, was gewesen wäre, wenn . . ., am Rande der Wissenschaft, und man muß sich hüten, solche Erwägungen zur Hauptsache zu machen. Natürlich bleibt hier ein unauflösbarer Rest. Urteile über vergangene Wahrscheinlichkeiten haben nur eine relative Evidenz, sie sind keine Urteile über Gewißheiten. Aber die konkrete Erörterung der hier in Rede stehenden Beurteilung der Revolution sollte zeigen, daß die Neokritik keine hinreichende Begründung in den Sachen hat. Die von mir versuchte Antikritik sollte nicht als Apologie der Liberalen mißverstanden werden - die Verteidigung der Angegriffenen ist nur die vordergründige Dimension. Auch die Position der Radikalen läßt sich eingehender historisch begründen, als das hier meine Aufgabe sein konnte. Worauf es mir ankommt, das ist, die historische Objektivität gegen die Machtansprüche von Kritik oder Apologie wiederherzustellen. Die Objektivität lehrt, den Streit vergangener Götter wie gegenwärtiger auszuhalten. Sie stellt die unparteiliche Wissenschaft wieder frei von den Monopolansprüchen der Ideologien, sie verhilft damit der Geschichte und dem Vergangenen wieder zu ihrem Recht, und damit gerade dient sie letzten Endes dem Offenhalten unserer eigenen Zukunft.

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IV. KAISERREICH UND REPUBLIK

12. Die Organisation der bürgerlichen Parteien in Deutschland vor 1918 Im Gegensatz zu den westlichen Ländern haben sich in Deutschland die Untersuchungen zur Parteigeschichte mit Fragen der Organisation fast überhaupt nicht befaßt. Das hat mehrere Gründe. Einmal ist die Funktion der westlichen, zumal der angelsächsischen Parteien unvergleichlich bedeutender gewesen als die Funktion der deutschen Parteien vor 1918; jene waren die Träger ihrer Staaten, die für die politischen Entscheidungen ausschlaggebenden Mächte, die einzigen Institutionen für den Aufstieg und die Auswahl von Regierungspersonal und politischen Führern. Es ist daher verständlich, daß ihre innere Struktur und ihr Funktionieren, die Art und Weise, nach der in ihnen Meinungen gebildet, Entscheidungen getroffen und Führer ausgewählt wurden, in ganz anderem Maße als in Deutschland Gegenstand der historischen Forschung geworden sind. Zudem begünstigt natürlich die - auch quellenmäßig - ungebrochene Kontinuität dieser Parteien eine solche Forschung ganz besonders. Zum andern kamen die deutschen Parteien weitgehend von der Philosophie her, das Urbild des Parteigegensatzes ist der Gegensatz philosophischer Schulen. Gemäß dieser Herkunft sind die deutschen Parteien - anders als die englischen und zumal die amerikanischen Parteien - sehr stark und sehr lange von Ideen, Weltanschauungen oder Ideologien bestimmt gewesen; die bewußte Verflechtung dieser Ideen mit Klasseninteressen hat sich erst allmählich herausgebildet. Weil so die deutschen Parteien in der Tradition ideeller Bewegungen standen und weil sie im Rahmen des Halbkonstitutionalismus vor 1914 nur eine geminderte - eben nicht führende - Funktion hatten, zudem die Durchpolitisierung der Wählermassen nur langsam vor sich ging, standen die Probleme der Führung und die der Masse, also die Organisationsprobleme, für die Parteien wie für die Forschung im Hintergrund. Die deutschen Parteien beanspruchten nur als Träger politischer Ideen oder Vertreter wirtschaftlicher Kräfte und nur als Fraktionen historisches Interesse, nur der Geist der Parteien und die Politik der Fraktionen mit- und gegeneinander - gewissermaßen die Außenpolitik jeder Fraktion - schienen politisches Gewicht zu haben. Die Untersuchungen zur deutschen Parteigeschichte haben sich daher vornehmlich mit Ideengeschichte und mit Fraktionsgeschichte befaßt1. Seit der Jahrhundertwende drang in Deutschland zwar die Ideologiekritik in die Wissenschaft ein, die politische Wirklichkeit der modernen, halb oder ganz parlamentarisch regierten Staaten wurde als Machtwettbewerb von 279

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Gruppen, als Interessentenbetrieb analysiert, die Parteien wurden auch soziologisch untersucht. Die auf diesen Gesichtspunkten fußenden Darstellungen und Erörterungen zielten aber entweder auf eine Beschreibung des Parteiwesens und seiner Wirkungen überhaupt (M. Weber), oder sie waren in Gegenstellung gegen die bislang herrschende ideengeschichtliche Betrachtungsweise einseitig ideologiekritisch und entlarvend orientiert (so vor allem die darauf bezügliche Publizistik); die Untersuchungen sind allgemein typologisierend oder betont aktuell. So sind die meisten Gesichtspunkte, die in dem seit 1918 anschwellenden parteitheoretischen und parteisoziologischen Schrifttum vorherrschten, wie die Fragen nach Organisation, Machtverteilung, Führung und Finanzierung, in die speziell parteigeschichtlichen Untersuchungen nur selten eingedrungen2. Der Anstoß, die Fragen der Parteiorganisation auch historisch zu untersuchen, geht heute von zwei Sachzusammenhängen aus. Das ist einmal die Erörterung des gegenwärtigen Parteienproblems. Die Umbildung der Parteien von Volksbewegungen zu Herrschaftsorganisationen, die Mediatisierung der Bürger und Wähler und die Monopolisierung des Machtwettbewerbes durch die Parteien, die Fragen der innerparteilichen Demokratisierung, der Parteibürokratie, der Parteifinanzierung und des Verhältnisses der Parteien zu anderen Verbänden - diese gegenwärtigen und zukünftigen Probleme drängen dazu, auf ihre Herkunft hin untersucht zu werden. Die Erforschung der älteren deutschen Parteiorganisation hat also ihren aktuellen Sinn darin, daß sie vom Entstehen der heutigen Herrschaftsinstitutionen handelt. Sie kann damit zugleich die von der heutigen politischen Theorie angestrebte Typologie der Parteiorganisationen3 stärker detaillieren und individualisieren, ohne dabei die generellen Übereinstimmungen zu vernachlässigen. Zum andern geht der Anstoß zu einer solchen Untersuchung von den Fragen unserer jüngsten Vergangenheit aus. Die Fragen nach der Krise des Liberalismus, nach dem Versagen der Parteien während der Weimarer Republik, in der die Parteien nach Tradition und Bewußtsein noch stark von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen vor 1918 mitbestimmt waren, die Frage danach, warum in Deutschland eine Lösung der Spannung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, sei es im Sinne einer Integration, sei es im Sinne eines relativen Gleichgewichts dieser beiden Mächte, nicht gelungen ist - diese Fragen führen auf die Probleme von Partei und Masse, von Führung und Integration, von Entpolitisierung oder Durchpolitisierung, eben auf die Probleme der deutschen Parteiorganisation4, deren Erforschung die Beantwortung jener Fragen vorbereiten kann. Unter diesen Aspekten kommt es zunächst darauf an, die älteren Formen der Parteiorganisation darzustellen und sie aus ihren technischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen zu verstehen, um dann zu zeigen, welchem Wandel sie im Zeitalter der heraufkommenden industriellen Massengesellschaft unterworfen wurden5.

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Ι. Bevor sich eine Parteiorganisation im eigentlichen Sinne gebildet hatte, ver­ stand man unter Partei entweder eine einzelne Fraktion im Parlament oder den durch eine gemeinsame politische Idee verbundenen Teil der Bürgerschaft im Lande. Die deutsche Fortschrittspartei - das ist im allgemeinen die fortschrittliche Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus; die liberale Partei das sind die zunächst nur durch eine gemeinsame Überzeugung verbundenen Anhänger des Liberalismus. Gelegentlich werden diese beiden Begriffe von Partei schon verbunden - ein Bürger „zählt sich“ zur Fortschrittspartei, d. h. er billigt die Politik der Fraktion und wählt ihre Abgeordneten, ein Journalist gilt als „Mitglied“ der Partei -, im allgemeinen wird aber beides noch nicht direkt aufeinander bezogen, oft wird der Begriff der Partei im Sinne der Vertretung einer Idee über den der Partei als Fraktion gestellt und als der eigentliche betrachtet6. Die örtlichen Anhänger einer politischen Richtung nun haben sich erst allmählich aus der Menge der Wähler herausgehoben und zusammengetan, um ihre politische Überzeugung zu pflegen, d. h. zu diskutieren, sich zu bestätigen und ihre Meinung nach außen zu bekunden, und um die Wahl von Abgeordneten ihrer Richtung zu erreichen. Indem solche Verbindungen eine mehr oder minder feste, gewohnheitsmäßige oder institutionelle Form und damit Kontinuität gewannen, entstand die Organisation. Damit erst wurde die Partei im Lande neben der Partei im Parlament zu einem greifbaren Gebilde, das zwischen Wählern und Abgeordneten vermittelte. 1. Die erste relativ ausgebildete Parteiorganisation in Deutschland bestand im Zusammenhang mit der Fortschrittspartei; sie hat in einem gewissen Grade auch die Organisationsformen der anderen Parteien beeinflußt. Wir nennen sie die demokratische Organisation. Die politischen Vereine von 1848 - Volks-, Märzvereine etc. - waren mit dem Sieg der Reaktion verschwunden. Erst zu Anfang der 60er Jahre ist es in den Großstädten wieder zur Bildung solcher lokaler Vereine gekommen. In Berlin7 entstanden sog. Bezirksvereine, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten befaßten, und zwar in der Hauptsache mit Kommunalfragen8, mit Wohlfahrtspflege und mit Volksbildung. Ihre politische Gesinnung war in der Tradition von 1848 liberal-demokratisch, der Geist aufklärerisch, die soziale Struktur überwiegend kleinbürgerlich, aber auch ein Teil der Bildungsschicht und ein großer Teil der mittleren Unternehmer und des Großhandels gehörten dazu. Hier wurden natürlich auch programmatische und aktuelle politische Fragen im Sinne der Fortschrittspartei behandelt; die Abgeordneten hielten ihre Reden in den Vereinsversammlungen oder in den von den Vereinen veranstalteten - „einberufenen“ - Volksversammlungen, wobei dann dem politischen Stil der Zeit gemäß entsprechende Resolutionen gefaßt wurden. Bei den Wahlen nun waren diese Vereine - wie ihre Vorgänger von 1848 - sozusagen selbstverständlich der Ort, an dem zunächst über die Auswahl der Kandidaten und der Wahlmänner für die Landtagswahlen verhandelt wurde. Im allge281

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meinen wählte man in den Vereinsversammlungen ein Komitee oder sog. Vertrauensmänner, die beauftragt wurden, in Verhandlungen mit den entsprechenden Organen aus anderen Bezirken des Wahlkreises die „Kandidatenfrage vorzubereiten“. Es bildete sich daher ein Wahlkreiskomitee, das die Kandidatenvorschläge, die in den Vereinen diskutiert wurden, sammelte, sich selbst über bestimmte Vorschläge schlüssig wurde und mit den Kandidaten wie mit leitenden Abgeordneten darüber verhandelte. Vor allem aber wurde, ζ. Τ. wiederum nach Vorbildern von 1848, eine allgemeine Wählerversammlung öffentlich einberufen, die über die Bewerber entscheiden, den endgültigen Kandidaten wählen sollte. In einer solchen, von ca. 1000-1500 Personen besuchten Versammlung wurde festgestellt, welche der aufgetretenen und noch auftretenden Bewerber genügend Unterstützung - z. B. 200 Stimmen - fanden, die Kandidaten hielten Reden, man diskutierte darüber, und am Ende wurde darüber abgestimmt, wen die Versammlung zum „alleinigen Kandidaten“ proklamieren wollte. Da die Mehrheit einer solchen Versammlung im allgemeinen die Mehrheit der liberalen Wähler repräsentierte und da die Berliner Wahlkreise bis zum Erstarken der Sozialdemokratie zum sicheren Besitz der Fortschrittspartei gehörten, war mit solchen Vorwahlen meist schon die eigentliche Wahlentscheidung vorweggenommen. Diese Einrichtung der Vorwahlen durch allgemeine Wählerversammlungen beruhte auf zwei Überzeugungen. Die eine entsprach den Verfassungswünschen der Partei: wenn die Wähler in mehr oder minder demokratischer Form die Abgeordneten zu wählen hatten, sollten auch die Kandidaten auf diese Weise von den Wählern ausgewählt werden; was für den Staat erstrebt wurde, sollte auch für die Partei gelten. Diese Vorstellung war objektiv auch durch eine soziologische Notwendigkeit begründet. Innerhalb einer Linkspartei gab es keine selbstverständliche, keine geborene Elite, so daß eine solche sich erst und immer wieder herausbilden und ihre Legitimierung vor den Anhängern aus Wahlen herleiten mußte. Die andere - unausgesprochen bleibende - Überzeugung hing mit dem älteren Begriff der Partei zusammen. Im Grunde glaubten die Liberalen, die einzige und eigentliche Partei zu sein, die allein das ganze Volk gegenüber den Regierenden, den Konservativen und gegenüber „Sonderinteressen“ konfessioneller, ökonomischer oder sozialer Art vertrete. Daher konnten Volksentscheidung und Parteientscheidung bei der Vorwahl identifiziert werden. Diese Überzeugung war so allgemein und die Grenze zwischen Partei und dem Ganzen der Wählerschaft war noch so fließend, daß bei solchen Versammlungen sich auch Gruppen und Personen um eine Kandidatur für die Fortschrittspartei ernsthaft bewarben, die wie die zünftlerischen Handwerker nach ihrem dominierenden Interesse zu den Konservativen gehörten oder wie Johann Jacoby schon zu den Sozialdemokraten neigten. Natürlich war die Fiktion einer einheitlichen Wählerschaft auch in Berlin nicht absolut durchzuhalten, die Majorität der Versammlung hatte keine Autorität zu verhindern, daß die Minoritäten, sofern sie extreme Flügel repräsentierten, sich verselbständigten und für ihre Kandidaten weiter agitierten, noch 282

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weniger konnte sie ausschließen, daß sich selbständige Komitees für bestimmte Kandidaturen bildeten. Die Notwendigkeit aber, einen Kandidaten demokratisch zu legitimieren, war so selbstverständlich, daß auch gegnerische Gruppen Volksversammlungen beriefen, um einen Kandidaten aufzustellen, wobei freilich das Wesentliche, die Auswahl unter mehreren, wegfiel, indem man von vornherein nur die Anhänger eines bestimmten Kandidaten öffentlich einlud und etwaige Gegner mit Geschäftsordnungsmitteln ausmanövrierte. Trotz solcher Sonderbestrebungen konnten aber die allgemeinen Wählerversammlungen und die Vorstellung von der eigentlichen Einheit von Volk und Partei aufrechterhalten werden, solange der politische Wille, die gesellschaftliche Struktur und die ökonomischen Interessen der Wählerschaft und insbesondere der Versammlungsteilnehmer der politischen Richtung der Fortschrittspartei entsprachen. Die Wähler, die an solchen Versammlungen teilnahmen, waren durch die fortschrittliche Agitation und durch die Erfahrung der Konfliktszeit politisiert, die Verfassungsfragen hatten auch bei den potentiellen Gegnern des wirtschaftlichen Liberalismus - dem absinkenden Kleinbürgertum und dem noch kleinen liberalen Teil der Arbeiterschaft - absoluten Vorrang. Zudem waren die Versammlungen zunächst ganz überwiegend von Selbständigen besucht, Arbeiter und andere Abhängige hatten normalerweise keine Zeit dazu, außerdem war der dort herrschende Stil bürgerlicher Vereinsversammlungen ihrem Auftreten nicht günstig. Darum war eine den Parteiinteressen widersprechende starke Oppostion nicht zu erwarten; die lautstarken radikalen Demokraten hatten nicht genügend Anhänger, um entscheidend ins Gewicht zu fallen. Soweit es sich um unbedeutende Richtungsdifferenzen oder um Personenfragen handelte, ließ sich meist ein Ausgleich erzielen. Vor allem hatten das einladende Komitee und die führenden Mitglieder der Bezirksvereine, wenn sie in ihrer Mehrheit einig waren, ein natürliches Übergewicht in der Versammlung. Wenn sie sich in den Vorverhandlungen auf einen Vorschlag geeinigt hatten, wurde er im allgemeinen mit Mehrheit angenommen, zumal sich solche Vorschläge auf der von der Mehrheit gebilligten Mittellinie hielten und meist Leute betrafen, die durch ihre Reden in den Vereinen genügend großes Prestige gewonnen hatten. Ließ sich ein solcher Vorschlag nicht sogleich durchsetzen, so wurde die Versammlung vertagt, damit man inzwischen „Einigungsverhandlungen“ führen könne, die einflußreichen Abgeordneten wirkten dann im Sinne des Komitees und versuchten, Gegenkandidaten zum Rücktritt zu bewegen; in einer neuen Versammlung drang der Führungsvorschlag normalerweise schließlich durch. Die Funktion einer solchen Versammlung, den Kandidaten auszuwählen, war also meist nur formal. Faktisch legitimierte sie im allgemeinen nach lebhaften Diskussionen den von den führenden Leuten Vorgeschlagenen als Kandidaten und diente so dazu, die Autorität dieser Führer bei den Wählern zu verstärken. Immerhin kam die Meinung der Parteianhänger doch zur Geltung, die Vorschläge mußten sie von vornherein ernstlich in Rechnung stellen, eine große Opposition konnte man nicht riskieren, der Erfolg eines Gegenkandida283

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ten war zwar unwahrscheinlich, aber doch möglich. Zudem war die Führungsschicht wenig abgeschlossen, mit einer geschickten Rede konnte man leicht erreichen, in das von einem Verein oder einer Versammlung ad hoc gewählte Komitee hineinzukommen. Im ganzen blieb darum jedenfalls ein demokratischer Zug auch in der Praxis dieser Vorwahlen gewahrt. Diese Einrichtung aber ist Episode geblieben, sie ist Ende der siebziger Jahre zurückgegangen und ihrer eigentlichen Funktion entkleidet worden. Maßgebend dafür war der Aufstieg anderer Parteien, insbesondere der Sozialdemokratie. Da Versammlungstätigkeit und Agitation der Sozialdemokraten durch Polizeimaßnahmen stark gehemmt waren, benutzten sie die Versammlungen der Fortschrittler, um ihre Sache zu vertreten und ihre Kandidaten zu proklamieren, wobei es meist zu turbulenten Szenen kam. Zur Abwehr gingen die Fortschrittler dazu über, Einlaßkarten durch bestimmte Mitglieder der Bezirksvereine auszugeben - jeder solche Vertrauensmann erhielt vier Karten -, die unbeschränkte Öffentlichkeit verschwand, die Zusammensetzung der Versammlungen wurde manipulierbar, und diese verloren so an Autorität. Das war von Bedeutung, weil seit der Mitte der siebziger Jahre in den Kandidatenfragen zwischen den Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaftlern und dem Gros der gewerkschaftsfeindlichen, sozialpolitisch reaktionären Fortschrittler starke Gegensätze bestanden; die bürgerliche Mehrheit versuchte, die Kandidaturen von Arbeitern und Gewerkschaftsfreunden zu verhindern, die Gewerkschaftler kritisierten die dabei angewandten Praktiken im Abhalten von Versammlungen. Seit den Wahlen von 1878 endlich veranlaßte die Rücksicht auf allmählich entstandene nationalliberale Kreise, die zum Sieg über die Sozialdemokraten notwendig waren, die führenden Fortschrittler, radikale Beschlüsse ihrer Anhänger zu verhindern oder rückgängig zu machen9. Die Schwierigkeiten im Versammlungsablauf wurden durch das Sozialistengesetz und die aufkommende antisemitische Bewegung so erhöht, daß es nach 1878 eigentlich nicht mehr zu Vorwahlen kam. Die gelegentliche Akklamation einer Versammlung zu einer Kandidatur hatte keine wirkliche Bedeutung mehr; die Kandidatenauslese ging allein auf die Bezirksvereine oder auf die aus ihnen hervorgegangenen sogenannten Fortschrittsvereine und deren Organe über, wobei sich die eigentliche Entscheidung immer mehr auf die Vorstände und die Berliner Parteizentrale verlagerte. Die demokratische Volksbewegung versandete im Vereinsbetrieb. Das Auftreten starker anderer Parteien, parteiinterne Differenzen und die Notwendigkeit, in einem Wahlkampf mit mehreren Parteien taktische Rücksichten zu nehmen, haben so das Institut der Vorwahlen in öffentlichen Versammlungen zu Fall gebracht. Trotz des episodischen Charakters kann aber die Wirkung dieses Systems nicht übersehen werden. Es hat, wenn auch nicht so ausgebildet wie in Berlin, in einer Reihe von Städten bestanden, zumal in den Hochburgen des Fortschritts im Osten, wo die Wählerversammlungen auch über Wahlbündnisse mit den Nationalliberalen zu entscheiden hatten. Ausnahmsweise haben sogar zu autoritärer Struktur neigende Parteien, wie das Zentrum, formell solche Vorwahlen veranstaltet. Wichtiger jedoch ist die indi284

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rekte Wirkung. Mindestens die Liberalen hielten es im allgemeinen in größeren Städten für notwendig, ihre Kandidaten irgendwie als Vertreter ihrer Anhänger zu legitimieren. Darum ließen sich gelegentlich aus eigener Vollmacht zusammengetretene Komitees durch Volksversammlungen nachträglich wählen und mit dem Wirken für eine bestimmte Kandidatur beauftragen, d. h. sie ließen sich bestätigen. Zumeist erschienen allerdings den führenden Kräften Wählerversammlungen inopportun und zu riskant, daher bildete man Vereine der Anhänger, in deren Versammlungen die Kandidaten gewählt wurden. Natürlich waren solche Vereine häufig nichts anderes als das demokratische Feigenblatt einer kleinen Honoratiorengruppe, immerhin bot auch diese leere Form Ansatzpunkte für eine spätere Weiterentwicklung. Am ausgeprägtesten war, und zwar schon während der Periode der Vorwahlen, die Vereinsbildung innerhalb der Fortschrittspartei, hier fehlte, wie gesagt, eine geborene Elite, die Ideologie verlangte volkstümliche Grundlagen auch innerhalb der Partei, der oft kleinbürgerlich-doktrinäre Geist der Anhänger und ihre Neigung zu Programmdiskussionen fanden im Verein ihren angemessenen Raum, der starke Druck von rechts und links und von Seiten der Regierung drängte zu einer Sammlung der Anhänger, um sie durch organisierte Agitation bei der Partei festzuhalten. Diese Vereinsbildung innerhalb der Fortschrittspartei verstärkte die Wirkung, die von der Vorstellung der notwendigen demokratischen Legitimierung eines Kandidaten ausging: in Gegenden, in denen die fortschrittlichen Vereine eine Rolle spielten, paßten sich auch andere Parteien, vor allem die Nationalliberalen, aber auch die Konservativen, notgedrungen und in Rücksicht auf das allgemeine Wahlrecht den Methoden des Gegners an und bildeten Vereine, die formal bei der Kandidatenauswahl mitwirkten, und zwar zumal dort, wo eine klar ausgeprägte Honoratiorenschichtung nicht vorhanden war. Jedenfalls hat in Deutschland die Vereinsbildung innerhalb der bürgerlichen, vor allem der liberalen Parteien schon sehr früh eine Rolle gespielt, im Gegensatz zu anderen Ländern, wo sie im allgemeinen erst durch die Organisationsweise der Arbeiterparteien angeregt worden ist. Natürlich wird man diesen sozusagen demokratischen Einfluß nicht überschätzen dürfen, er betraf vornehmlich die Form, das Wesen der Organisation wurde davon nur modifiziert; in den ländlichen Wahlkreisen, die die Mehrzahl im Reich bildeten, waren solche Organisationen fast unmöglich, zudem waren für die Vereinsbildung auch noch andere Motive maßgebend, die in der politischen und gesellschaftlichen Verfassung Deutschlands begründet waren und daher den Vereinen eine andere Struktur gaben. 2. Die demokratische Organisation mit Vereinen, Wählerversammlungen und Vorwahlen war zwar der erste ausgebildete Typ einer Parteiorganisation in den Wahlkreisen, und sie ist zudem durch ihre Nachwirkungen besonders wichtig. Aber diese Form war auf wenige Gebiete, die Großstädte und die Städte des preußischen Ostens, beschränkt und ist nach kurzer Zeit verfallen. Der später und langsamer entstandene Organisationstyp dagegen ist allgemein verbreitet gewesen und hat trotz mancher Modifikationen lange Zeit, zum Teil bis 285

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1918, bestanden: es war die Organisation auf der Basis örtlicher Honoratiorengruppen. Diese Organisation war, da sie aus gleichartigen Motiven entstand, bei allen Parteien ähnlich, auch in der Fortschrittspartei war sie seit dem Ende der demokratischen Organisationsform vorherrschend. Wesentliche Verschiedenheiten in der Organisation haben sich zwischen den einzelnen Parteien erst nach 1890 ausgebildet, aber auch bei dieser Differenzierung blieben wichtige Elemente der Honoratiorenorganisation in allen Parteien erhalten. Die Honoratiorenorganisation war wesentlich Wahlorganisation. Ursprünglich wurden die Kandidatenaufstellung und die Wahlvorbereitung von einigen wenigen aus eigener Initiative und ad hoc zusammengetretenen Honoratioren einer bestimmten Parteirichtung in die Hand genommen. Sie bildeten „das Komitee“. Diejenigen, die zu dieser Gruppe gehörten, waren entweder durch ihre gesellschaftliche, auf dem Lande auch machtmäßige Stellung klar herausgehoben, wie der Adel und die Großbourgeoisie, oder sie waren durch besondere Leistungen im Sinne der Weltanschauung der Partei ausgezeichnet, im Zentrum durch Tätigkeit im katholischen Vereinswesen, beim Fortschritt durch Tätigkeit in den Kommunen oder in Handwerker- und Bildungsvereinen, oder es waren die, die Interesse an der Politik sowie Rede- und Verhandlungsgeschick besaßen, ζ. Β. Rechtsanwälte und Redakteure. Die Zahl der politisch aktiven bürgerlichen oder ausnahmsweise bäuerlichen Honoratioren war zunächst nicht so groß, als daß sich bei der Komiteebildung Schwierigkeiten hätten ergeben können. Wer aus der Oberschicht oder dem gebildeten Mittelstand einige Initiative in politischen Dingen zeigte, war dabei oder wurde mit herangezogen. Eine starke Konkurrenz verschiedener Gruppen um die Kandidatenaufstellung war schon deshalb nicht häufig, weil das Angebot an Kandidaten, die Neigung, ein Mandat zu übernehmen, sehr begrenzt war. Die Diätenlosigkeit des Reichstags begünstigte in dieser Hinsicht die Honoratiorenherrschaft, und da die Unternehmer und großen Kaufleute selten gewillt waren, ins Parlament zu gehen, war auch die Einheit eines solchen Komitees zunächst nicht oft bedroht. In Wahlkreisen, die zum sicheren Besitz einer Partei gehörten, in denen die politische Aktivität gering war und in denen es eine klare Honoratiorenschichtung gab, wie in manchen Wahlkreisen des Zentrums oder der Konservativen, hat sich die organisationslose Form des Wahl- und Parteibetriebes noch lange gehalten. Im allgemeinen mußte sich aber ein ad hoc gebildetes Honoratiorenkomitee stabilisieren, seine Zusammensetzung fixieren und sich auf einen größeren Kreis von Anhängern erweitern. Das war zunächst aus wahltechnischen Gründen notwendig. Die Reichstagswahlkreise bestanden meist aus zwei oder drei landrätlichen Kreisen, sie hatten also mehrere Mittelpunkte, die Kreisstädte; die jeweiligen Honoratiorengruppen hatten nicht unmittelbar miteinander Fühlung, zwischen Stadt und Land konnte eine latente Spannung bestehen. Damit die Reibungen zwischen den Kreisen bei den Kandidatenaufstellungen vermieden werden konnten, mußte man eine feste Form für die Zusammenarbeit der in den Kreisen bestehenden Gruppen finden. Man mußte entweder ein Komitee 286

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für den ganzen Wahlkreis bilden und dabei die Vertretung der einzelnen Kreise nach Zahl oder auch nach Personen einigermaßen festlegen, oder man mußte jeweils zwischen den Kreisen verhandeln, und dabei mußte feststehen, wer zu verhandeln hatte, an wen sich etwaige Partner zu wenden hatten. Die Parteianhänger, auch die Honoratioren, mußten für diesen Fall eine anerkannte und einigermaßen bestimmte Führung haben. Eine solche wurde auch dann erforderlich, wenn man sich mit anderen Parteien verständigen mußte, wenn etwa in einem umstrittenen preußischen Landtagswahlkreis die zwei oder drei Mandate von zwei Parteien untereinander verteilt werden sollten. Aus diesen technischen Notwendigkeiten ergab sich eine Stabilisierung der Komitees und ihrer Zusammensetzung, sie gewannen eine gewisse Kontinuität. Der Wahlbetrieb verlangte ferner eine Anzahl freiwilliger Helfer. Auch wo man mit einem ganz geringen Maß von Agitation auskam, mußten, da es keinen amtlichen Wahlschein gab, Wahlzettel mit dem Namen des Kandidaten gedruckt und verteilt werden; man brauchte daher in jedem Stadtteil und insbesondere in jedem Dorf jemanden, der die Verteilung der Zettel übernahm oder durch andere ausführen ließ. Dazu kam schon sehr früh in umkämpften Wahlkreisen die Praxis, säumige Wahlberechtigte, von denen man vermutete, daß sie für die eigene Partei stimmen würden, zum Wahllokal zu holen: das war die Aufgabe der sogenannten Schlepper. Wo Landräte und Gemeindevorsteher oder der Klerus einer Partei zur Verfügung standen, wie es bei den Konservativen im Osten und beim Zentrum der Fall war, brauchte die Partei für solche Helfer nicht zu sorgen; ohne diese Hilfe dagegen mußte das Wahlkomitee einen solchen Kreis von Leuten heranziehen. Man nannte sie „Vertrauensmänner“, und sie spielten vor allem für die Organisation auf dem Lande eine wichtige Rolle. Sie übernahmen neben den wahltechnischen Aufgaben auch andere, so das Abhalten von Wahlversammlungen und deren polizeiliche Anmeldung oder die Verteilung von Flugblättern, jedenfalls in den Wahlkreisen, in denen ein wirklicher Wahlkampf stattfand. Vor allem dienten sie dazu, die Wahlparolen für die Partei, für ihr aktuelles Programm und für den bestimmten Kandidaten zu verbreiten und zugleich die Führer in Fühlung mit den Wählern der Partei zu halten, deren durchschnittliche Meinung sie entweder selbst repräsentierten oder über die sie jedenfalls informieren konnten. Weil sie auf diese Weise zwischen Honoratiorenführung und Wählern vermittelten, gab es auch bei den Konservativen und im Zentrum, hier allerdings erst seit den 80er Jahren, in einem Teil der Wahlkreise solche Vertrauensleute. Aus dieser mitwirkenden Funktion ergab sich natürlich mit der Zeit ein gewisses Mitspracherecht. Vor den Wahlen wurden Versammlungen der Vertrauensmänner abgehalten, in denen man sich über die Aufstellung eines Kandidaten „besprach“, normalerweise proklamierte das Komitee einen Kandidaten, dem die Versammlung durch Akklamation zustimmte. Das Komitee mußte diese Zustimmung bei seinem Vorschlag in Rechnung stellen, theoretisch war eine Ablehnung möglich und gelegentlich kam es auch wirklich dazu, vor allem, wenn eine entschlossene Minorität der Führung sich auf eine elementare Volks287

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Stimmung stützen konnte; selbst in einer so autoritätsbestimmten Partei wie dem Zentrum kam es zu solchen Vorgängen. Allerdings waren das Ausnahmen, die Möglichkeiten, die Zusammensetzung einer Versammlung durch Ort und Datum, durch die Art der Einladung oder durch Kooptation zu manipulieren, waren gegeben, im allgemeinen waren auch Ansehen und technische Überlegenheit der Führung groß genug, ihren Willen durchzusetzen. Aber die Führung mußte zugleich den guten Willen der Vertrauensmänner, auf deren Mithilfe sie ja angewiesen war, erhalten, sie mußte für ihre Entscheidungen eine genügende Resonanz zu finden suchen. Diese Rücksicht war bei den Liberalen notwendiger und darum stärker als im Zentrum, sie wuchs in beiden Parteien an Bedeutung, seitdem die Politisierung der Bauernschaft durch Zollpolitik und Agrarkrise die Funktion der Vertrauensmänner auf dem Lande aktivierte. Bei den Konservativen dagegen spielten die Vertrauensmänner eine ganz geringe Rolle, sie waren lediglich Hilfsapparat, nur in Westfalen hatten sie eine selbständigere Stellung. Die Vertrauensmänner wurden von oben ausgewählt, einzelne dann gelegentlich auch kooptiert, sie abzusetzen war nicht möglich. Bei der Auswahl berücksichtigte man im Parteiinteresse Leute, die ein gewisses Ansehen und darum einigen Einfluß in ihren Kreisen hatten. Zugleich kam die Honoratiorenführung dem Prestigebedürfnis besonders des kleinen Mittelstandes, aber auch der politisch einflußlosen Bildungsschicht entgegen, indem diesen Schichten ein formelles, und wesentlich nur formelles, Mitspracherecht eingeräumt wurde. Dadurch verschaffte sich die Führung zugleich einen gewissen populären Anstrich, indem ihr ein Gremium beigegeben war, in dem verschiedene Bevölkerungskreise der Mittelschichten vertreten waren, wenigstens optisch sollte das Odium einer einseitigen Klassen- oder Standesführung vermieden werden. Häufig waren die in Preußen bei den Landtagswahlen fungierenden Wahlmänner die gegebenen Vertrauensmänner der Parteien. Die Parteiführer konnten, als sie nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts ihre Basis verbreitern mußten, die zum Teil vorparteiliche, zum Teil parteibestimmte Existenz einer solchen politisch herausgehobenen Gruppe nicht übergehen. Die Auswahl dieser Wahlmänner, die von seiten der Wähler wie der Honoratioren erfolgt war, entsprach etwa den Anforderungen an die Vertrauensmänner, die Klasseneinteilung sicherte zudem das klare Übergewicht der Honoratioren10. Die Partei in einem Wahlkreis konnte also erstens als Komitee oder zweitens als Vertrauensmänner-Körperschaft organisiert sein. Von einer Parteiorganisation im engeren Sinne mit Mitgliedern, freier Werbung und kontinuierlicher Tätigkeit kann in diesen Fällen noch nicht die Rede sein; es handelte sich nur darum, daß festgelegt war, wer an der Wahlorganisation und an der Kandidatenaufstellung beteiligt war. Die Partei konnte aber auch drittens als Wahlverein auftreten. Neben dem demokratischen Vorbild und dem von ihm ausgehenden Anstoß gab es noch andere Motive, die zur Vereinsbildung führten. Die Partei als der durch eine gemeinsame politische Überzeugung verbundene Teil der Bürgerschaft war in den Städten größer als die kleine Zahl der politisch 288

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aktiven und initiativen Honoratioren. Diese Anhänger waren gemäß der Tradition der deutschen Parteibildung an politischen Ideen, an Programm- und Verfassungsfragen orientiert, es lag nahe, daß sie sich in politischen Vereinen zur Diskussion und zur gegenseitigen Bestätigung ihrer Überzeugungen zusammenfanden und dann bei den Wahlen tätig wurden. Die noch fließende Struktur der deutschen Parteien und ihrer Organisationen, das Entstehen solcher Vereine aus der Initiative der Gesinnungsgenossen, die von den Abgeordneten oder der Fraktion höchstens angeregt wurde, führten dazu, daß solche Vereine sich häufig nach entsprechend langen Diskussionen ein eigenes Programm gaben und als Zweck deklarierten, Kandidaten auf dieses Programm hin zu wählen. Programm und Namensgebung eines solchen Vereins nahmen zu Anfang der siebziger Jahre noch keinen Bezug auf eine Fraktion, der Begriff der Partei stand auch hier durchaus über den Fraktionsunterschieden. Daher waren die liberalen Vereine dieser Zeit meist gesamtliberal, d. h., sie umfaßten Anhänger der nationalliberalen wie der fortschrittlichen Fraktion, dem Kandidaten wurde ein „politisches Glaubensbekenntnis“ abverlangt, der Anschluß an eine Fraktion stand ihm formell frei. Weiter rechts gab es auch manche „reichstreue“ Vereine, in denen der Unterschied zwischen Freikonservativen und Nationalliberalen aufgehoben war. Die Differenzierung der Parteivereine gemäß den Fraktionsunterschieden, d. h. vor allem die Spaltung oder Schwenkung der gesamtliberalen Vereine, setzt erst Ende der siebziger Jahre ein, in manchen Landesteilen, so in Mecklenburg, haben gesamtliberale Vereine noch bis nach 1900 fortbestanden11. Parteivereine entstanden nicht nur aus den Bedürfnissen der Gesinnungsgemeinschaft, sondern auch aus den Erfordernissen des Parteienkampfes. Die liberalen Mittelparteien, vor allem die Nationalliberalen, waren stärker als andere Parteien durch den Abfall von Anhängern bedroht, da die mit der Partei Unzufriedenen die Möglichkeit hatten, zu den relativ nahen Nachbarparteien überzugehen. Gegenüber dieser Gefahr der Absplitterungen mußte die Partei auf ihren Zusammenhalt bedacht sein. Daher war es günstig, die führenden Anhänger, den weiteren Honoratiorenkreis, in einer Organisation zusammenzufassen, sie durch Mitwirkung bei der Kandidatenauswahl und beim Abschluß von Wahlbündnissen zu binden. Gegensätze konnten in einem Verein eher zu einem Ausgleich gebracht werden, der von allen akzeptiert wurde. Eine Führung brauchte gegenüber den vielen, voneinander abweichenden Strömungen in bürgerlich-liberalen Kreisen und gegenüber der breiteren Schicht der Honoratioren eine gewisse Repräsentanz, eine allseitig anerkannte Autorität. Wo dieselbe in der Mannigfaltigkeit städtischer Verhältnisse nicht mehr gegeben war, genügte die informelle Zusammensetzung der Komitees nicht mehr, die Wahl durch einen Verein legitimierte stärker. So konnte in der Form des Wahlvereins eine nicht eindeutig gestufte und leicht divergierende Führungsschicht sich konzentrieren und zu anerkannten Entscheidungen kommen. Der Verein war ein Ausweg, wenn die Anzahl der auf Mitbestimmung drängenden Honoratioren zu groß wurde. 289 19 Nipperdey © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Endlich konnten auch die Körperschaften der Vertrauensmänner oder die Komitees als Vereine firmieren, die lockeren Gruppen institutionalisierten und konzentrierten sich, die Form des Vereins war besonders für größere Gruppen bequem und verlieh ein gewisses bürgerlich-volkstümliches Aussehen. Die konservativen Wahlvereine auf dem Lande zum Beispiel waren nichts anderes als durch einige völlig einflußlose Pfarrer, Handwerker und vielleicht Juristen erweiterte feudale Komitees. Die Tätigkeit der Vereine war keine andere als die der Komitees, sie bezog sich allein auf die Wahlen, zwischen den Wahlen gab es eigentlich keine Aktivität. Formell beruhten die Vereine auf freier Mitgliederwerbung mit der gelegentlichen Einschränkung, daß Neueintretende der Bürgschaft eines Mitgliedes bedurften; im allgemeinen waren sie aber nicht darauf erpicht, Massen als Mitglieder zu gewinnen, sie hatten keine Expansionstendenz. Die Mitgliedschaft reichte zwar über die akademische und großbürgerliche Schicht hinaus, blieb jedoch auf einen weiteren Kreis der Honoratioren, der Leute von Bildung und Besitz, beschränkt. Zudem war der Begriff „Mitglied“ recht unbestimmt. Es gab offenbar keine Mitgliedskarten und keine Beiträge, andererseits war allerdings die Teilnahmeberechtigung an der Generalversammlung fixiert; wahrscheinlich genügte die persönliche Kenntnis der Mitglieder untereinander. Die Generalversammlung wählte nominell den Vereinsvorstand, das bedeutete normalerweise, daß sie das ursprüngliche und sich kooptierende Komitee bestätigte; ähnlich bedeutete ihr Recht, den Kandidaten zu proklamieren, zumeist Zustimmung zum Vorschlag des Vorstandes. Schon wegen des Kandidatenmangels verfügten etwaige Kritiker nicht über einen Gegenkandidaten. Trotzdem gab es natürlich bei der Kandidatenaufstellung und bei Wahlbündnissen Spannungen, und der Vorstand mußte, wenigstens in liberalen Vereinen, bei seinen Beschlüssen Rücksicht auf die Stimmung der Mitglieder nehmen, er konnte nicht nur theoretisch - desavouiert werden. Sein Verhältnis zu den Mitgliedern entsprach in dieser Hinsicht dem eines Komitees zu den Vertrauensmännern, es war vielleicht um einen Grad weniger autoritär. In den meisten Fällen repräsentierte er die Mitglieder aber auch so, daß sie sich seinen Vorschlägen ohne weiteres anschließen konnten. Der Einfluß der Mitglieder war also vornehmlich indirekt. Eine reale Entscheidungsfunktion hatten sie darüber hinaus nur dann, wenn es einen Konflikt in der Führung gab; bei den Fragen, ob ein ursprünglich gesamtliberaler Verein sich zu einer Fraktion bekennen sollte, ob man etwa bei der Sezession sich der neuen Partei anschließen oder zu welcher der beiden freisinnigen Gruppen man sich 1893 halten sollte, und auch bei den Spaltungen eines solchen Vereines gab die Mehrheit der Mitglieder den Ausschlag, welcher Gruppe im Vorstand der Verein als Institution folgte. Endlich war für das einzelne Mitglied der Aufstieg in die Führungsgruppe, den mehr oder minder großen Vorstand, bei einiger Aktivität und einem gewissen Maß von Sozialprestige möglich, wenn es sich nur einigermaßen der herrschenden geistigen und politischen Konvention anzupassen wußte. Der Verein konnte eine Institution für den Einstieg in die Politik sein. 290

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Alle Organisationsformen - Wahlkomitee, Vertrauensmännerversammlung, Wahlverein - vertraten entschieden die Unabhängigkeit eines Wahlkreises gegenüber der Fraktion oder der Parteileitung. Die Stellung zu dem Abgeordneten des Wahlkreises war unterschiedlich; es gab Wahlkreise, in denen der Abgeordnete der eigentliche Parteiführer war und blieb. Normalerweise war aber die Organisation auch dem Abgeordneten gegenüber unabhängig. Seiner Wiederaufstellung war niemand gänzlich sicher, wer durch sein Abstimmungsverhalten stark von der Meinung im Lande abwich, mußte mit Opposition rechnen, bei scharfen Gegensätzen konnte er gestürzt werden12. Die Kandidatenaufstellung und -Wiederaufstellung blieb auch faktisch in der Hand der Wahlkreisorganisationen. Wenn man von der Erfüllung der technischen Notwendigkeiten bei den Wahlen und einem Mindestmaß von Propaganda absieht, waren dagegen alle diese örtlichen Parteiorganisationen zur Führung eines intensiven Wahlkampfes wenig geeignet, sie waren mehr darauf eingerichtet, die führenden Anhänger der eigenen Partei zu koordinieren, als darauf, andere Parteien zu bekämpfen. Schon wegen ihrer diskontinuierlichen Tätigkeit war ihre Kraft gering. Plötzliche Reichstagsauflösungen und neue Wahlen trafen sie immer unvorbereitet, zumeist mußten sie sich erst neu konstituieren und, wenn man den bisherigen Abgeordneten oder Kandidaten nicht wieder aufstellen konnte, in Verhandlungen über die Kandidatenaufstellung eintreten. Diese waren wegen der Zahl der zu berücksichtigenden Personen und Interessen und auch wegen der Schwierigkeit, geeignete Kandidaten zu finden, meist langwierig; die Partei konnte dann erst verhältnismäßig spät in den Wahlkampf eintreten. Auch die Propagandatätigkeit und -Wirkung der Organisationen war dürftig. Für Konservative und Zentrum ergaben sich daraus keine Probleme, weil sie sich auf den staatlichen oder kirchlichen Apparat stützen konnten. Die Fortschrittspartei dagegen war, in ständiger Opposition, eher als andere Parteien auf sich selbst angewiesen, sie mußte darauf aus sein, Oppositionsstimmungen durch eine aktive Organisation aufzufangen und in Wahlerfolge umzusetzen. Darum kam es auf festen Zusammenhang und genügend große Mitgliederzahl eines Vereins, auf Agitationstätigkeit und auf rasche Aktionsfähigkeit an. In dieser Beziehung hat Eugen Richter, der einen starken Sinn für den Kampfwert lokaler Organisationen besaß, ständig auf deren Ausbau gedrängt. Solche Bemühungen hatten freilich nur teilweise Erfolg, weil die Städte, in denen allein ein solcher Organisationsausbau in Frage kam, allmählich in den Besitz der Sozialdemokraten übergingen. Am meisten machte sich die Schwäche der Organisationen bei den Nationalliberalen geltend. Da sie eine starke Gegnerschaft der Regierung bei den Wahlen in den 70er Jahren kaum in Betracht zogen, bildeten sie ihre Organisationen nicht zu Kampf- und Propagandazwecken aus; auf dem Lande oder in kleinen Städten hing die Existenz der Partei oft von ganz wenigen Personen ab, denn der Zusammenhang mit den Vertrauensmännern war nur sehr lose und deren Parteistellung nicht immer eindeutig bestimmt. Die Wahlniederlagen der Nationalliberalen seit Bismarcks Bruch mit ihrer Partei waren mit durch 291 19* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

diese organisatorische Schwäche bedingt. Der Erfolg der Partei bei den Kartellwahlen 1887 hat zunächst noch verhindert, daß aus den Niederlagen Konsequenzen für die Organisationsverfassung gezogen wurden. Die Mängel der Organisation im Parteienkampf waren natürlich nicht zufällig. Eine Politisierung von Wählermassen durch die Agitation einer Partei oder gar ein Hereinziehen solcher Massen in die Organisation, eine Expansion der Parteien durch Mobilisierung von Massen - das entsprach nicht dem Geist der Honoratiorenpolitik, nicht den sozialen und ökonomischen Interessen und weder der konservativen noch der liberalen Idee von Politik; denn damit wäre die Möglichkeit verbunden gewesen, daß diese Kreise Einfluß auf die Politik der Partei hätten nehmen können. Man kam - mit wenigen Ausnahmen sozusagen gar nicht auf den Gedanken, einer Partei eine feste Massenbasis zu schaffen. Für die liberalen Parteien, die weniger selbstverständlich mit einem ständigen Rückhalt bei den Wählern rechnen konnten als die Konservativen und das Zentrum, waren auch die objektiven Voraussetzungen zu einer solchen Politisierung nach der Reichsgründung nicht günstig. Nach der Erfüllung der nationalen und dem allmählichen Versanden der liberalen Forderungen waren Wählermassen mit parteipolitischen, verfassungspolitischen Parolen nicht mehr dauernd zu gewinnen, zumal das Prestige der Regierung beim Bürgertum durch ihre Erfolge gesteigert war und die bürgerliche Aktivität sich auf das Wirtschaftsleben konzentrierte. Wirtschaftliche und soziale Strömungen konnten die Liberalen nach ihren programmatischen Überzeugungen nicht in großem Stil aufrufen oder benutzen. Die antiklerikale Massenströmung, auf der viele Wahlerfolge der Nationalliberalen beruhten, war als Organisationsgrundlage für eine auf das Ganze gerichtete Partei wenig geeignet. Endlich war trotz der auftretenden Schwierigkeiten die Notwendigkeit für die Partei noch nicht zwingend, durch Agitation oder gar Organisation Massen in die Politik einzubeziehen; die Autorität der Honoratioren, die geringe Werbung und die jeweils aktuellen Parolen genügten noch, um die Wähler festzuhalten oder zu gewinnen, in den meisten Wahlkreisen wurde der Wahlkampf noch nicht intensiv geführt. So sprachen die subjektiven und objektiven Bedingungen noch nicht gegen das Honoratiorensystem, die Zeit der Massenorganisationen war noch nicht gekommen. Immerhin waren die liberalen Vereine Ansätze oder Vorformen, die für eine Organisation der Parteianhänger benutzt werden konnten. Die Aufgabe einer Parteiorganisation, der Partei einen größeren werbenden Anhang zu sichern und als Kampfinstrument zu dienen, war für die von autoritären Prinzipien bestimmten Parteien noch nicht gestellt, bei ihnen genügten die außerparteilichen Machtmittel. Für die liberalen Parteien war sie allmählich stärker hervorgetreten, ohne schon eminent dringlich zu werden. Die Fortschrittspartei hat sie zu lösen versucht, die Nationalliberalen sind über Ansätze nicht hinausgekommen. Die andere Aufgabe der damaligen Parteiorganisation, Einhelligkeit über die Kandidatenaufstellung und die Wahlpolitik zu erzielen und eine etwa fehlende klare Honoratiorenordnung durch Organisation zu ersetzen, wurde durch die entstandenen Formen der Organisation im Wahlkreis 292

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gelöst. Neben das zunächst allein führende Komitee trat ein weiterer Kreis von Honoratioren, der einen immerhin indirekten Einfluß auf die Führungsentscheidungen ausübte und der Führung eine gewisse Repräsentanz verleihen konnte. Das Verhältnis von Führung und Anhänger hing dabei weniger von der Organisationsform ab als von der sozialen Schichtung und der Grundhaltung einer Partei. 3. Die Notwendigkeiten des Wahlbetriebs haben zur Organisation der Partei im Lande in Wahlkomitees und Wahlvereinen geführt. Zugleich haben diese Notwendigkeiten die Anfänge einer zentralen Organisation durch die Fraktion, die Partei im Parlament, veranlaßt. Es gab für die Wahlen Aufgaben, die von den meisten Parteien nur zentral zu lösen waren: die Verbreitung der Wahlaufrufe der Fraktionen, die Herausgabe von Druckschriften und Flugblättern in den auf eigene Werbung angewiesenen Parteien und die Vermittlung von Kandidaten. Diese war wegen des vielfach, besonders bei den Liberalen, herrschenden Kandidatenmangels in einzelnen Wahlkreisen wichtig, zumal den führenden Abgeordneten meist mehrere Mandate angetragen wurden, so daß eine gewisse Koordination notwendig erschien. Dazu kam das Interesse der Fraktion, neue Kandidaturen für die Partei in gegnerischen Wahlkreisen anzuregen. Für diese Zwecke wurde ein Ausschuß gebildet, der sich durch Kooptation ergänzen konnte und der sich selbständig als Zentralwahlkomitee konstituierte13. Solche Komitees bestanden aus Parlamentariern, ihre Zusammensetzung war sehr wechselnd, immerhin hatten sie für die Wahlzeit ein Büro; sie bildeten die ersten Zentralstellen für eine außerparlamentarische Aktivität der Parteien, sie versuchten zuerst eine ständige Verbindung mit den Wahlkreisen zu halten. Formal konstituierten sich diese Zentralwahlkomitees teilweise auch als Vorstände oder Ausschüsse eines „Zentralwahlvereins“ der Partei, der auch im Lande Mitglieder hatte14, aber faktisch handelte es sich bei einem solchen Vorstand immer um eine Einrichtung der 'Parlamentarier. Die Organisation dieser Zentralen war sehr lose, fast immer lag die eigentliche Aktivität bei einem oder zwei Abgeordneten; weil Ende der 70er Jahre H. Rickert die Korrespondenz der nationalliberalen Fraktion mit den Wahlkreisen führte, fand die Sezession Rückhalt im Lande, während die Verbindung der Nationalliberalen mit nicht parlamentarisch vertretenen Wahlkreisen abriß. Zentralwahlkomitee und Wahlkomitee oder Wahlverein im Wahlkreis waren die Grundelemente der Parteiorganisation. Eine institutionelle oder festgelegte Verbindung zwischen diesen Elementen war durch die Vereinsgesetzgebung, insbesondere das preußische Vereinsgesetz, ausgeschlossen15. Dieses Gesetz machte eine wirksame Zusammenarbeit der Wahlvereine untereinander und einen systematischen Aufbau der Partei von unten nach oben oder von oben nach unten unmöglich. Deshalb blieben die organisatorischen Bindungen innerhalb der Parteien immer schwach, Zentralorganisation und Wahlkreisorganisation konnten sich gegenseitig wenig beeinflussen. Damit war rechtlich und meist auch faktisch die Unabhängigkeit der Wahlkreisorganisation gesichert, die sich bis 1918 erhalten hat. Ihre gesetzlich erzwungene Selbständigkeit ent293

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sprach natürlich auch dem System der Mehrheitswahl und vor allem der Honoratiorenverfassung der Parteien. Trotzdem war das Gesetz für die Parteien eine schwere Behinderung, die mit vielen Halbheiten umgangen werden mußte, damit die Zentrale die notwendige Verbindung mit den Wahlkreisen, zumal den zeitweilig durch gegnerische Parteien vertretenen, halten und damit die Meinungsbildung innerhalb der Partei geordnet werden konnte. Zentrale und Lokalorganisation durften nur so miteinander verkehren, daß sich die Lokalorganisation an einen einzelnen Abgeordneten der Zentrale, daß sich die Zentrale an Einzelpersonen in den Wahlkreisen wandte. Wo es einen zentralen Wahlverein gab, bestand er aus solchen Einzelpersonen, die formal nicht als Repräsentanten ihrer Wahlvereine Mitglieder waren; sonst hießen diese Personen Korrespondenten oder Vertrauensmänner, theoretisch wurden sie von der Zentrale ausgewählt, faktisch waren es meistens die örtlichen Führer. 4. Während die Lokalinstanzen und die ersten Zentralinstanzen aus den Notwendigkeiten des Wahlbetriebs entstanden waren, haben sich die Zwischenstufen und die weiteren zentralen Organe der Partei, soweit das trotz der gesetzlichen Behinderung möglich war, am Problem der innerparteilichen Meinungsbildung über Grundsätze, Richtungen und aktuelle Entscheidungen entwickelt. Diese Entwicklung setzt später ein und kommt erst nach 1900 zu einem gewissen Abschluß, in einer Zeit also, in der die Parteiorganisationen schon stark individualisiert waren. Diese Zwischenstufen zwischen Wahlkreis und Fraktion wurden aber bei allen Parteien aus ähnlichen Motiven gebildet und waren daher noch weitgehend gleichmäßig, auch die hier entstehenden Formen und die Art der Machtverteilung waren typisch. Die führenden Anhänger einer Parteirichtung im Lande hatten schon Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre das Bestreben, gelegentlich in Meinungsaustausch untereinander und etwa mit Abgeordneten zu treten, um aktuelle politische Fragen zu besprechen und in Resolutionen ihre Meinung zu bekunden. Solche Besprechungen fanden innerhalb einer Landschaft, einer Provinz oder eines kleinen Landes aus privater Initiative in privaten Formen statt. Die Abgeordneten nahmen im allgemeinen die Möglichkeit gern wahr, mit ihren Freunden im Lande zusammenzukommen, die Fraktionsmeinung lag nicht fest, es gab viele individuelle Schattierungen, der Stil solcher Besprechungen war daher durchaus der der gegenseitigen Beratung. Aus solchen Beratungen ist Miquels Heidelberger Programm hervorgegangen. Fanden diese Zusammenkünfte in größerem Rahmen und etwa mit einleitenden Vorträgen statt, dann wurden „alle Parteifreunde“ eingeladen, so daß der Teilnehmerkreis zahlenmäßig unbestimmt war; das nannte man einen Parteitag16. Dabei bot sich auch Gelegenheit, über Fragen der Agitation und des Wahlkampfes, der Kandidatenverteilung und der Wahlbündnisse zu sprechen, die die Partei in dieser Landschaft gemeinsam betrafen. Allmählich ging man dazu über, Komitees einzusetzen, die künftige Tagungen vorbereiten und gemeinsame oder mehrere Wahlkreise berührende Angelegenheiten behandeln sollten. In Preußen waren das die meist sog. Provinzialkomitees oder -ausschüsse, in den kleineren und mittleren Län294

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dern die Landesausschüsse, die normalerweise in Verbindung mit den Landtagsfraktionen oder mit von diesen delegierten Ausschüssen standen. Diese Gremien bestanden entweder nur aus einem auf diesen Tagungen gebildeten kleinen Komitee oder aus Vertretern aller Wahlkreise, die den Provinzialausschuß bildeten und ein leitendes Organ, den Provinzialvorstand oder das Provinzialkomitee wählten. Zuweilen konstituierte sich auch eine dem Ausschuß entsprechende Gruppe als provinzialer Wahlverein, analog den zentralen Wahlvereinen. Die Organisation mit Ausschuß, in dem jeder Wahlkreis, wenn auch nicht durch Delegierte, vertreten war, und mit Vorstand war die entwickeltere Form, sie hat sich in den 90er Jahren bei Zentrum und Nationalliberalen durchweg herausgebildet. Gegenüber den Wahlkreisorganisationen waren die realen Funktionen dieser Körperschaften zunächst gering17. In der Hauptsache stellten sie die Verständigung zwischen den selbständigen Wahlvereinen her, ζ. Β. dann, wenn eine gemeinsame Wahlkampftaktik festgelegt werden mußte. Daneben fungierten sie als Zentralen für Wahlagitation, d. h. im wesentlichen für Flugblätterdruck, später auch für Rednervermittlung - eine Funktion, die seit der Jahrhundertwende zu kontinuierlicher Parteiagitation erweitert wurde und zur Errichtung von Generalsekretariaten für diese Agitation führte, aber zunächst über eine technische Hilfe nicht hinausging. Größer war ihre selbständige Bedeutung gegenüber anderen Parteien. Mit der Ausbildung des Mehrparteiensystems in einer größeren Zahl von Wahlkreisen und der zunehmenden Heftigkeit der Wahlkämpfe nahm die Häufigkeit der Stichwahlen zu. Daher wurden Wahlbündnisse für den ersten Wahlgang und Stichwahlabkommen immer wichtiger, in denen eine Partei den Kandidaten einer anderen Partei zu unterstützen versprach, wenn sie in einem anderen Wahlkreis umgekehrt von der anderen Partei unterstützt wurde. Solche Abmachungen konnten nur über mehrere Wahlkreise hinweg abgeschlossen werden, daher fiel diese Aufgabe den Provinzialorganisationen zu, und zwar wurden die Stichwahlabkommen, die im allgemeinen kurzfristig ausgehandelt werden mußten, oft unabhängig von den Wahlkreisvertretern abgeschlossen. Freilich lag in solchen Abschlüssen keine Garantie dafür, daß die Partei im Wahlkreis auch die entsprechende Stichwahlparole an die Wähler ausgab, die Provinzialleitung konnte nur raten, bitten, zu überzeugen suchen; ihre mehr taktisch bestimmte Richtung konnte aber an einer eher prinzipiell orientierten Wahlkreisorganisation scheitern; wenn es zu solchen Konflikten kam, war das Ergebnis meist, daß die Ausgabe einer Stichwahlparole überhaupt unterblieb18. In diesen Funktionen blieben die Provinzialorganisationen den Wahlkreisen gegenüber im wesentlichen dienend. Führend wurden sie bei der Meinungsbildung gegenüber der Fraktion und der Parteizentrale, nur durch sie gewann die Partei im Lande Anteil am Ausbau der zentralen Organe der Partei. Dabei repräsentierten die landschaftlichen Organisationen nicht nur Verwaltungsbezirke, sondern auch häufig gemäß der landschaftlich verschiedenartigen politischen Tradition, der verschiedenen Wirtschaftsinteressen und Sozialstrukturen 295

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bestimmte Parteischattierungen. Bei den Besprechungen der lokalen Parteiführer in den landschaftlichen Gremien konnte sich eine von der Stellungnahme der Fraktion oder Fraktionsmehrheit abweichende Meinung bilden, die dann an die Fraktion oder an das Zentralkomitee der Partei als Meinung der Partei im Lande herangetragen wurde. Nur wo, wie im Zentrum, die landschaftlichen Komitees fest in der Hand von Abgeordneten waren, konnten solche Differenzen vermieden werden. Die Fraktion durfte solche Kundgebungen nicht ignorieren, wollte sie nicht eine Mißstimmung ihrer führenden Anhänger und einen Verlust von Wählern riskieren. Zugleich lag den führenden Parlamentariern von Parteien mit schwankenden Wählerzahlen - das waren alle außer dem Zentrum - daran, in Kontakt mit ihren Anhängern im ganzen Reich zu bleiben, über deren Stimmungen unterrichtet zu sein, bei ihnen ein Echo für die eigenen Ansichten zu finden und ihnen die politische Linie der Fraktion plausibel zu machen; zudem waren manche Landschaften zeitweise nicht oder nur unzureichend im Parlament vertreten, auch mit ihnen wollten die Abgeordneten die Verbindung nicht verlieren. Für diese Zwecke waren unter den Anhängern in erster Linie die Landes- oder Provinzialkomitees geeignet. Da es sich bei ihnen nur um einen kleinen, aus indirekten Wahlen, Ernennungen und Kooptationen hervorgegangenen Honoratiorenkreis handelte, war eine Gefährdung der Unabhängigkeit und Führung der Abgeordneten durch sie oder auch nur eine oppositionelle Mehrheit normalerweise nicht zu befürchten. Aus beiden Tendenzen mehr oder minder, der Tendenz der Landesführer, ihrer Meinung oder etwaigen Opposition Gehör zu verschaffen, und der Tendenz der Parlamentarier, den Kontakt mit dem Lande zu halten und Oppositionsstimmungen aufzufangen, entwickelte sich ein Meinungsaustausch zwischen der Fraktion oder dem Zentralwahlkomitee und den Landes- oder Provinzialkomitees. Natürlich spielte sich dergleichen zunächst mehr informell im Rahmen persönlicher Zusammenkünfte oder auf den provinziellen Parteitagen ab, zumal sich die Provinzialleitungen erst sehr allmählich institutionalisierten. Auf einem anderen Wege führte die allmähliche Umbildung der Parteizentrale zu demselben Ergebnis. Das Vorhandensein von Landtagsfraktionen einer Partei machte eine Zusammenarbeit zwischen ihnen und der Reichstagsfraktion notwendig, zumal die Vertreter einer Partei im Reichstag und in den Landtagen wegen der Verschiedenheit des Wahlrechts sehr unterschiedlich war. Vertreter der preußischen Landtagsfraktion waren als Personen oder als Abgeordnete von vornherein Mitglieder des Zentralwahlkomitees ihrer Partei oder des Vorstandes des zentralen Wahlvereins. Sehr bald wurden auch die Vertreter bedeutender Landtagsfraktionen, etwa der bayerischen bei den Nationalliberalen, der sächsischen bei den Konservativen, durch Kooptation oder institutionell aufgenommen19. So bildeten sich aus den Wahlzentralen der Parteien Koordinationszentralen für die verschiedenen Fraktionen, in denen die Richtung der Politik beraten wurde. Diese waren zwar zunächst Organe der Parlamentarier, aber sie standen neben den Fraktionsorganisationen der Parteien im Reichstag. Realen Einfluß konnten sie üben, weil sie die Agitation und die 296

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Meinungsbildung der Partei im Lande durch die für die Provinzpresse herausgegebenen Parteikorrespondenzen steuern konnten, wichtige Erklärungen der Partei erließen und teilweise den Grundton für die Wahlkämpfe durch die sog. Wahlaufrufe angaben20. Diese erweiterten Zentralen zogen häufig auch Vertreter aus den Provinzen zu ihren Beratungen zu, manche wurden auf Vorschlag eines Abgeordneten vom Komitee kooptiert. Die außerpreußischen Landtagsabgeordneten fungierten sowieso als Vertreter ihrer allmählich entstehenden Landesgruppen. Die Organisation eines solchen Gremiums bei der Zentrale war freilich zunächst sehr lose, man war als Person, nicht als Vertreter einer Gruppe Mitglied, die Tätigkeit war wenig kontinuierlich und ruhte wesentlich auf der Aktivität einiger Abgeordneter. Am Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre wurde diese zentrale Körperschaft in ihrer Zusammensetzung statutenmäßig fixiert, das System der Kooptation von Landesvertretern wurde aufgegeben, dafür wurde die Vertretung der Landesorganisationen bei der Zentrale institutionalisiert. Die Koordination der Fraktionen bei der Zentrale und der Meinungsaustausch mit den Landesverbänden wurden zusammengefaßt und zu diesem Zwecke Parteiausschüsse gebildet21, in die die Landes- oder Provinzialleitungen aus eigenem Recht ihre Vertreter entsandten; dabei wurde die Beteiligungsziffer der einzelnen Landesteile von oben, von der Parteizentrale, festgesetzt. Auch die Fraktionen blieben in diesen Ausschüssen vertreten. Es handelte sich nicht eigentlich um eine Vertretung der Partei im Lande, sondern um eine Art Bundesrat innerhalb der Partei, indem die Landesleitungen an der Parteiführung beteiligt waren und zugleich zwischen Zentrale und Land vermittelten. Aus einem Organ der Berliner Fraktionen war also das Zentralwahlkomitee über die Zwischenstufe eines Ausschusses, in dem andere Landtagsabgeordnete und Landesvertreter zur Beratung zugezogen wurden, schließlich zu einem Vertretungsorgan der Landesteile geworden. Die Fraktionen behielten aber lange den beherrschenden Einfluß in diesem Gremium, weil die Abgeordneten selbst Mitglieder waren, und zwar entweder als Fraktions- oder als Provinzvertreter, oder weil sie die Zusammensetzung der Körperschaft bestimmten. Schon innerhalb des Zentralwahlkomitees hatte es kleine leitende Ausschüsse gegeben, die die Entscheidung vorbereiteten und die laufenden Geschäfte besorgten, also die Korrespondenz mit den Wahlkreisen führten und die Parteikorrespondenz redigierten oder überwachten; dadurch erhielten sie eine gewisse Ständigkeit und wurden organisatorisch zu Parteileitungen, zumal es sich bei ihnen um die führenden Abgeordneten handelte. Die Zentralwahlkomitees und ihre erweiterte Form, die Parteiausschüsse, blieben dementsprechend nicht darauf beschränkt, Organe für die Vorbereitung und Durchführung von Wahlen zu sein. Vielmehr war es ihre weitere und wichtigere Funktion, die geschäftsführenden Ausschüsse - die Parteileitungen - zu wählen und deren Berichte entgegenzunehmen, zu diskutieren und gutzuheißen. Bei den Sitzungen der großen Ausschüsse wurden daher organisatorische und allgemeinpolitische Angelegenheiten der Partei erörtert, und durch die Wahl der Parteileitung konnte 297

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ein solcher Ausschuß bei der Entscheidung über diese Fragen mitwirken oder der Parteileitung mehr oder weniger formell Vertrauen oder Mißtrauen aussprechen. Daneben setzten die Ausschüsse allgemeine Partei- oder Delegiertentage fest und bestimmten deren Zusammensetzung und Verlauf. Aus einem Organ, das nur aus Anlaß der Wahlen zusammentrat, wurde ein solches, das periodisch tagte und sich mit allen Parteiangelegenheiten befaßte, aus dem Zentralwahlkomitee oder dem Zentralwahlausschuß wurde das Zentralkomitee oder der Zentralausschuß; das Wahlbüro des Fraktionskomitees wurde zum ständigen Zentralbüro der Partei mit einem oder mehreren Angestellten und politisch einflußlosen - Generalsekretären. Der große Ausschuß tagte etwa ein- bis zweimal jährlich, die Wahl seines Vorstandes und die Wahl des geschäftsführenden Ausschusses - beide mußten nicht identisch sein - fand entweder nach den Reichstagswahlen statt oder nur dann, wenn durch Ausscheiden von Mitgliedern Lücken entstanden waren. Natürlich war der kleine und kontinuierlich arbeitende geschäftsführende Ausschuß, der zudem aus den politisch einflußreichsten Abgeordneten mit großem Prestige, aus den eigentlichen Führern der Partei in den Berliner Parlamenten, bestand, den selten zusammenkommenden Parteihonoratioren aus dem Lande überlegen22. Die Wahl der Parteileitung war meist Wiederwahl oder entsprach den Ergänzungsvorschlägen der bestehenden Leitung. Nur wenn sich ein oder mehrere ausgesprochene Flügel in der Partei gebildet hatten, konnten die Wahlen über deren Stärke in der Parteileitung entscheiden23. Ebenso richteten sich Resolutionen und Beschlüsse meist nach den Vorlagen der Parteileitung. Da zudem die Unabhängigkeit der Fraktion außer Frage stand und die Parteileitung eng mit der Fraktion verbunden war, konnte der Ausschuß nicht die politische Linie festlegen. Eine echte Entscheidungsfunktion hatte der Ausschuß auch hier wiederum nur in Krisensituationen, wenn die Parteiführung selbst nicht einig war; dann kehrte sozusagen die Macht zu ihm zurück. So hat der nationalliberale Zentralvorstand im Dezember 1918 die historische Entscheidung getroffen, die Partei nicht in der neuen demokratischen Partei aufgehen zu lassen und damit die Einigung der liberalen Parteien verhindert24. Der große Ausschuß war normalerweise nicht Entscheidungs-, sondern Ausspracheorgan, er diente dem Ausgleich und der Vermittlung von entgegengesetzten Ansichten, er legitimierte die Parteiführung und stellte ihren Kontakt mit dem Lande her. In ihm warb die Führung für ihre Politik um Verständnis, durch ihn ließ sie ihre Maßnahmen rechtfertigen und bestätigen, seine Mißstimmung mußte sie als ein Symptom für ihre Erfolgsaussichten im Lande in Rechnung stellen. Der Ausschuß gab der Parteiführung das, was sie brauchte: Repräsentanz und Resonanz im obersten Kreis der Parteihonoratioren. Der Ausschuß konnte zwar die Unabhängigkeit der durch die Fraktion bestimmten Parteiführung nicht beeinträchtigen, aber er konnte doch einen indirekten Einfluß ausüben. Spannungen zwischen Ausschuß und Fraktionen traten auf, weil die Parlamentarier eher an Taktik, parlamentarische Macht und Wähler, die Organisationsführer eher an Prinzip, Programm und Mitglieder dachten, weil 298

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einerseits die Fraktion, von Stimmungen und Vorurteilen freier, eher neue Perspektiven verfolgte, weil sich andererseits in der Organisation neue Strömungen gegen die eingelaufenen Bahnen der Fraktionspolitik geltend machen konnten, was allerdings bei der Honoratiorenstruktur dieser Ausschüsse sehr selten vorkam. Stand aus solchen Motiven die Fraktionspolitik im Gegensatz zur Stimmung innerhalb der Organisation, so versuchte der Ausschuß, Parteileitung und Fraktion zu größerer Zurückhaltung in der Verfolgung ihrer Politik zu veranlassen25; solche Kundgebungen mußte eine Fraktion oder eine Fraktionsmehrheit jedenfalls berücksichtigen. Der Ausbau der Wahlkreis-, Provinzial- oder Landesorganisationen, die, nachdem das vereinsrechtliche Verbindungsverbot in Preußen 1900 fortgefallen war, zu Landesverbänden wurden, die Tendenz der Parteileitungen, auch schwache Landesverbände vertreten zu sehen und das allgemeine Streben, die Landesvertretung in ein Verhältnis zu den Mitglieder- oder Wählerzahlen zu setzen, führten zu einer Vergrößerung der Ausschüsse. Dadurch wurden diese als Führungsorgane immer unbeweglicher, so stieg die Zahl der Mitglieder des konservativen 50er-Ausschusses bis 1912 auf über 80, die des nationalliberalen Zentralvorstandes auf über 150. Damit verstärkte sich das Gewicht der Parteileitung, sie stellte die Alternativen, sie regelte die Spannungen, die etwa im Ausschuß zur Sprache kommen konnten, durch private Verhandlungen vorher. Die wichtigsten Entscheidungen, die außerhalb der Fraktion zu treffen waren, die Entscheidungen über Wahlbündnisse und Stichwahlabkommen, wurden von den Parteileitungen getroffen, ohne die Ausschüsse zuzuziehen. Das ergab sich schon daraus, daß solche Abkommen entweder ganz plötzlich abgeschlossen werden mußten, wie das Stichwahlabkommen zwischen Fortschrittspartei und SPD 1912, oder lange und komplizierte Verhandlungen voraussetzten, wie der Abschluß des Wahlbündnisses zwischen den liberalen Parteien für die Reichstagswahl von 1912. Für die Durchführung solcher Abkommen hatte die Parteileitung, wie die Landesleitung, keine Machtmittel, die Wahlkreise waren unabhängig. Immerhin gelang es der Zentrale meist, ihre Parolen gütlich durchzusetzen, dagegen war ihr Einfluß auf die Kandidatenaufstellung ganz gering; hier wachten die Wahlkreisorganisationen eifersüchtig über ihre Unabhängigkeit und ihre lokalen Gesichtspunkte. Neben Parteileitung und Parteiausschuß gab es als drittes Organ der Zentrale noch den Parteitag, auf dem zwar keine Entscheidungen zu treffen waren, auf dem aber die Meinung der Partei festgelegt werden sollte. Für die Institutionalisierung des Parteitages waren dieselben Motive maßgebend, die zu den Landesparteitagen, den Landesorganisationen und dem Parteiausschuß geführt haben: das Diskussions- und Selbstbestätigungsbedürfnis der führenden Anhänger, ihr Drängen nach Mitwirkung an der politischen Grundorientierung der Partei, die Tendenz mancher Parteileitungen, solche Kräfte an sich heranzuziehen und durch Organisation der Partei nutzbar zu machen oder umgekehrt sie dadurch zu neutralisieren. Aber Zusammensetzung und reale Funktion der Parteitage sind bei den einzelnen Parteien so unterschiedlich, daß von der Institu299

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tion „Parteitag“ bei einer Analyse des Organisationstyps nicht weiter gesprochen werden kann. Indem die Vertretung der Landesteile zum Bestandteil der Zentrale wurde, waren die ursprünglichen Elemente der Partei, Wahlkreisorganisation und Fraktion, verbunden, der Aufbau einer Parteiorganisation war abgeschlossen. Formal hatte diese seit der Wahl der Parteileitung durch den Ausschuß eine eigene Spitze, faktisch blieb die Fraktion führend. Den Wahlkreisen gegenüber blieb die Zentrale schwach, die Bindungen in der gesamten Organisation waren locker. Die Teilnahme der Partei im Lande an der Festlegung der Parteilinie war beschränkt, vor allem galt sie - zunächst - nur für einen engen Kreis provinzial führender Honoratioren. Hier aber lag die eigentliche Funktion einer zentralen Vertretung der Partei. In der Ausgestaltung dieser Funktion haben sich wesentliche Unterschiede zwischen den Parteiorganisationen herausgebildet. II. 1. In der Bismarckzeit genügte die ursprüngliche Honoratioren-Organisation noch den Bedürfnissen einer politischen Partei. Im Zeitalter der sich ausbildenden industriellen Massengesellschaft wurde die Lage für die Parteien anders26. Die gesellschaftlichen Umschichtungen veränderten die herkömmliche Sozialstruktur immer stärker, nicht mehr die kleinstädtische Selbständigkeit von Handwerkern und Kaufleuten, sondern die großstädtische Abhängigkeit von Arbeitern und Angestellten bestimmte das durchschnittliche Bild dieser Gesellschaft. Die neuentstehenden oder sich ausbreitenden Schichten strebten nach Emanzipation, das führte unter dem allgemeinen Wahlrecht zu einer steigenden Durchpolitisierung der Bürgerschaft, zum Eintritt der Massen in die Politik, wie er in erster Linie durch die sozialistische Bewegung vorangetrieben worden ist. Die Parteien waren in ihrem inneren Aufbau noch an der Gliederung einer vergehenden Gesellschaftsordnung orientiert. Eine solche konservative Haltung ist bis 1918 mit durch das Wahlsystem ermöglicht worden; infolge der seit 1871 (1867) beibehaltenen Wahlkreiseinteilung wurden die ländlichen oder gemischten Wahlkreise vor den großstädtischen bei der Mandatsverteilung enorm bevorzugt; weil bei der Mehrheitswahl die Großstädte der SPD zufielen, waren für die bürgerlichen Parteien die ländlichen Wahlkreise weitaus wichtiger als die städtischen, eine Tatsache, die für die Zusammensetzung der Fraktionen und damit auch für die Politik der Parteien von eminenter Bedeutung gewesen ist. So hat die neue großstädtische Gesellschaft für die Organisation der bürgerlichen Parteien nur geringe prägende Kraft gehabt. Immerhin wurde die Emanzipation von Arbeitern und Angestellten auch zu einem innerparteilichen Problem. Der steigenden Politisierung der Massen konnten die Parteien sich trotzdem nicht entziehen. Die Agitation und die Wahlerfolge der Sozialdemokraten vor allem, besonders nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes, aber auch die 300

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Agitation wirtschaftlicher Massenorganisationen, wie der Agrarverbände und später der Gewerkschaften, und die anfänglich sehr intensive Propaganda der antisemitischen Gruppen brachten die Wählermassen in Bewegung. Der herkömmliche Partei- und Wahlbetrieb genügte nicht mehr, dem wachsenden politischen Bewußtsein der Wähler mußten moderne Methoden der Massenwerbung entsprechen. Aus den lässig und kurzfristig betriebenen Wahlkämpfen wurden planmäßige langfristige Wahlkampagnen; die Wahlkosten stiegen für einen ernsthaften Kandidaten, d. h. für einen, der Aussicht hatte, in die Stichwahl zu kommen, von ca. 500-1000 Mark um 1880 auf 20 000 bis 30 000 Mark bei den Reichstagswahlen von 1912. Die Konkurrenz der Parteien um die Wähler wurde zunehmend schärfer. Die Wähler blieben nicht länger der ferne Hintergrund der Parlamentspolitik, der nur bei den Wahlen aktuell wurde; die auf die Wahlsaison beschränkte Tätigkeit der Grundorganisationen genügte nicht mehr, eine kontinuierlich werbende und aufklärende Tätigkeit wurde erforderlich, sollte die Partei ihre Anhänger zusammenhalten und nicht an andere, aktivere Parteien verlieren. Das alles verlangte die Ausbildung eines mehr oder minder bürokratischen Agitationsapparates und rationale Finanzierungsmethoden. Die Parteien waren also vor das Massenproblem gestellt. Jede Partei mußte versuchen, Massen zu organisieren und an sich zu binden oder jedenfalls Massen durch einen ausgedehnten Wahlbetrieb jeweils zu gewinnen. Die Intensivierung der Wahlkämpfe erforderte die Intensivierung von Wahlorganisationen und Propaganda. Es war natürlich nicht so, daß plötzlich die große Masse der Wähler politisch aktiviert worden wäre. Der Übergang von der Honoratiorenpolitik zur Politik mit Massenorganisationen ging langsamer vor sich als der dahinter stehende Wandel der gesellschaftlichen Schichtung und des politischen Bewußtseins27. Das Problem ist in den bürgerlichen Parteien erst langsam aufgekommen und spät bewußt geworden. Die Endstufe dieser Entwicklung wurde vor 1918 in Deutschland kaum erreicht. Aber die vorwärts treibenden Elemente, die neuen Anforderungen waren doch unverkennbar, und die Parteiorganisationen mußten umgestaltet werden, um diese Anforderungen wenigstens einigermaßen zu erfüllen. Die gesellschaftlichen Wandlungen wirkten sich nicht nur auf das Verhältnis der Partei zu den Wählern aus, sondern auch auf das Verhältnis der Partei zu ihren Mitgliedern, auf das Verhältnis dieser Mitglieder untereinander. Die wirtschaftliche und soziale Differenzierung der Gesellschaft verstärkte sich, die Interessen bildeten sich schärfer und gegensätzlicher heraus. Zugleich traten politische Gesichtspunkte im Parteienkampf und im Parteibetrieb zurück. Wirtschaftliche Differenzen wurden zwischen den Parteien und innerhalb derselben wichtiger, ohne daß diese Wirtschaftsinteressen in eine klare Gesamtauffassung der Wirtschaftspolitik mündeten; sie blieben nur Besonderes und wurden nicht Allgemeines, was mit dem Fehlen einer verantwortlichen Funktion bei den deutschen Parteien der Vorkriegszeit zusammenhing. Die Aufgabe einer Partei, Interessen zu integrieren, wurde im ganzen dringlicher und zugleich 301

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schwieriger. Die divergierenden Interessen konnten in den Parteien, die nicht auf einem einheitlichen ökonomischen Interesse beruhten, zu starken Spannungen führen. Alle Motive, die innerhalb der Wahlkreise schon früher zur Vereinsbildung geführt hatten, verstärkten sich jetzt. Die Parteiorganisation mußte den Ausgleich der steigenden Spannungen leisten, einheitliche Willensbildung und Aktionsfähigkeit sicherstellen, die Führung legitimieren; darum mußte sie ihre Funktionen und Methoden stärker formalisieren. Auch für Parteien, die vom Massenproblem wenig berührt waren, wurde ein solcher Ausoder Umbau der Organisation notwendig. Mit der Aktivierung der wirtschaftlichen Interessen und mit der Aktivierung des politischen Bewußtseins endlich wuchs das Bestreben der organisierten Anhänger, bei den Parteientscheidungen mitzusprechen und mitzubestimmen. Die örtlichen Führer brauchten mehr als anfänglich die formelle und reale Anerkennung durch die Anhänger, die Zentralen mußten die Tendenz zur Mitbestimmung irgendwie in Ausschüssen oder Parteitagen auffangen, um sie entweder zu realisieren oder zu neutralisieren. Der Zug zur Demokratisierung war auch innerhalb der Parteiorganisationen wirksam in dem Maße, in dem die politische Mündigkeit zunahm. Dies Verlangen nach Mitwirkung bei Führung und Entscheidungen der Partei konnte sich auf breite Anhängerkreise erstrekken, im allgemeinen betraf es vornehmlich die weitere Führungsschicht. Noch in deren ganz unreflektiertem und widersprüchlichem Willen zur Mitbestimmung zeigt sich der gesellschaftliche und bewußtseinsmäßige Wandel der Zeit an. Die Probleme der Honoratiorenpartei waren also das Massen- und Agitationsproblem einerseits, das innerparteiliche Problem der Integration und der Demokratisierung andererseits. Diese Probleme haben die Parteien auf sehr verschiedene Weise zu lösen versucht. 2. Die konservative Partei konnte am ehesten auf den Ausbau ihrer Grundorganisationen verzichten. Autorität und Einflußmöglichkeiten der maßgebenden Großgrundbesitzer, sowie die Unterstützung des behördlichen Apparates sicherten ohne Organisation und Werbung einen festen Wählerstamm28. Die Zahl der politisch aktiven Anhänger war gering, der auf ein parlamentarisches Mandat gerichtete Ehrgeiz war schwach, eine klare Ordnung des gesellschaftlichen Prestiges erleichterte die Führung, die Gleichheit der ökonomischen Interessen den Zusammenhalt. Dem staatspolitischen Prinzip der Konservativen, „Autorität“, entsprach auch in den Augen der Anhänger die Honoratiorenorganisation. Trotzdem hätte sich die Partei auf die Dauer ohne Massenbasis der Agitation der Gegner gegenüber schwerlich behaupten können, wenn ihr nicht die Gründung des Bundes der Landwirte zugute gekommen wäre. Dieser ausgebreitete, straff disziplinierte und geleitete, schlagkräftige und finanziell starke Massenverband von zwei- bis dreihunderttausend Mitgliedern stand in konservativen Gebieten durchweg auf seiten der konservativen Partei, seine Führung war trotz nomineller Parteilosigkeit ausgesprochen konservativ. Er ersetzte 302

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weitgehend eine eigene konservative Organisation, er hielt die Massen zusammen, organisierte bis ins kleinste Dorf hinein die Wahlen und erreichte durch seine demagogische, aber wirksame und energische Agitation, daß die konservativen Kandidaten mit Hilfe bäuerlicher Massen gewählt wurden. Auf diese Weise gelang es sogar, in ursprünglich liberalen Gebieten, in Nordwest- und Südwestdeutschland, bedeutende Wahlerfolge zu erzielen. Die Mobilisierung des wirtschaftlichen Interesses stärkte die politische Stellung der Konservativen im Lande und dehnte ihren Machtbereich aus. Zugleich war durch den Bund der Landwirte die Finanzierung der Massenwerbung und der intensiven Wahlkämpfe wenigstens soweit gesichert, daß die Partei nicht zu neuen zentralistischen Finanzierungsmethoden überzugehen brauchte. Dadurch, daß die Massen außerhalb oder neben der Partei organisiert wurden, war die Gefahr beseitigt, daß Massen innerhalb der Partei an der Meinungsbildung hätten teilnehmen wollen; man war einer Masse sicher, ohne ihr einen Einfluß zu gewähren. Aber das Problem verschob sich: das Nebeneinanderbestehen zweier Organisationen, des Bundes der Landwirte und der konservativen Partei, führte natürlich auch zu Spannungen und konnte - sozusagen von außen - die Unabhängigkeit der Parteiführer bedrohen. Zweifellos hat die Politik des Bundes der Landwirte die politische Linie der Partei und ihrer Fraktionen stark im Sinne eines radikal agrarischen, antiliberalen und antigouvernementalen Kurses beeinflußt, die Bundesführung hat oft einen erheblichen Druck auf die Parteiführung und die Abgeordneten ausgeübt. Aber die Gemeinsamkeit der Überzeugungen, Interessen und der sozialen Position war so stark, daß Partei und Verband auftretende Konflikte immer wieder bereinigten, Kompromisse schlossen und bei gemeinsamem Vorgehen blieben. Ehe die Partei auf diese Weise ihre Massenbasis sichern konnte, hat das Massenproblem für sie noch eine andere Rolle gespielt. Stoecker und die ChristlichSozialen hatten versucht, der Partei eine breite, volkstümliche Grundlage zu geben. Aus den stark fluktuierenden Gruppen der Berliner Bewegung entstanden auf die Initiative Hammersteins hin und unter Leitung der christlich-sozialen Redakteure Gerlach und Oberwinder konservative sog. Bürgervereine, in denen Massen des Mittelstandes vertreten waren. Diese relativ demokratisch organisierten Vereine nun wären nur eine folgenlose Episode geblieben, wenn sie nicht in einer kurzen Zeitspanne unfester, offener Parteiorganisation eine besondere Bedeutung gewonnen hätten: auf dem Tivoli-Parteitag der Konservativen im Dezember 1892 haben die Berliner Vereine einen erheblichen, vielleicht entscheidenden Einfluß ausgeübt. Das Zustandekommen dieses Parteitages ist gegen den Willen der Fraktionen und des Parteivorstandes durchgesetzt worden. Der bis zu ultimativen Forderungen reichende Druck unzufriedener Honoratiorengruppen, vor allem der christlich-sozial orientierten westfälischen Parteiführer, die die Parteilinie neu festlegen wollten, der Druck der sozusagen volkskonservativen Vereine und der Wille der kleinen Gruppe um Stoecker und Hammerstein innerhalb der Führung, die die Partei auf eine volkstümliche Basis stellen und das entspre303

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chend legitimieren wollte, kamen hier zusammen. Alle diese Kräfte wünschten inhaltlich die Erneuerung des Programmes, taktisch die endgültige Niederlage des gouvernementalen Helldorff-Flügels und organisatorisch einen großen Parteitag zu diesem Zweck. Die „gouvernementalen“, im wesentlichen auch die agrarisch-feudalen Konservativen dagegen hatten vor Parteitagen „höllische Angst“. Sie erschienen ihnen als „der kleine Finger, den man um keinen Preis dem Teufel der Demokratie“ reiche dürfe. „Sie liebten es, die ganze Politik en petit comité zu erledigen.“29 Die Parteileitung konnte aber die Partei nicht im Gegensatz zu den Anhängern führen, sie mußte in diesem Falle dem vielfachen Stimmungsdruck nachgeben und den satzungsmäßig nicht vorgesehenen Parteitag berufen. Die Teilnahmeberechtigung war ziemlich unbestimmt, da die Vereinsdelegierten Parteifreunde einfach anmelden und mitbringen konnten, zudem eine Kontrolle eigentlich nicht stattfand. Daher hatten die Berliner unter den 1200 Besuchern die Mehrheit und bestimmten ziemlich tumultuarisch die Meinung und Stimmung der Gesamtheit. Durch diese Verhältnisse begünstigt wurden gegen den ursprünglichen Willen der Parteileitung wichtige Änderungen an dem zur Beratung stehenden Programmentwurf durchgesetzt30 und das ganze Programm gegen eine kleine Minorität angenommen. Auch die mit den Änderungen nicht Einverstandenen - und das war sicher die Mehrheit der Abgeordneten - haben, um es mit dem Parteitag nicht zu verderben, bei der offenen Abstimmung dafür gestimmt; die Anhänger Helldorffs erklärten, in diesem Programm nur eine Deklaration des bisherigen zu sehen. Die Meinung der Parteianhänger oder jedenfalls einer großen und aktiven Gruppe von ihnen hat sich auf diesem Parteitag gegen den größten Teil der bisherigen Parteiführung und selbst gegen einen Teil der Befürworter des Parteitags durchgesetzt, sie hat mit dem Programm die Agitationsgrundlage der Partei in den nächsten Jahren geformt und einen, wenn auch episodischen, Einfluß auf die Richtung der Partei genommen. Die Niederlage Helldorffs und der gemäßigten Gruppe in der Partei war hier endgültig besiegelt. Die Organisation einer konservativen Masse in den Berliner Vereinen hat also den Vereinsführern und den auf sie gestützten Parteiführern zeitweise eine starke Machtposition gegeben31. Der sozial- oder volkskonservative Charakter der Vereine entsprach zwar der Initiative der Führung, zugleich ermöglichten die Vereine als Bewegung und als Organisation diese Position doch erst und auf die Dauer. Die auf diesem Verhältnis beruhende, relativ bedeutende Mitwirkung von Parteimitgliedern an einer Führungsentscheidung aber ist Episode geblieben. Seitdem die Partei sich auf die agrarische Sonderorganisation stützen konnte, brauchte sie die sozial-konservativen Vereine zur Organisation der Massen nicht mehr. Zudem war der Einbruch in die Zirkel der Honoratiorenführung nur in einer schweren Parteikrise, der Helldorffkrise, möglich, die zugleich eine Krise in der Organisation der zentralen Führung war; denn die Mitwirkung der Führer im Lande, in Ausschuß oder Parteitag, war noch nicht 304

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institutionalisiert, so daß die Willenskundgebung der Partei im Lande in ungeordneter Form verlief und eruptiv über die Parteiführung hinwegging. Bis 1892 gab es nur eine informelle jährliche Zusammenkunft von Vertretern der Landes- oder Provinzialorganisationen, die ohne Funktion und daher ohne Einfluß kaum als Ventil der Kritik angesehen werden konnte. Die „große Partei in den Provinzen“, d. h. die dortigen Führer, fühlten sich übergangen, sie wollten „von so einem parlamentarischen Organ“, dem aus Abgeordneten zusammengesetzten ller-Ausschuß, „nicht regiert sein“32. Um gegenüber solcher Kritik der Parteileitung größere Repräsentanz und ihren Beschlüssen größere Resonanz zu geben, wurde 1893 ein Gesamtvorstand eingerichtet, dessen größere Hälfte aus Landesvertretern bestand und der den l l er-Ausschuß zu wählen hatte. Solange die christlich-soziale Bewegung noch mit der Partei verbunden war, haben provinziale Führungsgruppen durch ihn einen gewissen Einfluß auf die Zentrale ausgeübt, Berliner und rheinisch-westfälische Konservative haben erreicht, daß Stoecker trotz der Abneigung der meisten Parlamentarier in die Parteiführung hineingewählt wurde. Dagegen scheiterte die Initiative der westfälischen Organisation, 1895 ein Vertrauensvotum des 11 er-Ausschusses für Stoecker zu erzielen, und führte vielmehr zu dessen Ausscheiden aus der Partei. In dem von Abgeordneten und älteren Politikern beherrschten und aus mehrfachen indirekten Wahlen oder Delegationen hervorgegangenen Gremium war die Aussicht, eine Initiative der Partei im Lande zu realisieren, sehr begrenzt. Schon der Tivoli-Parteitag hatte die Richtung des Parteivorstandes nicht nachhaltig beeinflussen können; mit dem Ausscheiden der Christlich-Sozialen ging die Rolle der Landesvertreter auch im großen Ausschuß vollends zurück. Das Verhältnis zwischen dem geschäftsführenden l l er-Ausschuß und dem großen Landesausschuß war einseitiger noch als in anderen Parteien. Von der Parteileitung berufen und durch Kooptation ergänzt, ohne reale Befugnisse, denn die Vorstandswahl war nichts als Akklamation, diente der Landesausschuß kaum der Meinungsbildung; alle wichtigen Parteikundgebungen wurden von der Parteileitung allein erlassen. Allenfalls war er ein Ausspracheforum, aber ohne dessen echte Funktionen des Ausgleichs und der Legitimierung. Seine Bedeutung war nur optisch: er war eine geordnete Vertretung des Landes bei der Zentrale. Durch diese Ordnung aber wurde gerade eine mögliche Opposition im Lande weitgehend entschärft. Dazu kam, daß Parteitage in der konservativen Partei keinerlei Bedeutung mehr hatten33; ihre Zusammensetzung und ihre Tagesordnung lag gänzlich in der Hand der Parteileitung, zuständig waren sie nur für die immer unwichtiger werdenden Programmfragen, die Teilnehmerzahl war jeweils gering, die Verhandlungen waren arrangiert und hatten nur demonstrativen Charakter. Nach dem Tivoli-Parteitag hat sich also die Parteileitung formal und faktisch so organisiert, daß sie nach unten abgeschlossen und vor einer Opposition der Anhänger im Lande ebenso wie der Parteiführer im Lande geschützt war34. Die Parteileitung blieb daher von Bewegungen und Stimmungen im 305 20

Nipperdey

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Lande weitgehend unabhängig. Nur über die Kandidatenauswahl konnten sich die unabhängigen Wahlkreishonoratioren an der Gestaltung der politischen Richtung der Partei beteiligen. Diese Unabhängigkeit war deshalb möglich, weil soziale Struktur und ökonomisches Interesse bei zentralen und lokalen Führern relativ einheitlich waren, weil es nach dem Ausscheiden des Helldorffund des Stoeckerflügels in der Partei nicht mehr zu einer großen Krise kam, in der eine entschiedene Führungsminorität auch trotz der bestehenden Organisation auf das Land hätte zurückgreifen können, weil endlich die Massen außerhalb der Partei durch den Bund der Landwirte organisiert waren. Damit freilich geriet die Partei teilweise in eine neue Abhängigkeit, in die Abhängigkeit von diesem Wirtschaftsverband. 3. Die Lage des Zentrums gegenüber dem Massenproblem war ähnlich. Wie die Konservativen konnte sich das Zentrum auf außerparteiliche Kräfte stützen, die kirchliche Organisation und die katholischen Vereine. Deren Tätigkeit und deren Einfluß - durch den Kulturkampf enorm gesteigert - sicherte der Partei die großen Wählermassen. Mit dem Abklingen des Kulturkampfes und mit dem Zunehmen der sozialdemokratischen Agitation kam aber die von den Vereinen und dem Klerus gepflegte selbstverständliche Treue zum Zentrum in Gefahr. Die kirchenpolitischen Probleme konnten, jedenfalls im Bewußtsein vieler Wähler, hinter anderen politischen und wirtschaftlichen Fragen zurücktreten, die Angriffe auf die allgemeine Politik der Zentrumsfraktion, die bei ihren häufigen taktischen Schwenkungen viele Angriffsflächen bot, nahmen zu, die politische Einheit des katholischen Volkes war durch die kirchliche Organisation und das bisherige Vereinswesen nicht mehr genügend gesichert, die sozialdemokratische Bewegung drohte, der Kirche und der Partei die Arbeiterschaft zu entfremden. In dieser Situation wurde 1890 nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes der „Volksverein für das katholische Deutschland“ zunächst zur Abwehr gegen die Sozialdemokratie gegründet, aber von Windthorst sogleich mit universaleren, nicht nur kirchlich-apologetischen, sondern auch politischen Zielen bedacht. Dieser Verein bildete die eigentliche Massenorganisation des Zentrums. Er übernahm im großen Stil die Agitation und die Schulung für die Partei, sorgte für den Zusammenhang der Wählermassen mit der Partei und hielt weitgehend diese Massen, insbesondere die Arbeiterschaft und die städtischen Mittelschichten, bei der Partei fest. Seine allgemeinen Bildungstendenzen und seine sozialreformerischen Bestrebungen35 konnten sich mit der Arbeit im spezifischen Parteiinteresse so selbstverständlich und vollkommen verbinden, weil das Interesse des katholischen Volkes und das Interesse der Partei im Bewußtsein der katholischen Führer identisch waren. Politische Entscheidungen hatte er nicht zu treffen, im Gegensatz zum Bund der Landwirte hatte er keine eigene Wahlorganisation. Daher konnten seine Mitglieder politisch mitbestimmend nicht ins Gewicht fallen, zudem hatten sie auch innerhalb des Vereins keinen Einfluß. Durch diesen Verein war die Partei von den Aufgaben der Massenorganisa306

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tion, der Agitation und der Finanzierung derselben entlastet; ihre eigene Organisation war allein für die Kandidatenaufstellung zuständig. Dazu genügten die Honoratiorenkomitees, weil das Zentrum, wie zu zeigen sein wird, das Problem der Integration divergierender Interessen durch Erweiterung der Komitees gelöst hatte. Vereine und frei geworbene Mitglieder hat es darum im Zentrum im wesentlichen nicht gegeben, sie waren einfach nicht notwendig. Die Aufteilung der Funktionen - Kandidatenaufstellung und Massenorganisation - zwischen Partei und Volksverein befreite die Partei von einem möglichen direkten Einfluß der Wählermassen auf Personal- und Sachentscheidungen, sie ermöglichte eine oligarchisch-autoritäre Struktur der eigentlichen Parteiorganisation, ohne daß der Partei die Massen ihrer Anhänger aus den Händen glitten. Zahlenmäßig war vor 1914 der Volksverein nach der SPD die stärkste politisch-propagandistische Organisation in Deutschland; 1906 hatte er etwa 500 000, 1913/14 über 800 000 Mitglieder, davon über 400 000 im Rheinland und in Westfalen. Die einzig vergleichbare, einer bürgerlichen Partei affiliierte Organisation war der Bund der Landwirte mit - 1912 - über 300 000 Mitgliedern. Während dieser aber neben der konservativen Partei als eine eigenwüchsige Bewegung entstanden war und ihr gegenüber eine eigenständige und sehr einflüßreiche Macht blieb, war der Volksverein durchaus Hilfsorganisation. Er hat die Zentrumsfraktion in jeder Lage verteidigt, auch wenn die Fraktionspolitik der sozialpolitischen Linie seiner Leitung nicht ganz entsprach - wie etwa 1909 bei der Orientierung der Fraktion nach rechts - ; der Hauptakzent seiner politischen Agitation lag immer darauf, daß die Einheit des Zentrums und die Disziplin der katholischen Wähler notwendig sei. In dieser Richtung hat er der Partei einen kaum entbehrlichen Dienst geleistet, indem er die großen ökonomischen und sozialen Spannungen in der Zentrumswählerschaft neutralisiert oder ausgeglichen und vor allem eine Sezession der industriellen Massen Westdeutschlands während der Kämpfe um den Zolltarif verhindert hat. Er kam - mit den sozialtheoretischen und sozialpolitischen Auffassungen seiner Zentrale - den Bedürfnissen der sich wandelnden und sich neu bildenden städtischen Gesellschaft entgegen, ohne diese freilich schon politisch zur Geltung bringen zu können. Der Volksverein bildete gewissermaßen die Verbindung und den Übergang von der traditionellen oligarchischen, an den Ständen der alten Gesellschaft orientierten Zentrumsorganisation zur entstehenden modernen industriellen Massengesellschaft. Bis 1918 ermöglichte er noch das unabhängige Weiterbestehen der älteren Komiteeverfassung und der entsprechenden Führung, indem er sie vor einem Verlust der städtischen Wählerschichten bewahrte. Erst während des Krieges ist diese Funktionsteilung in Massenorganisation mit freier Mitgliederwerbung und Komiteeorganisation für die politischen Entscheidungen kritisiert worden. In dem mit der Führung des Volksvereins eng zusammenhängenden sogenannten sozialpolitischen Flügel der Zentrumspartei stellte man Erwägungen über eine Neuorientierung und Reorganisation der Partei an. Der vorwiegend mittelständisch-agrarische Charakter des Zentrums, 307 20* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

das Vorherrschen unpolitisch-provinzieller Gesichtspunkte bei seinen Anhängern und die Perspektivelosigkeit seiner Politik beruhten nach Meinung dieser Kreise auf einem - im Sinken des Wähleranteils handgreiflichen - Zurückbleiben hinter den Anforderungen der modernen industrialisierten Gesellschaft und des modernen Staates. Eine Ursache dieser Zurückgebliebenheit fand man auch in der beschriebenen Organisationsform. Aus diesen Gründen und um der Aktivierung und Politisierung der Anhänger willen forderten ζ. Β. Brauns und Stegerwald eine eigene Organisation der Partei mit Ortsvereinen, freier M it­ gliederwerbung und gewissen demokratischen Rechten der M itglieder. Diese Erwägungen konnten freilich vor 1918 keine reale Wirkung mehr haben, sie zeigen aber, wie die Funktionsteilung das Problem des Verhältnisses von Massenpartei und Honoratiorenorganisation nicht gelöst hatte. Wie der Volksverein dem Zentrum die Massenorganisation ersetzte, so übernahm die Generalversammlung der deutschen Katholiken, der sogenannte Katholikentag, die Funktion des Parteitages im Zentrum. Da die Anhänger des Zentrums weder so autoritätsbestimmt noch so homogen waren wie die Konservativen, brauchte die Partei ein Forum, wo die Anhänger zu Wort kamen, wo die Partei sich öffentlich kundtat und durch Resonanz in breiten Kreisen ihre Volkstümlichkeit demonstrierte. Bei der weitgehenden Identifizierung von öffentlich tätigem Katholizismus und Zentrum bot sich die jährliche Versammlung der Vertreter katholischer Vereine für diese Zwecke geradezu an. Im allgemeinen Bewußtsein waren diese Tagungen Parteitage des Zentrums, die Abgeordneten waren durchweg führend, die Resolutionen beschäftigten sich häufig im Sinne der Fraktion mit aktuellen politischen Fragen, ohne doch je im einzelnen die Politik der Fraktion, wenn auch nur moralisch, festzulegen; das wußten die Abgeordneten in jedem Falle zu verhindern. Die Tagungen dienten von der Partei her allein der Selbstbestätigung und Propaganda, ein auch nur indirekter Einfluß auf die Politik ging von ihnen nicht aus. So waren im Zentrum Massenorganisation und Parteitage auf Sonderorganisationen übertragen, die Probleme der Agitation und des Meinungsaustausches mit einem breiteren Anhängerkreis entfielen als Aufgaben für die Zentrale. Weil ferner die Landschaften, in denen das Zentrum eine Rolle spielte, immer ausreichend durch Abgeordnete vertreten waren und weil diese Abgeordneten zugleich die Führer der Landes- und Provinzialorganisationen waren, konnte die Fraktion einen Teil der Funktionen ausüben, die in anderen Parteien die Landesvertretungen, die Parteiausschüsse, übernahmen. Die Notwendigkeit, zentrale Organe einzurichten, war im Zentrum wenig dringlich. Bis kurz vor dem Weltkrieg gab es in dieser Partei - im Gegensatz zu allen anderen deutschen Parteien - überhaupt keine zentrale Institution neben der Fraktion. Die Fraktion hatte eine solche nicht nötig und wollte sie auch durchaus nicht einrichten. Das lag daran, daß die Fraktion, um ihre Machtstellung als ausschlaggebende Minorität zu erhalten, eine Politik treiben mußte, die im wesentlichen Taktik war. Darin wollte sie sich in keiner Weise und von niemandem festlegen lassen, um der jeweiligen parlamentarischen Lage entsprechend immer vol308

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le Entscheidungsfreiheit zu haben. Darum war die Reichstagsfraktion die Parteiführung. Erst im Februar 1914 wurde ein Reichsausschuß der deutschen Zentrumspartei eingerichtet, der aus den führenden Abgeordneten aller Parlamente, aus den Landes- oder Provinzialvorsitzenden und zahlreichen zugewählten Mitgliedern bestand. Praktisch ist er nur mit Kundgebungen hervorgetreten, für die eine über die Fraktionen hinausreichende Basis erwünscht war. Ein Wunsch Stegerwaids, den Reichsausschuß zur Parteiführung umzugestalten, weil die soziale Zusammensetzung der Fraktion infolge der Begünstigung der Landkreise durch die Wahlkreiseinteilung die Wählerschaft nicht repräsentiere, hat bis 1918 nicht realisiert werden können. Das Problem der Massenorganisation war für das Zentrum gelöst, das Problem der Mitwirkung der Partei im Lande an den zentralen Organen und an den zentralen Beschlüssen war nicht gestellt. Dagegen war das Zusammenfassen divergierender Meinungen und Interessen und die Beteiligung eines weiteren Honoratiorenkreises an den Parteiangelegenheiten in den Wahlkreisen und Provinzen die eigentliche organisatorische Aufgabe für das Zentrum. Das Zentrum war die einzige Volkspartei in Deutschland, es umfaßte alle Klassen und Stände vom Adel bis zur Arbeiterschaft. Seit dem Ende des Kulturkampfes wurden wirtschaftliche und politische Differenzen wichtiger und drohten, den Zusammenhalt der Wählerschaft zu lockern. Das Verhältnis von Führung und Unterordnung zwischen den bis dahin allein bestimmenden Wahlkomitees und den Wählern war gefährdet. In dieser Situation kam es darauf an, eine Organisation zu schaffen, die gegenüber den Wählern und ihrer gelegentlichen Opposition gegen die Kandidaten des Komitees über eine möglichst unanfechtbare Legitimation verfügte und für den Wahlkreis die Integration der gerade bei den Zentrumsanhängern divergierenden Interessen leisten konnte. Denn die Komitees entbehrten bis dahin „der breiten Unterlage, welche erforderlich ist, um dem Komitee die allseitige Anerkennung als legale Vertretung der gesamten Zentrumswählerschaft zu sichern“36. Die beiden Aufgaben einer Reorganisation - die bessere Legitimierung des Komitees und die Integration der Interessen - wurden nicht durch Demokratisierung, etwa durch Vereinsbildung und Wahl des Komitees, gelöst; einerseits wollte die Honoratiorenführung ein solches Risiko nicht eingehen, anderseits wollte man verhindern, daß eine demokratische Majorität eine Minderheit zur Sezession veranlaßte. Man versuchte vielmehr, sozusagen von oben nach unten, die repräsentative Funktion eines solchen Komitees für die Wählerschaft zu erweitern, indem Vertreter aller Schichten in angemessener Anzahl zugezogen wurden. Der im ständisch-sozialen Sinn repräsentative Charakter des Komitees sollte es legitimieren. Auch bei anders legitimierten Komitees - den Vorständen einzelner demokratisch organisierter Wahlvereine, den durch Volksversammlungen oder „Vertrauensmänner“ gewählten, d. h. bestätigten, Komitees - sollte durch das Recht und die Praxis der Kooptation die ständische Repräsentanz gesichert werden37. 309

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Da auch in dem kleinen Bereich eines Wahlkreises eine zahlenmäßig angemessene Vertretung von Klassen und Ständen ein unlösbares Problem war, zumal spezifische Interessen der Zentrumspartei, ζ. Β. an der Vertretung von Klerus und katholischen Vereinen, sich mit dem ständischen Prinzip kreuzten, handelte es sich bei der Zusammensetzung der Komitees zunächst mehr um eine optische Reorganisation, die dem Selbstbewußtsein mancher Schichten entgegenkommen, etwaige Oppositionsneigungen abfangen und neutralisieren sollte, ohne an der realen Machtverteilung direkt viel zu ändern. Die bestehenden Verhältnisse wurden auch dadurch stabilisiert, daß ein gut Teil des Komitees aus sog. geborenen Mitgliedern bestand, vor allem Pfarrern, ehemaligen Abgeordneten, Vertretern der Zentrumspresse und bestimmter allgemein-katholischer Vereine, von denen ein Eintreten für die Gesichtspunkte der Führung Unabhängigkeit der Abgeordneten von den Wählern, Herrschaft der Fraktion und Disziplin - erwartet werden konnte. Unter diesen Umständen war die Emanzipation der Arbeiterschaft, ihr Aufstieg zur Gleichberechtigung in den Komitees und vor allem den Vorständen der Zentrumspartei langwierig und schwierig und ist bis 1918 nicht befriedigend erreicht worden. Es wurden nur wenige Arbeiter herangezogen, und zwar eher harmlose Konzessionsschulzen als aktive und intelligente Vertreter. Ihre Einflußlosigkeit zeigte sich vor allem bei den Kommunal- und Landtagswahlen, wo die mittlere und untere Führungsschicht ausschlaggebend war; bei den Reichstagswahlen setzten sich die politischen Gesichtspunkte der Provinzialvorstände und die Wahlrücksichten eher in dem Sinne durch, daß man, wenn auch nur gelegentlich, Arbeiterinteressen und -kandidaten berücksichtigte. Das bei den bisher behandelten Organisationsformen aufgewiesene Verhältnis zwischen der kleinen Führungsgruppe und den übrigen „Mitgliedern“ galt natürlich auch in diesem Organisationssystem. Der Vorstand eines dieser sog. Komitees war maßgebend, aber er führte bei seinen Kandidatenvorschlägen mit Rücksicht auf das ganze Komitee. Einer Opposition wurde er normalerweise Herr, aber auf die Dauer kam es nicht darauf an, immer eine Mehrheit zu finden, sondern möglichst das ganze Komitee hinter sich zu haben; daher war der Ausgleich das Ziel, auch dieser im Sinne der Führung gestaltet, aber doch so, daß er mit Zustimmung des ganzen Komitees zustande kam. Das Zusammenhalten der divergierenden Interessen innerhalb der Zentrumswählerschaft wurde weiter durch die organisatorische Stellung und die Politik der Landes- oder Provinzialleitungen ermöglicht. Die Stellung dieser aus Delegiertenversammlungen hervorgegangenen Körperschaften war relativ stark, sie waren die eigentlichen Machtzentren der Partei im Lande. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die Kandidatenaufstellung zu koordinieren. Formell waren die Wahlkreisorganisationen zwar ganz unabhängig bei der Kandidatenaufstellung, aber es war üblich, sich mit der Provinzialleitung ins Benehmen zu setzen. Die anerkannte Autorität der Provinzialleitung fiel so stark ins Gewicht, daß ihr indirekter Einfluß ausreichend war. Sie konnte von ihr gewünschte Kandidaten gelegentlich in freien Wahlkreisen unterbringen, für oder gegen die 310

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Wiederaufstellung bisheriger Abgeordneter einen meist ausschlaggebenden Einfluß ausüben, sie konnte notfalls durch ein Veto Vorschläge zu Fall bringen. Bei diesem Vorgehen versuchte sie im Interesse der Gesamtpartei überlokale Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen, sie versuchte durch Koordinieren der Kandidaturen die klassenmäßige und berufliche Struktur der Fraktion so zu beeinflussen, daß sie damit alle wichtigen Wählerschichten berücksichtigte. Sie führte in der Provinz oder dem Lande einen beruflichen Proporz unter den Kandidaten bis zu einem gewissen Grade durch, wobei sie sich insbesondere der Gruppen annahm, die in allen Wahlkreiskomitees Minderheiten blieben, wie Arbeiter, Angestellte und Handwerker. Natürlich durfte die Leitung ihren formell weitgehend ungesicherten Einfluß nicht überspannen. Darum gab sie im wesentlichen nur grundsätzliche Richtlinien oder machte mehrere Vorschläge oder befürwortete einfach die Absichten der Kreisvorstände. So gingen die Kandidaturen im allgemeinen aus einer Verständigung zwischen der zentralen und lokalen Organisation hervor, wobei der Einfluß der ersteren hinreichend gewahrt blieb. Durch die Politik der Landesleitungen wurden zwar die verschiedenen Interessen nicht eigentlich integriert, aber sie wurden doch nach Möglichkeit wenigstens repräsentiert. Damit versuchten die zentralen Instanzen die Mängel zu korrigieren, die sich für die Kandidatenauswahl aus der herkömmlichen Honoratiorenverfassung ergaben, sie versuchten, den modernen Umbildungen der Gesellschaft besser zu entsprechen. Aber es blieb da bei Ansätzen, selbst in dem am weitesten fortgeschrittenen rheinischen Zentrum. Die Wahlpolitik der Zentralen hat im ganzen nicht dazu geführt, die Struktur der Zentrumspartei und der Fraktionen zu modernisieren und der sich industrialisierenden Gesellschaft stärker anzupassen. Die neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mächte - Industrielle, Angestellte, Arbeiter - spielten in der Partei keine führende Rolle. Die Zusammensetzung auch der Provinzialkomitees und die Angewiesenheit auf die unteren Honoratiorenorganisationen haben bewirkt, daß die Grenzen der Tradition bis 1918 prinzipiell nicht überschritten wurden, wenn auch im einzelnen größere Einsicht mancher Führer Konzessionen an die moderne Entwicklung durchsetzte. Zum Teil waren die Landesleitungen der Partei mehr Vertreter der Fraktion im Lande als Vertreter des Landes gegenüber der Fraktion. Auch dadurch wurde die Tendenz lokaler Parteihonoratioren zur Mitbestimmung in der Zentrale abgefangen, die Unabhängigkeit der Fraktion gesichert. Oppositionsneigungen konnten sich bei dieser Organisationsverfassung innerhalb der Partei nur wenig regen38, sie wurden verdrängt und dann allerdings außerhalb der Partei in wirtschaftlichen Sonderorganisationen, katholischen Interessenverbänden aktiv. Die meisten Schwierigkeiten zwischen Partei und Anhängern entstanden durch solche Sonderorganisationen. Diese konnten sich zwar nicht gegen die Partei durchsetzen, aber da es der Partei auf einen Ausgleich der Gegensätze ankommen mußte und diese Sonderorganisationen, wie Bauern-, Handwerker- und 311

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Arbeitervereine, die Wähler normalerweise beim Zentrum festhielten, hatten sie auf die zustande kommenden Kompromisse doch erheblichen Einfluß. Im ganzen war die Zentrumsorganisation - durch die Stellung des Zentrums als Vertretung der katholischen Minderheit im Reich besonders begünstigt - durchaus funktionsfähig. Zusammenhalt der Massen, Integration der Interessen und Heranziehen eines weiteren Honoratiorenkreises an die Partei wurden in den alten Formen der Organisation ermöglicht, und zwar so, daß die Unabhängigkeit der Führung, der Fraktion, in hohem Maße gesichert blieb. Die Organisation war freilich an einer alten Gesellschaftsordnung orientiert, den Bedürfnissen der neuen industriellen Gesellschaft und der Emanzipation der in ihr sich bildenden Massen trug sie nur sehr beschränkt Rechnung; der Einfluß der örtlichen Honoratiorenkomitees auf die Kandidatenaufstellung und damit auf die Zusammensetzung der Fraktion blieb erhalten. Das System genügte den Anforderungen der Gegenwart durchaus, aber es wurde den vorwärtstreibenden Tendenzen, den Ansprüchen der Zukunft nicht gerecht. 4. Während Konservative und Zentrum mit außerparteilichen Hilfsorganisationen ihre Massenbasis und ihre Kampfkraft sicherten, in den alten, teilweise erweiterten Organisationsformen die Integration der Interessen ermöglichen und den jedenfalls bei den lokal führenden Anhängern aufkommenden Zug zur innerparteilichen Demokratisierung abfangen konnten, war die Lage der liberalen Parteien diesen Problemen gegenüber schwierig. Sie verfügten im Wahlkampf und bei der Massenwerbung über keine mächtigen Hilfsorganisationen neben der Partei39, die sozialen und ökonomischen Interessen der Anhänger gingen stark auseinander und die mangelnde Homogenität war nicht durch die mächtige Klammer einer gemeinsamen, über das Politische hinausgehenden Weltanschauung kompensiert, der Sinn für Autorität war bei der Partei und ihren Anhängern gering. Die Probleme waren für die Liberalen härter, die Hilfsmittel geringer. Die Lösung konnte nur durch eine Umbildung der eigenen Parteiorganisation versucht werden. Man mußte die Ansätze der älteren Organisationsformen ausbauen, die dazu geeignet waren, Interessen zu integrieren, die Führung zu legitimieren und sie zu demokratisieren, man mußte die Organisationen erweitern und aktivieren. Diese Umbildung der Parteiorganisation erfolgte in den liberalen Parteien in drei Hauptrichtungen: als Ausbau der Vereine, als Ausbau der Parteitage, als Ausbau des Agitationsbetriebes. Diese Richtungen treten besonders in der Entwicklung der nationalliberalen Partei hervor. Ausbau der Vereine, das bedeutete zunächst, daß die Komiteeverfassung durch die Vereinsverfassung abgelöst wurde, jedenfalls in solchen Wahlkreisen, in denen die Nationalliberalen eine im Wahlkampf ins Gewicht fallende Gruppe darstellten. Die Motive, die schon früher vereinzelt zur Vereinsbildung geführt hatten, die Notwendigkeit, wirtschaftliche Differenzen auszugleichen und den Anhängern eine gewisse Mitbestimmung einzuräumen, gewannen nach 1890 beträchtlich an Bedeutung. Der wichtigste Anstoß ging zunächst von der agrarischen Bewegung aus, die die nationalliberale Stellung auf dem Lande 312

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ernstlich bedrohte. Um die bäuerlichen Anhänger nicht gänzlich zu verlieren, mußte man sie zusammenfassen und ihnen ein stärkeres Mitspracherecht gewähren. Darum erhielten einerseits die Vertrauensmänner einen zunehmenden politischen Einfluß, andererseits entstanden gerade auf dem Lande viele Wahlvereine. Die stärkere agrarische Färbung der nationalliberalen Partei und der nationalliberalen Fraktion zwischen 1893 und 1906 hängt nicht nur mit Wahlrücksichten und dem Druck der Agrarbewegung zusammen, sondern auch mit dem größeren Einfluß bäuerlicher Anhänger auf die Kandidatenaufstellung, wie ihn die Wahlvereine oder die stärkere Position der Vertrauensmänner ermöglichten. In den Vereinen waren im wesentlichen bäuerliche und ländliche Honoratioren vertreten, auf hohe Mitgliederzahlen kam es primär nicht an. Nach der Jahrhundertwende gewann die Organisation auch an Kontinuität, da man der ständigen agrarischen Agitation begegnen mußte; freilich entwickelte sich diese Tendenz zu einem Parteibetrieb außerhalb der Wahlzeit nur sehr langsam. Ein zweiter Anstoß zur Ausdehnung und Intensivierung des Vereinsbetriebs ging nach der Jahrhundertwende von der sog. jungliberalen Bewegung aus. Die Jungliberalen waren ein Zusammenschluß zunächst von Jugendlichen aus städtischen, bürgerlichen Kreisen, die politische Diskussionen abhielten und eine Art politischer Bildung vermitteln wollten; sie organisierten sich entweder im Anschluß an die bestehenden nationalliberalen Vereine oder auch unabhängig davon als selbständige Gruppen. Betont national, ja imperialistisch und scharf antiklerikal einerseits, andererseits innenpolitisch ausgesprochen liberal und sozialpolitisch aufgeschlossener als die Mehrheit der Partei, dazu von starker Aktivität erfüllt, standen sie in einem gewissen Gegensatz zu dem weitgehend konservativ gewordenen Geist der Partei, zu den seitherigen lokalen Führern und zu dem laxen Betrieb innerhalb der Partei. Sie wollten, daß die Partei mehr Sinn für die Macht bekäme, nicht in regierungsfrommen Kompromissen stekkenbliebe, sondern wirkliche liberale Erfolge erringe, zu einer Macht im Staate würde. Sie wollten ferner - in einer Verbindung von bürgerlich-romantischen Gemeinschaftsvorstellungen und realem politischen Sinn -, daß die Partei nicht in ihrer großbürgerlich-akademischen Orientierung gefangen bliebe, sondern Volkspartei würde. Aus diesem Streben, Macht zu gewinnen und eine Volkspartei zu sein, ergab sich für die lokale Organisation das Ziel, die Beschränkung der Vereine auf eine kleine Mitgliederzahl und auf Honoratioren zu durchbrechen, eine möglichst große Zahl von Mitgliedern aus allen Volkskreisen zu gewinnen und mindestens das Bürgertum stärker für politische Zwecke zu bilden und zu organisieren; es waren vor allem die neu entstehenden oder sich ausbildenden Schichten der Angestellten und Beamten, in die man vorzustoßen hoffte. Diese hochgesteckten Ziele wurden auch von den Jungliberalen nicht erreicht, auch ihre selbständigen Vereine konnten die klassenmäßige Begrenzung der Partei nicht sprengen, konnten keine Massen organisieren. Immerhin haben sie in den Städten einiges für die Politisierung des Bürgertums, zumal der bürgerlichen Jugend, getan, immerhin haben sie einen 313

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Teil des sog. „neuen Mittelstandes“ für die Partei gewinnen können. Ihre eigentliche Wirkung war die einer intellektuellen Vorhut der Partei, sie haben die Partei in Bewegung gebracht, das Problem der Organisation überhaupt erst auf die Tagesordnung gesetzt, die Vereine aus ihrer Exklusivität, ihrer Erstarrung und ihrer Lethargie zwischen den Wahlen aufgestört - eine ähnliche Wirkung, wie sie die national-sozialen Vereine bei den Linksliberalen gehabt haben. Natürlich ist dieser Anstoß im Ganzen der Partei wesentlich abgeschwächt und verlangsamt worden, aber er wirkte doch und hat auf die Dauer die alte Honoratiorenorganisation umgestaltet. 1914/15 gab es im Reich 2007 nationalliberale Vereine mit 283 711 Mitgliedern, 1909 waren es erst 940 Vereine gewesen; daß Vergleichszahlen aus früheren Jahren fehlen, ist ein Symptom dafür, wie langsam das Interesse an der Organisation mit hohen Mitgliederzahlen erst aufgekommen ist. Auch wenn die Zahl der Mitglieder für 1914 übertrieben ist, kann man annehmen, daß knapp 15% der nationalliberalen Wähler damals organisiert waren, das ist für eine bürgerliche Partei eine beträchtliche Zahl40. Die Mitgliedschaft in diesen Vereinen war natürlich häufig recht lose, eine Beitragspflicht bestand nicht durchgängig und wurde kaum einigermaßen eingehalten, ein Vergleich mit der Mitgliedschaft der SPD ist daher nicht möglich. Die Vereine waren oft mehr nationale und gesellige Vereine als politische Organisationen, die Politisierung der Mitglieder im liberalen Sinn erfolgte doch nur in Ansätzen, die kontinuierliche Aktivität der Vereine blieb recht begrenzt. Immerhin: es waren auf diese Weise zwar keine geschlossenen Massen, über die die Partei eben nicht verfügte, organisiert, aber doch ein beträchtlicher Prozentsatz von Wählern der Partei. Weil diese Entwicklung spät in Gang kam und erst kurz vor dem Weltkrieg in diesem Maße zunahm und ihren Höhepunkt erreichte, kann man ihre politische Tragweite kaum beurteilen. Der Wahlausgang von 1912 hing mit der Organisationsverfassung doch nur teilweise zusammen, das Mehrheitswahlrecht bot für die Liberalen in den Großstädten keine Erfolgsaussichten, andererseits waren alte Versäumnisse der Liberalen bei der Organisation nicht in wenigen Jahren auszugleichen. Immerhin hätte die Partei 1912 ihre Wählerzahl kaum ohne diese ausgedehnte Organisation erhalten können. Die Jungliberalen wollten die erstrebte große Zahl der Mitglieder durch eine demokratisierte Verfassung dieser Vereine politisch aktivieren, durch ein nicht nur formales Mitbestimmungsrecht die Parteimitgliedschaft anziehend machen, durch Demokratie einheitliche Führung und anerkannte Beschlüsse sichern. Diese Ideen sind im wesentlichen nicht realisiert worden. Die Stellung der Honoratioren, die Trägheit der Mitglieder, der Mangel an geeigneten Führungskräften und der späte Ausbau der Vereine ließen es dazu nicht kommen; die Ablösung der Honoratiorenführung durch eine neue, allein durch ihre Aktivität im Verein aufsteigende Führung war im allgemeinen noch nicht gelungen. Geheime Vorstandswahlen gab es wohl kaum. Immerhin war der Aufstieg von strebsamen jungen Vereinsmitgliedern in die Vereinsführung oder in die große 314

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Politik in größeren Vereinen leichter als in den älteren Honoratiorencliquen; Stresemann hat so eine schnelle Karriere im nationalliberalen Verein von Dresden machen können. Auch für reale Entscheidungen der Vereine, z. Β. über Stichwahlen, konnte in Einzelfällen und gerade unter jungliberalem Einfluß die Bedeutung der Mitglieder zunehmen, es konnte zur Auflehnung gegen Beschlüsse des Vorstandes kommen, die diesen zur Zurücknahme zwangen. Im ganzen kann jedoch von einer weitgehenden Demokratisierung der Vereine nicht gesprochen werden, die Honoratiorenzunft blieb noch stark. Die aufstrebenden jungen Kräfte waren zudem meist in ihren Sonderorganisationen, eben den jungliberalen Vereinen, tätig, deren Altersgrenze bei 40 Jahren lag und kaum streng eingehalten wurde. Sie übten gewissermaßen neben den Honoratiorenorganisationen ihren Einfluß auf die Partei aus und gelangten neben diesen in die Politik41. Es war eine Folge der lockeren Struktur der Partei, daß eine solche Bewegung außerhalb der eigentlichen Parteiorganisation entstehen und wirksam werden konnte. Der zweite Grundzug in der Organisationsgeschichte der nationalliberalen Partei war der Ausbau der Institution der Parteitage42. Diese hatten die Funktion, die gefährdete Einhelligkeit der Partei immer wieder herzustellen und die Anhänger an der zentralen Meinungsbildung zu beteiligen. Auch hier haben die Jungliberalen eine Initiative ergriffen, nach ihrer Meinung hingen die Konzentration der Kräfte und der Anteil der Mitglieder an der Meinungsbildung zusammen, „Zentralisation durch Demokratie“ war gewissermaßen ihre Parole. Während in dem ersten eigentlichen Parteistatut von 1892 die Zusammensetzung des Parteitages von oben erfolgte - die Provinzialleitungen bestimmten die Delegierten -, sah das unter jungliberalem Einfluß zustande gekommene Statut von 1905 die Wahl der Delegierten durch die Wahlkreisorganisationen vor und berücksichtigte dabei auch die Wählerzahlen der Partei im Wahlkreis. Über die Wahlen dieser Delegierten war nichts festgesetzt, es wurde erwartet, daß sie nicht vom Vorstand, sondern von den Mitgliedern der Organisation delegiert wurden; ähnlich war für die Vereine vorgeschrieben, daß mehr als die Hälfte des Vorstandes aus einer Wahl hervorgegangen sein mußte. Die Versuche der Jungliberalen, Zusammensetzung und Funktion des Parteitags demokratischer zu gestalten, ζ. Β. Kooptation auszuschließen und eine Berichtspflicht des Zentralvorstandes einzuführen, scheiterten, die Parteiführung konnte mit den „Erfordernissen der Praxis“ argumentieren, die gegen die demokratischen Wünsche sprächen: es gebe Wahlkreise, in denen die Nationalliberalen in überparteilichen Vereinen organisiert seien, deren Vertretung daher die Zentrale regeln müsse, der Bericht könne nichts Neues bieten, konzentriere den Parteitag auf erledigte Dinge oder sei nichts als eine leere Formalität43. Im ganzen sahen die Parteitage, die auf einer demokratischeren Grundlage zustande gekommen waren, nicht anders aus als die älteren. Das lag daran, daß die auf den älteren Parteitagen vertretenen Parteihonoratioren die Vielfalt in der Partei ebenso repräsentierten wie die gewählten Delegierten, und daran, daß Entscheidungen mit knappen Mehrheiten nie getroffen wurden, so daß eine Ver315

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Schiebung der Kräfte nicht eigentlich festgestellt wurde und keine Wirkung hatte. In jedem Falle kamen auf den Parteitagen die verschiedenen Meinungen der Partei im Lande zu Wort. Das war auch ihre wesentliche Bestimmung, sie waren Ausspracheorgan, Forum des Meinungsaustausches. Entscheidungen hatten sie nicht zu treffen, die beschlossenen Resolutionen waren im allgemeinen Kompromißfassungen, die sehr allgemein blieben und der Auslegung durch jeden Flügel fähig waren; selbst die Richtung der Parteiagitation wurde dadurch nicht festgelegt, da sie von der Fraktion, von der Parteiführung und von den Provinzialleitungen bestimmt wurde und im Lande dementsprechend verschieden war. Aber die Aussprache selbst hatte eine echte Funktion. Sie diente einerseits dem Ausgleich von Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen, andererseits war sie ein Ausdruck der Stimmung innerhalb der Partei, der für die Parteileitung wie für die Fraktion ins Gewicht fiel. Denn die Parteiführer brauchten das Einverständnis der Anhänger, eine Politik, die nicht von der Mehrheit getragen wurde, war auf die Dauer unmöglich. Darum warben die Führer auf den Parteitagen für ihre Politik, und sie bestimmten damit sehr stark die Meinung der Delegierten, insbesondere die der großen schweigsamen Mitte; sie hatten den überwiegenden Einfluß und gewannen noch daran, je größer die Parteitage wurden44. Aber sie mußten eben auch auf die Resonanz achten, die sie beim Parteitag fanden, das Verhältnis von Hören und Reden war zwischen Führung und Delegierten wechselseitig. Von diesem Gesichtspunkt aus haben die langen heftigen Debatten der Parteitage, auch die scharfe Kritik an Einzelmaßnahmen oder der Gesamtrichtung der Fraktion, die ohne direktes Resultat blieben und höchstens mit nichtssagenden Erklärungen endeten, doch einen guten Sinn. Für die Fraktion und die Parteileitung waren die Meinungen des Parteitages natürlich nur einer der Aspekte, die für ihre Entscheidungen in Betracht kamen, schon deshalb, weil die Diskrepanz zwischen den städtischen Parteimitgliedern und den ländlichen Wählern liberaler Abgeordneter in dieser Partei jedenfalls zwischen 1893 und 1906 besonders groß war; die Vertreter städtischer Wahlkreise, die meist Wortführer der Kritik waren, konnten Wahlerfolge weder aufweisen noch versprechen. Ein Einfluß des Parteitages auf die Politik der Partei war also zwar vorhanden, die Parteileitung mußte ihn beachten, sie brauchte sich aber nicht nach ihm zu richten; die Unabhängigkeit der Fraktion ist auch von den Parteitagen niemals angegriffen worden. Eine eigentliche Demokratisierung der Parteiführung durch den Parteitag ist also ebensowenig wie die Demokratisierung des Parteitages selbst gelungen. Aber das eingeräumte Mitspracherecht genügte den aktiven Anhängern der Partei im Lande. Der dritte Zug der nationalliberalen Organisation in der Zeit vor dem Weltkrieg ist der Ausbau der Agitation und die damit verbundene Bürokratisierung der Partei. Ohne Hilfsorganisation mußte die Partei die Agitation selbst übernehmen, dazu und zur Belebung der lokalen Organisationen gab es in den Provinzen Parteisekretäre oder Generalsekretäre, in Berlin ein Zentralbüro mit 316

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Generalsekretären und Hilfskräften45. Diese Angestellten, die sich hauptamtlich mit dem Parteibetrieb befaßten, haben gegenüber den anstellenden Komitees keine politische Bedeutung gehabt, sie konnten allerdings diese Tätigkeit zum Sprungbrett für den Eintritt in das Parlament benutzen. Die Partei mußte diesen sich ausdehnenden Betrieb und die intensiver werdenden Wahlkämpfe weitgehend selbst finanzieren. Da die reichen Mitglieder der Partei oft nicht in den Wahlkreisen wohnten, in denen die Partei mit Aussicht auf Erfolg in den Wahlkampf eintreten konnte, war eine Finanzierung aus den Wahlkreisen selbst, wie sie bei den Konservativen und im Zentrum üblich war, nicht möglich. Die Zentrale mußte in die Finanzierung eingeschaltet werden. Da es Abgaben der Vereine nicht gab, sammelte die Zentrale Beiträge von Einzelmitgliedern, und zwar erstreckten sich diese Sammlungen nicht mehr wie in den Anfängen der Organisation nur auf wenige Mäzene und jeweils einmalige Beiträge, sondern auf eine große Zahl mehr oder minder reicher Mitglieder und auch auf dauernde Beiträge. Natürlich spielten Mäzene eine Rolle, aber die Finanzierung beruhte nicht auf ihnen, zumal die nationalliberalen Ruhrindustriellen ihre Beiträge großenteils an die Provinzialorganisationen richteten. Die Einnahmen waren natürlich je nach anstehenden Wahlen unterschiedlich, im ganzen nahmen sie wie die Ausgaben für die Parteiverwaltung und für die Wahlkämpfe zu. Die Gelder von Industrie- und Wirtschaftsverbänden, die wohl zuerst 1907, in großem Stil 1912 zur Verfügung standen, liefen zwar zum Teil über die Zentrale, aber sie waren direkt für einzelne Kandidaten und einzelne Wahlkreise bestimmt. Darum war ein finanzieller Druck auf die Wahlkreisorganisationen nicht möglich, in den schweren Wahlkämpfen konnte die Zentrale durch solchen Druck hervorgerufene innerparteiliche Spannungen auch nicht riskieren. Apparat und Finanzierungsmethoden bildeten sich also aus, ohne daß zunächst dadurch die Organisation der Partei und die Machtverteilung, die Unabhängigkeit der Wahlkreise und der Fraktion, wesentlich geändert wurden. Die Organisation der freisinnigen Parteien entsprach in den Grundzügen der entwickelten Organisation der Nationalliberalen. Auch die Freisinnigen versuchten, die Aufgaben der Parteiorganisation in der sich ausbildenden und differenzierenden Massengesellschaft durch Vereine, Parteitage und die Ausbildung eines kleinen Apparates zu lösen, auch bei ihnen blieb die lockere Struktur der Partei erhalten, auch bei ihnen ergab sich etwa das gleiche Verhältnis zwischen Führung und Anhängern wie bei den Nationalliberalen. In der Freisinnigen Volkspartei waren die Vereine, wo sie bestanden, zwar gut ausgebildet, aber erstarrt, von ihnen ging keine Bewegung mehr aus, sie zogen keine neuen Kräfte mehr an; eine innerparteiliche Meinungsbildung wurde zwar nicht formell, aber faktisch durch Eugen Richters Parteidiktatur verhindert. Die sozialpolitisch weit fortgeschrittene Freisinnige Vereinigung hat lange Zeit überhaupt keine lokalen Organisationen gehabt. Erst der Eintritt der Nationalsozialen und das unermüdliche Hinweisen Naumanns auf die Wichtigkeit der Organisation haben Bildung und Ausbau von Vereinen veranlaßt, die sogar an317

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fingen, mit Mitgliedslisten und festen Mitgliedsbeiträgen zu arbeiten, und damit, einen festen Prozentsatz dieser Beiträge an die Zentrale abzuführen; Parteisekretariate wurden in den Provinzen errichtet. Der Erfolg dieser Bemühungen war unterschiedlich, der Zahl nach konnten diese neuen Organisationen mit den alten Vereinen der Richterschen Partei nicht konkurrieren. Immerhin waren im ganzen nach dem Zusammenschluß der Linksliberalen knapp 10% der Wähler organisiert. - Das Finanzsystem war dasselbe wie bei den Nationalliberalen, nur waren die Einnahmen wesentlich geringer. Das freihändlerische Großbürgertum investierte nicht in dem Maße Kapital in der Politik wie die Großindustrie. Das Fehlen eines ausgebreiteten Vereinssystems, der Mangel einer organisierten Massenbasis, die fehlende Politisierung bürgerlicher, vor allem wirtschaftlicher Führungsschichten - diese organisatorischen Schwächen des Liberalismus haben auch die Linksliberalen erst spät zu überwinden angefangen. Die Aufgaben, Massen zu werben und zu organisieren, Interessen zu integrieren, die innerparteiliche Meinungsbildung zu ordnen und die Anhänger daran in gewissem Maße zu beteiligen, sind von den Parteien verschieden gelöst worden. Die wichtigsten Kennzeichen einer Honoratiorenpartei aber, Unabhängigkeit der lokalen Instanzen bei der Aufstellung der Kandidaten, mindestens relatives Übergewicht der „natürlichen“ Führer über die Geführten und Unabhängigkeit der Fraktion blieben in allen Parteien bis 1918 aufgrund des Wahlsystems, des Mehrparteiensystems und der gesellschaftlichen Struktur erhalten. Die Revolution erst setzte die Zäsur in der Organisationsgeschichte. Die Einführung der Verhältniswahl, die Politisierung des Volkes, die Emanzipation der Arbeiterschaft und endlich die neue Funktion der Parteien im Staate schufen Bedingungen, unter denen die Parteiorganisation sich entscheidend verändern mußte.

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13. Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg Geht man von der Problemstellung des 19. Jahrhunderts, die auch die gegenwärtige Diskussion noch mitbestimmt, aus, so gehört die Frage nach dem Verhältnis von Verbänden und Parteien1 in den größeren Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Noch während die Parteien, die die Gesellschaft zu repräsentieren beanspruchen, sich gegen den Obrigkeitsstaat durchzusetzen suchen, um ihn schließlich zu übernehmen, bilden sich in ihrem Gefolge neue, anders gruppierte und organisierte gesellschaftliche Mächte, die Verbände. Die Spannung zwischen Staat und Gesellschaft wiederholt sich im Gegensatz von Parteien und Verbänden, je mehr die Parteien in den Staat hineinwachsen. Der Liberalismus entbindet die gesellschaftlichen Kräfte, die in Gestalt der Parteien den Staat zu übernehmen trachten; aber er entbindet diese Kräfte auch in Gestalt der Verbände, die, weil sie die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft herabsetzen, die erstrebte Übernahme des Staates wesentlich erschweren. Das ist einerseits eine immanente Dialektik, die auch in anderen Ländern, in Frankreich zum Beispiel, zu beobachten ist, andererseits aber und vor allem hängt sie mit den besonderen Bedingungen des deutschen Staatswesens zusammen. Wir versuchen die Struktur dieses politisch-gesellschaftlichen Phänomens in seiner ersten Phase zu analysieren. Dabei sollen unter Verbänden verstanden werden Zusammenschlüsse, die 1. auf voluntaristischer Grundlage beruhen, 2. direkt wirtschaftliche und soziale Interessen vertreten und 3. primär damit befaßt sind, auf die Gesetzgebung einzuwirken. Kammern, allgemeinpolitische Agitationsvereine, auch wenn sie wie Flottenoder Ostmarkenverein eng mit ökonomischen Interessen verflochten waren, und endlich alle Formen von Kartellen und Trusts bleiben in unserem Zusammenhang also unberücksichtigt.

I. Der Eintritt der Verbände in die Politik Die erste und selbstverständliche Voraussetzung für den Versuch von Verbänden, auf die Parteien Einfluß zu nehmen, war deren Teilnahme an der Macht. Solange sie darum noch zu kämpfen hatten, in Preußen, dem wirtschaftlich führenden Land, also während des Verfassungskonflikts, war es sinnlos, sein Zelt im Vorhof dieser machtlosen Gebilde aufzuschlagen. Die freien Bewegungen der Gesellschaft mündeten noch ganz überwiegend in die Parteien, sie allein vertraten - trotz mancher Bedenken - auch in den Augen der Wirtschaftskreise diese Gesellschaft. Zudem hatte bis 1870 die nationale Frage 319

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einen so klaren Vorrang, daß ein Konflikt zwischen Parteien und Verbänden eigentlich nicht aufkam. Die soziale Bedingung für dieses harmonische Verhältnis war das Klassenwahlrecht. Es sicherte die politische Prävalenz der wirtschaftlich führenden Schicht; zwischen den Parlamentariern, die weitgehend der Bildungsschicht entstammten, und den Wirtschaftskreisen bestand eine Art Klassensolidarität, und da man überdies häufg durch persönliche Beziehungen verbunden war, schien eine besondere Organisation wirtschaftlicher Interessen nicht erforderlich. Vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts gab es daher nur Ansätze zur Organisation von Interessen. Während der Revolution 1848 schlossen sich Handwerker und Agrarier in dem Moment zusammen, als die Parteien einen Anteil an der Macht zu erhalten schienen; in den fünfziger und sechziger Jahren entstanden Verbände nur mit ganz speziellen - zum Beispiel verkehrspolitischen oder bergrechtlichen o. ä. - Zielsetzungen, die sich entweder bald wieder auflösten oder aber sehr klein blieben und keine politische Bedeutung gewannen. Erst nach 1870 treten Verbände wirklich in den politischen Raum ein. Dafür sind die verfassungsmäßig konsolidierte Teilhabe der Parteien an der Macht und das allgemeine Wahlrecht aber nur die - allerdings wesentlichen - Vorbedingungen. Auslösend waren die Krisen, wie sie aus der beschleunigten Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft entstanden. In diesen Krisen erhob sich der Ruf nach Staatsintervention, und an diesem Ruf entzündete sich die Aktivität entstehender oder sich festigender Interessenverbände, und der werdende Interventionsstaat wiederum provozierte das Entstehen neuer Verbände. Kampf um die Wirtschaftspolitik Insbesondere war es der Kampf um den Übergang vom Freihandel zum Schutzzoll, der die Verbände auf den Plan rief. Unter der Herrschaft des Manchestertums war die Wirtschaftspolitik von einem einzigen, und zwar negativen, Prinzip der Nichteinmischung des Staates geleitet, und das verband Industrie, Handel und Landwirtschaft. Das änderte sich, seitdem in der Krise der siebziger Jahre zunächst Eisen- und Textilindustrie staatliche Sicherung ihrer Rentabilität durch Zölle forderten und die Landwirtschaft sich, zuerst etwas zögernd, dieser Forderung anschloß, sobald sich der Übergang Deutschlands vom landwirtschaftlichen Export- zum Importstaat abzeichnete. Das wirtschaftliche Prinzip Schutzzoll nun war gegenüber dem Prinzip Freihandel positiv und vielfältig; es differenzierte die Interessen der Wirtschaft und begünstigte einzelne Gruppen zuungunsten anderer. In dem Kampf um die damit beginnende staatlich gelenkte Umverteilung des Nationaleinkommens suchte jede Produzentengruppe ihren Anteil durch eine politisch tätige Organisation zu sichern. Zugleich zerfiel die Solidarität der Wirtschaft mit den Abgeordneten, insbesondere den Beamten und Akademikern. Sie waren Konsumenten und galten als interessen- und „praxis“-ferne, von der freihändlerischen Nationalöko320

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nomie beeinflußte Theoretiker. Das Ausspielen der wirtschaftlichen Praxis gegen die Theorie wurde gerade in den siebziger Jahren, von Bismarcks Abneigung gegen liberale Ideologien ebenso gespeist wie von der Propaganda der Interessenten, zur Mode, eine Erscheinung, auf deren Zusammenhang mit anderen Zügen des zeitgenössischen Bewußtseins, etwa seinem Verhältnis zur Macht, hier nur hingewiesen werden kann. Der Protektionismus also differenzierte die Interessen, er verselbständigte sie damit und gab ihnen ein Eigengewicht. 1876 wurde der erste Gesamtverband eines Wirtschaftszweigs, der Zentralverband deutscher Industrieller, gegründet; gleichzeitig entstand auch die erste politische Organisation der Landwirtschaft, der Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer, in dem vor allem die maßgebenden Abgeordneten der Rechten saßen. Auf dem Bündnis dieser beiden Organisationen beruhte der Zolltarif von 1879, die Regierungsvorlage entstand direkt aus einem Entwurf des Zentralverbandes. Weltwirtschaftliche Verflechtung und Zollfragen blieben bis 1914 ein Motor, der Wirtschaftsinteressen mobilisierte und in Verbänden politisch aktiv werden ließ2. Entsprechend ihrer zunehmenden Bedeutung trat dabei die Exportindustrie allmählich stärker hervor, sie suchte ihr den Zollinteressen der Schwerindustrie entgegengesetztes Interesse an billigen Rohstoffen und am Abbau der Auslandzölle entschieden und selbständig zu vertreten und organisierte sich in eigenen Verbänden, zumal seit 1895 im Bund der Industriellen, der dann durch Stresemann, den Syndikus seines sächsischen Landesverbandes, eine besondere Bedeutung erlangt hat. Die Agrarkrise der neunziger Jahre, seither fast permanent, entfesselte 1892/93 eine agrarische Massenbewegung, die mit geradezu elementarer Gewalt nach Zöllen rief und die im Bund der Landwirte, den bayerischen Bauernbünden und den nunmehr endgültig politisierten katholischen Bauernvereinen organisatorisch Gestalt fand. Verbunden mit der Zollfrage war die Auseinandersetzung um den Übergang vom „Agrar-“ zum „Industriestaat“, um das Tempo der Industrialisierung, und auch daran entzündete sich die Aktivität der Verbände. Die Stände der vorindustriellen Gesellschaft wehrten sich gegen die Industrialisierung, insbesondere die Landwirtschaft. Sie wollte mit allen Mitteln den Verlust ihrer dominierenden Stellung verhindern oder ihn jedenfalls durch politische Kompensation ausgleichen. Daraus entsprang ihr Kampf zum Beispiel gegen Börse und Aktien, gegen Kanäle oder Margarineproduktion, gegen Freizügigkeit oder verbesserte Sozialleistungen, soweit sie die Landarbeiterfrage verschärften, und im Gegenzug die organisierte Abwehr der Industrie. Auch Handwerk und Kleinhandel, in ihrer Existenz scheinbar bedroht, suchten sich der kapitalistischen Entwicklung zu widersetzen; es entstand die sehr rabiate, zum Teil mit dem Antisemitismus verflochtene Mittelstandsbewegung, die vor allem gegen die Gewerbefreiheit und die aufkommenden Warenhäuser und Konsumvereine kämpfte, aber freilich erst nach 1900 ihre Zersplitterung überwand und damit größere politische Bedeutung erlangte. Schließlich enstand im Zuge der kapitalistischen Entwicklung noch ein neuer innerindustrieller Gegensatz, und zwar über das 321 21 Nipperdey

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Kartellproblem. Während nämlich die Schwerindustrie für eine gesetzliche Begünstigung der Kartelle eintrat, wurden sie von der Fertigindustrie, in deren Bereich wegen der starken Zersplitterung Kartelle nur schwer herzustellen waren, entschieden bekämpft, und die Wortführer in diesem Kampf waren natürlich die Verbände. Im ganzen kann man sagen, daß der Kampf der Interessengruppen um ihre Existenzfähigkeit oder ihre Entwicklungsmöglichkeiten auf einen Staat traf, dessen Tätigkeit sich zusehends ausdehnte, weil die gesetzlich zu ordnenden Sachverhalte immer mehr anwuchsen; damit nahmen die Interessenkollisionen zu, jede Steuer- und wirtschaftspolitische Maßnahme wurde zum Kampfobjekt. Zudem mußte der Imperialismus die Staatsbürger in wachsendem Maße belasten, und die Auseinandersetzung um die Verteilung dieser Lasten erfüllte die Arena des Interessenkampfes, wofür etwa die Versuche der Landwirtschaft, die Kosten des Flottenbaus ganz und gar auf die Industrie abzuwälzen, ein besonders gutes Beispiel bieten. Kampf um die Sozialpolitik Neben den ökonomischen waren es die sozialen Folgen der Industrialisierung, die die Interessen aktivierten und zur Verbandsbildung führten. Die Umschichtung der Gesellschaft verstärkte den Antagonismus der Klassen und intensivierte natürlich vor allem den Emanzipationskampf der Arbeitnehmer. In unserem Zusammenhang erscheint das damit gegebene Problem verspätet und verschoben, da zunächst die SPD fast ein Monopol für die Interessenvertretung der Arbeiterschaft hatte und die Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften erst Ende der neunziger Jahre Bedeutung gewann. Im bürgerlichen Lager haben daher anfangs nur die Arbeitgeber sozialpolitische Interessen vertreten, und zwar weniger gegen die - schon von den Staatsorganen bekämpften - Arbeiterorganisationen als gegen die bürgerlichen Sozialpolitiker. Nach 1900 gewannen dann die christlichen Gewerkschaften Bedeutung, etwas später die Beamten- und - zumal im Kampf um die Angestelltenversicherung - die Angestelltenverbände. Die Verbände des sogenannten „neuen Mittelstandes“ verfügten immerhin über Massen, und die Parteien mußten in ihrer Sozialpolitik auf ihre Wünsche Rücksicht nehmen. Im Gegenzug gegen diese Bestrebungen verstärkte sich wiederum die sozialpolitische Aktivität der Unternehmerverbände in Industrie, Landwirtschaft und im alten Mittelstand.

Das Problem der Information Ein letzter Faktor, der beim Aufkommen und Wirken der Verbände eine Rolle spielte, war das Problem der Information der Abgeordneten, das mit der zunehmenden Komplizierung der Gesetzgebung immer dringlicher wurde. Bei 322 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

den Debatten von 1879 hatten die meisten Abgeordneten keine Übersicht über die Konsequenzen der einzelnen Zölle, sie verlangten daher dringend nach Informationen durch die sachkundigen Interessenvertreter. Das Expertenwesen der Fraktionen entsprach den sachlichen Erfordernissen lange Zeit noch in keiner Weise, zumal weil es im Reichstag bis 1906 keine Diäten gab und weil nur wenige Abgeordnete der Honoratiorenparteien ihre ganze Arbeitskraft dem parlamentarischen Betrieb zur Verfügung stellten. Dem Bedürfnis der Abgeordneten nach Information entsprach das Bedürfnis der Interessenten, schon durch richtige Information ihre Interessen zu wahren, und dabei konnten selbstverständlich auch Minoritätsinteressen zum Zuge kommen, konnten sachliche Gesichtspunkte gegenüber Popularitätsrücksichten zur Geltung gebracht oder, soweit der Pluralismus der Gesellschaft anerkannt wurde, richtige Alternativen an Stelle der vielfach vorgeschobenen falschen entwickelt werden. Organisation der Verbände Um die politische Wirkung der Verbände zu verstehen, ist es günstig, einen kurzen Blick auf ihre innere Organisation zu werfen. Dabei ist zunächst von Bedeutung, daß die meisten von ihnen Mehrzweckverbände waren, am deütlichsten natürlich die Gewerkschaften, die im Arbeitskampf wie in der sozialpolitischen Auseinandersetzung die Interessen ihrer Mitglieder vertraten. Zum Teil waren Verbände aus Vorformen entstanden, deren Funktionen - berufliche Fortbildung, technische und betriebswirtschaftliche Information, Kartellierung o. ä. - sie beibehielten, zum Teil zogen sie noch andere Aufgaben an sich; so übernahmen die landwirtschaftlichen Vereine auch genossenschaftliche Aufgaben, und zwar im wesentlichen, um Mitglieder zu werben und zu halten. Soweit die Verbände Massen vertraten, waren sie - das gilt es, in einer verwalteten Welt sich klar zu machen - nicht einfach Organisationen,.sondern Bewegungen. Die Mitgliedschaft in einem solchen Verband hatte für den einzelnen einen relativ hohen Rang. Die Verbandsziele gehörten zum Bereich überprivater Hoffnungen und Wünsche, für deren Verwirklichung man sich einsetzte. Aus dem „Parteienmensch“, so hat Naumann die zugrunde liegende Tendenz ausgedrückt, wurde ein „Verbandsmensch“. Zollprobleme, wie das Problem der Meistbegünstigung, oder ein so kompliziertes Projekt wie das der Doppelwährung wurden Angelegenheiten der Weltanschauung, an denen sich außerordentliche Emotionen entfalteten. Das hing natürlich zusammen mit der Ideologisierung der Verbandsziele. Die Verbände entwickelten eine eigene Ideologie, durch die ihre gruppenegoistischen Ziele ethisch und im Hinblick auf die Gesamtheit legitimiert, ja häufig mit dem „eigentlichen“ Interesse der Gesamtheit schlechthin identifiziert wurden; gerade die Zoll- und Freihandelsinteressen zum Beispiel wurden zu Fragen nationaler oder freiheitlicher Weltanschauung umgedeutet. Ohne diese Ideologien zu überschätzen, muß man sie doch als ein Motiv für die Massenresonanz der Verbände in Betracht ziehen3. 323 21* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Schließlich ist für die innere Struktur der Verbände wichtig die Rolle und Bedeutung der Funktionäre. In den Massenorganisationen ergab es sich meist schon ziemlich bald, daß die Funktionäre die Ziele setzten und verfochten, zum Teil auch, um ihre eigene Unentbehrlichkeit zu erweisen, daß sie die Interessen manipulieren konnten und daß sie großen Einfluß auf das politische Verhalten der Mitglieder gewannen. Die Verbände der Großwirtschaft, darunter auch der von Großgrundbesitzern gesteuerte Bund der Landwirte, besaßen an sich eine Honoratiorenführung, und der, gerade beim Bund der Landwirte sehr große, Apparat hatte keinen politischen Einfluß. Aber hier entwickelten sich zwischen Honoratioren- und Funktionärsführung Zwischenlösungen: Im Zentralverband deutscher Industrieller war trotz Honoratiorenstruktur der Geschäftsführer H. A. Bueck der maßgebende Mann, er war - zu der Zeit eine Seltenheit - gleichzeitig Vorstandsmitglied und durchaus in die Honoratiorenführung hineingewachsen. Beim Bund der Landwirte gewann der zweite ehrenamtliche Vorsitzende, aus „optischen“ Gründen ein Bürgerlicher, Gustav Roesicke, die führende Position, Honoratiorenpolitiker der ökonomischen und sozialen Stellung nach, Manager von ganz außerordentlicher Energie seiner Arbeitsweise nach. In beiden Fällen war die starke Persönlichkeit entsçheidend; die Frage der Verbandsführung war generell noch offen, entwickelte sich aber vor dem Krieg in Richtung auf eine stärkere Stellung der Geschäftsführer hin.

II. Die Verbände als Konkurrenten der Parteien Wie stellen sich nun die Verbände zu den Parteien? Seit 1876 hatten sie sich neben ihnen als ein sekundäres System gesellschaftlicher Mächte ausgebildet. Die bis dahin weitgehend unreflektierte Einheit von Idee und Interesse in den politischen Bewegungen zerfiel. Die Verbände schufen eine neue, halbpolitische Organisation des Volkes, die quer zu seiner Aufteilung nach Parteien stand. Sie stellten für die von ihnen vertretenen Gruppen Machtansprüche, die nur im Raume der Politik zu verwirklichen waren. Dabei tendierten sie dahin, die wirtschaftliche Gliederung zur eigentlichen Gliederung des politischen Volkes zu machen, gesamtpolitische und ideologische Gesichtspunkte dagegen abzuwerten. Der Bauer sollte nur als Bauer politisch handeln, hinter den Interessen von Stand oder Klasse sollten die Parteiunterschiede oder die „ideale“ Politik, wie man die Verfassungspolitik nannte, gänzlich zurücktreten. Da nun das Monopol der Parteien für die politische Willensbildung der freien gesellschaftlichen Kräfte noch nicht durchgesetzt und anerkannt war, entstand, zumal bei den Unternehmerverbänden, die Neigung, mit den Parteien zu konkurrieren, ja sie auszumanövrieren. Versuche dazu liefen in drei Richtungen. Einmal suchte man den Beamten- und Obrigkeitsstaat gegen die Parteien zu stärken, indem man konkret den Bundesrat gegen den Reichstag ausspielte. Man ließ sich gar nicht erst darauf ein, mit den Parteien zusammenzu324

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arbeiten, sondern hielt sich von vornherein allein an die Ministerialbürokratie, wobei natürlich personelle Verflechtungen eine besondere Rolle spielten, eine Haltung, die einen zugleich hypertrophen und gebrochenen Machtwillen spiegelte, der seine Interessen gegen die Parteien durchzusetzen suchte und zugleich im Untertanenstatus gegenüber dem den Interessen ja nicht einfach willfährigen Staat beharrte. Von daher stammte auch die ausgespro'chene Sympathie der Unternehmerkreise für die Staatsstreichpläne der achtziger und neunziger Jahre, die auf eine Umformung des Reichstags und die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts hinausliefen. Die zweite immer wieder aufflammende Tendenz ging dahin, Wirtschaftsparteien, Landwirtschafts-, Mittelstands-, Arbeitgeber- oder Industrieparteien, zu bilden. Ansätze zu solchen Gründungen scheiterten, aber sie belasteten das Verhältnis der Verbände zu den Parteien. Endlich gehören hierher Versuche, unter dem Motto der „Versachlichung“ die Wirtschaftspolitik von der allgemeinen Politik, der „Parteipolitik“, zu lösen, indem man die wirtschaftspolitischen Entscheidungen einem aus Interessenvertretern und Experten zusammengesetzten Volkswirtschaftsrat oder jeweils berufenen wirtschaftlichen Ausschüssen zu übertragen suchte; in diesem Sinn zum Beispiel tendierte die Miquelsche Sammlungspolitik Ende der neunziger Jahre dahin, die Frage des Zolltarifs der Auseinandersetzung der Parteien zu entziehen und durch einen Kompromiß der Verbandsführer zu regeln. Auch diese Versuche, die auf eine Aushöhlung des Parlaments hinausliefen, sind gescheitert. Aber die Tendenz, mit den Parteien zu konkurrieren, ist in den Verbänden, begünstigt durch eine unklare Ständeideologie, doch nie aufgegeben worden und belastete ihr Verhältnis zu den Parteien. Die Kritik an den Parteien, daß sie die „realen“ Interessen des Volkes hinter Ideologien, die „sachlichen“ Erfordernisse hinter Taktik zurücktreten ließen, erhielt von daher stets neue Nahrung und beeinflußte das politische Bewußtsein der Wählerschaft.

III. Methoden der Einflußnahme Nominierung und Wahl Konkret und gegenwärtig freilich mußten auch die Produzentenverbände die Parteien als Machtfaktoren anerkennen. Nicht als konkurrierende, sondern nur als komplementäre Organisationen neben den die Gesetzgebung mittragenden Parteien konnten sie ihre Ziele zu realisieren suchen. Dabei entwickelten sich nun verschiedene Methoden, auf die Parteien Einfluß zu nehmen. Und zwar einmal in Zusammenhang mit den Wahlen und Kandidatenaufstellungen. In den siebziger Jahren gab es die Möglichkeit, in den noch offenen Sitzungen der örtlichen Parteigremien an den Nominierungen mitzuwirken, 1877/78 etwa hat der Zentralverband deutscher Industrieller durch Abordnung seiner Anhänger 325

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in diese Sitzungen die Nominierung einer Reihe von schutzzöllnerischen Kandidaten erfolgreich organisiert. Seitdem aber die Parteiorganisationen zu geschlossenen Körpern wurden, mußte man zu andern Methoden greifen. Am wichtigsten war das Verfahren der Interpellation. Die örtlichen Organisationen der Verbände legten ihre Forderungen den verschiedenen Kandidaten vor, sie „interpellierten“ sie dieserhalb, und empfahlen denjenigen, der ihnen am weitesten entgegenkam, ihren Mitgliedern zur Wahl und, was wichtiger war, liehen ihm ihre zum Teil sehr wirksame propagandistische Unterstützung. Oder sie schlugen der einen oder anderen Partei direkt Leute ihres Vertrauens als Kandidaten vor. Die vom liberalen Repräsentationsbegriff geleiteten Parteien sahen in diesen Methoden die Tendenz zum imperativen Mandat, aber die darauf fußende Polemik blieb wirkungslos, zumal die Unabhängigkeit der Abgeordneten schon durch die Parteibindung stark eingeschränkt war und die Verbände sich hinter der These von einer legitimen „Deklarationspflicht“ der Kandidaten verschanzen konnten. Die Parteien waren gegenüber den Ansinnen der Verbände in einer schwierigen Lage. Bei dem Mehrheits- und Stichwahlsystem und der Konkurrenz einer Mehrzahl von jeweils benachbarten Parteien entschieden oft relativ wenige Stimmen darüber, ob eine Partei in die Stichwahl kam. Darum waren die Parteien durch den Abfall auch von kleineren Gruppen, bei denen die Verbandsloyalität vor der Parteiloyalität, die wirtschaftlichen vor den politischen Gesichtspunkten rangierten, schon außerordentlich bedroht und für einen von solchen Gruppen ausgeübten Druck sehr anfällig; deshalb versuchten sie, sich mit den Verbänden, soweit diese auf Resonanz bei der Wählerschaft rechnen konnten, zu arrangieren oder wenigstens einen Kompromiß abzuschließen, damit nicht die gegnerische Partei die Unterstützung des Verbandes gewann oder der Verband gar - ultima ratio seiner Wahlpolitik - mit einem eigenen Kandidaten selbständig vorging. Natürlich konnte ein Verband die Loyalität seiner Mitglieder nicht überstrapazieren, aber die Interessensolidarität war für einen Teil der Mitglieder politisch so bestimmend, daß sie als Faktor in das politische Kalkül der Wahlchancen eingesetzt werden mußte. Das Klima der Wahlkämpfe seit 1893, zumal bei den Wahlen von 1898 und 1903, ist ausgesprochen von solchen Interessenkämpfen geprägt; die große Bedeutung, die dem um sich greifenden Prestige- und Berechtigungsdenken der Wähler entsprechend der Berufsstellung eines Kandidaten beigemessen wurde, verschärfte diese Auseinandersetzungen noch weiter. Zuerst waren es Spezialinteressen, die sich auf diese Weise durchzusetzen suchten. So haben in den achtziger Jahren die Vertreter der Tabakbranchen mit Hilfe des Interpellationssystems eine genügende Anzahl von Abgeordneten gegen das von der Regierung angestrebte Tabakmonopol zu gewinnen vermocht. Später haben dann vor allem der Bund der Landwirte, der über einen wirksamen Apparat und in den durch die veraltete Wahlkreiseinteilung außerordentlich bevorzugten ländlichen Wahlkreisen über eine massierte Anhängerschaft verfügte, und in geringerem Maße auch Mittelstandsorganisationen den organisierten Wählerdruck mit großem Erfolg gehandhabt. Die Zahl der Orga326

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nisationen, die sich auf diese Weise Einfluß zu verschaffen suchten, stieg bis 1912 noch immer an, ein Kandidat wurde normalerweise von 20 bis 25 Verbänden interpelliert, von den ins Groteske gehenden Forderungen organisierter Radfahrer oder Impfgegner nicht zu reden. Die Verbände, die nicht über in bestimmten Wahlkreisen konzentrierte Wählermassen verfügten, zumal die Angestellten- und Beamtenverbände, versuchten über die Parteileitungen, die an einem guten Verhältnis zu ihnen ein starkes propagandistisches Interesse hatten, Kandidaturen zu erhalten; aber bei der lockeren Parteistruktur konnten die Zentralen nur schwer entsprechende Empfehlungen durchsetzen, und erst 1912 haben die Verbände auf diesem Weg wenigstens einige Erfolge erzielt. Die Unternehmerverbände konnten versuchen, durch den Einsatz von Finanzmitteln die Wahlen zu beeinflussen. Georg von Siemens zum Beispiel hat die am Außenhandel interessierten Kreise im Handelsvertragsverein organisiert, um - zwischen 1900 und 1903 - mit einem groß aufgezogenen Propagandaapparat die Konsumenten gegen die Zölle zu mobilisieren. Im allgemeinen gab es aber kein Programm und keine Ideologie, um Massen für eine auch den Unternehmerinteressen entsprechende Politik zu gewinnen, ja es fehlte fast ganz an Versuchen in dieser Richtung. Man suchte durch den Einsatz von Finanzmitteln nicht direkt Wähler zu gewinnen, sondern Abgeordnete und Parteien, eine Möglichkeit, die freilich erst im letzten Jahrzehnt vor 1914 aktuell wurde, weil jetzt erst die Finanzierung der intensivierten Wahlkämpfe für die Parteien zum Problem wurde4. Der schwerindustrielle Zentralverband finanzierte mit etwa 3 bis 4 Millionen Mark, dem Zehnfachen der Einnahmen der finanzkräftigen Nationalliberalen Partei in Wahljahren, den Wahlkampf einzelner Kandidaten, die sich, ohne dem Verband angehören zu müssen, auf seine Linie verpflichteten; von den 1912 unterstützten 120 Kandidaten wurden etwa 40 gewählt. Andere Verbände, die eine Zusammenarbeit mit den Parteien weniger scheuten, stellten ihre Finanzmittel den Parteizentralen zur Verfügung, ohne dabei mehr als eine allgemeine wirtschaftspolitische Übereinstimmung zu erwarten, ein Verfahren, das nach 1918 dann das übliche wurde. Gesetzgebung

Der Einfluß der Verbände auf die Gesetzgebung im Parlament entwickelte sich in den auch aus der Gegenwart bekannten Formen, wobei auch die zahlreichen Branchenorganisationen eine Rolle spielten. Soweit maßgebende Verbandsmitglieder oder -funktionäre gewählt wurden, kamen sie im allgemeinen als Experten in die Kommissionen und beeinflußten, in steter Zusammenarbeit mit ihren Verbänden, die Ausgestaltung der Gesetze. Seit den neunziger Jahren versuchte man dann den Zugang zum Ohr der Gesetzgeber planmäßig zu organisieren, es entstand eine Fülle von lobbies, von denen vor allem die Kommissionsmitglieder, vor Plenarentscheidungen auch die Masse der Abgeordneten und 327

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- sofern der Verband eine gewisse Macht repräsentierte - auch die Fraktionsleitungen bearbeitet wurden. Da die Fraktionsdisziplin bei den bürgerlichen Parteien noch nicht durchgebildet war und zumal bei wirtschaftlichen Gesetzen die Fraktionen selten geschlossen stimmten, konnte es schon entscheidend sein, wenn es den Verbandsvertretern gelang, auch nur wenige Abgeordnete noch zusätzlich für ihre Linie zu gewinnen. Die dabei angewandten Mittel reichten von der sachlichen Information durch Denkschriften, Statistiken und persönliche Rücksprachen über die propagandistische Argumentation und das Spielenlassen von persönlichen oder Wahlkreis- und Berufsbeziehungen bis zum organisierten Wählerdruck und der Drohung der NichtWiederwahl - im Wahlkampf spielte das „Sündenregister“ eines Abgeordneten, seine genau gebuchten Voten im Plenum, eine besondere Rolle. Die Wirkung solcher Bemühungen ist schwer zu beurteilen, da die Motive der Abgeordneten natürlich nicht offen zutage liegen. Immerhin lassen sich die häufigen Stimmenthaltungen oder geänderte Voten gerade in den dritten Lesungen meist direkt auf Verbandseinflüsse zurückführen. Erpressungen haben im allgemeinen keinen Erfolg gehabt, und die großen Entscheidungen fielen unabhängig von den Verbänden, aber Spezialgesetze - wie das Margarinegesetz, Branntwein- und Tabaksteuergesetze oder auch die preußische Berggesetznovelle - sind wesentlich von dem Einfluß der Verbände geprägt worden, ja in den neunziger Jahren hat der organisierte Druck der Agrarier die ganze Richtung der wirtschaftlichen Gesetzgebung bestimmt.

Öffentlichkeit Endlich tendierten die Verbände dahin, eine Position in der Öffentlichkeit zu gewinnen, durch Propaganda - über Kundgebungen und Korrespondenzen etwa - entweder Massen oder jedenfalls eine maßgebliche Führungsschicht für sich einzunehmen. Aus öffentlicher Kritik und öffentlichen Forderungen der Verbände, aus ihren Auseinandersetzungen und Abmachungen entwickelte sich ein außerparteilicher Raum, in dem zwar nicht schon entschieden wurde, in dem aber von den organisierten gesellschaftlichen Machtfaktoren um die Vorformung der Entscheidungen gerungen wurde, in dem Alternativen geklärt und damit Vorentscheidungen getroffen wurden. Die Parteien konnten die Ergebnisse dieses Ringens dann nicht einfach mehr ignorieren, sie konnten sich im Einzelfall widersetzen, aber kaum je auf die Dauer. Parteien als Verbandsgründer Angesichts der wachsenden Macht und des wachsenden Anspruchs der Verbände suchten gelegentlich auch die Parteien selbst, Interessen politisch zu mobilisieren und an sich zu binden, indem sie Verbände gründeten oder protegier328

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ten; die Liberalen etwa riefen 1909 den Deutschen Bauernbund ins Leben, um dem übermächtigen Druck des Bundes der Landwirte begegnen zu können, und auch das Zentrum hat schon in den neunziger Jahren ähnliche, aber erfolgreichere Versuche unternommen. Sobald jedoch solche parteigefärbten Verbände eine gewisse Kraft entwickelten, gewannen sie an Eigengewicht und gerieten leicht in Spannungen zu den ihnen nahestehenden Parteien.

IV. Wirkung der Verbände auf die Parteien Wir fragen danach, welche Wirkung die politische Aktivität der Verbände auf die Parteien gehabt hat. Grundsätzlich konnte keine Partei nur ein einziges Verbandsinteresse repräsentieren, sie mußte, schon um Mehrheiten zu gewinnen, an verschiedene Gruppen appellieren und darum ein gesamtpolitisches Konzept herausstellen. Die Interessenverbände wiederum brauchten, um bei der Vielzahl von Parteien, von denen keine je die Mehrheit hatte, ihre Ziele durchzusetzen, die Verbindung zu mehreren Parteien. Der Pluralismus der Interessen drängte die Parteien zu einem ambivalenten Verhältnis zu mehreren Verbänden, der Pluralismus der Parteien machte ein ambivalentes Verhältnis eines Verbandes zu mehreren Parteien - die katholischen und die sozialistischen Gruppen bilden eine Ausnahme - erforderlich. Diese Verhältnisse sind an konkreten Beziehungen zwischen bestimmten Parteien und bestimmten Verbänden darzulegen. Der Bund der Landwirte

Die einflußreichste Organisation war, wie erwähnt, der Bund der Landwirte, neben der SPD die mächtigste politische Massenorganisation in Deutschland mit etwa 300 000 Mitgliedern und einem bis in die Wahlkreise hinein durchgebildeten Apparat, der einen ganz massiven Wahlterror zu entfalten vermochte. Nach seiner Interessenlage stand der Bund, vom Großgrundbesitz geführt, den Konservativen nahe. Sie vertraten seine Interessen im Parlament, er dagegen hat das Landvolk bis weit in den bis dahin liberalen Westen und Süden Deutschlands hinein für sie politisiert, er hat den bis dahin zugunsten der Konservativen geübten Verwaltungsdruck zum Teil überflüssig gemacht, indem er die freiwillige Gefolgschaft der Bauern sicherte; er hat also den Konservativen die bis dahin fehlende Massenbasis geschaffen und hat damit den christlich-sozialen Versuch, sie im städtischen Mittelstand zu verankern, abgelöst; der Aufstieg des Bundes einerseits, das Ausscheiden Stoeckers aus der Partei und die damit wieder dominierende sozialpolitische Reaktion andererseits korrespondieren miteinander. Die Konservativen wurden durch diese Verbindung aus einer Verfassungs- zu einer Agrarpartei, aus der Partei von Thron und Altar zu 329

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einer Partei, für die die besseren Einnahmen der Landwirtschaft Grundlagen der nationalen Wohlfahrt waren, wie es auf einem Bismarck zum 80. Geburtstag vom Bund überreichten silbernen Ehrenschilde hieß, zu einer Partei, die sich darum auch rücksichtslos gegen Regierung und Minister, ja gegen den König stellen konnte; die Gouvernementalen, die sogenannten Pflaumenweichen, wurden unter dem Einfluß des Bundes abgestoßen. Die Partei geriet nicht direkt unter seine Herrschaft, aber sie blieb mit ihm in gegenseitiger Abhängigkeit eng verflochten. Auch die Nationalliberale Partei ist von diesem Agrarverband sehr stark beeinflußt, ja terrorisiert worden, denn die politische Stellung dieser Partei beruhte nicht auf der von ihr repräsentierten Industrie, sondern auf ihren ländlichen Wahlkreisen in Hannover, Hessen, Franken, Württemberg oder der Pfalz. Trotz ständiger Abwehrkämpfe gegen den Bund wurde die Partei, zumal zwischen 1893 und 1906, zu einer betont agrarischen Wirtschaftspolitik gedrängt, und das bedeutete in Deutschland - im Gegensatz zu Skandinavien zum Beispiel - : sie wurde zu den Konservativen gedrängt, und zwar weiter, als es dem politischen Willen und der Stimmung des städtischen nationalliberalen Bürgertums entsprach. Die extremen Pläne des Bundes, die Einführung der Doppelwährung und eines staatlichen Außenhandelsmonopols für Getreide, scheiterten, aber die großen wirtschaftspolitischen Gesetze, Kanalvorlagen, Zolltarif und Finanzreform hat er maßgeblich geprägt und damit auch die allgemeine Politik beeinflußt, bis hin zu den Personalentscheidungen, wie den Entlassungen Caprivis, Hohenlohes, Miquels oder Bülows. Die Industrie zwischen Konservativen und Liberalen Die Industrie, zunächst im Zentralverband organisiert, stand anfangs durchaus den Nationalliberalen nahe - die im Zuge der Feudalisierung aufkommende Tendenz zu den Freikonservativen betraf vorerst nur eine Minderheit -, der Partei des städtischen Bürgertums, die für freie Wirtschaft eintrat und grundsätzlich mit der Regierung zusammenzuarbeiten suchte. Vitale Interessen freilich verwiesen sie auf ein Bündnis mit den Konservativen. Die von ihr begehrten Schutzzölle waren gegen die konsumentenorientierte Politik der Linken nur im Verein mit der Landwirtschaft, das heißt mit den Konservativen, durchzusetzen. Ebenso verwies ihr Klassenkampfinteresse, das einer Gleichberechtigung der Arbeiter, einer Anerkennung der Gewerkschaften und der Tarifverträge und einer Erweiterung des Koalitionsrechts widersprach, der Standpunkt des „Herrn im Hause“ also, auf ein Bündnis mit den Konservativen; in den achtziger und neunziger Jahren traten die Industrieverbände ganz entschieden für Repressivmaßnahmen gegen die Arbeiterbewegung ein. Endlich brauchte die Industrie, die sich gegenüber selbst der zaghaften staatlichen Sozialpolitik in einer Verteidigungsstellung glaubte, eine Massenbasis, um auch im 330

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Reichstag des allgemeinen Wahlrechts ihre gesellschaftliche Macht noch unbedingter in politische Macht umzusetzen; denn die von ihr seit 1876 heraufgerufene Interessenbewegung hatte sich, da sie sich auf die Massen mittelständischer und agrarischer Produzenten ausdehnte, gegen sie gekehrt. Da der Einsatz von Geldmitteln erst spät in Gang kam und immer nur subsidiären Charakter hatte und da es an einer massenwirksamen industriefreundlichen Ideologie fehlte, schien die Industrie wiederum auf das Bündnis mit Konservativen und Agrariern verwiesen. Miquels Politik der Sammlung stand im Zeichen dieser Bündnismöglichkeit; die rechtsbürgerlichen Parteien, die „staatserhaltenden und produktiven“ Elemente sollten über die großen organisierten Interessen unter der Parole von Schutzzoll und verlangsamter Sozialpolitik zu einer festen Front vereint werden. Andererseits war das Verhältnis der Industrie zu den Konservativen durch starke Spannungen belastet. Die Landwirtschaft kämpfte in ihrem robusten Selbstbehauptungswillen gegen die Fundamente des Kapitalismus und gegen die industrielle Expansion, sie stand der industriebestimmten Welt- und Flottenpolitik sehr kühl gegenüber, die Höhe der ihr gewährten Schutzzölle steigerte die industriellen Löhne und gefährdete dadurch den Absatz, der Flirt der Konservativen mit den Christlichsozialen und ihr Bündnis mit dem Zentrum, das im Ruhrgebiet, im Unterschied etwa zu Oberschlesien, eine starke soziale und zum Teil antikapitalistische Aktivität entfaltete, schienen dem Arbeitgeberstandpunkt der Industrie bedrohlich. Die Industrie, genauer die Großindustrie, stand daher Konservativen und Nationalliberalen ambivalent gegenüber, nationalliberale Wirtschaftspolitik und konservative Sozialpolitik, das suchte man zu vermitteln. Bis kurz vor dem Krieg blieb die Mehrheit der großindustriellen Vertreter bei den Nationalliberalen und suchte als ihr rechter Flügel das Bündnis mit den Konservativen zu stärken. Die Spannung zu anderen Elementen der Nationalliberalen Partei wurde gesteigert durch die zunehmende Entfremdung zwischen Bildung und Besitz. Denn die Bildungsschicht innerhalb der Partei trat - nicht nur, um die mögliche Stichwahlhilfe von links nicht zu verlieren - für eine wenn auch zahme und bürgerlich gedachte Sozialreform ein. Die angesichts der realen Machtlage paradoxe Unzufriedenheit der Industrie mit ihrer politischen Situation, wie sie symptomatisch etwa in einem berühmten bitteren Diskussionsbeitrag von Kirdorf auf der Mannheimer Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1905 zum Ausdruck kam, erklärt sich auch aus der zeitweisen Isolierung der Großunternehmer innerhalb der bürgerlichen Bildungsschicht. Bei einem Teil der Industrie überwog allerdings die antikonservative Tendenz, insbesondere bei der Leicht- und Fertigindustrie. Sie war kartellgegnerisch, aufgrund ihrer Exportinteressen nicht unbedingt protektionistisch und sozial nicht so reaktionär wie die Großindustrie, weil sie, für Arbeitskämpfe empfindlicher, stärker an Tarifverträgen und damit an einer Anerkennung der Gewerkschaften interessiert war. Diese Kreise organisierten sich im letzten Jahrzehnt vor dem Krieg im Bund der Industriellen, in dem Stresemann eine 331

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maßgebende Rolle spielte. Politisch standen sie auf dem linken Flügel der Nationalliberalen, sie bemühten sich um eine Politik der Mitte, um die Nationalliberalen aus der agrarischkonservativen Umklammerung zu lösen. Die Nationalliberale Partei Die Nationalliberale Partei nun befand sich, ohne eindeutige Interessenbasis und ideologisch der Aufgliederung des Staatsvolkes nach Wirtschaftsinteressen abgeneigt, in einer schwierigen Lage. Sie versuchte lange, an einer vorwiegend verfassungs-, konfessions- und nationalpolitischen Orientierung festzuhaltcn; den Zeitpunkt, Interessen für sich zu mobilisieren, wenn er denn für eine liberale Mittelpartei überhaupt je gegeben war, hat sie damit verpaßt; als sie sich darum mühte, beherrschten längst, zumal rechts von ihr, radikale Interessenorganisationen das Feld. Im Inneren wurde sie, die immer mehr opportunistische Politik trieb und sich von den Gegnern das Gesetz des Handelns vorschreiben ließ, auch nach der Sezession der Linken (1880) von schweren Interessenspannungen erschüttert. Agrarische Wahlkreise und städtische Mitgliedschaft und Führungsschicht, die Divergenzen zwischen Schwer- und Leichtindustrie, zwischen Bildung und Besitz, liberalkapitalistische Wirtschaftsideen und -Interessen und die Rücksicht auf zünftlerische Mittelstandskreise, dieser Pluralismus kennzeichnete die Lage der Partei und verhinderte, daß sie es zu einem ausreichenden sicheren Wählerstamm brachte. Auch im Parlament bedeutete angesichts dieser Kräfteverteilung jede wirtschafts- oder sozialpolitische Entscheidung eine Zerreißprobe für Fraktion und Partei. Ein Angriff Stresemanns auf das Ruhrkohlensyndikat führte 1908 zu einer Auflehnung der Großindustrie und infolgedessen zu Mandatsverlusten bei den preußischen Landtagswahlen, und nur die allgemeine Krise beim Sturz Bülows half der Partei über die Schwierigkeiten hinweg, es keinem recht machen zu können und es mit keinem verderben zu wollen. Aber in der Folgezeit organisierten sich dann der linke und der rechte Flügel offen in voneinander unabhängigen Gruppen, die von den konkurrierenden Verbänden maßgeblich mitgetragen wurden. Die Partei hat sich zwischen den organisierten Interessen zwar behaupten können, aber doch nur mit unendlicher Mühe und bei Einbuße wirklich politischer Kraft, sie konnte zwischen dem drohenden Abfall der verschiedenen interessegeleiteten Wählergruppen oder Finanzmächte nur noch vorsichtig dahinlavieren. Die ständige Gefahr des Zerfalls hing letzten Endes natürlich, und das gilt für alle Parteien, damit zusammen, daß die Partei im Staate keine verantwortliche Funktion, keinen Anteil an der Macht hatte und daher nicht zum Ausgleich von Interessen, zu einer gewissen Integration gezwungen war. Die divergierenden Interessen wurden weder durch den Zwang der Praxis noch auch, wie bei den Linksliberalen, durch eine einheitliche wirtschaftspolitische Zielsetzung, die mehr als eine Summierung dieser Interessen war, zusammengebunden. 332 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Das Zentrum Demgegenüber hatte die andere Mittelpartei, das Zentrum, den Vorteil, bei der Identifizierung der Partei mit dem politischen Katholizismus sicher über Massen zu verfügen, es war Klassen und Stände zusammenbindende Volkspartei. Bauerntum, Mittelstand und Arbeiterschaft waren innerhalb des katholischen Volksteils in eigenen Verbänden organisiert, und diese Verbände rangen seit den neunziger Jahren innerhalb der sie umgreifenden regionalen Parteiorganisationen um Kandidatenplätze und um die Gestaltung der Wirtschaftspolitik der Fraktion. Die ältere und die nicht unmittelbar interessengebundene Führungsschicht, zumal Akademiker und Geistliche, suchte mit ihnen und gegen sie einen Ausgleich der Interessen durchzusetzen; trotz scharfer Klassenkämpfe innerhalb der Partei, etwa bei Stadtverordnetenwahlen, ist das im allgemeinen gelungen, die konfessionspolitische Parole von der notwendigen Einheit des katholischen Volksteils erwies sich stärker als alle Divergenzen, der Interessenproporz bei der Kandidatenverteilung gab das Schema zur Bewältigung der Konflikte. Freilich erzielte man damit weniger eine echte Integration als die Konsolidierung eines Interessenclans; Arbeiterschutzmaßnahmen und Koalitionsrecht für die Industriearbeiter, hohe Zölle und das Verbot von Landarbeiter-Koalitionen für die Bauern, Einschränkung der Gewerbefreiheit für den Mittelstand - auf diesem Boden gegenseitiger Konzessionen fand man sich zusammen. Da die christlichen Gewerkschaften als konfessionell paritätische Organisation von einem Verbot durch integralistische Kreise des Vatikans bedroht waren und ihre Fortexistenz wesentlich der Intervention der Partei verdankten, konnten sie keinen starken Einfluß geltend machen; zudem wirkte sich auch gegen sie die starke Bevorzugung der ländlichen Wahlkreise aus. Diese stärkte wiederum die Bauernvereine, die trotz mancher Mißerfolge durch ihren planmäßig organisierten Wählerdruck den größten Einfluß innerhalb der Partei besaßen, einen Einfluß, der, wenn auch in geringerem Maße, nach 1918 fortbestand und bedeutende politische Auswirkungen - etwa auf die Separation der Bayerischen Volkspartei, auf die Pro-Hindenburg-Stimmung westdeutscher Agrarkreise schon 1925, auf den Rechtskurs des Zentrums am Ende der Weimarer Republik - gehabt hat. Für die Partei vor 1918 war, und das hing direkt mit der Machtposition der Verbände zusammen, ein ländlichkleinbürgerliches Übergewicht entscheidend. Das Bündnis mit den Konservativen seit 1909, die negative Stellung zu einer Erweiterung des Koalitionsrechts, zu einer Änderung der Wahlkreiseinteilung im Reich und einer Wahlrechtsreform m Preußen sind Ausdruck dieser Haltung.

Verbandskoalitionen Im letzten Jahrfünft vor 1914 veränderte sich das Verhältnis von Parteien und Verbänden. Seit 1908/09 geriet die deutsche Innenpolitik in Bewegung, 333

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das herrschende halbkonstitutionelle System selbst stand zur Frage, Parlamentarisierung und Wahlrechtsreform kamen auf die Tagesordnung. Allgemein politische Gesichtspunkte also traten wieder in den Mittelpunkt, und sie überformten die wirtschaftlichen Interessengegensätze; der Kampf zwischen Landwirtschaft und Arbeiterschaft etwa ging nicht mehr um Löhne und Preise, sondern um Wahlkreiseinteilung und Wahlrecht. In dieser Situation versuchten die Interessenverbände ihre Machtbasis zu erweitern und neben die Parteien Verbandskoalitionen zu stellen, um vordringliche Ziele mit größerem Gewicht vertreten zu können. Fertigindustrie, Handel, Teile des Handwerks, Angestelltenund Beamtenverbände empörten sich gegen die konsumenten- und verkehrsfeindliche konservative Wirtschaftspolitik und bildeten 1909 ein antikonservatives Kartell, den Hansabund. Der Machtwille der kleinen und mittleren Unternehmer war sozial und ökonomisch nicht so gesättigt wie in der Großindustrie, sie traten betont für eine Machtverschiebung zugunsten des Bürgertums und auch für eine Demokratisierung der Wahlverfahren ein; die konservative Drohung mit dem roten Gespenst schlug nicht mehr ohne weiteres durch, man glaubte, trotz des Gegensatzes zur Sozialdemokratie sich zuerst gegen die Konservativen kräftig durchsetzen zu müssen. Der Hansabund leistete den liberalen Parteien Wahlhilfe, unterstützte also zum Beispiel mit Industriegeldern den Wahlkampf freisinniger Volksschullehrer, eine Einordnung direkter Interessen in allgemeinpolitische Zielsetzungen, die bis dahin kaum üblich war, und er erreichte mit einem gewissen finanziellen Druck 1912 ein Wahlbündnis der Liberalen, das den Kurs der Nationalliberalen etwas nach links verschob. Gegen diesen Hansabund nun haben sich 1913 der Bund der Landwirte, konservative Mittelstandsorganisationen und der schwerindustrielle Zentralverband, bei dem das sozialpolitisch reaktionäre Interesse sich wie 1879 über die verfassungspolitischen, so jetzt über alle wirtschaftspolitischen Bedenken gegen die Konservativen hinwegsetzte, zu einem Kartell zusammengeschlossen, das sich pathetisch „Kartell der schaffenden Stände“ nannte, von den Gegnern als „Kartell der raffenden Hände“ apostrophiert wurde. Ablehnung des freien Wettbewerbs und des Koalitions- und Streikrechts, im weiteren Sinne das Interesse, die bestehende Machtordnung zu erhalten - das waren die Klammern, die die Partner zusammenbanden, und demgemäß finanzierte die Schwerindustrie nun die Wahlen konservativer Gutsbesitzer. Auch die katholischen Verbände wurden in gewissem Maße in diese Kartellbindungen einbezogen, die Bauernvereine standen dem Rechtskartell nahe, die christlichen Gewerkschaften vereinigten sich mit Partnern des Hansabundes im Juni 1914 zu einer großen Abwehrkundgebung gegen dieses Kartell und den von ihm forcierten Stillstand der Sozialreform. Natürlich darf man die unmittelbare Wirkung dieser Neubildungen nicht überschätzen. Sie waren locker gefügte Koalitionen, die nur je und je die verschiedenen Interessen zu gemeinsamer Aktion vereinigen konnten; der Reformwille der Liberalen blieb zahm. Immerhin: sie haben die Finanzierung der Parteien auf eine neue Grundlage gestellt, und vor allem: sie sind symptomatisch für die Tendenz der Verbände, ein sekundäres System politischer Kräfte 334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

neben den Parteien zu etablieren und über die ganz partikularen Interessen hinaus in gewissem - und begrenztem - Maße auch wirtschafts- und allgemein-politische Alternativen zu entwickeln, ja zum Teil sich in die bestehenden parteipolitischen Gruppierungen einzuordnen. Die hier bezogene Frontstellung setzt sich, wenn auch mit starken Modifikationen, nach 1918 fort, der Hansabund stellt die Interessenbasis der Demokratischen Partei, das Rechtskartell die der Deutsch-Nationalen dar.

V. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft Es bleibt die Frage zu erörtern, welche Wirkung die Tätigkeit der Verbände auf das politische Gefüge, auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland gehabt hat. Als Konkurrenten der Parteien haben sich die Verbände nicht durchgesetzt. Aber sie sind im allgemeinen nur grollend und mit Vorbehalten in das Spiel der Parteien eingetreten, ohne den Boden und die Regeln dieses Spiels grundsätzlich anzuerkennen; ob sie Konkurrenz oder Ergänzung der Parteien waren, das hielten sie immer in der Schwebe. Die Verbände haben auch nicht ihr Bemühen durchsetzen können, die Wirtschaft von der parlamentarischen, der Parteipolitik zu trennen. Aber ihre Anstrengungen hatten andere Wirkungen. Einmal geriet die Politik stark unter die Herrschaft wirtschaftlicher Gesichtspunkte, sie wurde verwirtschaftlicht; zum anderen aber wurde das Wirtschaftliche nicht in eine gesamtpolitische Auffassung, und nicht einmal in eine wirtschaftspolitische, einbezogen, es wurde nicht politisiert, blieb nur ein Bündel besonderer Interessen. Wirtschaft und Politik wurden vermengt und fielen zugleich auseinander. Das wirkte sich auch auf das politische Bewußtsein der Wählerschaft aus. Die Verbände haben, indem sie Interessen mobilisierten, Massen in die Politik hineinzogen, die Wahlbeteiligung ist unter ihrem Einfluß enorm gestiegen. Diese Politisierung blieb aber unvollendet, sie bezog sich nur auf das partikulare Interesse, orientierte sich nicht an allgemeineren Gesichtspunkten und verbaute damit letzten Endes eine eigentliche Politisierung. Für die nicht unmittelbar interessegeleiteten Wähler wurde Politik zum bloßen Interessenkampf, und das begünstigte in hor hem Maße die Abkehr der Bildungsschicht von der Politik als Parteipolitik, als Politik im Parlament, den Rückzug des Geistes auf sich selbst oder den Rückzug aufs Nationale als das eigentliche Element der Politik und die Orientierung am vorgeblich überparteilichen, sachlichen Beamtenstaat. Die Verbände haben die Struktur der Parteien umgeformt. Die ideologischen, leicht doktrinären Elemente im deutschen Parteiwesen treten zurück, die Politik wird realistischer, das Verhältnis von Idee und Interesse wird, und das ist eine durchaus legitime und normale Entwicklung, zu einem spannungsreichen Problem. Die Parteien „sozialisieren“ sich, sie werden enger auf gesellschaftliche Schichten bezogen, ihr ideologischer Anspruch auf das Prädikat ei335

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ner Volkspartei verliert an Gewicht gegenüber ihrer realen Klassenstruktur. Ihre Eigenständigkeit gegenüber den Interessenverbänden haben sie zwar behauptet, das Fortgelten nationaler und konfessioneller Gesichtspunkte in der Politik und zumal der Interessenpluralismus sicherte ihnen einige Freiheit, ein gewisses Maß von Honoratiorengesinnung blieb erhalten, zumal es kein Listensystem gab. Trotzdem aber gerieten sie in eine langdauernde Krise. Die wirtschaftlichen Interessen überwucherten oder zersetzten beinahe ihren politischen Charakter. Entweder war eine Partei interessenbeherrscht, wie die Konservativen, oder sie war interessenentblößt, wie die Linksliberalen, in beiden Fällen bezahlte sie das mit einem Verlust an Anziehungskraft. Oder sie wurde zu einem immerwährend reaktiven und labilen Gebilde, das sich in einem ständigen „Sowohl-als-auch“ erschöpfte, wie die Nationalliberalen und - in geringerem Maße freilich - das Zentrum. Der Pluralismus des Systems erfaßte die Parteien selbst, ihre Integrationsfähigkeit wurde unter dem Druck der organisierten Interessen enorm geschwächt. Und da den Parteien die verantwortliche Funktion fehlte, fehlte ihnen die stärkste Triebkraft, diese natürlicherweise divergierenden Interessen dennoch zu integrieren. Bismarck wollte 1878/79 die Entfesselung der Gesellschaft gegen die Parteien, er wollte die Parteien vergesellschaften (Riehl), um die Gesellschaft verstaatlichen zu können, er wollte die Parteien zu bloß gesellschaftlichen Gebilden herabdrücken, um den Staat von ihrem Druck zu entlasten, um die Vorherrschaft des Staates über die Gesellschaft zu sichern. Gegen solches Beginnen haben die Parteien sich behauptet. Aber die seither organisierten Verbände haben ihre Stellung zwischen Staat und Gesellschaft in besonderem Maße geschwächt und damit überhaupt das Verhältnis von Staat und Gesellschaft tiefgehend gestört. Unmittelbar wirkte sich das Eintreten der Verbände, und das hieß zunächst der Produzentenverbände, in die Politik zugunsten der Rechten, zugunsten von Konservativen, Nationalliberalen und Zentrum aus. Das Interesse an der bestehenden Machtordnung und eine an ständischen Vorstellungen orientierte Romantik war, wie Naumann es ausgedrückt hat, mit 975 Tarifpositionen, mit dem Prinzip: wir bekommen Zoll, ihr bekommt Zoll, sie bekommen Zoll. . . amalgamiert. Dadurch wurde das Privilegienelement in der deutschen Gesellschaftsstruktur fixiert und die Durchsetzung der staatsbürgerlichen Gleichheit hintangehalten. Der Liberalismus unterlag. Ohne in Deutschland einen eigentlichen Höhepunkt erreicht zu haben, ist er durch eine neue gesellschaftliche Entwicklung überholt worden. Es ist ihm nicht gelungen, seine älteren Vorstellungen von Repräsentativverfassung beizeiten zu revidieren und sich auf die dem modernen Parteienstaat zutreibenden Tendenzen einzustellen. Das Wirken der Verbände kam den Gegnern des Parteienstaates zugute, denn ihre desintegrierende Wirkung schwächte alle Parteien über das normale Maß hinaus und verstärkte ihre Perspektivelosigkeit, ihren Mangel an großem Zug; die Hingabe an das Tägliche wurde ohne den komplementären Hinblick auf ein Übermorgen zum Sich-Verlieren im Täglichen. Die Ansätze zu einer wirklichen Politisierung der Interessen und zu ihrer Integration nach 1909 blieben, 336 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

zumal wegen des bürgerlichen Antisozialistenkomplexes, zu schwach, um das Bild entscheidend zu verändern. Natürlich hing dieser Zustand der politischen Gesellschaft in Deutschland aufs engste mit der Verfassungswirklichkeit und dem bestehenden Parteiensystem zusammen; die Parteien hatten ohne Verantwortung und daher ohne Integrationszwang ein gut Teil an Anziehungskraft und Führungsfähigkeit verloren. Die Verbände haben diesen Zustand nicht geschaffen; daß sie Interessen repräsentierten und durchzusetzen suchten, war in der entstehenden Industriegesellschaft durchaus legitim. Aber ihr politisches Wirken, die bloße Tatsache wie die besondere Art und Weise, hat die bestehende reale Verfassung, auf die es traf, weiter befestigt, die Zerfahrenheit der politischen Kräfte weitergetrieben. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft kam aus dem Gleichgewicht, es geriet in eine latente Krise. Die Stabilität des Staates und der wirtschaftlich und national gesicherten Gesellschaft vor 1914 wurde davon zwar nicht sonderlich bewegt. Die Staats-, besser die Reichsverbundenheit der Parteien war seit 1870 immer stärker, sie war selbstverständlich geworden; wo nationale Fragen auf dem Spiel standen, war die Integrationskraft der Parteien - wie im August 1914 - groß genug, sie zu bewältigen. Aber als politische Kräfte, die den von Krisen heimgesuchten Staat nach 1918 übernehmen sollten, blieben die Parteien zu schwach; den divergierenden wirtschaftlichen Interessen gegenüber blieb ihre Integrationskraft, die Kraft, Klassengegensätze zu limitieren, zu gering, das politische Bewußtsein der Staatsbürger war, durch nur halbpolitische Interessenkämpfe vorbereitet, solchen Krisen nicht gewachsen.

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Nipperdey

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14. Jugend und Politik um 1900 I. Einleitung Im Rahmen der Fragestellung dieses Bandes* hat das Problem Jugend und Politik um die Jahrhundertwende selbstverständlich seinen legitimen Ort. Es ist freilich noch nicht ein zentrales oder gar das zentrale Problem: Die neue Bewertung von „Jugend“ in der Gesamtgesellschaft und das neue Selbstverständnis einer Jugend spielt im Bereich des Politischen noch keine ganz erhebliche Rolle, anders als im kulturellen und sozialen Bereich finden sich hier keine Phänomene eines epochalen Wandels, eines Aufbruchs, einer fundamentalen Erneuerung. Politik ist und bleibt vornehmlich Sache der Erwachsenen, einen „Jugendkult“ in der Politik gibt es noch nicht. Was wir finden, sind langsame Veränderungen, Ansätze zu einem tieferen Wandel - aber erst mit der Revolution von 1918 entsteht aus diesen Ansätzen ein wirklich neues Phänomen im Bereich des Politischen. Diese Entwicklung zu verfolgen ist freilich auch im Rahmen dieses Bandes von hohem Interesse: sie zeigt gleichsam als Folie zu den kulturellen und sozialen Erscheinungen die Andersartigkeit des politischen Bereiches und die anderen Motive, die hier zu einer Änderung der Position der Jugend geführt haben; sie relativiert so voreilige Globalanalysen und verweist doch auf einen ähnlichen, wenn auch verzögerten Trend. Man muß sich freilich hüten, einer gegenwärtig modischen Einstellung zu folgen und Politisierung der Jugend als einen unzweideutigen positiven, ja absoluten Wert anzusehen und den Prozeß solcher Politisierung unter dem Schema des „Fortschritts“ zu analysieren. Ein solches Verfahren wäre unhistorisch und würde der Zeit um 1900 nicht gerecht. Der Vergleich mit der totalitären Politisierung von Jugend oder mit dem Verhältnis von Jugend und Politik in den zeitgenössischen westlichen Demokratien, dem Moratorium, das der Jugend auch dort gegenüber der Politik gewährt war, würde die Fragwürdigkeit eines quasi-absoluten Postulats der Politisierung von Jugend als Ausweis von Demokratie oder gar „Demokratisierung“ unmittelbar deutlich machen. Insofern also kann es im folgenden nicht um Wertungen gehen. Einige wenige Vorbemerkungen über die Möglichkeiten und Kategorien unserer Untersuchung sind noch notwendig. a) Das Thema ist bisher nicht behandelt. Für einzelne Aspekte gibt es wenige, selten zureichende Vorarbeiten; die Quellen sind außerordentlich vielfältig und weit gestreut, bestimmte Quellengruppen oder ein schier endloses Thema wie das der „Mentalität“ würden umfangreiche eigene Monographien erfordern. Was hier geboten werden kann, ist ein Versuch, eine Art Zwischensynthese aufgrund eines ersten, in wenigen Monaten erarbeiteten Überblicks1. 338

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b) Die Frage, wie in unserem Zusammenhang Jugend zu definieren ist, läßt sich nicht vorweg und nicht eindeutig beantworten. Die objektiven Merkmale: unter 18, unter 21 (Volljährigkeit), unter 25 (Wahlalter) oder andere Grenzen spielen eine Rolle. Wichtiger aber sind die subjektiven Merkmale: wer als Jugend angesehen wird, wer sich selbst als Jugend fühlt und definiert. Wenn man diese Kriterien der Geltung heranzieht, kommt man zu halbwegs brauchbaren, wenn auch keineswegs exakten Abgrenzungen. c) Für die Frage nach Jugend und Politik ist die kategoriale Unterscheidung von Jugend als Objekt und Jugend als Subjekt wichtig, von Jugend als Objekt politischer Erziehung und politischer Organisation im Konkurrenzkampf politischer Kräfte der Erwachsenenwelt und Jugend als mit- oder selbstbestimmendem Subjekt im politischen Bereich. Vor dieser Unterscheidung liegt die nicht explizit geplante, sondern sich aus der Gesamtlage ergebende Entwicklung von politischem Bewußtsein und politischer Mentalität bei der Jugend. d) Schließlich muß beim Begriff Politik unterschieden werden zwischen Politik im engerem Sinne, wo es um konkrete politische Probleme und Alternativen geht, und Politik im weiteren Sinne, in der es um die Bildung von Bewußtsein im Hinblick auf Voraussetzungen der Politik geht, ich möchte von Krypto- oder Metapolitik sprechen. Beide Versionen von Politik müssen berücksichtigt werden.

II. Epochale Entwicklung Ich beginne mit einer allgemeinen Hypothese zum Verhältnis von Jugend und Politik, die die besondere Situation der Zeit der Jahrhundertwende in einen weiteren zeitlichen Kontext stellen soll. In der vorindustriellen, vordemokratischen, in der ständischen Welt gibt es ein Problem Jugend und Politik nicht: der Kreis der in die Politik Einbezogenen ist relativ klein, ein patriarchalisches Sozialgefüge herrscht vor; wo bei den Dynastien, dem hohen Adel und in der Armee junge Leute früh politische Ämter und Würden übernehmen, galten sie als, ja sind sie erwachsen. In der Oberschicht liegt - wie in der Unterschicht - die Grenze zwischen Jugend und Erwachsensein relativ früh. Es ist interessant, daß Pitt mit 22 Jahren Schatzkanzler, mit 24 leitender Minister in England wurde, aber er war fertig, war erwachsen. Auch die Revolutionen, die französische und die amerikanische, haben zwar wie früher die Kriege die Chancen zu politischer Aktivität jungen Leuten in breitem Maße geöffnet, das Phänomen und die Generation Napoleons sind berühmte Beispiele, aber das waren einzelne, nicht eine Gruppe Jugend, und diese einzelnen waren eben gerade früh erwachsen. Erst seit der Französischen Revolution und seit Auflösung der ständischen Gesellschaft konnte die Beziehung von Jugend und Politik eine Realität und ein Problem werden. Freilich, das ist ein langsamer und keineswegs gradliniger Prozeß. Langfristig nimmt die Bedeutung der Jugend 339 22* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

als Gruppe, als Generation für die Politik und in der Politik, als Objekt und als Subjekt zu - die Folge der Mobilisierung und Demokratisierung der Gesellschaft und damit der steigenden Konkurrenz der politischen Kräfte untereinander. Langfristig nimmt auch die Jugendlichkeit der Gesellschaft zu, wenn sich auch gleichzeitig und gegenläufig die Jugendzeit verlängert. Aber dieser langfristige Prozeß ist nicht einlinig. Bürgertum und Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert sind stärker noch als die traditionellen Oberschichten an paternalistischen Strukturen orientiert, so daß hier bürgerliche wie proletarische Altersautorität die Tendenz zunehmender Bedeutung der Jugend hemmt. Der soziale Wandel hat die sozialpsychischen Realitäten nur langsam und zum Teil schubweise verändert und eine unterschiedliche und darum spannungsreiche Orientierung der Generationen erzeugt. Der Übergang von der ständischen traditionsgeleiteten Welt des ganzen Hauses zur bürgerlichen und innengeleiteten Welt der Person und der Kernfamilie, der für die Zeit um 1800 so charakteristisch ist, betraf doch zunächst nur die relativ schmale obere Mittelschicht, und die Neubildung eines bürgerlichen Lebensstils hat die Problematik des Generationsbruchs in diesem Übergang aufgefangen oder über Jahrzehnte vertagt. Erst die volle Auswirkung der industriellen Revolution im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, Urbanisierung und Bürokratisierung (Entstehung der Angestelltenschaft) haben eine neue Lage geschaffen. Wie an anderer Stelle dieses Bandes geschildert1*, war mit dem Übergang von der agrarisch-kleingewerblichen zur industriellen Welt die Verbindung von Lebensform und Produktionsweise, die Verbundenheit von Alter und Jugend, die Überschaubarkeit und die Anschaulichkeit der Normen im Rückgang, der Bruch mit dem Herkunftsmilieu, die Verunsicherung der Rollenerwartung und die Schwierigkeit, sich neu einzuhausen und Normen innerhalb der Familie zu übertragen, verschärft. Was allgemein für die Sozialisation gilt, daß neben der Familie neue intermediäre Sozialisationsinstitutionen entstehen und eine Verselbständigung der Jugend festzustellen ist, das gilt natürlich auch für die politische Sozialisation, wobei aber hier aus den genannten Gründen die Wandlungen später aktuell werden. Konkret geht die Entwicklung des Verhältnisses von Jugend und Politik, und insbesondere die aktive Teilnahme von Jugend an Politik und politischen Bewegungen im 19. Jahrhundert darum in Schüben vor sich (1813-20, 1840 -48 o. ä.). Offenbar sind neben dem langfristigen Wandel akute politische Krisen und Spannungen wie nach 1815 oder 1848 oder nach 1918 für diese Form der Mobilisierung wichtig, und auch bestimmte kritische Phasen des sozialen Wandels spielen eine Rolle. In den nun zu behandelnden Ansätzen zur Politisierung der Jugend zu Beginn unseres Jahrhunderts kündigt sich eine Krise der bürgerlich-paternalistischen Welt des 19. Jahrhunderts an, Mobilisierung und Krise kommen, wiederum durch einen Schub, aber erst nach 1918 auf ihren Höhepunkt.

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III. Wahlrecht Eine der wichtigsten objektiven Voraussetzungen für das Verhältnis von Jugend und Politik und für das Interesse der Parteien an der Jugend war das Wahlrecht, d. h. in diesem Zusammenhang die Frage des Wahlalters. Im großen und ganzen kann man davon ausgehen, daß im Reich und den meisten Einzelstaaten die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht bei 25, für das passive Wahlrecht bei 25 (Reich, Bayern, Württemberg, Hessen) oder 30 (Preußen, Baden und Sachsen) lag2, während die Monarchen im allgemeinen mit 18 Jahren volljährig und regierungsfähig wurden und die ständischen Mitglieder der ersten Kammern mit 21 in diese eintraten. Über die Frage des Wahlalters hat es zwischen 1890 und 1914 kaum große Debatten gegeben. Die reichsrechtliche Regelung entsprach dem Wahlgesetz der Paulskirche, die Liberalen erhoben lange Zeit im Reichstag keine Forderungen nach Ausweitung des Wahlrechts, auch das Zentrum war als Nutznießer des Wahlrechts nicht an einer Änderung interessiert. Lediglich die Sozialdemokratie trat mehrfach im Sinn ihres radikal demokratischen Programms für eine Herabsetzung des Wahlalters ein. Im allgemeinen waren die jungen Arbeiter sehr viel früher selbständig als die Bürgersöhne - auch das Heiratsalter lag ja niedriger-, das ist jedenfalls einer der objektiven sozialen Faktoren hinter dieser Forderung. Im Eisenacher und im Erfurter Programm wurde als Wahlalter 20 Jahre gefordert. Bebel argumentierte 1895 mit dem Verweis auf den Beginn der allgemeinen Wehrpflicht3. Die eigentlichen Kämpfe und Debatten aber gab es nicht im Reich, sondern in den Bundesstaaten. In Bayern ζ. Β. haben Zentrum und Sozialdemokratie die Einführung des direkten Wahlrechts 1905 nur dadurch erreichen können, daß sie und insbesondere die Sozialdemokraten die Heraufsetzung des Wahlalters von 21 auf 25 Jahre der konservativ-liberalen Regierung konzedierten4. Das Interesse der Sozialdemokraten an einer Herabsetzung des Wahlalters, der Konservativen, des Zentrums und der Nationalliberalen, zum großen Teil auch der Linksliberalen an einer Beibehaltung des bisherigen Zustands, ist deutlich. Aber im ganzen gehörte Politisierung der Jugend auf dem Wege über das Wahlrecht nicht zu den Themen, die die Gesellschaft zwischen 1890 und 1914 bewegten. Auch wo sich Jugend politisch äußert, gibt es offenbar kaum Forderungen auf Herabsetzung des Wahlalters.

IV. Politische Mentalität der Jugend um 1900 Nach diesen allgemeinen Erörterungen wende ich mich den konkreten Fragen unseres Themas zu und erörtere zunächst den Wandel der politischen Mentalität der Jugend und die Faktoren, die diesen Wandel geprägt haben. Diese Frage liegt noch vor dem spezifischen Problem, wann die Jugend im eigentlichen Sinne zum Objekt der Politik geworden ist, und wann sie als eigenes Sub341

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jekt in die Politik eintritt; denn eine politische Mentalität der Jugend hat es natürlich immer gegeben, seit es eine politische Gesellschaft gibt. Bei der Frage nach dem Wandel der Mentalität bewegen wir uns auf unsicherem Boden, es gibt hier keine zuverlässige Forschung, wir müssen Vermutungen, Impressionen und Rückschlüsse aussprechen, aus der systematischen Aufarbeitung von biographischem und publizistischem Material ist hier mehr zu erwarten. Zu warnen ist vor dem leichtfertigen Schluß, konservative Lehrpläne und Schulbücher hätten eine zunehmend konservative Orientierung bewirkt, die Machtergreifung von 1933 sei das notwendige Ergebnis, von ihr her müsse daher die Mentalität von vor 1914 interpretiert werden. Solche Kombinationen überschätzen die Bedeutung von Schulbüchern und Lehrplänen, angesichts etwa liberaler und katholischer Lehrer, wie generell die Bedeutung der Schule für die politische Sozialisation. Die preußische Volksschule hat die generelle Linkstendenz der Wählerschaft bis 1912/19 nicht aufgehalten, hat Arbeiterjugend nicht davon abgehalten, sozialdemokratisch zu werden. Die Jugend der Arbeiterklasse ist in ihrer politischen Mentalität und ihrem Verhalten viel stärker vom Aufstieg der Arbeiterklasse geprägt worden, sicherlich auch stärker noch als ihre Elterngeneration, und zwar deshalb, weil die christliche Prägung der Jugend, die die Orientierung an der atheistischen Arbeiterbewegung faktisch ausschloß, schwächer wurde; Mitglieder und Anhänger der Arbeiterbewegung nahmen gerade in konfessionell bestimmten Gebieten, ζ. Β. im Ruhrgebiet, zu. Für die bürgerliche Bildungsschicht kann man mit aller Vorsicht vielleicht folgendes hypothetisch sagen. Nach der Reichsgründung tritt wie in anderen Generationsgruppen des deutschen Bürgertums, zumal seit 1878/79, eine gewisse Entpolitisierung ein, der Stellenwert der Politik im Gefüge der überprivaten Orientierungen scheint zurückzugehen. Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ sind nur ein berühmtes Zeugnis dieser Haltung. Die studentische Jugend etwa ist nicht im spezifischen Sinne ein dynamischer Faktor in Richtung auf eine Veränderung des Status quo. Nach einem Bericht von 1904 beschäftigten sich von 40 akademischen Periodica lediglich 15 auch nur sporadisch mit Politik5. Die Protagonisten einer politischen Bildung, wie der liberalprogressive Pädagoge und Publizist W. Ohr, kritisieren die apolitische Einstellung der Studentenschaft als „unmodern“ und „ungebildet“, sie werde und sei nicht auf ihre politische Zukunft vorbereitet6. Das unpolitische Gros außerhalb des katholischen Volksteils bewegte sich im Rahmen des konservativ-liberalen Kompromisses. Verfassung, außenpolitische Situation und Sozialstruktur des Bismarckreiches waren zur selbstverständlichen, nicht weiter befragten Voraussetzung des Lebens geworden. Man kann weiter, wo eine politische Orientierung zu beobachten ist, eine überproportionale Abwendung vom traditionellen Liberalismus rechter wie linker Prägung feststellen, der Liberalismus galt als alt geworden. An die Stelle der Verfassungsfragen traten die Tendenzen zur Sozialreform und/oder die Tendenz zu einem verstärkten, gelegentlich integralen Nationalismus, einschließlich seiner völkischen und zum Teil antisemitischen und oppositionellen Elemente7. Die Anziehungskraft der Stoek342 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

kerschen Bewegung (Η. von Gerlach), die Gründung des nationalistischen, christlich-sozialen Vereins deutscher Studenten und seine Kyffhäuser-Feier, die Rolle der sogenannten Antisemitenpetition unter diesen Studenten, der häufig anzutreffende Generationenkonflikt zwischen altliberalen Vätern und nationalistisch oder sozial-konservativen Söhnen (Kapp, Class, Gerlach), die Entwicklung der liberal-nationalen Ideologie der Burschenschaft zu einer nationalen Ideologie mit einigen liberalen Zusätzen, die Entwicklung der nationalliberalen Jugend, von der zu sprechen ist, das sind Hinweise und Impressionen, die diese Hypothese plausibel machen können. Die nationale und nationalistische Orientierung war spezifisch bürgerlich, sie war im parteipolitischen Sinne nicht konservativ und sie war nicht gouvernemental oder gar dynastisch-monarchistisch. Die Kundgebungen, die der übergroße Teil der deutschen Studentenschaft von Bismarcks 80. Geburtstag bis zu seinem Tode erlassen hat und die dann in den Bau der zahlreichen Bismarcksäulen und den Bismarckkult der Zeit bis 1914 eingemündet sind, scheinen mir für die Mentalität und Stimmung in ihrer Richtung wie in ihrer Vagheit charakteristisch. Es war eine Tendenz zur nationalen Konzentration und Integration, zur Gemeinschaftsbildung mit einem spezifischen Sinn für äußere und innere Bedrohung, eine Wendung gegen den Klassenkampf, die von Unverständnis für die Tatsache von Klassenkonflikten ausging, eine Umorientierung vom Staat zum Volk und zur Volksnation mit manchen nordischen Zügen, eine Gegnerschaft gegen das Pathos des Wilhelminismus und seinen offiziellen Patriotismus, eine Wendung zu, wie man meinte, echten und einfachen Ausdrucksformen, in denen der Nationalismus doch mythische und idealistisch hochgesteigerte Züge annahm. Auch im katholischen Bereich vermute ich trotz aller fortdauernden Kulturkampfstimmung eine allmähliche und tiefgreifende Nationalisierung und Integration in den Staat, wiederum mit stark sozialreformerischen Zügen: nur so ist der Wandel der katholischen Bildungsschicht zwischen 1870 und 1914, 1918, 1932 zu erklären. Im Jahrzehnt vor 1914 können wir - gerade innerhalb der Studentenschaft eine zweite sozialreformerische Welle beobachten, der Einfluß Naumanns auf die Politisierung bestimmter Jugendkreise, die Kritik am Verbindungswesen von seiten der sog. „Freistudenten“, die sich mit einer neuen liberalen, z. Τ. linksliberalen Orientierung verband8, und die sich in den Reformdiskussionen der Verbindungen selbst niederschlug, sind dafür Symptome. Vieles wissen wir freilich nicht. Ob ζ. Β. vor und neben der Jugendbewegung für die Eltern-Kinder-Relation das Modell der politischen Tradition oder das Modell der politischen Rebellion größeres Gewicht hatte, und ob es hier Verschiebungen gab, darüber ließen sich erst nach sehr schwierigen Untersuchungen begründete Vermutungen anstellen.

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V. Jugendbewegung und Politik Ich erörtere in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Jugendbewegung und Politik, ein vieldiskutiertes Thema, das aber doch auch im Anschluß an den Beitrag dieses Bandes8a auf seinen Stellenwert für unser Problem hin befragt werden muß. Zunächst ist festzustellen, daß die Jugendbewegung - zum ersten Male Teile einer Jugendgeneration, die bewußt jung und nicht erwachsen sein wollen - ihrem Selbstverständnis nach un- oder apolitisch oder vielleicht besser vorpolitisch war. Die konkrete Politik des Staates und der Staaten oder die der Parteien und Verbände lag außerhalb des Wollens und Vorstellens der Bewegung, sie war ein Stück Erwachsenenwelt, war allenfalls sekundäre Erfahrung, auch gegen sie setzte man den Freiraum des eigenen Reiches. Die Opposition gegen die herrschende Welt, das Kleinlich-Ängstliche, das Lustlos-Unerfüllte der Elterngeneration, die Vorstellungen des Neuwerdens bezogen sich, soweit sie das eigenständige Jugendreich überschritten, auf das Leben des Einzelnen und des Volkes oder auf die Kultur und die Mentalität, nicht auf bestimmte bestehende oder angestrebte konkrete politische Ordnungen. Soweit sich Opposition gegen den politischen Stil der Erwachsenenwelt richtete, war sie ohne Diagnose und ohne Therapie, das Pathos von Erneuerung und Änderung richtete sich nicht auf Politik. Die Reform des Lebens und der Gesellschaft war nicht gegen, sondern neben oder gar in der bestehenden politischen Ordnung gedacht. Die zentrale Forderung nach dem Eigenbereich der Jugend, dessen Charakter als Moratorium vor dem Eintritt in die Erwachsenenwelt zwar nicht geleugnet, aber auch - wegen seines relativierendes Zuges - nicht sonderlich betont wurde, stützte diesen vorpolitischen Bereich. Eine unmittelbar politische Aktivität oder politische Bildung hat es deshalb in der Jugendbewegung in nennenswertem Maße nicht gegeben. Nur gelegentlich spielte Politik herein. Die Tage auf dem Hohen Meißner waren eine „Parallelaktion“ und Gegenfeier zur Jahrhundertfeier von 1813, die zugleich das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms war; gegen einen konventionellen Hurra-Patriotismus und den militärisch-nationalen Charakter offizieller Feiern wollte man „junges Volk sein“ (Bohnenkamp) und ein Fest feiern. Aber man berief sich etwa in der Einladung - doch auf die Freiheitskämpfer von 1813, auf die Befreiung des Vaterlandes vom fremden Joch und die eigene Befreiung, man d. h. die schreibenden Studenten - fühlte sich wie 1817 am Anfang einer aufbrechenden Bewegung. Hier spielen Versuche herein, das eigene Wollen politisch zu legitimieren: „Ihr Selbst frei zu entwickeln, um es dann dem Dienste der Allgemeinheit zu widmen, ist die höchste vaterländische Aufgabe der Jugend“; indem die aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltete Jugend sich auf sich selbst besinne, werde sie zu einem erfrischenden Strom im Geistesleben des Volkes9. Freilich, die beteiligten Erwachsenen griffen hier mit eigenen politischen Parolen in das große Palaver ein und versuchten die Jugend in den Dienst eigener Ziele zu nehmen. Zumal die Gastredner gaben der Jugend durchaus politische Ratschläge, die von imperialistischen und Antiparteienstim344

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mungen (Traub) bis zur Gegnerschaft gegen Krieg und engstirnigen Nationalismus, Von antiklerikalen bis zu antiobrigkeitsstaatlichen Tönen reichten, bei Wynecken in einer, seiner Verteidigung der „Jugendkultur“ gemäßen, eigentümlich transpolitischen Färbung, in der die Aktivität der Jugend zu einem Kampf des Lichtes gegen die Finsternis jenseits des Trubels der Parteien stilisiert wurde. Aber das war nicht eigentlich die Jugendbewegung; Ahlborn hat die Stellung der Jugend vor dem Parteienkampf oder „Parteienhader“, ihre Neutralität und ihren Verzicht auf politische Programme, Bindungen und Ziele mit Recht zur Geltung gebracht. Es gab 1914 das Telegramm freideutscher Führer an den Kaiser gegen den Krieg. Es gab 1913/14 die Debatten um die sogenannte Judenfrage, zumal im Wandervogel, die antisemitische Tendenzen zeigten, aber ohne einheitliche Stellungnahme ausgingen, die Aufnahme von Juden blieb den Ortsgruppen freigestellt. Es gab Siedlungs- und Rasseideen, die an die Jugendbewegung herangetragen wurden, es gab im Kreis um die Zeitschrift „Der Anfang“ Ideen über den Anteil der Jugend an einer neuen politischen Ordnung der Zukunft, so bei dem zum Sozialismus tendierenden Ernst Joël, und es gab national-völkische Tendenzen, aber im ganzen waren solche politischen Töne nicht charakteristisch und sie waren Sache der älteren, um Auslegung bemühten „Interpreten“. Die entscheidende Frage ist die nach der indirekten politischen, der metapolitischen Orientierung und Mentalität der Jugendbewegung. Welche Implikationen steckten in der Mentalität dieser Bewegung, ohne daß ihre Träger sich dessen bewußt waren? Hier muß zunächst darauf hingewiesen werden, daß es sich dabei wesentlich nicht um die von ihrem neuen Erlebniszentrum faszinierten Jungen selbst handelt, sondern um die Führer, und dann um die freideutschen Studenten und ihre ungezählten literarischen Erzeugnisse. Und auch bei ihnen handelt es sich mehr um Stimmung, um Horizont, um implizite Wertungen als um ein konsistentes Denk- oder Gesinnungsgefüge. Die Kritik an der Jugendbewegung, die unter dem Eindruck von 1933 steht, hat bestimmte Elemente, die außerhalb der liberaldemokratisch sanktionierten Überzeugungen liegen, herausgearbeitet, die Gegenkritik hat versucht, deren Bedeutung wieder zu relativieren. Wir finden sicher eine nationalromantische Grundstimmung, eine nicht am Staat und seinen Institutionen, sondern an Volk, Land und verschütteter Tradition orientierte, ζ. Τ. direkt völkische Form des Protestes gegen die bestehenden Lebensformen. 1909 ist die Einleitung zum Zupfgeigenhansel ganz unpolitisch, 1911 ist schon von der „wahren deutschen Lebensart“ und der „heimatlichen Scholle“ die Rede, 1914 von der Aufgabe, „noch deutscher“ zu werden. Die Einflüsse Lagardes und Langbehns als der viel gelesenen Schriften der Väter- und Großvätergeneration, die Resonanz von Burtes Wiltfeber weisen in dieselbe Richtung. Freilich, Versuche der Alldeutschen, 1902/03 den Wandervogel für sich zu gewinnen, scheiterten, und gegenüber den völkischen, politisch aktivistischer gewordenen österreichischen Wandervögeln, denen es um den deutschen Charakter der Monarchie ging und die betont antisemitisch waren, hielt man Distanz. Ebenso lehnte die Jugendbewegung die Mit345 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

gliedschaft in den gouvernemental-nationalen Verbänden, dem Jungdeutschlandbund oder den Pfadfindern, ab. Man hat auch darauf hingewiesen, wie in der Jugendbewegung die Vorstellungen einer konfliktlosen harmonischen Gesellschaft, der von den Klassengegensätzen abstrahierten Volksgemeinschaft lebten; die Opposition gegen die Zerreißung der Nation durch politische „Verhetzung“, durch zum Antagonismus gesteigerte Konkurrenz der Parteien, die Vertiefung der Volksgemeinschaft, die Überzeugung, daß eine Art Durchbruch der Nation erst noch zukünftig bevorstehe, eine Art neuer Solidarismus, die Orientierung an Gemeinschaft, nicht an Gesellschaft - das waren Implikationen jenes Ansatzes und darein mischten sich auch durchaus antiliberale Töne. Auch die Abkehr vom Staat und die Hinwendung zum Volk, die freilich nicht dazu führte, daß die Glieder der Bewegung wie die russischen Studenten der achtziger Jahre „ins Volk“ gingen, oder die agrarromantisch antiurbanen, kulturkritischen Züge hatten natürlich langfristig politische Konsequenzen. Aber gegenüber der besserwisserischen Kritik der Nachgeborenen muß man doch auf anderes aufmerksam machen. Zuerst, man darf bestimmte Wortfelder und Ideenbereiche nicht immer unter dem Aspekt von 1933 sehen; die Popularität der häufig neokonservativ formulierten Zivilisationskritik reicht sehr weit, und das ist nicht verwunderlich, weil ein Leiden an der „Entfremdung“ in der bürgerlichen Zivilisation von dieser Kritik an- und ausgesprochen wurde, die völkischen und die harmonistisch getönten Formeln waren im Kern zunächst nur eine Ausdrucksform des Protestes gegen die „Entfremdung“, der Sehnsucht nach den integrierten Menschen. Die Idee der solidarischen Volksgemeinschaft ist, wenn man sie als Basiskonsens der Demokraten definiert oder als Tendenz zur Überwindung des Klassen- und des Konfessionskampfes und des Kastenwesens im Kaiserreich beschreibt, weit verbreitet und legitimiert, sie läßt sich bei Demokraten und Sozialisten genauso nachweisen. Auch die Wendung zum Lande ist ja seit Rousseau und Jefferson und bis hin zur Zeit von „Umweltschutz“ und „Lebensqualität“ keineswegs eindeutig rechts zu verorten (Gustav Landauers Anarchisten und die zionistische Jugendbewegung hatten den gleichen Hang zum Lande und zur Siedlung). Ich glaube also, man sollte diese vagen Implikationen einerseits in ihrer Bedeutung nicht überschätzen, andererseits aber ihre Variabilität und Vieldeutigkeit sehen. Daß ein Teil der Jugendbewegung 1918 nach links, ein Teil nach rechts abgeschwenkt ist, war keine Inkonsequenz. Und man muß in dieser Bewegung natürlich auch das Moment impliziter politischer Opposition gegen überlieferte und beanspruchte Autorität und gegen Konvention sehen, die Tendenz zur Umgestaltung des Lebens, die Wendung gegen den Staat jenseits des Volkes, gegen den Wilhelminismus, gegen die Gesellschaft als Kastengesellschaft, gegen Corps und eine bestimmte Reserveoffiziersmentalität, gegen den Hurra-Patriotismus, die Tendenz zur Gleichberechtigung der Geschlechter, in den Formeln von der eigenen Bestimmung die pluralistische Meinungsvielfalt, den Gemeinsinn und die Formen freiheitlicher Humanität im eigenen Gemeinwesen, kurz, man muß hier auch das demokratische und liberale Potential sehen, das Entwicklungen auch in dieser 346 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Richtung ermöglichte. Freilich all das war Krypto- und Metapolitik. Eine politische Bildung oder Erziehung oder eine konkrete politische Orientierung hat es bei der institutionsfremden Bewegung nicht gegeben, hier bleibt ein Vakuum. Die Bewegung blieb auch - entgegen dem Anspruch - vor 1914 auf die bildungsbürgerliche Jugend beschränkt, das, was Sport- und konfessionellen Organisationen gelang, Klassenschranken zu durchbrechen, das blieb der Jugendbewegung versagt.

VI. Politisierung der Jugend durch nichtparteiliche Erwachseneninstitutionen Ich wende mich der Frage zu, wie Jugend Objekt der Politik gewesen ist, nicht im Sinne justiz- und gewerbepolitischen Jugendschutzes etc., sondern genauer: wie Jugend Objekt der Werbung, der Bildung oder der Ideologisierung und der Integration durch politische Gruppen der Erwachsenenwelt gewesen ist. Dabei geht es zunächst und vor allem um die Vorgeschichte für unser spezifisches und epochales Problem, also noch einmal um eine kryptopolitische, aber nun gesteuerte Orientierung. Nachdem die fortgeschrittenen Länder Europas und zumal Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in das Zeitalter der allgemeinen Verschulung der Gesellschaft eingetreten sind - allgemeine Schulpflicht, Wehrpflicht und Steuerpflicht charakterisieren ja, wie Verfassungsstaat und Industrialisierung, das Neue des liberalen 19. Jahrhunderts -, ist es die Schule, die als sozialgestaltende Macht der Konkurrenz politischer Kräfte ausgesetzt ist. Der Kampf um die sozialgestaltende Rolle der Kirche und der Kampf zwischen Liberalen und Konservativen spielt sich in großer Erbitterung als Schulkampf ab. Oder: Im 19. Jahrhundert hat die Konkurrenz politischer Gruppen in einer freien Öffentlichkeit und nach Wegfall der ständischen Bindungen zu einem Kampf dieser Gruppen einschließlich des Staates um die Jugend - als des für die Zukunft entscheidenden Faktors - geführt, dieser Kampf wird ausgetragen als Kampf um die Schule. In diesem Kampf gibt es freilich trotz aller Siege und Niederlagen keinen vollständigen Sieg, weil die Prinzipien des Rechtsstaates, Regionalismus und Föderalismus und die relative Pluralität der Lehrerschaft, die nur die Sozialdemokraten ausschließt, sich durchhalten und nur einen Kompromiß zulassen. Nun entstehen seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Organisationen für die Jugend außerhalb der Schulen, die eine mindestens indirekte politische Wirkung haben. Man kann schon die Turn- und Sportvereine mit etwa 125 000 Mitgliedern um 1900, offenbar etwa 50 Prozent Jugend (unter 18/20) hier erwähnen, die zwar politisch neutral, aber seit den 70er Jahren doch vorwiegend patriotisch geworden waren (Jungturner). Wichtiger sind die Konfessionen, die Jugend außerhalb der Schule organisieren. Sie wollen die Jugend der Konfession und/oder ihrer entschiedenen Richtung erhalten (Kongregationen, Missionsjugend, pietistisch geprägte Vereine), sie vor den Gefahren des 347 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Zeitgeistes und der „Welt“ bewahren und zugleich den sozialen Notständen der Jugend im Zuge der sich mobilisierenden Industriegesellschaft begegnen, um Entwurzelung und Verwahrlosung zu verhindern, die Jugend aus dem „Kreislauf von Werkstatt und Wirtschaft“ zu lösen. Damit wirken die Konfessionen indirekt auch auf die politische Orientierung. Im Rahmen des im 19. Jahrhundert entstehenden kirchlichen Vereinswesens bilden sich darum zahlreiche Vereine für die Jugend, ζ. Τ. beruflich, ζ. Τ. um religiöse Gesinnungen oder Zwecke gruppiert, Jünglings- und Jungfrauenvereine, Dienstbotenund Landjugendvereine, CVJM, Schülerbibelkreise, katholische Lehrlingsvereine, Kolpingsöhne. Gerade am Ende des 19. Jahrhunderts nehmen Größe und Bedeutung dieser Vereine erheblich zu10, sie werden in nationalen Gesamtverbänden, ζ. Τ. mit eigenen Generalsekretariaten zusammengefaßt. Die Nationalvereinigung der evangelischen Jünglingsbünde Deutschlands umfaßt 1900 92 000, 1914 147 000 Mitglieder, in der Mehrzahl 17- bis 25jährige Arbeiter und Handwerker, die 14- bis 17jährigen waren als Jugendvereine ausgegliedert; die evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands umfaßten 1913 etwa 250 000 Mitglieder, die Presse der Jünglingsvereine hatte 1908 eine Auflage von knapp 140 00011. Die katholischen Jugendvereinigungen Deutschlands hatten 1908 etwa 150 000, 1913 298 000 Mitglieder, dazu kamen 75 000.Gesellen (1908) und etwa 350 000 Jungfrauen, dabei lag der Schwerpunkt der Organisation in Westdeutschland. 1895 hatte man mit der überregionalen Organisation in Diözesanverbänden begonnen, seit 1896 gab es ein „Correspondenzblatt für die Präsides der katholischen Jugendvereinigungen Deutschlands“, seit 1897 eine zentrale Organisation12. Die außerordentliche Intensivierung dieser Bewegung kurz vor 1900 hängt, vor allem im katholischen Bereich, eng mit der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Sozialdemokratie zusammen. Diese Vereine haben überall neben der kirchlich-religiösen Tätigkeit ein reicheres Feld von Aktivitäten auf dem Gebiete der Geselligkeit, der sozialen Hilfe und der Erziehung und Bildung übernommen. Hier setzt nun eine gewisse politische Orientierung ein. In den katholischen Vereinen war - wie in allen vergleichbaren Organisationen - Politik ausgeschlossen, die Vereine waren an einem Wertsystem orientiert, zu dem neben der Religion, Heimat und Vaterland, Beruf und Familie, Autorität und Gegnerschaft gegen den Umsturz gehörten. Gegen Ende des Jahrhunderts nun dringt im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und der sozialökonomischen Probleme der Berufsgruppen im zunehmend interventionistischen Staat, im Zusammenhang mit Bauern-, Handwerker- oder Angestellten„fragen“, die Sozialpolitik, ζ. Β. Lehrlingsschutz als Gegenstand der Erzie­ hung und Diskussion ein. Daran schließt sich dann generell eine staatsbürgerliche Erziehung an, so daß man dann von einer jedenfalls partiellen politischen Bildung oder gar von einer Politisierung sprechen kann. Neben den christlichen Gewerkschaften und den konfessionellen Arbeitervereinen spielt vor allem der Volksverein für das katholische Deutschland mit seiner Doppeltendenz zur Sozialreform und zur Stabilisierung der politischen Integration des katholischen 348 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Volksteils im Zentrum durch Massenorganisation und Volksbildung eine führende Rolle. Seit Beginn des Jahrhunderts ist in der Vereinspresse von der „Befähigung, die Pflichten als Mitglied der Gesellschaft zu üben“13, als Erziehungsziel, von staatsbürgerlichen Kenntnissen über Rechtsgleichheit, Freiheitsoder verfassungsmäßige Rechte oder die Bedingungen des harmonischen Zusammenlebens aller Volksteile14, ja von der Selbstbestimmung des Volkes gegenüber obrigkeitlicher Bevormundung15 die Rede. Zumal eine Reorganisation der Verbandsarbeit unter dem Einfluß der Gladbacher Zentralstelle des Volksvereins und A. Piepers führte zu einem Zurücktreten des älteren autoritären Führungsstils zugunsten stärkerer Eigenverantwortung in nicht-geistlichen Dingen und zu einer Abkehr von den älteren Traditionen von Stand und Großfamilie; angesichts der Einsicht in die gesellschaftlichen Ursachen der Jugendprobleme treten Sozialreform und gesellschaftliches Integrationsstreben in den Vordergrund. In den westdeutschen katholischen Jugendorganisationen gab es auch Ansätze zu einer unmittelbaren Werbung für den Wahlkampf des Zentrums und seine Jugendorganisation, die Windthorstbünde16. Ein anderes Beispiel aus Süddeutschland: Hier gab es seit 1889 eine katholische Jugendzeitschrift „Efeuranken“, die 1909 von der Zentralstelle des Volksvereins für Süddeutschland übernommen wurde und nun auch der „Vorbereitung auf das öffentliche Leben“ diente; aus diesem Kreise sind nach 1913 die Anfänge einer katholischen Jugendbewegung mit stark katholisch-nationalen Tendenzen: Erhaltung des Volkstums, Pflege des deutschen Gedankens, Siedlungsideen, entstanden. In diesen Zusammenhang gehört von seiten der bürgerlichen Intelligenz auch die 1908 entstandene sozialstudentische Bewegung des Kaplans Sonnenschein mit ihrer Sozial- und Bildungsarbeit gerade unter Jugendlichen. In diesem Zusammenhang hat Sonnenschein konstatiert, daß in der Studentenschaft ein Wechsel der Meinungen „im Vollzug“ sei, die Zeiten, „in denen völlige Gleichgültigkeit gegenüber politischen Fragen als Studentenideal galt“, seien vorbei17. Die Entwicklung der evangelischen Jugendvereine verläuft, wenn ihnen auch die Reforminitiativen und das intellektuelle Potential des Volksvereins fehlten, ähnlich: auch hier dringen nach 1900 Sozialpolitik und Gewerkschaften, Verfassung, Verwaltung und Wahlen als Gegenstände vor. Freilich war die Distanz zu den Parteien - gemäß der politischen Situation des evangelischen Volksteils - größer: die Wahrung der vollen Unparteilichkeit gegen eine „Dressur vom Parteistandpunkt aus“ sei notwendig, um die spätere „freie Selbstentscheidung“ nicht zu gefährden18. Wie erfolgreich diese Bemühungen waren, ist schwer zu sagen. Für den organisierten Katholizismus haben sie sicherlich erhebliche Bedeutung gehabt; in den Debatten und Auseinandersetzungen um die politische Gewinnung der Jugend im letzten Jahrzehnt vor 1914 spielen sowohl für die Argumente der Sozialdemokraten wie der staatlichen Organe die konfessionellen Vereine eine besondere Rolle, besonders die Sozialdemokraten betrachten sie als ihre Hauptgegner. Denn die Masse der Mitglieder dieser kirchlichen Jugendorganisation 349

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gehörte nicht zur bürgerlichen Bildungsschicht und reichte durchaus in bestimmte Teile der Arbeiterschaft und der kleinen Handwerker- und Angestelltenschichten hinein. Wieweit in diesen Organisationen die Jugend in eine selbsttätige und aktive mit- oder selbstgestaltende Rolle hineinwuchs, läßt sich generell nicht entscheiden, für die katholisch-soziale Bewegung wird man das in gewissen Grenzen vermuten dürfen. Nach 1900 haben auch andere soziale Organisationen ähnlich versucht, Jugend an sich zu binden, so eine sozialpolitisch orientierte und ideologisch nationalistische Gewerkschaft wie der DNHV, mit Lehrlingsabteilungen der sogenannten „fahrenden Gesellen“ mit etwa 20 000 Mitgliedern, Vorläufer gibt es in den Jueendabteiluneen der Kaufmannseehilfenverbände. Auch die nationalistischen Verbände, der Flottenverein, der Wehrverein, der Ostmarkenverein, der Kyffhäuserverband und die Alldeutschen („Wartburgjugend“) haben Jugendabteilungen im Sinne ihrer politisch nationalistischen Programme gebildet, über deren Aktivität und deren Resonanz war freilich bisher nichts festzustellen. Neben die Sozialpolitik trat die nationale Politik als möglicher Motor zu einer Politisierung der Jugend. Freilich setzte die Tradition des Ausschlusses von Politik aus jugendlichen Aktivitäten trotz nationaler oder nationalistischer Grundstimmung diesen Bemühungen Grenzen: der streng nationale Kösener SC z. Β. war in den Flottenverein eingetreten, trat aber 1908 wieder aus, weil die Zugehörigkeit mit seiner parteipolitischen Neutralität nicht zu vereinbaren sei19. Die katholische Presse bekämpfte die Agitation für „gewagte politische Ziele“ wie die des Flottenvereins, über die - einschließlich der Kosten und Folgen - zu urteilen den Studenten jede Kenntnis und Erfahrung fehle20. Das Fernhalten der Studenten von jeder Tagespolitik bleibt hier Ideal. Soweit ich sehe, hat die direkte Politisierung über nationalistische Verbände unter der Studentenschaft erst unmittelbar vor 1914 Fortschritte gemacht21. Im ganzen kann man sagen: der Kampf der Konfessionen in einer offenen Gesellschaft und die mit der Mobilisierung der Gesellschaft entstehenden großen sozialen Probleme gerade der von dieser Mobilisierung besonders betroffenen Jugend, haben zu einem konfessionellen Jugendvereinswesen geführt, das um 1900 über die zunehmende Bedeutung von Sozialpolitik und Sozialdemokratie sozialpolitische Fragen aufnimmt und damit in eine quasi politische Funktion einrückt. Bei einer Reihe anderer Organisationen, einerseits sozialpolitischer, andererseits nationalpolitischer Orientierung, findet sich in derselben Zeit eine parallele Entwicklung.

VII. Jugend und Parteien Wie stand es mit dem Verhältnis von Jugend und Parteien? Außerhalb der Parteien, in der Presse, an den Universitäten, in der allgemeinen Meinung galt auch da, wo man den Parteien nicht negativ gegenüberstand, daß die Jugend 350 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

in einem Raum vor aller parteilichen Orientierung sich bewegen müsse und dieser politisch neutrale Raum zu schützen sei. Innerhalb der Parteien hat es gewisse Oppositions- und Modernisierungsbewegungen, Rebellionen oder Flügelbildungen gegeben, die im Zeichen und im Namen der Jugend òperieren. 1890, nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes, trat innerhalb der Sozialdemokratie die Gruppe der „Jungen“ mit radikalen und ζ. Τ. syndikalistischen Zielen gegen den Parteivorstand und die Fraktion in einer großen Kampagne an, die aber schon 1891 mit Parteiausschlüssen zu Ende geht. Engels spricht von einer „Literaten- und Studentenrevolte“ und bezeichnet die Politik dieser Leute als „Gymnasiastenpolitik“22. Die Bezeichnung „Die Jungen“ war offenbar keine Selbstbezeichnung, sondern entstammte der nichtsozialistischen Presse23, setzte sich dann aber durch; es handelte sich\um relativ jüngere Parteimitglieder, die die Partei alt geworden und verflacht, nämlich kleinbürgerlich oder gar bourgeois statt revolutionär, und andererseits diktatorisch fanden. Von einer eigentlichen politischen Bewegung der Jugend kann aber nicht die Rede sein. Ähnlich ist es 20 Jahre später bei einer Gruppe der Konservativen gewesen, die sich Jungkonservative nannten, eine Empörung städtisch akademischer Konservativer gegen die Dominanz der agrarischen Junkerpolitik im Zusammenhang der Finanz- und Steuergesetzgebung von 1909 und mit der Tendenz zu einer konservativ-nationalen, aber nicht agrarisch feudal fixierten Politik, an der vorwiegend jüngere Leute, d. h. 25- bis 35jährige beteiligt sind. Aber auch hier ist das Epitheton „jung“ zwar interessant als positive Selbstbezeichnung einer Gruppe, aber eben doch nicht eine Bezeichnung für Jugend, sondern eine solche für einen neuen politischen Flügel. Innerhalb des Zentrums gab es seit Ende der 90er Jahre, zuerst 1895, Vereinigungen jüngerer Männer, die auf dem Boden der Zentrumspartei standen, die Windthorst-Bünde, die seit 1900 in einem Verband zusammengefaßt waren. Einerseits ging es hier um eine politisch-weltanschauliche Verteidigung des Katholizismus, sodann um die politische Unterstützung für die Partei, vor allem um Organisation und Agitation bei den Wahlen, und schließlich um die Bildung von Nachwuchs für das Zentrum und andere katholische Organisationen. Dabei gingen diese Bünde über die akademische Schicht hinaus, vor allem in den „neuen“ Mittelstand der mittleren Beamten und Angestellten; in Karlsruhe ζ. Β. waren Akademiker gerade nicht M itglieder24. Diese Bünde waren zwar von Jugend, über 21, organisiert, aber doch in deutlicher Kooperation mit den Etablierten, zumal den rheinischen Politikern der Partei, und sie spielten vor allem in West- und Südwestdeutschland, Gebieten, in denen das Zentrum sich moderner strukturierte, eine Rolle. Nach 1908 wurde gemäß dem Vereinsgesetz die Altersgrenze auf 18 Jahre festgesetzt, und die Bünde widmeten sich stärker der politischen Bildung und der ζ. Β. rhetorischen Schulung der nunmehr als politische Jugend geltenden Gruppen. Seit 1897 schon gab es eine eigene Zeit­ schrift, seit 1900 „Windthorstblätter“, später „Jung-Zentrum“. 1903 wird die Zahl der Mitglieder mit 8 000, 1914 mit 20 000 angegeben, von denen allerdings ein erheblicher Teil über 25 war. Daneben bestanden schon Jugend-Ab351 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

teilungen für Unter-18 jährige. Im ganzen: die in den späten 90er Jahren einsetzende Politisierung von Massen durch den Volksverein führte zur Mobilisierung auch einer aktiven Schicht von jungen Leuten in den zwanziger Jahren, ihre Bünde wurden zu „Vorschulen“ des Zentrums25; mit ihrem Elan und mit einer gewissen Selbständigkeit stellten sie die Honoratiorenführung des Zentrums im Ansatz wenigstens in Frage. Ob es bei den wenigen mir bekannten Gruppen der Linksliberalen ähnlich war, kann ich einstweilen nicht sagen. 1904 heißt es in einem Aufsatz der „Hilfe“26, der Liberalismus müsse in seiner Krise darangehen, die Jugend zu gewinnen und zu orientieren, bisher habe man da nichts getan und das Feld dem Zentrum, den Konservativen und den Sozialdemokraten überlassen. 1909 gibt es einen fortschrittlichen „Jugendverein Eugen Richter“, der zum Beitritt auffordert27. Sicher ist, daß die Tätigkeit Friedrich Naumanns während wie nach seiner nationalsozialen Phase einen großen Einfluß auf Teile der bürgerlichen, zumal studierenden Jugend gehabt und zu einem Engagement auf seiten der sich erneuernden Linksliberalen geführt hat28. Aber diese Wirkung ging auf politische Orientierung, nicht auf politische Organisation. Von unserer Fragestellung her interessanter ist die Gruppe der sogenannten Jungliberalen, eine Jugendorganisation der Nationalliberalen, die zugleich zu einem wichtigen Flügel der Partei wurde. Die Jungliberalen waren Vereine städtisch bürgerlicher Jugend, junge Juristen und Lehrer zumal, später viel sogenannter neuer Mittelstand, die - offenbar in Konkurrenz zu den Windthorst-Bünden29 - zuerst 1899 entstanden. Anfangs waren das politische Diskussions- und Bildungsclubs, in denen die Mitglieder sich informieren und in die Probleme der Politik hineinwachsen wollten, sie wollten zu „praktischer Mitarbeit im Sinne einer nationalen und wahrhaft liberalen und sozialen Politik“ heranbilden30, zugleich sollten sie die unpolitische Haltung, die Lässigkeit ihrer Generationsgenossen überwinden. Sie schlossen sich der nationalliberalen Partei an, weil sie glaubten, hier den geeigneten Boden für ihre Pläne zu finden. Sie wollten aber nicht nur jugendliche Hilfsorganisation der Partei sein und nicht nur Bildungsclub, sondern eine freie Vereinigung mit selbständigem Eigenleben. Sie wurden dann sehr bald zu einem reformierten Flügel der Partei, der bei starkem imperialistisch nationalem Akzent vor allem einerseits antiklerikal und antikonservativ, andererseits sozial-liberal orientiert war. Ihre Tendenz also ging nach links, sie wollten eine stärker demokratische Partei, wollten sie aus ihrer regierungsfrommen Stagnation und ihrem Aufgehen in täglichen Kompromissen mit Konservativen und Zentrum durch eine Rückbesinnung auf Prinzipien des Liberalismus befreien. Sie hatten - so in einer rhetorischen Überspitzung - es satt, „die Geschäfte eines reaktionären Mastbürgertums zu besorgen“. Sie wollten aber, so der Ursprung, Jugend sein, unter sich sein, außerhalb der eingefahrenen Gleise des Parteiestablishments31. Dabei umfaßte Jugend das Alter von 21 bis 35, später sogar 40 Jahren, wobei die Obergrenze wohl erst Jahre nach der Gründung von Bedeutung wurde. Die Gruppe, schon 1900 zu einem Reichsverband der national-liberalen Jugend zu352 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

sammengeschlossen, mit einer eigenen Zeitschrift, übernahm die Funktion einer Avantgarde, die mit ihrem Elan die Partei wieder revitalisierte. 1903 hatte sie etwa 8 000, 1905 etwa 10 000, 1914 16 000 bis 18 000 Mitglieder. Nach 1909 wurde die Bezeichnung „jungliberal“ eine Flügelbezeichnung, unabhängig von der Organisationszugehörigkeit - Stresemann z. Β. galt als jungliberal, in Ba­ yern und Baden gab es überhaupt keine Altersgrenze-, andererseits bildete sich der rechte Flügel der Partei 1912 eine eigene Organisation, die sich „Altliberale“ nannte, und die Partei war von einem ständigen Streit um die Rechtfertigung der Altersgrenze berührt. Soweit ich sehe, ist diese „Bewegung“ die einzige, die im stetig festgehaltenen Bewußtsein, Jugend zu sein, wenn auch bei recht großzügig interpretierter Jugendlichkeit, politisch innerhalb einer Partei aktiv wurde und dabei eine sehr selbständige Rolle spielte, ein Verhaltenstypus, der uns ja inzwischen nur zu geläufig ist32. VIII. Die Arbeiterjugendbewegung Ein weiterer Ansatz, der für das Verhältnis von Jugend und Politik von sehr großer Bedeutung geworden ist, ist die Entstehung einer Arbeiter-Jugendbewegung, von Arbeiter-Jugendorganisationen. Bis zum Beginn des Jahrhunderts gab es eigentümlicherweise in der ausgebreiteten Subkultur der Arbeiterbewegung, mit ihren unzähligen Organisationen für viele Lebenszwecke und Lebenslagen, keine Jugendorganisation und kein spezifisches Problem der Jugend. Eigentümlich, wenn man die große und überproportional wachsende Zahl jugendlicher Arbeiter33 und die Bemühungen etwa der Kirchen um die Jugend bedenkt. Gelegentliche Parteitagsbeschlüsse zur Herausgabe von Jugendliteratur zugunsten des Sozialismus wurden nicht realisiert34. Man kann allenfalls die Arbeiterturnvereine anführen, in denen zwischen 1893 und 1914 jeweils vielleicht die Hälfte aller Mitglieder Jugendliche im Alter von 14 bis 20 waren, 1893 gab es 9 000, 1906 105 000, 1913 186 000 Mitglieder, aber sie waren trotz dieser Tatsache keine Organisation, die um der Jugend willen oder von ihr organisiert war35. Die Frage nach dem Grund solcher Abstinenz läßt sich einstweilen nur hypothetisch beantworten. Einmal war es die Konzentration auf politische Selbstbehauptung und Flügelkämpfe; vielleicht spielte auch die Furcht vor der Radikalität sozialistischer Jugendorganisationen, wie man sie in Belgien oder Schweden beobachten konnte, mit. Vor allem aber spielten wohl sozialpsychologische Gegebenheiten eine wichtige Rolle, eine gewisse patriarchalische und ökonomistische Mentalität der Sozialdemokratie, für die Jugend im wesentlichen junge Erwachsene waren, die aufgrund ihrer sozialökonomischen Lage, der familiären Herkunft und der Erfahrung von Konflikten und Solidaritäten in den Betrieben gleichsam von selbst in die Arbeiterbewegung hineinwuchsen. Und es ist sicher richtig, daß die jungen Arbeiter in einem anderen Sinne selbständig, in einem anderen Sinne jugendlich waren als die bürgerliche Jugend der höheren Schule. 353 23

Nipperdey

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Gelegentliche Versuche, in den 90er Jahren eine sozialistische Studentenbewegung zu organisieren - 1897/98 erschien im Verlag der revisionistischen Sozialistischen Monatshefte die Zeitschrift „Der sozialistische Student“ - blieben ohne erkennbare oder gar dauernde Wirkung. Erst 1904 entstand das, was dann sehr bald Arbeiterjugendbewegung hieß, und zwar aus zwei Wurzeln. In Berlin bildete sich aus einem spontanen jugendlichen Protest nach dem Selbstmord eines Lehrlings ein „Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter“ mit einem eigenen Presseorgan. Von hier kam es dann zu ähnlichen Gründungen in ganz Norddeutschland, die sich Ende 1906 zu einer „Vereinigung der freien Jugendorganisationen Deutschlands“ zusammenschlossen und 1908 etwa 4 000 Mitglieder, etwa 10 000 Abonnenten hatten. Diese Vereine waren von Jugendlichen (14-bis 20jährigen, vor allem unter 18, vor allem Handwerkslehrlingen) gegründet und geleitet, ihre Ziele waren gewerkschaftliche Interessenvertretung (Lehrlingsschutz) und Bildung, die Erziehung der jugendlichen Arbeiter „zu selbständig denkenden, furchtlos handelnden Menschen“36. Wegen der Vereinsgesetze waren sie formal nicht politisch, aber indirekt waren sie es eindeutig. In Süddeutschland bildeten sich unabhängig davon auf Initiative erwachsener Parteimitglieder, zumal von Ludwig Frank, ebenfalls seit 1904 Arbeiterjugendvereine, die seit 1906 im „Verband junger Arbeiter Deutschlands“ mit dem Organ „Junge Garde“ zusammengefaßt waren. Frank hatte 1904 am Internationalen Sozialisten-Kongreß in Amsterdam teilgenommen und war dort von Vertretern von Jugendorganisationen zumal aus Österreich und Belgien zu einer deutschen Parallelgründung angeregt worden. Trotz des Erwachseneneinflusses waren auch diese Organisationen jugendbestimmt und jugendgeführt. 1908 hatten sie 4 500 Mitglieder, bei einem etwas höheren Anteil der über 18jährigen (34 Prozent 18 und darüber) und 5 000 Abonnenten, wiederum mehr Lehrlinge als Arbeiter. Hier stand unter liberaleren Vereinsgesetzen die politische Bildung, sozialistische Politik und sozialistische Kultur, nicht Gewerkschaftsarbeit im Mittelpunkt, man wollte die Jugend in die „Gedankenwelt des Sozialismus einweihen und sie zu tüchtigen Mitkämpfern im Befreiungskampf der Arbeiterklasse erziehen“37. Diese Bewegung war internationalistisch, antimilitaristisch und stark aktivistisch bis radikal orientiert. Ludwig Frank und Karl Liebknecht, Henrik De Man, 1907 der Sekretär der Internationalen Sozialistischen Jugendbewegung, gehörten zu den Führern, Klara Zetkin und Rosa Luxemburg gehörten zu den besonders engagierten Befürwortern dieser neuen Bewegung. In diesen Organisationen ging es also um politische und wirtschaftliche Ziele, nicht in erster Linie um Gefühl und Erlebnis der Jugendbewegung, von ihr nahm die Arbeiterjugend kaum Kenntnis, als Gegner fungierten vorwiegend die konfessionellen Jugendvereine38. 1906 hatte der sozialdemokratische Parteitag das „allerwärts sich vollziehende Erwachen der proletarischen Jugend zu selbständiger organisatorischer Betätigung“ begrüßt und zur Unterstützung solcher Organisationen aufgefordert. Die Gründungen lösten trotz der kleinen Zahlen eine außerordentlich starke Diskussion der Ju354 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

gendfrage in der Partei, bei den anderen Parteien, den staatlichen Institutionen und in der Öffentlichkeit aus. Die Frage war auf der Tagesordnung39. Zum Problem für die Partei wurden diese Arbeiterjugendorganisationen, als 1908 das Reichsvereinsgesetz zustande kam. Dieses Gesetz, an sich eine Konzession an den Liberalismus, enthielt das Verbot politischer Betätigung in Vereinen für Jugendliche unter 18 Jahren; das bedeutete z.T. eine Herabsetzung, ζ. Τ. aber auch die Einführung einer Altersgrenze (Baden und Württemberg waren ohne solche Altersbeschränkungen, sonst lag sie meist bei 21 Jahren). Seit den neunziger Jahren war zumal im Hinblick auf die Gewerkschaften, die zumeist als politisch galten, die Frage der Beteiligung von Jugendlichen im Parlament diskutiert worden. Beim Entwurf zum Reichsvereinsgesetz hatte die Reichsleitung an sich die Altersbegrenzung auch für politische Vereine als unpraktikabel und für die nichtsozialistische Arbeiter- und Jugendorganisation hinderlich fallen lassen wollen und hatte sich damit zumal in Rücksicht auf die notwendige Zustimmung der Linksliberalen auch gegen Einsprüche der Bundesstaaten durchgesetzt40. Aber auf konservativen Druck wurde, um die Jugend vor der antimilitaristischen Agitation der Sozialdemokraten zu schützen, als Kompromiß des konservativ-liberalen Blocks die Altersgrenze von 18 Jahren festgesetzt und zwar gegen den Widerstand von Sozialisten und Zentrum. Das Zentrum wies darauf hin, wie wichtig es sei, in der Jugend feste politische, zumal sozialpolitische Anschauungen, d. h. nichtsozialistische, zu bilden und die arbeitende Jugend in die Gewerkschaften und andere soziale Verbände einzubinden; die Absicht, die Jugend vor den Sozialdemokraten zu bewahren, werde nicht nur nicht erreicht, sondern in ihr Gegenteil umschlagen41. Die neue Gesetzesvorlage hatte nun wichtige Konsequenzen für die Situation der Arbeiterjugendbewegung. Die süddeutschen Organisationen lösten sich sofort auf, die norddeutschen, die sich immer als unpolitisch deklariert hatten, blieben bestehen, und über die Auflösung der süddeutschen kam es zu Spannungen mit den norddeutschen Vereinen. Aber nun traten die Gewerkschaften mit ihrer schon seit 1906 ausgebildeten Meinung hervor, daß die entstandenen selbständigen Jugendorganisationen unnötig seien, ein Eingriff in die Kompetenz der Gewerkschaft darstellten, man brauche Belehrung der Jugend durch Partei und Gewerkschaft, aber keine freie Jugendorganisation mit „unklarer politischer und gewerkschaftlicher Faselei“, kein jugendliches „Weltbewußtsein“, keinen „Träger einer großen Idee“42, keine Vereinsspielerei und keinen selbständigen Internationalismus der Jugend. Partei und Gewerkschaft hätten das Monopol für die Politik und den wirtschaftlichen Kampf43. Einzelne Gewerkschaften (Metall- und Transportarbeiter, Sattler, Lithographen) verstärkten die Bildung von Jugendabteilungen, die es etwa seit 1904 gab. Das ganze Problem war einerseits ein Generations- und Funktionärsproblem in der Arbeiterbewegung, andererseits aber auch ein Thema des Kampfs der Flügel. Die Linke und die noch bestehenden Organe der Jugendorganisationen griffen die Gewerkschaft wegen ihrer „Jugendfeindlichkeit“ vehement an44; man kann vermuten, daß die antimilitaristischen Tendenzen in den Jugendorganisationen 355 23* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

für die Reformisten des Parteizentrums wie der Gewerkschaftsführung ein Grund zur Reserve war. Der Streit bestimmte einen Teil des Parteitags von 1908. Hier kam man zu einem Kompromiß: lokale Jugendorganisationen sollten bestehen bleiben, aber „unpolitischen“ Charakter haben, sich auf Bildung und sekundär Geselligkeit beschränken. Kommissionen aus Partei, Gewerkschaft und Jugend sollten diese Vereine leiten. Die Vereine wurden also nicht aufgelöst, aber politische und gewerkschaftliche Aktivität wurde ihnen entzogen, sie waren sozusagen unter Kuratel der Erwachsenen gestellt. Entsprechend wurde eine „Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands“ gebildet, deren Leitung Ebert übernahm. Wegen des Politikverbots des Vereinsgesetzes wurden die Versammlungen der Organisationen trotz der formalen Zweckbeschränkung häufig aufgelöst, und neben einer sehr willkürlichen polizeilichen Repression stand die Unsicherheit durch unterschiedliche Gerichtsentscheidungen. Natürlich herrschte trotzdem und gerade deswegen in diesen Organisationen ein politisches Klima, in dem eben über Politik informiert und politische Meinung indirekt gebildet wurde. Ob der linke Flügel vorherrschte, scheint mir entgegen der in der DDR betriebenen Interpretation zweifelhaft; der Einfluß des Reformisten L. Frank bleibt unverkennbar. Immerhin war Luise Zietz im Parteivorstand für die Jugendfragen zuständig, sie gehörte zum linken Flügel und die Linke (Liebknecht, Luxemburg, Zetkin, H. Duncker) begünstigte jedenfalls - zumal unter antimilitaristischen und revolutionären Auspizien die Arbeiterjugendbewegung. Trotz der erwähnten Schwierigkeiten konsolidierte sich die Arbeiterjugendorganisation gerade zwischen 1909 und 1914 zur Massenbewegung. Bis 1914 gab es 655 Jugendausschüsse, das neue Organ „Arbeiterjugend“ (seit 1909) erreichte knapp 90 000 Abonnenten. In Österreich hat die Arbeiterjugend über Sport und Wandern noch stärker lebensintegrierend gewirkt. Die Arbeiterjugend verlor offenbar ihren spezifischen Bewegungscharakter, aber sie wurde eingegliedert in die Erwachsenen-Arbeiterbewegung. Das spontane Aufkommen einer politischen Jugendorganisation in der Arbeiterschaft wie ihre schnelle Eingliederung in die Erwachsenenbewegung und der Verlust eines spezifischen Jugendcharakters erklären sich aus der spezifischen Situation von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung: aus der stärkeren politischen Betroffenheit der Arbeiterjugend von wirtschaftlichen Konflikten und dem Klassenkampf einerseits, dem Anteil an einer noch dynamischen Emanzipationsbewegung mit einem intensiven Zukunftsglauben, in dem Klasse vor Generation rangierte, andererseits, und schließlich daraus, daß mögliche Generationsrebellionen gegen ein „Establishment“ durch die Flügelbildung aufgefangen wurden. Das Ziel war, die proletarische Jugend für die sozialistische Arbeiterbewegung zu mobilisieren und sie gegen die bürgerliche Jugendbewegung, alle Bestrebungen, Arbeiterjugend für die bürgerliche Gesellschaft „einzufangen“, zu immunisieren. Die Übernahme von Formen der Jugendbewegung im engeren Sinne ist nicht nennenswert45. Entscheidend ist schließlich, daß die Aktivität dieser Arbeiterjugendorganisationen die anderen politischen Parteien und Gruppen 356 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

und den Staat zu neuen Initiativen motivierten und den begonnenen Prozeß einer partiellen Politisierung vorantrieben. Erst jetzt begann der „Kampf der Parteien um die Jugend“46.

IX. Staatliche Jugendpflege und Politik Mit dem bis 1914 fortdauernden Kampf zwischen sogenannter bürgerlicher Gesellschaft und Sozialdemokratie hing es zusammen, daß eine staatliche Jugendpflege und staatlich geförderte Jugendorganisationen entstanden: Es war der Versuch, nach dem Ende der eigentlichen Repressionsphase mit Sozialpolitik und positiven Maßnahmen der Sozialdemokratie zu begegnen und in bezug auf die Jugend, insbesondere die der Sozialdemokratie zugängliche Jugend der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht, eine positive nationale Ideologie zu verbreiten, die gegenüber der Sozialdemokratie immunisieren sollte. Dieser Versuch ist durch das Entstehen von Arbeiterjugendorganisationen weiter angeregt worden, zugleich gingen in ihn allgemeine sozialreformerische und -pädagogische Ideen, Abwehr der Verwahrlosung usw., ein. Am Anfang dieser Entwicklung stehen seit 1889/92 die Lehrpläne, die im Sinne einer Intention des Kaisers die vaterländische Erziehung, zumal im Geschichtsunterricht und in der späteren Staatsbürgerkunde, und die Abwehr gegen das „Verhängnisvolle gewisser sozialer Bestrebungen der Gegenwart“ etablieren sollten47. Der Staat war „Partei im Kampf um die Jugend“ (E. Spranger). Auch mit der endgültigen Begründung von obligatorischen Berufs- und Fortbildungsschulen in den Jahren vor 1914 verband sich jenseits allgemeiner bildungspolitischer Überlegungen die Absicht, ein Gegengewicht gegen die sozialdemokratische Agitation zu schaffen. Neben den schulgesetzlichern Maßnahmen beginnt so etwas wie Jugendpolitik, zunächst als Jugendpflege48. 1901 wurden vom preußischen Ministerium Veranstaltungen zur „Sammlung und Unterhaltung“, Ausbildung und Information der schulentlassenen gewerblichen Jugend empfohlen, um sie vor den mancherlei „Gefahren zu bewahren, die ihr, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, heute drohen“, da die konfessionellen und sonstigen Jugendorganisationen nur 20 Prozent der Jugendlichen erfaßten und weit über 40 Prozent außerhalb von Familien lebten. 1911 wurde diese Empfehlung durch einen Erlaß zur Jugendpflege erneuert49, deren Organisation und Finanzierung den kommunalen Körperschaften anvertraut wurde. Jugendliche sollten bei der Organisation und der Programmgestaltung, zumal historische und staatsbürgerliche Vorträge werden erwähnt, mitarbeiten. Staatliche Fonds sollten diese Aktivitäten fördern. 1913 wurden sie erhöht, und nun wurde auch die weibliche Jugend in die Jugendpflege einbezogen50. Bedeutende Erfolge scheinen diese Aktivitäten nicht gehabt zu haben, sie werden hier berichtet, weil sie symptomatisch für das entstandene Problembewußtsein sind. Schon bei den Parlamentsdebatten über das Reichsvereinsgesetz von 1908 hatten Regierung und 357 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Vertreter der Mittelparteien darauf hingewiesen, daß es angesichts der sozialdemokratischen Agitation auf positive politisch-pädagogische Gegenmaßnahmen ankomme, daß auch die nichtsozialdemokratischen Parteien Nachwuchs brauchten. Seither entfaltete sich eine breite öffentliche Diskussion über Jugendpflege, Jugendarbeit und staatsbürgerliche oder nationale Erziehung der Jugend, über den „Kampf der Parteien um die Jugend“51. Wirksam aber waren erst neue Organisationen einer sportlich-militärischen Jugenderziehung, teilweise unter dem Einfluß der Pfadfinder-Ideen Baden-Powells, die sich seit 1910 in Deutschland verbreiteten. Das waren zunächst die bayerischen Wehrkraftvereine52, zuerst in München 1910 von jüngeren Offizieren gegründet, von der Spitze der Armee und der Dynastie materiell gefördert, die einer Art Wehrertüchtigung und nationaler Gesinnungspflege, zumal in der Jugend außerhalb der Oberschulen, dienten. Auch in Baden und Preußen bildeten sich ähnliche Organisationen53. Gleichzeitig waren die deutschen Pfadfinderbünde entstanden, 1911 mit 80 000 Mitgliedern. Aus diesen Ansätzen bildete sich dann Ende 1911 auf Anregung des Generalfeldmarschalls von der Goltz als Dachverband der „Jungdeutschlandbund“. Ziel der Erwachsenen bei diesen Gründungen war, die schulentlassene - also nicht der Bildungsschicht zugehörige - wehrpflichtige Jugend „körperlich und sittlich“ zu fördern, war sportliche Ertüchtigung, oft unter medizinisch-volkshygienischen Gesichtspunkten, „Wehrerziehung“ und eine „vaterländische Erziehung“ zum Staat, staatsbürgerlich nationale Gesinnungsbildung also54, keine direkt vormilitärische Ausbildung, aber doch ein militärischer Geist55 und dazu das angelsächsische Ideal der Pfadfinder: Idealismus, Kameradschaft, Pflichtbewußtsein, Disziplin, Abhärtung und Abenteuer, Opferbereitschaft und Gemeingeist. Im ganzen schloß sich an dieses Programm eine Fülle jugendlicher Aktivitäten an, und das begründet wohl, da die letzten Absichten der Organisatoren nicht unmittelbar ausgesprochen wurden, die große Resonanz dieser Organisation. Zudem brachten die staatliche Förderung, verbilligte Fahrkarten, Übernachten in Kasernen usw., auch ursprünglich andersgerichtete Gruppen zum Anschluß. 1914 waren dem Jungdeutschlandbund rund 750 000 Jugendliche angeschlossen, 1910 waren von 3,5 Millionen Jugendlichen überhaupt höchstens 500 000 organisiert. Diese Verbände waren, wenn auch mehr indirekt, politisch am bestehenden Staat, nicht wie die Jugendbewegung am Volk, orientiert. Der quantitative Erfolg der Bewegung ist verblüffend, ein Urteil über ihre wirkliche Bedeutung freilich kaum möglich, weil die wenigen Jahre dafür nicht ausreichen und weil die Motive der Organisatoren und der Mitglieder wohl unterschiedlich waren56.

X. Zusammenfassung Anders als im Bereich der Künste und der Kultur, im Bereich allgemeiner gesellschaftlicher und sozialpsychischer Entwicklungen läßt sich im Verhältnis 358

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von Jugend und Politik um 1900 kein epochaler Einschnitt feststellen: weder ein neues politisches Selbstbewußtsein der Jugend noch eine neue Schätzung oder gar Stilisierung der politischen Kräfte und Möglichkeiten der Jugend durch die Erwachsenenwelt. Die Politik als Sache der Erwachsenen, von der die Jugend grundsätzlich wenigstens ausgeschlossen und freigehalten sein sollte - das blieb die traditionelle Verhaltensnorm. Die Bildung der politischen Anschauung des Heranwachsenden blieb vornehmlich den ungesteuert wirkenden direkten und indirekten Erziehungsmächten überlassen. Freilich lassen sich eine Reihe von allmählichen Veränderungen und Neuansätzen feststellen, die eine wesentliche Änderung immerhin vorbereiten. Im Zuge der Auseinandersetzung des Staates und der sogenannten bürgerlichen Parteien mit der Sozialdemokratie sind seit den späten neunziger Jahren politische Jugendorganisationen entstanden, zum Teil als Schulungs- und Nachwuchsorganisationen der Parteien, dann aber auch als stärker eigenständige Organisationen. Das Aufkommen der Organisation von Arbeiterjugend hat den Staat dann dazu veranlaßt, Gegenorganisationen anzuregen, die durch Rezeption der Pfadfinderideen zu einem gewissen Erfolg der Bildung von halbpolitisch nationalen Jugendverbänden führten. In sie mündeten ζ. Τ. nun die eben­ falls im Zuge der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie, aber zugleich wegen der anwachsenden sozialen und sozialpsychischen Probleme der Jugend, ausgebauten konfessionellen und freien Bewegungen der Jugendfürsorge und Jugendpflege, der Jugendarbeit, die über soziale und pädagogische Probleme in eine staatsbürgerliche und sozialpolitische Erziehung sich hineinentwickelten. Das Thema Jugend und Politik war aus diesen Gründen im Jahrzehnt vor 1914 auf die Tagesordnung gekommen. Im weiteren Sinn stellen wir zum Verhältnis von Jugend und Politik fest: Eine Phase der Abwendung der jüngeren Generation in den siebziger Jahren, zumal ein Verfall des engagierten Liberalismus, an dessen Stelle außerhalb des Katholizismus Ansätze zu einer nationalistischen und ζ. Τ. völkisch neukonservativen, zum Teil (und auch damit verbunden) einer sozialreformerischen Position traten, ohne daß der grundsätzliche politische Konsens der Mehrheit mit der Erwachsenenwelt wesentlich tangiert wurde. Erst im Jahrzehnt vor 1914 haben - vermutlich - sozialliberale und völkisch nationale Tendenzen größere Resonanz gefunden und die Apolitie etwa der studierenden Jugend eingeschränkt. Die eigentliche Jugendbewegung war zunächst eher unpolitisch, aber in ihrem Wollen und Tun stecken wichtige politische Implikationen. Eine historische Interpretation, die sich um Objektvität bemüht, muß allerdings den stark ambivalenten Charakter dieser Metapolitik hervorheben, die ein Potential für sehr entgegengesetzte, eigentlich politische Ziele werden konnte. Im ganzen hat erst das Jahr 1918 das Verhältnis von Jugend und Politik epochal verändert, ja revolutioniert. Aber diese Veränderung war in den zwei vorangegangenen Jahrzehnten aus politischen, sozialen, sozialpsychischen und geistigen Ursachen in zunehmendem Maße vorbereitet worden.

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15. Wehlers „Kaiserreich“1 Eine kritische Auseinandersetzung I. Ich nehme gerne die mir von den Herausgebern dieser Zeitschrift2 gebotene Chance wahr, gleich zu Beginn des neuen Organs in eine kritische Erörterung über eines der formidablen und charakteristischen Hauptwerke der „neuen“ Richtung, in einen gelehrten Streit mit ihrem führenden Geist einzutreten. Ich hoffe, daß die Community of investigators in unserem Lande auch in der Schärfe prinzipieller Auseinandersetzungen sich nicht mit dem Alibi prätendierter Liberalität und Kommunikation begnügt, sondern Liberalität und Kommunikation selbst übt, bewahrt oder - wo nötig - wiedergewinnt. Wehler zieht in diesem Buch, dem vorletzten Band einer geplanten zehnbändigen deutschen Geschichte, die sich an ein breiteres Publikum, Studenten, Lehrer und interessierte Laien, wendet, eine Summe seiner fünfzehnjährigen Beschäftigung mit bedeutenden Themen dieser Periode, so aber, daß er viele neue Themen aufgreift, neue Thesen formuliert und alles zu einem Ganzen integriert. Es ist keine Erzählung, sondern eine problemorientierte Strukturanalyse, die sich nach der Analyse der Gründungskonstellation (I) und des natürlich fundamentalen Phänomens des Aufstiegs zum Industriestaat (II) vornehmlich auf Herrschaftssystem und Politik konzentriert (politisches System, Bürokratie; Parteien, Verbände; Integrationsklammern: Staatsideologie, Nationalismus, Antisemitismus, Religion, Sozialisationsprozesse [zumal: Bildungswesen], Konfliktregelung, Sozialversicherung; Steuer- und Finanzpolitik; Rüstungspolitik; Imperialismus; Außenpolitik). Man sieht aus dieser - von mir neutralisierten - Aufzählung, in welchem Sinne Strukturanalyse hier vor der Analyse von Ereigniskomplexen und Prozessen, die ζ. Β. auch im Kapitel Außenpolitik bewußt ausgeklammert werden, rangiert. Nur dem 1. Weltkrieg und der Revolution ist wieder ein chronologisch limitiertes - wenn auch nicht so strukturiertes - Kapitel gewidmet. Das Ziel der Analyse ist jeweils, die Summe von Phänomenen auf den entscheidenden Punkt (ζ. Β. Problem - Lösung, Herausforderung - Antwort) zu bringen und eine kausal/funktionale Erklärung zu geben. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß ein Autor, der über die Kenntnisse, die theoretische Orientierung, den analytischen Scharfsinn, die Souveränität und Intensität W.s verfügt, ein „bedeutendes“, ein in die Sachen eindringendes, gedankenreiches, originelles und nirgendwo flaches Buch geschrieben hat, das auch demjenigen, der Ansatz und Resultaten kritisch gegenübersteht, wichtige Einsichten vermittelt und neue Probleme aufreißt. Daß Eckart Kehr und Hans Rosenberg „Pate“ gestanden haben, tut der Originalität keinen Abbruch. 360

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Das Buch beansprucht und versucht unter der Leitperspektive von Ökonomie und Politik die Totalität des Kaiserreichs, die Dependenz und Interdependenz unterschiedlicher Bereiche analytisch zur Geltung zu bringen, nicht als ein „Bild“, aber in Form eines Entwurfes zu einer Anatomie dieses politisch-sozialen Systems. Schon das ist ein erheblicher Gewinn. Freilich, das sezierende Messer ist eher das des Pathologen als das des Anatomen. Wie sieht W. das Kaiserreich? Das entscheidende Problem war die Diskrepanz zwischen ökonomischer und sozialer Modernisierung einerseits und ausbleibender und verhinderter politischer (und in einem anderen Sinn auch: sozialer) Modernisierung andererseits, war der Defensivkampf der alten Eliten um die Erhaltung ihrer Macht, der zu immer schrofferen und schärferen Spannungen führte und führen mußte, die friedlich kaum noch zu lösen waren. Die „Aufgabe“ der Zeit, die Synchronisierung von ökonomischer und politisch-sozialer Entwicklung durch Demokratisierung, ist nicht realisiert worden, daran zerbrach das Kaiserreich. In dieses Grundkonzept ordnen sich die Einzelthesen ein. Für W. hat die Gründungskonstellation, die Anfangsperiode, eine formative, geradezu entscheidende Bedeutung: das Zusammentreffen von - ein wesentlicher und bisher oft übersehener Punkt - Agrarrevolution (Sicherung der ökonomischen Basis der Junker), industrieller Revolution und großpreußisch „militärisch-expansionistischer Staatsgründung“, die dreimalige Instrumentalisierung des Krieges durch Bismarck zur Herrschaftsstabilisierung und -legitimierung (der „präventive innenpolitische Integrationskrieg“, die „militante Pazifizierung“, die „Unterwerfung“ der süddeutschen Staaten), und die Kapitulation des Bürgertums seit Bismarcks Sieg im Verfassungskonflikt, das bestimmte die Lage. Demgegenüber wird die These vom „verspäteten“ oder „unvollendeten“ Nationalstaat als konventionell abgetan. Die Erfolge Bismarcks und der von ihm etablierte und konsolidierte „Militärdespotismus“ haben die Dauerkrise der deutschen Gesellschaft nur verschärft. Das Verfasungssystem des Reiches war ein halb-absolutistischer Scheinkonstitutionalismus, der Verfassungs„kompromiß“ basierte auf „Scheinkonzessionen“ Bismarcks, die autoritären Verfassungsnormen wurden in praxi zunächst von der wesentlich „bonapartistischen“ Diktatur oder Halbdiktatur Bismarcks bestimmt; nicht der cauchemar des revolutions, sondern der Antiliberalismus war für ihn das Primäre. Nach 1890 kann man dann von einer autoritären unkoordinierten Polykratie und einer permanenten Staatskrise sprechen (die Bedeutung des „persönlichen Regiments“ wird gegen manche Überakzentuierung strukturell sehr gut eingeordnet). Die alten Herrschaftsgruppen (Junker, Militär und Bürokratie) verfolgten das Ziel, den Status quo, d. h. die ökonomische und vor allem die politisch-soziale Machtposition zu verteidigen, und zwar durch eine Reihe von „aggressiven Defensivstrategien“, die dazu dienten, in einer sich politisierenden Gesellschaft Gegenkräfte zu unterdrücken, zu diffamieren, zu neutralisieren, abzulenken oder partiell oder total zu integrieren. Grundmodelle solcher Strategie sind der Sozialimperialismus - für W. bis hin zum Weltkrieg der Grundbegriff der „Außenpolitik“; (in diesem Zusammenhang finden sich drei sehr 361 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

gute Analysen der innenpolitischen Bedingtheiten der Beziehungen des Reiches zu Rußland, England und Frankreich); sodann der Solidarprotektionismus, der die „Sammlung“ von Großindustrie und Junkern, Bauern und Teilen des alten Mittelstandes und dadurch vor allem eine Agrarpolitik im Dienst der Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft der Junker garantieren sollte; und schließlich der Sozialmilitarismus - oder der militärische Semiabsolutismus, wie ihn die Zabernaffäre noch einmal demaskierte. Der Einbau der antidemokratisch pluralistischen Verbände und ihres Egoismus in den Staat, die Erhaltung der Ohnmacht der Parteien, die Diskriminierung von Opposition und von Minderheiten, kurz: die Herrschaftstechnik der „negativen Integration“ gegen jeweils andere Reichsfeinde, die Instrumentalisierung des Nationalismus, die Kongruenz religiöser, cäsaro-papistisch protestantischer und neothomistischständischer katholischer Ideologien mit der Legitimation bestehender Herrschaft und vormoderner Gesellschaft, die sozialen Kontrollmechanismen und Verhaltenssteuerungen (von der Familie über die Schule und die Justiz bis zur herrschenden „Mentalität“), die Feudalisierung des Bürgertums und die Entliberalisierung von Politik und Gesellschaft, ja die „Demoralisation“ der Gesellschaft, die Kompensationen zur Loyalitätssicherung bei gleichzeitiger Zementierung, ja Verschärfung der sozialen (ökonomischen wie auf Bildungschancen bezogenen) Ungleichheit, Sozialversicherung statt Sozialreform (und Umbau der Gesellschaft), - das sind andere Züge des gleichen autoritären Systems. Die Analyse der Finanzverfassung zeigt wiederum, daß sie - nicht etwa von Kapitalinteressen dominiert - der Systemerhaltung diente. Die Strategien der „herrschenden Klassen“ mit ihren strukturell deformierenden Folgen sind die systembestimmenden Faktoren und das eigentliche Thema von W.s Analysen; selbst Gegenkräfte, wie die Sozialdemokratie, die das Protestpotential der Arbeiterklasse disziplinierte, sind indirekt von jenen Faktoren überformt und bis zu einem gewissen Grad in die Stabilisierung des Systems einbezogen. Ökonomisch begünstigt - wenn auch nicht verursacht - war diese Politik durch die Folgen der von W. immer noch als epochemachend angesehenen „Großen Depression“ und das Aufkommen des Interventionsstaates und des organisierten Kapitalismus, der nurmehr die „Verschleierung der liberalen Marktgesellschaft“ beibehielt. Im Rahmen dieser Strategien stabilisierten sich die autoritären Strukturen, ja wurde strukturell Demokratiefeindschaft zum charakteristischen Merkmal des Systems, auch wo es partiell integrierend wirkte. Bei der Analyse des 1. Weltkriegs wendet W. sich gegen alle Thesen von einer stillen Parlamentarisierung oder einem substanziellen Machtzuwachs der Parteien in der Vorkriegszeit, allerdings auch gegen die Fischer-Stegmannsche Überschätzung des „Rechtskartells“, und beschreibt die Situation unmittelbar vor 1914 als verschärfte Dauerkrise, als Quasiparalyse. Die neueren Thesen von Fischer über offensive Kriegsplanung und längerfristige Kontinuitäten werden mit guten Gründen abgelehnt. Aber die Risikostrategie wird aus den „unspoken assumptions“ einer inneren Defensivsituation, die nach außen aggressiv wurde, erklärt: die Kriegspolitik ist doch Ergebnis der Unfähigkeit zu 362

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inneren Reformen und der Disposition zur Ablenkungsstrategie. Die Parlamentarisierung sieht W. ganz wesentlich als Revolution von oben, und er polemisiert gegen die These von der Parlamentarisierungsinitiative des Reichstags. Die deutsche Revolution schließlich wird unter der Alternative: konservative Republik versus soziale Demokratie als scheiternde - nach der Vorgeschichte notwendig scheiternde - Revolution (mit den verhängnisvollen Folgen bis 1933) interpretiert. Der Untergang des Reiches war die Rechnung für die fehlende Lernbereitschaft der Machteliten und ihres Systems. W.s Anatomie ist nicht ganz so starr, wie diese Zusammenfassung vermuten lassen könnte; wo abweichende oder anders gerichtete Thesen noch in seine Analyse integrierbar sind, nimmt er sie auf (ζ. Β. betont er die Diskontinuitäten der „Sammlung“; der Tirpitzplan verfolgt nicht lediglich, sondern nur „auch“ gesellschaftspolitische Ziele). Die große Frage, wie ein solches System Stabilität und Integrationskraft haben konnte, ist ihm durchaus gegenwärtig; er versucht sie zu beantworten, indem er den kumulativen Effekt der Defensiv- und Integrationstrategien und die deformierenden Wirkungen der Gründungsstrukturen betont.

II. Eine kritische Auseinandersetzung mit W. braucht sich nicht mit der ihm und anderen „Kehrites“ - um einen Ausdruck W. J . Mommsens zu verwenden, der seit der Heiligsprechung E. Kehrs nicht unpassend ist - manchmal eigenen harschen Beurteilung anders argumentierender Historiker als offen oder verschleiert „apologetisch“ aufzuhalten. Eine gewisse polemische Schärfe würzt die Diskussion, und man soll nicht den Überempfindlichen spielen. Freilich führt das Stichwort sofort ins Grundsätzliche: Ist die Alternative kritische oder apologetische Historie richtig und ist dann also nur die erste Position legitim? Es ist hier nicht der Ort, mich mit dieser Frage explizit auseinanderzusetzen, aber ein paar Bemerkungen sind notwendig, weil sie die Grundlage von W.s Analyse betreffen. W. verficht eine „kritische“ oder kritisch-emanzipatorische Geschichtswissenschaft auf der Basis der Wissenschaftstheorie der Frankfurter Schule und zumal von Habermas. Eine der Hauptfunktionen der Geschichtswissenschaft ist, wie er unter Berufung auf ein Wort von Th. Mommsen gern sagt, die der politischen Pädagogik: von daher bestimmt sich der Zugriff, das (oder die) „erkenntnisleitende [n] Interesse[n]“, der Maßstab der alles durchdringenden Wertungen. Die „Kritik“ richtet sich gegen die Strukturen und Institutionen, Verhaltensweisen und Entscheidungen der Vergangenheit. Sie orientiert sich an einer Wertskala der Gegenwart, soweit diese - und da bleibt W. einer Errungenschaft des Historismus verpflichtet - in der Vergangenheit selbst als reale Möglichkeit vorfindbar ist. Die Idee einer wertfreien, an der regulativen Idee der Objektivität orientierten Geschichtswissenschaft gilt ihm trotz Droysens Polemik gegen die eunuchenhafte Objektivität als hi363

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storistisch oder „neohistoristisch“, als konservativ und apologetisch, weil sie vergangene Zustände, indem sie sie nur aus ihren Voraussetzungen „versteht“ oder erklärt, rechtfertigt. Nicht das wissenssoziologische Argument von den Grenzen (oder der Unmöglichkeit) von Objektivität, sondern die Frontstellung der Emanzipatoren gegen die Apologeten ist die Hauptsache. Diese - nicht direkt moralisch, aber strukturell wertende Analyse wird mit durchdringender Intensität, Folgerichtigkeit und einer gelehrt-intellektuell verhaltenen, aber nie aussetzenden, aggressiven und entlarvenden zornigen Leidenschaft durchgeführt. Das von W. entworfene „Bild“, wenn man eine so altmodische Metapher für das Ergebnis theoretisch-begrifflicher Anstrengung einmal wählen darf, ist in den dunkelsten Farben gehalten, es ist das Bild einer - jenseits der Ökonomie - grandiosen Fehlentwicklung. Man kann das Ganze als einen großen, gelehrten, den Autor rechtfertigenden Kommentar zu Heinrich Manns „Untertan“ lesen, so freilich, daß die von Mann gewählte literarische Form der Satire dem Kommentar unversehens zur Wirklichkeit gerät. Auf die Gefahr hin, mir den lebenslangen Zorn der Herausgeber und Leser dieser Zeitschrift zuzuziehen, kommt mir dabei - mehr als Mommsen oder Droysen - Treitschke in den Sinn; W. wird - bei aller Umkehr der Wertpositionen - unter diesem theoretischen Aspekt zu einem Treitschke redivivus. Nur daß in seiner Geschichte die Helden und die positiven Entwicklungen (außer der Ökonomie) ausfallen und der gewaltige Zorn und tiefer: die Trauer über eine verfehlte Entwicklung das Wort führen. Die immer neue Entlarvung der Groß- und Urgroßväter (nicht als Personen, aber als Gruppen und Klassen), der unermüdliche Prozeß gegen sie, ein Prozeß, in dem der Historiker Ankläger und Richter und Gesetzgeber in einer Person ist, ist immer noch die große Sache. Diese Position wird nun nicht nur dezisionistisch eingenommen oder mit dem Habermasschen Schluß von der Logik der Community of investigators auf deren transzendentale inhaltliche Voraussetzung: die Emanzipation, erklärt, ein Schluß, der m. E. entweder unzulässig ist oder wegen seiner äußersten Allgemeinheit für konkrete Streitfragen nichts mehr besagt. Sondern diese Position wird auch geschichtsimmanent begründet, und zwar mit der Konzentration auf die nicht abweisbare Frage nach der Kontinuität. Mit bewegendem und eindringlichem Ernst kommt W. immer wieder auf die Frage nach den Konsequenzen, den „Kosten“, zumal den sozialen Kosten von wirklichen und unterlassenen Entscheidungen zurück, um daraus Maßstäbe für sein Urteil herzuleiten. Und das heißt in unserem Falle, daß das Jahr 1933 die Perspektive bestimmt. Das Kaiserreich rückt für ihn vornehmlich in die Perspektive der Vorgeschichte des Faschismus, der Belastung der deutschen Geschichte, der strukturellen Demokratiefeindschaft (mit, wie er meint, ihren Auswirkungen bis heute hin). Von einer durch die Verfemung von „Reichsfeinden“ charakterisierten Politik führt ein Weg zur „Reichskristallnacht“. Wer meint, die Kategorie der Kontinuität „deformiere“ das historische Urteil, verfällt seiner harschen Polemik gegen „durchsichtige“ Apologetik. 364

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Fragt man genauer nach den angewandten Maßstäben und Wertungen, so wird die Sache, wie bei einem bedeutenden und durchaus differenzierten Historiker kaum anders zu erwarten, schwieriger. Es gibt hier mehrere, wenn auch unter sich verbundene Ebenen. Das ist einmal die politisch-pädagogische: die Gesellschaft mündiger Staatsbürger, die Schärfung eines freieren kritischen Gesellschaftsbewußtseins, die Vermehrung der Chancen rationaler Orientierung in unserer Lebenspraxis, all das im Sinne gegenwärtiger Leitformeln von Ideologiekritik und Emanzipation. Dann ist es die strukturell-funktionale Interpretation auf der Basis bestimmter Modernisierungstheorien: die Erweiterung von Partizipationsrechten und demokratischer Legitimation, die Institutionalisierung von Opposition und Systemveränderung, durch die Konflikte besser geregelt, produktive Anpassung eher ermöglicht, Legitimation eher realisiert wird als in anderen Systemen. Die Starrheit und Dysfunktionalität des Wilhelminischen Systems gibt hier den negativen Maßstab her. Ausdrücklich wird vermerkt, daß diese Parteinahme für das, was W. den demokratischen Sozialstaat nennt, kein „non plus ultra“ vertrete; hier ordnet er sich in das relativierende Demokratiekonzept moderner Pluralismustheorien ein. Als Posthistorist schließlich legt W. Wert auf die Zeitgenossen. Die kritischen Urteile von Bismarckgegnern, von Systemkritikern wie von moderierten Systemanhängern von Burckhardt, Bamberger und Roggenbach bis zu Bethmann, Max Weber, Hintze und Schmoller - um von Engels hier abzusehen - werden gern zur Stützung von Urteilen herangezogen. Bei den handelnden sozialen Gruppen wird es, wenn sie nicht mehr unmittelbar Objekte staatlich-gesellschaftlicher Repression sind, schwieriger; nur die Sozialdemokratie kommt im ganzen noch gut weg, wenn auch, von 1918/19 her, die antireformistische Kritik dann überwiegt. Die in das Herrschaftssystem eingegliederten Gruppen haben keine vernehmliche Stimme mehr, die Urteilskriterien hergibt.

III. Ich beginne meine Einwände mit der Kontinuitätsfrage. Niemand wohl wird die Legitimität und die von W. mit bohrender Leidenschaft betonte Dringlichkeit dieser Frage bestreiten. Aber es gibt viele Kontinuitäten. Das Ende einer Geschichte, die wir erzählen (oder strukturanalytisch erklären), ist, wie jeder weiß, nicht einfach das Schlußdatum, z.B. 1918, sondern es ist auch das Datum unseres Berichts, 1975, und das Datum einer für wichtig gehaltenen Perspektive (1933, 1945) und anderer mehr. Eine chronologisch definierte Geschichte ist ein Netzwerk von Vorgeschichten. Kann man nur eine herausnehmen: z.B. die Perspektive, daß England und Frankreich im ganzen nicht für den Faschismus anfällig waren, und also den Sieg des Gaullismus oder die gegenwärtige Krise der englischen Sozialverfassung auslassen? Kann man den Blick so stark auf die relative Zwangsläufigkeit der Entwicklung (von 1871 und 1913 und sogar 1918/19 bis 1933/45) richten, wie es W.s Kontinuitätsthese 365

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tut und damit Vorbedingungen und Belastungen zu schier unentrinnbarem Schicksal steigern? Kann man einen für die Zeitgenossen wie die strukturanalytischen Historiker so epochalen Einschnitt wie den 1. Weltkrieg so relativieren? Kann man die Diskontinuitäten und die relative Offenheit von Situationen so herunterspielen? Mir scheint, daß man das alles nicht kann. Und wie will man dem politischen, nicht wissenschaftlichen Streit um die in die Gegenwart führenden „Kontinuitäten“ (den „restaurativen“ Charakter der Bundesrepublik) entgehen? Oder: Stehen heute, 1973/75, nicht ganz andere Kontinuitäten, wie die mit den Fragen nach Legitimität, Regierbarkeit, Entfremdung, den Verlusten der „Modernisierung“ (Umweltschutz als populäres Beispiel) angegebenen, schon im Vordergrund? Es geht nicht darum, die Kontinuität zu leugnen oder außer acht zu lassen, sondern darum, die Überlagerung mehrerer Kontinuitäten, die Diskontinuitäten, die Strittigkeit jüngster Kontinuitätslinien, den falschen Schein von Notwendigkeiten zu durchschauen. Es gilt, die Tatsache zur Geltung zu bringen, daß jede Zeit mehr und anderes noch ist als nur Vorund Nachgeschichte; das ist sozusagen die methodologische und entmythologisierende Übersetzung dessen, was Ranke mit dem „unmittelbar zu Gott“ meinte. Nicht weil W. „die“ Kontinuität so stark berücksichtigt, wohl aber weil er sich auf eine Kontinuitätslinie fixiert, „deformiert“ er das historische Urteil. Ich sehe nicht, warum dieses - von angeblich „starken“ Naturen als schwächlich abqualifizierbares - Sowohl-als-auch apologetisch sein sollte. Die Reflexion auf das Verhältnis einer Zeit zu ihren unglücklichen oder glücklichen Erben gehört zum Geschäft des Historikers wie die Zuwendung zu dieser Zeit selbst. Mir scheint es nun, angesichts des sich überlappenden Netzes von Kontinuitäten, von Geschichten mit unterschiedlichen Enden, eine methodisch-heuristische Notwendigkeit, zunächst, ich betone: zunächst, alle Kontinuitäten einzuklammern und sich der vergangenen Zeitperiode selbst zuzuwenden. Das ist keine objektivistische Naivität, sondern eine methodisch geübte Distanzierung und Verfremdung, über deren Grenzen sich jedermann klar ist - aber die Grenzen solchen Zugriffs machen ihn weder unmöglich noch unnütz. Man mag dieses von den Kontinuitäten sich distanzierende Verfahren mit den Philosophen eine Rettung der Phänomene oder moralistisch einen Akt der Gerechtigkeit nennen. Die Historie muß der Vergangenheit auch zurückgeben, was die Zukunft besitzt (und die Vergangenheit, die einmal Zukunft war, besaß): die ihr zugehörige Ungewißheit - so sehr sie als von jeder Prophetie unterschiedene Wissenschaft das höchst mögliche erreichbare Maß relativer Notwendigkeit herausarbeiten muß. Aber die an Gesellschaft und Struktur fixierte kritische Historie, die sich doch wie ihre toten idealistisch-historistischen Gegner der Freiheit verschrieben hat, neigt auf eigentümliche Weise dazu, das deterministische Element zu überpointieren. In diesem Sinne gehört auch der so gern als apologetisch-entlastend mißverstandene Vergleich mit zeitgenössischen und vergleichbaren politisch-sozialen Systemen zu den methodischen Notwendigkeiten einer der regulativen Idee der unparteilichen Objektivität verpflichteten Historie: er dient nicht einer Rehabilitation nationaler Traditionen, sondern der Abkehr 366 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

von dem umgekehrten Nationalismus, der befangen im Eigenen nur nachweist, wie schlecht alles immer war. Er relativiert die Vorherrschaft einer Kontinuitätslinie und bringt das, was an einer Zeit mehr und anders ist als wir im Netzwerk unserer Kontinuitäten einfangen können, zur Geltung. Meine erste These geht also dahin, daß die von W. verwendete Kontinuitätsperspektive nur ein partielles Recht hat und, wo sie dieses Recht überschreitet, die Vergangenheit verzerrt. Aber zentraler für die neue Richtung ist die Frage nach dem Maßstab der wertenden, parteinehmenden „Kritik“ an der Vergangenheit, die Frage nach Wertfreiheit und Objektivität, die Frage nach der wissenschaftstheoretischen Grundlage der neuen Richtung. Ich kann heute und hier darauf nicht in extenso eingehen. Die logisch entscheidende Unterscheidung zwischen dem Entstehungs- und Funktionszusammenhang wissenschaftlicher Aussagen über Vergangenheit und dem Geltungszusammenhang scheint mir durch die Anwälte der „kritischen“ Wissenschaft ganz und gar nicht widerlegt zu sein. Der oft vorgebrachte Nachweis, daß das Postulat von Wertfreiheit und Objektivität zur Ideologie von Apologeten werden kann und je und dann geworden ist, reicht dazu in keiner Weise hin, denn diese Konsequenz ist keine notwendige Konsequenz, und das Argument verkennt, daß das Objektivitätspostulat kein empirisches Faktum, sondern eine regulative Idee ist; die Soziologie einer Wissenschaft ist nicht ihre Logik. Ebenso wenig ist bewiesen, daß Objektvität und Emanzipation oder andere politische Götter identisch sind. Man soll sich durch die von den Neokritikern stipulierte Alternative Kritik versus Apologie nicht ins Bockshorn jagen lassen. Die Alternative ist ein polarisierendes Kampfinstrument. Sie ist falsch gestellt. Man darf sie sich in den Spuren des Gelehrten und Wissenschaftstheoretikers Max Weber nicht aufzwingen lassen. Kritik des „kritischen“ Ansatzes ist nicht Apologie. Stellen wir uns, um nicht im Allgemeinen stecken zu bleiben, einmal versuchsweise und zunächst ganz formal auf den Boden eines kritisch-parteinehmenden Ansatzes, so fragt sich, woher die Perspektive und der Maßstab der Kritik in einer um Werte und Ziele unseres gemeinsamen Lebens streitenden Gegenwart zu nehmen ist. W., geleitet einerseits von seiner politischen Pädagogik, andererseits von den Maßstäben einer strukturell funktionalen Analyse, huldigt weder einem simplen Progressismus noch einem utopischen Absolutismus, wie z. B. seine an G. A. Ritter anschließende eindringliche Kritik einer Räteverfassung zeigt. Aber trotzdem bleibt die prinzipielle Frage, wenn man denn Wertfreiheit auch als regulative Idee verwirft, woher die Legitimation für die angewandten Wertungen zu nehmen ist. Die Parteinahme für Personen, Kritiker, Gruppen einer bestimmten Zeit reicht da sicher nicht aus. Die von W. so gern zitierten Kritiker hatten nicht nur untereinander sehr abweichende Ansichten, sondern vor allem war ihre Kritik nicht identisch mit der Kritik dessen, der sie zitiert. Der Rekurs auf sozialwissenschaftliche Theorien sodann hilft auch nicht viel weiter: Weder die Theoriearmut, die W. der traditionellen Historie vorwirft, noch die Theorieorientierung, die er fordert und großartig zu realisieren sucht (und ich stimme ihm da ganz zu), sind hier entscheidend: sie 367 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

lösen das Problem der Wertfreiheit oder das von Kontinuität und Diskontinuität nicht. Denn solche Theorien sind ebenso vom Problem der Wertung oder Wertfreiheit betroffen, und gerade über sie bestehen immer neue Kontroversen. Auch die Angabe des sog. erkenntnisleitenden Interesses hilft in der Sache nicht weiter. Ist es subjektiv gemeint, so handelt es sich um die Deklaration eines Autors über seine Absichten, die von der Geltung seiner Sätze unterschieden werden muß; prätendiert es Objektivität - intersubjektive Gültigkeit in dieser Zeit oder was immer-, so ist das Problem der Legitimation der Maßstäbe erst recht kritisch. Es gibt natürlich einen Konsensus über Grundwerte der Demokratie, über Ziele der modernen Entwicklung, die erreicht oder verfehlt werden, über strukturell funktionale Bedingungen, die ein System unter modernen Gegebenheiten Überlebens-, aktions- und wandlungsfähig, ja zustimmungsfähig machen. Aber dieser Konsens, auf den Wertungen sich stützen können, ist eher schmal als umfassend, er ist ein Basiskonsens von einiger Allgemeinheit, und allgemeine Leitformeln geraten ob ihrer Vagheit schnell in den Streit, wie sie auszufüllen sind. Es ist sozusagen eine demokratische Minimalethik. Partikulare Wertungen, ζ. Β. über Demokratie und Fortschritt, gewinnen darum leicht die Überhand, und sie verlieren nicht dadurch an Partikularität, daß sie als allgemein deklariert werden. Ja, selbst der patentiert demokratische Konsensus dieser 70er Jahre ist, und damit entlarve ich mich nun endgültig als Historist, gegenüber der Zeit vor 100 Jahren als Wertbasis zweifelhaft. Es geht bei dieser Debatte nicht, wie oft behauptet, darum, ob man diese oder jene Wertungen teilt, sondern allein darum, ob man sie explizit in die Wissenschaft einführen darf. Nicht ob jemand politisch konservativ oder progressiv ist, ist wichtig, sondern ob sein Wertmaßstab jenseits einer Parteimeinung begründet werden kann. Warum sollen die Angestellten von 1911 eigentlich nicht eine eigene Angestelltenversicherung wollen und bekommen (so gewiß dabei auch das Interesse der Regierung und der nichtsozialistischen Parteien an einer Teilung der Arbeitnehmerschaft hereinspielt), warum soll die katholische Kirche nicht „antiliberale“ und „antimoderne“ Lehren verteidigen und „professionelle Heilsverwalter“ besitzen dürfen, warum sollen die Katholiken, die katholischen Massen, nicht den „Monopolanspruch“ der Kirche auf Familie und Erziehung, und damit einen „autoritären“ Kurs, unterstützen und verteidigen, warum soll die Familie nicht eine moderat autoritäre Binnenstruktur haben (W. ist hier durchaus kritisch gegen „wilde“ Korrelationen zwischen Familienstruktur und Demokratie, aber er sieht in der deutschen Familienstruktur unter den gegebenen Bedingungen doch einen Verstärker für antidemokratische Tendenzen)? Wie steht es mit dem Verhältnis von Fortschritt und Demokratie? War die liberale Beamtenregierung in Bayern am Ende demokratischer als das bäuerlich-katholische Volk? Ist eine Tory-Demokratie oder die nicht eben sozialegalitäre Demokratie der Schweiz keine Demokratie? Wer urteilt über Unmündigkeit, wenn „unmündige Bürger“ mobilisiert werden? Was ist eigentlich eine sozialegalitäre Wirtschaftspolitik zugunsten der Mehrheit aller Staatsbürger - es ist klar, daß 368 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

es sie vor 1918 nicht gab, aber ebenso sicher, daß darüber und über die Frage, ob eine solche Politik egalitär ist und zugunsten der Mehrheit, auch heute gerade Streit besteht. Ich verteidige hier keine konservativen Positionen, das st der Grund, warum ich häufig die negative Frageform verwende; politisch stimme ich mit vielen der W.schen Urteile überein. Woran ich mich stoße, ist, daß W. einen legitimen und gut begründeten Demokratiebegriff mit - egalitären und pädagogischen - Inhalten füllt, die das, was streitig ist, zur Basis der Wertung machen. Darum wird er zum Treitschke redivivus. Aber erstens gibt es in einer Demokratie unterschiedliche, ζ. Β. konservative und progressive, egalitäre und nichtegalitäre Positionen, die legitim sind, und der totale Anspruch der Demokratie kann legitimerweise auch als Gefahr angesehen werden. Und zweitens überschreitet die Wissenschaft ihre Grenzen, wenn sie - mit Max Weber zu reden - im Streit der Götter, d. h. antagonistischer Werte, Partei nehmen will. Man kann das Dilemma, in das diese kritisch-emanzipatorischen Neotreitschkeaner sich verwickeln, auch vom Standpunkt der Gegenwart aus noch einmal anders wenden. Das Problem des Pluralismus kommt bei W. allenfalls am Rande einmal vor, aber nicht als zentrales Problem. Die ebenso gegenwärtige wie historische Frage nach dem Konflikt gleichermaßen legitimer Kräfte, ζ. Β. nach dem Konflikt von Staat, Kirche und Liberalismus im Kulturkampf, nach der Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Sozia­ lismus um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, nach dem kritischen Zweifel der Liberalen und der Antiliberalen am Liberalismus (sagen wir bei Nietzsche) oder nach den großen Interessenkonflikten, all das fehlt. Und das ist m. E. nicht zufällig. Man kann dagegen nicht argumentieren, die Auseinandersetzung Obrigkeits- und Militärstaat versus Demokratie sei das allein bestimmende Faktum gewesen. Die Wert- und Zielkonflikte haben auch in dieser Polarisierung eine entscheidende Rolle gespielt, der Pluralismus war eine entscheidende Macht, längst ehe er verfassungsmäßig etabliert war. Bei W. bekommt alles eine etwas fatale Eindeutigkeit; gelegentlich lugt der Historiker, der es unternimmt, die Vergangenheit, die vergangenen Generationen, über ihre „Aufgaben“ zu belehren, deutlich hervor. Das prägt auch die Form der Darstellung. Alles ist dezidiert verortet (und bewertet), die Möglichkeit (und Legitimität) wesentlich anderer Ansichten ist, wo sie nicht in sein Grundkonzept partiell integriert werden können, eigentlich nicht vorgesehen, die Diskussion, das diskursive Durchlaufen unterschiedlicher Interpretationen, das W. als Person wie als Rezensenten durchaus eigen ist, ist auf ein Minimum beschränkt. Das Skeptische, das Ambivalente, das Offene als Stilelemente der Wissenschaft und zumal der historischen Wissenschaft, die der Offenheit und Ambivalenz ihres Gegenstandes, der vergangenen menschlichen Welt entsprechen, fehlen fast ganz. Das mag in einem Entwurf, einer These, einem großen Essay über das Erbe und die Bürde einer Geschichte, die eigentlich 1933/45 endet, durchaus hingehen; in einem von W. explizit für den Universitätsunterricht gemeinten Buch mit dem anspruchsvollen Titel: Deutsche Geschichte 369 24

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1871-1918, was mehr impliziert als jene ebene charakterisierte Vorgeschichte, halte ich es für tief bedenklich, ja verhängnisvoll. Die politische Pädagogik W.s wird zu partikularer Politik. Die pädagogische und pädagogisch-politische Funktion der Geschichte kann aber nur in einer sehr viel vermitteiteren, einer indirekten Weise jenseits unserer politischen Intentionen wirksam werden; sonst wird der Gegenstand der Geschichte deformiert. Meine prinzipiellen Einwände richten sich also einmal gegen die absolute Prävalenz der Kontinuitätsthese (und gegen die Verengung der vielen Kontinuitäten auf einen einzigen Kontinuitätsstrang) und zum zweiten gegen den „kritisch“ parteinehmenden Ansatz; der Versuch, ihn intersubjektiv akzeptabel zu machen, scheint mir gescheitert, es bleibt bei partikularen und dezisionistischen Wertsetzungen. Ein dritter grundsätzlicher Einwand betrifft das Verhältnis von Strukturanalyse und Erzählung. Hier können wir uns kurz fassen. Ich stimme mit W. darin überein, daß die Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien für die Historie, will sie zu neuen und besseren Ergebnissen kommen, heute notwendig ist. Ich zweifle, ob die Alternative Strukturanalyse versus Erzählen, bei allem Erkenntnisfortschritt, den der strukturanalytische Ansatz gebracht hat, so aufrechtzuerhalten ist. Danto hat m. E. die narrativen Implikationen der Historie sehr scharf herausgebracht, und wir, die Freunde der Strukturanalyse und der Anwendung von „Theorien“, haben diese Argumente nicht einmal diskutiert. Das läßt sich hier nicht nachholen, aber ich muß meine gravierenden Vorbehalte gegen die Etablierung einer ausschließenden Alternative zwischen theoriegeleiteter Strukturanalyse und theorielosem Erzählen deutlich anmelden. Was mich in unserm Zusammenhang mehr bekümmert, ist etwas anderes: Die Frage ist, wie eine Strukturanalyse, deren Vorzüge niemand leugnet, Struktur und Wandel - und dazu gehört auch eine Kette von Ereignissen - zusammenbringt. W. nimmt das Kaiserreich von 1871-1914 fast als Einheit (oder gliedert es allenfalls in zwei Perioden), wobei ihm die Theorie von der formativen Bedeutung der Gründungskonstellation hilft. Wir haben nachher davon zu reden, was das im einzelnen für den politischen und sozialen Wandel dieser 43 Jahre bedeutet. Der prinzipielle Punkt hier ist, daß die gewählte strukturanalytische Methode - mit Ausnahme der ökonomischen Analysen, wo Dynamik und Wandel betont werden - von vornherein zu einer statischen Betrachtung, zur Konstruktion eines Systems tendiert und den Wandel schon der Form der Darstellung nach an die Seite schiebt. Und da das „System“ durch eine strukturelle Krise charakterisiert ist, haben wir den eigentümlichen Sachverhalt, daß ein eigentlich punktuell zeitbestimmter Begriff wie „Krise“ zur Beschreibung einer Dauer wird, die Statik des Ansatzes und die Dauerkrise als Ergebnis der Analyse entsprechen sich. Nun, über Grundsätze der Wissenschaftstheorie wird nicht in der Diskussion über ein Werk der Historie entschieden. Und die Kritik an grundsätzlichen theoretischen Positionen einer Analyse ist eines, die Würdigung und Diskussion der wirklichen Resultate der Analyse ein anderes. Auch wer wissenschaftstheo370 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

retisch die regulative Idee wertfreier Objektvität vertritt und - sozusagen „kontinuitätstheoretisch“ gegen die einsinnigen Deformationen heuristisch die Beurteilung der Zeit aus ihr selbst postuliert, wird einräumen, daß die interessengeleitete, vom Pathos der Entlarvung erfüllte Leidenschaft W.s zu einem fruchtbaren Entdeckungszusammenhang führt, der zu dem logisch davon unterschiedenen Geltungszusammenhang „wahrer“ Aussagen beiträgt. Kein Kenner des Zeitraums heute wird bestreiten, daß in alledem, was W, vorbringt, eine Fülle von wahren Einsichten steckt, niemand wird die Auswirkungen der Gründungssituation, der Bismarckschen Innenpolitik, des militaristisch-junkerlich-preußischen Komplexes herunterspielen, an der als Ideologie erkannten Lehre vom Primat der Außenpolitik festhalten etc. Die Idee, den „Nerv“, den eigentlichen Charakter eines politisch-sozialen Systems bloßzulegen und eine möglichst große Fülle unterschiedlicher Phänomene von daher zu erklären, kann von W.s leidenschaftlicher Analyse nur gewinnen: hier liegt für mich das auch im Positiven Provozierende dieses Buches. Ich kann freilich, und damit schließe ich diese grundsätzlichen Überlegungen, nicht verhehlen, daß mir - obwohl doch der Generation von Wehler zugehörig - als skeptischem „Semihistoristen“ und Antikritiker des „kritisch-emanzipatorischen“ Ansatzes 30 Jahre nach dem Ende des „Dritten Reiches“ das Rechten mit den Urgroßvätern etwas langweilig wird; daß Junker Junker, Militärs Militärs, Konservative Konservative, Liberale Liberale, Katholiken Katholiken - jeweils ihrer Zeit - waren, daß die „Herrschenden“ herrschen wollten und andere ihre eigenen Interessen (und nicht weltgeschichtliche „Aufgaben“ oder die Ziele demokratischer Historiker oder antiprotektionistischer marktwirtschaftlich orientierter Nationalökonomen oder antimarktwirtschaftlich orientierter Nationalökonomen) verfolgten, kann mich nicht sonderlich erstaunen. Die mögliche moralische, Verzeihung: politisch-pädagogische Beurteilung oder Empörung klammere ich als Historiker, um zu gültigen Einsichten zu kommen, gerade ein. Dazu kommt ein weiteres heuristisch-„wissenschaftsmoralisches“ Moment: wenn man sich auf den Boden der „Kritik“ der Vergangenheit stellt, so scheint mir die erste Bedingung für ein faires und ertragreiches „Verfahren“, daß man das, was man kritisiert, von seiner stärksten Seite, mit den stärksten Argumenten zu seinen Gunsten zeigt, nicht aber das leichtere Geschäft besorgt, ein schon in der Beschreibung und durch die Last einer katastrophalen Kontinuität diskreditiertes System endgültig zu entlarven. Man muß den toten Gegnern die Stimme leihen - das ist ein Stück der Gerechtigkeit, die dem Historismus innewohnte und die der „kritischen“ Schule weltenfern gerückt ist. Auch von einem explizit wertbezogenen, gegen Wertfreiheit und Objektivität sich abgrenzenden Ansatz her läßt sich ein anderes Maß von Gelassenheit und Gerechtigkeit praktizieren.

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IV. Wenden wir uns endlich dem Inhalt und den Resultaten der Darstellung zu. Sie sind trotz des eben Gesagten natürlich von den theoretischen Ausgangspositionen geprägt, und von der Kritik an diesen Positionen betroffen. Aber sehen wir näher zu. Mein wesentlicher Einwand gegen das W.sche Buch ist - kurz und jetzt unmetaphorisch gesagt -, daß es partielle Wahrheiten zum Ganzen der Wahrheit fügt, daß es aufgrund von Überzeichnungen, Zuspitzungen, Fehlinterpretationen und Auslassungen eine einseitige, nicht ausgeglichene, disproportionierte Darstellung des Zeitalters und Systems bietet und daß es die Entwicklungen innerhalb des Systems massiv unterbewertet. Ich weiß natürlich, daß ein „Ganzes der Wahrheit“ und eine ausgeglichene proportionierte Darstellung und der ihr entsprechende Begriff des Zeitalters Ideen sind, die empirisch nicht realisiert werden - aber wir können nach dem Stand unseres heutigen Wissens (und unserer Position in dieser Gegenwart!) beurteilen, wie weit ein Werk diesen Ideen nahekommt. Um meinen Einwand zu beweisen, müßte ich jeden Abschnitt in annähernd gleicher Länge kommentieren und ein neues Buch schreiben (denn ich kann, um auch das deutlich zu sagen, auf kein Gegenbuch hinweisen, das solche Ansprüche erfüllte). Indem ich einige Punkte herausgreife und auch da keine mit den Quellen des langen und breiten argumentierende konkludente Analyse vorlege, setze ich mich dem Vorwurf aus, nur Einzelnes und gar nur Einzelnes im Einzelnen zu treffen - aber solchen Vorwurf muß der Kritiker auf sich nehmen. 1. In einem Teil der neueren, von mißverstandener Sozialwissenschaft beeinflußten Literatur spielt m. E. der Begriff Funktion eine unheilvolle Rolle, indem er das logische Verhältnis von Ursachen, Motiven, Wirkungen, Nebenwirkungen und Stellenwert in einem interdependenten System unklar verwischt. Es ist hier nicht der Ort, die notwendigen logischen Unterscheidungen zu treffen. W. vermeidet es zumeist, sich auf das Glatteis dieser Begriffe zu begeben. Aber der Sache nach ist seine Analyse von Funktionalisierung oder Instrumentalisierung bestimmt: das, wofür etwas von der strategischen Elite benutzt wird, ist das Wesentliche und schließlich allein Ausschlaggebende, das, worauf es ankommt. Und diese Funktionalisierung hat eine klare Richtung. Wo eine doppelte (oder mehrfältige) Ursachenkette, Motivation oder „Funktion“ feststellbar ist, verschiebt sich das Gewicht im Lauf der Analyse ganz darauf, daß der innenpolitisch sozialkonservative, systemstabilisierende Aspekt der wesentliche ist. Die so bestimmte Analyse der Phänomene ist darum geleitet von der totalen Präponderanz des Herrschaftssystems und des Herrschaftsinteresses. Ich will meine kritischen Einwände gegen diesen „approach“ an wenigen Komplexen deutlich machen. a) W. und andere haben in der Nachfolge Kehrs genugsam Material und Argumente bereitgestellt, um die These vom Primat der Außenpolitik zu falsifizieren und die isolierte Betrachtung von Außenpolitik nach ihr immanenten Prozessen und Regeln als nicht wirklichkeitsgerecht zu erweisen. Die innenpo372

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litischen Grundlagen und Ursachen außenpolitischer Entscheidungen und deren intendierte wie nicht intendierte Rückwirkung auf die Innenpolitik ist für unseren Zeitraum mannigfach erwiesen. Aber der Zusammenhang, die Interdependenz von Innen- und Außenpolitik, ja das Verschwimmen der Abgrenzung angesichts der imperialistischen Bewegungen, hat die „Kehrites“ zu der Gegenthese vom Primat der Innenpolitik geführt, unter der Außenpolitik entweder allein oder ganz überwiegend (und mit allenfalls verbalen Konzessionen) von ihrem innenpolitischen Aspekt her erklärt wird. Die Funktion für die Stabilisierung eines Systems sozialer Herrschaft ist das Α und Ο bei der Analyse von Außenpolitik. W. beginnt ζ. Β. seine Analyse der Flottenpolitik, indem er ganz zu Recht Außen- und Innenauftrag der Flotte - einigermaßen - gleichgewichtig nebeneinanderstellt, aber er endet beim Primat der „Systemstabilisierung“. Er hat seine bekannte und nicht unumstrittene These vom Sozialimperialismus Bismarcks auf die gesamte wilhelminische Außen-, Welt- und Rüstungspolitik erweitert, und in analoger Weise auch die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 zu Mitteln der - antiliberalen - Innenpolitik deklariert. In keinem dieser Fälle ist der prätendierte Primat der Innenpolitik bewiesen; aus den Quellen und den - im Rücken der Handelnden auffindbaren - Ursachen wird ein partieller Aspekt zur ganzen Wahrheit gemacht. Eine Analyse der Bismarckschen Politik zwischen 1864 und 1871, die ich hier nicht geben kann (ich verweise nur auf Kolbs von W. unbegründet und unqualifiziert abgelehnte Analyse der Politik von 1870/71), würde das schlagend beweisen. Die Methode, alle innenpolitisch orientierten Quellenstellen zusammenzustellen und daraus Schlüsse zu ziehen, ist überhaupt keine historische Methode. Tirpitz hat vor 1914 einmal gegenüber Wilhelm gemeint, wenn die Engländer die Strategie einschlügen, die sie dann tatsächlich eingeschlagen haben (Fernblockade und Vermeiden der Seeschlacht), sei die kaiserliche Flottenpolitik gänzlich umsonst gewesen: für ihn spielt bei diesem Urteil die antiparlamentarische, die innenpolitische Komponente, die doch für die Funktionalisten der Sozialimperialismusthese, für die vom Primat der Innenpolitik überzeugten Kehrites, das schlechthin Entscheidende ist, überhaupt keine Rolle. Eley hat in seiner sehr genauen Analyse der „Sammlungspolitik“ um die Jahrhundertwende die von Wehler übernommene Kehr-Berghahnsche These von der Art des Zusammenhangs von Flottenbau und sozialkonservativer Sammlung m. E. widerlegt, oder zumindest wesentlich erschüttert. Und ähnliche Fälle gibt es die Fülle. Die außenpolitischen Kalküle nicht nur der Diplomaten, sondern auch die der Entscheidungsträger und derer, die über „Außenpolitik“ nachdachten (wie Max Weber), die Tendenzen der öffentlichen Meinung und der imperialistischen Bewegungen waren auch, ich betone: auch, von „autonomen“ Machtrelationen, strukturellen und situationsimmanenten Zwängen außenpolitischer Prozesse und auch - trotz W.s Polemik - von einem irreduzierbaren Machtwillen bestimmt. Sie sind nicht, letzten Endes, auf sozialkonservative oder -reformierende Strategien reduzierbar. Die Aufteilung der Welt - als Tatsache, Prozeß und Provokation für die Spätkommenden wie die Konkurrenten - kann, nachdem ökonomistische Erklä373 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

rungen, soweit sie einen Monopolanspruch erheben, gescheitert sind, nicht wiederum fast monokausal mit dem Modell Sozialimperialismus erklärt werden. Es sind in Deutschland ja fast bis zur Marokko-Krise nicht die Konservativen gewesen, die Träger des Imperialismus waren; die Theorie von der Ablenkungs- und Sammlungsstrategie - gesetzt, sie wäre richtig - stellt auf die Benutzung, aber nicht auf die Erzeugung des Imperialismus ab; die liberalen Imperialisten gaben dem Imperialismus innenpolitisch eine andere Funktion, aber das war nicht der Grund, warum sie Imperialisten waren. Schließlich, und das scheint mir das stärkste Argument, die Aufgabe, den Imperialismus als internationales Phänomen historisch zu erklären, soll merkwürdigerweise so gelöst werden, daß nicht das primär Ähnliche, z. Β. Ökonomie oder Ideologie oder eben „Macht“ zur Basis genommen wird, sondern das Ungleichartigste - nämlich die Herrschafts- und Klassenstruktur der verschiedenen nationalen Gesellschaften; nur damit, so meint W., könne die Gleichartigkeit erklärt werden. Mir scheint logisch wie phänomenal das Gegenteil richtig. Kurz, die reduktionistisch-funktionalistische Erklärung von Imperialismus und Außenpolitik scheitert an den Phänomenen. b) Seit Kehr gehört es zu den heiligen Kühen neuerer Historiker, daß es Sinn und Zweck der Schutzzollpolitik war, die Macht der Junker durch direkte und riesige ökonomische Vorteile, durch das Bündnis mit der Großindustrie, durch die manipulierende Mobilisierung der Bauern zugunsten der wenigen Getreideproduzenten, zumal dann durch den BdL, zu stabilisieren. Schutzzoll und Sammlung gehören, wie es die linksliberale Kritik seit 1878 gesagt hat, und wie es seitdem unermüdlich wiederholt wird, zu den wichtigsten und verhängnisvollsten und reformfeindlichen und antidemokratischen Strategien im Kaiserreich. Daß der Protektionismus (und alles, was daran hing) die Herrschaftsund Systemstabilisierung begünstigt hat, ist unzweifelhaft. Ist er damit aber nach Wesen und Ursache erklärt? Ist er deshalb als Instrument einer die bäuerlichen Massen geschickt manipulierenden Kaste anzusehen? Kehr hat sich immerhin noch mit den ökonomischen Argumenten der Freihandelsgegner auseinandergesetzt und im Rahmen des Autarkiedenkens die Fleischproduktion gegen die Getreideproduktion ins Feld geführt - heute ist das nicht mehr üblich. Nach 100 Jahren Agrarprotektionismus in fast allen Industrieländern, den unterschiedlichsten politischen Systemen und unter den unterschiedlichsten Ideologien, in Ländern ohne Junkerklasse und Ländern mit weit geringerem Anteil der Landwirtschaft an der Volkswirtschaft als im Kaiserreich, zweifle ich, wie ich meine: mit Grund, an diesen Erklärungen. Der Vergleich mit der französischen Zollpolitik (auch wenn sie der deutschen nachfolgte) weist in ähnliche Richtung. Die Haltung der in einem populistischen Sinne linken bayerischen Bauernbündler wie der zentrumsorientierten dortigen Bauernvereine, die 1893 ausgesprochen antiaristokratisch reagierten, bestätigt dasselbe: Die Bauern folgten nicht der Einsicht kluger Nationalökonomen oder den späten Anwälten einer Konsumentenpolitik unter den noch klügeren Historikern, kurz: den Leuten, die die „richtige“ Wirtschaftspolitik kennen, aber auch nicht einer giganti374

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schen Manipulation der Junker. Das Interesse am Protektionismus ist jenseits seiner herrschaftsstabilisierenden „Funktion“ und seiner „Instrumentalisierung“ durch die Junker ein Phänomen sui generis. Das aber gibt es bei W. nicht. Und weil er das außer acht läßt, entsteht jenes große und - trotz aller Widersprüche - so wirklichkeitsfremd einheitliche Herrschaftssystem, das er präsentiert. Es gibt aber eben, so folgere ich aus diesem Beispiel, auch andere Wurzeln und Komponenten dieses „Systems“ als die Herrschaftsinteressen. Die Instrumentalisierung einer Sache und die Sache selbst sind zwei verschiedene Dinge, und es geht, selbst wenn man das formal zugibt, nicht an, das Erste für das Ganze zu nehmen. c) Ein anderes Beispiel der funktional-instrumentalen Analyse ist der Nationalismus. In diesem Zusammenhang berührt W. selbst unser Problem kurz: er lehnt zwar eine „Verschwörungstheorie“ zur Erklärung des Nationalismus ab, aber polemisiert gleichzeitig dagegen, den Nationalismus als quasi autonome Antriebskraft hinzustellen, allenfalls könne man von einem „schließlich (sic!) gewissermaßen verselbständigten Nationalismus“ sprechen. Entscheidend aber ist das Grundmuster des künstlich herbeigeführten oder gesteigerten Konflikts, in dem die Schubkraft des Nationalismus manipulatorisch eingesetzt oder gar angefacht wurde, ζ. Β. durch die Verwendung nationalistischer Freund-FeindStereotypen, die nach W. auch ein Ergebnis der Klassengesellschaft sind. Der Nationalismus wird auf seine - ja nach 1871 ganz unbestrittene - Funktion zur Sicherung des Herrschaftsinteresses reduziert. Leider hat W. diese Theorien nicht durchgeführt: Wer die Geschichte der Reichsgründung nicht kennt, wird von einer nationalen Bewegung in Deutschland kaum etwas erfahren. Süddeutschland wurde „unterworfen“, was eine so horrible Simplifizierung eines einzigen Aspekts ist, daß es schlicht falsch wird; die Kriege werden innenpolitisch, d. h. als systemstabilisierend und antiliberal charakterisiert. Und diese Analyse der Gründungsperiode ist für W.s Beurteilung entscheidend. Aber weder in dieser Periode noch danach kann der Nationalismus in Parteien und Gesellschaft durch die Funktionalisierung auf ein Herrschaftsinteresse hin erklärt werden, so wenig wie die „Nationalisierung“ von Konservativen und „Reichsfeinden“ zwischen 1871 und 1914. Jeder internationale Vergleich von Nationalismus und Nationalitätenpolitik, jeder Blick auf den Charakter und die Funktion „demokratischer“ Nationalismen in Großbritannien, Frankreich oder den USA zeigt, daß der Nationalismus ein „autonomer“ Faktor war, der nicht durch die Akzentuierung seiner Verwendbarkeit in Wahlkämpfen oder anderer, und durchaus partieller Funktionen begriffen werden kann. Unter dem Gesichtspunkt einer Geschichte der Demokratie scheint es mir paradoxerweise sogar evident, daß ohne die Nationalisierung der deutschen Parteien eine Überwindung ihrer autonomen Subkulturen zugunsten einer gesamtpolitischen Integration und einer Koalitions- und Regierungsfähigkeit schwer vorstellbar ist. Diese Entwicklung aber lief - wie eben Vergleiche zeigen - unabhängig von den Instrumentalisierungen durch jenes allbestimmende Herrschaftsinteresse. 375 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

d) Auch beim breit analysierten Antisemitismus (die Breite ist ähnlich wie bei den Nationalitätenproblemen eine Folge von W.s Wert- und Kontinuitätsentscheidungen; der Kulturkampf und der deutsche Antikatholizismus z.B. werden mit wenigen Sätzen abgefertigt, eine Disproportion, die das Bild entsprechend formt, und die wohl darin begründet ist, daß die Katholiken und die nationalliberalen Antikatholiken sich - ständisch autoritär ideologisiert in das repressive System integriert haben) begegnet ähnliches: An die Stelle der Sache selbst rückt die Manipulation und Instrumentalisierung. Vergleiche mit Frankreich oder Österreich - wo der Kaiserliche Hof der letzte Schutz der Juden vor einer „demokratischen“ Massenbewegung wurde, was die politischintellektuelle Krise der liberalen Juden begründete - zeigen aber, wie einseitig diese Betrachtung ist. Das Zentrum, das konstant jede Verfemung von Minderheiten abgelehnt hat, mit der „antisemitischen“ Propaganda zu verbinden, ist, so gesagt, schlicht eine Fälschung. Die Reihe läßt sich fortsetzen. Die These von der Kapitulation der Liberalen (1867-1879); vom „Scheinkonstitutionalismus“, den Bismarck und sein großpreußischer Annexionsverband der deutschen Gesellschaft manipulierend und mit Eisen und Blut aufzwang; die Negation der These, es habe sich bei der Reichsverfassung um einen - dilatorisch hin, dilatorisch her - Kompromiß gehandelt, das funktionalisiert wiederum alle Kräfte und Probleme auf das Zentrum der Herrschaftsstrategie. W. J . Mommsen hat mit Recht geltend gemacht, daß angesichts der Kräfte, über die der Liberalismus gebot (und ich füge hinzu: unter den Bedingungen der frühen und plötzlichen Einführung des allgemeinen Wahlrechts), die Verfassung sehr wohl als ein Kompromiß angesehen werden muß. - Ähnlich steht es mit den Parteien; sie werden nach ihrer Funktion im Herrschaftssystem begriffen und beurteilt. Die systemkonformen oder angepaßten Züge werden schroff und einseitig herausgearbeitet. Den linken Zentrumsflügel und die christlichen Gewerkschaften - ob ihrer, immerhin „ideologisch“ erklärbaren, aber von W. nicht erklärten, sondern implizit verurteilten antisozialdemokratischen Haltung - darf man „bei Leibe nicht überschätzen“, das Zentrum ist konservativ und modernitätsfeindlich. (Für unkundige Leser bemerke ich, daß ich das Beispiel des Zentrums mehrfach benutze, weil ich nicht katholisch bin.) Die wichtige Rolle der Süddeutschen in allen nicht-konservativen Parteien kommt nicht vor. Das, was es an autonomer Entwicklung der Parteien gab und die Probleme, die damit zusammenhängen, treten ganz zurück. Das Dilemma der Liberalen im Kulturkampf, die „Altmodischkeit“ der Linksliberalen (auch des von W. so gern zitierten Bamberger) angesichts der sozialen Frage oder des Interventionsstaates, die Verschränkung moderner und antimoderner Züge, die legitimen Gegensätze zwischen den Parteien, davon ist nicht die Rede. Man muß sagen, daß politische Bewegungen und Mentalitäten wesentlich in die Rolle von Objekten, von Mitteln des großen Herrschaftssystems und seiner Erhaltungsstrategien rücken - sie verlieren ihren Charakter als Subjekte, als Zwecke an sich selbst, als Mitspieler mit autonomen Antrieben und autonomen 376 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Entwicklungen: Sie werden mediatisiert. Darum spielen auch ihre Gegensätze untereinander nur noch eine mindere Rolle. Es ist wichtig, festzuhalten, daß darin eine Wahrheit über das Bismarckisch-Wilhelminische „System“ liegt, das seine Kontrahenten und seine Gegner leicht zu Opfern machte. Aber es ist ebenso wichtig, den partiellen und also begrenzten Charakter dieser Wahrheit zu betonen, die Selbständigkeit der Teile im System, die Ungleichzeitigkeit der Abläufe. W. weiß selbstverständlich, daß das politische (und soziale) System ein Interaktionsgefüge zwischen den vielen Spielern ist, aber sein theoretisch„kritisches“ Konzept vom Herrschaftsinteresse und seine Negativfixierung auf Bismarck als den Oberstrategen und die strategischen Eliten führen dazu, das System ganz zu dem zentralen Herrschaftskartell, seinen Strategien und seinen institutionellen Sicherungen hin gravitieren zu lassen. Wie bei fast allen „Kehrites“ impliziert die Darstellung, daß das System auf einer gigantischen wenn auch keineswegs als Verschwörung interpretierbaren - Manipulation beruht. Darum rückt die ganze Darstellung auch unter eine und nur eine, vom modernen Beurteiler gesetzte, Alternative: Herrschaftsstabilisierung versus Parlamentarisierung oder Demokratisierung. Die Frage der unterschiedlichen und gegenläufigen Wege zu diesem Ziel und der Streit um solche Wege und die weitere Frage nach anderen, überlagernden (uns Heutigen vielleicht nicht recht gefallenden) Alternativen verschwinden dagegen ganz dahinter. Die Funktionalisierung historischer Faktoren, Handlungsträger unter der Perspektive des Herrschaftssystems, mediatisiert sie in einer Weise, die ein Begreifen ihrer Wirklichkeit, die eben auch, ich betone: auch, eine autonome Wirklichkeit war, nicht gelingen läßt. 2. Eine zweite Gruppe von Einwänden gruppiert sich um die Fragen nach der Einheit der herrschenden Schichten und nach den „Leistungen“ des Systems. Die erste Frage ist deshalb von so großer Bedeutung, weil einmal die - bis zu einem gewissen Grade natürlich auch von W. gesehenen - Spannungen und Risse innerhalb der Herrschaftsgruppen eine der ganz entscheidenden Voraussetzungen für die Möglichkeit von Veränderungen waren, und weil zum andern der Modernisierungszwang, unter dem eine Reihe von Führungsinstanzen von Bethmann bis zu Ludendorff z. Β. - standen, dem von W. herausgearbei­ teten Ziel der Systemstabilisierung zuwiderlief und die Einheit der Herr­ schaftsgruppen zu sprengen drohte. W. neigt dazu, die Einheit der Status-quoKräfte zu unterstreichen, die Bürokratie (trotz der Sammlung kritischer Äußerungen Bethmann Hollwegs) möglichst mit dem preußisch-agrarisch-militaristischen Komplex zu identifizieren und andere Gegensätze zugunsten der sozialkonservativen Systemstabilisierer zu interpretieren. Seine Interpretation des Systems hängt offenbar an der Geschlossenheit der Herrschaftsgruppen. Dabei kommt es zu wesentlichen Überspitzungen, Auslassungen und Verzerrungen. Die Interpretation des bekannten Konflikts zwischen Kriegsministerium und Generalstab um die Rüstungsvorlage von 1913 ist ein Beispiel: der Ausgang wird wegen der Ablehnung einer Neubildung von 3 Korps als Sieg der sozial377

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konservativen Ultras angesehen, die die Verbürgerlichung des Offizierskorps fürchteten (und die wiederaufgenommene Legende von den fehlenden Korps an der Marne läßt W. einen Moment lang als Befürworter der extremen Rüstungsforderungen Ludendorffs erscheinen). In Wirklichkeit wurde aber der größte Teil der vom Ministerium früher abgelehnten Forderungen, darunter auch 2/3 der geforderten neuen (präsumtiv „bürgerlichen“) Offiziersstellen, angenommen. Die Begründung des Kriegsministers für seinen Widerstand gegen die 3 Korps war viel stärker, ja entscheidend, organisationstechnischer und finanzpolitischer Natur; die letzte Entscheidung schließlich (mit der Vorgabe, der Linie des Generalstabs dann zu folgen) wurde doch nur bis 1916 vertagt. Außerdem waren 1912 durch Umorganisation zwei neue Korps gebildet worden. So glorreich und eindeutig war der „Sieg“ der Sozialkonservativen wirklich nicht. Zudem müßte die fast vollständige Stagnation des Heeres zwischen 1893 und 1913 bei einer so zentral auf das Phänomen des Militarismus gerichteten Analyse berücksichtigt werden. Erst dann käme der Gegensatz zwischen altpreußischer und Ludendorffscher Machtpolitik - eine relative Modernisierung, Verbürgerlichung und „Totalitarisierung“ von Teilen des Konservativismus und die immanente Spannung zwischen den gegensätzlichen Notwendigkeiten der „Systemerhaltung“ - heraus. (Ich möchte hier zwei Nebenbemerkungen anschließen, die zwar nicht die Einheit der Führungsgruppen berühren, wohl aber die faktischen Grundlagen von W.s Militarismusanalyse betreffen. Einmal, W. übernimmt aus Kitchen die Feststellung, nur 6% der Rekruten seien vor 1914 aus Großstädten, 7% aus Mittelstädten gekommen, und stützt darauf die These von der antisozialdemokratischen Rekrutierungspolitik der Armee. Daß die militärische Führung bei all ihren Maßnahmen dem „Kampf“ gegen die Sozialdemokratie eine zentrale Bedeutung zumaß, bedarf heute keiner neuen Beweise mehr. Die zitierte Feststellung scheint mir zweifelhaft. Kitchen hat sie aus Bernhardi, Bernhardi aus Posadowsky [Die Wohnungsfrage, 1910] übernommen; sie entspricht einem verbreiteten Argument konservativer Großstadtkritik [Gesundheitsschädlichkeit der Großstadt], das von liberalen Autoren der Zeit statistisch widerlegt worden ist [Brentano]. Angesichts der 1914 einberufenen Massen ausgebildeter Reservisten aus der Industriearbeiterschaft scheint mir die Prozentangabe zweifelhaft und zumindest genauerer Nachprüfung bedürftig3. - Zum andern, W. gibt an, daß vor 1913 das Verhältnis der Flotten- zu den Heeresausgaben 60:40 betrug, um damit das Ausmaß und die Maßlosigkeit der Flottenrüstung zu belegen. Zwar finden sich in der Literatur gelegentlich ähnliche - nicht näher belegte Angaben. Aber nach den von mir nachgeprüften und gut belegten statistischen Angaben von Witt war die Relation 1912 gerade umgekehrt: 26:52,2% [der Rest für allgemeine Ausgaben]. Man mag argumentieren, daß diese beiden Bemerkungen Kleinigkeiten und unvermeidliche Irrtümer betreffen; das Ärgerliche ist, daß zweifei- oder fehlerhafte Angaben so unbesehen zur Stützung zentraler Thesen verwandt werden.) 378

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Zurück zum Problem der Einheit der herrschenden Schichten. W. konzentriert seine Analyse fast ausschließlich auf Preußen, den Hegemonialstaat; er räumt freimütig ein, daß das ein Mangel ist, weil gewisse Gründe für die „Fragmentierung“ des Reiches so unerklärt bleiben, meint aber doch, die Konzentration sei beim vorgegebenen Umfang des Buches gerechtfertigt. Es ist außer Zweifel, daß der innerste Kern des Herrschaftssystems preußisch bestimmt war. Trotzdem halte ich es für ganz irreführend, den Föderalismus und die süddeutschen Staaten in ihrer politischen wie sozialen Entwicklung als quantité négligeable zu behandeln. Dem Borussismus von vor 1914 entspricht jetzt der „kritische“ Antiborussismus von 1973. W. ignoriert die nicht in seinen „System“entwurf passenden Sprünge und die Machtbalance, die durch den Föderalismus gegeben waren. Die viel erörterten Staatsstreich„pläne“ der 90er Jahre ζ. Β. wurden immer durch die von vornherein gegebene Resistenz der süddeutschen Staaten konterkariert. Die Entwicklung der Parteien und der öffentlichen Meinung, der Stellung des Kanzlers zwischen Reichstag und preußischem Landtag, das Gefühl der vitalen Bedrohung, das die Vertreter des „alten“ Preußen vor 1914 erfüllte und das sich etwa bei der Gründung des Preußenbundes artikulierte, läßt sich ohne die süddeutsche Entwicklung nicht erklären. W. betont wie alle „Kehrites“ die Bedeutung der „Sammlung“ von Großgrundbesitz (und bäuerlichem Anhang) und Industrieunternehmern für die soziale Verankerung des Herrschaftssystems, und er betont zu Recht gegen manche Übertreibungen die Sprünge und Diskontinuitäten in dieser „Sammlung“. Μ. Ε. bleibt freilich dieser zweite Gesichtspunkt ziemlich folgenlos. Die Span­ nungen und die Brüche im Lager der „Produzenten“, die zur Erklärung etwa der Lage zwischen 1909 und 1914 unentbehrlich sind, treten der Sache nach ganz hinter die These von der Einheit der systemstabilisierenden Kräfte zurück. Schließlich die Bürokratie. War sie ein Teil des borussisch-agrarisch-militaristischen Komplexes oder spielte sie eine eigene, moderat reformkonservative Rolle? W. polemisiert mit etwas anachronistischer Vehemenz gegen die von kaum jemandem mehr vertretene falsche These von ihrer Überparteilichkeit, die bekannte „Lebenslüge“ des Obrigkeitsstaates, und akzentuiert - im Anschluß an Kehrs Puttkamer-Essay - die konservative Politisierung (oder Disziplinierung), die Feudalisierung und Privilegierung der Bürokratie. Hier tut er wiederum des Guten durchaus zuviel. Warum die liberale Errungenschaft der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Privilegierung der Bürokratie ist, bleibt mir auch nach längerem Studium rätselhaft. Die These von der „hohen“ Bezahlung der Beamtenschaft ist zweifelhaft, ja irreführend. Untere und mittlere Beamte, und W. schließt sie in seine Analyse ein, haben nach dem Urteil der Zeitgenossen und Feststellungen der Verbandsforschung in starkem Maße freisinnig oder Zentrum gewählt, so ζ. Β. die Volksschullehrer; so penetrierend und all­ umfassend war das „große“ System eben nicht. Gerade diese Gruppe ist auch, wenn man den zugänglichen Zahlen und Quellen über die Herkunft von Studenten folgt, ein Hauptreservoir der von W. im wesentlichen negierten sozia379 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

len Mobilität. Der Anteil des Adels an der höheren Bürokratie wird stark hervorgehoben; niemand wird das bestreiten. Nur, W. stützt sich allein auf preußische Statistiken. Er zitiert nicht die leicht zugängliche Statistik der oberen Reichsbürokratie, die - vom Auswärtigen Amt abgesehen - ein ganz anderes Bild vermittelt. Und was Preußen betrifft, so bleiben die Konzentration des Adels in der preußischen Innenverwaltung - vom Landrat über die Regierungspräsidenten bis ins Innenministerium - und die unterschiedliche Struktur in den anderen Ressorts undeutlich. Niemand zweifelt ja an der fortdauernden Privilegierung des Adels und der konservativen Orientierung der höheren Bürokratie. Aber es fehlen die Differenzierungen und die Gegeninstanzen, das Bild ist überzeichnet. Warum eigentlich? W. hebt mit Recht den polykratischen Charakter des Regierungssystems in der wilhelminischen Zeit hervor; ganz gelegentlich räumt er auch ein, daß zuweilen die Bürokratie eine Sonderstellung einnahm. Im ganzen ordnet er sie doch streng dem Herrschaftskartell zu. Unterschiede, Auseinandersetzungen, Konflikte zwischen Kanzlern, Ministem (Staatssekretären) einerseits, dem Kaiser und seiner höfisch-militärischen Umgebung oder den Agrariern und den konservativen Parteiführern oder Zusammenarbeit mit nichtkonservativen Parteien kommen allenfalls am Rande vor, die Unterschiede zwischen Traditionalisten und Modernisierern, „Diehards“ und „Appeasers“ fehlen ganz. Der moderate Reformkonservativismus, für den etwa Posadowsky und Bethmann stehen mögen, hat in W.s Bild keinen Platz, und die kritischen Äußerungen Bethmanns, immerhin des Leiters der Politik, oder Hohenlohes oder die Politik Caprivis oder die gelegentliche Niederlage kaiserlicher und konservativer Initiativen bleiben so gerade unerklärt. Niemand bestreitet, daß die führenden Reichsbeamten - aus Gründen der Machtverteilung wie der Loyalität gegenüber konservativen Normen - nur einen begrenzten Spielraum hatten. Aber das Einheitsbild W.s läßt die Spannungen in der Führung des Systems, das akute Bedrohtheitsgefühl der junkerlich-militärischen Herrschaftskaste vor 1914, die Chancen (und selbstverständlich auch das Elend) Bethmann Hollwegs, die Gegnerschaft gegen ihn und die meisten Leute an der Spitze der Reichsbehörden wiederum unerklärt. Die Analyse der Bürokratie muß sehr viel differenzierter durchgeführt werden. Die Grundthese von der Orientierung des Systems auf Herrschaftssicherung und der - grundsätzlichen - Einheit der Herrschaftsgruppen hat, so scheint mir, eine solche Analyse verhindert. Mit der Hypothese (ich sage mit Bedacht: Hypothese) vom Vorhandensein einer moderat reformkonservativen Bürokratie - vom Unterschied zwischen Bethmann und Heydebrand, um es zu personalisieren - hängt die Frage nach den „Leistungen“ des Systems zusammen; sie ist die wichtigere Frage. Denn selbst, wenn jemand einräumt, daß es diese Sorte Bürokraten gegeben hat, so bleibt die Frage, welchen Stellenwert ihre begrenzten und systemimmanenten Korrekturen (oder Reformen) denn hatten; was solche „feinen“ Unterschiede angesichts der kritischen Alternative von Herrschaftsstabilisierung und demo380 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

kratisierender Modernisierung denn besagten. Die Gegenfrage ist, ob diese Alternative angemessen und ob sie ausreichend ist, das Kaiserreich zu begreifen. Innerhalb des W.schen Bezugsrahmens (und jedes anderen auch) muß erklärt werden, wie das Privilegien- und status-quo-orientierte Herrschaftssystem sich ein relativ hohes Maß von Legitimität und Loyalität gesichert hat. Manipulatorische und repressive Mittel, die bei W. im Mittelpunkt stehen, reichten dazu zweifellos nicht aus; hier spielen auch die „Leistungen“ des Systems eine Rolle. W. räumt zwar eine gewisse Effektivität der Bürokratie ein, stellt aber doch wesentlich auf ihre Mängel ab. Der eigentümliche, ich möchte sagen: Saint-Simonismus der Bürokratie, dem der „Fabianismus“ der Kathedersozialisten und ihrer Nachfahren entsprach, kommt bei W. gar nicht heraus. Es bleibt doch auch ein erstaunliches Phänomen, daß sich auf der Grundlage des Juristenmonopols und natürlich in den Grenzen eines konservativen Bezugsrahmens eine planende und innovatorische Bürokratie, zumal auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik, bei der Entfaltung des Interventionsstaates, herausgebildet hat. Die Sozialreformen waren sicherlich - vom voll ausgebildeten Wohlfahrtsstaat her gesehen - mangelhaft und fragmentarisch, aber das ist eine Feststellung ohne Erkenntniswert; sie waren sicherlich von bonapartistischen und/oder antisozialdemokratischen Motiven mitbestimmt. Trotzdem sind sie ganz erstaunliche Leistungen. Die Einrichtung und der Ausbau der Sozialversicherung im preußisch-deutschen Beamtenstaat, die Sozialpolitik nach 1890, bis hin zu den Folgerungen, die sogar das preußische Staatsministerium und der Landtag aus dem Bergarbeiterstreik von 1905 zogen, bis hin zu der angesichts der gleichzeitigen Diskussionen in England und Frankreich überraschenden - Ablehnung verschärfter Maßnahmen gegen das Streikpostenstehen, das läßt sich nicht als erzwungene und im ganzen wenig relevante Konzessionspolitik allein interpretieren. Die Literatur darüber und der - hier versuchte Hinweis auf solche Phänomene ist nicht mit der handlichen kritischen Keule des Apologetikvorwurfs abzutun. In diesen Zusammenhang gehört eine Nebenbemerkung: Daß W. vorbehaltlos gegen das Verbot der „Solidaritätserzwingung“ im Koalitionsrecht ist, ist ein anderes Beispiel dafür, wie er kontroverse Sachprobleme und andere Wirklichkeiten - wie die allgemeine Auffassung von der freiheitssichernden Aufgabe des Rechts zumindest im 19. Jahrhundert - im Namen einer präfixierten eigenen Wertung abblockt. Aber zurück zur Hauptsache. W.s Alternative, die Sozialreformen damit zu erklären, daß entweder, wie er ironisch meint, Beamte bei Schmoller studiert hatten oder die Arbeiterbewegung Druck ausübte und die Massenloyalität durch schmale Konzessionen erhalten werden sollte, halte ich für eine falsch gestellte Alternative. Entscheidend ist, daß in einer zentralen Frage in W.s Machtkartell substanziell unterschiedliche politische Konzeptionen vertreten wurden und daß eine moderiert reformerische Bürokratie ihr Reformkonzept mit den Mittelparteien gegen die prononcierten Vertreter des rechten Machtestablishments durchsetzte. Im zeitgenössischen ausländischen Urteil haben - bei klarsichtiger Kritik der militaristisch-feudalistischautokratischen Züge des Regimes - diese „Leistungen“ in der Sozialreform 381 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

immer eine besondere Rolle gespielt. Und dasselbe gilt für Bildungs- und zumal Wissenschaftspolitik, die die Weltstellung der deutschen Wissenschaft mitbegründet und gesichert hat. Dasselbe gilt schließlich (W. bemerkt es einmal selbst, aber läßt es unerklärt) für die Leistungen einer modernen, oft als vorbildlich angesehenen Kommunalpolitik. Zwei andere Beispiele: Die Miquelsche Steuerreform, d. h. die Einführung einer gemäßigt progressiven Einkommensteuer in Preußen, ist natürlich, gemäß den Machtverhältnissen im preußischen Landtag, nur mit erheblichen Konzessionen an den Großgrundbesitz durchgesetzt worden, und die Großgrundbesitzer wollten in ihrem - von W. vernachlässigten Kampf mit der aufsteigenden Bourgeoisie - den Höchststeuersatz doppelt so hoch ansetzen; ich weiß nur nicht, was daran so verwunderlich ist. Es war, vergleicht man wieder die internationale Steuergesetzgebung der Zeit, nicht eine von konservativen Historikern stilisierte „Reform“, die allenfalls gegen die Absichten ihrer Urheber progressive Folgen zeitigen konnte, sondern es war eine fiskalisch-etatistische und zugleich sozialgezielte, wenn auch natürlich nicht egalitäre, schlichte Reform. Niemand wird die preußische Regierung und den Landtag deshalb für progressiv liberal halten, aber polarisierende Alternativen und Schwarzweißzeichnungen von der Art, wie W. sie liebt, verstellen das Problem der etatistischen Modernisierung, der konservativen Reform. In diesen Zusammenhang gehört das andere Beispiel. W. spitzt polemisch seine „Kritik“ der Finanzverfassung so zu, daß er immer nur von den Reichsausgaben spricht, an denen die Rüstungsausgaben in der Vorkriegszeit durchschnittlich 75% Anteil hatten. Das proportionale Absinken von beinahe 90% in den 80er Jahren wird nicht weiter kommentiert. (Die unterschiedlichen Berechnungen von Gerloff, Hoffmann und Witt können hier außer Betracht bleiben.) Dagegen beklagt W. ζ. Β. den geringen An­ teil der Bildungsausgaben. Aber die gut bekannten Vergleichszahlen der Länderhaushalte, in denen bekanntlich die „Bildung“ etatisiert war, läßt er aus. Allein der Preußische Staatshaushalt war (1914) höher als der Reichshaushalt. Das nach W. so eindeutige Urteil über die „Prioritäten“ des großpreußischen Militärstaats wird so wesentlich und einseitig verzerrt. Im ganzen also: Die Einheit des Herrschaftskartells scheint mir so, wie sie W. darstellt, eine Fehlkonstruktion, die den Föderalismus, die relative Selbständigkeit der Bürokratie oder der Regierung, die Spannung zwischen Agrariern und Industriebourgeoisie, zwischen Traditionalisten und „Modernisierern“, „Diehards“ und anpassungsfähigeren Gruppen so sehr unterschätzt, daß damit ein Teil der Wirklichkeit und ein Teil der Dynamik des „Systems“ gar nicht mehr in den Blick kommt. Die Integrationsfähigkeit und die Loyalitätssicherung, zu der das System fast 47 Jahre fähig war, könnte durch eine Berücksichtigung solcher Unterschiede und der erwähnten „Leistungen“ des Systems besser erklärt werden als durch Repression und Manipulation. Ich sehe schlechterdings keinen logisch-sachlichen Grund, derlei Feststellungen als apologetisch zu disqualifizieren und aus der Wissenschaft auszuschließen. Es geht nicht darum, den Militarismus oder die Bürokratie oder die Sozialverfassung zu vertei382

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digen, weiß zu waschen oder doch in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Es geht auch nicht darum, die Dinge, die W. unterstreicht, zu leugnen, zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Es geht darum, von dieser Ebene der Argumentation überhaupt wegzukommen. Ich plädiere dafür, Beschreibung und Analyse nicht länger als Gerichtsprozeß Kritik versus Apologie zu führen, wo denn am Ende nur der Sieg einer Prozeßpartei steht oder ein Kompromiß, dessen ab- und ausgewogene Feststellungen als abgenötigte „Konzessionen“ erscheinen. Das eigentliche Geschäft des Historikers beginnt erst jenseits solchen Prozesses. Oder - sofern man den Prozeß als notwendige Durchgangsstufe, als heuristisch nützliche oder angesichts der Grenzen der Möglichkeit von Objektivität als unvermeidliche Prozedur ansehen sollte: der faire Prozeß bedarf der starken Verteidigung, er ist nicht in der Robe des Staatsanwalts, der sich zuletzt zum Richter aufschwingt, zu führen. 3. W. weist selbst darauf hin, daß er seine Versuche zum sozialen Wandel aus der Darstellung herausgelassen habe, weil er sie noch unzureichend finde; soweit ich verstehe, meint er damit vor allem Analysen der sozialen Schichtung und Umschichtung. Trotzdem ist nebenbei in dem Buch viel von sozialem Wandel die Rede: objektiv von Klassen- und Berufsverschiebungen, der ostdeutschen Wanderung ins Ruhrgebiet, der Urbanisierung, der Entstehung der Angestelltenschaft. Und subjektiv von Mentalität und Chancen. Hierbei wird nun freilich zumeist dargelegt oder impliziert, daß es entweder keinen nennenswerten Wandel gegeben hat oder daß der Wandel ein Sieg der sozialen Kontrollmechanismen und Ideologien des Obrigkeitsstaates, zumal der konservativen Nationalisierung war. Selbst der gewaltige Aufstieg der Sozialdemokratie und die zunehmend antiagrarische Orientierung der Wählerschaft stehen unter dieser Perspektive. Ich will auf die spezifisch wirtschaftshistorischen Interpretationen W.s nicht näher eingehen, das wird von kompetenteren Beurteilern demnächst geschehen. Es scheint mir, daß Rosenbergs Entdeckung der „Großen Depression“ oder vielmehr die Übertragung dieses Begriffs auf Deutschland in der zweiten Generation allmählich zu einem fast allerklärenden Mythos wird. Der durchgängige und schwerwiegende Depressionscharakter (trotz der Betonung der Zwischenkonjunkturen) scheint mir, gerade im internationalen Vergleich, eine Konstruktion (ein Einwand, den schon Gerschenkron gegen Rosenberg vorgebracht hat); die von Rosenberg noch besonders betonte Tatsache, daß gerade die Begüterten die Hauptbetroffenen waren, spielt bei W. explizit kaum noch eine Rolle; die Erklärung fast aller weiterwirkenden Neubildungen zwischen 1873 und 1895 durch die Depression scheint mir nicht gelungen und auch nicht möglich. Ähnliches gilt für den „Organisierten Kapitalismus“, der unversehens aus einer interessanten tentativen Erklärungshypothese zu einer feststehenden Entität wird; Thesen von der „beherrschenden“ Rolle der Großunternehmen und dem Rückgang des Konkurrenzkapitalismus, auch wenn die „Verschleierung der liberalen Marktwirtschaft“ noch beibehalten wurde, das sind m. E. Überspitzungen, die durch die Forschung, auch durch W.s eigene Arbeit zum Organi383

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sierten Kapitalismus, nicht gedeckt sind; es ist ärgerlich, wenn Trendbeschreibungen so in ein falsches Gesamtbild einmünden. Erwähnen möchte ich aber noch W.s Behandlung der Reallöhne. Jeder, der sich mit diesem Problem befaßt, kennt die außerordentlichen Schwierigkeiten jeder Berechnung - zumal im internationalen Vergleich: bis hin zur Einbeziehung von Sozialleistungen und der Zahl der Abhängigen, zur Relation zum Bevölkerungswachstum etc.; gerade in England ζ. Β. ist das Problem besonders kompliziert. W. gibt, gestützt auf Grumbach-König (1957) an, daß in Deutschland die Reallöhne seit 1890 um durchschnittlich 1% stiegen, während der Anstieg in England, Frankreich, Schweden und den USA 4% betrug. Daraus zieht er seine „kritischen“ Konsequenzen für die Beurteilung des deutschen Systems. Nun haben aber Desai (1968) und darauf fußend Orsagh (1969) nachgewiesen, daß der Anstieg der Lebenshaltungskosten geringer, der der Reallöhne höher war, als bisher angenommen; und daß die Steigerungsrate der deutschen Reallöhne höher lag als in Großbritannien und nur wenig niedriger war als in den USA. W. nennt zwar in der Anmerkung auch Orsagh, ignoriert aber offensichtlich seine Ergebnisse. Hier kann man sicher noch weiter argumentieren; und ein Fortschritt in der Einzelforschung sollte im allgemeinen nicht gegen eine Gesamtdarstellung ins Feld geführt werden. Aber es bleibt ein Ärgernis, daß die W.sche Grundthese von der besonders extremen und wachsenden Ungleichheit der Einkommensverteilung in der deutschen Klassengesellschaft ungeachtet der prinzipiell abweichenden Ergebnisse neuerer, von ihm selbst zitierter Forschung aufrechterhalten wird. Meine beiden weiteren Einwände zu dem - weit gefaßten - Komplex des sozialen Wandels beziehen sich auf das Bildungssystem und die Herrschaft eines Konformismus. Niemand wird bestreiten, daß das Bildungssystem des Kaiserreichs einen spezifischen und durchaus hervorstechenden Klassencharakter hatte und nicht darauf angelegt war, soziale Mobilität zu begünstigen. W. selbst relativiert seine These vom sozialkonservativen Charakter des Bildungssystems durch den Hinweis darauf, daß die soziale Mobilität über zwei Generationen hin noch wenig erforscht sei und daß - vermutlich - auch in anderen politischen Systemen die soziale Durchlässigkeit nicht besonders groß gewesen sei. Es gibt, füge ich hinzu, gut begründete Hinweise von Fritz Ringer darauf, daß sie in Frankreich und Großbritannien geringer war als in Deutschland, und das wäre ein Phänomen, das der Erklärung durch W. bedürfte. Aber bleiben wir bei Deutschland. W. gibt für das Problem der „Gymnasien“ und des Eintritts von Abiturienten in die Universität Zahlen von 1885 (und später für Studenten eine Zahl von 1901) an, während doch Zahlen für 1913 zur Verfügung stehen, die den Wandel und ein höheres Maß von sozialer Mobilität deutlich machen würden: Aber der Wandel ist eben nicht thematisiert, soziale Mobilität nicht gefragt. Der Aufstieg von Realgymnasien, Oberrealschulen, Technischen Hochschulen und die damit verbundene relative soziale Mobilisierung werden nicht behandelt. Die sozialkonservative Bedeutung studentischer Corps und die Entliberalisierung und Nationalisierung der Burschenschaften 384

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sind wichtig genug, hervorgehoben zu werden, aber ebenso wichtig wäre es auch, gegenläufige Tendenzen in der Entwicklung jugendlich bürgerlich-akademischer Mentalität - wie die Zunahme der Nichtkorporierten, die Zunahme des sozialreformerischen Engagements o. ä. - zu betonen; eine Charakterisierung der Jugendbewegung, über die W. auch etwas „Gutes“ sagt, als letzten Endes antimodern, antiliberal, antidemokratisch, Juden und Mädchen ablehnend, halte ich schlicht für irrig. Der Einfluß von Büchern und Richtlinien in preußischen Volksschulen wird, ζ. Β. weil die katholische oder freisinnige Orientierung von Lehrern übersehen wird, enorm überschätzt: wie jeder Blick auf die Wahlresultate und auf das Hineinwachsen der Arbeiterjugend in die Sozialdemokratie zeigt. Es ist wiederum zu sagen, daß in jeder Gesamtdarstellung vieles fehlen muß und es über manches legitimerweise unterschiedliche Ansichten gibt; mir geht es hier nicht um dieses und jenes, sondern um die Richtung eines Blickes, der im wesentlichen nur das sieht, was ins Bild paßt. Schließlich der „Konformitätsdruck“, für W. ein hervorstechendes Merkmal der Universitäten. Natürlich gab es diesen Druck und die entsprechenden Resultate, natürlich waren die Universitäten nicht „progressiv“ und nicht „links“, natürlich wurden Sozialdemokraten ausgeschlossen, Juden benachteiligt (wie der Fall Simmel zeigt) - aber die Behauptung vom gleichmäßig hohen „Konformitätsdruck“ ist trotzdem ganz irreführend. Schon die von W. gern angeführten liberalkonservativen und moderat reformerischen Kritiker bestimmter Züge des Systems (wie Hintze, Schmoller, Delbrück oder Meinecke) passen nicht recht ins Bild. Den Einfluß der Kathedersozialisten als „Obödienzausbildung“ zu bestimmen, verwischt nahezu alle wichtigen Charakteristika. Die führende Rolle der liberalen Theologie in der Ausbildung protestantischer Theologen wird in ihr Gegenteil verkehrt. Und die implizierte Identifizierung „der“ Juristen mit der Laband-Schule ist - man denke nur an Gierke - wieder eine irreführende Verzerrung. Der Aufstieg, die nationale Bedeutung und die Reputation von Figuren wie Troeltsch, Max Weber, L. Brentano oder Kerschensteiner, um nur diese zu nennen - das bleibt im W.schen Bild eigentlich ganz unerklärt, ja unerklärlich. Aber die Frage ist weit mehr als eine Frage nach dem Universitäts„klima“. Liest man Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“, vom Standpunkt des gegenwärtigen demokratischen Konsensus wie von dem der Emanzipationspromotoren sicher kein patentiert demokratisches Buch und sicher ein Erzeugnis antiparlamentarischer Traditionen und Situationen in Deutschland, aber doch sicher auch ein Buch, in dem es um die Freiheit, die individuelle, die nonkonformistische Freiheit geht, so ist Manns Schilderung mit W.s von Heinrich Manns Satire angeleitetem Bild von den Wirkungen der Sozialisationsmechanismen und des Konformitätsdrucks ganz unvereinbar. Die Rolle der Kritik, die Verstärkung der sozialreformerischen Tendenzen im bürgerlich-liberalen, im katholischen, im moderiert-konservativen, im akademischen Lager, die Revolte gegen wilhelminische Konvention, die zugegeben: un- (oder trans-)politische - Aufbruchstimmung in der Dekade vor 1914 und die Entstehung der Modernität des 20. Jahrhunderts, etwa in 385 25

Nipperdcy

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Schul- und Lebensreformen und den verschiedenen Künsten, bis zur Stadt- und Industriearchitektur, das muß einem von W. geleiteten Beurteiler ganz unerklärlich werden. Natürlich sind die letztgenannten Formen des Wandels noch vorpolitisch gewesen, und ihre Auswirkungen mögen ambivalent sein, aber daß hier grundlegende Wandlungen vor sich gingen, daß sie ins Politische hineinreichten (im Aufstieg Walter Rathenaus findet man Ökonomisches, Politisches, Kulturelles in einer eigentümlichen Modernität miteinander verbunden), das ist doch unverkennbar - und mit einer auf Erhaltung eines Herrschaftssystems, auf die Einheit eines Herrschaftskartells und die Statik der sozialen Kontrollen konzentrierten Analyse eben nicht zu erklären. Die „kritische“ Leidenschaft ist ein schlechter Ratgeber auf dem Weg zur Wirklichkeit. 4. Mein letzter Einwand konzentriert sich auf den Punkt, daß W. auch den politischen Wandel im Kaiserreich ungenügend berücksichtigt, wenn nicht verneint. Zwar spricht er vom Übergang von Bismarcks Bonapartismus zur Polykratie seit den 90er Jahren, von den scheiternden Defensivstrategien des Herrschaftskartells, dem Anwachsen der sozialdemokratischen und - schwächer der antiagrarischen Opposition, der Nationalisierung und partiellen Integration ehemals „reichsfeindlicher“ Parteien. Aber die Rolle von Parteien, Reichstag, öffentlicher Meinung, und die Herrschaftstechnik hätten sich nur unwesentlich verändert, und insofern sei es beim System geblieben, der Faktor „Zeit“ ist für die politische Geschichte über 43 Jahre hin fast stillgelegt. Die „Theorie“ von der prägenden Bedeutung der Gründungsphase hat einen unbestreitbaren Erklärungswert, zumal wenn man die institutionellen Bedingungen, die Machtbildungen und den Einfluß auf die Mentalität in Rechnung stellt; und W. bringt diesen Erklärungswert, nachdem er als erster die Theorie explizit benutzt, legitimerweise so stark wie möglich zur Geltung. Aber vieles läßt sich damit gerade nicht erklären. Das Zentrum ist schon in der Spätzeit Bismarcks aufgestiegen und seither zu einem tragenden Faktor der Reichspolitik geworden. Zuchthaus- und Umsturzvorlage sind gescheitert. Die Drohung mit der Reichstagsauflösung wurde zunehmend wirkungsloser, zumal nachdem es seit 1907 nicht mehr um „nationale“ Fragen, sondern um die Lastenverteilung ging. Nationalismus, Imperialismus und Militarismus übten, paradox gesagt, einen beachtlichen Modernisierungsdruck aus. Die Staatsstreichrhetorik wurde zunehmend illusionär. Nicht die Kandidaten der extremen junkerlich-militärischen Reaktion wurden zu Kanzlern ernannt. Die Kanzler waren zunehmend auf eine Reichstagsmehrheit angewiesen, weil die Bedeutung von Gesetzgebung und Budget in der modernen Gesellschaft immer stärker anwuchs: der Reichstag war nicht mehr „auszutrocknen“; und solche Reichstagsmehrheiten waren nicht manipulativ herzustellen. Die von W. so betonte (und sicher verhängnisvolle) Reichsfeindideologie der negativen Integration trat zurück, die Reichsfeinde der 70er und 80er Jahre, Zentrum und Linksliberale, wurden, spätestens 1907, respektierte Parteien, auf die die Regierung sich stützte und denen auch Jahre der „Ungnade“ (wie 1907/09 für das Zentrum) nichts anhaben konnten. Es gab die Blockpolitik, oder meinetwegen -episode, mit ihren Auswirkungen 386 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

auf die Exekutive: die Rücktritte von Posadowsky und Bülow. Die Parteien und Verbände haben sich seit 1909 neu gruppiert, Schwerindustrie und Fertigwarenindustrie gerieten in Konflikt, 1912 waren die antigouvernementalen Wahlabsprachen und vor allem das linksliberal-sozialdemokratische Wahlbündnis das Neue, das System stand zur Debatte, das Zentrum schwenkte unter Erzberger nach 1912 einigermaßen nach links, die Rüstungslasten wurden 1913 gegen Konservative und Teile der Regierungen vom Reichstag mit Einschluß der Sozialdemokraten durch eine direkte Besitzsteuer aufgebracht, es bestand - von Weimar her gesehen - eine „Koalition im Werden“. Die Zabern-Affaire war nicht nur, wie W. meint, die Demaskierung des militärischen Semiabsolutismus, sondern sie führt auch zur Neuordnung des Verhältnisses von ziviler und militärischer Gewalt zugunsten der ersteren. All das kommt bei W. im wesentlichen nicht vor, oder es wird als Nebensächlichkeit abgetan. Man kann vielleicht manches gegen die These von der schleichenden oder stillen Parlamentarisierung einwenden (der zunehmenden Macht des Reichstags), und ein Buch wie das vorliegende muß nicht im Detail die kontroverse Beurteilung des Jahrfünfts vor 1914 (etwa die Thesen von W. J . Mommsen oder G. Schmidt) diskutieren. Aber man kann das alles nicht mit ein paar Worten über Polarisierung, Quasi-paralyse und Dauerkrise herunterspielen und vom Tisch wischen. Nur deshalb kann W. dann bei der Frage nach der Parlamentarisierung im 1. Weltkrieg die OHL zu deren eigentlich alleinigem Urheber deklarieren und die Rolle des Reichstags mit ein paar ironischen Fragen zur Seite schieben. Es geht, noch einmal, nicht darum, dem deutschen Parlamentarismus eine hübsche Kontinuität zu verschaffen, wie W. vermuten läßt, sondern darum, einen adäquaten Begriff der Wirklichkeit und ihrer Entwicklung zu gewinnen. W.s Darstellung verfehlt diese Entwicklung, weil er eine, seine Alternative Systemstabilisierung versus Parlamentarisierung polarisierend an die Geschichte anlegt, alle Zwischenlösungen und Übergänge, die sich solcher Alternative entziehen, schroff negiert. Aber langsame und Schritt-für-Schritt-Veränderungen können von dem auf System einerseits, Systemkritik andererseits fixierten analytischen Ansatz nicht erfaßt oder begriffen werden. Zudem wirkt sich gerade hier das Verfahren des Autors, immer eindeutig sein zu wollen und offene Fragen zu vermeiden, negativ aus. Man kann die Fragen nach den politischen Veränderungen auch noch anders und grundsätzlicher stellen, und W., scharfsinnig und problembewußt, tut dies gelegentlich auch. Anders: Warum spielen Revisionismus und Reformismus letzten Endes - die ausschlaggebende Rolle in der Sozialdemokratie, warum macht das Parteizentrum zuletzt reformistische Politik? Und grundsätzlich: Warum gelingt es dem einigermaßen archaischen System mit seinem starken autokratisch-militaristisch-junkerlichen (manchem und manchmal unüberwindlich erscheinenden) Komplex, sich politisch Loyalität und Legitimität zu erhalten, ja sie zu erweitern? Wenn man, wie W., die Habermassche Theorie über das Legitimationsproblem im „Spätkapitalismus“ anwendet, dann fragt sich, wie eine Politik, die nach W. im wesentlichen den Teilhabern des Herrschafts387 25*

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kartells zugute kam, die Disparität der Einkommens- und Vermögensverteilung immer schroffer steigerte und die Entschädigungsaufwendungen minimal hielt, das leisten konnte? Aber das war gar nicht das Legitimationsproblem der Zeit, für die die Dimension von Identität und Identifizierung wesentlich war. Daß eine Prestigepolitik über 48 Jahre hin (seit 1866) als „Kompensation“ hätte ausreichen können, halte ich für eine blutleere Konstruktion, so stand es mit dem „Prestige“ des Reiches nicht. Wie soll man die Integration der „Reichsfeinde“ der Bismarckzeit, zumal aber auch der wilhelminischen Zeit, deren Diskriminierung W. mit Recht hervorhebt, bei Beginn des Krieges 1914 erklären, nicht nur der Katholiken und der Linksliberalen, der bürgerlichen, von W. so gern zitierten „Kritiker“ des Systems, sondern auch der Sozialdemokraten und der Juden? Was war aus der „negativen Integration“, die W. zum essentiellen Bindemittel des Herrschaftssystems stilisiert, geworden? Wie soll man die für die Weimarer Zeit so wesentlichen Abkommen zwischen Ebert und Groener, Stinnes und Legien, ja die Weimarer Koalition überhaupt (mag man sie alle auch, wie die „kritischen“ Historiker, negativ beurteilen) erklären, ohne auf die Lage von vor 1914 zu rekurrieren? Reichen dazu die Thesen von den sozialen Kontrollmechanismen, den Kompensationen, dem manipulierten Nationalismus, den Integrationsklammern, der unheiligen Trias von Sozialimperialismus, -Protektionismus und -militarismus, die eine strukturelle Demokratiefeindschaft fixierten, aus? Das Scheitern der Ablenkungsstrategien und der Begünstigungspolitik ist oft genug festzustellen. Soll man an die große Manipulation zur Sicherung des Herrschaftssystems glauben? W. versucht, diesen Fragen dadurch zu begegnen, daß er den kumulativen und langfristigen Effekt all der unterschiedlichen, aber letzten Endes demselben Ziel dienenden Herrschaftstechniken betont. Mir scheint dieser Versuch mißlungen: Was zu erklären ist, kann so nicht erklärt werden. Das „Bild“ bleibt einseitig. Die autonomen Faktoren im gesellschaftlich-politischen System, die Risse und Sprünge im Herrschaftssystem, die sozialen und die politischen Wandlungen, die auf die Dauer auch das System selbst berühren mußten und berührten, die Zwischenlösungen und Übergänge, die Alternativen, die sich W.s Polarisierung von Systemstabilisierung und Demokratisierung entziehen, alles wird nicht, oder nicht genügend, berücksichtigt, die relative Stabilität des Systems (und seine „Leistungen“) nicht erklärt, die ungelösten Antagonismen der deutschen Politik und Gesellschaft werden auf Funktionen im Prozeß der Herrschaftsstabilisierung reduziert, gemeineuropäische Tendenzen jeweils auf ihren „großpreußischen“ Nenner gebracht. Die Weimarer Republik, die doch nicht von vornherein zum Untergang verdammt war, wird de facto aus dem Geflecht der Kontinuitäten herausgenommen. Die Faszination des Buches ist seine - nicht simple, aber doch klare - Eindeutigkeit, die Eindeutigkeit einer „bösen“ Geschichte, mit den Bösen, vielen Schwachen und wenigen und zumeist schwachen oder sich verstrickenden Guten, ein kunstvolles Schwarzweißgemälde, das Kaiserreich auf der Anklagebank mit einem selten scharfsinnigen Juristen als Ankläger (und zuletzt als Richter). Das ist es, was 388 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

zugleich meine Kritik provoziert. Eine partielle und leidenschaftliche und kaum etwas offen lassende Ansicht in einem Buch, das vornehmlich für Studenten geschrieben ist, droht zum festen „Besitz“ künftigen historischen Bewußtseins zu werden. Es geht nicht darum, man muß es leider immer wieder betonen, dem „negativen“ Bild vom Kaiserreich ein „positives“ gegenüberzustellen, der „Kritik“ mit „Apologie“ zu begegnen, sondern darum, mit einem aufgeklärten historischen Bewußtsein und der historischen Gerechtigkeit des Historismus diese Kategorien hinter sich zu lassen. Vielleicht läßt sich das halbe Jahrhundert deutscher Geschichte, von dem hier die Rede war, künftig nur noch im internationalen oder doch europäisch-atlantischem Vergleich schreiben, um die Fixierung an den Kampf mit den Urgroßvätern und die Einseitigkeiten eines Treitschke redivivus zu übersteigen.

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16. Die deutsche Studentenschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik Die heutige studentische Selbstverwaltung (1961) erscheint nicht nur dem Außenstehenden in mancher Hinsicht problematisch. Es fehlt an klaren Aufgaben und Funktionen, die Beteiligung ist gering, gelegentlich überwiegt der bloße Betrieb betriebsamer Leute, es entsteht leicht der Eindruck, als ob es sich um ein überliefertes Organisationsschema handele, das nicht eigentlich, nicht sinnvoll mehr erfüllt werde, das ohne genügende Substanz sei; damit hat diese Institution freilich nur in besonderer Weise teil an der Problematik der Selbstverwaltung in einer durchorganisierten und bürokratisierten Massengesellschaft. Ganz anders war es nach dem ersten Weltkrieg, als die heute bestehende Form studentischer Selbstverwaltung begründet wurde. Sie entstand aus einer wirklichen Bewegung, die über Geschäftigkeit und Aufgeregtheit hinaus von Schwung und Intensität, von echter Leidenschaft und tatkräftigem Einsatz getragen, von Erwartungen und Hoffnungen erfüllt gewesen ist. Dieser Bewegung, ihrer organisatorischen Leistung und ihrer Problematik, gilt unsere Darstellung. - Die Frage, wieweit sie für die damalige studierende Generation repräsentativ war, ist nicht eindeutig zu beantworten. Aktive Resonanz fand sie nur bei einer Minderheit, ein größerer Teil der Generation blieb ihren Organisationsversuchen gegenüber skeptisch oder war anders engagiert und daher ohne intensives Interesse. Insofern geht es hier um Tun und Werk einer Minderheit. Trotzdem aber hat die Bewegung zum guten Teil repräsentativen Charakter, weil Denken und Fühlen, Wollen und Handeln der Generation auch in die Organisation mündeten und in ihr laut wurden, weil sie fragmentarisch und ungleichmäßig, aber doch nicht einseitig und nicht verfälschend, den Geist der Generation spiegelte. In diesem Sinne suchen wir in der Geschichte der Organisation auch die bewegenden Tendenzen der Generation.

I. Begründung der Organisation In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg hatte es Spannungen zwischen den Korporationen und den nicht-korporierten Studenten, den „Finken“ oder „Freistudenten“, gegeben, die zumal seit dem Eintritt einer von der Jugendbewegung ergriffenen Generation noch zunahmen. Es ging zunächst um nicht sonderlich wesentliche Dinge, um Repräsentation bei Universitätsfeiern oder um die Teilnahme an der Verwaltung von Einrichtungen, die, wie z. Β. Büchereien, für alle Studenten bestimmt waren. Dann tauchten Vorstellungen auf, 390

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daß es eine Gesamtverantwortung einer studierenden Generation gebe, die von sich aus Initiativen - der Selbsthilfe, der sozialen Aktivität, der Bildung entwickeln müsse, und diese Vorstellungen fanden ihren Niederschlag in einer Reihe von organisatorischen Vorschlägen. Aber sie konnten nicht realisiert werden, die Klassen- und Konfessionsspannungen im wilhelminischen Deutschland waren auch unter der Studentenschaft zu stark. Das Bestehende schien gut genug, es gab keinen hinreichenden Zwang zur Veränderung. Krieg und Kriegsende erst haben dann eine neue Situation geschaffen. Nach Vorbereitungen im letzten Kriegsjahr wurden im Winter 1918/19 an allen deutschen Hochschulen Allgemeine Studentenausschüsse (ASTA) gegründet, relativ häufig fanden große Studentenversammlungen statt. Im Juni 1919 konstituierte sich die „Deutsche Studentenschaft“ als Gesamtorganisation aller deutschen Studenten - später als Dachverband der ASTA -, sie hielt eine Reihe bedeutender, sehr erregter Studententage und Spezialtagungen ab, der Göttinger Studententag von 1920 war - nicht nur wegen der Reden von C. H. Bekker, Troeltsch und Brandi - der geistige Höhepunkt der ganzen Bewegung. Im September 1920 wurde durch Verordnung des preußischen Kultusministeriums ein „Studentenrecht“ geschaffen, d. h. die studentische Selbstverwaltung wurde staatlich institutionalisiert und durch staatlich eingezogene Zwangsbeiträge für jeden einzelnen verbindlich gemacht. Die übrigen deutschen Länder folgten mit ähnlichen Bestimmungen. Träger der Bewegung waren Angehörige der heimkehrenden Kriegsgeneration. Einzelne ergriffen die Initiative, brachten die Sache in Gang, dann haben vor allem die Korporationen als die herkömmlich stärkste organisierte Gruppe mitgearbeitet, aber auch die freideutschen Bünde und die sich bildenden politischen Gruppen. Doch gilt für die Anfänge, daß die Bewegung auch durchaus für nichtorganisierte einzelne offen war. Bei der Gründung des Gesamtverbandes 1919 wurde Göttingen zum Vorort bestimmt, und die Göttinger Studenten wählten Otto Benecke zum Vorsitzer1. In dem Jahr seiner Amtstätigkeit hat im wesentlichen er die Institutionalisierung und staatliche Anerkennung der Selbstverwaltung gegen manche Widerstände durchgesetzt und gesichert, er hat die ministerielle Verordnung über die Ausschüsse entworfen und mit dem Ministerium durchberaten. Unter seiner Leitung hat sich der Verband, der mit kaum glaublicher Leidenschaft um seine innere Verfassung, um die Befugnisse der Verbandsführung gegenüber ASTA und Bezirksgruppen und gegenüber den Delegiertenversammlungen rang, organisatorisch konsolidiert und zwischen den divergierenden, zur Politisierung strebenden und ζ. Τ. unrealistisch radikalen Tendenzen einen zunächst anscheinend für alle gangbaren Weg gefunden. Benecke und die anderen ersten Führer des Verbandes haben - ideenbeseelt wie die ganze Bewegung - doch im Wirrwarr vielfältiger Pläne und Tendenzen nüchtern das Mögliche verfochten, die angestrebte Synthese zwischen Interesse und Geist in eine, freilich vorläufige und wieder zerfallende, Gestalt gebracht. Benecke hat dann auch weiterhin als außerordentliches Vorstandsmitglied und „Ältester“ Organisation und 391 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Geist des Verbandes mitgeprägt und nach Abschluß seines Studiums mit einem informellen Kreis gleichgesinnter früherer studentenschaftlicher Führer, dem „Kreis Benecke“ (1922-1924), tätigen Anteil am Schicksal des Verbandes genommen. Wir fragen nun nach den Motiven und Tendenzen, die in dieser studentischen Bewegung wirksam waren, die zum Aufbau eigener Institutionen geführt und deren Wirksamkeit bestimmt haben, fragen nach dem Geist, der in dieser Bewegung lebte.

II. Selbsthilfe Zunächst ging es darum, den wirtschaftlichen Nöten der Studenten beizukommen. Die vor 1914 nur in Ansätzen vorhandenen sozialen Probleme hatten sich im Zeichen der Niederlage erheblich verschärft, ja erst eigentlich entwikkelt. Die meisten Studenten waren Kriegsteilnehmer, deren finanzielle Mittel, die von den Familien aufgebracht wurden, infolge der Verspätung ihres Studiums, infolge der Massierung von Jahrgängen an den Universitäten und infolge des im Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft verringerten Volkseinkommens begrenzter waren als in der Zeit vor 1914. Die zunehmende Teuerung hatte die Kaufkraft des Geldes erheblich vermindert. Der starke Zustrom von Studenten und die Tatsache, daß während des Krieges die Bautätigkeit darniederlag, führten zu einem akuten Wohnungsmangel, der ζ. Β. die Ge­ setzgebung zur Einführung eines Mieterschutzes veranlaßte, und zu stark überhöhten Zimmerpreisen. Die Ernährungslage blieb zunächst noch sehr angespannt. Niederlage und Revolution verminderten die Berufschancen des einzelnen. Diese Not forderte unmittelbar zur Selbsthilfe heraus, zu einer Selbsthilfe, die von einer gemeinsamen Organisation der Studentenschaft getragen sein sollte. Darum gründete man Studentenausschüsse. Ihre Aufgabe war es, Arbeits- und Wohnungsvermittlung zu installieren, den Wohnheimbau anzuregen und voranzutreiben, Mensen einzurichten und in Betrieb zu halten, den Bezug von Konsumgütern zu erleichtern, Stipendienmittel zu beschaffen und zu verteilen, Kranken- und Unfallversicherung zu organisieren, Rechtsberatung und Berufsberatung ins Leben zu rufen; z. Τ. haben sie auch durch freiwilligen Ar­ beitseinsatz von Studenten die Kohlenversorgung der Universitäten sichergestellt. Bei der Bewältigung all dieser Aufgaben haben sie Beachtliches geleistet. Aber die Selbsthilfe diente nicht nur der Beseitigung oder Milderung wirtschaftlicher und sozialer Not. Die Initiatoren und zumal die Vertreter des Staates, die sie unterstützten, an ihrer Spitze C. H. Becker, legten den gleichen Nachdruck auf ihren pädagogischen Sinn. Sie sollte nicht nur im Ergebnis Klassenunterschiede innerhalb der Studentenschaft bis zu einem gewissen Grade ausgleichen, sondern schon die Organisation der Selbsthilfe sollte gemeinschaftsbildend wirken, Kameradschaft und Solidarität wachhalten, Initiativen 392 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

wecken, in praktischer Arbeit den Sinn für das Tunliche und Mögliche bilden. Daß der Selbsthilfe diese Funktion zugedacht wurde, war bezeichnend für den Geist, der in diesen Gründungen waltete. Freilich, das galt nur für die Anfangszeit; auf die Dauer konnten die wirtschaftlichen Einrichtungen der Selbsthilfe nicht in der Hand der Studentenschaft bleiben, die Arbeitslast und die finanzielle Verantwortung, die durch das Bestehen großer Organisationen gegeben war, konnten von ständig wechselnden Studenten nicht übernommen, die notwendige Sachkenntnis nicht erwartet werden. Nach wenigen Jahren haben sich diese Einrichtungen verselbständigt und standen nur noch in loser Verbindung mit der Studentenschaft. Zudem trat nun neben die Selbsthilfe in weit größerem Maße die Staatshilfe. Immerhin: Die Studentenwerke, in denen die Hilfseinrichtungen zusammengefaßt waren, beruhen auf der Initiative und der Leistung der Studentenschaft. Auch die Gründung der Studienstiftung des Deutschen Volkes (1925) ist zum guten Teil ein Ergebnis der Bemühungen der studentischen Organe und Führer, das Ergebnis ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den staatlichen Verwaltungen.

III. Interessenvertretung Neben der Selbsthilfe war es die Notwendigkeit einer gesamtstudentischen Interessenvertretung, die zur Organisation drängte. Für die Kriegsteilnehmer und die Studenten aus den abgetretenen oder besetzten Gebieten waren zahlreiche Sonderregelungen notwendig, Zwischensemester, Änderungen von Prüfungsbestimmungen, Ermäßigung der Verkehrstarife und dergleichen. Später ergaben sich ähnliche Probleme aus dem militärischen Einsatz von Studenten als Zeitfreiwilligen und aus der Teilnahme von Studenten an der neu gegründeten Technischen Nothilfe. Auch gegenüber Änderungen der Gebührenordnung, die bei der steigenden Inflation unvermeidlich wurden, wollten die Studenten ihre Interessen durch Eingaben und Rücksprachen zur Geltung bringen. Um die hier gestellten Aufgaben zu erfüllen, war eine legitimierte Vertretung der Studentenschaft, war wiederum Organisation notwendig. Natürlich war solche Interessenvertretung nur möglich infolge der Revolution, die den Obrigkeitsstaat beseitigt und die gesellschaftlichen Kräfte stärker als bisher entbunden hatte, ihnen stärkere Einwirkung auf den Staat erlaubte, ja den Staat fast zu einem Produkt der gesellschaftlichen Machtverhältnisse werden ließ. Wo alle möglichen Gruppen sich organisierten, weil sie glaubten, nur so dem Volksstaat gegenüber Ansprüche geltend machen und sich ohne Schutz eines sogenannten neutralen Staates gegenüber anderen Gruppen behaupten zu können, wo die Räte-Idee beruflicher Selbstverwaltung und politischer Mitbestimmung breite Resonanz fand, da sollten auch die Studenten nicht fehlen. Infolge der zunehmenden wirtschaftlichen Nöte der Studenten hielt der soziale Interventionsstaat mit Begabtenförderung und Unterstützung 393 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

der Studentenwerke Einzug in die Universität, und die studentischen Vertretungen gewannen darum eine legitime fordernde und beratende Funktion. Zu dem resoluten Vertreten von Gruppeninteressen gehörte dann wie bei allen Interessenbewegungen der Zeit auch das hartnäckige Streben nach staatlicher Anerkennung. Nur in diesem Zusammenhang sind gewisse ständische Tendenzen, meist im Anschluß an die den Fachrichtungen entsprechenden Berufsgruppen, innerhalb der Studentenschaft verständlich; hierher gehören etwa Unbegriffe wie der von der Studentenschaft als einer „Gewerkschaft lernender Kopfarbeiter“. Freilich blieb derlei vereinzelt, und sehr bald legte man sich ausdrücklich auf eine begrenzte und sachlich legitime Interessenvertretung fest. Immerhin trat man vor den Wahlen von 1920 - wie alle Interessenverbände - an die Parteien heran und bat sie um Stellungnahme zu bestimmten studentischen Forderungen, eine von den Führern der Organisation schon nicht mehr ganz ernst genommene Konzession an extreme Vorstellungen von Interessenvertretung; die Parteien antworteten entgegenkommend und genauso allgemein, wie die Bitten formuliert waren. Sachlich richteten sich die Forderungen der Studenten einmal auf die Regelung der erwähnten Einzel- und Sonderfragen. Sodann auf Staatshilfe als das notwendige Komplement der Selbsthilfe, als Existenzerleichterung für diejenigen, die dem Staat gedient hatten und noch dienten. Endlich - und das ist in unserem Zusammenhang das wichtigste - vertrat die Studentenschaft Interessen im Bereich der Hochschulpolitik. Dabei beschränken wir uns zunächst auf die eigentlich politische und interessenverflochtene Seite der Stellungnahme zur Hochschulpolitik und lassen die allgemein-kulturellen Fragen einer „inneren“ Hochschulreform noch beiseite. Die Studentenschaft verteidigte den herkömmlichen Status der deutschen Hochschule gegen die unmittelbar nach der Revolution vordrängenden radikalen Angriffe und Reformpläne. Es wurde etwa gefordert, einem technizistischen Denken gemäß die Bildung von der Fachbildung, die Forschung von der Lehre zu trennen, die Hochschulen in Fachschulen umzuwandeln; die Verfechter klassenpolitischen Egalitätsdenkens wollten den Zugang zur Universität erleichtern und die akademischen Grade und Titel einschränken, Anhänger totalitärer Demokratie oder revolutionärer Diktatur griffen die Autonomie der Hochschulen als Stätten freier Forschung und Lehre an und suchten, sie dem Diktat der Gesellschaft zu unterwerfen. Gegen solche Versuche stellte sich mit den Universitäten auch die Studentenschaft, sie unterstützte die Beckerschen Bestrebungen, die Hochschulautonomie nach Fortfall des „neutralen“ Staates, und also im Ringen der gesellschaftlichen Mächte um diesen Staat, stärker zu sichern. Natürlich spielte bei der sachlich berechtigten Abwehr auch ein gut Teil Klasseninteresse mit. In einer Organisation, die die Gesamtheit einer nicht politisch formierten und nicht unbedingt klassengebundenen Gruppe zusammenfaßte, war eben das politische Handeln ambivalent, an sich neutral konnte es demokratisch wie antidemokratisch motiviert oder ausgelegt werden. Das Hoch394 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

schulproblem war seit der Revolution nicht nur ein sachliches, sondern ein Klassenproblem. Im Kaiserreich war die akademische Schicht, in gewissem Maße auch die Universität, durch ökonomische und soziale Privilegien und durch eine bestimmte Form nationaler Gesinnung der herrschenden Staats- und Gesellschaftsordnung verbunden gewesen, und zwar obwohl sie nahezu jeder Kritik Freiheit und Raum ließ. Der Fall dieser Ordnung bedrohte die eigene Stellung. Die Übernahme des Staates durch die Parteien, insbesondere durch die Linksparteien, schien das Monopol der Akademiker auf die höheren Beamtenstellen und überhaupt auf Führungspositionen zunichte zu machen; eine aristokratisch gesonnene Minderheit, die den Anspruch auf Führung der Nation zu erheben geneigt war, sah sich durch die Herrschaft im Namen der Massen bedroht. Die Linksparteien bekämpften das sogenannte Bildungsprivileg, auch Nichtradikale suchten ζ. Β. den Zugang zur Universität für Volksschullehrer oder Absolventen eines zweiten Bildungsweges zu öffnen oder den Stand der Volksschullehrer durch Universitätsbildung aufzuwerten und jedenfalls den Klassencharakter der Universität zu modifizieren. All das verminderte die traditionellen Berufs- und Prestigechancen eines Studenten, erhöhte den Konkurrenzdruck, dem er ausgesetzt war. Dagegen machten sich in der Studentenschaft unter und neben den sachlichen Argumenten natürlich auch Klassensentiments bemerkbar, in einer Art emotionaler Standessolidarität nahm man - u. a. auf der Reichsschulkonferenz - gegen solche klassenpolitisch motivierbare Reformpläne entschieden Stellung. Wo die Fragen vorurteilslos angegangen und nur die reformerischen Methoden verworfen wurden, hat man sich immerhin gewisse Motive der Reformer zu eigen gemacht und versucht, sie in anderer Weise zu realisieren. Das Problem der Demokratisierung der Universität, der Abbau einer Privilegiengesellschaft wurde dann zu einer Frage der Begabtenförderung, die Studienstiftung wurde die Institution, in die diese Motive eingingen.

IV. Teilnahme an der Selbstverwaltung der Hochschulen Wesentlich umgebildet erscheint der Gedanke der Interessenvertretung in der Idee der studentischen Mitverwaltung und Mitverantwortung innerhalb der Universität. Die aus dem Krieg heimkehrende Generation hatte ein solches Maß an Lebenserfahrung und Mündigkeit gewonnen, daß sie sich nicht einfach in eine als patriarchalisch-autoritär empfundene Ordnung einfügte, der pädagogische Bezug zwischen Lehrenden und Lernenden war verändert. Und das entsprach auch den epochalen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur, der politischen Wertordnung und des Verhältnisses der Generationen. Die neue Situation sollte nach Meinung der an der Organisation aktiv Beteiligten konkrete Konsequenzen haben; die Studentenschaft sollte in studentischen Angelegenheiten der Universitätsverwaltung ein Recht zur Mitsprache und mindestens das Recht auf Gehör erhalten. Diese Forderung war möglich geworden erst auf 395

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dem Boden einer nicht mehr obrigkeitlichen Ordnung, die Demokratie war ihre Voraussetzung. Aber es ging dabei wesentlich nicht um einen Machtanteil, sondern um eine eigentliche Teilnahme an den Maßnahmen der Universität, ein Mittragen und Mitverantworten ihrer Entschlüsse. Die genossenschaftliche Verfassung mancher mittelalterlicher Universitäten wurde - ein wenig romantisch - als Vorbild apostrophiert, die Struktur der Hochschule als einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden sollte auch im Institutionellen sichtbar und wirksam werden. Dazu aber bedurfte es zunächst wiederum repräsentativer Organe der Studentenschaft, bedurfte es der Bildung der Ausschüsse. C. H. Becker hat, vor allem weil er den erzieherischen Sinn der Mitverwaltung hoch einschätzte, die darauf zielenden Tendenzen nach Möglichkeit gefördert. Freilich: Die Vorstellung von der Universität als ganzheitlicher Körperschaft, in der die Studenten nicht nur Objekte, sondern Subjekte innerhalb der Institution seien, diese Vorstellung und die Möglichkeit, die daraus abgeleitete Mitverwaltung zu realisieren, klafften weit auseinander. Es gab das in seiner Bedeutung noch stark überschätzte Disziplinarwesen, es gab den Austausch mit dem Ausland, es gab die Regelung des Gebührenerlasses. Die Studentenschaft wurde an den hier zuständigen Organen beteiligt, ihr Mitspracherecht anerkannt. In informeller Weise konnte sie an Beratungen über Studienpläne und Umgestaltung des Lehrbetriebs teilnehmen, den gelegentlich erstrebten Sitz im Senat hat sie nicht erreicht. Im ganzen: die Studenten wurden von Regelungen, die sie als Bevormundung empfanden, befreit, ihre Stellung in der Universität formal verstärkt, aber der reale Bereich positiver Mitverantwortung erwies sich auf die Dauer doch als sehr schmal, eine neue Gesinnung konnte sich hier kaum bilden, praktisch wurde die Mitverwaltung eine Routineangelegenheit der jeweiligen Funktionäre.

V. Die Studentenschaft als Gemeinschaft Selbsthilfe, Interessenvertretung, Mitverwaltung - bald trat als konkrete Aufgabe noch die Pflege von Beziehungen zum Ausland hinzu -, das hätte allein das Entstehen einer Organisation studentischer Selbstverwaltung begründen und ihr einen Inhalt geben können. Aber es war noch ein anderer, mindestens gleich starker Strang von Motiven wirksam. Sie knüpften sich an die Vorstellung von etwas an, was man mit Arndt ein „Studentenreich“ nennen kann. Die Fragen und Probleme, die eine studierende Generation, und eine so erregte und auf Aufbruch gestimmte Generation wie die der ersten Nachkriegszeit zumal, bewegten, sollten ausgesprochen und gemeinsam diskutiert, die Erlebnisse, die sie insgesamt trafen, gemeinsam bewältigt werden, die Aktivitäten, die sie erfüllten, in gemeinsame Taten münden. Man wollte intensive und lebendige geistige Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Zeit, wollte Selbstklä396 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

rung und Selbstbesinnung, wollte das Insgesamt vielfältiger Ideen zur Sprache bringen, darin und darüber nach Möglichkeit einen gemeinsamen Standpunkt erarbeiten, wollte sich selbst bekunden. Die Organisation war das notwendige Forum; sie sollte jenseits des unmittelbaren Gruppeninteresses noch eine gemeinsame Gruppenmeinung repräsentieren. Aber sie sollte sie auch gestalten, sollte den gemeinsamen Überzeugungen wie den gemeinsamen Zielen bei ihren Angehörigen Raum und Tiefe schaffen. Die Studentenschaft war gedacht als eine Form der Selbstgestaltung studentischen Lebens, als Erziehungsgemeinschaft. Und zu dieser Erziehung gehörte auch die Vorbereitung auf die Mitarbeit an den allgemeinen Problemen der Nation. Denn im Unterschied von der frühen Jugendbewegung und ihrem Jugendreich etwa fühlte sich die Studentenschaft immer aufs engste verbunden mit dem allgemeinen Schicksal von Kultur und Nation. Die Organisation sollte nicht nur Gemeinschaft der Selbstbekundung und Erziehung sein, über sie wollte vielmehr die Studentenschaft ihre Vorstellungen auch in Wort und Tat nach außen tragen, an ihrem bescheidenen Teil den Gang der Ereignisse beeinflussen und zumal das Bewußtsein der Gesamtnation mitformen, sie wollte am geistigen und nationalen Wiederaufbau des Volkes mitarbeiten. Von diesen ihren ideellen Zielen her war die Organisation mehr als eine Konsequenz des Koalitionsrechts, sie war auch so etwas wie eine geistige Bewegung. Hinter den gemeinsamen Zielen und Inhalten stand als bewegendes Moment bei allen, die an der Gründung Anteil nahmen, die Idee einer Gesamtverantwortung der Studenten, die Idee einer gesamtstudentischen Gemeinschaft. Diese sollte nicht durch gleiche Situation, gewissermaßen objekthaft, konstituiert sein, sondern durch ein subjektiv erfülltes und ergriffenes Miteinander, ein Miteinander, das statt eines toten Faktums lebendige Gestalt und darin auch Aufgabe war. Die Zwistigkeiten und Zwiespalte der Vorkriegszeit sollten überwunden werden. Der Glaube an das Gemeinsame hat - zusammen freilich mit einer gewissen ökonomischen Nivellierung - vor allem die selbstgewählte Isolierung der Korporationen durchbrochen. Das Gemeinschaftsverlangen, das Solidaritätsbewußtsein ihrer Angehörigen setzte sich jetzt über die von den alten Herren errichteten Schranken hinweg, man nahm teil an den gemeinsamen Institutionen und der gemeinsamen Verantwortung; der Versuch freilich, die Gemeinsamkeit in einer für Korporierte wie Nicht-Korporierte verbindlichen Ehrenordnung zum Ausdruck zu bringen, ein Versuch, der an eine wichtige, aber doch schon verblassende gesellschaftliche Wirklichkeit anknüpfte, scheiterte. Aber die alte Kluft schien sich doch zu schließen. Und die neue, fast übertrieben betonte Gemeinsamkeit sollte auch nicht parteimäßig zerspalten werden. Reaktionäre und Reformer schlossen sich 1918 um der gemeinsamen Aufgaben willen in einer Organisation, der Studentenschaft eben, zusammen; dabei waren Einheitsbewußtsein und Einheitswille stärker als irgendwelche taktischen Gesichtspunkte, starker als die Hoffnung, die Gesamtorganisation politisch mit der eigenen Tendenz überformen zu können. 397 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Das Zusammengehörigkeitsbewußtsein vor allem also führte zur Bildung der „allgemeinen“ Studentenausschüsse und der alle Studenten umfassenden Deutschen Studentenschaft. Das waren die Institutionen, die praktische Aufgaben lösen und zugleich etwas vom Geist der Studenten repräsentieren und gestalten sollten. In und mit diesen Funktionen war die Tatsache, daß sie die studentenschaftliche Einheit verkörperten, selbst schon ein Wert. Ausschüsse und Verband waren schon Faktum, ehe eigentliche Ziele sich aus einem unklaren Gewoge des Meinens oder aufgeregter Geschäftigkeit herauskristallisiert hatten. Weil man aber wußte, daß eine solche Einheit der gesamten Studentenschaft nicht aus ständiger Freiwilligkeit leben konnte, drang man auf die Konsolidierung der eigenen angreifbaren Existenz durch staatliche Legalisierung, auf Allgemeinverbindlichkeit, auf die Zwangsorganisation. Stimmung und Überzeugung sollten vor der Gestaltlosigkeit und der Zerfahrenheit durch die Realität der Institution bewahrt werden. Zwangsmitgliedschaft und Zwangsbeiträge galten nicht als etwas Negatives, man glaubte an einen brüderlichen Geist, der jedem die Zugehörigkeit ziemlich selbstverständlich sein ließe, und wollte gerade das Recht dieser Zugehörigkeit sichern. Trotz mancher Widerstände gegen die staatliche Institutionalisierung der ASTA, die ein Aufsichtsrecht des Staates, Anerkennung der Verfassungsgrundsätze und also der Republik einschloß, hat sich diese Linie durchgesetzt. Für die Vertreter des Staates, für C. H. Becker war dabei entscheidend die pädagogische Funktion der Selbstverwaltung, die auch für viele der studentenschaftlichen Führer besondere Bedeutung hatte. Selbstverwaltung selbstgestellter oder delegierter Aufgaben sollte im kleinen Bereich Verantwortungsgefühl, Selbständigkeit, praktischen Sinn und Fähigkeit zu einer quasi - politischen und doch sachlich bestimmten Zusammenarbeit bilden, sollte ein Weg zur Bildung grundständiger Demokratie sein. Ideen der preußischen Reform fanden hier in einem eigenen Bereich noch späte Nachfolge. Für die Gruppe der Gründer und ersten Führer schossen die lebendigen Tendenzen der studentischen Generation in der Idee der Selbstverwaltung zusammen. Sie sollte das gemeinsame Gebäude für gemeinsame Inhalte sein, und man hat daher viel Zeit und Kraft auf Organisation und Verfassung der einzelnen Institutionen verwandt. Das ist im einzelnen heute nicht mehr interessant. Für uns kommt es wesentlich auf die Inhalte an. Was bewegte die Studentenschaft, was wurde in ihrer Organisation laut, wofür hat sie sich eingesetzt?

VI. Selbstbesinnung Die Themen der Diskussionen, der Tagungen, der Publizistik waren, soweit sie über die konkreten Nöte hinausgingen, zunächst durch Krieg und Niederlage gestellt. Man rang darum, das Schicksal zu bewältigen und zu deuten, als Prüfung, als Möglichkeit der Katharsis zu verstehen; aus einem wachen Gegen 398 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

wartsbewußtsein kritisierte man den Wilhelminismus und den abstrakten Idealismus der Vätergeneration, der vor der Erfahrung des modernen Krieges und seiner Schrecken nicht bestand, bemühte man sich leidenschaftlich um „Verinnerlichung“, um eine neue Echtheit. Man mußte in der neuen Welt und Ordnung einen Standort finden, die Selbstprüfung war Mühen um Selbstvergewisserung. Es ging um die Funktion von Bildung und Kultur im Gesamtleben der Nation, um ihre Bewahrung und die Bewahrung ihres nationalen Charakters, um ihren Beitrag zu einer neuen Gestalt des Lebens, um Kulturkrise und Kulturkritik. Es ging um die Stellung des Akademikers in der Gesellschaft, um seine Funktion beim Wiederaufbau, beim erhofften Wiederaufstieg der Nation. Wenn dabei anfangs häufiger von einer Führungsfunktion des Akademikers gesprochen wurde, so sollte nicht ein zweifelhaftes Faktum in einen noch zweifelhafteren Anspruch pervertiert werden, sondern es sollte auch mit solch mißverständlicher Rede nur eine Verpflichtung zum Dienst am Ganzen ausgedrückt werden. Am meisten aber erfüllten und bewegten die Studentenschaft die Ideen der Hochschul- und Bildungsreform, die nationale Idee, die Idee der Volksgemeinschaft und überhaupt das Verhältnis zur Politik. Darauf ist nun näher einzugehen.

VII. Hochschulreform Die Probleme der Bildung und insbesondere der Hochschule zunächst bewegten, ja beunruhigten die Generation. Hier verknüpften sich Interessenvertretung, Meinungsbildung und Versuche, gewonnene Meinungen in die Tat umzusetzen. Darüber wurde in den Vorständen, in besonderen Kommissionen und Ämtern, auf besonderen Tagungen und in der Publizistik, innerhalb der Organisation dann zumal in den „Fachschaften“ breit diskutiert, und diese Diskussion fand auch über den Kreis der sonst an der Organisation anteilnehmenden Studenten hinaus Resonanz. Im Mittelpunkt standen nicht die rechtliche und organisatorische Form der Hochschulen und nicht die Frage der Zulassung zur Hochschule, so eindeutig die Organisation in diesen Fragen Stellung bezog. Für die geistige Auseinandersetzung waren primär die Fragen der „inneren“ Hochschulreform. Das Grundmotiv aller Überlegungen, noch in allen tumultuarischen Diskussionen, noch hinter wirren Ansätzen und manchen Verstiegenheiten erkennbar, war das Ungenügen am herrschenden Wissenschaftsbetrieb. Es war das Leiden an der Aufsplitterung der Wissenschaften, der Spezialisierung, das Leiden am Positivismus, der den primären Hunger nach solidem Wissen befriedigte, aber darüber hinaus nur noch deutungslos Fakten lieferte, das Leiden am Historismus, der jede Verbindlichkeit, jeden Halt zerstörte und den einzelnen in den Kampf endlos widerstreitender Götter hineintrieb und der nach dem Fortfall eines staatlich autorisierten Wertesystems noch schärfer empfunden wurde, war 399 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

das Leiden an einer verlorenen Unmittelbarkeit, an einem - wie man später sagte - mangelnden existenziellen Bezug der Wissenschaft zum Leben. Und so sehr man es verwarf, daß die Wissenschaft, die Universität unmittelbar in den Dienst der Interessen des Staates und der Gesellschaft gestellt würden, so sehr sollten sie doch in stärkeren Zusammenhang mit Volk und Nation kommen und hier ihren - nicht nur sehr mittelbar einsichtigen - Dienst leisten, die Nation geistig zusammenwachsen zu lassen. Die studierende Generation verlangte nach umfassender Orientierung, nach Bildung in oder neben der bloßen Ausbildung, nach „Persönlichkeitsbildung“, die durch die Berührung mit der Forschung scheinbar nicht mehr geleistet wurde, nach verbindlicher Weisung. Sie wandte sich gegen einen bloßen Intellektualismus, denn sie wollte - mit einem Un-Begriff der Zeit gesagt - das Irrationale auch in der Wissenschaft erfahren. Die spätbürgerliche Verzweiflung am puren Geist suchte Tat, Seele, Erlebnis in den Bereich dieses Geistes einzuführen, suchte Intensität des Lebens in der Wissensvermittlung und suchte sie nicht durch Steigerung des Wissens, sondern durch Intensivierung des Lebensbezuges zu realisieren. Es war die Zeit, in der wissenschaftliche Bücher im Stile des Expressionismus geschrieben werden konnten, in der der George-Kreis in den Wissenschaften seine große Stunde hatte, in der Ernst Bertram in seinem Nietzschebuch sagen konnte, daß alle Historie zuletzt je zu erneuernde Legende, Versuch einer Mythologie, sein müsse. Max Weber hat sich in seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ mit dieser Stimmung auseinandergesetzt, er hat die Legitimität der zugrunde liegenden Frage: Was sollen wir tun? anerkannt, aber die Unzuständigkeit der Wissenschaft für eine Antwort großartig, männlich-pessimistisch aufgewiesen. Jedoch war die Unruhe, in der Jugendbewegung und Expressionismus, Zivilisationskritik und Aufgewühltheit durch den Krieg, Anti-Rationalismus und Totalitätsverlangen, Verlust herkömmlicher Sekurität und Sehnsucht nach Vorbildern oder nach einer quasi-religiösen Durchtränkung der Wirklichkeit zusammenflossen, durch solchen Aufweis nicht aus dem Bereich der Wissenschaft zu verbannen. Denn Kritik und Skepsis waren nur das eine Moment im Verhältnis zur Wissenschaft, gleichgewichtig standen daneben Verehrung und Erwartung. Eine Reform des Universitätsbetriebes sollte und konnte selbstverständlich, auch wenn sie von anscheinend außerwissenschaftlichen Gesichtspunkten geleitet war, nur innerhalb der Wissenschaften Realität gewinnen. Die Einzelwissenschaften sollten ihre Gesichtspunkte, ihre Betrachtungsweisen modifizieren, um einen stärkeren Lebens-, Gegenwarts-, Sinnbezug zu gewinnen, sie sollten Wertmomente und Welthaltungen herausarbeiten und so den Lernenden vor Alternativen bringen, und hierbei konnte man an Tendenzen innerhalb der Wissenschaften selbst anknüpfen. Darüber hinaus suchte man, die Enge der Einzelfächer durch ein Studium generale zu sprengen. Beide Tendenzen verflochten sich in der Idee einer sogenannten „humanistischen Fakultät“. In ihr sollte ein dem Fachstudium vorgeschaltetes Studium generale institutionalisiert werden. Zugleich sollten in ihr Weltanschauungslehre und Soziologie, die man 400 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

noch weitgehend als eine Mischung von Kulturphilosophie und Universalgeschichte auffaßte, zum Zuge kommen, die Einzelwissenschaften sollten ihren Bezug zum Insgesamt der Wissenschaften und zum Leben darlegen, hier sollte die erstrebte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Politik und - im Zusammenhang mit der erwogenen Übernahme der Volksschullehrerbildung durch die Universitäten - mit der Pädagogik ihren Ort finden. Unter dem Einfluß bedeutender Universitätslehrer wie Eduard Spranger, Werner Jäger, Theodor Litt hat man eingesehen, daß diese Pläne nicht durchführbar, ja nicht sinnvoll waren. Eine Umgestaltung des Verhältnisses der Wissenschaft zum Leben war nicht durch eine Art Überfakultät - sie wäre zur „organisierten Oberflächlichkeit“ (Heimpel) geworden - zu erreichen oder dadurch, daß man aus Gesichtspunkten eigene Fächer machte. Dem Schicksal der Spezialisierung konnte man nicht durch einen illusionären Überblick über den Kosmos der Wissenschaften, dem Schicksal der Wertfreiheit der Wissenschaft nicht durch Vorlesungen über Weltanschauung begegnen. Das Verlangen nach Seele und Erlebnis mußte ohne strenge Bindung an das Objektive im Leeren und Wesenlosen bleiben, der Dienst der Wissenschaft an der Nation konnte nicht direkt intendiert werden, ohne das Wesen der Wissenschaft zu gefährden. Allein aus den Fächern selbst konnte ein stärkerer Lebens- und Sinnbezug entwickelt werden. Auch die Initiatoren der Reformideen sind in der Selbstklärung langer Diskussionen zu diesem Ergebnis gekommen; wichtig blieb ihnen, daß die treibenden Motive ihrer Überlegungen, in denen eine Sehnsucht der Generation laut wurde, aufgegriffen wurden. Die Klärung dieser Ideen, die Einsicht in das, was die Wissenschaft leisten kann und was nicht, und in das, was organisatorisch realisiert werden konnte, war ein Gewinn, auch wenn dabei viele Hoffnungen begraben werden, viele Illusionen unerfüllt bleiben mußten. Wo in den Wissenschaften selbst ähnliche Tendenzen am Werk waren oder wo die Hochschulverwaltungen von sich aus entsprechende Initiativen entfalteten, entwickelte sich die Universität im Sinne der Reformpläne. Das philosophische Element trat in den Einzelfächern stärker hervor. Becker suchte dem Partikularismus der Fächer und Professoren zu begegnen, indem er den Ausbau sogenannter synthetischer Fächer förderte; Philosophie, Pädagogik und Soziologie erhielten im Lehrbetrieb erhöhtes Gewicht, die fremdsprachlichen Philologien wurden zu Auslandskunden erweitert. Nach und nach trugen auch Prüfungsordnungen - deren Gestaltung auch die Studentenschaft mitdiskutierte - dieser neuen Einstellung Rechnung. Innerhalb der Studentenschaft hat sich, nachdem die Reformdiskussion 1922 abklang, eine gewisse Aktivität in eigenen Bildungsversuchen erhalten, man suchte, an den Universitäten zwischen den Fakultäten Diskussionen und Tagungen zustande zu bringen und an den technischen Hochschulen geradezu eine Art humanistischer Fakultät in Form privater Arbeitsgemeinschaften zu organisieren. Schließlich hatte die Hochschulreform noch eine andere Seite: die pädagogische. Man empfand, daß die pädagogische Situation, die Autoritätsbeziehung 401 26

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zwischen Dozenten und Studenten, sich wandelte, zudem wurde, wie gesagt, Erziehung als neue Funktion der Universität neben der Lehre stärker betont. Daraus sollten für den Lehrbetrieb Konsequenzen gezogen werden; weniger Unterricht, mehr Erziehung - das war die pädagogische Parole. Neue Lehrformen - wie Arbeitsgemeinschaften und Colloquien - sollten entwickelt werden, Übungen und Seminare sollten gegenüber den Vorlesungen für alle Semester eine wesentlich stärkere Bedeutung erhalten. Auch über die Einführung eines Tutorensystems ist schon damals verhandelt worden, zu konkreten Maßnahmen ist es nicht gekommen. Der Lehrbetrieb dagegen ist allmählich auch im Sinne der studentischen Intentionen umgestaltet worden.

VIII. Sport Ein Stück praktischer Hochschulreform, ein Beitrag zur Persönlichkeitsbildung, ein Teilbereich studentischer Selbsterziehung war die Pflege des Sportes durch die Organisation der Studentenschaft. Sport galt dabei nicht in erster Linie als Hobby, als Freizeitbeschäftigung, dem man innerhalb einer großen Zahl von jungen Menschen Raum und Gelegenheit schaffen sollte. Sport war vielmehr ein Mittel, die Volksgesundheit zu erhalten, und war vor allem primär ein Bildungsfaktor. Selbstbeherrschung, Ausdauer, fairness, Gemeinsinn wie agonale Gesinnung - das waren die Ziele, die durch sportliche Bildung erreicht werden sollten. Dabei spielten freilich auch starke politische Motive herein. Die Rechtskreise suchten nach dem Fortfall der allgemeinen Wehrpflicht nach einem Mittel, die von ihnen geschätzte körperliche Tüchtigkeit zu pflegen, für die Linke war der Sport und zumal das Turnen noch immer mit einem Tropfen demokratischen Öls gesalbt. Das Programm der sportlichen Bildung war politisch neutral, aber es konnten ihm politische Tendenzen unterlegt werden, und von daher stammte ein Teil der Vehemenz, mit der es verfochten wurde. Weil Sport ein Teil der allgemeinen Bildung werden sollte, forderte die Studentenschaft seit ihrer Gründung den studentischen Pflichtsport. 1931 sind vom preußischen Ministerium (unter einem SPD-Minister) zwei Semester Pflichtsport zur Voraussetzung des Staatsexamens der Philologen und Naturwissenschaftler gemacht worden.

IX. Politische Bildung Im Zusammenhang der Bildungsreform stand schließlich das Problem der politischen Bildung. Sie nahm im studentischen Programm der Hochschulreform eine zentrale Stelle ein - man forderte Lehrstühle, Vorlesungen und Seminare für und über Politik -, und sie gehörte zum eigenen Tätigkeitsbereich 402 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

der Studentenschaft. Auch die Bemühungen um politische Bildung waren politisch neutral, und es konnten sich an diesem Programmpunkt wiederum sehr entgegengesetzte politische Tendenzen vereinen. Die demokratisch orientierten Kreise wollten in den neuen, auf die Mündigkeit des Menschen abgestellten Staat hineinwachsen, Wissen aneignen und Positionen erarbeiten, sie wollten politische Gegner zur gegenseitigen Toleranz erziehen und das Dominieren bloßer Gefühlspolitik beseitigen. Die Überparteilichkeit der Erziehung wurde als Hinführung zum Parteiwesen, als Vorstufe zum Eintritt in den Parteienkampf aufgefaßt. Die Gegner der Demokratie wollten doch ihre Möglichkeiten benutzen lernen, um sie reformieren oder umstürzen zu können. Die Überparteilichkeit verstanden sie zwar in einem anti-parteilichen Sinn, aber sie wollten die Parteien und die demokratischen Verteidiger der Staatsform doch kennen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Verachtung für die politische Argumentation und das liberale Diskutieren, die Anbetung von Tat und Entscheidung allein, war auch in den extremen Kreisen noch nicht so vorgedrungen wie am Ausgang der Weimarer Republik. Auch sie empfanden den Mangel an politischer Bildung als Versäumnis des Obrigkeitsstaates. Auf Tagungen und in Ausschüssen beschäftigte sich die Studentenschaft sehr eingehend mit der politischen Bildung und zumal mit der Frage, wie man über ein Vermitteln von bloßem Faktenwissen und bloßen Formalitäten des politischen Betriebes hinausgelangen könne. Durch besondere Ämter wurden Arbeitsgemeinschaften, Vorlesungsreihen, Diskussionen und Einzelvorträge organisiert, und man hoffte, diese Aktivitäten auf die Dauer institutionalisieren zu können. Nach 1923 erlahmten freilich diese Bemühungen, die akzentuierte Rechtsorientierung der Mehrheit war den Bemühungen um eine Erziehung zur Demokratie nicht günstig. Die freien Zusammenschlüsse der Studenten wurden zu den eigentlichen Trägern der politischen Bildung, der Studentenschaft als Organisation blieben im wesentlichen nur außenpolitische Aspekte, politische Bildung verkümmerte fast zur Propaganda für die Revision des Versailler Vertrages.

X. Das Verhältnis zur Weimarer Republik Neben der Bildungsreform waren es politische oder jedenfalls politiknahe nationale und soziale Ideen, mit denen die Studentenschaft über spezielle Angelegenheiten hinausgriff. Das Verhältnis zum eigenen Staat, zum Staat von Weimar zunächst, war einigermaßen reserviert. Die Mehrheit der Studenten stand der Republik in den ersten Jahren ablehnend gegenüber, ein Teil war noch an monarchistische Traditionen gebunden, für sehr viele war die Revolution ein Stück der nationalen Katastrophe, wenn schon der Glaube an die Dolchstoßlegende nur langsam um sich griff. Die Republik galt als national unzuverlässig, zudem fand man in ihr die staatliche Ordnungsfunktion zu wenig ausgebildet, und natürlich gab es 403 26* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

auch Klassensentiments, die solch negative Einstellung motivierten. Diese Haltung nun drückte sich selten in einem organisatorischen Anschluß an Rechtsparteien aus - dem widersprach die Parteischeu -, vielmehr blieb sie allgemeine Sympathie mit der Rechten. Es gab natürlich auch linksstehende parteipolitische Gruppen, die öffentlich hervortraten, aber ihre Mitgliedschaft war ziemlich gering, zumal es die SPD nicht vermochte, zu ihr tendierenden bürgerlichen Elementen Raum zu geben. Größer war die Gruppe der im allgemeineren Sinne demokratisch Orientierten. Als die Marburger Zeitfreiwilligen, von Noske zum Kampf gegen kommunistische Aufstände aufgerufene, zum großen Teil studierende Kriegsteilnehmer, 1920 ausfuhren, gab es zunächst einen fast tätlichen Streit um die von den „Demokraten“ am hinteren Ende des Zuges gezeigte schwarz-rot-goldene und die von den „Nationalen“ vorn gezeigte schwarz-weiß-rote Fahne. Freilich haben sich gerade bei diesem Unternehmen die stärkeren Rechtstendenzen als besonders verhängnisvoll erwiesen. Eine Gruppe der Freiwilligen hat in Mechterstädt gefangene Kommunisten angeblich wegen Fluchtversuchs - erschossen, ein Ereignis, das in der Arbeiterschaft, und zwar gerade in der sozialdemokratischen, außerordentliche Erregung hervorrief. Die gerichtliche Freisprechung der Täter - ein offensichtlicher Justizskandal - hat ebenso wie die offen bezeugte Sympathie großer Gruppen der Studentenschaft mit dem Kapp-Putsch und mit Arco, dem Mörder Kurt Eisners, die Spannung zwischen Studentenschaft und republikanischer Öffentlichkeit beträchtlich erhöht. Als Organisation hat sich die Studentenschaft auf den Boden der Tatsachen gestellt, sie hat sich der Republik gegenüber loyal verhalten. Die Republik war - trotz aller Bedenken - Schutz gegen eine soziale und eine kommunistische Revolution, sie war der Lebensraum und der notwendige Partner einer ja nicht vornehmlich aufs Politische konzentrierten Organisation, es gab auch bei konservativ Gestimmten genug Kritik an der vergangenen Welt, genug zukunftsgespannten Reformwillen, der stärker war als ein Wille zur Gegenrevolution, es gab genug Aktivität, die sich, unabhängig von politischen Systemen, den dringenden Nöten und Forderungen des Tages widmete. Und vor allem: die Organisation vereinte als allgemeine Zwangsorganisation in sich verschiedene politische Standpunkte, sie umfaßte eben auch Demokraten; parteipolitische Neutralität war ihr - nicht nur satzungsmäßig - Existenzbedingung. Man mußte daher die Republik anerkennen. Diese Anerkennung konnte vom mehr oder minder unwilligen Sichabfinden mit dem Faktum bis zu einer Art Vernunftrepublikanismus und - bei einer Minderzahl - bis zu leidenschaftlicher Bejahung der Republik reichen. Es ist wichtig zu sehen, wie gerade die Initiatoren und Führer der Anfänge mit der Übernahme von Verantwortung in ein relativ positives Verhältnis zum Staat traten; in der Idee der Selbstverwaltung und in der sachlichen Lösung sachlicher Aufgaben fanden sie sich mit seinen Vertretern zusammen. Verantwortung und Sachlichkeit prägten dann die politische Haltung. Freilich gerieten die Führer darüber leicht in Spannung zu den Vertretern der Mitgliedschaft, die ohne Verantwortung eher radikal und emo404 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

tional reagieren konnten. Die Führer standen gewissermaßen immer etwas links von den Delegierten. Es gelang ihnen aber zunächst, den der Republik gegenüber relativ loyalen Kurs durchzuhalten, und zwar auch in einer Krise, wie sie der Kapp-Putsch für die politische Neutralität der Studentenschaft darstellte. Distanzierter noch als das Verhältnis der Studentenschaft zum Staat war das zu seinen Trägern, den Parteien. Deren traditionelles Prestige war gering, ihr Rang neu, als rational organisierte Gebilde wirkten sie unjugendlich und besaßen keine sonderliche Anziehungskraft. Von der Staats- und Einheitsideologie her, von der noch zu handeln ist, waren die Parteien als die divergierenden Elemente zweitrangig. Die Distanz zu den Parteien, die ja auch aus der notwendigen politischen Neutralität des Verbandes folgte, bedeutete aber keine Distanz zur Politik. Man wollte, wie schon die Erörterungen über die politische Bildung zeigen, sich durchaus politisch engagieren, und zwar eben da, wo man nicht in die Gegensätze der Parteien geriet.

XI. Abkehr vom Individualismus Rang und Art des politischen Engagements waren bestimmt von einer tiefgreifenden Veränderung des Lebensgefühls, nämlich der Abkehr vom liberalen kulturgesättigten Individualismus. Person und Persönlichkeit traten als Leitbilder gegenüber gestifteter oder gewachsener Gemeinschaft zurück. Da die Selbstverständlichkeit bestehender Bindungen gelockert schien, wurde nicht mehr die Freiheit, sondern die Bindung des einzelnen stärker akzentuiert. Dabei stellte man vielfach die Gemeinschaft mit Tönnies in Gegensatz zur Gesellschaft, die von rationalen Prinzipien beherrscht, durchorganisiert und wesentlich pluralistisch, ja als Summe von gegenläufigen Einzelwillen konstituiert sei, während die Gemeinschaft „irrational“, „organisch“ strukturiert und dem einzelnen vorgegeben sein und dann aus der Hingabe der Einzelwillen leben sollte. Vorstellungen der Jugendbewegung und antiwestliche Affekte, die an einem besonderen Sinn und Auftrag des deutschen Staats- und Gesellschaftsdenkens festhielten, verbanden sich in solch romantischer Gemeinschaftsgesinnung. Von daher konnten dann die Ideen von Volk und Volksgemeinschaft, weit über ihren begrenzten sozialen Sinn hinaus, ins Utopische gesteigert werden. Eine Art spätbürgerlicher geistiger Heimatlosigkeit, die daraus entstand, daß man Aufklärung und Zivilisation nicht durchstehen wollte, suchte hier Heimat und Tatraum. Die Anziehung, die später die irrationale Gemeinschafts- und Volksideologie des Nationalsozialismus ausgestrahlt hat und für die etwa Gottfried Benns Wendung von 1933, dokumentarisch festgehalten in seinem Brief an Klaus Mann, symptomatisch ist, hat hier ihre Wurzeln. Aber, und das ist für uns unmittelbar wichtig, diese Motive und Tendenzen waren nur Unter- und Hintergrund, und sie waren nur eine Möglichkeit der neuen Wertsetzung, der neuen Hierarchie. 405 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

XII. Nation Das konkrete politische Wollen der Studentenschaft kreiste im wesentlichen um die nationale Idee und um die Idee der Volksgemeinschaft. Die Generation war erfüllt von einem starken Nationalgefühl. Durch die Niederlage verletzt, konnte es leicht eine extrem nationalistische Färbung annehmen, wie anfangs in einer verbreiteten rabiaten Feindlichkeit gegen ausländische Studenten, die erst allmählich durch die Vernunft der Einsichtigen abgebaut wurde. Oder das Nationalgefühl konnte in eine Idealisierung oder Ideologisierung der Nation münden. Man suchte im Prozeß der Selbstprüfung einen neuen, gereinigten Begriff der Nation und des Deutschtums zu gewinnen, der über die bloße Machtidee hinaus durch einen weltgeschichtlichen Auftrag verklärt war, der in sich gewissermaßen Preußentum und Humanität vereinte, und von daher griff man dann Verflachung und Überfremdung an als die großen inneren Gefahren der Nation. In diesen Zusammenhang gehört die häufige Berufung auf Fichte, dessen Reden als Prototyp mahnender Selbstbesinnung und Selbstvergewisserung in einer Niederlage dienten. Solche Ideologisierung der Nation blieb zwar Sache einer Minderheit: aber auch für die Mehrheit war doch alles Bemühen am nationalen Schicksal orientiert, die Probleme des einzelnen etwa oder die Probleme der Kultur wurden immer bezogen auf den Dienst des einzelnen an der Nation und auf den Wiederaufstieg dieser Nation, ohne daß darin schon eine militante Tendenz gelegen hätte. Über den studentischen Bereich hinaus wollte man an der Bildung eines gemeinsamen Nationalbewußtseins mitwirken oder gar - das war die alldeutsche Perversion - das angeblich schwache Nationalbewußtsein der Deutschen stärken. In politischen Kundgebungen der Studentenschaft dominierten nationale, ja nationalistische Töne; die Gemäßigten hielten dergleichen Deklamationen für relativ harmlos, für ein Ventil nationaler Überhitzung, das zu Besorgnissen keinen Anlaß bot. Am stärksten drückte sich die nationale Idee in der „großdeutschen“ Orientierung der Studentenschaft aus. In der Deutschen Studentenschaft hatten sich die Studentenschaften aller deutschsprachigen Hochschulen, mit Ausnahme natürlich der schweizerischen, zusammengeschlossen. Das großdeutsche Bekenntnis der Studentenschaft, und das hieß jetzt das Bekenntnis zur Verbundenheit der deutschen Stämme über Staatsgrenzen hinweg, war eindeutig, das war die tragende eigentlich politische Idee, die allen gemeinsam, von allen anerkannt war. Hier bezog man politisch Stellung, wollte stimmungs- und meinungsbildender Faktor in der Öffentlichkeit, ja handelnde Gemeinschaft sein. Man war nicht nur großdeutsch, sondern man erzog sich auch in Wort und Schrift dazu, es zu sein und zu werden. Es ist nach der Pervertierung der großdeutschen Idee durch Hitler, die schlechthin das Ende dieser Idee bedeutet, schwer, diesen Bestrebungen gerecht zu werden; sie sind im Strom des aggressiven und militanten Nationalismus untergegangen, und sie haben teilgehabt am Entstehen dieses Nationalismus. Aber nach 1918 war doch die Idee der Nation, die Idee der Selbstbestimmung der Völker noch eine legitime Idee, eine geschichtliche 406 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Kraft, wie das Problem der Nationalitäten und der nationalen Minderheiten ein reales Problem war. Großdeutsch - das bedeutete noch nicht nationale Machtexpansion; das war noch eine überparteiliche Sache, der man in Deutschland wie in Österreich von den Sozialisten über das Zentrum und die Christlich-Sozialen - der spätere Bundeskanzler Dollfuß war einer der Mitgründer der Studentenschaft - bis zu den Deutsch-Nationalen anhing. Gerade die Linke hat ja das von der Rechten so gehässig bekämpfte Schwarz-Rot-Gold der Republik als großdeutsches Symbol gewählt. Insofern war die großdeutsche Haltung der Studentenschaft zunächst etwas durchaus Selbstverständliches. Praktisch wirkte sich das so aus, daß wegen des Organisationszusammenhangs Studenten- und Hochschulfragen gemeinsam beraten wurden, daß man ständig für den Anschlußgedanken eintrat und daß man sich in steigendem Maße mit den Auslandsdeutschen befaßte. Die Studenten fühlten sich als Vortrupp. Gerade für die Deutschen der österreichisch-ungarischen Nachfolgestaaten sollte das Reich die Funktion des schützenden Kernlandes übernehmen, das Bewußtsein der Verbundenheit sollte hier geweckt oder aktiviert werden. Dem dienten einmal innerhalb des Reiches Information und ständiger Appell, zum andern direkte Aktionen: Unterstützungsaktionen zugunsten Volksdeutscher Studenten, Universitäten und Schulen, der Austausch mit deutschen Universitäten im Ausland, seit der Mitte der 20er Jahre die aus der Tradition der Jugendbewegung stammenden Fahrten in deutsche Sprachinseln und Grenzgebiete und die - national und romantisch gestimmte - Beschäftigung mit Sitte und Brauchtum der Volksdeutschen Gruppen. Diese sogenannte Volkstumsarbeit intendierte zunächst nicht unbedingt den Anschluß, sondern die Erhaltung deutscher Kultur und den Schutz und Ausbau der Minoritätenrechte. Aber natürlich strömte in solche großdeutsche Gesinnung und Aktivität ein gut Teil nationaler Revisionismus und Anti-Versailles-Stimmung ein. Eine parteipolitisch einigermaßen neutrale Tendenz wurde politisch im Sinne der nationalen Rechten überformt, ja von dieser annektiert. Die Verbindung mit den österreichischen und sudetendeutschen Studentenschaften wirkte sich dann so aus, daß die zunächst selbstverständliche großdeutsche Bewegung in die überhitzte Atmosphäre des Volkstumskampfes in Ost- und Südosteuropa geriet. Aber der politische Mißbrauch des nationalen Ideals, so sehr die Gefahr dieses Mißbrauchs von vornherein in ihm angelegt war, ist der beginnenden, von diesem Ideal erfüllten Bewegung nicht einfach zuzurechnen.

XIII. Antisemitismus Mit dem großdeutschen Gedanken war freilich von vornherein eine gefährliche und einseitige politische Orientierung ermöglicht. An sich war dieser Gedanke nicht „völkisch“, so wie das Wort damals gebraucht wurde, aber trotzdem hat er innerhalb relativ großer Kreise der Studentenschaft eine völkische, 407 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

und das hieß antisemitische Färbung angenommen, und das führte zu schweren Auseinandersetzungen innerhalb des Verbandes. Bei der Gründung der Organisation 1918/19 hatte man ohne Bedenken das großdeutsch-volksmäßige Prinzip so formuliert: Mitglieder der Studentenschaften an den deutschen Universitäten sollten alle Studenten deutscher Muttersprache und Abstammung sein. Die Möglichkeit, diese Formel antisemitisch zu interpretieren, hat die Mehrheit der Gründer nicht gesehen und nicht gewollt, maßgebliche und sehr geachtete Miteründer. wie Immanuel Birnbaum, waren selbst Juden. Die Verwirrung entstand durch die Verbindung mit den Österreichern. Dort war die Studentenschaft durch die Auseinandersetzung um das Rassenprinzip gespalten. Die unter dem Einfluß der Schönerer-Tradition stehenden DeutschNationalen und die CV er hatten eigene deutscharische Studentenschaften und -ausschüsse gebildet, die nicht nur Juden, sondern auch alle „Judenfreunde“, nämlich Sozialisten, Demokraten und Liberale ausschlossen, woraufhin sich diese wieder als eigene Verbände organisierten. Die Gegensätze waren so scharf, daß es z. Β. in Wien eine eigene deutscharische M ensa gab, und sie spitzten sich weiter zu, weil gerade in Wien eine Großzahl von Ostjuden aus den Nachfolgestaaten studierten - auch sie litten ja im Bereich des slawischen und magyarischen Nationalismus unter dem Zusammenhang von Deutschenund Judenhaß. Die Angst vor Überfremdung und Konkurrenz, die forciert volksbewußte Einstellung angesichts der Volkstumskämpfe in den Nachfolgestaaten und ein rabiater Antimarxismus verstärkten den völkisch-antisemitischen Charakter der österreichischen Organisation. Beim Zusammenschluß der deutschen Studentenschaft hatte man im gefühlsmäßigen Überschwang der Einheitsbegeisterung die Legitimation der verschiedenen Sprecher nicht genauer nachgeprüft, man hatte nicht bemerkt, daß die Österreicher nur einen Teil, wenn auch die Mehrheit der dortigen Studenten repräsentierten. Schon 1919 aber kam das Problem auf, weil die freiheitlich-nationalen, d. h. liberalen Studenten Österreichs Anspruch auf Aufnahme stellten, während rechtsgerichtete Kreise in der Studentenschaft des Reiches, besonders extrem die Studentenschaft der TH Hannover, die völkische Parole aufnahmen. Den östereichischen Verhältnissen korrespondierte im Reich jetzt die Welle des Antisemitismus, die nach 1918 plötzlich hochkam. Bis 1914 war der Antisemitismus in der bürgerlich-akademischen Schicht mehr latent als aktuell gewesen, es war eine Art Salon-Antisemitismus, ein Kokettieren mit den Ideen etwa H. St. Chamberlains, eine gesellschaftliche Distanzierung von Juden, gelegentlich voller Verachtung und Zynismus, aber militant wurde dieser Antisemitismus erst nach 1918. Der Antisemitismus des Offizierskorps hatte auf die Reserveoffiziere und auf die Korporationen gewirkt, die antisemitische und nationalistische Ideologie, wie sie seit 1890 im Verein deutscher Studenten und später im Alldeutschen Verband gepflegt wurde, hatte ja bekanntlich gerade die Schicht der nationalen Oberlehrer beeinflußt, und deren Erziehung wirkte sich allmählich aus. Dazu kam der Schock des Weltkriegsendes, die Dolchstoßlegende und die Suche nach einem Sündenbock, kam die Wendung zu einem 408 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

integralen Nationalismus als der einzigen Möglichkeit eines Wiederaufstiegs der Nation, kam die antidemokratische Einstellung weiter Kreise, die sich in der Gegnerschaft gegen die im Unterschied zum Kaiserreich zahlreicheren jüdischen Repräsentanten des herrschenden Systems zuspitzte. Dazu kam die durch die Revolution gesteigerte Konkurrenzfurcht, die sich gegen bestimmte heraushebbare Gruppen wandte und sich etwa in grotesker Überschätzung der ostjüdischen Einwanderung bekundete. Dazu kam die Zivilisationsmüdigkeit, ein gewisser Anti-Intellektualismus, der sich elementaren Mächten - Blut, Boden, Kampf, Leben, Seele - zuwandte und darum für die Parole vom unbehausten, ahasverischen, zersetzenden Intellekt der Juden eine besondere Resonanz hatte. Freilich ist es schwer, die Stärke des antisemitischen Flügels innerhalb der Gesamtheit der Studenten abzuschätzen, innerhalb der studentenschaftlichen Organisation war er zweifellos überrepräsentiert, weil die völkisch gestimmten Korporationen als organisierte Gruppen bei den studentischen Wahlen im Vorteil und infolge der Passivität eines Teils ihrer Gegner überproportional vertreten waren. Die im „Hochschulring deutscher Art“ zusammengefaßten völkischen Kräfte stellten eine der mächtigsten Gruppen innerhalb der organisierten Studentenschaft dar. Andererseits gab es auch - in den Ausschüssen und auf den Delegiertentagen - starke Gegenkräfte, und die ersten Jahre der Organisation sind vom Kampf um das völkische Prinzip bewegt. Für Deutschland war es, trotz gelegentlicher Opposition, von vornherein klar, daß nur das Staatsbürgerprinzip - jeder deutsche Staatsbürger war Mitglied der Studentenschaft - gelten konnte, das war auch für die völkisch Gesinnten das Äquivalent für die staatliche Anerkennung; die vom Staat allgemeinverbindlich gemachte Mitgliedschaft war nur möglich, wenn man den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung anerkannte. Die außerdeutschen Studentenschaften regelten die Zugehörigkeit nach dem Rassenprinzip. Die anfängliche Hoffnung, daß sich die österreichischen Gruppen einigen würden, hatte sich nicht erfüllt. Die rassisch orientierten Studentenschaften blieben Repräsentanten der Volksdeutschen Studenten, andere Gruppen wurden nicht anerkannt, und zwar wesentlich deshalb, weil die Völkischen für diesen Fall mit Austritt drohten. Diese Regelung führte - bei Austauschstudenten - zu Unzuträglichkeiten, die Anti-Völkischen wollten sich mit der halben Anerkennung des Rassenprinzips nicht abfinden. Die Angriffe gegen die völkische Linie wiederum steigerten die Entschiedenheit ihrer Vertreter. In einem sich über Jahre hinziehenden Verfassungskampf rangen beide Standpunkte miteinander, ohne die notwendigen Mehrheiten zu finden. Die Verfechter des Staatsbürgerprinzips, dazu gehörten die Initiatoren und die ersten Führer des Verbandes, suchten nach Möglichkeiten, den Verband zu erhalten, ohne dem völkischen Prinzip Konzessionen zu machen. Entweder konnte man den Verband stark föderalisieren, die Verbindung mit den Österreichern auf wenige hochschulpolitische Dinge beschränken und die Regelung der Mitgliedschaft der Autonomie von verschiedenen Landesverbänden überlassen, die der Gesamtverband, und damit insbesondere die reichsdeutschen Studentenschaften nicht mehr zu verantwor409 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

ten hatten; diese konnten vielmehr von sich aus die - prinzipiell wichtigen jüdischen Auslandsdeutschen aufnehmen. Oder - das war die letzte Notlösung - man konnte die politische Funktion der Studentenschaften aufgeben und sie lediglich auf die Angelegenheiten der Wirtschaftshilfe und der Mitverwaltung in der Universität beschränken in der Hoffnung, daß in diesem unpolitischen Bereich das völkische Prinzip keinen Sinn mehr hätte, während die geistigen Aufgaben der Studentenschaft von Einzelgruppen, die völkischen Tendenzen von den Völkischen allein, getragen werden würden. Diese Versuche sind an der Intransigenz der Völkischen, zumal der Österreicher und der besonders radikal völkischen Bayern (man denke an den Fall Arco), gescheitert. Der „Hochschulring deutscher Art“ hat die Pläne, die Studentenschaft zu neutralisieren, verworfen, er wollte auf die Möglichkeit, sie in seinem Geist zu überformen, nicht verzichten. Es kam schließlich zur Spaltung der Studentenschaft, zu einem zuletzt gerichtlich ausgefochtenen Verfassungskampf, der auch durch keine Minimalverfassungen und Notordnungen geschlichtet werden konnte. Im Endergebnis siegten die Völkischen über ihre Gegner, über die maßgebenden Vertreter der Gründergeneration, die ihre Gründung und die damit gewonnene Einigung der Studentenschaft nicht politisch zersetzt wissen wollten und die das völkische Prinzip ablehnten. Die konsolidierte deutsche Studentenschaft von 1923 stellte das völkisch-großdeutsche Prinzip über das Gleichheitsprinzip, d. h. allein die deutscharischen Studentenschaften repräsentierten die Auslandsdeutschen. Diese Entscheidung ist freilich nicht unbedingt als Bekenntnis zum Antisemitismus zu werten, es war eher - in einer Einzelfrage - eine Kapitulation vor den erpresserischen Methoden seiner Vertreter; um der großdeutschen Einheit willen nahmen viele den österreichischen Antisemitismus in Kauf. Weiterhin wirkte sich das Abtreten der Kriegsgeneration so aus, daß einerseits die politische Aktivität bei der Mehrheit der Studenten abnahm, andererseits die politisch Aktiven im völkischen Sinne radikalisiert wurden. Die Mehrheit wiederum war des Streitens müde und erwartete eine Konsolidierung des Verbandes, eine greifbare Einigung, und stellte diese über „Prinzipienfragen“. Die Aufweichung der Haltung in einer so prinzipiellen Sache, das bewußte Hinwegsehen über die drohende antisemitische Gefahr freilich war ein tief bedenkliches Symptom. Das völkische Organisationsproblem hat dann 1929 zur Auflösung der Deutschen Studentenschaft geführt: der Minister Becker stellte, unter dem Einfluß der Landtagsmehrheit, die Studentenschaft in Preußen vor die Wahl, auf die staatliche Anerkennung zu verzichten oder die Verbindung mit Gruppen, die wider den Gleichheitsgrundsatz verstießen, aufzugeben. In Abstimmungen an den Universitäten entschieden sich die Studenten für die Beibehaltung des Bundes mit den Völkischen; damit hörten sie auf, staatlich anerkannte, mit Zwangsmitteln ausgestattete Organe der Selbstverwaltung zu sein, sie waren nicht mehr repräsentativ für die Gesamtheit. Was unter dem Namen Studentenschaft weiterbestand, war eine private Vereinigung, eine Teil- oder Sondergruppe. Die Idee einer parteipolitisch neutralen, einigen Studentenschaft war 410 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

an der politischen Radikalisierung und an der parteipolitischen Ummünzung des großdeutschen Gedankens gescheitert.

XIV. Volksgemeinschaft Die andere politische Idee, die neben der nationalen die Studentenschaft erfüllte, war die der Volksgemeinschaft. Hinter dieser Idee stand zunächst das sogenannte Weltkriegserlebnis, das Erlebnis einer nationalen Solidarität und einer Kampfgemeinschaft, die vor einer überwältigenden Realität einen substantiellen Zusammenhang gefunden hatte - und davon bleibt ein gut Teil bestehen, auch wenn man berücksichtigt, daß unzweifelhaft dieses Solidaritätserlebnis aus der Offiziersperspektive verklärt worden ist. Das Erlebnis schien auch über das Weltkriegsende hinaus bindende Kraft zu behalten, die Volksgemeinschaft schien im nationalen Unglück erst recht erforderlich. Hinter dieser Idee stand dann die Jugendbewegung, die aus der Klassenenge einer bürgerlichen Atmosphäre heraus unmittelbar einen Zugang zum Leben, zum Volk gewinnen, das Volk - etwas romantisch - als Gemeinschaft zusammenbinden wollte. Dahinter stand die Revolution von 1918, die, soweit man sich um ein Verständnis bemühte, als Reaktion auf den Klassenstaat, die Klassengesellschaft des wilhelminischen Deutschland aufgefaßt wurde; und daraus mußte man die Konsequenz ziehen, Klassen- oder Standesgegensätze abzubauen, wenn man nicht neue Eruptionen riskieren wollte. Natürlich gab es auch weiter Kastengeist, es gab Korporationen und Korporierte, die in Klassenvorurteilen dachten und sich betont am feudalen, ja von einem gut Teil der Großbourgeoisie übernommenen Lebensstil und am Reserveoffiziersideal der Vorkriegszeit orientierten, Leute also, die Max Weber vor 1914 in großartigem Zorn als „lackierte Plebejer“ bezeichnet hat. Andere verbanden mit der Parole Volksgemeinschaft taktische Hintergedanken, ein nationalistisch-autoritäres Programm; die subjektive Verblendung gegenüber der Realität des Klassenkampfes, seine idealistisch-illusionäre Negation führte hier objektiv zu einer Art Klassenkampf von oben gegen sozialistische und republikanische Kreise. Aber solche Einstellung war doch nur bei einem zunächst nicht großen Teil der Studentenschaft, und zumeist nur unterschwellig, vorhanden. Primär wurde die Idee der Volksgemeinschaft, die Idee der inneren Versöhnung und Befriedung des Volkes sehr ernst genommen. Man wollte das Gemeinsame des Volkes bewahren, stärken und erneuern, das Zusammenleben, ja den inneren Zusammenhalt der Nation im Gegeneinander der gesellschaftlichen Kräfte nicht nur institutionell, sondern gesinnungsmäßig ermöglichen, das Volk mit einem neuen Gemeinschaftsbewußtsein erfüllen. Volk war weniger Realität als Ziel, Volk war nicht einfach, Volk wurde auch, Volk sollte werden, und das hieß, es sollte erst eigentlich zusammenwachsen. Es war dieser Generation eine ideal angeschaute große Aufgabe im Dienst späterer nationaler Größe, aber doch von selbständigem 411

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Wert, die innere Integration des Volkes zu versuchen, die erkannten Versäumnisse des Obrigkeitsstaates und seiner Gesellschaft zu überwinden. Dafür wirkte man im eigenen Kreise, dafür suchte man nach außen zu wirken.

XV. Student und Arbeiter Praktisch hat sich diese Haltung zunächst ausgewirkt in der Gründung von Gesamtstudentenschaften. Sodann und vor allem im Versuch, das Verhältnis von Student und Arbeiter auf eine neue Basis zu stellen. Dieses Verhältnis war belastet durch das bis dahin faktisch bestehende bürgerliche Bildungsprivileg, durch das akademische Berechtigungswesen im Staatsdienst, durch Bildungsund Akademikerdünkel und durch den feudalen Lebensstil und die feudalen Allüren der Korporationen. Es war belastet durch die politische Rechtstendenz des überwiegenden Teils der Studenten, durch die relativ ablehnende Haltung gegenüber der Revolution und ihren Errungenschaften. Die Belastung wurde verstärkt durch die Vorgänge beim Einsatz der studentischen Zeitfreiwilligen, beim Kapp-Putsch und durch das aktive Eintreten für die Technische Nothilfe: in ihr sahen die Studenten nur den Dienst bei allgemeinen Notständen, während sie für die Arbeiterschaft vielfach als Instrument des Streikbruchs und damit des Klassenkampfes galt. Trotzdem war in der Studentenschaft ein starker und nicht von taktischen Erwägungen geleiteter Wille vorhanden, das Verhältnis der einzelnen wie der Gesamtheit zu den Arbeitern und der Arbeiterschaft zu verbessern. Hier wirkte das schlechte Gewissen des bürgerlichen Menschen, der eine Schuld der Eltern-Generation empfand, übernahm und a b zugleichen suchte, oder auch einfach guten Gewissens der Wille, das Ideal, Volksgemeinschaft eben, zu realisieren. Man fühlte sich in die Isolierung einer Kaste geraten und wollte heraus aus der Kaste. Bei dem Versuch, das Verhältnis zur Arbeiterschaft zu entspannen, nahm man zunächst Anregungen aus dem Kreise der Sozial- und Bildungsreformer auf. Die Studentenschaften organisierten Referate und Arbeitsgemeinschaften für soziale Fragen, um der Unkenntnis der sozialen Welt und der falschen Einschätzung des Emanzipationskampfes der Arbeiterschaft zu begegnen. Gelegentlich propagierte man Mitarbeit in Fürsorge oder Jugendpflege, doch konnte das der Sache nach über Ansätze nicht hinauskommen. Weiterhin setzte man sich für die Volkshochschulbewegung ein. Diese entwickelte nach 1918 einen bedeutenden Elan, die Arbeiterschaft sollte in die bis dahin allein vom Bürgertum getragene Kultur hineinwachsen, die Spaltung in zwei Bildungswelten, zwei Bildungsvölker sollte zugunsten einer erneuerten einheitlichen Bildungswelt aufgehoben, die spontanen Kräfte in der Arbeiterschaft entbunden und geformt werden, damit sie in eine eigenständige, aber mit der Gesamtkultur der Nation verbundene Lebensgestaltung münden und ein neues, vielleicht wurzelhaftes Element dieser Gesamtkultur sein könnten. An dieser Bewegung 412 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

haben auch Studenten der Kriegsgeneration aktiv teilgenommen; nachdem freilich sie von der Universität abgegangen waren, fehlten die notwendigen Voraussetzungen zu solcher Mitarbeit. Endlich suchte man durch praktische Kontakte die Bedingungen des Verstehens zwischen Studenten und Arbeitern zu schaffen und zu verbessern. Das aus wirtschaftlicher Not entstehende Werkstudententum bot dazu Ansätze, und gelegentlich hat man es geradezu als politisch-pädagogische Angelegenheit ideologisiert; aber gesunde Kritik hat von vornherein solche verfälschende Verwechslung von Not und Tugend, von positiver Nebenwirkung mit Zweck und Ziel zurückgewiesen; gerade die Erfahrungen des Werkstudententums haben bei der Gründung der Studienstiftung als einer Befreiung vom Zwang der Nebenarbeit - eine wichtige Rolle gespielt. Diese und andere Versuche, Kontakte zwischen Studenten und Arbeitern zu schaffen, sind zunächst gescheitert, nur mit gutem Willen ließ sich eine jahrzehntelange Klassenfremdheit nicht überwinden. Aber die treibenden Motive haben bis 1933 nachgewirkt. Die Idee des freiwilligen Arbeitsdienstes, wie er 1931 von der Regierung Brüning institutionalisiert wurde, stammt daher, seit 1926 gab es - im wesentlichen von der Jugendbewegung, den Freischaren, getragen - studentische Arbeitskolonien, Eugen Rosenstock hat zur gleichen Zeit mehrmonatige Arbeitslager für Arbeiter, Bauern und Studenten organisiert; Siedlungsgedanken und -pläne spielten in solche Versuche hinein, Volksgemeinschaft durch gemeinsame Arbeit zu bilden. Diese Tendenzen sind am längsten von der politischen Zersetzung, der andere Ideen der Studentenschaft unterworfen waren, verschont geblieben. Erst die Nationalsozialisten haben mit ihrer Agitation den hier waltenden ehrlichen Willen zu tathafter Realisierung der Volksgemeinschaft, zum Schließen der Kluft zwischen Akademikern und Arbeitern auf ihre Mühlen zu leiten gewußt. Der Appell an die Sehnsucht nach Volksgemeinschaft, in der wie gesagt auch irrationale Fluchtmotive wirksam waren, konnte auf eine breite Resonanz rechnen, der idealistisch-illusionäre Sinn, der sich über die Realität des Klassenkampfes nur zu gerne täuschte, konnte die nationalsozialistische Pseudolösung eine Weile als Wahrheit hinnehmen. Mit Hilfe der Parole von der Solidarität zwischen Student und Arbeiter hat gerade die SA an den Universitäten große Erfolge erzielt. Aber die Verfälschung, auch wenn sie als Gefahr von vornherein mitgegeben war, mindert nicht die ursprüngliche Echtheit und Legitimität dieser Idee.

XVI. Das Problem der Überparteilichkeit Wir sind bei unseren Darlegungen immer wieder auf das Problem der parteipolitischen Neutralität, der Überparteilichkeit auch im politischen Bereich gestoßen und darauf, wie überparteiliche Haltungen ins Parteipolitische umgedeutet wurden, zum Deckmantel einer Parteieinstellung wurden oder (und) im 413 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Konflikt der Parteien zerfielen. Es ist daher notwendig, eigens auf das Problem der Überparteilichkeit und ihrer Konsequenzen einzugehen. Es ist ein Grundproblem der Demokratie, wie sich der Pluralismus der politischen Wertund Zielsetzungen zur Einheit der Nation verhält, zu einer Einheit, die nicht nur in Institutionen, sondern auch in Gesinnungen leben soll. Für die Weimarer Republik als einen verfassungsmäßig jungen Staat war dieses Problem in besonderer Dringlichkeit gestellt. Der Staat des Kaiserreiches hatte, wenn das auch wesentlich eine Fiktion war, als überparteilich und neutral gegolten, er hatte eine Autorität sui generis. Seit der Revolution war der Staat als Produkt der gesellschaftlichen Kräfte konstituiert, war Vertretung der von diesen Kräften jeweils anders vollzogenen Integration. Der Staat beruhte auf einem grundsätzlichen Pluralismus politischer Kräfte, einem Relativismus politischer Ziele, seine Einheit - vorgegeben und je sich herstellend - war weniger selbstverständlich, war ein schwieriges Problem geworden. Die Parole vom Vaterland über der Partei hatte ihren einfachen und zweifelsfreien Sinn eingebüßt, wenn das Vaterland nicht mehr feststehende eindeutige Realität war, sondern von den Parteien als Trägern des Staates je verschieden aufgefaßt und intendiert wurde. Die Gefahr bestand, daß die Nation, das Staatsvolk im Kampf der Parteien zerrissen wurde, daß aus Gegnern Feinde wurden, daß sich aus Gegensätzen Fronten und unüberbrückbare Gräben entwickelten, daß das selbstverständlich Gemeinsame in diesem Kampf verlorenging. Von daher war es eine wichtige und legitime Aufgabe, das überparteiliche Element in der Politik und die Gemeinschaft aller Staatsbürger zu betonen und zu fördern, ja im überparteilichen Sinn auch zu handeln, das gemeinsam Anerkannte zu bewahren und für das mögliche Gemeinsame zu werben. Die Studentenschaft bekannte sich in diesem Sinne zur Überparteilichkeit. Sie wollte nicht unpolitisch sein, wollte politisch Stellung nehmen und wirken. Sie mußte als ein nach unpolitischem Gesichtspunkt formierter Verband parteineutral sein. Aber darüber hinaus sah sie in der „überparteilichen Politik“ eine notwendige.Aufgabe, und vielleicht ideologisierte man diese zu einer besonderen Sache des Akademikers, der im Gruppenkampf vorgeblich am ehesten, kraft wissenschaftlicher Besinnung, das Volksganze im Blick halten könne. Oder, und wesentlich schlichter, man betrachtete den parteifreien Raum an der Universität als notwendige Vorstufe zu einem späteren Eintritt in das Parteiwesen. Die überparteilichen Tendenzen nun aber waren nicht einfach neutral, sondern politisch ambivalent, darum konnte die Studentenschaft als Vehikel der Reform wie der Reaktion dienen oder nach dem Willen der Gründer beide ausgleichend zusammenfassen. Bei der Gründung hatte Überparteilichkeit auch den politischen Sinn gehabt, eine extreme Gruppe zu neutralisieren, die demokratische Linke hatte darauf gedrängt, um sich und den Gesamtverband vor der rechtsstehenden Majorität zu schützen. Sie ahnte noch kaum, wie sich auch diese Schutzwehr gegen sie benutzen ließ. Denn auch in dem legitimen Beginnen einer überparteilichen Politik lag die Möglichkeit der Verkehrung be414 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

schlossen. Aus einer neutralen Politik neben (oder über) den Parteien konnte leicht eine Politik gegen die Parteien werden. Zu den gemeinsamen politischen Zielen der Studentenschaft gehörte nicht - wie in einer intakten Demokratie - die Sicherung des Rechtsstaates und die Festigung der demokratischen Staatsform selbst. Eine große Zahl der Studenten stand wie gesagt der Republik ablehnend gegenüber. Die überparteilichen Ziele und das Ideal der versachlichten Politik wurden von der Mehrheit gegen den Parteienpluralismus gestellt und nicht als eine Ergänzung begriffen, der Pluralismus wurde nicht anerkannt, und die Überparteilichkeit wurde das Schlagwort, mit dem man sich diese Anerkennung verbaute. Überparteilichkeit wurde Antiparteilichkeit, und das färbte auch die sachlichen Ziele. Volk und Volksgemeinschaft konnten zu Fiktionen werden, wo man sie als politische Ideen nicht durch, sondern wider die Parteien vertrat, wo in ihrer Propagierung die Parteienauseinandersetzung abgelehnt, ja als Parteiengezänk diffamiert wurde. Auch bei denjenigen, die der Republik nicht von vornherein feindlich gegenüberstanden, schwächte die Parole der Überparteilichkeit den Widerstand gegen die antidemokratischen Kräfte, die sie doch gerade mißbrauchten. Es war natürlich, daß nach der Revolution bei der fehlenden Vorbereitung der Parteien auf die Übernahme der Staatsmacht, bei ihrer mangelnden Integrationsfähigkeit, die Sorge um das der Nation Gemeinsame stark und auch für die Republikaner durchaus berechtigt war. Aber diese Sorge hat, in die falschen Hände geraten, dem Einheitsgeschrei, der Tendenz zum totalitären, faschistischen, nationalistischen Staat Vorschub geleistet. Denn die gegen die Parteien gerichtete Überparteilichkeit war selbstverständlich, zumal das gegenparteiliche Sachverständigenethos der Bürokratie hier ausschied, auch nur Parteitendenz, war Parteinahme zugunsten der antidemokratischen Rechten. Diese Entwicklung ist freilich erst später zum Tragen gekommen, aber schon anfangs diente die legitime Parole neutraler Überparteilichkeit vielen als Deckmantel antiparteilicher Affekte.

XVII. Weiterentwicklung und Würdigung Mit dem Abgang der Kriegsgeneration von den Hochschulen ändert sich der Charakter der Studentenschaft. Sie hört auf, Bewegung zu sein, und wird ein zwangsläufiger Vorgang - einfach Organisation, der Enthusiasmus des Beginnens verfliegt, die Idee der Selbsterziehung und Selbstklärung, die Idee einer politischen und kulturellen Aktion, eines Hineinwirkens in die Gesamtheit der Nation, der „Mitarbeit am kulturellen Aufbau Deutschlands“, im ganzen das ideelle Moment verliert unter zivilen Verhältnissen und den jüngeren Jahrgängen an Gewicht, das alles verlagert sich teilweise von der Gesamtorganisation auf Einzelgruppen. Es gibt Manager studentischer Angelegenheiten und so etwas wie einen Apparat, die Wahlbeteiligung und überhaupt die Resonanz geht zurück, die Korporationen verstärken ihre Stellung, die ASTA415 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Wahlen geraten in den Strudel von Parteikämpfen - die Initiatoren hatten darin eine fast tödliche Gefahr für die Einigung gesehen-, die parteiliche Zersetzung des Gesamtverbandes ist, seitdem der Einheitswille und das Verantwortungsgefühl der Kriegsgeneration fehlen, endgültig nicht aufzuhalten und nur durch politische Abstinenz hinauszuschieben. Die Rechtstendenzen gewinnen endgültig die Oberhand, zunächst infolge der Wahl-Aktivität der Korporationen im Verband, dann auch innerhalb der Gesamtheit, wie der Ausgang der Abstimmung von 1929 über das Angebot Beckers zeigt. Bedeutende Ansätze der Anfangszeit also sind im Sande verlaufen, die in die Selbstverwaltung gesetzten Erwartungen haben sich nur zum kleinen Teil erfüllt, es bleiben große Leistungen, wie die Wirtschaftshilfe, es bleiben aber auch - und das scheint fast das Eindrücklichste - krasse politische Fehlentwicklungen. Aber der Gesichtspunkt des Erfolges, so berechtigt er im eigentlich politischen Feld ist, ist hier nicht zuletzt entscheidend. Die Initiatoren und ersten Führer hatten nicht das Schicksal einer Gründung in der Hand, die einem ständigen Wechsel in Mitgliedschaft und Führung unterworfen war, die prägende Kraft der Institution konnte hier nicht außerordentlich groß sein. Die Kriegsgeneration, soweit sie in der Organisation sich betätigte, war Ausnahme, mit ihrer Intensität, ihrem Willen zum Gemeinsamen, zu Selbstbekundung, Erziehung und zum Wirken - ihre Gründung konnte nur in einer eingeschränkten und kargen Form weiterbestehen. Die politischen Bewegungen des Gesamtvolkes und zumal der Jugend durchfluteten auch die Organisation, sie war nicht Movens, sondern nur Objekt und Spiegel. Man muß die studentenschaftliche Bewegung aus ihrer Gründungszeit beurteilen. Sie war nicht das Werk ehrgeiziger oder organisationswütiger Manager. Sie war auch im Unklaren und Wirren, was ihr anhaftete, Aufschwung und Aufbruch einer tief erregten Generation, die trotz Müdigkeit und Not neben einem zusammengedrängten und darum besonders anspruchsvollen Studium ein besonders hohes Maß an überprivater Aktivität aufgebracht hat. Sie entsprang der Intensität und Lebendigkeit von Angehörigen dieser Generation, die auch im Institutionellen aktiv wurden und sich banden. In ihr lebte tätiger Einsatz und praktische Vernunft bei der Bewältigung der gemeinsamen Nöte und bei der Verfechtung gemeinsamer Interessen, sie war erfüllt von leidenschaftlichem Suchen und idealem Wollen, im Engagement für eine Bildungsreform, für soziale Verständigung, für ihre politischen Ziele, war erfüllt von der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Selbstklärung. Die Bewegung bleibt - trotz des Scheiterns am Ende - ein bedeutender Versuch, Idee und Interesse, tägliche Aufgaben und Zukunftsziele, Geist und Institution an- und ineinander zu binden.

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Abkürzungsverzeichnis GWU HZ NPL PVS VSWG

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Zeitschrift Neue politische Literatur Politische Vierteljahresschrift Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

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Anmerkungen 2. Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft 1 Eine frühere Fassung meiner Überlegungen zu diesem Thema habe ich aufgrund einer Diskussionsbemerkung beim Freiburger Historikertag 1967 unter dem Titel: „Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie“, in: VSWG, 55, 1968, S. 145-164, veröffentlicht. Der Vortrag von E. E. Evans-Pritchard, Anthropology and History, Manchester 1961, vom Standpunkt des Ethnologen aus, ergibt für unser Thema nichts Wesentliches. 2 Für den deutschen Leser zur ersten Einführung vgl. W. Mühlmann (Hg.), Kulturanthropologie, Köln 1967. 3 D. Riesman, The Lonely Crowd. Α Study of the Changing American Character, New Haven 1953; dt.: Die einsame M asse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, mit einer Einf. ν. Η. Schelsky, Hamburg 1961. 4 Dabei ist es in unserem Zusammenhang gleichgültig, ob man die Turnersche These, wie es manche neueren Kritiker tun, als einen „Mythos“ ansieht oder nicht. 5 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Bern 19692. 6 T. Parsons, Essays in Socioloeical Theory, London 1963, S. 359 f. 7 B. Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Halle/S. 1927/30. 8 J . Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften (Philosophische Rundschau, Beiheft 5), 1967, S. 179. 9 Vgl. W. Conze, Sozialgeschichte, in: H.-U. Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 1966, S. 19-26; H. Mommsen, Sozialgeschichte, in: ebd., S. 27-34; O. Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 19682. 10 Man vergleiche für die durchschnittliche Richtung gegenwärtiger Sozialgeschichte z. Β. die Aufsätze, die Wehler in dem eben genannten Sammelband herausgegeben hat. 11 Siehe R. Heberle, Landbevölkerung und Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918-1932, Stuttgart 1963 und G. Stoltenberg, Politische Strömungen im schleswig-holsteinischen Landvolk 1918-1933. Ein Beitrag zur politischen Meinungsbildung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1962. - Vgl. meine Rezension in: NPL, 9, 1964, Sp. 389-399. 12 Vgl. meinen Aufsatz „Volksschule und Revolution“ (in diesem Band S. 206 ff.) In meinem Aufsatz über „Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert“ (in diesem Band S. 174 ff.) hoffe ich gezeigt zu haben, daß die eminente Bedeutung des Vereinswesens für Politik und Wirtschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert nur begreifbar wird, wenn man die Wandlungen der anthropologischen Struktur der mitmenschlichen Beziehungen und des Verhältnisses des Menschen zur ,Kultur' genau untersucht. 13 Sehr gut z.B. bei F. Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834-1879, Köln 1962. 14 L. Fèvre, De l'incroyance au XVI e siècle. La religion de Rabelais, Paris 1947. 15 Vgl. den Überblick, den H.-U. Wehler in „Zum Verhältnis von Geschichtswissen-

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Anmerkungen zu Seite 53-58 sdhaft und Psychoanalyse“, in: HZ, 208, 1969, S. 530 ff., gegeben hat, wiederabgedruckt und bibliographisch erweitert in seinem kleinen Sammelband: Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971, vor allem die bibliogr. Angaben S. 539 ff. Dazu jetzt: B. Wolman (Hg.), The Psychoanalytical Interpretation of History, New York 1971, und B. Mazlish (Hg.), Psychoanalysis and History, New York 19712 und zusätzlich: Α. Α. Rogow, Psychiatry, History and Political Science, in: M odern Psychoanalysis, hg. von J . M armor, New York 1968. R. J . Lifton, On Becoming a Psychohistorian, in: History and Human Survival, New York 1970. - Ein nicht speziell psychoanalyti­ scher, interessanter, wenn auch etwas essayistischer Entwurf, der sich mit manchen hier vorgetragenen Gedanken berührt: Z. Barbu, Problems of Historical Psychology, New York 1960. 16 Vgl. Wehler, Verhältnis, S. 544 und dazu: E. Erikson, Gandhi's Truth, London 1970; ders., In search of Gandhi, in: Daedalus, 97, 1968. A. Mitzman, The Iron Cage (Max Weber), New York 1970 und O. Pflanze, Toward a Psychoanalytical Interpretation of Bismarck, in: American Historical Review. 77/2. 1972. S. 419-44. 17 C. Stout, Ego Psychology and the Historian, in: History and Theory, 7, 1968, S. 281 ff. 18 Ein interessantes Buch mit diesem Ansatz: G. Gorer und J . Rickman, The People of Great Russia, New York 19622, ist deshalb mißlungen. 19 Th. W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, New York 1950. - Vgl. dazu kritisch R. Christie u. M. Jahoda, Studies in the Scope and Method of The Authoritarian Personality, Glencoe 1954. 20 B. Mazlish, Group-Psychology and the Problem of Contemporary History, in: Journal of Contemporary History, 3/2, 1968, S. 163-77. 21 Diese Konstruktionen ersetzen z. Τ. das, was einmal spekulative Geschichtsphilo­ sophie war: vgl. ζ. Β. Ε. Fromm, Escape from Freedom, New York 1964. 22 G. Platt und F. Weinstein: The Wish to be free. Society, Psyche and Value Change, Berkeley 1969, vor allem Kap. 3 und 4, S. 82 ff. 23 In der alten und mittelalterlichen und der älteren außereuropäischen Geschichte ist freilich der naive Zugriff auf Handlungen und Vorstellungen aufgrund unserer alltäglichen Erfahrung schon immer problematischer gewesen: er konnte an den so andersartigen Handlungsmodellen der fraglichen Zeit scheitern. Darum finden sich in den Untersuchungen zu diesen Gebieten der Geschichte im allgemeinen mehr anthropologische Beobachtungen und Materialien als auf dem Gebiet der neueren Geschichte, ohne daß sie freilich grundsätzlich reflektiert worden sind. 24 N. J . Smelser, Social Change in the Industrial Revolution. An Application of Theory to the Lancashire Cotton Industry 1770-1840, London 1959. 25 R. Braun, Industrialisierung und Volksleben. Die Veränderung der Lebensformen in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800, Erlenbach 1960; ders., Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des Maschinen- und Fabrikwesens im 19. und 20. Jahrhundert, Erlenbach 1965. Vgl. auch W. Brepohl, Industrievolk im Wandel, Tübingen 1957. 26 W. Roeßler, Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland, Stuttgart 1961; Η. Η. M uchow, Jugend und Zeitgeist. Zur M orphologie der Kulturpu­ bertät, Hamburg 1962. Auch das für unsere Fragestellung besonders wichtige Werk von J . H. van den Berg, Metabletica. Über die Wandlung des Menschen. Grundlinien einer historischen Psychologie, Göttingen 1960, ist vom Standpunkt der Pädagogik und der Jugendanthropologie geschrieben. 27 D. Mc. Clelland, The Achieving Society, Princeton 1961. Zur Kritik an dem relativ unhistorischen Charakter dieses Buches vgl. meinen oben Anm. 1 genannten Aufsatz, S. 161 f. 419 27* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Anmerkungen zu Seite 74-75 4. Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit 1 Etwas erweiterte und veränderte Wiedergabe eines zuerst am 17. Mai 1962 im Rahmen der Universität Mainz gehaltenen Vortrags. Der Anmerkungsapparat ist auf einige Hinweise beschränkt. 2 Brockhaus, 1847, Stichwort: Utopien. In der Gesellschaftstheorie des frühen 19. Jahrhunderts wird Utopie zumeist als wissenschaftlich und politisch nicht ernst zu nehmender Wunschtraum verstanden. Belege für Rodbertus, Lorenz Stein und Fourier bei T. Ramm, Die großen Sozialisten als Rechts- und Staatsphilosophen, Bd. 1, Stuttgart 1955, S. 16. - Schon vor Marx wird der Begriff demgemäß disqualifizierend verwandt. Fourier, Owen und Proudhon sehen ihre Vorläufer als Utopisten an. Saint-Simon beklagt, daß jedes Projekt sozialer Verbesserung als Utopie bezeichnet werde. 3 Ähnlich später K. Marx in „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ (1850) und F. Engels in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (1880). 4 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt 19523, S. 169; E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Berlin 1954 ff., darin Bd. 1, S. 25: Utopisches sei nicht auf die Thomas-Morus-Weise, auf die politisch-soziale oder gar universale Utopie zu orientieren. Für die Fortwirkung des Mannheimschen Utopiebegriffes vgl. z. B. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959. Von einem ähnlich erweiterten Begriff geht auch die bemerkenswerte Arbeit von H. Kesting, Utopie und Eschatologie im 19. Jahrhundert, Diss. Heidelberg 1952, aus; freilich kann die mit einer antiutopischen Grundwertung zusammenhängende Analyse der Utopie nicht befriedigen. Utopie wird als Aufstand in die Subjektivität nicht zureichend beschrieben, ihr Zukunftsbild stammt nicht einfach aus bodenloser Kritik und ist - von der Eschatologie abgehoben - nicht unbedingt gegenchristlich. Auch P. Tillich, Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker, Berlin 1951, benutzt einen sehr weitgefaßten - nicht einmal mehr spezifisch modernen - Begriff von Utopie. Zum ganzen Problem vgl. auch E. Bliesener, Zum Begriff der Utopie, Diss. Freiburg 1951. 5 Mannheim, S. 224 f. 6 Utopie ist ein historischer Begriff, daher wandelt sich der Begriffsinhalt. R. Ruyer, L'Utopie et les utopies, 1950, und M. Schwonke, Vom Staatsroman zur Science Fiction. Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlichtechnischen Utopie, Stuttgart 1957, versuchen durch ihre sehr weitgefaßten Begriffsbestimmungen dieser Schwierigkeit gerecht zu werden. Ruyer, S. 4, spricht von einem „mode utopique“, der charakterisiert ist als „exercice mental sur les possibles latéraux“; Schwonke charakterisiert die Utopie als Intention auf andere Möglichkeiten, auf innerweltlich greifbare Möglichkeiten des Auch-anders-sein-könnens. Diese Bestimmungen sind m. E. zu sehr formalisiert. Der Typus Utopie muß von Rang und Resonanz der klassischen Utopie her bestimmt werden. Die Utopie ist wesentlich für die Neuzeit bis zur industriellen Revolution eine charakteristische Denkform. Es verschiebt die historischen Gewichte, wenn man die modernen, weitgehend beliebigen und jedenfalls derivierten, nicht mehr wirksamen Utopien mit den klassischen und ihrem Verbindlichkeitsanspruch gleichordnet. Der Sachgehalt der großen Utopie verschwindet in den erwähnten Formeln. Es geht nicht allein um Anders-sein, sondern um Mehr- und Besser-sein. Aufbau und Gestalt einer utopischen Welt folgen nicht aus dem bloßen Akt „innerweltlicher Grenzüberschreitung“ (Schwonke, S. 103), es kommt auf das Ziel dieser Überschreitung an. - Die Funktion der Utopie für die Erschließung der Zukunft kommt demgemäß in den erwähnten Arbeiten zur Sprache, während der im folgenden zu erörternde utopische Welt- und Personbegriff vernachlässigt wird.

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Anmerkungen zu Seite 76-78 7 Den sehr plastischen Begriff der Gegenutopie übernehme ich von Schwonke, S. 57: „Schriften, die sich gegen Ziele und Tendenzen der . . . Utopie wenden und dies selbst in utopischer Form tun.“ Auch die Gegenutopie hat es mit der Welt, die stimmt, zutun, indem sie das Schreckbild der Welt, die nicht stimmt, etabliert. Ihr Aufforderungscharakter, das So-soll- oder So-darf-es-nicht-sein, ist noch in aller Resignation klar erkennbar. 8 Auf die ausgebreitete Morus-Literatur und ihre zahlreichen Kontroversen kann ich hier nicht eingehen. Gewisse Widersprüche zwischen dem humanistischen Utopisten und dem Märtyrer Morus, zwischen dem Werk ,Utopia' und der Gestalt seines Autors können jedenfalls nicht so aufgelöst werden, daß der utopische Anspruch und der utopische Anstoß um- und weginterpretiert werden; so G. Möbus, Politik des Heiligen, Berlin 1953, und ders., Macht und Menschlichkeit in der Utopie des Thomas Morus, Berlin 1953. Vgl. zuletzt die ausgewogene Darstellung des amerikanischen Jesuiten E. L. Surtz, The Praise of Pleasure, Cambridge 1957. Vgl. dazu meine Studie: Die Utopia des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit, jetzt in: Th. Nipperdey, Reformation, Revolution, Utopie, Göttineen 1975, S. 113-46. 9 Aus der älteren Literatur ragt immer noch R. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, Erlangen 1855, Kap. III: Die Staatsromane, hervor. Von neueren Arbeiten zur Geschichte der eigentlichen Utopien nenne ich: H. Freyer, Die politische Insel, Leipzig 1936, großzügig, sehr geistvoll, aber von ästhetischen Kategorien der „Größe“ beherrscht; er hat gegenüber aller früheren Literatur vor allem das Problem der jeweiligen Funktion und der jeweiligen Intention einer Utopie klar herausgearbeitet. E. Blochs Abriß der Sozialutopien (Freiheit und Ordnung, New York 1946, auch in: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Berlin 1955) trägt zum Verständnis der eigentlichen Utopien nicht soviel bei wie die grundsätzlichen Intentionen und die anthropologischen Analysen seiner Hoffnungsphilosophie. Die erwähnten Arbeiten von Ruyer und Schwonke berücksichtigen zumal den naturwissenschaftlich-technischen Strang der Utopien; beide versuchen eine anthropologische Begründung utopischen Denkens. Schwonke versteht die Utopie vom naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittswillen und seinem Pathos des Produzierens her; dabei ergeben sich interessante Analysen über die Beziehungen der utopischen zur wissenschaftlichen Denkstruktur und über die korrespondierenden Weltbilder, freilich hat er die Parallele von Utopie und Fortschrittsglauben überakzentuiert. Er deutet die Utopie gegen-eschatologisch und gegen-christlich, weil er dem Christentum ein Weltbild zuschreibt, das sich durch eine fixierte Weltordnung und eine vorbestimmte Grenze menschlicher Betätigung auszeichnet. Die Dialektik von christlichem Zukunftswillen und christlicher Skepsis, den skeptischen Utopismus des Christen sieht er nicht; Utopie ist weder als gegen-christliche Tendenz noch als Säkularisation christlicher Heilserwartune allein zureichend beschrieben. 10 Der Zusammenhang des Entstehens der neuzeitlichen Utopie mit den Entdeckungen, oder vielmehr mit der Welthaltung, die hinter den Entdeckungen steht, ist evident. 11 Es gibt Ausnahmen, wie die Utopien Bacons und Harringtons, die auch programmatische Züge enthalten und konkreten Absichten dienen. Aber in aller Regel hat kein Utopist eine unmittelbare Realisierung seiner Utopie erwartet. 12 Die Argumentation von Schwonke läuft darauf hinaus, daß erst im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der technischen Entwicklung die Utopie ihre eigentliche Intention erfüllt, eine Welt zu produzieren, zu „machen“; uns geht es hier um das Produzieren einer Ordnung. Diese Ordnung ist zwar an noch unwandelbaren Normen ausgerichtet, aber als solche wird sie neu geschaffen. Die Auslegung normativer Ordnung als ursprünglicher Ordnung kennen nur einige Utopien im 18. Jahrhundert, doch

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Anmerkungen zu Seite 78-84 auch bei ihnen überwiegt die heraufführende Tendenz, der Rückgriff auf ursprünglich Vorhandenes ist sekundär ; s . u . S . 206 ff. 13 A. Doren hat in seinem bedeutenden Aufsatz: Wunschräume und Wunschzeiten, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25, Leipzig 1927, mit Hilfe dieser beiden Termini Utopie und Eschatologie unterschieden und vom mittelalterlichen Zeitverständnis her die eschatologische, nicht-utopische Struktur mittelalterlicher Vollendungswünsche erklärt. Die Akzentuierung der Raum-Kategorie in den neueren Utopien verkennt freilich deren eigentümlichen, nämlich offenen Zeithorizont. 14 Am ausdrücklichsten und deutlichsten ist das bei Bacon konstatiert. 15 Vgl. die einleitenden Überlegungen bei Freyer. 16 Die Formeln zur Bezeichnung der Stadien der Utopie hat Schwonke, S. 2, im Anschluß an Freyer und Mannheim gebildet: Vom Entwurf einer Idealstruktur über das Leitbild des Handelns (Freyer) zur prognostischen Orientierung (Mannheim). Den Umschlag vom zweiten zum letzten Stadium verstehe ich freilich wesentlich anders als Schwonke, nämlich aus dem Rückgriff auf Geschichte und Erfahrung. 17 Vgl. dazu R. Falke, Versuch einer Bibliographie der Utopien, Roman. Jahrbuch, 6, 1953/54. 18 Über den dialektischen Zusammenhang von Religionskriegen, Absolutismus, Aufklärung und Revolution vgl. die scharfsinnigen Analysen bei Koselleck. Der Utopiebegriff des Vf. ist der erweiterte Begriff Mannheims; das utopische Beginnen wird stark negativ akzentuiert, die eigentliche Utopie wird nicht behandelt. Zum Problem der Aufklärungsutopie vgl. P. Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, deutsch, Hamburg 1939, S. 51 ff. 19 Morelly z. Β. schreibt sowohl eine literarische Utopie „Naufrage des isles flottan­ tes ou Basiliade“, 1753, als auch einen „Code de la Nature“, 1755, und beides hängt wesentlich zusammen. Vgl. dazu Ramm, S. 80 ff. 20 W. Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848, hg. v. W. Conze, Stuttgart 1962, S. 211. 21 Seb. Mercier, L'an deuxmille quatrecentquarante, London 1772. 22 Darum rückt in der neuesten Utopie die Veränderung des Menschen selbst in den Mittelpunkt. 23 Mohl begründet sein Interesse an der Utopie damit, daß in ihr das gesellschaftliche Moment des Politischen stärker hervortrete. 24 Zu den Fragen des traditionellen sozialen Kosmos vor allem O. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, Salzburg 1949 und ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 19682, darin vor allem: III: Das Zeitalter der Ideologien. Anfang und Ende, S. 45 ff. und VI: Das „Ganze Haus“ und die Alteuropäische „Ökonomik“, S. 103 ff. Vgl. auch Conze. - Über die Auffassung der politischen „Welt“ in der älteren Staatstheorie hoffe ich noch eine detaillierte Untersuchung vorlegen zu können. 25 Daß sich hinter dem Akzent auf der Bedeutung der Wissenschaft vorwissenschaftliche, zumal magische Denkstrukturen verbergen und daß die Auswirkung der Wissenschaft auf eine Umgestaltung der sozialen Welt kaum gesehen ist, besagt nichts gegen das grundsätzliche Faktum, daß die Wissenschaft, die in das politische Gefüge des Gemeinwesens eingegliedert ist, politische Funktion hat. Schwonke, S. 105, verkennt das, indem er den Willen zur wissenschaftlichen Weltorientierung in der Utopie allein aus dem utopischen Antrieb, über Grenzen hinauszugehen, versteht, nicht aber aus der Weltintention. 26 Am schärfsten bei Gerrard Winstanley, dem Utopisten des radikalen Flügels der

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Anmerkungen zu Seite 84-88 englischen Revolution. Bei ihm wird gerade aufgrund der Ideologiekritik die utopische Neuordnung auf alle Obiektivationen des Geistes erstreckt. 27 Über die utopische Intention, die Politik durch Arbeit und produktive Praxis, durch Verwaltung überflüssig zu machen, die Entscheidung im Machtüben durch das Befolgen eines Sachzwangs zu ersetzen, die Herrschaft über Menschen durch die Herrschaft über Sachen aufzulösen, die Politiker durch wissenschaftliche Fachleute, durch Technokraten abzulösen, vgl. jetzt die Bemerkungen zu Bacon und Saint-Simon in dem wichtigen Aufsatz von H. Lübbe, Zur politischen Theorie der Technokratie, in: Der Staat, 1, 1962, besonders S. 21 f., 24 ff. 28 Zum Problem des totalitären politischen Entwurfs jetzt vor allem J . L. Talmon, The Origins of Totalitarian Democracy, London 1952, und ders., Political Messianism, London 1960. Er thematisiert das Problem der Utopie im eigentlichen Sinn nicht ausdrücklich, geht aber im 1. Band ausführlich auf Morelly und Mably ein, im 2. Band auf Saint-Simon und die Frühsozialisten. 29 A. Müller-Armack, Genealogie der Wirtschaftsstile, jetzt in: ders., Religion und Wirtschaft, Stuttgart 1959, S. 269 ff., möchte den Weltgehalt der Utopie und damit die Utopie selbst allein aus den Voraussetzungen des katholischen Lebenskreises verstehen. Die Radikalität der Utopie, ihr Sich-Ansiedeln im Jenseits der konkreten Welt entspringe der Opposition gegen die Starrheit der theologisch festgelegten, konservierenden und konservierten Staatslehre des Katholizismus und korrespondiere dem Fehlen einer nicht kirchlich bestimmten Bildungsschicht. Die Thematik der Utopie als solche werden angesehen: das Verhältnis von Staat und Kirche, Eigentum, Ehe wurzle in den Grundspannungen des Katholizismus, wie sie zumal durch die Existenz einer „anderen“ Welt, der des Klosters, wach gehalten würden; außerhalb des Katholizismus verschwinde mit diesen Spannungen der Boden der Utopie. Diese vornehmlich an Campanella orientierte Interpretation ist trotz ihrer aufschließenden Kraft gewaltsam. Müller-Armack ist genötigt, protestantische Utopien wie die Andreaes, Bacons, Harringtons als abgeblaßte Nachahmungen ohne eigentlichen utopischen Ernst zu deuten, ja vom heimlichen Katholizismus Harringtons zu sprechen; dessen persönliche Beziehung zu Karl I. war aber niemals eine Parteigängerschaft. Auch die ersten französischen Utopien, die des Vairasse und die Foignys, stammen gerade aus calvinistisch-jansenistischen Kreisen, die Utopien der englischen Revolution sind von diesem Ansatz überhaupt nicht zu deuten, und auch die Utopie des Humanisten Morus ist von der Beziehung zur katholischen Tradition her nicht zureichend zu interpretieren. Vor allem aber ist der Weltbegriff der Utopie ein anderer; es gibt eine vorgängige Totalität des Weltentwurfs, Eigentum und Ehe sind nur darin einbezogene Teilbereiche, und in ihrer Bedeutung für die Utopie nur von daher zu verstehen. 30 Die Aufklärungsutopien haben dann auch, wiederum wie Rousseau, Theorien über den Ursprung der Selbstentfremdung, den Verfall oder den Abfall der Menschheit entwickelt; freilich haben sie in diesem Verfall nicht - wie etwa der deutsche Idealismus - eine notwendige Durcheanesstufe gesehen. 31 Die Aufhebung der Entfremdung ist nicht in die geschichtliche Entwicklung eingelassen; wo sie die Fehlentwicklung des Menschen einfach rückgängig machen will, zeigt sich ein ahistorischer extremer Illusionismus. 32 Die Kritik an der Utopie, daß sie einen nicht vorhandenen, nämlich utopischen Menschen voraussetze, ist nicht sachgerecht: Weil die Person von den Institutionen bedingt ist, und weil die utopischen Institutionen die Entfremdung aufheben, ist der Mensch der Utopie ein neuer Mensch. - Vom Entfremdungsproblem her wird deutlich, wie sehr die formalisierte Bestimmung der Utopie als Intention auf andere Möglichkeiten die zentrale Intention der klassischen Utopie außer Betracht läßt. 33 Le Testament politique de Hitler, notes recueillies par Martin Bormann, Paris

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Anmerkungen zu Seite 88-98 1959 - Hitlers letzte politische Aussagen, vor allem aus dem Februar 1945 -, S. 117: Christen, Kommunisten, „d'humanitaristes“ sind Utopisten, sie versprechen 1. ein unerreichbares Paradies und gehen 2. vom abstrakten Menschen aus, indem sie die ganze Menschheit intendieren; darin liege ihr Utopismus.

5. Grundprobleme der deutschen Parteigeschichtc im 19. Jahrhundert 1 Ich würde heute (1973; der Aufsatz ist zuerst 1967 erschienen), wenn ich das Thema noch einmal ganz neu behandeln würde, u. a. die hier benutzte Kategorie „Anpassung“ vermeiden, weil sie mir im gegenwärtigen Sprachgebrauch emotionalisiert und entwertet erscheint und die ursprünglich implizierten positiven wie negativen Obertöne undeutlich bleiben. Auf Nachweise, Anmerkungen und eine Auseinandersetzung mit der umfangreichen Literatur muß ich im wesentlichen verzichten; da es sich um Grundprobleme der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert handelt, läßt sich kein objektives Maß für den Umfang eines solchen Apparates finden, das nicht den gebotenen Umfang einer knappen Abhandlung überschreitet. Ich nenne vorweg einige Arbeiten, die für Thema und Thesen von Bedeutung sind: G. Ritter, Allgemeiner Charakter und geschichtliche Grundlagen der politischen Parteibildung in Deutschland, jetzt in: ders., Lebendige Vergangenheit, München 1958. - Th. Schieder, Die geschichtlichen Grundlagen und Epochen des deutschen Parteiwesens, und: Die Theorie der Partei im älteren deutschen Liberalismus, beide in: ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958. - L. Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1957. - Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961. - Ders., Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: PVS, 2, 1961, S. 262-80 (in diesem Band S. 319 ff.). - Ders., Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichtshistorischen Forschung in Deutschland, Göttingen 1972, S. 1-44 (in diesem Band S. 174 ff.). - E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1-4, Stuttgart 1957-69. - H. Plessner, Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, 1935 (jetzt: Die verspätete Nation, Stuttgart 1959). - H. Holborn, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, in: HZ, 174, 1952, S. 3.59-84. 2 J . Jolly, Der Reichstag und die Parteien, Berlin 1880, S. 120. 3 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 3, 1962, S. 357-78 (in diesem Band S. 74 ff.). 4 Soweit ich sehe, spielt eine solche antizipierende Tendenz des Denkens im 19. Jh. sonst nur in Rußland eine Rolle, wo die Intellektuellen in einer noch extremeren Lage waren. 5 K. Repgen hat in einer Diskussion die Kontinuität der katholischen Partei bezweifelt und vor einer Überschätzung des Görreskreises gewarnt: die katholische Parteibildung sei ein Produkt, nicht eine Voraussetzung des Kulturkampfes. Ich gebe zu, daß unsere Kenntnisse über die Breitenwirkung des politischen Katholizismus in den 40er, 50er und 60er Jahren noch recht gering sind und hier die Frage, ob die zweifellos vorhandenen Ansätze es rechtfertigen, von einer Kontinuität zu sprechen, zu überprüfen wäre; immerhin scheint mir eine Analyse der Bewegung von 1848 und 1849, die sich nicht vornehmlich auf die Parlamente richtet, sondern die Wahlen, die Öffentlichkeit

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Anmerkungen zu Seite 98-114 und die in ihr agierenden Gruppen und Organisationen in Betracht zieht, auf das Faktum einer katholischen Partei, im hier verwendeten Sinne des Begriffes, hinzuführen; gerade K. Repgen hat dazu wesentliche Beiträge geleistet. Die These, die Bildung einer katholischen Partei sei ein Produkt des Kulturkampfes, erscheint mir so nicht haltbar: die Kulturkämpfe seit den 60er Jahren sind zwar Faktoren, die zur Konsolidierung des Zentrums geführt haben, aber die Fülle der sonstigen Bedingungen, ohne die solche Konsolidierung nicht möglich gewesen wäre, kann doch nicht außer acht gelassen werden. Im übrigen hat ζ. Β. L. Gall für Baden in den 60er Jahren gezeigt (und für Bayern würde ähnliches gelten), daß die Umbildung des politischen Katholizismus zu einer Massenpartei zum Teil auf sozialökonomischen Bedingungen und antiborussischen und allgemein antiliberalen und antibürokratischen Proteststimmungen beruht, auf Faktoren also, die nicht unmittelbar mit dem Kulturkampfproblem zusammenhängen. Vgl. K. Repgen, Märzbewegung und Maiwahlen des Revolutionsjahres 1848 im Rheinland, Bonn 1955; L. Gall, Der Liberalismus als regierende Partei, Wiesbaden 1968. 6. Antisemitismus - Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs (gemeinsam mit Reinhard Rürup) * Der Aufsatz wurde von Th. Nipperdey und R. Rürup gemeinsam für das Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“, hg. von O. Brunner u. a., Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 129-153, verfaßt. Er wurde in: R. Rürup, Emanzipation und Antisemitismus (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 15), Göttingen 1975, wieder abgedruckt. Aus Gründen der Vollständigkeit der hier vorgelegten Aufsätze wird er auch in diese Sammlung aufgenommen. Die Herausgeber. 1 G. Weil, Art. „Semitische Völker“, in: Staatslexikon, hg. v. C. v. Rotteck u. C. T. Welcker, Bd. 13, Altona 18653, S. 328. In der 1. und 2. Aufl. fehlen entsprechende Artikel. 2 F. Hitzig, Art. „Semitische Völker und semitisches Recht“, in: Deutsches Staatswörterbuch, hg. v. J . K. Blunschtli u. K. Brater, Bd. 9, Leipzig 1865, S. 398. 3 Vgl. Jüdisches Lexikon, hg. v. G. Herlitz u. B. Kirschner, Bd. 1, Berlin 1927, S. 331; ebenso S. W. Baron, Α Social and Religious History of the Jews, Bd. 2, New York 1937, S. 287; von hier aus ist diese Vermutung in zahlreiche andere Arbeiten übernommen worden. 4 Vgl. F. Byrnes, Antisemitism in Modern France, Bd. 1, New Brunswick 1950, S. 81. 5 A. L. v. Schlözer, Fortsetzung der Allgemeinen Welthistorie, Bd. 31, Halle 1771, S. 281; vgl. W. Frhr. v. Soden, Art. „Semiten“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Göttingen 19613, Sp. 1690; F. Schmidtke, Art. „Semiten“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg 19642, S. 653 ff. 6 J . G. Eichhorn, Einleitung in das Alte Testament, Bd. 1, Leipzig 1787, S. 45 ff.; vgl. dazu auch E. Renan, Histoire générale et Systéme comparé des langues sémitiques, Bd. 1, Paris 1855, S. 2. 7 Vgl. Rheinisches Conversations-Lexikon, Bd. 7, Köln/Bonn 1827, S. 280, Art. „Linguistik“; J . Hübner, Reales Staats- und Zeitungslexicon, Bd. 4, Leipzig 182831, S. 249, Art. „Semitische Sprachen“. 8 G. Lassen, Indische Alterthumskunde, 4 Bde., Bonn 1847-61; E. Renan, Etudes d'histoire réligieuse, Paris 18625; ders., Histoire générale (s. Anm. 6). Vgl. auch seine anderen Werke: Le judaisme, comme race et comme religion, Paris 1883, u. Histoire du peuple d'Israel, 5 Bde., Paris 1887-94.

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Anmerkungen zu Seite 114-116 9 J . A. Comte de Gobineau, Essai sur l'inégalité des races humaines, 4 Bde., Paris 1853-55; fast genau hundert Jahre nach Rousseaus berühmtem „Essai“. 10 Vgl. die in Anm. 8, 9 u. 11-13 genannten Schriften, sowie allgemein: The Jewish Encyclopedia, Bd. 1, New York 1901; Neudruck 1964, S. 641 ff. 11 Vgl. z. Β. Ρ. de Lagarde, Die Religion der Zukunft (1878) u. Die graue Interna­ tionale (1881), in: Deutsche Schriften, München 19404, S. 255 ff., S. 367; Lagarde benutzte differenzierend die Begriffe Juden' und »Semiten'. A. Wahrmund, Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Herrschaft der Juden (1887), Berlin 18922; Wahrmund sprach vom „Asiatismus“ und vom „Nomadentum“ der Juden. 12 Vgl. Anm. 1., 2. u. 13. 13 J . K. Bluntschli, Art. „Arische Völker und arische Rechte“, in: Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1857, S. 319 ff. - Auch ein Jude, M. Hess, übernahm, wenn auch mit anderem Akzent, diese Gegenüberstellung: Dynamische Stofflehre, Paris 1837, S. 32 f., S. 36; vgl. auch Anm. 23. 14 Vgl. G. W. F. Hegel, Theologische Jugendschriften, hg. ν. Η. Nohl, Tübingen 1907, S. 243 ff.; L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1841, Kap. 12; B. Bauer, Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Bd. 1, Zürich 1843, S. 71: Der Jude müsse, um Mensch zu werden, seine Religion und das „schimäre Privilegium seiner Nationalität“ ganz und gar aufgeben; ders., Die Judenfrage, Braunschweig 1843. - Zu den Junghegelianern s. E. Sterling, Er ist wie du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland 1815-1850, München 1956, S. 1 1 1 ff.; zur anthropologischen Verwendung des Wortes Jude' in der Populärliteratur vgl. ebd., S. 76. 15 Vgl. H. Leo, Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates, Berlin 1828; A. Schopenhauer, Parerga 2 (1852), in: Sämtliche Werke, Bd. 6, Wiesbaden 19472, S. 402 ff. 16 Dazu E. Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1962, S. 16, 46, 57 u. passim. Schon der Saint-Simonist Enfantin hat, freilich positiv, definiert: „die Juden, das ist der Handel“, ebd., S. 14. 17 K. Marx, Zur Judenfrage, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, S. 347 ff.; die Schrift richtete sich gegen die Abhandlung Bruno Bauers zur Judenfrage'; freilich war das Thema der Judenfrage' nur Anlaß, das allgemeine Thema der Emanzipation zu behandeln. 18 Ebd., S. 348, 372 f., 374 f. 19 Eine Fülle von Belegen, die freilich oft ungenau zitiert und nicht chronologisch fixiert sind, bei Sterling, Er ist wie du, passim. 20 E. M. Arndt, Ein Blick aus der Zeit auf die Zeit, Germanien (d. i. Frankfurt) 1814, S. 188. 21 Hegel, Rechtsphilosophie, § 270, Anm. 22 Schopenhauer, Parerga 2, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 280. 23 Zum Gebrauch der Begriffe ,Race', ,Racenreinheit', ,orientalisches Blut' etc. im Vormärz vgl. Sterling, Er ist wie du, S. 47, 81, 98 f., 113 (Gutzkow), 126, 130 ff., 139 ff. Der „Telegraph für Deutschland“ sprach schon 1841, S. 547 vom „Vorurteil der Race“. Zur Verwendung des Begriffes ,Rasse' für die Juden vgl. R. Wagner, Das Judentum in der Musik (1850), in: Ges. Schriften und Dichtungen, Bd. 5, Leipzig 1873, S. 83 ff., u. B. Bauer, Art. „Das Judentum in der Fremde“, in: H. Wagener, Staats- und Gesellschaftslexikon, Bd. 10, Berlin 1862, S. 614 ff. In den siebziger Jahren war der Rassebegriff, etwa bei Dühring, Marr und Naudh, aber ebenso bei Moses Hess schon ganz scharf ausgeprägt. 24 Zum Kampf um die eigentliche Benennung zur Zeit der beginnenden Emanzipation - Juden', ,Israeliten', ,Hebräer', ,Mosaisten' - vgl. für Preußen A. Stern, Ab-

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Anmerkungen zu Seite 116-119 handlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit, Leipzig 1885, S. 246, 255, 260. 25 W. Menzel in: Cottasches Literaturblatt, 1837, S. 93 u. ö.; vgl. G. Riesser, Jüdische Briefe, 2 Bde., Berlin 1840/42, passim; auch: ders., Ges. Schriften, hg. ν. Μ. Isler, Bd. 4, Frankfurt 1868, S. 37 ff. 26 L. Häusser, in: Verhandlungen der Zweiten badischen Kammer 1861-63, 6. Beilagenheft, S. 134. 27 J . K. Bluntschli, Art. „Juden“, in: Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 5, Leipzig 1860, S. 444. 28 H. Bresslau, Zur Judenfrage, Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke, Berlin 1880, S. 5; jetzt in: Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. v. W. Boehlich, Frankfurt 1965, S. 54. Vgl. E. Dühring, Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage, Karlsruhe 1881, S. 4: „Wenn ich im Folgenden kurzweg von Juden rede, so brauche ich diese Bezeichnung in ihrem natürlichen Sinn, also für Abstammung und Race“. Dühring sprach auch schon von „Halb- und Viertelsjuden oder auch Dreivierteljuden“ neben „Vollblutjuden“; ebd., S. 144. 29 O. Glagau, Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin, Leipzig 1876, S. 317, 343; vgl. Die deutsche Wacht, März 1880, S. 281: „Semiten. Juden oder getaufte Juden.“ Auch Bismarck sprach im Sommer 1879 davon, er wolle „den rechten Flügel der Nationalliberalen . . . von den Semiten . . . [Lasker und Bamberger] trennen“; zit. L. Frhr. v. Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart 1920, S. 163 f. 30 Brockhaus, Konversationslexikon. Allgemeine deutsche Realencyclopaedie, Bd. 14, Leipzig 189514, S. 847; ähnlich H. J . Meyer, Neues Konversations-Lexikon für alle Stände, Bd. 15, Leipzig 18975, S. 899: „Semitismus, Bezeichnung für die Gesamtheit der Juden als Volksstamm, ohne Rücksicht auf die Religion.“ 31 Riesser, Jüdische Briefe (1840), in: Ges. Schriften, Bd. 4, S. 133. 32 Für Frankreich vgl. Silberner, S. 65, über den Gebrauch von ,Arier' und ,Semit' bei den Blanquisten Ende der sechziger Jahre. 33 Im preußischen Abgeordnetenhaus ζ. Β. erwähnte der Abg. Dr. Meyer (Breslau) am 22. 11. 1880, es sei eine „Tatsache, daß man den Namen Jude' überhaupt schon als ein Brandmal gebraucht, daß man sagt, man sei mit dem Menschen, den Bestrebungen, den Tendenzen, den Gedanken desselben fertig, sobald man behauptet hat, der Mann sei ein Jude, sei ein Semit“; Stenographische Berichte des Preuß. Abgeordnetenhauses, Berlin 1881, Bd. 1, S. 255. 34 Vgl. die Äußerung des Abg. Dr. Meyer (Breslau), ebd.: „Man sagt, man fasse unter dem Namen Judentum' gewisse kranke und verwerfliche Bestrebungen der Zeit zusammen.“ 35 H. v. Treitschke. Unsere Aussichten (1879), zit. nach Boehlich, S. 9. 36 Kreuz-Zeitung (1875), Nr. 148 ff. 37 O. Glagau, Der Bankerott des Nationalliberalismus und die „Reaktion“, Berlin 1878, S. 71, zit. nach P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959, S. 10. Ähnlich Naudh: das Judentum sei „die Religion des Manchestertums“; H. Naudh [d. i. H. G. Nordmann], Professoren über Israel (1880), zit. nach Boehlich, S. 186. 38 Dühring, Judenfrage, S. 32. 39 W. Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, Bern 1879, S. 46 ff. Zum häufigen Gebrauch des Wortes ,Semitismus' vgl. ders., Vom Jüdischen Kriegsschauplatz. Eine Streitschrift, Berlin 1879, S. 3 ff. 40 C. Frantz, Literarisch-politische Aufsätze, München 1876, S. XVII. 41 M. Joel, Offener Brief an Heinrich von Treitschke (1879), zit. nach Boehlich,

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Anmerkungen zu Seite 119-121 S. 22 f. Im Sommer 1879 bezeichnete der Abgeordnete Löwe (Calbe) im Reichstag das Epitheton „semitisch“ als „wohlfeil und schlecht“, Stenographische Berichte des Deutschen Reichstages, Berlin 1879, Teil II, Bd. 1, S. 1074, und wenige Monate später erklärte H. Bresslau in seiner Antwort an Treitschke diesen Gebrauch des „neuerdings in Aufnahme gekommenen Ausdrucks Semit“ als bloße „Konzession an einen zwar populären, aber darum nicht minder ungenauen Sprachgebrauch“; Zur Judenfrage, S. 5, u. Boehlich, S. 54. Belege dieser Art ließen sich häufen. 42 Über die antijüdische Literatur und Publizistik der siebziger Jahre vgl. Massing, Vorgeschichte; außerdem K. Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien 1873-1890, Berlin 1927; P. G. J . Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966. 43 T. Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, Berlin 18803, S. 11; auch Boehlich, S. 220. 44 Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums v. 2. 9. 1879, S. 564; Marr hatte in der 1. Aufl. seiner Broschüre „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“, die erstmals im Frühjahr 1879 (nicht 1873, wie immer wieder behauptet) bei Costenoble in Bern erschien, auf dem Einband eine „socialpolitische Wochenschrift“ angekündigt (ebenso 3. Aufl.; in der 5. u. 12. Aufl., ebenfalls 1879, fehlt diese Ankündigung). In einer weiteren Schrift im Sommer 1879 „Vom Jüdischen Kriegsschauplatz“ erwähnte er selber die frühere Ankündigung einer „antijüdischen Wochenschrift“ (S. 19 f.); gleichzeitig forderte er jetzt zur Bildung einer „antijüdischen Vereinigung“ auf (S. 23). 45 Zu Marrs Sprachgebrauch vgl. seine Broschüren: Der Sieg des Judenthums (s. Anm. 39); Vom Jüdischen Kriegsschauplatz (s. Anm. 39); Wählet keine Juden! Der Weg zum Sieg des Germanenthums über das Judenthum. Ein Mahnwort an die Wähler nichtjüdischen Stammes aller Konfessionen, Berlin 18792. Diese Broschüren lagen alle bereits im August 1879 vor, der Begriff ,Antisemitismus' findet sich in ihnen nicht. Von November 1879 bis März 1880 redigierte Marr „Die deutsche Wacht. Monatsschrift für nationale Kulturinteressen (Organ der antijüdischen Vereinigung)“, Berlin (bei O. Hentze); im Spätjahr 1879 findet sich das Wort antisemitisch' vereinzelt, seit Anfang 1880 dann häufiger in der „Deutschen Wacht“, ohne daß der veränderte Sprachgebrauch irgendwie begründet wurde. Im Frühjahr 1880 begann Marr dann mit der Herausgabe von „Antisemitischen Heften“ (Chemnitz 1880). 46 Der Aufruf zur Bildung einer „Antisemiten-Liga“ erschien als Inserat in der „Vossischen Zeitung“ v. 26. 9. 1879; am 27. 9. 1879 wurde er in der „Germania“ im redaktionellen Teil abgedruckt, wobei im Kommentar auch von einer „antisemitischen Liga“ gesprochen wurde. Die Statuten erschienen Mitte Oktober: Statuten des Vereins „Anti-Semiten-Liga“, Berlin (O. Hentze), Anfang Oktober 1879 (7 Seiten). Die „AntisemitenLiga“, die von Marr schon im Sommer 1879 gefordert worden war (s. Anm. 44), entstand nach einer Darstellung der „Deutschen Wacht“ (April 1881) „besonders unter Marr's Mitwirkung“ (S. 18). Insofern ist es sachlich sicherlich nicht unberechtigt, Marrs Namen mit der Entstehung und Verbreitung des Begriffs Antisemitismus' in Verbindung zu bringen. 47 W. Marr, Der Judenkrieg, seine Fehler und wie er zu organisieren ist. Antisemitische Hefte 1 (Chemnitz 1880), S. 15; die „Antisemiten-Liga“ hielt 1879 lediglich eine einzige öffentliche Veranstaltung ab. 48 Schon Mitte Oktober 1879 veröffentlichte ein Anonymus eine Persiflage auf die „Antisemiten-Liga“: Der Anti-Verjüdelungsverein. Ein Komisches Epos von 10 Gesängen von Julius Simplex. - Am 28. November inserierte in der „Vossischen Zeitung“ bereits ein „I. antisemitisches Restaurant“. 49 Treitschke, Unsere Aussichten, zit. nach Boehlich, S. 7. Mommsen, Judenthum (s. Anm. 43); auch Boehlich, S. 211, 213, 221 ff.

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Anmerkungen zu Seite 121-123 Treitsdike, Zur inneren Lage am Jahresschlusse (1880), zit. nach Boehlich, S. 225. Text der Petition: Schulthess, Geschichtskalender, München 1880, S. 208 ff.; vgl. dazu die Verhandlungen im Preuß. Abgeordnetenhaus am 20./22. 11. 1880: Sten. Ber. (1881), Bd. 1, S. 226 ff. mit zahlreichen Beispielen für den Sprachgebrauch in der J u denfrage*. 52 P. Cassel, Die Antisemiten und die evangelische Kirche, Berlin 1881; K. Fischer, Antisemiten und Gymnasiallehrer. Ein Protest, Berlin 1881; L. Quidde, Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft, Göttingen 18812, u. a. 53 E. Lehnhardt, Die Antisemitische Bewegung in Deutschland, besonders in Berlin, nach Voraussetzungen, Wesen, Berechtigung und Folgen dargelegt. Ein Beitrag zur Lösung der Judenfrage, Zürich 1884. 54 Vgl. A. Stoecker, Sozialdemokratisch, sozialistisch und christlich-sozial (1880), in Christlich-Sozial, Reden und Aufsätze, Berlin 18902, S. 215 ff.; W. Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung,, Hamburg 19352, S. 83, 229. 55 So in einem Rückblick am 25. 7. 1882, S. 489. Einwände gegen den Begriff ,Semitismus' s. S. 134; vgl. L. Bamberger, Deutschthum und Judenthum (1880), bei Boehlich, S. 159. 56 Vgl. auch den Leitartikel von L. Philippson, Wie steht es gegenwärtig um den „Antisemitismus“? (26.4. 1881), S. 267 f. Da von einzelnen Organisatoren der studentischen „Antisemiten-Petition“ 1880 gegen die Bezeichnung ,Antisemiten' protestiert worden war, schlug Quidde, S. 17, vor, sie statt dessen „Semitophoben oder vielleicht am passendsten Semitoklasten“ zu nennen. 57 Belege für Österreich bei Pulzer, S. 123 ff. 58 Vgl. Byrnes, S. 135, 233; 1882 erschien bereits in der „Revue politique et littéraire“ ein Aufsatz unter dem Titel „La question antisemitique“ (ebd., S. 111). - Die Wirkung der Vorgänge in Deutschland ist belegbar in zwei Aufsätzen von H. Kuhn, La question juive en Allemagne, in: Revue du monde catholique, Bd. 71, 1881, S. 70 ff., 147 ff. 59 Lehnhardt, S. 56. 60 Stoecker, vgl. Antisemitische Correspondenz (Januar 1888), S. 21. 61 W. Frhr. v. Hammerstein (1885), zit. bei Frank, Stoecker, S. 137. 62 Lehnhardt, S. 70, 94. 63 „Scheinantisemiten“ bzw. „falsche Antisemiten“ nannte Böckel (1887) die Vertreter des konservativen, christlich-sozialen Antisemitismus Stoeckerscher Prägung; zit. bei Wawrzinek, S. 67. Zu „Talmi-Antisemitismus“ vgl: Talmi-Antisemitismus. Von einem zielbewußten Antisemiten [d.i. H. Frhr. v. Schorlemer], Großenhain 1895; „Quartalsantisemitismus“ s. Antisemitische Correspondenz, Bd. 3 (Tanuar 1888) S. 5. 64 A. Leroy-Beaulieu, Les juifs et l'antisémitisme. Israel chez les nations, Paris 18938, S. 12. 65 Baron, History of the Jews, Bd. 2, S. 296. 66 Naudh, Professoren, zit. nach Boehlich, S. 183. 67 Vgl. z. Β. Bamberger, Deutschthum, vgl. Boehlich, S. 161. 68 H. J . M eyer, Neues Konversations-Lexikon für alle Stände, Bd. 1, Leipzig 18935, S.684. 69 Germania, Leitartikel v. 9. u. 10.9. 1875 (Nr. 207 u. 208). Im selben Sinne argumentierten Stoecker und seine „Christlich-Soziale Partei“. 70 Staatslexikon, Bd. 3, Freiburg 1894, S. 530. 71 Η. Ρ. Bahrdt, Soziologische Reflexionen über die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Antisemitismus in Deutschland, in: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, hg. v. W. E. Mosse u. A. Paucker, Tübingen 1965, S. 135 ff. 50

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Anmerkungen zu Seite 123-127 72 W. Gurian, Antisemitism in Modern Germany, in: Essays on Antisemitism, hg. v. K. S. Pinson, New York 19462, S. 218 ff. 73 Lagarde, Die graue Internationale, in: Deutsche Schriften, S. 370 f. 74 Allgemeine Zeitung des Judentums (1875), S. 1, zit. nach J . Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966, S. 250. 75 Bamberger, Deutschthum, zit. nach Boehlich, S. 156. 76 Toury, Orientierungen, S. 206. Der Ausdruck wurde auch von Juden gebraucht. 77 Treitschke, Unsere Aussichten, zit. nach Boehlich, S. 5 f. 78 M. Busch, Beiträge zur Beurteilung der Judenfrage, in: Die Grenzboten, Bd. 39, 1880, H. 1, S. 557. 79 Naudh, Professoren, zit. nach Boehlich, S. 184. 80 Lagarde, Programm für die konservative Partei Preußens (1884), in: Deutsche Schriften, S. 433. 81 Böckel und Ahlwardt führten ihre Wahlkämpfe mit der Parole „Gegen Junker und Juden“, vgl. Massing, S. 93 u. ö.; Antisemiten-Spiegel, Danzig 19002, S. 401. 82 Treitschke, Unsere Aussichten, zit. nach Boehlich, S. 5, 8, 12. 83 Marr, Der Sieg des Judenthums, S. 11. 84 Stoecker, zit. nach Massing, S. 35, 61; Henrici, ebd., S. 81 f.; Liebermann, ebd., S. 82; O. Böckel, Die Juden, die Könige unserer Zeit, Leipzig 188713. 85 Lagarde, Die Stellung der Religionsgesellschaften im Staate (1881), in: Deutsche Schriften, S. 291, 370; ders., Programm, ebd., S. 423 f. Schon 1853 schrieb er: „Es ist unmöglich, eine Nation in der Nation zu dulden. Und eine Nation sind die Juden“; Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, ebd., S. 30. Rasseantisemit war Lagarde nicht, er hielt eine Assimilation, freilich nur bei Aufgabe der jüdischen Religion, für möglich. 86 Mommsen, Judenthum, S. 4, vgl. Boehlich, S. 211. 87 Bamberger, Deutschthum, zit. nach Boehlich, S. 157. 88 Wawrzinek, S. 76. 89 So in der „Antisemitischen Correspondenz“ (Januar 1888). 90 Antisemitische Correspondenz v. 1. 10. 1888, S. 11. Es erschienen außerdem „Antisemitische Volkskalender“ (1888), „Neue Lieder patriotischen und antisemitischen Inhalts“ (1888) u.a. 91 Vgl. Wawrzinek, S. 67. 92 Fritsch trat zeitweise aber auch für eine Partei mit eigenen Abgeordneten ein, „um den latenten Antisemitismus aus den alten Parteien herauszugären“; Antisemitische Correspondenz v. 1.10.1888; zit. nach Wawrzinek, S. 72. 93 Diskussionsbeitrag P. Försters, zit. nach Wawrzinek, S. 75. 94 Wawrzinek, S. 82, Anm. 54. 95 In Österreich bildeten sich ebenfalls antisemitische Organisationen, aber weder die radikalen und alldeutschen Rasseantisemiten um Schönerer noch die antisemitische christlich-soziale Partei Luegers nahmen den Begriff in ihren Namen auf. Für die Verwendung des Begriffs »Antisemitismus' vgl. E. v. Rudolf [d. i. Rudolf v. Elmayer-Vestenbrugg], Georg Ritter von Schönerer, der Vater des politischen Antisemitismus, München 1936, S. 58 (für 1887), u. R. Kralik, Karl Lueger und der christliche Sozialismus, Bd. 1, Wien 1923, S. 52 (für 1890), S. 198 (christlicher Antisemitismus). 96 Die in der Literatur zumeist benutzten Wahlstatistiken sind irreführend, weil von der Fraktion der Wirtschaftlichen Vereinigung im Reichstag ausgegangen wird; deren Mitglieder waren aber nur ζ. Τ. Antisemiten. 97 Parteitag der Deutschen Reformpartei 1899: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, S. 69 ff.

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Anmerkungen zu Seite 127-131 98 Seit der 26. Aufl. 1907 hat er den negativen Titel fallen gelassen und das Werk „Handbuch der Judenfrage“ genannt. 99 Das Wort ,deutschnational' war bis 1914 im allgemeinen völkisch-antisemitisch gemeint: deutsch-nationale Vereine schlossen Juden von der Mitgliedschaft aus. 100 Class bezeichnete sich selbst als Antisemit: „Mit meiner Wahl in die Hauptleitung kam der erste entschiedene Antisemit in diese Körperschaft“; H. Class, Wider den Strom, Leipzig 1932, S. 88. - Zur Haltung des Offizierkorps vgl. das Gutachten des „Verbandes der Deutschen Juden“: Das jüdische Bekenntnis als Hinderungsgrund bei der Beförderung zum preußischen Reserveoffizier, he. ν. Μ. Τ. Loewenthal, Berlin 1911. 101 Vgl. hierzu Pulzer, S. 69 ff., S. 189 ff., u. allgemein F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern 1963. 102 Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, dt. v. L. Schemann, 4 Bde., Stuttgart 1898-1901; vgl. Anm. 9; Schemann gehörte zum Bayreuther Wagnerkreis. Übrigens hat schon Bluntschli Gobineau benutzt (s. Anm. 13). 103 F. Naumann, Die Leidensgeschichte des deutschen Liberalismus (1908), in: Werke, Bd. 4, Köln/Opladen 1964, S. 292. 104 Hierzu Toury, Orientierungen, S. 181 f., 206, u. einige Bemerkungen bei Pulzer, S. 159 f., zu Mitgliedschaften von Liberalen in Vereinen und Organisationen, die keine Juden aufnahmen. Die Beziehungen der Nationalliberalen zum „Bund der Landwirte“ und ihre Stichwahlunterstützung für antisemitische Kandidaten gehören in denselben Zusammenhang. Die „Kreuz-Zeitung“ sprach 1888 vom „Privat-Antisemitismus“ mancher Freisinnigen und Sozialdemokraten; vgl. Antisemitische Correspondenz v. 15. 10. 1888. 105 Brief Engels' v. 9. 5. 1890, zit. nach V. Adler, Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 1, Wien 1922, S. 7; vgl. auch Silberner, S. 154; Pulzer, S. 213. 106 F. Mehring, in: Die Neue Zeit, Bd. 9/2, 1890/91, S. 587. 107 W. Liebknecht, Reichstagsrede v. 30. 11. 1893, zit. nach Silberner, S. 209. 108 Liebknecht, Rede über den Kölner Parteitag, Bielefeld 1893, S. 28; vgl. Silberner, S. 205. 109 Hierzu die eindeutige Äußerung Bebels bei H. Bahr, Der Antisemitismus, Berlin 1893, S. 21. 110 A. Hitler, Mein Kampf, München 193354, S. 69. 111 Ebd., S. 628. 112 Beide Formulierungen ebd., S. 132. Eine interessante Variante dieses Begriffs in einer Rede v. 13. 8. 1920, zit. bei H. Buchheim u. a., Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, Olten 1965, S. 307; ähnlich in einem Brief v. 16.9.1919, zit. bei E. Deuerlein, Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr, in: VfZ, Bd. 7, 1959, S. 203 f. 113 In dem in Anm. 112 zit. Brief heißt es am Schluß über den „Antisemitismus der Vernunft: Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein“. 114 Hitler, Mein Kampf, S. 628 f. 115 Ebd. 116 Anweisungen der Pressekonferenz der Regierung des Dritten Reiches v. 22. 8. 1935, zit. nach C. Berning, Vom „Abstammungsnachweis“ zum „Zuchtwart“. Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1964, S. 14. 117 Runderlaß des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Innern v. 26. 11. 1935, zit. nach Berning, S. 22. - Zu Jude' bzw. Jüdisch' im Sprachgebrauch des Nationalsozialismus vgl. V. Klemperer, Die überwältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. „LTI, Darmstadt 1949, S. 187 ff. 118 T. Fritsch, Handbuch der Judenfrage, Leipzig 194449, S. 18 u. passim; die Kritik

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Anmerkungen zu Seite 131-133 am Begriff ,Antisemitismus' findet sich auch schon in früheren Auflagen, aber der Ersatzbegriff ,Antijudaismus' fehlt noch in der 48. Aufl. von 1943. 119 Vgl. J . Wulf, Aus dem Lexikon der Mörder. „Sonderbehandlung“ und verwandte Wörter in nationalsozialistischen Dokumenten, Gütersloh 1963. 120 Vgl H. Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, hg. ν. Ρ. Ε. Schramm, Stuttgart 1963, S. 361, 472. 121 R. Höss, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hg. v. M. Broszat, Stuttgart 1958, S. 148. Vgl. Höss' Bemerkung über die antisemitischen Hetzereien des „Stürmer“: „Die Zeitung hat viel Unheil angerichtet, sie hat dem ernsthaften Antisemitismus nicht genutzt, sondern im Gegenteil bösen Abbruch getan“; ebd., S. 109. 122 Silberner, S. 290; um eine irreführende Ausweitung des Begriffs handelt es sich jedoch, wenn Silberner definiert: „Antisemit ist jedermann, der den Juden feindselig gesinnt ist, unabhängig davon, ob seine Anklage ganz oder teilweise stimmt oder einfach grundlos ist“; ebd., S. 291. 123 In dem nach Abschluß des Manuskripts erschienenen Buch von I. Elbogen, Ein Jahrhundert jüdischen Lebens. Die Geschichte des neuzeitlichen Judentums, hg. ν. Ε. Littmann, Frankfurt 1967, S. 635 wird erwähnt, daß der jüdische Journalist Moritz Steinschneider beansprucht habe, das Wort ,Antisemitismus' zuerst gebraucht zu haben, und zwar in einem persönlichen Brief, in dem er sich gegen Renans Auffassungen vom Charakter der „Semiten“ gewandt habe. Diese Mitteilung dürfte sich auf mündliche Überlieferung gründen, sie enthält weder Quellenangaben noch eine Datierung; eine Verbindung von einem eventuellen Wortgebrauch bei Steinschneider zur politischen Begriffsbildung von 1879 ist nicht zu erkennen. 7. Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert 1 Der Anstoß für die Beschäftigung mit dem Thema ging von meinem Kollegen Klaus Lankheit (Karlsruhe) aus, dessen Institut eine umfassende Dokumentation und verschiedene Publikationen über die Denkmäler im 19. Jahrhundert vorbereitet und der mit mir zusammen ein Seminar über Nationaldenkmäler abgehalten hat. Ich bin ihm für diesen Anstoß und für manche kunsthistorischen Anregungen und Einsichten zu großem Dank verpflichtet. Einige Gedanken zu diesem Thema habe ich im Sommer 1966 in einer Arbeitsgruppe der Thyssen-Stiftung vorgetragen. Dem Umfang einer knappen Abhandlung entsprechend muß ich auf die Erörterung einiger wichtiger zum Thema gehöriger Komplexe ganz oder fast ganz verzichten, so auf die Entwurfs- und Planungsgeschichte der Denkmäler, auf die Resonanz und die Kritik, die ein Denkmal bei den Zeitgenossen findet, auf die allgemeine Entwicklung der Denkmalsidee im 19. Jahrhundert, auf den notwendigen Vergleich, zumal mit der Geschichte des französischen, italienischen und ostmitteleuropäischen nationalen Denkmals und auf eine abschließende Erörterung der Denkmäler des ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Ära; auch kann ich die in den Denkmalsbewegungen zutage tretenden Nationalideen im vorliegenden Zusammenhang nicht explizit mit der allgemeinen Geschichte der Nationalidee und des Nationalbewußtseins und ihren politischen und sozialen Bedingungen und Hintergründen in Beziehung setzen; auf diese Komplexe werde ich an anderer Stelle zurückkommen. 2 Th. Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 1961, S. 75, hat auf dieses Problem bereits hingewiesen. 3 Aus der bisherigen Literatur ist zu nennen: A. Hofmann, Denkmäler: Geschichte des Denkmals; Denkmäler mit architektonischem oder vorwiegend architektonischem

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Anmerkungen zu Seite 133-138 Grundgedanken. Handbuch der Architektur, Bd. 4 /8, Heft 2 a und b (mehr nicht erschienen), Stuttgart 1906, eine umfassende und zumal für die zweite Hälfte des 19. Jh.s materialreiche Zusammenstellung. - H. Schrade, Das deutsche Nationaldenkmal, München 1933, die einzige Gesamtdarstellung zum Thema. Trotz sehr bedeutender kunstwissenschaftlicher Problemstellungen und Einsichten und trotz vieler Anregungen bleibt das Werk historisch unbefriedigend: es ist eine aktuell bestimmte Programmschrift, die von einem Ideal des Nationaldenkmals, dem architektonischen Denkmal, das die Nation als überindividuelle Gemeinschaft anspricht und sinnfällig macht, ausgeht; an diesem Ideal werden die historischen Denkmäler gemessen, die Denkmäler der zweiten Hälfte des 19. Jh.s werden kaum behandelt; der programmatische und vage Vorbegriff von Nation verhindert jede differenzierende politische Analyse der in den Denkmälern wirklich gewordenen verschiedenen Nationalideen; die historische Situation, in der ein Denkmal steht, die Entwurfs- und Baugeschichte und die für die Intention der Zeitgenossen so charakteristischen Denkmalsfeste werden nur gelegentlich und sehr knapp angezogen, dem Charakter einer Programmschrift entsprechend fehlen alle Belege. - H. Beenken, Das 19. Jahrhundert in der deutschen Kunst, München 1944, ein nicht nur für die Kunstwissenschaft, sondern auch für die historische Analyse des 19. Jh.s bedeutendes Werk, das wohl durch den Termin seines Erscheinens im Herbst 1944 in seiner Wirkung beeinträchtigt worden ist, behandelt in einschlägigen Abschnitten auch eine Reihe wichtiger Nationaldenkmäler. Um den Anmerkungsapparat knapp zu halten, habe ich im folgenden auf eine Auseinandersetzung mit diesen Autoren an entsprechenden Stellen verzichtet; wo ich unmittelbar von ihnen abhängig bin, ist das selbstverständlich vermerkt. 4 Schrade, S. 26 f.; vgl. auch A. Neumeyer, Monuments to „Genius“ in German Classicism, in: Journal of the Warbure Institute, Bd. 2, London 1938/39, S. 159 ff. 5 W. G. Becker, Vom Costume an Denkmälern, Leipzig 1776, S. 9. 6 C. C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 3, Leipzig 1784, S. 140 ff. 7 Aus der vielfältigen Literatur nenne ich: K. Merckle, Das Denkmal König Friedrichs des Großen in Berlin, Berlin 1894; H. Mackowsky, J . G. Schadow 1764-97, Berlin 1927, S. 91 ff., 240 ff., 279 f., 394 ff. 8 Merckle, S. 34. 9 Schadow 1780; Mackowsky, S. 91 ff. 10 Heinitz hatte 1791 den fast revolutionären Vorschlag gemacht, das Denkmal solle von allen Ständen im gesamten Vaterlande errichtet werden; das hatte der König, ganz in dynastischer Tradition, abgelehnt; F. u. K. Eggers, C. D. Rauch, Berlin 1873 ff., Bd. 4, S. 49; bei Merckle fehlt diese wichtige Angabe. Trotzdem wurden Inschriften in diesem Sinne projektiert. 11 Berlinische Monatsschrift, 1, 1796, S. 12 ff. 12 K. Levezow, Denkschrift auf Friedrich Gilly, Berlin 1801, S. 21 ff. (nach Gesprächen mit Gilly); ders., Über die Idee eines Denkmals für Friedrich den Großen, in: Kosmann-Heinsius, Denkwürdigkeiten der Mark Brandenburg, 1796, Bd. 2, S. 1009 ff.; A. Oncken, F. Gilly, Berlin 1935, S. 48. 13 Vgl. dazu die Randbemerkungen Gillys zu seinen Entwürfen: A. Rietdorf, Gilly, Wiedergeburt der Architektur, Berlin 1940, S. 59 ff., eine Arbeit, die sonst gegenüber der Monographie von A. Oncken nichts Neues bietet. Zum revolutionären Klassizismus außer Oncken, besonders S. 5 ff., E. Kaufmann, Von Ledoux bis Le Corbusier, Wien 1933; H. Schmitz, Berliner Baumeister vom Ende des 18. Jh.s, Berlin 19252, besonders S. 59 ff. 14 Oncken, S. 49. 15 Vgl. G. Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, Wiesbaden 1961.

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Nipperdey

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Anmerkungen zu Seite 139-143 16 Beenken sieht in diesem Verhältnis von Kunstwerk und Betrachter den eigentlichen Grundzug der Kunst des 19. Jh.s. Diese universale These kann hier nicht diskutiert werden. Für das architektonische Denkmal des späten 18. und des frühen 19. Jh.s, ja überhaupt für das Denkmal des 19. Jh.s ist diese Struktur aber evident und aus Äußerungen der Künstler, z. Β. Schinkels, s. u. S. 145, wie aus der Analyse der Werke im­ mer wieder zu belegen. 17 M erckle, S. 76; Verfügung vom 1. 11. 1800. 18 H. Mackowsky, Das Friedrichs-Denkmal nach den Entwürfen Schinkels und Rauchs, Berlin 1894, S. 16 ff. 19 Eggers, Bd. 4, S. 65 f. 20 Mackowsky, S. 45. 21 E. Förster, Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 5, Leipzig 1860, S. 316; diese positive Wertung ist ein Zeugnis für die lebensvolle Wirklichkeit der historistischen Haltung im gebildeten Bürgertum der Jahrhundertmitte, die eine solche Versammlung keineswegs als museal empfand. 22 A. Sommer, Gedenkbuch enthaltend die Geschichte und Beschreibung des Friedrichs-Denkmals in Berlin, Berlin 1852, S. 48 ff. 23 H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 5, Leipzig 1894, S. 405 f. 24 Für die Einweihung die extrem konservative Propagandaschrift von Sommer, S. 93 ff.; über die Zurückhaltung und die geplanten Gegendemonstrationen von einem Teil der Gewerke: (Augsburger) Allgemeine Zeitung vom 7. 6. 1851. 25 P. O. Rave (Hg.), Karl Friedrich Schinkel, Bd. 3, Berlin 1941, S. 270 ff.; E. Faden, Zur politischen Geschichte der Berliner Denkmäler, in: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins, 54, 1937, S. 93 f. 26 S. unten S. 153 ff. 27 S. unten S. 146. 28 Ausführliche Darstellung der Denkmalsgeschichte: Die Denksäule im Invalidenpark zu Berlin, in: Der Soldatenfreund, 22/6, 1854. 29 J . N. Sepp, Ludwig Augustus von Bayern und das Zeitalter der Wiedergeburt der Künste, Regensburg 19032, S. 357; über die monarchisch konstitutionellen Denkmäler s. unten S. 155 f.; über die Ruhmeshalle und die Bavaria s. unten S. 150 f. 30 Für die Verbindung von Partikularstaat und Reich mag auf die Münchener Friedenssäule (1899) und das Kriegerdenkmal bei Edenkoben in der Pfalz (1899) hingewiesen werden; hier sind immer preußisch-deutsche und bayerische Regenten, Feldherrn und Politiker parallelisiert. 31 Beenken, S. 479. 32 Vgl. unten S. 151. 33 Beenken, S. 35. 34 O. Kuntzemüller, Die Denkmäler Kaiser Wilhelms des Großen, Bremen 1902, zählt 327 fertige oder im Bau befindliche Denkmäler. Ein Sammelwerk: Deutschlands Ruhm und Stolz, o. J . , zählt 372, davon etwa 190 in den preußischen Ostprovinzen, 70 in den beiden Westprovinzen und 26 in den 1866 gewonnenen Provinzen, 39 in Süddeutschland. 35 A. Lichtwark, in: Pan, III/2, 1897, S. 106. 36 Beenken, S. 35. 37 A. G. Meyer, R. Beeas, Bielefeld 1897, S. 120, 105 f.; vgl. auch S. 3 f. u. ö. 38 Hofmann, S. 244. 39 Vgl. zusammenfassend und antikritisch H. Delbrück, Das Wilhelms-Denkmal, in: Preußische Jahrbücher, Mai 1897, S. 177 ff. 40 H. Ferschke, Der Kyffhäuser und das Kaiser-Wilhelm-Denkmal, Frankenhausen 1897, S. 29; dieses Bild zuerst bei Felix Dahn, Macte imperator! ein lateinisch und

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Anmerkungen zu Seite 143-148 deutsch verfaßtes Gedicht, 1871, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 18, Leipzig 1899, S. 463 ff. 41 Hofmann, S. 660 f. 42 Pläne für ein „deutsches Olympia“ am Kyffhäuser wurden lebhaft erörtert, vgl. Die deutschen Nationalfeste und der Kyffhäuser als Feststätte, München 1897. 43 Ferschke, S. 38 f.; Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser, 19214, S. 13 f., 19. 44 Ferschke, S. 40. 45 Kaiser-Wilhelm-Denkmal, S. 19. 46 Vgl. vor allem Hofmann, S. 244 f., 660 ff., der hier für viele andere Stimmen stehen mag. 47 Auch F. Weinbrenner sieht in seinem Denkmalstempel für Leipzig einen zentralen Raum für den Gottesdienst vor, s. u. S. 154. 48 Dazu Rave, Bd. 1, S. 183 ff. Dort auch zwei Denkschriften Schinkels, aus denen die folgenden Zitate stammen. 49 Über die „Einstimmung“ vgl. oben S. 139. 50 So richtig bei A. v. Wolzogen, Aus Schinkels Nachlaß, Bd. 3, Berlin 1862, S. 199, der Text bei Rave ist verstümmelt. Die nationalpädagogische Intention spielt bei vielen Denkmalsolänen der Zeit eine Rolle. 51 Dazu eine Denkschrift Schinkels, bei Wolzogen, Bd. 3, S. 155 ff., daraus die Zitate im folgenden; weiter H. Schmitz, Die Gotik im deutschen Kunst- und Geistesleben, Berlin 1921, S. 199 ff., über Schinkel S. 215 ff.; Beenken, S. 57 ff. 52 Die „Wahl“ eines historischen Stils als eines Ausdrucksmittels ist eine revolutionäre Neuerung, die den architektonischen Historismus im 19. Jh. charakterisiert; vgl. H. Beenken, Der Historismus in der Baukunst, in: HZ, 157, 1938, S. 27 ff. 53 Dazu: Der Kirchenbau des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, 1893, S. 191 ff., 202 ff.; O. F. Gruppe, K. F. Schinkel und der neue Berliner Dom, Berlin 1843, bes. S. 90 ff.; A. Hallmann, Kunstbestrebungen der Gegenwart, Berlin 1842, S. 60 ff.; Das Nationaldenkmal für Kaiser Wilhelm und der Dom zu Berlin, in: Preußische Jahrbücher, 62, 1888, S. 423 ff. 54 Treitschke, Bd. 2, S. 45, und H. Boockmann, Das ehemalige Deutschordensschloß Marienburg 1772-1945, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, Göttineen 1972, S. 99-162. 55 S. u. S. 151; für die Bewunderung der „Westmünster-Abtei“ vgl. noch F. Th. Vischer, Kritische Gänge, Bd. 2, Tübingen 1844, S. 38 f.; Kritik an solchen Ideen z.B. bei Gruppe, S. 142 f.: in der Nähe des Göttlichen verschwinde alles menschliche Verdienst. 56 A. Teichlin, Zeitschrift für bildende Kunst, Bd. 6, 1871, S. 169. 57 Preußische Jahrbücher, 62, 1888, S. 430 ff.; Kölnische Zeitung, 30. 3·. 1888. 58 Rheinischer Merkur, Nr. 57, Gesammelte Schriften, Bd. 6-8. 59 A. Reichensperger, Einige Worte über den Dombau zu Köln, Koblenz 1840. 60 L. Ennen, Der Dom zu Köln, Düsseldorf 1879, S. 298, aus einer Kundgebung des Dombauvereins. 61 Ebd., S. 142 ff., dort viele Zeugnisse dieser Art. 62 Der Dom von Cöln und das Münster von Straßburg, 1842, S. 10 f. 63 Reden und Trinksprüche Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, 1855, S. 30 ff. 64 Allgemeine Zeitung, 18. 9. 1842. 65 Wenn auch bei seiner Vollendung Wilhelm I. noch vom „Zeichen der deutschen Einheit“ sprach; E. Berner, Kaiser Wilhelm des Großen Reden und Schriften, Bd. 2, Berlin 1906, S. 378; 1867 war Wilhelm kurze Zeit von dem Wunschbild einer Kaiserkrönung im Kölner Dom berührt gewesen: K. Hampe, Wilhelm L, Kaiserfrage und

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Anmerkungen zu Seite 148-152 Kölner Dom, Stuttgart 1936, S. 135 u. ö. - Wie eine verspätete Wiederholung mutet der Vorschlag von 1871 an, anstelle eines Siegesdenkmals das Straßburger Münster auszubauen; Hofmann, S. 237; zum Glück war die Zeitstimmung einem solchen Projekt jetzt entgegen. 66 Denkmalsgeschichtlich sind zwei Vorstufen zu beachten: im Zuge der Moralisierung und Patriotisierung der Denkmalsidee entstehen im 18. Jh. Pläne, in Gärten und Parks Gruppen von Denkmälern der großen Männer aufzustellen, vgl. oben S. 136; in einer Anthologie: Barden-Hain für Deutschlands edle Söhne und Töchter, von Th. Heinsius, Berlin 1808, ist in einem Titelkupfer ein Park mit drei Gedenkobelisken für Hermann, Luther und Friedrich abgebildet, sozusagen eine Minimalfassung dessen, was hier die Nation repräsentiert. Zum andern: 1791 ist in Paris das Pantheon gegründet worden, eine Kirche, die zum Tempel der nationalen Größe säkularisiert wurde. 67 A. Müller, Donaustauf und Walhalla, Regensburg 18434, S. 11, die Formulierungen stammen von Hormayr, 1843, entsprechen aber der Stimmung des Kronprinzen Ludwig schon 1807. 68 Brief Johannes von Müllers an seinen Bruder vom 1 1. 8. 1807; Sepp, S. 43. 69 Walhallas Genossen geschildert durch König Ludwig I. von Bayern, dem Gründer Walhallas, 1842, Einleitung; und die Reden Ludwigs zu den Walhalla-Festen: Allgemeine Zeitung 23.724. 10. 1830, 21./22. 10. 1842. 70 So der Minister von Schenk bei der Grundsteinlegung; Allgemeine Zeitung vom 24. 10. 1830. 71 „Auf griechischen Konsolen stehen die Büsten deutscher großer Männer in einem Griechentempel, der den ehrwürdigen deutschen Namen Walhalla t r ä g t . . . hoch über einer unserer schönsten Städte ragt stolz die fremde Siegerin“, so E. v. Bandel in den 40er Jahren; H. Schmidt, E. v. Bandel, Hannover 1892, S. 42 f.; „Warum soll das größte deutsche und nur deutsche Ehrenmal so absolut griechisch sein? Geben wir uns nicht eine Blöße, indem wir unsere Nationalität durch ein großes Bauwerk verherrlichen wollen und zugleich den großen herrlichen ächt original deutschen Baustil ignorieren?“, Peter Cornelius (1820) an den Kronprinzen; A. Kuhn, P. Cornelius und die geistigen Strömungen seiner Zeit, S. 270 ff. 72 Diesen Zug hat vor allem Schrade, S. 78 ff., herausgearbeitet. 73 Walhallas Genossen, Einleitung; Allgemeine Zeitung vom 20. 10. 1842. 74 In seinem Testament hat Ludwig in diesem Sinne die Walhalla Deutschland „seinem großen Vaterlande“ vermacht, für den Fall, daß ein Bund nicht mehr bestehe, solle sie an Bayern fallen. Das ist 1869 geschehen und nach 1871 so geblieben; H. Reidelbach, König Ludwig von Bayern und seine Kunstschöpfungen, München 1888, S. 240 f. 75 Gärtner an Wagner, in: W. v. Pölnitz, Ludwig I. von Bayern und Johann M. Wagner, München 1929, S. 183. 78 Kunstbestrebungen der Gegenwart, 1842, S. 82 ff. 77 Hofmann, S. 237, ohne Nachweis. 78 Ebd., S. 758, ohne Nachweise. 79 Deutsche Rundschau, 1896, S. 263 f. 80 Für die Einheit des Typus vgl. z.B. Frankfurter Konversationsblatt vom 4./5. 1. 1837: man möge viele Denkmäler wie das Beethoven-Denkmal in Bonn errichten, „damit endlich ganz Deutschland zu einer Walhalla voll würdiger Denkmale der großen Geister werde“. Die Kritik an solchen Vorstellungen setzt erst in den späten 60er Jahren ein. 81 Dr. Martin Luthers Denkmal oder Beiträge zur richtigen Beurteilung des Unternehmens, diesem großen Manne ein wirkliches Denkmal zu errichten. Von der vaterländisch-literarischen Gesellschaft in der Grafschaft Mannsfeld, Halle 1804, S. 4, 38. 436

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Anmerkungen zu Seite 152-160 E. Wagner, in: Frankfurter Journal vom August 1837. Journal für Buchdruckerkunst, Schriftgießerei und verwandte Fächer, 1837, S. 161 f.; dort Nr. 8 ff. über das Gutenberg-Fest überhaupt, mit vielen weiteren Belegen. 84 Das Schiller-Fest in Stuttgart am 8. 5. 1839, Stuttgart 1839, S. 4. 85 Ebd., S. 35 ff. 86 Zu nennen ist etwa das Dürer-Denkmal in Nürnberg von 1840, dessen Grundsteinlegung 1828 wohl das erste nationale Denkmalsfest, freilich vornehmlich von Künstlern besucht, gewesen ist; das Salzburger Mozart-Denkmal 1842 und das Beethoven-Denkmal in Bonn 1842, beide mit „nationalen“ Musikfesten, aber ohne besondere politische Töne, eingeweiht; oder das Bonifatius-Denkmal in Fulda 1842, dessen nationale Intention freilich ins Konfessionelle verengt worden ist; vgl. H. König, Stationen, Frankfurt 1846, S. 103 ff.; das Frankfurter Goethe-Denkmal ist 1819 als „Nationaldenkmal“ geplant, aber schließlich 1844 nur als Frankfurter Denkmal vollendet worden. 87 J . Menzhausen, Die entwicklungsgeschichtliche Stellung der Standbilder Gottfried Schadows, Diss., MS, Leipzig 1963, S. 1. 88 E. M. Arndt, Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht, Frankfurt 1814, über den Denkmalsplan S. 20-22. 89 Germania, den 19. Oktober 1813, 1814. 90 Allgemeine Zeitung, 22.-24. 10. 1842. 91 K. Th. Heigel, Ludwig I. König von Bayern, Leipzig 1872, S. 366. 92 Karlsruher Zeitung vom 23·. 10. 1863. 93 Vgl. Faden, S. 94. 94 Ebd., S. 96. 95 A. Horne, Die wichtigsten öffentlichen Denkmäler von Frankfurt am Main, Frankfurt 1904, S. 8 ff. 96 Vgl. Burschenschaftliche Blätter, Bd. 16, 2. Halbbd., Heft 5, 1902, der Bericht über die Einweihung. 97 Rheinischer Kurier vom 13.4.1871; C.Weiler, Von der Loreley zur Germania, 1963, besonders S. 8 f.; Sartorius, Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald, Geschichte und Beschreibung desselben, 1888. 98 So der erste Sammlungsaufruf von Ende 1871; H. Hannemann, 50 Jahre Nationaldenkmal, 1933, S. 7. 99 S. u. H. Bouffier, Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald, Frankfurt 1883, S. 39. 100 Die „besonnenste Konstatierung einer nationalen Riesentat“, „in schonendster Weise geschrieben“, ebd., S. 52. 101 In einem der Entwürfe von Kaulpert krönt Germania den Kaiser, am Relief ist die Gestalt des sich selbst krönenden Barbarossa abgebildet, hier soll offenbar der Übergang zum demokratischen Zeitalter versinnlicht werden; über die Entwürfe: Deutsche Bauzeitung 1872, S. 8, 72, 224, 272, 296, 306, 338; 1873, S. 197, 234, 242. 102 Über Vorstufen der Idee im 18. Jh. vgl. H. Kraeger, Klopstock und das Hermanns-Denkmal, in: Germania. Monatshefte für Vorgeschichte, 1934, S. 319 ff. 103 E. M. Arndt, Geist der Zeit, Bd. 4, Berlin 1818, S. 488 ff.; M. G. Zimmermann (Hg.), Karl Friedrich Schinkel, Kriegsdenkmäler aus Preußens großer Zeit, Berlin 1916, S. 35. 104 H. Schmidt, Ernst v. Bandel, Hannover 1892, S. 123, nach zeitgenössischen Quellen; von einer „deutschnationalen Sache“ spricht F. J . Schwanke, Hermann der Cherusker und sein Denkmal von deutscher Nation im 19. Jh. errichtet. Zur Würdigung des Nationaldenkmals im Teutoburger Walde, Lemgo 1841, S. 4 f. Von der Teilnahme auch der Auslandsdeutschen wird immer wieder berichtet. 82

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Anmerkungen zu Seite 160-166 105 E. v. Bandel, Erinnerungen aus meinem Leben, Detmold 1937, S. 266; ders., Armins Säule. Armin des Cheruskerfürsten Denkmal, dem Befreier Deutschlands errichtet vom deutschen Volk, 1861, S. 28 f.; 50 Jahre Hermanns-Denkmal. Amtliche Festschrift, Detmold 1925, S. 79 ff. 106 So bei der Grundsteinlegung 1838; H. Thorbecke, Zur Geschichte des HermannsDenkmals, Festschrift für den Tag der Übergabe des Denkmals an das deutsche Volk, Detmold 1875, S. 48 f. 107 M. L. Petri, Festrede bei der Schließung des Grundsteingewölbes des HermannsDenkmals am 8. 9. 1841, Lemgo 18412. 108 Schwanke, S. 7. 109 Dazu vor allem Petri. 110 Bandel 1837; H. Kiewning, Das erste Projekt zum Hermanns-Denkmal, in: Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde, 12, 1926, S. 10. 111 So Bandel 1838; Schmidt, S. 125, 112. 112 Petri, Anhang. 113 Schmidt, S. 155 f. aus dem Jahre 1840. 114 Bandel, Armins Säule, S. 4 f., 9 f.; auch aus den 30er und 40er Jahren gibt es entsprechende Zeugnisse, zumal 1840 bei der Grundsteinlegung klang die patriotischkämpferische Stimmung gegen Frankreich sehr stark mit. 115 Vgl. oben S. 149, seine Kritik an der Walhalla; weiter Schmidt, S. 43 f., ein Aufsatz aus den 30er Jahren; und Bandels Schriften von 1861/62, passim. 116 Kiewning, passim; Schmidt, S. 128 ff., 157 f. 117 Neben der Begeisterung für das Denkmal gab es auch heftige Kritik. Aus vielen Zeugnissen vgl. etwa K.Biedermanns Deutsche Monatsschrift, 1, 1843, S. 280: ganz in den Hintergrund trat (1842) das Hermanns-Denkmal, „für welches in der Tat dem schlichten Bürger und Bauer irgendeine Sympathie zumuten zu wollen an Verstandesschwäche grenzen würde“, oder F. Th. Vischer, Bd. 2, S. 29: „die lächerliche Torheit einer abstrakten Begeisterung.“ 118 50 Jahre, S. 89. 119 Thorbecke, S. 76. 120 Bandel, Erinnerungen, S. 293; Schmidt, S. 185. 121 50 Jahre, S. 83, aus einem Schreiben des Detmolder Hermanns-Vereines an den Kaiser von 1871. 122 C. Schierenberg, Erinnerungen, 1925, S. 143 ff. 123 Gartenlaube 1875, S. 638 ff.; 50 Jahre, S. 86. 124 Schmidt, S. 185. 125 50 Jahre, S. 69. 126 A. Spitzner, Deutschlands Denkmal der Völkerschlacht, das Ehrenmal seiner Befreiung und Wiedergeburt. Weiheschrift des deutschen Patriotenbundes, Leipzig 1913, S. 31 f., 75 f., 5 f. Aus diesem Werke sind die folgenden Zitate entnommen, in Klammern die Seitenzahlen. 127 Hofmann, S. 673. 128 So in einem Denkmalsführer, R. Bachmann, Das Völkerschlachtsdenkmal in Leipzig, 1924. 129 Schmitz bei Hofmann, S. 229 ff.; Spitzner, S. 93 ff.; Bachmann, S. 12; H. Schliepmann, Bruno Schmitz in: Berliner Architekturwelt, 13, 1913, S. V f. 130 „Der heroisch feierliche Zug des ganzen künstlerischen Organismus, sein in mystisch-kultischer Art den letzten Dingen (!) zugewandter Ernst erfaßt uns tief innerlich und führt uns aus den Niederungen des Alltags zu Weihe und Andacht“; Spitzner, S. 128. 131 Schliepmann, S. V. 132 Spitzner, S. 107, 40.

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Anmerkungen zu Seite 166-175 133 M. Ehrhardt, Bismarck im Denkmal, Bd. 1, Eisenach 1903 (mehr nicht erschienen), nennt schon 165 Denkmäler; B. Garlepp, Bismarck-Denkmal für das deutsche Volk (ein allgemeines Bismarck-Buch), Berlin (101. Tausend) 1914, nennt ohne Anspruch auf Vollständigkeit etwa 150 Denkmäler. Vgl. Schieder, S. 76; H.-G. Zmarzlik, Das Bismarckbild der Deutschen - gestern und heute, Freibure 1967, S. 14 f. 134 Burschenschaftliche Blätter, 13, 1898/99, S. 49 ff., 209. 135 1899 planten 470 Gemeinden die Errichtung solcher Säulen; C. Meißner, Wilhelm Kreis, Essen 1925, S. 11. 136 Berliner Tageblatt, zit. bei M. Schmid, Kunst und Dekoration, 1911, S. 237 ff.; ebenso F. Stahl, Hugo Lederer in: Berliner Kunst, 6. Sonderheft der Berliner Architekturwelt, 1906, S. 1. 137 G. Treu, Die preisgekrönten Entwürfe zum Bismarck-Denkmal zu Hamburg, Hamburg 1902. 138 Die Auffassung Bismarcks als Roland verkörpere in treffender Weise „die sich im Volksbewußtsein allmählich vollziehende Steigerung der Person Bismarcks ins Heldenhafte“, heißt es in der Entscheidung des Preisgerichts; Ehrhardt, S. 43; Mönckeberg sprach in der Rede zur Enthüllung von einer „idealen Bismarck-Gestalt“, dem „deutschen Nationalhelden“ der neueren Zeit; Hofmann, S. 248; Hofmann spricht auch von der im Denkmal sinnfällig werdenden „mythischen Bedeutung“ Bismarcks, der „Ausdruck eines über die Zeit hinausragenden Gedankens“ sei; ebd., S. 246 f., 784 ff. 139 Dazu Hofmann, S. 248, 786; Illustrierte Zeitung (Leipzig) vom 14. 6. 1906. 140 Stahl, S. 3.

8. Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert 1 Das Wort „Verein“ im hier gemeinten Sinn ist als neutraler und politisch unbelasteter Begriff erst nach 1800 durchgedrungen und hat die Worte „Vereinigung“, „Gesellschaft“, „Assoziation“, „Klub“, „Orden“ usw. ersetzt. Vgl. G. G. Schmalz, Zur Geschichte des Wortes „Verein“, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, 47, 1955, S. 295-301. 2 H. Hubrig, Die Patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, Weinheim 1957, S. 44 ff. 3 H. Freudenthal, Vereine in Hamburg, Hamburg 1968, S. 110; ähnlich in anderen Handelsstädten, vgl. G. Pinthus, Das Konzertleben in Deutschland, Leipzig 1932. 4 L. Balet, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst. Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, Straßburg 1938, S. 38; Pinthus, bes. S. 75. 5 H. Heimpel, Geschichtsvereine einst und jetzt, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 46. 6 M. Stürzbecher, Zur Geschichte der ärztlichen Vereinigung in Berlin im 18. und 19. Jahrhundert, in: Medizinische Mitteilungen, 21, 1960, S. 209 ff. 7 K. Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. 2, Leipzig 1880, S. 1079. 8 Auch O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Berlin 1868, S. 880, sieht in der Bewegung der Freimaurer eine „Wiederbelebung des brüderlichen Gemeinsinns, der unerläßlichen Grundlage jeder Assoziation“, eine „Vertiefung der Genossenschaftsidee“. - Von den späteren Vereinen unterscheiden sich die Logen durch ihre hierarchische Struktur und ihr anderes Verhältnis zur Öffentlichkeit, ihr Geheimnis. 9 So I. Jentsch, Zur Geschichte des Zeitungswesens in Deutschland, Diss. Leipzig 1937, zit. nach J . Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962, S. 87;

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Anmerkungen zu Seite 175-178 die Dissertation war mir nicht zugänglich. J . A. Weiss, Über Zunftwesen und die Frage: Sind Zünfte beizubehalten oder abzuschaffen, Frankfurt 1798, S. 229, spricht von 199 Societäten, die der gemeinsamen Bildung und der Verbesserung der Gewerbe auch von Handwerkern dienten. 10 Konzertvereine, musikalische oder philharmonische Gesellschaften: 1808 Frankfurt, 1811 München, 1813 Köln, Wien, 1820 Bamberg, 1825 Danzig, 1826 Berlin, 1828 Hamburg. Vgl. Pinthus, S. 112; Singakademien und Gesangvereine, seit der Berliner Singakademie von 1791, besonders in den anderthalb Jahrzehnten seit 1815; die Männergesangvereine: Liedertafeln seit 1808 (Berlin) und Liederkränze seit 1824 (Stuttgart). 11 Vgl. Freudenthal, S. 180 f. 12 Nach Art. „Lesegesellschaften“ im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon, Bd. 9, Altona 1840, S. 709 ff. haben sich Lese-, Museums-, Harmonie- und Bürgervereine usw. seit 18 15 außerordentlich vermehrt und bestünden jetzt auch in den kleinsten Städten; ähnlich F. B. Weber, Handbuch der staatswirtschaftlichen Statistik und Verwaltungskunde der preußischen Monarchie, Breslau 1840, S. 210: In fast jeder Stadt gebe es mehrere Ressourcen, Klubs oder Kasinos mit eigenen Lokalen und Bibliotheken und auch noch in den kleinen Städten wenigstens eine solche Organisation. Die Landwirtschaftlichen Vereine sind in Preußen zwischen 1838 und 1848 von 88 auf 382 angewachsen, vgl. Gierke, Bd. 1, S. 898. 13 So die Ideologisierung der Aktienvereine, ζ. Β. in M eyers Conversations-Lexikon, Bd. 1, 1840, S. 285 f., über Aktienvereine auch Gierke, Bd. 1, S. 990 ff. 14 Vgl. z. Β. F. G. Lisco, Das wohlthätige Berlin, Berlin 1846. 15 Vgl. unten S. 184 ff., bes. 188 ff. 16 So 1845 im Hinblick auf Hamburg der nachmalige Bürgermeister Kirchenpauer, nach Freudenthal, S. 180. 17 Vgl. Gierke, Bd. 1, S. 895 f.; F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4, Freiburg 19512, S. 400-443; G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Bd. 2, Berlin 1895, bes. S. 699 ff.; Lisco. 18 Vgl. unten S. 197 über Wichern. 19 Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte, 1, 1841, S. 13. - Ähnliche Zeugnisse gibt es die Menge. 20 Gierke, Bd. 1, S. 882 f.; vgl. ebd. S. 655. Zu Gierkes Assoziationstheorie und seiner in gewisser Weise umdeutenden Auffassung des modernen Vereins vgl. E. W. Bökkenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, Berlin 1961, bes. S. 151 ff. 21 Das Ziel der Mainzer Lesegesellschaften von 1782 war es, Zeitungen zugleich „mit einer vergnügten und nützlichen Unterhaltung“ lesen zu können; K. G. Bockenheimer, Das öffentliche Leben in Mainz am Ende des 18. Jahrhunderts, 1902, S. 28 f. Die Stuttgarter Museums-Gesellschaft von 1807 war eine Vereinigung „gebildeter Männer zur Beförderung allgemein wissenschaftlicher Bildung und zum Zweck geselliger Unterhaltung“. C. Lotter, Geschichte der Museums-Gesellschaft in Stuttgart, 1907, S. 31. Die Mannheimer Harmonie-Gesellschaft (gegr. 1803) nennt als Ziele die allgemeine wissenschaftliche Bildung und gesellige Unterhaltung; Harmonie-Almanach 1803-1953, 1953. Der Hamburger „Ärztliche Verein“ von 1816 fand sich zu geselliger und wissenschaftlicher Unterhaltung zusammen; Freudenthal, S. 85; für die „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ gilt ähnliches, vgl. Schnabel, Bd. 4, S. 196 f. 22 Heimpel, S. 56 ff. 23 So die Freimaurer, vgl. Freudenthal, S. 55 f. 24 Für die Patriotische Gesellschaft in Hamburg vgl. Hubrig, S. 48 ff., Freudenthal,

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Anmerkungen zu Seite 178-184 S. 40, 42, sowie Ρ. Ε. Schramm, Neun Generationen, 2 Bde., Göttingen 1963/64, bes. Bd. 1, S. 275 ff. 25 Freudenthal, S. 47. 26 Die hier verwandten Kategorien aus der Soziologie von T. Parsons scheinen mir auch für die historische Analyse nützlich. - Die Umwandlung der älteren mittelalterlichen Genossenschaften durch den absolutistischen Staat, der sie aus genossenschaftlichen Bildungen zu staatlich-konzessionierten Gemeinschaften von Privilegieninhabern, zu rein privatrechtlichen, im wesentlichen wirtschaftlichen Gebilden oder zu einer Art staatlicher Anstalten gemacht hatte oder zu machen suchte, sowie die gegen die Zünfte gerichtete Handwerkspolitik des spätabsolutistischen Staates im 18. Jahrhundert, die die Lebensformen doch nur außerordentlich langsam hat ändern können, müssen in unserem Zusammenhang vernachlässigt werden. Vgl. Gierke, Bd. 1, S. 638 ff.; W. Fischer, Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800, Berlin 1955, bes. S. 24-60. 27 Wie immer das Verhältnis zwischen Staat und intermediären herrschaftlichen Gewalten gestaltet war, ist dabei gleichgültig. 28 Daß es sich hier um eine stark abstrahierende Typisierung handelt, ist selbstverständlich. Zur Struktur der hier beschriebenen Welt außer den bekannten Publikationen von Otto Brunner die ausgezeichneten ersten Kapitel in dem Buch von W. Roeßler, Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland, Stuttgart 1961. 29 Über die Stagnation älterer Genossenschaften wie der Turniergesellschaften, Ritterbünde, Orden und Künstlergenossenschaften etc. vgl. Gierke, Bd. 1, S. 866 ff. Die Schützengilden oder -gesellschaften ζ. Β, hatten nur noch das jährliche Schützenfest auszurichten. 30 Vgl. Gierke, Bd. 1, S. 876 mit Einzelnachweisen. 31 Ausdruck der Sprache der Zeit: Roeßler, S. 142; insgesamt Roeßler, S. 143 ff., S. 149 ff. 32 Die Assoziationstendenzen der Studentenschaft seit dem späten 18. Jahrhundert ließen sich mit Hilfe dieser Hypothese besser als bisher begreifen. 33 Das ist zuerst in Theater, Konzert und Museum der Fall gewesen; vgl. L. Balet, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst. Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, Straßburg 1938. 34 Habermas, S. 49 ff. 35 Gierke, Bd. 1, S. 882. 36 Vgl. Ρ. Ε. Schramm, Hamburg, Deutschland und die Welt, München (1. Auflage) 1943, S. 35 ff., sowie ders., Generationen; für die Gründung der Hamburger Patriotischen Gesellschaft wesentlich aus nichtgewerblichen Kreisen vgl. Freudenthal, S. 35. 37 Vgl. die Bemerkung bei R. Stadelmann u. W. Fischer, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800, Berlin 1955, S. 55. 38 Vgl. Habermas, S. 49, über die Idee des Publikums. 39 „Noblemen“ und „Gentlemen“ heißt es in England; vgl. dazu R. Koselleck, Kritik und Krise, Freiburg 1959, S. 57. In Deutschland ist wohl die revolutionäre Tendenz der Freimaurer weniger ausgeprägt, die Anteilnahme des Adels stärker als in Westeuropa; an dem grundsätzlichen sozialgeschichtlichen Befund ändert sich dadurch nichts. 40 Vgl. Habermas, S. 49; Biedermann, Bd. 2, S. 1075: die literarischen Gesellschaften seien „im Geiste der Zeit“ als ein „Mittel zur Annäherung der Stände an einander“ betrachtet worden; Beispiele aus Hannover: E. Bodemann, J . G. Zimmermann, Hannover 1878, S. 46 f.; aus Oldenburg: G. Jansen, Aus vergangenen Tagen. Oldenburgs literarische und gesellschaftliche Zustände während des Zeitraums von 1773 bis 1811, Oldenburg 1877, S. 90; das gilt auch für die „Vorläufer“: E. Mannheim, Die Träger der öffentlichen Meinung, Wien 1923, S. 83, zitiert über eine Sprachgesellschaft, „daß 441

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Anmerkungen zu Seite 184-187 so unter ungleichen Standespersonen eine Gleichheit und Gesellschaft getroffen würde“. 41 Bis 1848 noch waren Adlige vielfach Mitglieder der bürgerlichen Musik- und Gesangvereine, siehe H. Staudinger, Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins am Beispiel des Musikvereins, Jena 1913, S. 60, 90. 42 Das Vereinswesen ist zunächst auf die städtische Welt beschränkt. Auch die landwirtschaftlichen Vereine hatten anfangs kaum bäuerliche Mitglieder. Hinweise auf die ersten Anfänge von bäuerlichen Vereinen bei M. Erdmann, Die verfassungspolitische Funktion der Wirtschaftsverbände in Deutschland 1815-1871, Berlin 1968, S. 46 f. 43 Freudenthal, S. 61 f. über die Patriotische Gesellschaft. 44 Freudenthal, S. 53; über Gesellschaften um 1800 generell S. 457. Sehr häufig wird die Offenheit nach außen, die Zulassung auswärtiger Gäste betont. Die Bewegung der Lesegesellschaften, der Gewerbe- und Bildungsvereine hat sich gerade in der Spätaufklärung auch auf die Handwerker erstreckt; vgl. u. S. 187. 45 Ebd., S. 194 ff., 216 ff., 402, 411. 46 Nur Berufe, deren Angehörige - wie bei einer Reihe von akademischen, zumal freien Berufen - in keinem Arbeitszusammenhang standen, bildeten eigene geselliggelehrte Berufsvereine. Bei den studentischen Organisationen zeigte sich eine analoge Entwicklung. Die der ständischen Welt zugehörigen landsmannschaftlichen und konfessionell bestimmten Organisationen wurden von den durch Gesinnung konstituierten Orden und schließlich von der „Allgemeinheit“ beanspruchenden Burschenschaft abgelöst. 47 Vgl. für Hamburg Freudenthal, S. 459 f. 48 In Stuttgart bildete sich 1823 neben der „Museums-Gesellschaft“ von 1807 eine eher mittelständische „Bürgergesellschaft“, die sich 1831 bezeichnenderweise „Bürgermuseum“ nannte: Lotter, S. 41; über zeitweise Exklusivität und Neugründungen in Hamburg vgl. Freudenthal, z.B. S. 459; selbst innerhalb des „volkstümlichen“ Gesangvereinswesens gab es ähnliche soziale Differenzierungen, so in größeren Städten am Niederrhein; H. Blommen, Anfänge und Entwicklung des Männerchorwesens am Niederrhein, Diss. Köln 1960, S. 188. 49 H. Schmitt, Das Vereinsleben der Stadt Weinheim an der Bergstraße, Weinheim 1963, S. 11 und öfter; F. Baiser, Die Anfänge der Erwachsenenbildung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1959, S. 51. 50 Stadelmann, S. 16 f.; Weiss, Zunftwesen, S. 229, spricht von 199 „Societäten“, in denen Handwerker beteiligt oder maßgeblich waren. Genaues über diese Verhältnisse wissen wir vorläufig nicht. 51 Und zwar sind hier in erster Linie die in Süddeutschland verbreiteten Liederkränze zu nennen, da sie hinsichtlich der musikalischen Vorbildung weniger anspruchsvoll waren als die auf Zelter zurückgehenden Liedertafeln; allerdings sind später auch die norddeutschen Liedertafeln sehr volkstümlich. An den Biographien des Maurermeisters Zelter und mancher seiner Freunde wird die soziale Relevanz der Musikvereine anschaulich. 52 Vgl. O. Eiben, Der volksthümliche deutsche Männergesang. Geschichte und Stellung im Leben der Nation; der deutsche Sängerbund und seine Glieder, Tübingen 18872, passim. Staudinger, S. 79, zeigt an einem Beispiel, wohl Mannheim, die soziale Mischung; sie reicht von Adligen bis zu kleinen Handwerkern und kleinen Beamten und löst sich erst nach 1848 auf. Auch in der übrigen Literatur zur Geschichte von Gesangvereinen finden sich zahlreiche Beispiele; vgl. etwa noch Schmitt, S. 27: der Weinheimer Singverein von 1842 schloß, von einem Lehrer gegründet, kaufmännisches und gebildetes Bürgertum mit den Handwerkern zusammen. 53 Eiben, S. 58. 54 Staudinger, S. 68 f.

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Anmerkungen zu Seite 187-190 55 Genauere Feststellungen über Unterschiede und Übergänge zwischen gesamtbürgerlichem und eher kleinbürgerlichem Charakter bei den großen volkstümlichen Vereinsgruppen des Vormärz können erst nach neuen Untersuchungen getroffen werden. 56 Vgl. Freudenthal, S. 181. In Mannheim heißt es, wohl in der Harmoniegesellschaft: „die Förmlichkeiten und Verhältnisse des gemeinen bürgerlichen Lebens sind ihm fremd und alle Glieder haben gleichen Rang. Möge kein Ceremoniell und keine Titelsucht in diese dem Frohsinn und der Kultur geweihten Säle eingehen“; Staudinger, S. 62; vgl. auch S. 60. Weber, S. 210, bemerkt über die Geselligkeitsvereine in fast allen Städten: „in der Regel bei großer und freier Mischung der Stände“; wie sich ein solches Urteil zu den früher erwähnten sozialen Differenzierungen verhält, muß im Einzelfall jeweils untersucht werden. - Auch bei der Ideologisierung der Aktienvereine spielt der hier behandelte Gesichtspunkt eine Rolle: die „Actienvereine“ seien, so heißt es im Meyerschen Lexikon von 1840, Bd. 1, S. 285, „Vereinigungsprodukte aller Stände“. 57 K. Biedermann, Unsre Gegenwart und Zukunft, Bd. 2, Leipzig 1846, S. 209. 58 J . Fallati, Das Vereinswesen als Mittel zur Sittigung der Fabrikarbeiter, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1, 1844, S. 745; das Wort „Stand“ ist hier natürlich nicht im Sinne einer älteren ständischen Gesellschaft - wie gelegentlich bei Buß und Kolping - gebraucht. Vgl. weiter ζ. Β. S. R. Schneider, Das Problem der Zeit und dessen Lösung durch die Assoziation, Gotha 1834; oder: Der Provinzialverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, in: Westfälisches Dampfboot, 1, 1845, S. 14: das Streben dieses Vereins sei von dem Gefühl geleitet, „die Assoziation und die Liebe an die Stelle der Zersplitterung und des Hasses zu setzen“. Zu Harkort vor allem dessen: Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emanzipation der unteren Klassen, Elberfeld 1844; ders., Die Vereine zur Hebung der unteren Volksklassen nebst Bemerkungen über den Centralverein in Berlin, Elberfeld 1845; und im ganzen J . Köster, Der rheinische Frühliberalismus und die soziale Frage, Berlin 1938, und H. Stein, Pauperismus und Assoziation, in: International Review for Social History, 1, 1936, S. 1-120; Stein schreibt S. 87, der „Mikrokosmos der Assoziation“ sei geradezu das Steckenpferd der Zeitgenossen in Wissenschaft und Politik gewesen; bei ihm auch über die Hilfsvereine und Genossenschaften, die seit 1815 zur Beseitigung sozialer Notlagen begründet wurden. 59 Ebd., S. 60. 60 Köster, S. 73. Das Programm der Kölner Gruppe wünscht „Einrichtungen, wodurch der wohltätige Einfluß des unmittelbaren Verkehrs von Menschen aller gesellschaftlichen Stellungen und Berufseeschäfte sich wirksam zeigen kann“. 61 Zum Hamburger „Arbeiterbildungsverein“ vgl. H. Laufenberg, Geschichte der Arbeiterbewegung in Hamburg, Altona und Umgegend, 1911, S. 90 ff. Zum Bremer Arbeiterverein „Vorwärts“ vgl. U. Böttcher, Anfänge und Entwicklung der Arbeiterbewegung in Bremen vor der Revolution 1848 bis zur Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890, Bremen 1953, S. 29 ff. Zum Berliner Arbeiterverein vgl. R. Haenchen, Zur revolutionären Unterwühlung Berlins vor den Märztagen des Jahres 1848, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 55, 1944, S. 83-114, bes. S. 97 f. Vgl. auch Stadelmann. S. 218. für Hambure auch Freudenthal. S. 143 f. 62 Dazu Stein, passim und Haenchen. Vgl. auch u. S. 195 ff. über die Politisierung der Vereine. 63 W. Hofmann, Die Bielefelder Stadtverordneten. Ein Beitrag zu bürgerlicher Selbstverwaltung und sozialem Wandel 1850-1914, Lübeck 1964, S. 134. Vgl. auch W. Mommsen, J . Miquel, Bd. 1, Stuttgart 1928, S. 91 ff. 64 Vgl. o. S. 177 f.; die Patriotische Gesellschaft in Hamburg erstrebte in diesem Sinne

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Anmerkungen zu Seite 190-194 die Anwendung wissenschaftlicher Resultate auf das praktische Leben, die „Mitteilung und Ausbreitung aufgeklärter Grundsätze und Erfahrungen“ in „anderweitige bürgerliche Verhältnisse“; Freudenthal, S. 40, 47. 65 Weber, S. 186 f.; 1771 war sie als Patriotische Gesellschaft begründet worden; vgl. auch Gierke, Bd. 1, S. 896 f. 66 Heimpel, S. 47. 67 Weber, S. 186. 68 Stein, S. 48; Heimpel, S. 48. 69 Heimpel, S. 48; F. Schnabel, Der Ursprung der Vaterländischen Studien, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 88, 1951, S. 4-27. 70 Vgl. oben S. 185, und Roeßler, S. 217 und öfter. 71 In den wenigen Fachvereinen spielt darum das Menschlich-Gesellige eine besondere Rolle, so bei der „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“; vgl. Schnabel, Geschichte, Bd. 3, S. 197. Über die Zwecke der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Berlin heißt es 1810: der Zweck war nicht bloß, durch wechselnde Belehrung den Kreis ihres Wissens zu erweitern, sondern auch „erholende Unterhaltung und gegenseitige Belebung ohne weiteren Anspruch“; „der Mensch darf in dem Gelehrten nie untergehen . . . er muß rein menschlich (. . . ohne Amtsmiene . . . ) mit seinen Mitbrüdern zusammenkommen“. Satzung der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde 1810, 1851, S. 1, 10. 72 F. Schleiermacher, Versuche einer Theorie des geselligen Betragens (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Romantik, hg. v. P. Kluckhohn, 4), S. 85. 73 Ebd., S. 89. 74 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 1903, S. 97-254, bes. 143 f., 200. Vgl. auch F. Müller, Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz, Berlin 1965, S. 174 ff., 228. 75 „Wirksame Beförderung“ der Kunst „mittels Beschäftigung verdienter Künstler und allgemeiner Verbreitung ihrer Werke“, so heißt es 1820 bei der Gründung des Hamburger Kunstvereins über seine Ziele; Freudenthal, S. 87. 76 Für München z. Β. F. Pecht, Geschichte der Münchner Kunst im 19. Jahrhundert, München 1888, S. 91 f. 77 Für Berlin z. Β. die Gesellschaft naturforschender Freunde von 1773; Gierke, Bd. 1, S. 897. Über den Zusammenhang von Künstlern und Dilettanten vgl. K. Brommenschenkel, Berliner Kunst- und Künstlervereine des 19. Jahrhunderts, Diss. Berlin 1942, MS, passim; für die Musikvereine vgl. Staudinger, z.B. S. 60, und für die Geschichtsvereine Heimpel, S. 54 ff. 78 M. Weber, Rechtssoziologie, Neuwied 1960, S. 164. 79 Beispiele für die Ablösung einer Gruppe gelehrter Vereine, der Geschichtsvereine, von allgemeinen Vereinen, die etwa noch Gewerbeförderung mit umschlossen, bei Heimpel, S. 47. Für Hamburg bei Freudenthal, S. 42 f., 154 f., 182 ff. Gerade aus den Patriotischen Gesellschaften haben sich immer neue Vereine entwickelt, in Hamburg und Lübeck z. Β. die Geschichtsvereine. 80 Für die Geschichtsvereine nachgewiesen bei Heimpel; Aufteilung der „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ von 1822 in Sektionen schon 1828, vgl. Schnabel, Geschichte, Bd. 3, S. 197. Im Rahmen der gelehrten Gesellschaften setzte sich dann, wenn auch langsamer, innerhalb der Organisation die Arbeitsteilung und Spezialisierung durch und führte allmählich dazu, daß die Laien und Dilettanten

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Anmerkungen zu Seite 194-199 als die Repräsentanten des bürgerlich-wissenschaftlichen Vereins zurückgedrängt und durch die fachlich Spezialisierten ersetzt wurden; auch dazu Heimpel, S. 54 ff. 81 So in den Arbeitervereinen der 40er Jahre. Ein Beispiel für das öffentliche Engagement spezialisierter Vereine ist etwa, daß es gerade die Turnvereine waren, die in den 40er Jahren vielfach die Freiwilligen Feuerwehren begründeten; Schmitt, S. 12. Welche Funktion die allgemeinbürgerlichen Vereine hatten und ob sich ihr Charakter und ihr Gewicht bei zunehmender Spezialisierung geändert haben, können nur spezielle Untersuchungen ergeben. 82 Vgl. Habermas, bes. S. 38 ff., 49. 83 Vgl. im allgemeinen Koselleck, bes. S. 81 ff.; zu den Freimaurern J . G. Krünitz, Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, Bd. 15, S. 61; Art. Frey-Mäurer, S. 63 ff.; Krünitz spricht davon, daß die Freimaurer zur „Gewalt (!) der Moral Zuflucht nehmen“. 84 Auch die scheinbar ganz privaten Kunstvereine griffen in die öffentliche Kunstpflege ein, indem sie etwa zwischen Künstlern und Behörden vermittelten oder öffentliche Kunstaúfträge mit privaten Mitteln finanzierten; vgl. Κ. Κ. Eberlein, Geschichte des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen 1829-1929, Düsseldorf 1929, bes. S. 8 ff., 19; 100 Jahre Sächsischer Kunstverein 1828-1928, Dresden 1928, ζ. Β. S. 191. 85 Für eine der ältesten Organisationen der Armenpflege vgl. E. Graber, Kiel und die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde, Kiel 1953, passim. 86 Freudenthal, S. 40. 87 J . H. Wichern, Sämtliche Werke, hg. v. P. Meinhold, Bd. 1, Berlin 1962, bes. S. 61, 156, 182-189, 275; Schnabel, Geschichte, Bd. 4, S. 436. 88 Vgl. zuletzt Erdmann, S. 46 ff.; in den anderen deutschen Staaten war die Entwicklung ähnlich verlaufen. 89 W. Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- und Staatsverfassung des 19. Jahrhunderts, Berlin 1964, S. 19 ff.; Die Korporation der Kaufmannschaft von Berlin, Berlin 1920. Die Kaufleute selbst waren gegen die „bloß“ privaten Vereine und eine rein gesellschaftliche, vom Staat getrennte Organisation und für eine öffentlich-rechtlich konstruierte Organisation; der Staat setzte hier also die freiere Organisationsform gegen die Wünsche der bürgerlichen Gesellschaft durch. Bei Fischer auch vergleichende Analysen zu den Verhältnissen in Süddeutschland; hier gab es nur in Württemberg den Ansatz bei ganz freien Vereinen, einer vom Staat nur begünstigten „Privathandelskammer“. 90 Vgl. für die Rolle der Beamtenschaft bei der Gründung sozialer Vereine in Berlin Lisco, passim. Die von Theodor Fliedner inaugurierte Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft wurde von den Spitzen der staatlichen und kirchlichen Verwaltung, dem Oberpräsidenten und dem Erzbischof, gemeinsam mit Privatpersonen und Beamten getragen. Der Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen wurde vom König und - zögernd - vom Staat unterstützt. 91 Th. Nipperdey, Volksschule und Revolution im Vormärz (in diesem Band S. 206 ff.). 92 In Bayern waren die acht Regierungspräsidenten die Vorsitzenden; Heimpel, S. 50; dort auch Beispiele für die Rolle von staatlichen Beamten als Vereinsgründern. 93 Die Gewerbegesetzgebung von 1810/11 verwandelte die öffentlich-zwangsrechtlichen Korporationen in Preußen in freie und private Assoziationen; der Staat gewährte durch Dekorporierung die negative Assoziationsfreiheit und ermutigte die positive Assoziierung. 94 Dieselbe Haltung findet sich in der Kirche: neben der Möglichkeit der Kooperation zwischen Amtskirche und freier christlicher Assoziation gab es den entschiedenen

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Anmerkungen zu Seite 199-201 Widerspruch der Amtskirche gegen die Vereine, weil diese mit der Autorität von Amt und Predigt konkurrierten, ja sie beeinträchtigten; vgl. Schnabel, Geschichte, Bd. 4, S. 436. 95 F. Meinecke, Die deutschen Gesellschaften und der Hoffmannsche Bund, Stuttgart 1891, S. 30. 96 Für die Verfassungs- und Rechtsgeschichte der Vereinsfreiheit vgl. Müller, bes. S. 239 f., 256 ff.; in Baden und Sachsen-Meiningen gab es seit 1829 und 1833 kein unbedingtes Verbot politischer Vereinigungen mehr. 97 Vgl. F. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, München 1951, passim, bes. S. 237 ff., 289 ff., 305 ff.; oder M. Braubach, Ein publizistischer Plan der Bonner Lesegesellschaft aus dem Jahre 1789, in: Aus Geschichte und Politik. Festschrift für L. Bergsträsser, Düsseldorf 1954, S. 21 ff.; Krünitz schreibt 1787 in der Encyclopädie (Bd. 41/1, S. 2 ff.) über den Englischen Klub und spricht von der Beförderung von Geselligkeit, Public Spirit und republikanischer Gesinnung; er setzt in Deutschland dazu die Harmoniegesellschaften und Ressourcen in Parallele. Auf die direkt politisch orientierten, geheimbündlerisch organisierten Illuminaten kann ich hier nur hinweisen. 98 Valjavec, S. 380 f.; A. Fournier, Zur Geschichte des Tugendbundes, in: Historische Studien und Skizzen, 1, 1885, S. 301-330. 99 Vgl. Heimpel, S. 51. 100 Seit 1830 kam es bei den Versammlungen der „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ gelegentlich zu Äußerungen wie, die Gesellschaft sei „berufen, in den zerstreuten Söhnen des großen Vaterlandes den Gedanken des inneren Zusammenhangs zu wecken“; vgl. Schnabel, Geschichte, Bd. 3, S. 196. Der Germanisten-Tag von 1846 hat direkt zu politischen Fragen Stellung genommen. 101 Vgl. Th. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert (in diesem Band S. 13-3 ff.). 102 Vgl. Art. Gesangvereine und Gesangfeste, in: Meyers Conversations-Lexicon, Bd. 12, 1848, S. 719 ff. 103 In Weinheim haben viele Mitglieder des Singvereins die 48er Revolution gefördert, der Verein wurde deshalb 1853 aufgelöst; Schmitt, S. 28 ff.; über revolutionäre Bestrebungen im Frankfurter Männergesangverein vgl. K. Glossy, Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz, Wien 1912, S. XXXI; und: Beiträge zur Geschichte des deutschen Männergesangs, hg. aus Anlaß der 60-Jahrfeier des Neefschen Männerchors, 1925, S. 18; generell z.B. ein Zirkular des Preußischen Innenministers von 1851, vielen Gesangvereinen liege die „Förderung demokratischer Tendenzen“ zugrunde; Blommen, S. 162. 104 Vgl. trotz mancher Einseitigkeit K. Obermann, Die politische Rolle der Turner in der demokratischen Bewegung am Vorabend der Revolution 1848, in: Theorie und Praxis der Körperkultur, Bd. 9, 1963, S. 795 ff.; Struve trat von 1848 im Mannheimer Tunverein und im Handwerkerverein auf; vgl. F. Walter, Aufgabe und Vermächtnis einer deutschen Stadt. Drei Jahrhunderte Alt-Mannheim, Frankfurt 1952, S. 346. Vgl. im allgemeinen B. Saurbier, Geschichte der Leibesübungen, Frankfurt 19572, S. 137; um 1848 gab es etwa 300 Turnvereine. 105 Glossy, S. CV; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1960, S. 410 f. 106 Freudenthal, S. 74; vgl. auch S. 133 f. 107 B. Kühle, Der Münchener Vinzenzverein, Wuppertal-Elberfeld 1935, S. 28. 108 Über politische Vereine in den 30er und 40er Jahren vgl. z. Β. Glossy, S. XXXIV f., XVIII f., und weiter die Berichte der Untersuchungskommission bei L. Fr. Ilse, Geschichte der politischen Untersuchungen, welche durch die neben der Bun446

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Anmerkungen zu Seite 201-206 desversammlung errichteten Commissionen der Central-Untersuchungs-Commission zu Mainz und der Bundes-Central-Behörde zu Frankfurt in den Jahren 1819 bis 1827 und 1833 bis 1842 geführt sind, Frankfurt 1860. 109 Vgl. Nipperdey, Volksschule und Revolution (in diesem Band S. 206 ff.). 110 Eine Reihe von Handwerker-, Gesellen- und Arbeitervereinen kann man als Vorschulen der Revolution von 1848 bezeichnen. Für Wien z. Β. Η. v. Srbik, Die Wie­ ner Revolution des Jahres 1848 in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 43, 1919, S. 844; für Berlin S. Born, Erinnerungen eines 48ers, Leipzig 1898, S. 23 ff., der den Handwerkerverein eine „Bildungsstätte für heranwachsende Revolutionäre aller Berliner Gesellschaftskreise“ genannt hat; über Born vgl. auch Stadelmann, S. 35. 111 W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung, Stuttgart 1963, S. 139 f. 112 1789 hatte es einmal einen Plan der badischen Regierung gegeben, eine „Assoziation gutgesinnter Untertanen“ zu begründen; vgl. Valjavec, S. 306. 113 Vgl. dazu die bedeutende Untersuchung von Müller. 114 Diese Positionen sind logische Positionen, die sich bei einer Reihe von Autoren miteinander verbunden finden. Trotzdem kann man sagen, daß diese logischen Positionen auch in einem gewissen chronologischen Nacheinander stehen. Vgl. Müller, passim. 115 Am schärfsten im Sinne eines radikalen Individualismus ist dieser Gesichtspunkt beim jungen Wilhelm von Humboldt ausgeprägt. Vgl. o. S. 192. 116 G. H. von Berg, Handbuch des teutschen Policeyrechts, Bd. 1, Hannover 18022, S. 253, 249; vgl. Müller, S. 245. 117 A. L. von Schlözer, Allgemeines Stats Recht und Statsverfassungslere, Göttingen 1793, S. 71; vgl. Müller, S. 246 f. 118 C. v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 18402; vgl. Müller, S. 268 ff. 119 R. v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. 1, Tübingen 18402 S. 313 ff.: vgl. Müller, S. 276 ff. 120 Vgl. Müller, S. 277 f., 294 f. Radikal, aber vereinzelt ist die Position des liberalen Reformers L. v. Vincke, Darstellung der inneren Verwaltung Groß Britanniens, Berlin 18482, S. 87: „Der Abscheu der Regierung vor dem Regieren und der Sozietätsgeist der Individuen bieten sich immer einander die Hände und realisiren die ausgedehntesten Unternehmungen.“ 121 So bei A. L. Reyscher, Publicistische Versuche, Stuttgart 1832; vgl. Müller, S. 261, 295 f. 122 Laut H. Zoepfl, Grundsaetze des Allgemeinen und des Constitutionellen Monarchischen Staatsrechts, Heidelberg 18412; vgl. Müller, S. 262. 123 Vgl. Müller, S. 268 ff. 124 Vgl. dazu Müller, S. 294, 303 f. Später hat Mohl die Vereine wieder ganz auf die Ebene der Gesellschaft beschränkt. 125 Dazu Müller, S. 325 ff. 126 Vgl. o. S. 176 f. und Gierke, Bd. 1, S. 883, 655 f. 127 G. v. Struve, Grundzüge der Staatswissenschaft, Bd. 3: Von den Handlungen des Staats oder allgemeines Staats-Verwaltungsrecht 1, Frankfurt 1848. 9. Volksschule und Revolution im Vormärz 1 Die vorliegende Abhandlung behandelt einen Problemstrang aus einer größeren Untersuchung; ich habe darum den Anmerkungsapparat auf das Allernotwendigste beschränkt und verweise für alles Weitere auf spätere Publikationen.

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Anmerkungen zu Seite 206-214 2 Frankfurter Journal, 17. 2. 1849; Reden und Trinksprüche Friedrich Wilhelms IV., 1855 (eine Zusammenstellung aus der Presse), S. 344 f.; leicht abweichend: F. E. Keller, Geschichte des preußischen Volksschulwesens, Oppenheim 1873, S. 289. Der Wortlaut und die Gelegenheit der Rede sind umstritten; vgl. K. Fischer, Geschichte des deutschen Volksschullehrerstandes, Bd. 2, Hannover 18982, S. 279; aber der Inhalt entspricht durchaus den Ansichten Friedrich Wilhelms IV.; vgl. z.B. C. G. Scholz, Meine Erlebnisse als Schulmann, Breslau 18622, S. 271, über eine Audienz beim König während der Revolutionszeit. 3 Vgl. dazu z. Β. die Bemerkung des Vizepräsidenten der Regierung in Liegnitz, von Westphalen, von 1843, in Orten, „die sich durch Schulbildung auszeichnen“, sei besonders die Neigung vorhanden, „über die bestehenden Einrichtungen zu räsonnieren“; K. Müller, Kulturreaktion in Preußen im 19. Jahrhundert, Berlin 1929, S. 45. 4 F. Stiehl, Meine Stellung zu den drei preußischen Regulativen, Berlin 1872, S. 49 f., ein Immediatbericht von Roon und Mühler vom 27.8. 1866 und die königliche Entschließung vom 30. 8. 1866. 5 F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Freiburg 1933, S. 346. 6 Vgl. J . Kuczynski, Hardenbergs Umfrage über die Lage der Kinder in den Fabriken, Berlin 1960, S. 23 ff. 7 W. Süvern, J . W. Süvern, Langensalza 1929, S. 218 ff. 8 E. Müsebeck, Das preußische Kultusministerium vor hundert Jahren, Stuttgart 1918, S. 203. 9 Die Zahl der schulpflichtigen Kinder, die auch faktisch die Schule besucht hatten, war von 60% (1816) auf 82% (1846) gestiegen; Mitteilungen des statistischen Büros in Berlin, Bd. 3, Berlin 1849. 10 Dazu die Gutachten von Eylert, Beckedorff u.a. 1819-1822; M. Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Bd. 4, Halle 1910, S. 380 ff. und E. Quittschau, Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in den preußischen Lehrerseminaren unter dem Ministerium Altenstein, Diss. Greifswald 1931, S. 303 ff.; und publizistisch entfaltet in den von L. von Beckedorff, dem Volksschulreferenten des Ministeriums (1820-27), herausgegebenen Jahrbüchern für das preußische Volksschulwesen, 1825-28. Vgl. auch die Äußerungen Friedrich Wilhelms III.; R. Eylert, Charakterzüge aus dem Leben Friedrich Wilhelms III., Bd. 1, Magdeburg 1842, S. 372 ff. Noch polemisch und ins Extreme verschärft findet sich die konservative Position in dem viel diskutierten Pamphlet von E. Glanzow (F. W. Pustkuchen), Kritik der Schulen und der pädagogischen Ultras unserer Zeit zu ihrem und der Staaten Besten, 1824; hier werden geradezu die überlieferten Vorurteile heiliggesprochen und der Schreibunterricht auf die Kinder der Grundbesitzer beschränkt. Weniger aggressiv, aber ebenso restriktiv ist die Schultheorie der protestantischen Orthodoxie, so bei F. A. Krummacher, H. Leo oder E. W. Henestenbere. 11 Vgl. F. Thiersch, Über den gegenwärtigen Zustand des öffentlichen Unterrichts, Bd. 1-3, Stuttgart 1838; (von Hippel), Sendschreiben über einige Grundmängel der preußischen Schulverwaltung an den Nachfolger des Staatsministers von Altenstein, 1841; (G. Eilers), Zur Beurteilung des Ministeriums Eichhorn, Berlin 1849; ders., Meine Wanderungen durchs Leben, Bd. 1-5, Leipzig 1856-60; W. Curtmann, Die Schule und das Leben, Friedberg 1842; A. v. Lengerke, Die ländliche Arbeiterfrage, Berlin 1849. 12 Quittschau, S. 305 ff. 13 Ebd., S. 246. 14 Jahrbücher für das preußische Volksschulwesen, 1, 1825, S. 23; ähnlich Bemerkungen über Seminare, Quittschau, S. 322 ff.

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Anmerkungen zu Seite 214-222 15 W. Harnisch, Der jetzige Standpunkt des gesamten preußischen Schulwesens, Leipzig 1844, S. 114 ff., 136. 16 Aus der Fülle der Beispiele: Die Regierung in Köln betonte 1827 gegenüber einem Erlaß des Ministeriums von 1822, der Gemütsbildung und Gehorsam als Zentralstück der Erziehung forderte, sehr nachdrücklich die gleichberechtigte Notwendigkeit einer Erweiterung des Wissens, der intellektuellen Bildung; W. Zimmermann, Der Aufbau des Lehrerbildungs- und Volksschulwesens unter der preußischen Verwaltung 1814-1840 (1846). Ein Beitrag zur Geschichte des rheinischen Schulwesens, Köln 1963, S. 376 f. In Schlesien lehnten Regierung und Oberpräsident seit 1843 das vom Ministerium gewünschte Vorgehen gegen den „revolutionären“ Lehrer Wander und andere Maßnahmen des Ministeriums immer wieder ab; vgl. R. Hoffmann, Der rote Wander, Langensalza 1928, S. 65 ff., 91 ff. 17 Über die Lage im katholischen Bereich wissen wir einstweilen wenig, vgl. unten unter d). 18 Quittschau, S. 10 ff., 49 f. 19 Z.B. Rheinische Blätter 1827, II, S. 2 ff., der Bericht über einen solchen Fortbildungskurs. 20 Nebenbei ist zu bemerken, daß in den 20er und 30er Jahren für die Restauration die Universitäten und Gymnasien noch stärker im Mittelpunkt des Interesses standen als die Volksschule; auch das ermöglichte ihr einen Freiheitsspielraum. 21 C. Nebenius, Über technische Lehranstalten, Karlsruhe 1833. 22 v. Wessenberg, Über die Bildung der gewerbetreibenden Volksklassen überhaupt und im Großherzogtum Baden insbesondere, 1831. 23 Vgl. Verhandlungen der 2. Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen, 1834, Beilagen, Bd. 2, Nr. 204, S. 17; A. Wenzel, Die Schule zwischen Kurstaat und Säkularstaat, Wiesbaden 1963, S. 51; und vom konservativen Leiter der Kultusverwaltung J . Τ. Β. Linde, Übersicht des gesamten Unterrichtswesens im Großherzogtum Hessen, Gießen 1839, ζ. Β. S. 26; L. Bergsträsser, Studien zur Vorgeschichte der Zentrumspartei, Tübingen 1910, S. 95 f. 24 So z. Β. Η. Stephani, System der öffentlichen Erziehung, Berlin 1805, S. 244; vgl. auch J . H. Campe, (1793), zitiert bei H. König, Zur Geschichte der Nationalerziehung, Berlin 1960, S. 41. 25 Müsebeck, S. 28. 26 Süvern, S. 94. 27 J . F. Zöllner, Ideen über Nationalerziehung, Berlin 1804, S. 242 ff.; C. D. Voss, Versuch über die Erziehung für den Staat, Bd. 1, Leipzig 1799, S. 91; vgl. auch die Zeugnisse bei Könie, S. 410 f., 451, 458 ff. 28 Vor allem: A. Diesterweg, Birgt die öffentliche Erziehung der Gegenwart ein revolutionäres Prinzip in ihrem Schoß (1835), in: ders., Sämtliche Werke, hg. von H. Deiters u. a., Bd. 1/3, Berlin 1959, S. 426 ff.; und: ders., Lebensfragen der Zivilisation. Oder: ders., Über die Erziehung der unteren Klassen der Gesellschaft. Drei Beiträge zur Lösung der Frage unserer Zeit (1836), Neudruck in: ders., Schriften und Reden, hg. von H. Deiters, Bd. 1, Berlin 1950. 29 Ähnlich auch ders., Werke, Bd. 1/3, S. 399 ff. (Über das Verhältnis der Schule zum Geist der Zeit) und Bd. 1/4, Berlin 1961, S. 179 ff. (Die wahren und die falschen Erwartungen von der Volksschule). Mit eine Folge dieser Einsicht ist es, daß der Pädagoge Diesterweg Politiker wurde. 30 Ders., Werke, Bd. 1/4, S. 183. 31 Ders., Schriften, Bd. 1, S. 163 f.; ähnlich S. 146. 32 Ähnlich Κ. Η. Poelitz, Staatswissenschaftliche Vorlesungen für die gebildeten Stände in den konstitutionellen Staaten, Bd. 1-3, Leipzig 1831-33, Bd. 1, S. 180 f.,

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Anmerkungen zu Seite 222-228 Bd. 2, S. 11 f., 316 ff.; Jahrbuch der Geschichte und Staatskunst, Bd. 6, 183-3, II, S. 163 ff.: nicht die Fortschritte, sondern die Mängel des Schulwesens seien Ursache der revolutionären Bewegungen, ζ. Β. in Frankreich. 33 F. Harkort, Bemerkungen über die preußische Volksschule und ihre Lehrer, Hagen 1842; ders., Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Klassen, Elberfeld 1844. 34 Ähnlich G. von Mevissen (J. Hansen, Gustav von Mevissen, Bd. 2, Berlin 1906, S. 109, 129, 13.3) oder der Statistiker J . G. Hoffmann: die wohlhabenden Stände müßten in ganz anderem Maße als bisher die Schulkosten tragen, weil durch Schulbildung erst die Sicherheit von Leben und Eigentum besser gewährleistet werde, zitiert bei Harnisch, S. 343. 35 J . Köster, Der rheinische Frühliberalismus und die soziale Frage, Berlin 1938, S. 86, 31, 73 f. 36 Aus den unzähligen meist kritischen Bemerkungen über das Selbstbewußtsein der Lehrer vgl. Curtmann, S. 83: die Lehrer fühlten sich als „kleine Weltheilande“; oder Thiersch, Bd. 1, S. 34 f.: sie glaubten, daß ihr Wirken „auf Reform des ganzen Volkslebens, gleichsam auf die Wiedergeburt der Zeit“ ausgehen solle. 37 W. H. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 18542, S. 80 ff., 339 f. 38 Auf konkrete Gründe für die Teilnahme der Lehrer an der Revolution und ihren radikaleren Bewegungen kann ich hier nur gerade hinweisen. Auf dem Lande waren sie als die relativ Gebildeten diejenigen, an die sich die revolutionäre Propaganda zunächst hielt, die in ihrem Selbstbewußtsein dadurch angesprochen waren; nach Klasse und Lebenskreis standen sie den Unterschichten und den sozialen Problemen besonders nahe und waren daher für den radikalen Flügel eher disponiert. 39 Riehl, S. 80 f., 106. 10. Geschichtsschreibung, Theologie und Politik im Vormärz: Carl Bernhard Hundeshagen 1 Dieser Versuch, der H. Heimpel als Historiker der Reformation und als Historiker der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ehren möchte, ist erarbeitet und geschrieben in den für mich immer kürzer gewordenen Atempausen im Kampf um die Freiheit der „Freien“ Universität Berlin, der zu ihrem Existenzkampf geworden ist. Manche nähere Nachforschung, die ich für notwendig hielt, und manche weiter ausgreifende Explikation von allgemeineren Fragen, die mit dem Thema zusammenhängen, habe ich notgedrungen unterlassen müssen; auch fürchte ich, daß die Darstellung unter der Diskontinuität der Arbeit gelitten hat. 2 Vgl. dazu: W. Beyschlag, Aus meinem Leben, Bd. 1, Halle 1896, S. 252; O. Ritschi, A. Ritschis Leben, Bd. 1, Freiburg 1892, S. 135; W. Bauer, Lebensbilder aus der Geschichte der Kirche und des Vaterlandes, 1887, S. 348 f.; alle drei betonen, daß sie das Buch „verschlungen“ hätten und wie tief sie beeindruckt waren. - Rezensionen: Th. Christlieb, D. Κ. Β. Hundeshagen, eine Lebensskizze, in: Deutsche Blätter. Eine Monatsschrift für Staat, Kirche und soziales Leben, Jg. 1872, S. 691; Augsburger Allgemeine Zeitung vom 19. 1. 1847; Deutsche Zeitung, 1847, Beilage Nr. 38 (Gervinus); Allgemeine Literaturzeitung, 1847, S. 293 (A. Baier); Theologische Jahrbücher, 6, 1847, S. 527 ff. (F. C. Baur: Kritische Studien über das Wesen des Protestantismus). Hundeshagen hat auf diese vom Standpunkt der Baurschen wissenschaftlich-philosophischen Theologie geschriebene Kritik - Baur spricht von „hohlster Deklamation“ eines „abstrakten burschenschaftlichen Pathos“ und davon, daß der Verfasser in Wahrheit gegen seinen Willen der Reaktion diene - im Vorwort zur 3. Auflage 1850

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Anmerkungen zu Seite 228-229 ausführlich geantwortet; Evangelisches Kirchen- und Schulblatt zunächst für Schlesien, 1848, S. 5-7 (konservative Kritik); Tholucks Literaturanzeiger, 1847, S. 19; Die Lebensfragen des deutschen Protestantismus in der Gegenwart. In Briefen von einem Laien an einen Theologen. Eine Schutzschrift für die rationale Auffassung des Christentums, insbesondere eine Entgegnung auf die Schrift: der deutsche Protestantismus, Braunschweig 1848 (Dr. Assmann). Den meisten Beifall fand das Buch in Südwestdeutschland, während es in den altpreußischen Provinzen schärfer kritisiert wurde, E. Riehm, Zur Erinnerung an D. Κ. Β. Hundeshagen, in: Theologische Studien und Kriti­ ken, 47, 1874, S. 54. 3 „Die Reform der Kirche durch Nationalreform“, so sollte zunächst der Titel lauten; vgl. G. Weihrauch, Der „deutsche Theologe“ Κ. Β. Hundeshagen (1810-1872). Seine theologische und kirchliche Wirksamkeit und Bedeutung, Diss. theol. Halle 1959, MS, S. 56. 4 Die wichtigste Literatur: a) Weitere Werke von Hundeshagen, die in unserem Zu­ sammenhang von Bedeutung sind: C. B. Hundeshagen, Die Konflikte des Zwinglianis­ mus, Luthertums und Calvinismus in der Bernischen Landeskirche von 1532-1558, Bern 1841; ders., Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchenpolitik, insbesondere des Protestantismus, Bd. 1, Wiesbaden 1864; ders., Ausgewählte kleinere Schriften und Abhandlungen, Bd. 1 u. 2, hg. von Th. Christlieb, Gotha 1874 u. 1875 (dort fast alle wichtigen kleineren Arbeiten). - b) Christlieb, Hundeshagen; Riehm; Weihrauch, eine im ganzen leider enttäuschende Arbeit. 5 Gegen die „abstrakte“ Fassung, in: Flugblätter aus der deutschen Nationalversammlung, hg. von Bernhardi, Jürgens und Löwe, Frankfurt 1848, S. 9-11. 5a Brief abgedruckt bei Weihrauch, S. 16. 6 Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 2, Heidelberg 1911, S. 328 ff.: In den Pfingstferien war man „in ziemlicher Anzahl nach der Wartburg gewallfahrtet“. Vgl. auch ebd., Bd. 10, 1927, S. 207 ff.; Chr. Scriba, Beiträge zur Geschichte der alten Gießener Burschenschaft, Gießen 1913; Fabricius, Die große Gießener Relegation im Sommer 1828, in: Akademische Monatshefte, 171, 1898, S. 103 f. Die ganze Verbindung habe, so schreibt Hundeshagen, „nicht direkt den Gesetzen widersprochen“; Weihrauch, S. 263. 7 Dagegen Quellen, Bd. 4 (Heer), 1913, S. 284 (Hundeshagen habe mit anderen versucht, „die Leute, an denen nicht viel war“, aus der Burschenschaft zu drängen). Anders ebd., Bd. 10 (Heer), 1927, S. 199. - Hundeshagen hielt zum 18. 10. 1829 eine Rede, in der er - sehr gemäßigt - die Reformation, den Freiheitskampf von 1813 und die Tendenz der Burschenschaft aufeinander bezog. Die Gießener traten 1830/31, als er wieder in Gießen war, den Germanen bei. 8 Es gab seit 1831/32 unter den Gießener Studenten eine zunehmend erregtere Stimmung, und man war bestrebt, sich mit gleichgesinnten Bürgern zu verbinden, so in Vereinen zur Unterstützung der Polen sowie in den Press- und Vaterlandsvereinen, zumal nachdem im Juli 1832 eine gemäßigtere Gruppe sich als Teutonia abgespalten hatte. Gießener Burschenschaftler haben am Hambacher Fest teilgenommen und einzelne haben sich am Frankfurter Wachensturm beteiligt, sehr viel mehr waren offenbar eingeweiht; Quellen, Bd. 10, S. 289 ff. Die Burschenschaft wurde dann - infolge der Verhaftungen im Zusammenhang mit der Agitation von Büchner und Weidig - aufgelöst; ebd., Bd. 10, S. 321 ff. - Zeugnisse für Hundeshagens Teilnahme an revolutionären Versammlungen und Bestrebungen nach den Aussagen von Angeklagten: M. Schäffer, Actenmäßige Darstellung der im Großherzogtum Hessen 1832-35 stattgehabten hochverrätherischen Unternehmungen, 1839, S. 6, 21 f., 28 f. (Mitinitiator von Revolutionsplänen), 32 f., 34; F. Noellner, Actenmäßige Darstellung des Verfahrens gegen E. L. Weidig, Darmstadt 1844; L. F. Ilse, Geschichte der politischen Un451 29* © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35969-4

Anmerkungen zu Seite 229-234 tersuchungen, Frankfurt 1860, S. 303 ff.; Weihrauch, S. 24 ff., 278 ff. mit ganz unkritischer Übernahme der Aussagen der Verhafteten: u. U. lagen auch Verwechslungen mit seinem Bruder vor. 9 Christlieb, S. 684; Weihrauch, S. 31 f., 290. 10 Über die scharfe Kritik an den hessischen Zuständen in den beginnenden 30er Jahren, die von dem seit 1829 einsetzenden straffen Reaktionskurs unter dem Innenund Justizminister du Thil bestimmt waren - ζ. Β. feiler Servilismus, Nepotismus, Unterdrückung des Geistes-, Weihrauch, S. 275; vgl. auch C. Vogt, Aus meinem Leben, Stuttgart 1896, S. 22 ff., 113 ff. 11 Als Sohn seines Vaters, der „gegen das Gouvernement war“, habe er keine Aussichten gehabt, zumal er seine Denkweise nie verhehlt habe; so in einem Brief, abgedruckt bei Weihrauch, S. 279 ff. 12 Beyschlag, Bd. 2, S. 72. 13 In seiner Schweizer Zeit gehörte er einem Kreise in Burgdorf an, in dem sich nationale („patriotische“) und freisinnige deutsche Emigranten mit Schweizer Liberalen verbanden; Schriften, Bd. 1, S. 419. 14 Christlieb, S. 685. 15 Auf die besonderen Probleme der Berner Kirche kann ich hier nicht eingehen. Die Regierungsbehörden hatten der Kirche gegenüber formal eine sehr starke Stellung; freilich gab es innerhalb der Kirche einen wachsenden Widerstand gegen das Staatskirchentum, obwohl auch diese Kräfte nur den rechtlichen, nicht aber den faktischen Zusammenhang von Kirche und bürgerlichem Leben aufheben wollten. Vgl. K. Guggisberg, Bernische Kirchengeschichte, Bern 1958, S. 617 ff. 16 Vgl. H. v. Greyerz, Nation und Geschichte im bernischen Denken, Bern 1953, S. 162 ff.. 192 ff. 17 R. Feller, Die Universität Bern 1834-1934, Bern 1935; F. Haag, Die Sturmund Drangperiode der bernischen Hochschule 1834-54, Bern 1914; H. Spreng, U. Ochsenbein, Bern 1918. - Der Landamman Blösch erklärte im Zusammenhang mit den radikalen Rechtsbrüchen, die Universität sei aus einer Schule des Rechts und der Ordnung zu einer des Unrechts und der Unordnung geworden; E. Bonjour, Die Gründung des Schweizer Bundesstaates, Basel 1948, S. 54 f. - Daß der Extremismus mancher Radikaler aus der besonderen Konfliktsituation der Zeit zu verstehen ist und sich nach dem Sieg des Radikalismus 1847/48 gerade nicht durchgesetzt hat, war für die nichtradikalen Zeitgenossen, und auf die kommt es hier an, zunächst nicht unbedingt erkennbar. 18 Vgl. Guggisberg, S. 617 ff.; dort auch über die Kämpfe um die Berufung des „linken“ Theologen E. Zeller 1847 nach Bern, die mit einer Volkspetition, einer Entscheidung des Großen Rates, Geldstrafen gegen Opponenten etc. eine erhebliche Intensität annahmen. Hundeshagen hat sich vorsichtig für die Berufung Zellers ausgesprochen. 19 Die antiradikale Basler Zeitung nannte diese Rede, „im gegenwärtigen Moment in Bern gesprochen, nicht nur ein Wort, sondern eine republikanische Tat“; Christlieb, S. 687 f. 20 Christlieb, S. 682 f., der ihn gut gekannt hat, spricht anläßlich der Berner Zeit von einer Zeit „innerer Abklärung und Ernüchterung vom letzten Rest burschenschaftlicher Überschwenglichkeit in Verfolgung utopischer Ziele“. 21 Schriften, Bd. 2, S. 606. 22 Ebd., Bd. 1, S. 37. 23 Ebd., S. 53. 24 Ebd., S. 93, 98: „Ein Zug ernster, tiefempfundener Teilnahme bewegt' das unbefangene Gemüt in Betrachtung des deutschen Bauernkriegs, vornehmlich seines

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Anmerkungen zu Seite 234-237 tragischen Ausgangs. Es ist das Gefühl, daß hier eine im ganzen gerechte Sache untergeht.“ 25 So schon in seinem ersten umfangreichen kirchenhistorischen Werk: Die Konflikte des Zwinglianismus, Luthertums und Calvinismus in der Bernischen Landeskirche von 1532-1558, Bern 1841. 26 Ebd., S. 28 f., V. - Es ist in unserem Zusammenhang nicht möglich, diese historische Position genauer einzuordnen. Soweit ich sehe, ist Hundeshagen zu seiner Geschichtsanschauung und zur Richtung seiner Forschung selbständig, wahrscheinlich unter dem Einfluß der Lektüre Rankes, vor allem seiner Reformationsgeschichte, gekommen. 1853 stellt er einem Aufsatz „Umrisse zur neueren Geschichte des Protestantismus“ ein Motto von Ranke voran: „In Schule und Literatur mag man kirchliche und politische Geschichte voneinander sondern; in dem lebendigen Dasein sind sie jeden Augenblick verbunden und durchdringen einander“; Schriften, Bd. 2, S. 259; in Bd. 1, S. 606 (1863) werden Ranke und die historische Schule (bis zu Gervinus und Häusser) wegen ihres Realitätssinnes, der Orientierung am konkreten Wesen des Staates und der Abkehr von philosophischer Konstruktionssucht gelobt. 27 „Es stellte sich aber der abstrakten Konsequenz theologischer Schulmäßigkeit in der Entwicklung der Reformation durch diese eingreifende Teilnahme der bürgerlichen Gewalt an der Leitung des kirchlichen Lebens ein konkretes geschichtlich-nationales Element als Gegengewicht gegenüber, und beide reagierten wechselseitig auf einander“, ebd., S. 28. Gerade an Zwingli wird die Verschränkung von politisch-sozialen und religiösen Motiven herausgearbeitet und seine Prägung durch ein städtisch-republikanisches Gemeinwesen. In der 3. Auflage seines Protestantismusbuches spricht er (S. 49) von der Kulturgeschichte, die „das Ineinandergreifen . . . , das wechselseitige Bedingen“ der einzelnen Lebensrichtungen, insbesondere von Politik und Religion zum Gegenstand habe. 28 So etwa in seiner Rektoratsrede von 1841 „Über den Einfluß des Calvinismus auf die Ideen von Staat und staatsbürgerlicher Freiheit“ oder in dem Hauptwerk seiner späteren Zeit: Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchenpolitik, insbesondere des Protestantismus, Bd. 1, Wiesbaden 1864. 29 Von daher erklärt sich sein frühes und kontinuierliches Interesse an Zwingli, an dessen „Vertiefung politisch-patriotischen Interesses durch die Verknüpfung mit dem Religiösen“ und an dessen Ausgestaltung des neuentdeckten Evangeliums „in der Societät“; Konflikte, S. 156, 140. 30 Ebd., S. 75. 31 Vgl. Schriften, Bd. 1 (1852), S. 208, wo er vom „antizipatorischen Drang“ der deutschen Bildung spricht. 32 Der deutsche Protestantismus, S. 79 (wo im folgenden in den Anmerkungen Seitenzahlen ohne nähere Angaben auftauchen, beziehen sie sich stets auf dieses Werk); in der 3. Auflage heißt es, etwas abweichend, in der Überschrift des 8. Kapitels: „Die absolute Monarchie als Erzeugerin des gebildeten Mittelstandes in Deutschland repräsentiert im Beamtentum.“ 33 Über den Zusammenhang der Ausbildung der territorialen „Staats“kirchen mit dem Dogmatismus der „Schulen“ vgl. später Schriften, Bd. 2, S. 429 f., 529. 34 S. 101. 35 S. 94. 36 S. 109. 37 So später Schriften, Bd. 2, S. 576. In dem Hauptwerk von 1864 werden die Folgen der Reformation noch kritischer beurteilt und stärker auf die Reformation selbst zurückgeführt. Die Reformation ist ein unvollendeter und unvollkommener Ansatz geblieben, insofern die ursprüngliche Verbindung von Praxis und Glaube, von ethischer

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Anmerkungen zu Seite 237-243 Subjektivität (Personalität) und religiöser Objektivität durch ein falsches Übergewicht der letzteren gestört worden ist; gelegentlich spricht er sogar davon, daß das Übergewicht der religiösen über die sittliche Weltanschauung als „Erbübel wenig verändert aus dem Katholizismus übernommen“ worden sei, vgl. Schriften, Bd. 2 (1860/61), S. 504. Gerade deshalb sei das Gemeindeprinzip nicht ausgebildet worden. 38 S. 112 f. 39 Vgl. besonders Schriften, Bd. 1, S. 192 f., in einem Aufsatz über die „Entwicklung der Humanitätsidee“ von 1852. 40 S. 130. 41 S. 138. 42 In diesem Zusammenhang, S. 151, zitiert Hundeshagen zustimmend P. Pfizer, Das Vaterland, Stuttgart 1845, S. 33 ff., oder S. 161 den Engländer Th. Arnold: „Der deutsche Gelehrtenstand stellt uns Beispiele eines einseitigen Fleißes vor Augen, der das rechte Maß überschreitet ohne echte Universalität, ohne hinlängliche Durchbildung zu einer wahrhaft männlichen, bürgerlichen und christlichen Gesinnung.“ 43 S. 147; 1852 schreibt er, man habe die Poesie zum Spiegel und zur Dominante der Kultur gemacht, Schriften, Bd. 1, S. 208. 44 3. Auflage, S. XL f. 45 So 1854, Schriften, Bd. 1, S. 341. 46 In der 3. Auflage ist die Kritik am Liberalismus noch schärfer, z.B. S. XI: Phantasiepolitik, abstrakte Verachtung der konkret historischen und natürlichen Bestimmtheiten des Menschen, krankhafte und ungestillte Sucht nach Neuem, Unfähigkeit zu positivem Schaffen, Erzeugen einer Welt von Unwirklichkeit gegen die unbefriedigende Wirklichkeit; die politische Idee habe anstatt „die inneren Bedingungen ihrer Verwirklichung immer vollständiger hervorzuarbeiten sich schrittweise immer weiter von der Welt entfernt“. 1854 hat er in einem „Zuruf an die Deutsche Partei“ diese Kritik noch einmal - milder und versöhnlicher zwar - erneuert, er begrüßt es immerhin, daß die Liberalen zur „Realpolitik“ übergingen und daß seit 1848 die Begriffswelt der Nation konkreter und nüchterner geworden sei. 47 Schon 1845, Schriften, Bd. 1, S. 1 ff., hat er im Anschluß an die Lektüre von Stein und Fallati vom Kommunismus als der gesellschaftlichen Frage gesprochen, die alle heutigen öffentlichen und privaten Verhältnisse angehe. 1854 hat er es begrüßt, daß die Liberalen den Zusammenhang ökonomisch-sozialer Bedingungen mit dem Verfassungsleben zu erkennen begännen. 48 S. 309. Im Bewußtsein „unserer beamtlich gebildeten Welt findet nur das einen lebendigen Reflex, was für diese Klassen Interesse und Bedeutung hat“ (S. 311), so die Lehrfreiheit, d. h. ein Partikularinteresse der theologischen Wissenschaft, das zum allgemeinen Interesse hypostasiert wird, die Kirche wird dabei zur Pfründenanstalt einer geistlichen Aristokratie. 49 Für den Theologen Hundeshagen hat der Mensch selbstverständlich eine „natürliche“ Neigung, sich gegen das Christentum zu wenden - aber diese Neigung kann durch allgemeine, historisch bestimmte Dispositionen begünstigt oder geschwächt werden. 50 Auf die Bedeutung dieser These für die politische Theologie werden wir noch zurückkommen. 51 Es mag angemerkt werden, daß Hundeshagens Darstellung in diesen Partien oft langatmig und wenig konzise ist. 52 Hundeshagen zitiert S. 521 diesen Terminus. 53 Vgl. in unserem Zusammenhang auch die oben erwähnte Rezension im Evangelischen Kirchen- und Schulblatt für Schlesien. 54 Auf die Vielzahl anderer Positionen, der französischen laizistischen und katholi-

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Anmerkungen zu Seite 243-249 schen Liberalen, der frühen Sozialisten, der Junghegelianer, der verschiedenen Nationalisten - alle diese Thesen waren im frühen 19. Jahrhundert mit nationalen, am deutsch-französischen oder germanisch-romanischen Gegensatz orientierten Ideologien versetzt - kann ich hier nicht eingehen; auf die Position der Burschenschaft (Wartburgfest) und die des radikal-demokratischen Lichtfreundeprotestantismus ist oben nebenbei hingewiesen worden. 55 Die letztere hat noch Görres im „Athanasius 183.8 expressis verbis vorgenommen. 56 Die berühmte Schrift von Stahl mit dem gleichen Titel erschien erst 1853, der Begriff war aber in den 40er Jahren durchaus geläufig. 57 S. 489. 58 Die protestantischen Bewegungen des 16. und 17. Jahrhunderts waren „revolutionär“ nur sofern sie sich mit anderen historischen Tendenzen - dem Widerstand gegen den Absolutismus - verflochten. 59 Vgl. insbesondere Schriften, Bd. 2, S. 73 f. 60 S. 490. 61 So im Vortrag „Über den Einfluß des Calvinismus“, Schriften, Bd. 1. 62 1847 versucht er, den größeren Aktivismus des Calvinismus auf bestimmte Unterschiede in der Christologie zurückzuführen, ein Versuch, den er später (1864) revidiert hat. Hundeshagen hat sich in seinen späteren Jahren wissenschaftlich vor allem der vergleichenden Analyse der Konfessionen, ihrer politischen und sozialen Ethik, ihrer Mentalität und ihren Institutionen gewidmet und dabei die - theologisch wie historisch-politisch bedingten - Kirchenverfassungen in den Mittelpunkt gestellt. Man kann mit Eugen Rosenstock diese Interpretation in bezug auf die protestantischen Konfessionen auf die Formel vom lutherischen Thema „Gott, und die Seele“ - einem „hemmenden Plus von Innerlichkeit“, Beiträge, S. 363', einer Gleichgültigkeit gegen eine Neugestaltung des christlich-sozialen Lebens, Schriften, Bd. 2, S. 300 ff. - und dem reformierten Thema „Gott und die Welt“ bringen. In beiden Konfessionen aber sei das ursprünglich in der Reformation angelegte Verhältnis zu Staat und Gesellschaft unvollendet geblieben, nicht weiter oder in einer falschen, dem Ansatz widersprechenden Richtung entwickelt worden. 63 Schriften, Bd. 2, S. 507. 64 Vgl. vor allem Schriften, Bd. 2, S. 480 ff., 507. 65 Schriften, Bd. 1, S. 4 ff.; er versucht dann den Nachweis, daß die älteren kommunistisch-sozialistischen Bestrebungen zumal der Sekten auf einer Verkehrung der eigentlich christlichen Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Geist, auf einem unchristlichen Ideal von Askese beruhten. 66 S. XXXVIII. 67 Ein Zuruf an die Deutsche Partei, Schriften, Bd. 1, S. 376; der Satz klingt mit seiner Polarisierung scheinbar orthodox gegenrevolutionär und konservativ - man muß ihn aber im Zusammenhang mit der ebenfalls scharfen Polemik gegen Konservativismus und Reaktion sehen. Hundeshagen hat seine Position der Mitte auch in der Auseinandersetzung mit „roter“ Theoloeie und Politik nicht aufeeirehen. 68 Über diese Kontinuität - Feuerbach, Haecker und Robert Blum als die Erben Herders - vgl. Schriften, Bd. 1, S. 194 (1852) und S. 366 (1854). 69 „Das deutsche Kreuz aber“, gemeint ist die Kreuzzeitung, „d. h. das Kreuz für Deutschland, die kleine, aber einflußreiche Partei. .., die zuerst nach den Privilegien der märkischen und pommerschen Ritterschaft trachtet, nicht nach Gerechtigkeit...“, heißt es 1854, Schriften, Bd. 1, S. 379. 70 Die „Christianisierung“ des Staates ist nicht Aufgabe kirchlicher oder konservativer Politik, sie ist vielmehr aus der Bewegung des freien Geistes allein zu erwarten;

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Anmerkungen zu Seite 249-254 die These des Vermittlungstheologen Richard Rothe, in den Trägern der modernen Bildung sei ein unbewußtes Christentum am Werk, letzten Endes werde der „Staat“ christianisiert, indem die Kirche sich in ihn (und die Kultur) auflöse - hat Hundeshagen als Kritiker der modernen Bildung abgelehnt. 71 S. 498. 72 S. 519. 73 S. 509 f. 74 S. 471. 75 S. 510. 76 S. 519. 77 An diesem Punkt ist Hundeshagen offenbar etwas schwankend - einmal wird der Staat als „sittliche Macht“ von der Verfassung getrennt gedacht, zum andern entsprechen die „freieren“ staatlichen Institutionen einem christlichen öffentlichen Ethos besser als andere. 78 S. 492. 79 Er wendet sich entschieden gegen die konservative Benutzung der Geschichte, gegen das Herausheben eines Elements aus dem Fluß der Zeit, in dem Altes und Neues, Objektives und Subjektives, Positivität und Negation gemischt seien und in dem freie sittliche Mächte ineinander wirkten, die Repristination eines fixierten historischen Zustandes sei uneeschichtlich und theoloeisch illeaitim. 80 S. 220 ff. 81 S. 328. 82 Grundsätzlich gilt das Christentum als eine Vermittlung von Idealismus und Realismus - in der gegenwärtigen Situation muß aber gegenüber der Gefahr des Idealismus die realistische Note stärker zur Geltung gebracht werden, vgl. Schriften, Bd. 1, S. 192 ff. 83 S. 303. 84 S. 317 ff. Hundeshagen verwendet den Begriff ausdrücklich, aber mit Vorsicht, weil er durch die Reaktion halb diskreditiert ist - als Restitution einer mittelalterlichen Hierarchie oder der konfessionalistischen Gemeinwesen des 16. und 17. Jahrhunderts; zu seinem Begriffsgebrauch gehört wesentlich die moderne Toleranz. 85 Theologische Studien, 35, 1862, S. 131. 86 Beiträge, S. 140. 87 Als Theologe bleibt Hundeshagen in diesem Punkt mit prinzipiellen Aussagen vorsichtig: wie Politik und Bildung die Entchristianisierung nicht absolut verursachen, sondern vielmehr mitbedingen und begünstigen, so wird die Erneuerung des Protestantismus durch den Konstitutionalismus begünstigt und mitbedingt, ohne doch direkt von ihm abhängig zu sein - aber aller Akzent liegt doch auf diesem Bedingungszusammenhang. 88 Vgl. S. 451 ff. 89 In diesem Zusammenhang rechtet Hundeshagen des öfteren um die Verstöße gegen das „nationale“ Prinzip bei Katholiken und Protestanten, das gehörte, zumal sei der Gründung der Historisch-Politischen Blätter, zu den Lieblingsthemen der interkonfessionellen Polemik. 90 S. 529. 91 S. 530. 92 S. 529. 93 S. 539. 94 Später ist er mehr und mehr von dieser Position abgerückt, ohne sein politisches Programm zu ändern. 1852, Schriften, Bd. 1, S. 159 ff., werden Christentum und die Idee der Menschheit in Beziehung gesetzt, nur der Staat beruhe auf der Naturbasis der 456

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Anmerkungen zu Seite 254-259; 279-280 Nation, für die Kirche sei der nationale Staat - gut idealistisch - ein unentbehrliches Erziehungsmittel zur Humanität; 1854 - wir werden darauf noch kommen hat er versucht, den antikatholischen Zug seines Nationalismus zurückzunehmen; in den 60er Jahren hat er die Verflechtung der protestantischen Kirchentümer in die nationalen Gemeinwesen als einseitig kritisiert und für eine universellere Einheit plädiert, Schriften, Bd. 2, S. 424 f., ja, Beiträge, S. 392, entschieden gegen die neu-lutherischen Theorien, die zwischen Luthertum und Deutschtum eine besondere Entsprechung konstruierten, polemisiert und in diesem Zusammenhang sich auch gegen den Versuch gewandt, das Germanische und das Christliche in eine besonders enge Beziehung zu setzen. 95 Bei de Maistre kann man nur schwer von Geschichtsphilosophie sprechen, die Geschichte der Herkunft der Revolution aus der Reformation ist keine „historische“ Geschichte, wenn auch die Historie Waffen für die Polemik zu liefern hat, sondern eine Konstruktion zur Begründung eines Verdammungsurteils. 96 Z. B. Schriften, Bd. 1, S. 277 ff., 341 ff., 379 u. ö. 97 S. 515. 98 S. 513. 99 S. 514. 100 Zu dem werbenden Argumentieren des Verfassers gehört auch der häufigere Hinweis auf die Verfassungszusagen von 1815, vgl. S. XLf. im Vorwort zur 3. Auflage, das „zu Gewährende“ sei verleumdet, das „Gewährte“ verkümmert worden; vgl. weiter S. 513. ff. 101 Schriften. Bd. 1. S. 376. 102 Schriften, Bd. 1, S. 333. 11. Kritik oder Objektivität? Zur Beurteilung der Revolution von 1848 * Die Zeitspanne zwischen dem Vortragstermin (21. 2. 1974, im Frankfurter Verein für Geschichte und Landeskunde) und der Drucklegung war aus guten Gründen so kurz bemessen, daß ich nicht die Möglichkeit gehabt habe, meinen Vortrag mit einem ausreichenden Anmerkungsapparat zu versehen. In dieser Situation muß ich auf alle Anmerkungen verzichten. Für die neuere internationale Literatur und besonders für die marxistische Literatur verweise ich auf die Bibliographie zu dem Artikel „Die Revolutionen von 1848“ von A. Dorpalen in: Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft, Bd. 5, Freiburg 1972, S. 747-66. Besonders wichtig die bekannten Arbeiten von Valentin, Mommsen, Stadelmann, Wentzcke und Huber. Dazu: F. Eyck, Deutschlands große Hoffnung. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, 1973; H. Rothfels, 1848Onehundred years after, in: Journal of Modern History, Bd. 20, 1948; K. Griewank, Ursachen und Folgen des Scheiterns der Revolution von 1848, in: Historische Zeitschrift, Bd. 170, 1950, S. 495-523. 12. Die Organisation der bürgerlichen Parteien in Deutschland vor 19 18 1 Vgl. z.B. den Forschungsbericht von H. Rothfels in: Dt. Vj.-schrift für Lit.wiss., 8, 1930, und die Erörterungen von L. Bergsträsser in der Einleitung seiner Geschichte der politischen Parteien, München 19552; bei Rothfels wird auch die gleich zu behandelnde Trennung der Gesichtspunkte in der parteitheoretischen und der parteihistorischen Literatur deutlich. 2 Bei der SPD war das Problem von Masse, Führung und Organisation schon

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Anmerkungen zu Seite 280-281 länger und offensichtlicher wichtig als in anderen Parteien. R. Michels - Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Leipzig 1911, neu herausgegeben von W. Conze, Stuttgart 1957 - zuerst hat dann an ihr die Ausbildung oligarchischer Tendenzen in einer Massenpartei untersucht und damit den Anstoß zu weiteren Forschungen gegeben. Die ζ. Τ. anfechtbaren politischen und theoretischen Voraussetzun­ gen seiner These, die anscheinend geringe Bedeutung dieser Fragen bei den anderen Parteien und die Quellenlage haben es nicht zu methodisch ähnlichen Untersuchungen für diese Parteien kommen lassen. 3 Zu den gegenwärtigen Fragen des Parteienstaates zuletzt: Rechtliche Ordnung des Parteiwesens, 1957. - Zur Typologie: M. Duverger, Les Parties politiques, Paris 19542. 4 Über den Zusammenhang der Krise des Liberalismus und der modernen Parteiprobleme mit den Fragen der älteren Parteiorganisation vgl. Th. Schieder, Das Verhältnis von politischer und gesellschaftlicher Verfassung und die Krise des bürgerlichen Liberalismus, in: HZ, Bd. 177, 1954, S. 49-74; ders., Die Theorie der Partei im älteren deutschen Liberalismus, in: Aus Geschichte und Politik. Festschrift für L. Bergsträsser, Düsseldorf 1954, S. 183-96; ders., Der Liberalismus und die Strukturwandlungen der modernen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Relazioni del X Congresso Internazionale di Scienze Storiche, Bd. 5, Florenz 1955. 5 Als Quelle der Untersuchung diente neben der gedruckten Literatur, besonders den Parteiveröffentlichungen, in sehr ausgedehntem Maße die Presse. Für einige Parteien standen Nachlässe und Akten zur Verfügung: für das Zentrum der Nachlaß K. Bachern im Stadtarchiv Köln, für die Fortschrittliche Volkspartei und z. Τ. ihre Vor­ läufer die Parteiakten im Deutschen Zentralarchiv Potsdam; dort auch ein kleiner Bestand Akten der Nationalliberalen Partei und die Nachlässe Wangenheim und Roesicke, aus denen sich manches für die Konservative Partei ergibt. - In diesem Aufsatz geht es nur darum, einige Grundzüge der Organisationsgeschichte aufzuweisen; die sozialdemokratische Organisation weicht von der der bürgerlichen Parteien so stark ab, daß sie in diesem Rahmen nicht analysiert werden kann. Eine detaillierte Untersuchung, die dem Aufbau der einzelnen Parteien einschließlich der SPD genauer nachgeht und dabei auch die hier nicht berücksichtigten Fragen der Fraktionsorganisation und der Stellung des Parteiführers behandelt, habe ich in meinem Buch: Die Organisation der deutschen Parteien vor 1914, Düsseldorf 1961, vorgelegt. 6 Das gilt auch für die parlamentarischen Führer. Bei der Konstituierung der Nationalliberalen Partei als „neue Fraktion der nationalen Partei“ am 17. 11. 1866 erklärte man den anderen liberalen Fraktionen, man wisse mit ihnen „als zur entschieden liberalen Partei gehörig sich auf gemeinsamem Boden“, man werde an den „gemeinsamen Beratungen der liberalen Partei gern teilnehmen“; A. Patzig, Die nationalliberale Partei 1867-92, Berlin 1892, S. 16. Das Statut des 1876 gegründeten zentralen „Wahlvereins der deutschen Konservativen“ lautet im § 2: Der Verein wird „bestrebt sein, alle konservativen Kräfte im Reich zu sammeln und einheitlich zusammenzufassen, unabhängig sowohl von der jeweiligen Stellung der Regierung zu der konservativen Partei, als von den verschiedenen Parteischattierungen und den augenblicklichen Fraktionsbildungen“; L. Parisius, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, Berlin 1878, S. 218 f. Beide Erklärungen sind natürlich auch taktisch bedingt, aber doch nicht nur. - Auf die Existenz gesamtliberaler Wahlvereine werden wir noch eingehen. 7 Weil für die erste Periode unseres Zeitraums die Presse die Hauptquelle ist, sind wir über die Entwicklung in Berlin am ehesten orientiert. 8 Die Kommunalwahlen wurden erst etwa in den 80er Jahren in den Parteienkampf einbezogen. 458

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Anmerkungen zu Seite 284-297 9 So wurde 1878 der in einer ersten Volksversammlung schon gebilligte Beschluß der Vertrauensmänner, dem Gewerkschaftsanwalt Max Hirsch die Kandidatur in einem Berliner Reichstagswahlkreis zu übertragen, aus Rücksicht auf die Nationalliberalen und auf die offenkundige Abneigung der fortschrittlichen mittleren und kleinen Unternehmer durch die führenden Berliner Abgeordneten rückgängig gemacht und die Zustimmung einer Versammlung für den neuen Kandidaten Hänel erreicht; Vossische Ztg. vom 9. 12., 13., 17. 7. 1878. 10 Darum hat sich in konservativen Gebieten des Zentrums, in Schlesien und Westfalen, die Basierung der Parteiorganisation auf Wahlmänner bis zum Weltkrieg gehalten. 11 In einzelnen Ländern oder Provinzen waren solche fraktionsunabhängige und richtungsübergreifende Vereine, die sich auch später noch bildeten, von der Kampfstellung gegen eine bestimmte Partei geprägt: so im Osten „deutsche“ Vereine gegen die Polen, in Sachsen „nationale“ Vereine gegen die Sozialdemokraten, im Rheinland gegen das Zentrum. In diesen Vereinen waren Anhänger verschiedener Parteien verbunden, sie waren formell neutral, ihre Richtung bestimmte ein Kompromiß gemäß dem Kräfteverhältnis der Parteianhänger. 12 So wurden von den 22 Anhängern des konservativen Fraktionsvorsitzenden Helldorff 1893 nur 6 wieder aufgestellt und gewählt. So wurden 1887 und 1893 die konservativen Zentrumsabgeordneten nicht wieder aufgestellt. 13 Nur beim Zentrum wurden die typischen Aufgaben eines Zentralwahlkomitees von den Abgeordneten persönlich und vor allem gemäß der föderalistischen Herkunft des Zentrums von provinzialen Institutionen wahrgenommen. 14 Ζ. Β. konstituierten sich 1876 die Deutsch-Konservativen als Wahlverein der deutschen Konservativen; auch in der Fortschrittspartei hat es in den 70er Jahren ei­ nen derartigen zentralen Verein gegeben. 15 Nach § 8 des preußischen Vereinsgesetzes vom 1. 3. 1850 war der Zusammentritt, die Verbindung politischer Vereine verboten. Nach § 21 der Ausführungsverordnung vom 11.3. 1850 galt dieses Verbot zwar nicht für Wahlvereine, aber dem damaligen Begriff von „Wahlverein“ gemäß wurde als solcher nur ein Verein betrachtet, der allein für konkret anstehende Wahlen wirkte; so eine Entscheidung des preußischen Obertribunals v. 27. 6. 1869, s. Parlamentarische Correspondenz (Aus der deutschen Fortschrittspartei) vom 20.2. 1877; die Zentralwahlkomitees der Parteien durften also eigentlich nur zur Zeit der Wahlen wirken. - Der § 8 ist erst am 6. 12. 1899 aufgehoben worden. Das die Vereinigungsfreiheit garantierende Reichsvereinsgesetz kam erst 1908 zustande. 16 Parteitag im heutigen Sinne hieß bis 1914 parteioffiziell Delegiertentag, in der Publizistik hatte sich allerdings längst die Bezeichnung Parteitag durchgesetzt. 17 Nur das Zentrum macht eine Ausnahme, s. unten S. 310 f. 18 Auf das Verhältnis der Wähler zu den Parolen der Organisation, auf die Parteitreue der Wähler, die sich besonders bei den Stichwahlen, aber auch bei Parteispaltungen zeigte, kann hier nicht eingegangen werden. Ich werde in anderem Zusammenhang darauf zurückkommen. 19 Bei der Gründung des konservativen Wahlvereins 1876 gehörten Abgeordnete der wichtigen Fraktionen als Personen zum Vorstand, seit 1889 auch formell als Vertreter ihrer Fraktionen. Bei den Nationalliberalen gehörten Landtagsabgeordnete seit 1873/74 zur Parteiführung. Bei der Fortschrittspartei genügten die preußischen Landtagsabgeordneten, sie gehörten sämtlich zu dem Zentralwahlkomitee. 20 Diese Wahlaufrufe konnten auch von der ganzen Fraktion oder dem Fraktionsvorstand erlassen werden.

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Anmerkungen zu Seite 297-306 21 So bei den Konservativen 1893 der 50er-Ausschuß, bei den Nationalliberalen 1892 der Zentralvorstand. 22 In manchen Parteien war zeitweise zwischen Zentralausschuß und geschäftsführendem Ausschuß noch ein weiterer Ausschuß eingeschaltet, der den geschäftsführenden Ausschuß wählte. Dadurch wurde der Einfluß des großen Ausschusses weiter eingeschränkt. - Entweder hatten sich die anfänglichen geschäftsführenden Ausschüsse als zu groß erwiesen oder man wollte aus Prestigegründen formell mehr Personen an der Führung beteiligen, als für die eigentliche Geschäftsführung nötig waren, so bei der Gründung der Deutsch-Freisinnigen Partei. Der geschäftsführende Vorstand konnte auch Unterausschüsse für verschiedene Aufgaben bilden, wobei dann einem besondere Führungsfunktionen zufallen konnten, so in der Fortschrittlichen Volkspartei seit 1910. 23 Gegen den Widerstand der bisherigen Parteiführer wurde Stoecker 1893 in die Parteileitung hineingewählt, ebenso wurde Stresemann 1912 aus der Parteileitung für einige Zeit herausgewählt. 24 Dieser Beschluß wurde in einer schlecht besuchten Sitzung am 15. 12. 1918 mit 33:28 Stimmen gefaßt, damit hatte Stresemann sich durchgesetzt. 25 So wurde die nationalliberale Politik im Reichstag 1912, u. U. mit der SPD zusammenzuarbeiten, so bei der Präsidentenwahl, durch den Zentralvorstand bekämpft; ebenso bekämpfte der Parteiausschuß der Freisinnigen Volkspartei anfänglich die Tendenz der Fraktion, zu einer Fusion aller Linksliberalen zu gelangen. 26 Als eine symbolische Grenze kann man das Jahr 1890 setzen. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes leitet die augenfällige Veränderung der Lage ein. 27 An Stoecker, seinem Aufstieg und seinem Ausscheiden aus der konservativen Partei, werden die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Bewegung innerhalb der damaligen Parteien deutlich. 28 Noch bis 1909 gab es im Osten eine Reihe sog. „Riviera-Wahlkreise“, Wahlkreise, in denen der konservative Kandidat während des Wahl„kampfes“ an der Riviera weilen konnte, so sicher war seine Wahl. 29 H. v. Gerlach, Erinnerungen eines Junkers, Berlin 1924, S. 84. 30 Auf Antrag Gerlachs wurde ein Passus über den Einsatz staatlicher Machtmittel gegen die Sozialisten gestrichen, nachdem eine christlich-soziale Deputation das schon vorher bei dem Vorsitzenden v. Manteuffel mit starkem Druck erreicht hatte; zugleich wurde das Programm im antisemitischen Sinne verschärft; v. Gerlach, S. 85; Conservative Correspondenz vom 2. u. 4. 1. 1893; W. Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, Hamburg 19352, S. 232 ff. 31 1894 hat Gerlach die von Eulenburg verlangte einhellige Zustimmung der konservativen Partei zu den Staatsstreichplänen vereitelt, indem er drohte, die Bürgervereine dagegen mobil zu machen, und indem er mit warnenden, an den konservativen Parteivorstand gerichteten Resolutionen sofort öffentlich dagegen protestieren ließ, v. Gerlach, S. 86. 32 So ein Brief des westfälischen Parteiführers v. d. Reck v. 17. 8. 1892; E. Höner, Die Geschichte der christlich-konservativen Partei in Minden-Ravensberg von 1866-1896, Diss. Münster 1923, S. 85. 33 Solche Parteitage fanden 1898, 1903, 1906 und 1909 statt. 34 Ein solcher Oppositionsversuch, der sich 1909 nach dem Ende des Bülow-Blocks gegen die agrarische Politik der Parteileitung richtete, blieb auf städtische und Beamtenkreise beschränkt und erschöpfte sich in fruchtlosen Resolutionen; nur die Wahlniederlage Oldenburg-Januschaus 1912 im Wahlkreis Elbing gegenüber einem konservativen Gegenkandidaten war ein Ergebnis der städtischen Opposition. 35 Der § 1 seiner Satzung lautete: „Zweck des Vereins ist die Förderung der christ-

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Anmerkungen zu Seite 306-319 lichen Ordnung in der Gesellschaft, insbesondere Belehrung des deutschen Volkes über die aus der neuzeitlichen Entwicklung erwachsenen Aufgaben und die Schulung zur praktischen Mitarbeit an der geistigen und wirtschaftlichen Hebung aller Berufsstände.“ In der Zentrale wurden ständig volkswirtschaftliche und kommunalpolitische Kurse abgehalten, ein großer Stab war mit der Bearbeitung aller politischen, wirtschaftlichen, sozialen und konfessionellen Fragen und der Vorbereitung von Agitationsmaterial beschäftigt. 36 So ein Rundschreiben des Vorsitzenden des Provinzialausschusses der rheinischen Zentrumspartei von 1894, Nachlaß Bachern. 37 Das erwähnte Rundschreiben verlangt in diesen Fällen, daß im Komitee oder „im Vorstand... alle Kreise unserer Wähler, welche ein natürliches Recht darauf haben, berücksichtigt zu werden, vertreten sind“, damit der „Anspruch, die gesamte Zentrumswählerschaft zu vertreten, ohne Haarspalterei und Übelwollen nicht bestritten werden kann“. 38 Natürlich konnte es einen Druck der Wähler auf ihren Abgeordneten geben, politische Bedeutung hatte das aber nur selten, ζ. Β. in Bayern. 39 Auf die Versuche, wirtschaftliche Organisationen für die Agitation der liberalen Parteien zu gründen oder zu benutzen, insbesondere auf die Wirkung des Handelsvertragsvereins und des Hansa-Bundes, kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden; sie haben die Lage der Liberalen nicht wesentlich verbessert. 40 Die Zahlen stammen aus den Akten der nationalliberalen Partei, die Zentrale hat sie selbst von den Vereinen gesammelt, eine genaue Aufteilung auf die Provinzen spricht für eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Angaben. Weil die Zahl der Mitglieder 1912 etwas geringer war und weil Frauen und Jugendliche zwar Mitglieder, aber nicht Wähler waren, wird die Zahl der 1912 organisierten Wähler um etwa 20°/o unter der angegebenen Zahl von 1914 liegen. 41 Bis 1912 waren sie in einem selbständigen Reichsverband der nationalliberalen Jugend vereinigt und hatten als solcher Sitze und Stimmen im Zentralvorstand der Partei. 42 Nach 1890 fanden Parteitage 1891, 1894, 1896, 1898, 1902, 1903, 1905, 1906, 1907, 1909, 1910, 1911 und 1912 statt. 43 Siehe das Parteitagsprotokoll von 1905. 44 1912 waren 1 114 Delegierte anwesend. 45 1914 gab es 50 Parteisekretäre in der Provinz, 1909 in Berlin zwei Generalsekretäre und 17 Angestellte. 13. Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg 1 Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den ich in Wiesbaden vor dem Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte gehalten habe. Er faßt einige Ergebnisse und Probleme einer detaillierten Untersuchung zu diesem Thema zusammen, die ich im Rahmen der Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien demnächst vorlegen werde. Dort werde ich auch auf das hier fast ganz ausgeklammerte Verhältnis der Gewerkschaften zu den Parteien, insbesondere zur SPD, eingehen. Während der Drucklegung geht mir der Aufsatz von G. Schulz, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung, in: PVS, 2, 1961, S. 124-54, zu. Auf den ersten Blick scheint zwischen unseren Thesen ein gewisser Widerspruch zu herrschen, insofern ich für das Aufkommen politischer Interessenverbände im wesentlichen die siebziger Jahre des vorigen Jahr-

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Anmerkungen zu Seite 319-348 hunderts als Epoche ansetze, während Schulz häufig weit bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückgreift. Bei näherem Zusehen löst sich aber meines Erachtens dieser Widerspruch auf und läßt sich auf eine Verschiedenheit von Fragestellung und Zielsetzung reduzieren. Während Schulz die Interessenverbände in eine allgemeine Geschichte des Vereinigungswesens eingliedert, kommt es mir darauf an, ihre Politisierung im engeren Sinne, ihren Eintritt in den Prozeß der politischen Willensbildung unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts und ihre Wirkung auf das politisch-gesellschaftliche Gefüge eines bestimmten Zeitalters genau zu bestimmen; von daher scheinen mir dann die vorhandenen Vorformen der Verbände nicht die eigentlichen Ursprünge ihrer politischen Realität. - Im ganzen glaube ich, daß die zeitlich weit ausgreifende und auch die politische Theorie einbeziehende Perspektive von Schulz und die meine, die die Relation der Verbände zu anderen frei sich bildenden politischen Machtfaktoren in den Mittelpunkt stellt, sich bei der Erkenntnis des historischen Phänomens, so strittig im einzelnen manches bleiben mag, auch in der weiteren Forschung fruchtbar ergänzen werden. 2 Die außerordentliche Bedeutung der Zollkämpfe in der Zeit vor 1914 hängt damit zusammen, daß die Zölle sich sehr stark im Preis auswirkten, weil die staatlichen und sozialen Lasten - von heute her gesehen - relativ gering waren und weil Export- und Importpreise bei herrschender Goldwährung nicht durch Devisenmanipulationen modifiziert waren. 3 Auf die Verbindungslinien zwischen der Blut-und-Boden-Ideologie des Bundes der Landwirte und dem Nationalsozialismus werde ich noch andernorts eingehen. 4 1880 lagen die Wahlkosten einer Partei im Wahlkreis etwa zwischen 1 000 und 3 000 Mark, 1912 bei etwa 25 000 Mark. 14. Jugend und Politik um 1900 * Kulturkritik und Jugendkult. he. von W. Rüegg. Frankfurt 1974. 1 Ich habe meinen Mitarbeitern F. Maaß, H. Mayer, Dr. M. Rauh und Dr. J . Schmidt für die Mithilfe bei der Durchsicht und Aufarbeitung bestimmter Quelleneruppen besonders zu danken. 1a K. Szemkus, Gesellschaftliche Bedingungen zur Entstehung der deutschen Jugendbewegung, in: Rüegg, S. 39-46. 2 Vgl. B. Vogel u. a., Wahlen in Deutschland, Berlin 1971, S. 79 ff., 87 f., 120 ff. 3 Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg.-Per., 5. u. 13. 2. 1895, S. 674 ff., 845 ff.; ähnlich 1906, Stenogr. Berichte, 11. Leg.-Per., 7., 14. und 21. 2. 1906, S. 1067 ff., 1257 ff., 1463 ff.-Jetzt zeigten die Linksliberalen Verständnis für eine Herabsetzung des Wahlalters auf 21 Jahre. 4 Vgl. K. Möckl, Die Prinzregentenzeit, München 1972, S. 499, 517 ff., 531 ff.; F. Meindel, Die Entwicklung des bayerischen Landtagswahlrechtes, Diss. Erlangen 1930. 5 Kartellzeitung des Verbands deutscher studentischer Gesangsvereine, 20, 1903/04, S. 195 f. 6 W. Ohr, Vom Kampf der Jugend, München 19114, S. 18 u. ö. 7 Vgl. W. Hellpach, Wirken in Wirren, Bd. 1, Hamburg 1948, S. 189 f., 196 f., 201 ff. 8 Vel. Der Akademiker. 1. 1908/09. S. 19. 8a H. Bohnenkamp, Jugendbewegung als Kulturkritik, in: Rüegg, S. 23-37. 9 Freideutsche Jugend zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner, Jena 1913, Vorwort, S. 4. 10 1882 findet das erste (evangelische) deutsche nationale Junglingsfest am Hermannsdenkmal statt. 462

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Anmerkungen zu Seite 348-353 11 Jünglingsverein. Eine Monatsschrift für die Leiter und Vorstände evangelischer Männer- und Jünglingsvereine, hg. von Ρ. Ρ. Thiele und Sturmann, Betlin 1908, S. 50; zur allgemeinen Geschichte: Realencyklopädie für protest. Theologie, Bd. 9, 1901, S. 596 ff.; K. Kupisch, Der deutsche CVJM, Kassel 1958; Jünglingsverein, 1900 ff. 12 Vgl. Die Wacht. Zeitschrift für katholische Jünglinge. Organ kath. Jugendvereine. Ab 1912 offizielles Organ der Diözesen Köln, Paderborn, Münster, Hildesheim, Limburg (alle Westverband), Culm, Osnabrück (beide Mitteldeutscher Verband). Die Wacht, 1911, Nr. 1, S. 4; 1912, Nr. 22, S. 219; 1914, Nr. 4, S. 40; 1911, Nr. 8: ca. 20% der jugendlichen katholischen Arbeiter seien in Jugendvereinen organisiert; vgl. auch Jugendpflege, Jg. 1, 1914, Nr. 8, S. 251, und für den Zusammenhang die genannten Zeitschriften Correspondenzblatt und Wacht. 13 Bericht der Centralstelle. Jg. 21, 1901, S. 114 ff. 14 Wacht 1911, Nr. 15-19; 1907, Nr. 2. 15 Wacht 1909, Nr. 9. 16 Wacht 1907, Nr. 3; 1908, Nr. 14; 1909, Nr. 22. 17 Der Akademiker, Bd. 1, 1908/09, S. 26. Vgl. auch C. Sonnenschein, Die sozialstudentische Bewegung, Gladbach 19103. 18 Jünglingsverein 1913, S. 123, 133 f.; 1905, S. 88 f.; vgl. auch 1901, S. 186 f., ein relativ abgewogenes Urteil über die Sozialdemokratie. 19 Akadem. Monatshefte, Bd. 25, 1908, S. 283. 20 Akadem. Monatsblätter, Jg. 11, 1898, H. 3, S. 106 f. 21 Vgl. einen Artikel des nationalliberalen Abgeordneten H. Böttger, Der Student und die Politik, in: Aura Academica, 2, 1914, S. 21 ff. und in demselben Band S. 444, wo von studentischen Aktivitäten im Alldeutschen Verband, dem Wehrverein und anläßlich der Luftflottenspende (Zeppelin) als Zeugnis für die „langersehnte“ Einigkeit und das Nationalbewußtsein der Studenten die Rede ist. 22 F. Engels, Briefwechsel mit K. Kautsky, Wien 1955, S. 261 f. 23 F. Mehring, Ges. Schriften, Berlin 1960 ff., Bd. 2, S. 676. 24 H. Köhler, Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878-1949, Stuttgart 1964, S. 37 ff. 25 So 1905 in einem Beschluß der Verbandsführung; vgl. E. Ritter, Die katholischsoziale Bewegung Deutschlands im 19. Jahrhundert und der Volksverein, Köln 1954, S. 334 f.; J . Kipper, Die Windthorstbünde. Ihre Entstehung, ihre Ziele und ihre Tätigkeit, Hamm i. W. 1906. 26 Jg. 10, 1904, Nr. 12, S. 6 f. 27 Die Hilfe, Jg. 15, 1909, S. 402. 28 Vgl. L. Brentano, Nation XX, Nr. 45, S. 709: es sei Naumanns Verdienst, die Jugend mit einem neuen Ideal erfüllt zu haben, liberale Politik wieder attraktiv gemacht zu haben; vor ihm habe es, abgesehen von „frühzeitigen Strebern“, nur reaktionär oder sozialdemokratisch Gesinnte gegeben. 29 K. Bachern, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Köln 1928, Bd. 4, S. 195 ff. 30 Statuten des Ulmer Vereins bei P. Rühlmann, Politische Bildung, Leipzig 1908, S. 82 ff. 31 E. Katz, Der Jungliberalismus, in: Die Hilfe, Jg. 10, 1904, Nr. 37, S. 2-3. 32 Vgl. P. Gilg, Die Erneuerung des demokratischen Denkens im wilhelminischen Deutschland. Eine ideengeschichtliche Studie zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Wiesbaden 1965, S. 233 ff.; J . Bertram, Die Wahlen zum Deutschen Reichstag vom Jahre 1912, Düsseldorf 1964, S. 14 ff.; C. Köhler, Der Jungliberalismus, 1908; Nationalliberale Jugend, 1901 ff., seit Ende 1906: lungliberale Blätter. 33 Nach der Berufszählung von 1895 gab es fast 1,1 Millionen 14- bis 18jährige In-

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Anmerkungen zu Seite 353-358 dustriearbeiter und ca. 700 000 Lehrlinge, 1907: 1,4 Millionen und 800 000; K. Korn, Die Arbeiterjugendbewegung, Berlin 1924, S. 16. 34 Vgl. die Parteitagsprotokolle 1871, 1874, 1891, 1892, 1899, 1903. 35 H. Schuster, Der Kampf des Arbeiterturnerbundes vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg, Diss. Leipzig 1956, S. 31 f., 39, 42 f. In diesen Organisationen spielte die sog. proletarische Jugenderziehung eine besonders zentrale Rolle: die Zahl der Jugendlichen ist nicht exakt anzugeben, weil nur die 14-bis 17jährigen mit 1/6 der Mitglieder ausgewiesen werden. 36 Arbeitende Jugend 1905, S. 1. 37 Zitat bei K. Korn, Die bürgerliche Jugendbewegung, Berlin 1910, S. 74. 38 K. Korn befaßt sich allein mit den Versuchen der bürgerlichen Kreise, die proletarische Jugend „einzufangen“. 39 Außer der angegebenen Literatur: J . Schult, Aufbruch einer Jugend, Bonn 1956; W. Sieger, Das erste Jahrzehnt der deutschen Arbeiterjugendbewegung 1904-1914, Berlin 1958. 40 Vgl. P. Rassow u. Κ. Ε. Born (Hg.), Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutschland 1890-1914, Wiesbaden 1959; zum Berufsvereinsgesetz, S. 170 ff., 222 ff.; zum Reichsvereinsgesetz, S. 273 ff., bes. S. 284. 41 Stenogr. Berichte, 12. Leg.-Per., 9. 12. 1907, S. 2091 ff. u. 2. 4. 1908, S. 4701 ff. 42 So die Gewerkschaftsführer K. Legien und R. Schmidt auf den Vorständekonferenzen 1906 und 1907, Protokolle 1906 und 1907, und im Juni 1908 in den Sozialistischen Monatsheften; dagegen die Leipziger Volkszeitung: die Gewerkschaften wollten der bestehenden Jugendorganisation den Garaus machen, Vorwärts vom 19. 6. 1908. 43 Rede R. Schmidts, Vorwärts vom 28. 6. 1908, die Förderung des Bildungsstrebens könnte von den Gewerkschaften übernommen werden, besondere Jugendorganisationen seien nicht erforderlich. 44 Abdruck der Diskussionsbemerkungen, Vorwärts vom 3. und 5. 7. 1908. 45 Die Naturfreunde, eine österreichische Gründung, seit 1905 auch mit wenigen Gruppen in Bayern, waren zunächst eher der Arbeiterturn- und -Sportbewegung zuzurechnen und offenbar nicht dezidiert politisch. 46 Vgl. Anm. 51. 47 Vgl. D. Hoffmann, Politische Bildung 1890-1933, Hannover 1970; K. Hornung, Etappen politischer Pädagogik in Deutschland, Bonn 1962. 48 U. Panter, Staat und Jugend (Quellen), Weinheim 1965, S. 17 f. 49 Ebd.. S. 20-34. 50 Ebd., S. 31 ff.; vgl. F. Duensing (Hg.), Handbuch der Jugendpflege. Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Langensalza 1913; J . F. Landsberg, Behördliche Jugendpflege, Berlin 1914. 51 So ein Diskussionsprotokoll von 1912 „Der Kampf der Parteien um die Jugend“, Berlin 1912. 52 H. Obermayer, Die Wehrkraftbewegung. Zugleich ein Handbuch für nationale Jugendvereine, München 1913; A. Lion, Die Pfadfinder- und Wehrkraftbewegung und ihre Ursachen, München 1913. 53 So der Militärarzt Lion, in dem 1911 nach Baden-Powell veröffentlichten Werk „ Tungdeutschlands Pfadfinder-Buch“. 54 Vgl. auch H. Giehrl, Der Offizier im Dienste der Jugendpflege, Berlin 1912. 55 „Im militärischen Geist, ohne irgendwelche militärischen Formen“; ebd., S. 8. 56 Vgl. ebd., S. 31.

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Anmerkungen zu Seite 360-378 15. Weblers „Kaiserreich“ H.-U. Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttineen 19752. Der Aufsatz erschien in gekürzter Form zuerst in: Geschichte und Gesellschaft, 1, 1975, S. 539 ff. 3 Vgl. auch D. Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus, Frankfurt 1973, S. 424. 1

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16. Die deutsche Studentenschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik 1

Der Aufsatz erschien in einem Band zum 65. Geburtstag von O. Benecke.

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Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte 1. Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Festschrift für Hans Herzfeld, hg. von D. Kurze, Berlin 1972, S. 1-26. 2. G. Schulz (Hg.), Geschichte heute, Göttingen 1973, S. 225-55. 3. E. Jäckel u. E. Weymar (Hg.), Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Festschrift für K. D. Erdmann, Stuttgart 1975, S. 82-95. 4. Archiv für Kulturgeschichte, 44, 1962, S. 357-78. 5. Beiträge zur deutschen und belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert ( = Beiheft zur GWU), Stuttgart 1967, S. 147-69; hier nach der leicht überarbeiteten Fassung aus: G. A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 32-55. 6. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von O. Brunner u. a., Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 129-53. 7. Historische Zeitschrift, 206, 1968, S. 529-85. 8. H. Boockmann u. a., Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 1-44. 9. Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Festschrift für Th. Schieder, hg. von K. Kluxen u. W. T. Mommsen, München 1968, S. 117-42. 10. Festschrift für H. Heimpel, hg. von den Mitarbeitern des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 368-409. 11. W. Klötzer u.a. (Hg.), Ideen und Strukturen der deutschen Revolution 1848 (zugleich: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 54) 1974, S. 143-62. 12. Historische Zeitschrift, 185, 1958, S. 550-602. 13. Politische Vierteljahresschrift, 2, 1961, S. 262-80. 14. W. Rüegg (Hg.), Kulturkritik und Jugendkult, Frankfurt 1974, S. 87-114. 15. In gekürzter Form zuerst in: Geschichte und Gesellschaft, 1, 1975, S. 539-60. 16. A. Grimme (Hg.), Kulturverwaltung der 20er Jahre, Göttingen 1961, S. 19-48.

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Thomas Nipperdey Reformation, Revolution, Utopie Studien zum 16. Jahrhundert 1975. 146 Seiten, kart.

(Kleine Vandenhoeck-Reihe 1408)

Thema der vier Studien ist der epochale Charakter von Reformation und Humanismus. Unter wechselnden Gesichtspunkten geht es um die Frage nach dem Beginn einer neuen Zeit und der Bedeutung dieses Beginns für die gesamte Neuzeit. Im Mittelpunkt stehen zwei für die Zeit zentrale Begriffe: Revolution und Utopie. Die Analysen zeichnet aus, daß sie weder traditionell geistesgeschichtlich noch ausschließlich sozialgeschichtlich verfahren, vielmehr darauf abzielen, Sozialgeschichte und Geschichte des Denkens zu verbinden. Inhalt: Vorwort / Die Reformation als Problem der marxistischen Geschichtswissenschaft / Theologie und Revolution bei Thomas Müntzer / Bauernkrieg / Die Utopia des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit.

Der Deutsche Bauernkrieg 1524-1526. Mit Beiträgen von Jürgen Bücking, Horst Buszello, Rudolf Endres, Franklin Kopitzsch, Rainer Postel, Otthein Rammstedt, Heinz Schilling, Winfried Schulze, Thomas S. Sea/John C. Stalnaker, Rainer Wohlfeil, Heide Wunder. Herausgegeben von Hans-Ulrich Wehler 1975. 357 Seiten, kart. (Sonderheft 1 zu „Geschichte und Gesellschaft“. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft) Die hier veröffentlichten Aufsätze - sämtlich Originalbeiträge - dokumentieren den Forschungsstand, zeigen die Schwerpunkte, Fragestellungen und Ergebnisse und präzisieren offene Fragen. Zwei Arbeiten über die gleichzeitigen Unruhen und Aufstandsbewegungen in den Städten vervollständigen den Überblick. Der abschließende Forschungsbericht berücksichtigt auch die neuesten Veröffentlichungen.

Walter Elliger · Thomas Müntzer Leben und Werk 2. Auflage 1975. VIII, 842 Seiten, Leinen „Elliger stellt lest, dalß der «Revolutionär» Müntzer im IN amen und Aurtrage Gottes weder ein «Bauernführer» noch ein «sozialer Agitator» war, daß es ihm primär nicht auf Menschenrechte und sozialen Fortschritt ankam, sondern auf Gottes Gesetz und eine im Glauben und Leben gotthörige, geistesmächtige Christenheit, die dann, im Gehorsam gegen Gott, auch den Dingen dieser Welt die rechte Gestalt und Ordnung einfach geben mußte...“ Evangelische Kommentare VANDENHOECK

& R U P R E C H T IN GÖTTINGEN U N D

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1. Wolfram Fischer · Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze — Studien — Vorträge 2. Wolfgang Kreutzberger · Studenten und Politik 1918—1933. Der Fall Freiburg im Breisgau 3. Hans Rosenberg · Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz 4. Rolf Engelsing · Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- u. Unterschichten 5. Hans Medick · Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. 6. Die große Krise in Amerika. Vergleichende Studien zur politischen Sozialgeschichte 1929—1939. Mit Beiträgen von Willi Paul Adams, Ellis W. Hawley, Jürgen Kocka, Peter Lösche, Hans-Jürgen Puhle, Heinrich August Winkler, Hellmut Wollmann. Herausgegeben von Η. Α. Winkler 7. Helmut Berding · Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807—1813 8. Jürgen Kocka · Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918 9. Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge. Mit Beiträgen von Gerald D. Feldman, Gerd Hardach, Jürgen Kocka, Charles S. Maier, Hans Medick, Hans-Jürgen Puhle, Volker Sellin, Hans-Ulrich Wehler, Bernd-Jürgen Wendt, Heinrich August Winkler. Herausgegeben von Heinrich August Winkler 10. Hans-Ulrich Wehler · Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865—1900. 11. Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag. 36 Beiträge. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler 12. Wolfgang Köllmann · Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert 13. Elisabeth Fehrenbach · Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten 14. Ulrich Kluge · Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19 15. Reinhard Rürup · Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur Judenfraee' der bürgerlichen Gesellschaft 16. Hans-Jürgen Puhle · Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jhdt. 17. Siegfried Mielke · Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie 1909—1914. Der gescheiterte Versuch einer antifeudalen Sammlungspolitik 18. Thomas Nipperdey · Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte 19. Hans Gerth · Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN UND ZÜRICH

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