Gesellschaft im Wandel: Eine sozialethische Analyse [1 ed.] 9783428524631, 9783428124633

In vielen Gesellschaften zeichnet sich seit Jahren der Trend eines sozialen Wandels ab. Man spricht von einem Umbruch de

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Gesellschaft im Wandel: Eine sozialethische Analyse [1 ed.]
 9783428524631, 9783428124633

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Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 42

Gesellschaft im Wandel Eine sozialethische Analyse

Von

Rolf Kramer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ROLF KRAMER

Gesellschaft im Wandel

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 42

Gesellschaft im Wandel Eine sozialethische Analyse

Von

Rolf Kramer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 978-3-428-12463-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde in der europäischen Philosophie die Frage gestellt, wie bedroht der Mensch sei. Darauf wurde zur damaligen Zeit keine Klärung gefunden. Das Problem hat sich bis heute nicht erledigt. Es muss deshalb weiter nach einer Antwort gesucht werden. Schließlich hat sich die Frage sogar noch aufgrund der Entwicklung der Waffen-Technik, der Bioethik, der Gen-Forschung in den letzten Jahrzehnten verschärft. Die Menschheit ist also weiterhin bedroht. Zusätzlich hat sich das Problem darüber hinaus noch durch die weltweite Vernachlässigung und Schädigung der Umwelt seitens des Menschen vergrößert. Zu dieser Herausforderung gesellt sich eine neue. Diese drückt sich darin aus, dass sich die Gesellschaft durch eine Entwertung ihrer seit Jahrhunderten überkommenen Werte selbst schwächt. Infolge von Merkantilisierung, Monetarisierung oder durch die völlige Aufgabe ihrer Institutionen treibt sie den Prozess voran. Heute ist darum nicht nur nach der Bedrohung des einzelnen Menschen, sondern vor allem nach der ganzen Gesellschaft – mindestens in Europa – zu fragen. Zentrales Thema der Auseinandersetzung ist aber vor allem der Umbruch in der deutschen Gesellschaft. Die Überlegungen sind vor allem geprägt durch eine sozialethische Fragestellung und nicht durch die soziologische Problematik. Das bedeutet, dass auf theologischem Hintergrund die gesellschaftlichen Probleme erörtert werden. Insofern geht es oft um eine stark theologisch-ethisch geprägte Erörterung. Dabei ist auf die Veröffentlichungen der beiden Großkirchen Rücksicht zu nehmen und auf die einzelnen theologischen Standpunkte einzugehen. Im Laufe der Darstellung werden Fragen und Probleme aufgegriffen, die zu einem kleineren Teil bereits in früheren Veröffentlichungen behandelt wurden. Das ließ sich nicht ändern. Sehr dankbar bin ich dem Verlag Duncker & Humblot in Berlin, dass er seit mehr als zwanzig Jahren meine Buch-Veröffentlichungen in bewährter Weise betreut und auch dieses Werk wieder in seine Obhut genommen hat. Wie in den letzten Schriften darf ich für Hilfen bei den Korrekturen Dank sagen. Die Freunde Günther Kastenmeyer und Gerd Pogoda haben sich wieder der misslichen Fehlersuche angenommen. Sollten weitere Fehler gefunden werden, gehen die selbstverständlich zu Lasten des Autors! Berlin, im Frühjahr 2007

Rolf Kramer

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Kapitel Die sozialpolitische Herausforderung

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1. Beeinträchtigung des allgemeingültigen Wertesystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

2. Das Verhältnis von Armut und Reichtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

3. Soziale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

4. Soziale Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

5. Der 5.1 5.2 5.3 5.4

33 35 36 40 43

Bedeutungsverlust von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christliche Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinder als Wirtschaftsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktion oder Reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitswelt und Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Kapitel Neue Ökonomische Strukturen

45

1. Die Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kirchliche Stellungnahmen zur Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 49 53

2. Ökonomie und Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ein Abriss der Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ökologie und Soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 60

3. Arbeit und Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Von der Würde der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Recht auf Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Entstehen von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 64 66 67

4. Wirtschaftsethische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Christliche Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Korruption und Schwächen in der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69 71 75

8

Inhaltsverzeichnis 4.3 4.4

4.5 4.6 4.7 4.8

Vertrauen als Grundlage des Führungsstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monetarisierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Sozialethische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Währungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierte Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachhaltigkeit als Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomie und Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitversessenheit und Zeitvergessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 81 82 86 88 91 93 96

3. Kapitel Kultur und Religion

100

1. Der Begriff der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Hedonismus als Inhalt der Sünde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3. Gesundheit als Wunschvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

4. Kapitel Die Zukunft der Gesellschaft 1. Das 1.1 1.2 1.3

christliche Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ebenbildlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der leidende Gottessohn als wahrer Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitsterben heißt Mitauferstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 130 130 134 137

2. Der Altersbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2.1 Der Umgang mit dem Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.2 Rückläufige Geburtenrate und steigende Lebenserwartung . . . . . . . . . . . . 145 3. Die 3.1 3.2 3.3

Mehrgenerationenfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendkult und Jugendreligion in der modernen Gesellschaft . . . . . . . . . Der Generationenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altersteilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148 149 152 158

5. Kapitel Altersbilder in der Antike

159

1. Die Alten im antiken Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Die Alten in der Gesellschaft Spartas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

Inhaltsverzeichnis

9

3. Die Alten im republikanischen Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4. Die Alten in der Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5. Die Alten im antiken Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

6. Kapitel Der Wohlfahrtsstaat

170

1. Das Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2. Die soziale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Armut in einer Wohlstandsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

7. Kapitel Über Leben und Sterben des Menschen

178

1. Probleme bei einer medizin-ethischen Konsensfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Ethische Fragen beim Umgang mit Embryonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2.1 Pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2.2 Die Nutzung von Embryonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3. Über Leben und Tod des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Biblische Aussagen über Sterben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Sterben und Tod nach dem Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Sterben und Tod nach dem Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Theologische Erkenntnisse aus der biblischen Überlieferung . . . . 3.2 Sterbehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Aktive und direkte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Passive und indirekte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Der Willensentscheid des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ethische Erwägungen zur Selbsttötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

186 187 187 188 190 193 193 196 199 201

8. Kapitel Rückblick und Ausblick

204

1. Vom Leben in dieser einen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Veränderungen in der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 3. Von der Toleranz zur Akzeptanz des anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 4. Die Steuerung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

10

Inhaltsverzeichnis

5. Die Verantwortung gegenüber dem nahen und fernen Nächsten . . . . . . . . . . . . 221 6. Die Gesellschaft unter endzeitlichen Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 7. Das Ende der Welt und die Vollendung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Einleitung Dem Begriff von Gesellschaft liegt eine Definition zugrunde, die bereits 1931 im Handwörterbuch der Soziologie vorgetragen wurde. Danach wird Gesellschaft dem Wortursprung entsprechend als „Inbegriff räumlich vereint lebender oder vorübergehend auf einen Raum vereinter Personen“ verstanden1. Diese Definition wurde für die bürgerliche Gesellschaft weiter spezifiziert. Man verstand sie als eine überindividuelle industrielle Gesellschaft, die sich dem Markt und dem Recht verbunden wusste2. Allerdings reicht diese Definition heute nicht mehr aus. Zu Beginn der siebziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts wurde die Struktur der Gesellschaft als „industrie-bürokratische oder bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft“ durch Begriffe wie Informations- oder Netzwerkgesellschaft neu interpretiert. Heute weisen gerade die beiden letzten Begriffe auf die besonderen Strukturveränderungen der gegenwärtigen Gesellschaft hin3. In vielen europäischen Gesellschaften zeichnen sich seit Jahren Trends des sozialen Wandels ab. Sie ereignen sich unter dem Zeichen einer Modernisierung der Sozialstruktur und des Lebensstiles. Gleichzeitig tritt der Gegensatz von Arbeitswelt und Freizeitgestaltung auf. Außerdem machen sich die Merkmale der Informations- und Kommunikationswelt in der Gesellschaft bemerkbar. Auf dem Gebiet der Wirtschaft vollzog sich eine starke Veränderung, die an dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft sichtbar wird. Die neue wissens- und informationsbezogene Lebens- und Arbeitswelt ist an der Digitalisierung zu erkennen. Mit der Freizügigkeit von Kapital, der weltweiten Kommunikation und dem technisch nicht mehr eingeschränkten Handel verlieren die staatlichen Grenzen an Wirkung. Dazu treten nicht nur im wirtschaftlichen Bereich die Zeichen der Globalisierung. Diese ist dabei, die Fundamente der Nationalstaaten auszuhöhlen, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert überall in der Welt durchgesetzt haben. Dadurch haben sie nur noch eine begrenzte Macht über ihre nationalstaatlichen Unternehmen und Konsumenten behalten. Man kann von einem totalen Umbruch der Gesellschaft sprechen.

1 Vgl. Geiger, Theodor, „Gesellschaft“ in: Handwörterbuch der Soziologie, Hrsg. A. Vierkandt, Stuttgart. Zitiert nach Schäfers, Bernhard, Sozialstruktur und sozialer Wandel, Stuttgart 82004, S. 2. 2 Vgl. dazu: Schäfers, Bernhard (82004), S. 2. 3 Vgl. Schäfers, Bernhard (2004), S. 9.

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Einleitung

Freilich gibt es auch eine gegenläufige Entwicklung. Oft wird erst unter Berücksichtigung einer fremden kulturellen oder religiösen Entfaltung, zum Beispiel durch das Erstarken des Islams, der Wert der eigenen Religion wiedererkannt. Denn es ist zu konstatieren, das Christliche genießt in den westeuropäischen Ländern nicht mehr dieselbe Wertschätzung wie in den vergangenen Jahrhunderten. In der postmodernen Gesellschaft von heute herrscht keine Harmonie zwischen den Wertesystemen, sondern es besteht ein Konflikt zwischen ihnen. Die Umgestaltung der Gesellschaft zeigt sich in der Aufgabe der überlieferten Werte und der solidarischen Wertegemeinschaft. Dabei hat der Wertbegriff letztlich den vom Ursprung her ökonomisch definierten Inhalt (Gebrauchswert, Tauschwert etc.) abgelegt und einen von dieser Definition befreiten allgemeinen Begriff angenommen. Darauf fußt die Werte-Ethik! Nicht mehr das einzelne Wertesystem – gewachsen aus dem christlich-abendländischen Humanismus – ist das Wesensmerkmal der europäischen Gesellschaft, sondern der Pluralismus. Darum wird die postmoderne Gesellschaft gekennzeichnet durch eine ungemein komplexe und konfliktträchtige Welt, die durch eine völlige Unverbindlichkeit geprägt ist. Die Gesellschaft wird also grundlegend herausgefordert. Zu den Ursachen gehören: Die Erosion der alten Solidaritätsformen mit den unterschiedlichen Sozialversicherungen, der Kranken-, Pflege- und Altersversicherung. Dazu gehören ferner die Massenarbeitslosigkeit, der demographische Wandel und die Forderung nach einer demographischen Stabilität. In der Zusammensetzung der Bevölkerung Westeuropas nimmt nicht nur die Zahl der älteren Menschen zu, sondern auch die Gruppe der Alleinstehenden, die ohne eigene Nachkommen leben. Zwar steht Deutschland nicht allein in einem demographischen Umbruch. Auch Frankreich und Großbritannien und die USA (allerdings etwas weniger) sind davon in Mitleidenschaft gezogen. Aber Deutschland ist besonders betroffen. In jedem Fall geht es bei allen notwendigen Reformen um den ganzen Menschen. Der gesellschaftliche Umbruch, unter dem besonders die jüngere Generation leidet, wird dadurch erschwert, dass ein Weg zu einfachen Lösungen der Probleme nur vereinzelt möglich ist. Denn a) Die heranwachsende Generation kann sich kaum noch auf die Vergangenheit beziehen. Der Weg in eine heile Zeit wie vor dem Zweiten Weltkrieg ist ihr versagt. Hinter die Befreiung durch den Sieg der Alliierten über die Ideologie des Nationalsozialismus kann sie nicht zurück. Und sie will es auch mit Recht nicht. b) Eine Wohlstandserhaltung oder Wohlstandsmehrung, wie sie die Elterngeneration nach dem Zweiten Weltkrieg mit Erfolg durch den Wiederaufbau erreicht hat, ist der jüngeren Generation ebenfalls vorenthalten. Die ökonomi-

Einleitung

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schen Fakten sind also nicht darauf ausgerichtet, eine Extrapolation des gesellschaftlichen Wohlstandes zu erreichen. c) Es fehlt der jüngeren Generation jede Form von Zukunftsorientierung. Das ist vielleicht der gravierendste Aspekt. Zu fragen ist: Welche Zukunft will sie, und wie soll diese letztlich aussehen? Weder gibt es in der Philosophie noch in der Politik noch in der Ökonomie einen neuen Entwurf, der mit Energie verfolgt werden könnte. Es bleibt einzig und allein die unmittelbare Sorge nach dem Überlebensrisiko und damit die Frage nach dem Arbeitsplatz, nach der Sicherung des Alters und der Gesundheit. Der Wechsel von der älteren zur jüngeren Generation gestaltet sich heute nicht mehr wie der Generationswechsel in der Vergangenheit. Diese Veränderung hat sich erst in der modernen Gesellschaft eingestellt. Aber sie wird sich in der Zukunft noch fortsetzen. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat die jüngere Generation eine andere Zielsetzung als die ältere: Sie will nicht mehr die Wertorientierung der Eltern einfach übernehmen und sich nicht in ihrer Lebenswelt bzw. in ihren Arbeitsformen auf die überkommenen Lebensgestaltungen und Wertvorstellungen einstellen. Die junge Generation will sich wie in den früheren Jahrhunderten von der älteren ablösen, aber zugleich die Traditionen so bald wie möglich über Bord werfen. Das hat auch damit zu tun, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit nicht die Jungen von den Älteren lernen, sondern umgekehrt die ältere Generation von der jüngeren lernen muss. Im Bereich der IT-Kommunikation ist die jüngere der älteren meistens weit voraus. Die Jüngeren haben im Computer-Bereich mehr Kompetenz und wissen besser Bescheid als die Älteren. Aber auch in vielen Fächern der Seniorenuniversität lehrt die jüngere die ältere Generation. Andererseits versuchen die Älteren, sich den Jüngeren anzupassen. Sie tragen in der Kleidung unisex bzw. uniage Modelle. Umgekehrt hebt die jüngere Generation sich von der älteren ab. Die jüngere Generation übernimmt in vielen Bereichen nicht mehr die Welt der Älteren. In der sportlichen Betätigung ist sie heute noch risikobereiter als in früheren Zeiten. In bestimmten Sportarten kommen seit eh und je die „Alten“ von einem bestimmten Alter nicht mehr mit! Bei den Profisportlern – etwa im Tennis, Boxen, Radsport oder im Fußball – gelingen naturgemäß Höchstleistungen nur bis ins dreißigste Lebensjahr oder etwas darüber. Aber man ist mit dieser kurzzeitlichen Welt einverstanden. Innerhalb des Lebensaufrisses existieren eben nur recht kurze Zeiträume, die ein profihaftes Ausüben dieser Sportarten ermöglichen4. 4 Vgl. Overath, Angelika, Generationen, in: Schriftenreihe der Vontobel Stiftung, Zürich 2005, S. 40 ff.

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Einleitung

Man kann solche sozialen Veränderungen auch an der Form einer gesellschaftlichen Verweltlichung und gleichzeitig an einem unbestimmten religiösen Pluralismus ablesen5. Die moderne Welt ist pluralistisch und darum vielfältig und komplex. Sie ist nicht mehr zielgerichtet, sondern bleibt stattdessen ohne Sinnorientierung. Das wird unterstrichen durch die Tatsache, dass die Gesellschaft vom Individualismus geprägt wird. Jeder einzelne Mensch oder auch unterschiedliche Kleingruppen leben nach einem Werte-System, das für andere Menschen und Gruppen kaum noch maßgeblich ist. Sie entwickeln einen ihnen eigenen Wertekatalog. Vielfach wird von einem Umbruch in der Gesellschaft gesprochen, in dem es aber mehr Verlierer als Gewinner gibt. Die Veränderung ist tatsächlich ein sozialer Umbruch und nicht nur eine Modernisierung. Zukünftig müssen die Menschen in der Gesellschaft wieder lernen, dass sie weder in einer Zeit eines Kollektivismus noch in der eines absolut egoistisch ausgeprägten Individualismus leben. Sie haben Verantwortung zu übernehmen, für andere Menschen und das gesamte Gesellschafts- und Staatswesen einzustehen. Der einzelne wird sich fragen lassen müssen, inwieweit er bereit ist, für sich und die Angehörigen Sorge zu tragen. Solidarität für die ganze Gesellschaft ist gefordert. Denn jedem einzelnen Angehörigen der Gesellschaft ist aufgetragen, seinen Einsatz zu leisten, nicht mehr um des Spaßes willen, den er sich vom Leben erhofft, sondern aus seiner individuellen Verantwortung heraus. Der Staat jedenfalls kann nicht auf die Dauer die Probleme der Gesellschaft lösen. Der Einzelne, die Familie, Institutionen oder Parteien in der Gesellschaft sind dafür nötig. Deshalb kann dem Staat nicht zuviel an Verantwortung und Aufgabenstellung übertragen werden, gerade weil dazu einzelne Menschen, Gruppen oder Verbände besser geeignet sind. Das Gemeinwesen bedarf außer des Prinzips der Solidarität auch des der Subsidiarität. Zwar ist es zunächst die Sache des Einzelnen, die Dinge für sich und seine Nächsten in Ordnung zu bringen (tua res agitur). Aber da er es allein nicht schafft, muss ihm durch andere geholfen werden! Das in der Enzyklika Quadragesimo Anno aus dem Jahr 1931 von Pius XI. ausgestaltete und wirkungsmächtig formulierte Prinzip der Subsidiarität weist nach, dass nicht alle Hilfe und Fürsorge vom Staat ausgehen darf, sondern dass stattdessen der einzelne oder die infrage kommende Körperschaft in die Lage versetzt werden muss, eigenverantwortlich zu handeln. Allerdings bleiben auch in solchen Fällen Konflikte nicht aus. Zwischen den Kommunen oder Ländern und den kirchlichen und karitativen Organisationen kann es durchaus etwa bei der Planung, Finanzierung und Verwaltung von Krankenhäusern, Altenheimen, 5 Kramer, Rolf, Die postmoderne Gesellschaft und der religiöse Pluralismus, Berlin 2004, S. 52 ff.

Einleitung

15

Kindergärten oder Schulen zu Konflikten kommen. In der Infrastruktur wird darum der Staat bei der Vergabe von Investitionen im Bereich von Bildung und Gesundheitswesen auf das Subsidiaritätsprinzip Rücksicht nehmen müssen. Das Handeln in Politik und Gesellschaft muss zielgerichtet auf die Entfaltungsmöglichkeit und die Wohlfahrt des Menschen ausgerichtet sein. Dabei spielen – von Seiten der christlichen Sozialethik – die genannten Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität eine entscheidende Rolle. Denn die Eigenverantwortung des Einzelnen für sich und seine persönliche Lebensgestaltung ist ebenso gefordert wie die Unterstützung der jeweils kleineren sozialen Einheit. In der politischen Verantwortung und bei der Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft ist zu fordern, wirtschaftliches zusammen mit sozialem Wachstum für viele Menschen zu erreichen. Eine Integration beider politischen Ausrichtungen ist gefordert. Die Deutschen katholischen Bischöfe haben auf den Umbruch hinsichtlich des „demographischen Wandels“, der „Erosion alter Solidaritätsformen“ und der „strukturellen Arbeitslosigkeit“ aufmerksam gemacht6. Für sie sind alle Herausforderungen zugleich im Kontext der europäischen Integration und der Globalisierung zu sehen: 1. Durch Geburtenrückgang und die höhere Lebenserwartung wird auch die Bevölkerungspyramide stark in Mitleidenschaft gezogen. Es verändert sich zum einen die Gesamtnachfrage. Zum anderen mindert sich durch das Fehlen von jungen Menschen auch die Innovationskraft der Gesellschaft. 2. Die Ausgestaltung des Sozialstaates hatte aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Solidarität bisher die Menschen ihre sozialen Risiken leichter hinnehmen lassen. Heute trägt der Sozialstaat selbst dazu bei, dass die gesellschaftlich Solidarität nicht mehr wirkt. Das ist besonders an der mangelnden Unterstützung der Familien sichtbar. 3. Seit Jahrzehnten hat sich die Zahl der Arbeitslosen trotz einiger Erfolge in der letzten Zeit fast stabilisiert. Dadurch werden viele Menschen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit fällt nach den Erfahrungen der vergangen Jahre nicht leicht. Patentrezepte hierfür gibt es nicht7. Auch die Säkularisation ist als Teil der Aufklärung ein hervorstechendes Zeichen einer zunehmenden gesellschaftlichen Veränderung. Außerdem bedeutet die Säkularisierung als Verweltlichung der Gesellschaft einen Umbruch der gesellschaftlichen Traditionen8. An Festen, wie etwa Weihnachten, kommt es im 6 Die deutschen Bischöfe, Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen Nr. 28, Das Soziale neu denken vom 12. Dezember 2003, S. 10 ff. 7 Die Deutschen Bischöfe (2003), S. 11 f. 8 Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 42 ff.

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Einleitung

Volk beim Feiertagsgruß nur noch zum allgemeinen Wunsch für ein ,Frohes Fest‘. In den Vereinigten Staaten von Amerika wird das bekannte Weihnachtslied „Stille Nacht, Heilige Nacht“ für die Schulen in die entchristlichte Form: „Cold is the night“ umgeschrieben. Der Christmas Tree wird zum Holiday Tree. Während ihres ersten Besuchs bei der Deutschen Bundeskanzlerin in der Vorweihnachtszeit ließ die amerikanische Außenministerin verlauten: Sie sei glücklich, in Berlin zu sein und sich an den Vorbereitungen zur „Ferienzeit“ zu erfreuen (to enjoy the holidays preparations), also kein Wort von der Vorbereitung auf die Weihnacht9. In den Staaten Europas und speziell in Deutschland hat sich die Bevölkerung mittlerweile an die Missachtung des christlichen Bekenntnisses gewöhnt. So grüßt selbst die Berliner kirchliche Verwaltung zur Advents- und Weihnachtszeit in einer säkularen Form, indem sie den von ihr Betreuten nur noch „angenehme Feiertage“ wünscht. In England werden lieber Season’s Greetings verschickt als spezielle Weihnachtswünsche, um ja nicht die religiösen Gefühle Andersgläubiger zu verletzen. Die Werbung hat diese Entwicklung erheblich vorangetrieben. Zwar hat sie in Deutschland neuerdings die Religion und speziell die Bibel entdeckt. Aber sie benutzt sie natürlich unter einer rein irdischen Zielsetzung und einer verweltlichten Vermarktung. Denn wenn etwa die Autoindustrie damit wirbt „Nichts ist unmöglich“, greift sie auf das Wort im Lukas Evangelium zurück: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich“ (Luk. 1,37). Wenn für Mineralwasser geworben wird, spricht man nach Psalm 36 vom „Quell des Lebens“ (V. 10) und benutzt dabei einen zentralen biblischen Ausdruck. Ähnlich verhält es sich bei der Uhrenwerbung, in der der Prediger-Text (3,1) mit einem Zusatz zitiert wird: „Alles hat seine Zeit – Gutes Design die Ewigkeit“. Es werden auch indirekt biblische Texte verwandt, etwa wenn es heißt: Liebe deine Haut wie dich selbst (nach Matt. 19,19)10. Freilich gibt es einen erheblichen Unterschied: In der religiösen Darstellung wird die noch ausstehende Hoffnung vermittelt, in der Werbung dagegen wird eine Erwartung ausgedrückt, die ihre Erfüllung allein im Hier und Heute kennt. Die Werbung zeigt irdisches Glück an. Das Evangelium dagegen verkündet die eschatologische Wahrheit. Die Werbung zielt auf das diesseitige „Heil“, auch wenn sie manches Mal so tut, als ob sie damit das Glück auf Erden schafft11. Die Kirchen versuchen, durch die Verkündigung des Evangeliums dem Einzelnen zu einer sinnvollen Verwirklichung des Lebens zu verhelfen und in ihm 9

Vgl. FAZ vom 13. Dezember 2005, Nr. 290, S. 33, Wieder Weihnachten. Vgl. Stöger, Tanja, Die heilige Schrift in der Werbung, Religiöse Elemente in der Werbesprache, in: www.mediensprache.net/networx, S. 45 ff. 11 Gegen Stöger, S. 87. Vgl. zum ganzen Thema Preul, Reiner, So wahr mir Gott helfe!, Darmstadt 2003 und hier speziell das Kapitel „Religion in den Medien“, S. 112 ff. 10

Einleitung

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die Hoffnung auf die Ewigkeit zu begründen. Die Werbung versucht auf ihre Weise, dem Konsumenten eine Erfüllung seines Glücks zu vermitteln, indem sie ihm suggeriert, durch den Kauf eines bestimmten Produktes würde er auf diesem Wege Fortschritte machen. In Zukunft ist in der Gesellschaft die Eigenverantwortung zu stärken. Sie gilt es, jeweils vom Staat erneut einzufordern. Mindestens im wirtschaftlichen Bereich ist es der Markt, der hier Ordnung und soziales Gefüge schaffen kann. Auf dem Markt ist der Mensch nicht allein, der Markt ist nicht der Ort der Einsamkeit! Er ist vielmehr der Ort, an dem die Wünsche und Bedürfnisse vieler Menschen aufeinander treffen. Die Menschen mit gleichgerichteten Interessen bzw. Diensten, die sie – selbstverständlich um des eigenen Vorteils willen – anbieten, kommen auf dem Markt zusammen. Dort unterliegen auch die Güterproduktion und der Güterverbrauch dem Kräftespiel von Angebot und Nachfrage. Sie gleichen sich über den Preis aus. Der Markt ist der große Regulator.

1. Kapitel

Die sozialpolitische Herausforderung Besonders charakteristisch für die heutige Gesellschaft sind ein relativ geringer Altruismus und eine mangelnde Solidarität unter den Menschen. Es herrschen in der Gesellschaft Individualismus und ein verhältnismäßig starker Egoismus vor. Die Individualisierung steht gleichzeitig für einen Hedonismus des Individuums. Dieser hat zum Ziel die Selbstverwirklichung des Menschen. Die Frage freilich lautet: Was bedeutet die so emsig angestrebte Selbstverwirklichung? Sie gaukelt dem Menschen vor, dass er bei hinreichendem Wahrnehmungsvermögen in der Lage sei, sein Selbst zu entdecken und dann nach bestimmten Seiten zu entwickeln. Ob der Mensch allerdings weiß, welcher Kern in seinem Ich steckt, müsste noch hinterfragt werden. Freilich hat jeder Mensch eine oder mehrere Vorstellungen von seinen Wünschen und Möglichkeiten, von denen er eine Realisierung erhofft. Aber letztlich führt die Selbstverwirklichung deshalb zum Scheitern, weil der Mensch nicht auf Isolierung, sondern auf einen sozialen Bezug angelegt ist. Mit ihr geht eine teilweise Zerstörung der Lebensbindungen einher. Das Leben wird durch diese Zersetzung keineswegs reicher, sondern ärmer. Wer glaubt, sich selbst zu verwirklichen, zerstört Partnerschaften. Er flieht vor den Aufgaben. Denn er ist ständig auf einem egoistischen Trip. Die konsequente Selbstverwirklichung des Menschen führt unausweichlich zu seiner Single-Existenz und damit letztlich zur Einsamkeit. Die damit verbundene Individualisierung hatte schon in früheren Jahrhunderten in ähnlicher Weise zu einem Bevölkerungseinbruch beigetragen: – In der Zeit des 2. Jahrhunderts vor Chr. kam es in Griechenland zu einer Entvölkerung. Individuelle Bedürfnisse überlagerten die Gemeinschaftsbedürfnisse. – Etwa Gleiches ereignete sich im 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr. im antiken Rom. Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit waren wichtiger als Ehe und Familie. – Etwa im 13. Jahrhundert n. Chr. trat erneut das Individuum in den Mittelpunkt. – Im 20. Jahrhundert wurden dann die individuellen Lebensrisiken durch die gesellschaftlichen Sicherungssysteme ausgeglichen. Dem Individuum stand

1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

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ein Schutz zu, in dem der Staat weitgehend die Lebensrisiken abdeckte, so dass Ehe und Familien an Attraktivität verloren1. Individualisierende Lebensstile lassen sich also von Zeit zu Zeit nachweisen. Horst W. Opaschowski spricht mit Recht in seinem Buch „Der Generationenpakt“ davon, dass heute der Begriff des Individualistischen noch einseitiger verstanden wird. Denn „individualistisch ist zum Synonym für hedonistisch, egoistisch, traditionslos, alternativ, aufstiegsorientiert, avantgardistisch, modern, kritisch, engagiert u. a. geworden“2. Zur sozialen Wende gehört auch der demographische Wandel. Dieser ist geprägt vor allem durch Kinderlosigkeit. Aber dazu gehören außerdem noch andere Faktoren, etwa die fortschreitende Emanzipation der Frau und damit eine eventuelle Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, die Angst vor einem Absinken des gemeinsamen Wohlstandes, der Verlust des Arbeitsplatzes durch die Geburt und die Aufzucht von Kindern, die nicht kinderfreundlichen Arbeitsbedingungen und die mehr oder weniger kinderfeindliche Einstellung der Gesellschaft. In Zukunft wird die Gesellschaft darauf achten müssen, dass eine Art Gleichgewicht zwischen individuellen und gesellschaftlichen Elementen erreicht wird. Ein weiterer Aspekt der gegenwärtigen Gesellschaft im sozialen Bereich ist die Ordnung der Sozialversicherung. Dieses System hat in Deutschland bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein zu einer Ausweitung des erfassten Personenkreises und der Sozialleistungen geführt. Mittlerweile wurde aber in den letzten Jahren das ganze Sozialsystem in Frage gestellt. Dazu trugen mehrere Gründe bei: 1. Die Alterung der Bevölkerung ist einer der entscheidenden Ursachen. Die demographische Entwicklung hat die Alterspyramide zu Gunsten der alten und zu Lasten der jungen Menschen verschoben. 2. Die Lohnnebenkosten haben den Standort Deutschland verschlechtern lassen. Dadurch wirkt sich die demographische Entwicklung zum Nachteil der Lage in Deutschland aus. 3. Die Lasten der Vereinigung beider deutscher Staaten haben zusätzlich die Stellung Deutschlands beeinträchtigt. Diese drei Gründe führten zu einem hohen Finanzbedarf der Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. Durch Massenarbeitslosigkeit kommt es zusätzlich zu einer Verschlechterung der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme.

1 2

Vgl. Opaschowski, Horst W., Der Generationenpakt, Darmstadt 2004, S. 37. Opaschowski, Horst W. (2004), S. 36.

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

Neben den sozialen Verschiebungen in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft kam es dann noch zu einer religiösen Fehlentwicklung: Je stärker sich nämlich heute der islamische Fundamentalismus breit macht, umso mehr ist die westliche Kultur und Religion ihrerseits herausgefordert, ihre Werte zu verteidigen. Stattdessen aber stellt sich die westeuropäische Gesellschaft selbst infrage, mindestens jedoch relativiert sie ihren Werte-Kanon. Weder auf religiösem noch auf kulturellem oder ethischem Gebiet ist der Westen willens, sich für seine überlieferten Werte einzusetzen. Das gilt für den Wert der Familie ebenso wie für die religiös-kulturellen Normen.

1. Beeinträchtigung des allgemeingültigen Wertesystems Die überlieferten Werte stimmen heute nicht mehr generell mit den Vorstellungen vieler Teile der Gesellschaft überein. Sie werden von ihr als zu traditionell angesehen. Bei den Menschen und in den westlichen Kulturnationen hat darum in den letzten Jahrzehnten ein Bruch mit dem überlieferten ideellen Wertesystem stattgefunden. Die Menschen leben darüber hinaus in einer Diskrepanz zu ihrem eigenen Wertesystem. Sie sind zwar durchaus bereit, für sich selbst eine rigide neue Wertvorstellung zu akzeptieren, aber sie fühlen sich außerstande, diese auf alle Menschen zu übertragen. Man lehnt für sich selbst nämlich einen Schwangerschaftsabbruch ab, will jedoch diesen für die Allgemeinheit nicht unter Strafe stellen. Es macht sich in dieser Haltung deutlich ein Wertepluralismus bemerkbar3. Werte sind, insbesondere dann, wenn sie zu Normen umgewandelt wurden, in früheren Zeiten zu Bestimmungsgrößen in der Gesellschaft geworden, nach denen man sich und sein Leben ausgerichtet hat. Das gilt zwar heute noch, auch wenn Werte und Normen sich letztlich in ihrer überlieferten Form in Auflösung befinden. Über die Normen dagegen ist zu sagen: Sie bedürfen der Werte, sonst bleiben sie inhaltsleer. Heute ersetzt der Normenbegriff vielfach den des Gesetzes. Als Gesetzgeber und damit als Normengeber gilt nicht mehr wie in früheren Jahrhunderten die göttliche Autorität, sondern die demokratischen Gremien haben in den gegenwärtigen Gesellschafts- und Staatsformen das Sagen. Schließlich verdanken die Normen ihre Gültigkeit der demokratisch-parlamentarischen Willensbildung. Aber die Anwendung von Normen kann leicht in die Gefahr einer Kasuistik führen, was sich leicht aus verschiedenen Moralvorstellungen ableiten lässt. 3 Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende – Stellungnahme vom 13. Juli 2006, S. 10.

1. Beeinträchtigung des allgemeingültigen Wertesystems

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Freilich treten im Normen- und im Wertesystem Wandlungen auf, etwa wenn alte Normen und Werte mit neuen in Konflikt geraten. Diese führen zu neuen Entwicklungen. Schließlich sind Normen und Werte sowohl entwicklungsfähig als auch auslegungsbedürftig. Wer in vielen westeuropäischen Ländern von Werten spricht, meint meistens keine ökonomischen Werte, also Kapital oder sonstige Vermögenswerte, sondern hat durchweg ideelle Werte im Sinn. Würden die westlichen Werte, etwa die jedem Menschen angeborene Würde, seine Freiheit und die Gleichheit mit anderen, als universell gültig angenommen, müssten sie den Menschen mit der Geburt eingepflanzt sein und von allen Menschen anerkannt werden4. Aber das wird wohl nur noch von Christen so geglaubt; keineswegs gelten sie bei allen Menschen wirklich als ewige Werte! In der westlichen abendländischen Welt werden folglich die Werte nicht überall als gleich angesehen und nicht in gleichem Maße anerkannt. Dass man Tugenden, etwa die der Pflichterfüllung, des Fleißes, der Ehrlichkeit, der Pünktlichkeit nicht weltweit wie in den abendländischen Ländern wahrnimmt, ist allgemein bekannt. Das muss ganz besonders im Blick auf die islamischen Länder wahrgenommen werden. Die Gültigkeit und Anerkennung der Werte ist abhängig vom Standpunkt der Gemeinschaft, in der man lebt. Wird aber die westliche Wertegemeinschaft nicht von der christlichen Ethik her beurteilt, sondern aus einem individualistischen Weltbild, treten die einzelnen Werte weder als ewig noch als allgemeingültig in Erscheinung5. Der westliche Wertebestand darf nicht als eine regionale und lokale Ortsangabe missverstanden, sondern kann nur als ein kulturelles Fundament angesehen werden. Das gilt in besonderem Maße von dem Wert der Freiheit. Werte sind insgesamt kulturabhängig. Wer sie will, muss ebenfalls die damit verbundene Kultur wollen6. Wer Freiheit will, darf diese Ordnung nicht unter Hinweis auf den Freiheitsgedanken zerstören. Die Werte sind deshalb nicht nur Basis für europäisches Denken oder für die USA, sondern auch für andere Länder mit gleichem kulturellen Hintergrund. Zu einer westlich orientierten Gemeinschaft gehören allerdings ganz unterschiedliche Kulturkreise. Heute sind verschiedene Länder aus Europa, USA, Australien, Japan, Südkorea, Taiwan ebenfalls dazu zu zählen. Ihnen ist gemeinsam das Wertesystem der individuellen Freiheit des Handelns, die Organisation der Gesellschaft mit ihren Freiheiten in Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und in der Demokratie. 4 5 6

Vgl. Di Fabio, Udo, Die Kultur der Freiheit, München 2005, S. 4. Vgl. Di Fabio, Udo (2005), S. 13. Vgl. Di Fabio, Udo (2005), S. 75.

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

Die Freiheit des Individuums weist den Menschen als selbstbewusst und selbstverantwortlich aus. Dabei geht es eben nicht um die eine Freiheit von Not, die man als Versorgung durch den Staat verstehen könnte, sondern um die Freiheit des Handelns und der Entscheidung. Die Freiheit, die einen Höchstwert darstellt, schützt die Würde des einzelnen Menschen. Da aber das Individuum immer im Zusammenhang mit sozialen Verbindungen zu sehen ist, in die hinein es geboren wird und in denen es aufwächst, ist die individuelle Freiheit immer auch eng verbunden mit der Freiheit der staatlichen Gemeinschaft oder des politischen Denkens und Handelns. Diese dient umgekehrt dem Freiheitsstreben des einzelnen Menschen. Die Freiheit in der staatlichen Gemeinschaft schützt seine Würde. Aber sie besitzt eine eigene Würde, „die man auch als Selbstachtung einer freiheitlichen Gesellschaft verstehen kann“7. Zwischen der Demokratie und der Freiheit besteht ein innerer Zusammenhang. Demokratie und Freiheit sind eng miteinander verbunden. Denn ohne Freiheit ist keine Demokratie denkbar. Die Verwirklichung der Freiheit des einzelnen Menschen strebt nach der demokratischen Regierungsform. Dennoch können in der Demokratie die Rechte des Einzelnen durch die der Mehrheit eingeschränkt werden. Aber die Mehrheit darf die Minderheit der Bevölkerung nicht zwingen, ihren Entscheidungen zuzustimmen. Freilich werden Freiheit und Gerechtigkeit immer nur in einem eingegrenzten Umfang verwirklicht. Wenn die Mehrheit über den Einzelnen bzw. über die Minderheit herrscht, kann das zu einer ausdrücklichen Einschränkung der Freiheit führen. Freilich auch die Demokratie ist nicht als christliche Staatsform zu bezeichnen. Ihr liegt auch kein religiöses Bekenntnis zugrunde. Außerdem ist zwischen dem staatlich-politischen Auftrag und dem geistlichen Wort in und durch die Kirche zu unterscheiden. Die evangelischen Christen sehen die Demokratie allerdings als eine Gabe und eine Aufgabe für alle Bürger. Entsprechend dem in der Demokratie gegebenen Angebot können und sollen die Bürger die Verantwortung für das politische Gemeinwesen wahrnehmen. Denn zur Demokratie gehören die Anerkennung der Würde des Menschen, die der Freiheit und Gleichheit der Bürger. In der Demokratie wird aufgrund der Nähe zum christlichen Menschenbild sowohl die Menschenwürde als auch das Recht auf Selbstbestimmung des Menschen vorausgesetzt. Die Ordnung dieses Staatsgebildes wird nicht von oben vermittelt sondern durch die Glieder des Staates selbst gestaltet8. Jeder staatliche Angriff auf einzelne Bürger bedeutet, dass nicht nur das Leben bedroht, sondern zugleich die Freiheit in Gefahr ist. Aber eine demokratische Staatsform lebt nun einmal von der Erhaltung ihrer freiheitlichen Rechts7

Di Fabio, Udo (2005), S. 78 f. Vgl. dazu: Der Rat der EKD, Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh 1985, S. 12 ff. 8

1. Beeinträchtigung des allgemeingültigen Wertesystems

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ordnung. Jeder Angriff auf den Bürger ist auch ein Angriff auf den Staat selbst. Dieser wiederum hat den Einzelnen in seinen Grundrechten zu schützen. Dazu gehören Freiheit und Gleichheit, speziell die Versammlungs- Rede- und Informationsfreiheit. Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Sie lebt von einer Freiheit, die gekennzeichnet wird zum einen in negativer Ausrichtung durch die Abwesenheit von fremder Bevormundung, Knechtschaft oder Zwang und damit von Unfreiheit. Demokratie verteidigt die Freiheit zugleich aber auch im positiven Sinn, also in Form einer Versammlungs-, Meinungs- und Reisefreiheit. Heute wird in der Gesellschaft leichtfertig die Idee der Freiheit zugunsten bestimmter Sehnsüchte aufgegeben, nämlich der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, sozialer Teilhabe, Gleichheit und Sicherheit. Nach Meinung des Papstes Johannes Paul II. weiß auch die Katholische Kirche das politische System einer Demokratie zu schätzen. Eine solche Staatsform ist nur aufgrund der richtigen Einstellung zum Menschen und aufgrund einer wahren Auffassung von ihm möglich. Diese Art von Demokratie ist für den christlichen Glauben nur in einem Rechtsstaat denkbar. Er respektiert die Freiheit des Menschen und setzt diese sogar voraus. Dazu gehören nach Johannes Paul II. für den Menschen unter anderem das Recht auf Leben, das Recht, eine eigene Familie zu gründen, das Recht, in einer „geeinten Familie“ und in einem Milieu aufzuwachsen, das für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit geeignet ist, „das Recht, seinen Verstand und seine Freiheit in der Suche und Erkenntnis der Wahrheit zur Reife zu bringen“, das Recht, mit seiner Arbeit an der Erschließung der Güter dieser Erde teilzuhaben9. Auch bei den Menschen und Märkten in der Gegenwart stellen sich Zwänge zur Anpassung ein. Dabei kommt jedoch den Veränderungen der Gesellschaft, die von einem Bruch mit den überlieferten Wertesystemen ausgehen, durchaus eine wichtige Rolle zu. Der propagierte Individualismus ist ebenso bedeutungsvoll wie die Liberalisierung der überkommenen Institutionen. Auch die Forderung nach einer immer stärkeren Mobilität der Arbeitskräfte ist ein Teil der sozialen Veränderungen. Sie erleichtert die Durchsetzbarkeit der wirtschaftlichen Globalisierung und trägt damit auch zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit bei, auch wenn oftmals gerade umgekehrt gesagt wird, dass die Globalisierung zu einer Freisetzung von Arbeitskräften führe. Die Mobilität bestimmt den neuen Arbeitnehmertypus. Ungebundenheit ist gefragt! Als hilfreich kann in diesem Zusammenhang die Formulierung von Udo Di Fabio gelten: „Menschen mit tiefen Glaubensbindungen und einer als konservativ belächelten Lebensführung, aber auch mit allzu intensiver klassischer Bildung scheint einfach die Unbekümmertheit zu fehlen, die Offenheit für alles Neue, die bedenkenlose An9 Vgl. Johannes Paul II., Centesiumus Annus, Verlautbarungen des Heiligen Stuhls 1991, Heft 101, n. 46 ff.

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

passungsfähigkeit, die die notwendigen Voraussetzungen für rasches Agieren, Ausnutzen von Vorteilen, überraschende Innovationen sind“10. Diese Entwicklungen finden also ihren Niederschlag im Raum der Wirtschaft. Denn die Wirtschaft – speziell die Marktwirtschaft – spielt sich in einem „politischen Leerraum“ ab. Aufgabe des Staates ist es, dass der arbeitende Mensch die Sicherheit erhält, auch die Früchte seiner Arbeit genießen zu können11. Ferner hat der Staat die Aufgabe, die Einhaltung der Menschenrechte auch im wirtschaftlichen Bereich zu überwachen. Allerdings kann es nicht die Aufgabe des Staates ein, etwa Arbeit für alle Bürger sicherzustellen und damit das Recht auf Arbeit zu garantieren. Aber er hat bei Behinderungen der Wirtschaft etwa durch Monopolisierungen einzugreifen und Behinderungen zu beseitigen. Seine Eingriffsmöglichkeiten stehen unter der Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips12. In der Gegenwart haben sich nicht nur neue Ehe- und Familienbilder ergeben, sondern auch eine neue Einstellung zur Eltern- Kindbeziehung. Von Männern und Frauen werden Ehe und Familie oft als Enge angesehen, der man mit einem Streben nach individueller Freiheit des eigenen Lebens und mit der Relativierung einer allzu strengen Bindung gegensteuert. Statt eines allgemein verbindenden Gemeinschaftsbewusstseins und eines Zusammengehörigkeitsgefühls findet eine allmähliche Abkehr von überlieferten bürgerlichen Institutionen wie Familie, Volk, Nation oder Kirche statt. Ein starker Individualismus verbindet sich mit einer Sucht nach Lust und Spaß und nach einem entsprechend lustbetontem Konsum. Vorhandene bzw. überkommene Autoritäten verblassen oder werden relativiert wie die Eltern, Lehrer, Professoren, Ärzte, Forscher, Politiker oder Pfarrer. Man entscheidet sich lieber für Freizeitmöglichkeiten als für einen Karriereaufstieg.

2. Das Verhältnis von Armut und Reichtum Im Alten Testament existieren zwei unterschiedliche Einstellungen zum Reichtum und zur Armut. Zum einen wird arm und reich als die Taten Gottes, des Herrn, benannt (Spr. 22,2). Zum andern wird die Armut als Folge von Trägheit und der Reichtum in Abhängigkeit vom Fleiß des Menschen bezeichnet (Spr. 10,4). Die Propheten missbilligen Betrügereien und Ungerechtigkeiten (Micha 2,1 f.). Armut ist ein Übel, aber zugleich auch ein Zeichen für die gesamte Situation des Menschen vor Gott. Schließlich wird der Wert der Güter abhängig von ihrem Gebrauch gesehen (Jes. 58, 3 ff.).

10 11 12

Di Fabio, Udo (2005), S. 36. Vgl. C.A., n. 48. s. oben Einleitung.

2. Das Verhältnis von Armut und Reichtum

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Auch im Neuen Testament sind ähnliche Überlegungen zu finden. Der Vater im Himmel schenkt die Güter des Lebens (Mt. 6,25 ff.; Lk. 6,21). Die Sorge der Menschen sollte keineswegs allein den irdischen Gütern gegenüber gelten. Das Leben ist mehr als alle diese Güter zusammen (Lk. 12,21 ff.). Letztlich muss die Forderung lauten, nicht materiell, sondern vor Gott reich zu werden! Die Güter dieser Welt behalten zwar weiterhin ihren Wert, aber eine ungerechtfertigte Anhäufung von Besitztümern ist verwerflich, weil sie der vom Schöpfer gegebenen Bestimmung widerspricht. Habgier lässt vom Glauben abirren (1. Tim 6,10). Die Definition von arm und reich ist abhängig von Urteilen, aufgrund derer die Situation bewertet wird. Die heutige Begrifflichkeit ist nicht eindeutig. Es gibt verschiedene Armutsbegriffe: die Einkommensarmut, das soziokulturelle Existenzminimum und schließlich die damit verbundene gesellschaftliche Ausgrenzung13. Zum Armutsbegriff darf darum nicht nur die Einkommensoder Vermögensarmut gezählt werden. Vielmehr muss zugleich an eine lebenslange Benachteiligung und an einen sozialen Ausschluss gedacht werden. Alle Begriffe stellen verschiedene – aber auch einander ergänzende – Vorstellungen der Armut dar. „Daher spiegelt am ehesten ein weites Armuts- und Reichtumskonzept die Bandbreite der bestehenden Werturteile und Vorstellungen in angemessener Weise wider“14. Das Thema Armut darf nicht nur als ein rein materielles Phänomen gesehen werden. Man unterscheidet die absolute Armut von der relativen Armut. Die absolute Armut geht nach den Aussagen der Weltbank von einem Einkommen aus, das weniger als 1 bzw. 2 Dollar am Tag beträgt. Die relative Armut bezieht den Armutsbegriff stattdessen auf die Gesellschaftsverhältnisse des Individuums. Im Jahr 2006 hat das Statistische Bundesamt in Deutschland Zahlen über die Entwicklung der Armut vorgelegt. Danach sind ca. 13 Prozent der Deutschen im Jahr 2004 arm oder von Armut bedroht15. Nach der Festlegung der EU fallen unter diese Kategorie die Menschen, die weniger als 60 Prozent eines standardisierten Netto-Medianeinkommens verdienten. Dieses liegt in der Mitte aller Einkommen (fünfzig Prozent verdienen weniger, fünfzig Prozent verdienen mehr). Danach würden alle die Bürger, die bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von einer Million 500.000 Euro verdienen, unter diese Armutsgrenze fallen.

13 Vgl. dazu den 2. Armuts- und Reichtumsbegriff der Bundesregierung aus dem Jahr 2005, S. XVI. 14 Ebenda. 15 Vgl. www.destatis.de

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

Nach dem Statistischen Bundesamt lag im Jahr 2004 das „Äquivalenzeinkommen“ (also das Einkommen, das in einem Haushalt insgesamt erzielt wird, und das nach Haushaltsgröße und Zusammensetzung gewichtet den Haushaltsmitgliedern zugerechnet wird) bei 1427. Das entspricht einer relativen Armutsgrenze von 856 Euro (nämlich 60% des verfügbaren Einkommens). Die wahre Armut in den deutschen Landen hat darum am wenigsten mit dem fehlenden Geld zu tun, sondern eher mit den fehlenden Arbeitsplätzen und der damit verbundenen Ausgrenzung zu tun. Armut und speziell die damit verbundene soziale Ausgrenzung schränken die Chancen der Betroffenen ein, am ökonomischen und sozialen Leben zu partizipieren. Teilhabe am soziokulturellen Leben ist aber nun einmal ein Stück der sozialen Gerechtigkeit. Die Stärkung des gemeinsamen Wohlstandes und des Gemeinwohls insgesamt ist eine der fundamentalen Bedingungen zum Erhalt der Gesellschaft. Wenn auch durch lange Zeit hindurch der Armutsbegriff allein durch die Einkommens- und Vermögensverhältnisse definiert wurde, wird heute im Zusammenhang mit der Armut von mangelnden sozialen Chancen und beruflichen Möglichkeiten gesprochen. Das Problem von Armut und Reichtum in der Gesellschaft ist gegenwärtig vor allem von der Beschäftigungslage abhängig. Denn Armut ist in einem erheblichen Ausmaß von mangelnder Beschäftigung bzw. direkt durch die Arbeitslosigkeit geprägt. Armut und Arbeitslosigkeit korrespondieren also miteinander. Arbeitslosigkeit ist oft die Ursache von Armut und damit von sozialer Ausgrenzung. Darum wird derjenige, der Arbeit hat, sogar als reich, und derjenige, der keine Beschäftigung ausübt, als arm bezeichnet. Es ist Aufgabe des staatlichen Handelns, für eine sozial ausgerichtete Politik zu sorgen. Aber nicht nur der gilt als reich, der Zugang zum Arbeitsmarkt besitzt, sondern auch der, der sich einen Zugang zu einer Erfolg versprechenden Bildung verschaffen, in guten Wohnverhältnissen leben oder sich eine verheißungsvolle Teilhabe an einem geordneten Gesundheitswesen sichern kann. Selbstverständlich lässt sich, wie der Armutsbericht der Bundesregierung erwähnt, nach dem Konzept vom ökonomischen Nobelpreisträger Armatya Sen von „Verwirklichungschancen“ sprechen. Armut bezeichnet den Mangel, Reichtum dagegen die Gegebenheit von Verwirklichungschancen16. Mit dem Begriff der Verwirklichungschancen bezeichnet er die Möglichkeit bzw. die Fähigkeit von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich selbst entschieden haben und das ihre Selbstachtung nicht in Frage stellt. „Teilhabe und Verwirklichungschancen entstehen jedoch nicht automatisch durch den Ausgleich ökonomischer Ungleichheiten“17. 16

Vgl. Armutsbericht, S. 16.

3. Soziale Gerechtigkeit

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3. Soziale Gerechtigkeit Die Vorstellung von Gerechtigkeit hat die Menschen immer schon bewegt. Bereits Aristoteles hat sich mit dem Begriff intensiv auseinander gesetzt. Die Vorstellung von einer sozialen Gerechtigkeit stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwei Italiener, Luigi Taparelli, der Lehrer des späteren Papstes Leo XIII., und der Theologe und Philosoph Antonio Rosmini haben sich dieses Ausdrucks bedient und ihn als ein Ordnungsprinzip (Rosmini) bzw. als gerechten Ausgleich unter den Menschen verstanden (Taparelli)18. Der einzelne soll durch die soziale Gerechtigkeit nicht isoliert werden. Wer nach sozialer Gerechtigkeit strebt, will eigentlich nicht Gerechtigkeit, sondern eine Umverteilung und damit eine bessere Verteilung der Güter. Die soziale Gerechtigkeit ist heute nicht so sehr an materieller Verteilung interessiert, als vielmehr an einem Mehr an Teilhabe und an der Chance für eine Verwirklichung. Soziale Gerechtigkeit darf nicht mit einer allgemeinen Gleichheit unter den Menschen verwechselt werden. Sie steht immer in einer Nähe zu einer staatlichen Tätigkeit. Die Gerechtigkeit stellt die Frage nach dem Sinnzusammenhang des Ganzen und fragt darum nach den richtigen Proportionen. Erst der gerechte Ausgleich zwischen den Generationen gibt der sozialen Gerechtigkeit den entscheidenden Aspekt. Obwohl man diese begriffliche Vorstellung vor allem unter Einkommens- und Vermögensgesichtspunkten erörtert, sollten heute bei der Ausweitung der sozialen Gerechtigkeit zusätzlich andere Überlegungen Berücksichtigung finden. Dazu gehört die Gleichheit von Chancen und außerdem, in Zukunft an dem gesellschaftlichen und ökonomischen Leben insgesamt teilnehmen zu können. Die Menschen sollen in freiheitlicher und gerechter Form gleiche Chancen erhalten, aber nicht den gleichen Anteil an Besitz und Vermögen. Dass alle Menschen über den gleichen Anteil an den Gütern der Gesellschaft verfügen, ist ein Widerspruch gegenüber jedem Freiheitsprinzip des Individuums. Eine Gesellschaft, die so auf dem Boden individueller Freiheit gegründet ist, wird immer auch Ungleichheiten hervorbringen. Bei der Durchsetzung von sozialer und ökonomischer Teilhabe und Verwirklichungschancen spielt vor allem die Bildung eine wichtige Rolle. Es müssen vielfache Anstrengungen unternommen werden, in der Gesellschaft den Zugang zur Bildung für alle Menschen zu verbessern. Solcher Fortschritt im Bildungsangebot fördert die soziale Gerechtigkeit. Für die Jugend bedeutet eine höhere Bildung gleichzeitig eine verstärkte Chance, ihr Leben selbst zu gestalten und mit Inhalt auszufüllen.

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Armutsbericht, S. 18. Vgl. Kramer, Rolf, Soziale Gerechtigkeit – Inhalt und Grenzen, Berlin 1992, S. 5.

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

Das ist mit der Grund, warum die Denkschrift der EKD zur Armut in Deutschland „Gerechte Teilhabe“ aus dem Jahr 2006 von einer Beteiligungsund Befähigungsgerechtigkeit spricht19. Sie interpretiert die soziale Gerechtigkeit als gerechte Teilhabe an den Gütern der Gesellschaft in Verbindung mit der Befähigungs- und Verteilungsgerechtigkeit. Die Befähigungsgerechtigkeit ist als Teilhabe an der Bildung zu sehen. Sie ermöglicht die bestmögliche Anteilnahme an der Bildung und Ausbildung. Gerade das Erkennen, Ausbilden und der Einsatz der gegebenen Begabungen macht die Befähigungsgerechtigkeit aus. Sie herzustellen, ist ebenso eine vornehmliche Aufgabe des Staates wie die Herbeiführung einer gerechten sozialen Teilhabe. Die Befähigungsgerechtigkeit gehört zur Verteilungsgerechtigkeit. Es bleibt allerdings zu fragen, ob diese Form einer sozialen Gerechtigkeit zur Grundlage eines gesamtgesellschaftlichen Handelns gemacht werden kann. Andere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit setzen auf eine Chancengleichheit beim Start ins Leben oder auf die Generationsgerechtigkeit. Mit dieser ist gemeint, dass eine Generation den folgenden ebenso viele Lebenschancen und Entfaltungsmöglichkeiten hinterlässt, wie sie selbst vorgefunden hat. Wieder andere Vorstellungen der sozialen Gerechtigkeit stecken in den Begriffen einer Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit. John Rawls hatte in diesem Zusammenhang gefordert, dass Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten auch ähnliche Lebenschancen erhalten sollten. Damit wird freilich der ohnehin schwammige Begriff einer sozialen Gerechtigkeit noch stärker ausgeweitet und aufgeweicht. Indessen lassen sich fast alle Forderungen aus dem sozialen Bereich unter den Begriff der sozialen Gerechtigkeit subsumieren. Da diese sowieso immer nur eine relative Wahrheit zum Inhalt hat, sollte man heute mehr denn je konkreter ausdrücken, was man als spezielle Forderung in ihr erhebt. Meint man den sozialen Ausgleich oder die Verbesserung der Bildungs- oder Ausbildungschancen? Oder will man das Augenmerk nur auf das wirtschaftliche Wachstum oder insgesamt auf die ökonomische Entwicklung legen. Der Ruf nach der sozialen Gerechtigkeit wird selbst polit-ökonomisch in der Sozialen Marktwirtschaft immer lauter, obwohl bereits heute im Bundeshaushalt Deutschlands fast jeder zweite Euro in den sozialen Bereich gesteckt wird. Deutschland gehört mit zu den Ländern mit dem höchsten Sozialaufkommen. Dabei soll zukünftig unter der Betonung des Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft der Markt zu Gunsten des sozialen Gedankens zurückgedrängt werden. Zwar produziert der Markt auch eine Form von Gerechtigkeit, nämlich eine Leistungsgerechtigkeit. Denn die Produktionsfaktoren werden gemäß ihrem Beitrag zum Sozialprodukt entlohnt. Wer sich am Marktprozess als Arbeitnehmer wie als Arbeitgeber oder als der, der Kapital zur Verfügung stellt, beteiligt, 19 Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gerechte Teilhabe, Gütersloh 22006, Z. 59 ff.

3. Soziale Gerechtigkeit

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erfährt entsprechend seiner eingebrachten Leistung sein Entgelt20. Natürlich bleibt es politisch wünschenswert, die soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu verwirklichen. Aber es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, diese Anforderung völlig durchzusetzen. Freilich stehen gerade die immateriellen sozialen Faktoren oft in einem krassen Gegensatz zu monetären Entgelten. Einkommen oder Vermögen mögen erfassbar sein, aber ein Quasi-Lohn, der über die Bereiche Gesundheit, Arbeitsbzw. Freizeit, Freiheit, familiäre Zufriedenheit, Selbstverwirklichung oder Glücksempfinden erwirtschaftet wird, bleibt letztlich unberücksichtigt, obwohl doch beim einzelnen Menschen Begabungen, Bildung, Leistungsmotivation oder Fleiß eine markante Rolle spielen und nicht allein eine monetäre Entlohnung und deren ständige Erhöhung angestrebt wird. Im Jahr 2006 hat sich eine spezielle Frage der sozialen Gerechtigkeit zusammen mit der inhaltlichen Bestimmung des „Sozialen“ in der Sozialen Marktwirtschaft aufgetan, die wie kaum eine andere die Gesellschaft in Befürworter und Gegner zahlenmäßig gespalten hat. Die Mehrheit der Bevölkerung ist für eine Veränderung in der Länge der Zahlung von Arbeitslosengeld, die Minderheit dagegen. Nur etwa zwanzig Prozent in der Bevölkerung sind nicht dafür, dass diejenigen, die in einem langen Arbeitsleben in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, entsprechend länger als bisher vorgesehen Arbeitslosengeld beziehen dürfen. Immerhin wäre es für die jüngeren Arbeitnehmer leichter eine Arbeitstelle zu finden als für die älteren. Alle Einzahler dagegen gleich zu behandeln, so meint man, würde gegen die soziale Gerechtigkeit verstoßen. Bei einer solchen menschlich verständlichen Reaktion: „Wer länger zahlt, bekommt mehr“, wird völlig verkannt, dass die Arbeitslosenversicherung kein Bollwerk ist gegen den Notfall und kein individueller Sparvertrag. Ähnlich einer Feuer- oder Lebensversicherung weiß der Inhaber der Arbeitslosenversicherung nicht, ob und wann der Schaden überhaupt eintritt. Im Sinne von einem „moral hazard“ (sittlichen Gefährdung21) darf jeder, der einzahlt, eine Auszahlung verlangen. Darum ist kein Platz für eine individuelle Auszahlung entsprechend der erbrachten Leistung. Freilich stellt sich die Frage, ob man nicht die Arbeitslosenversicherung gänzlich umbauen sollte, etwa nach der individuellen Beschäftigung und entsprechend einer Wahlmöglichkeit, so dass ein faires Preis-Leistungsverhältnis 20 Vgl. Walter, Norbert, Globalisierung – Ende der Gerechtigkeit? In: Kirche und Gesellschaft, Heft 282, Köln 2001, S. 7. 21 Der Moral Hazard droht dann, wenn die höhere Instanz eine Kollektivrationalität durchsetzen will, dieses aber von den Individuen zugunsten ihrer eigenen Interessen ausgenutzt und damit unterlaufen wird. Herder-Dornreich nennt dieses Theorem auch eine Rationalitätenfalle.

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

auch in der Arbeitslosenversicherung von jedem Arbeitnehmer angestrebt werden kann. Zusammenfassend lässt sich generell über die soziale Gerechtigkeit festhalten: Ihre Verwirklichung ist zwar wohl vordergründig eine materielle Frage. Aber sie darf nicht allein aus dieser Sicht heraus interpretiert werden. Wo eine soziale Gerechtigkeit geschaffen werden soll, müssen die ökonomischen Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum und Wettbewerb durchgesetzt werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Weiter gilt es, die Verwirklichungschancen der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten. Schließlich muss zwischen den Schwachen und Starken eine gesunde Solidarität geschaffen werden22. Dazu gehört vor allem, einen für alle Schichten gleichberechtigten Zugang zur Bildung zu schaffen und die Chancen zur bildungsorientierten Befähigung allen Bevölkerungsteilen zu ermöglichen.

4. Soziale Verantwortung Katastrophen stürzen über die Menschheit herein. Sie zerstören die Umwelt und das Gesamtgefüge menschlichen Zusammenlebens. Als Beispiel mag der Hurrikan Katrina vom Ende August 2005 und seine Wirkungen auf die Südstaaten Nordamerikas, speziell auf New Orleans, angeführt werden. Einer solchen Katastrophe ist aus menschlicher Voraussicht und Erkenntnis nicht zu entgehen. Dennoch lassen sich manches Mal Maßnahmen ergreifen, um den Gefahren solcher Ereignisse vorzubeugen oder ihre Auswirkungen abzuwehren. Aber es ist kaum möglich einer solchen Katastrophe aus dem Weg zu gehen. Für das Auftreten einer Naturkatastrophe kann niemand letztlich schuldig gesprochen werden. Wohl aber für unterlassene oder zu spät eingeleitete Hilfe. Menschen leben immer in einer Gefahrensituation. Und nicht alle Risiken sind einzukalkulieren. Absolute Sicherheit erreichen zu wollen, ist nicht möglich. Weil man sich aber der Verantwortung für eigenständiges gefährliches Verhalten entziehen will, werden viele eingegangene Risiken oder Wagnisse später in ein „unverschuldetes Pech“ umgedeutet23. Andere Ereignisse sind vom Verhalten der Menschen geprägt und dementsprechend von ihren Eingriffen in die Natur abhängig. Dazu gehören in besonderem Maße der Umgang mit den Kreaturen und das Verhältnis des Menschen zu ihnen. Der Mensch beurteilt zwar die Natur aus seiner Sicht. Aber er steht schöpfungstheologisch nicht im Mittelpunkt der Schöpfung. Er ist vielmehr immer

22 23

Vgl. Armutsbericht, S. 19 f. Sofsky, Wolfgang, Sicherheit, in Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung 2005, S. 15.

4. Soziale Verantwortung

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selbst Teil der Natur, die ihrerseits vielfältiges Leben hervorgebracht hat. Der Mensch tritt in seiner kreatürlichen Existenz als ein Wesen auf, das aus sich selbst heraus existiert (ex-sistere). Als solche Existenz steht der Mensch mit den anderen Kreaturen gleichsam aus seiner Natur heraus und tritt zugleich in den Zeit-Horizont Gottes ein24. Aber zwischen Gottes Zeit als Ewigkeit und der menschlichen Zeit, liegt der Tod des Menschen. Immer wieder im Laufe der Geschichte wurde nach dem Unterschied zwischen Mensch und Tier geforscht. Im Alten Testament wurde im 1. Buch Moses die Überordnung des Menschen bzw. die Unterordnung des Tieres festgestellt (Gen. 1,28). Der Mensch tritt in seiner Überlegenheit als Konkurrent zum Tier auf. Es ist noch nicht lange her, dass der Mensch das Tier fürchten musste. Heue ist der Mensch zwar Herr über die belebte Natur. Aber er ist auch ihr Verwahrer, Erhalter und Gestalter. Dieses Thema reicht in die Urzeiten des Menschen zurück. Nach dem Bericht der Urgeschichte in der Genesis schuf Gott zunächst die Tiere (Gen. 1,24) und dann den Menschen. Auch die Kreatur ist in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit Teil der Schöpfung. Nach alttestamentlicher Überlieferung werden die Tiere in einer besonderen Nähe zum Menschen gesehen25. Der Mensch darf über sie Herr sein (Gen. 1,26.28). Nachdem in der Priesterschrift (Gen. 1–2,4a) in einer abstrakten begrifflichen Weise die Herrschaft des Menschen über die Tiere festgestellt wird, stellt der jahwistische Erzähler im Kapitel 2 (Vers 19 f.) deutlich heraus, wie das geschieht. Die Tiere werden mit Namen bedacht. Dadurch übt der Mensch seine Herrschaft über sie aus. Das ist zugleich die Festlegung für die Bestimmung und den Nutzen, die er durch sie hat. Im Laufe der Geschichte wurde dieses Verhältnis des Menschen zur Kreatur immer wieder in einem engen Miteinander gesehen. Aber in den Lebenswelten beider wurde zugleich auch ein Gegeneinander erkannt. Eine umfassende anthropozentrische Ethik kann darum nach neuerer Forschung im Alten Testament nicht vertreten werden, sondern höchstens ein deutlich eingeschränkter Anthropozentrismus26. Der Mensch ist nämlich nicht generell das Maß aller Dinge. In der Auslegung des Alten Testaments hat man sich darum stattdessen im Laufe der letzten Jahrzehnte einer Einstellung genähert, die nicht den Vorrang des Menschen vor der Kreatur herausstreicht, sondern den Aussagen des Predigers nahe kommt: „Der Herr hat die Erde durch Weis24

Vgl. Link, Christian, Schöpfung Bd. 2, Gütersloh 1991, S. 526. Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben alle einen Odem, und der Mensch hat nicht voraus vor dem Vieh, denn es ist alles eitel (Prediger 3, 19). 26 Vgl. Kramer, Rolf, Umwelt, Wirtschaft und Technik, Berlin 1998, S. 41 ff. 25

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

heit gegründet und nach seiner Einsicht die Himmel bereitet“. In diesem Zeugnis zeigt sich eben keine besondere Stellung des Menschen in der Natur. Stattdessen wird die anthropozentrische Konzentration im priesterlichen Schöpfungsbericht zu Gunsten einer allgemeinen Harmonie des Menschen mit der Natur aufgegeben. So ist es etwa im Psalm 104 oder bei Hiob (38–42) zu lesen27. Gerade der Psalm 104 weist die Sonderstellung des Menschen, wie sie im überlieferten Anthropozentrismus herausgestellt wurde, ab und stellt die Schöpfertätigkeit Gottes heraus. Es bleibt allerdings erwägenswert, inwieweit man über die zentralen Aussagen der Ebenbildlichkeit des Menschen von Gen. 1 hinweggehen darf. Schließlich drückt sich auch in der Aussage der Herrschaft des Menschen über die Erde, also im dominium terrae28, die Vorherrschaft des Menschen aus. Aber er ist gerade deshalb vor allem Mandatar der Schöpfung, obwohl sein Leben ebenso wie das aller Kreaturen befristet ist. Außerdem besitzt der Mensch gegenüber seinen Mitkreaturen keinen generellen Vorzug, obwohl er das über Jahrhunderte hinweg so geglaubt, gelebt und danach gehandelt hat. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür gewesen, warum der Gesetzgeber den Tierschutz erst spät in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eingeführt hat. Denn das tat er erst in diesem Jahrhundert, und zwar im Jahr 200229. Allerdings hat sich das moralische Gewissen des Menschen – vor allem innerhalb der letzten Jahrzehnte – sehr deutlich zu Gunsten der Erhaltung und des Schutzes des Tieres verändert. Wir sehen im Tier das Lebewesen mit seinen Rechten als ein Träger des Lebens. Allerdings ist der Mensch keineswegs nur Betrachter und Zuschauer des tierischen Lebens in Nationalparks oder Zoologischen Gärten, sondern er ist vor allem ihr Nutzer. Schließlich rangieren unsere Haustiere als Nahrungs- und Bekleidungsquelle an vorderster Stelle. Das Nutztier im engeren Sinn bringt uns Nahrung in Gestalt von Fleisch und Milch und Eiern etc. Außerdem liefern uns einige von ihnen den Ersatz für soziale Kontakte und Liebe, die wir bei anderen Mitmenschen nicht mehr finden oder die wir diesen vielleicht auch nicht mehr entgegenbringen können oder wollen. Das Tier ist für viele Menschen das Kommunikationsmittel schlechthin geworden. Der Tierschutz schreibt den Menschen vor, Tiere artgerecht zu halten. Tierschutzethik hat darüber hinaus die Verpflichtung, die Qualität des Lebens der Tiere zu erhalten und das notwendige Töten 27

Vgl. Link, Christian, Schöpfung Bd. 2, Gütersloh 1991, S. 350 f. Gemäß Gen. 1,27 f. gilt „. . . und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und alles Getier, das auf Erden kriecht“. 29 Am 17.05.2002 hat der Bundestag beschlossen, das Grundgesetz im Artikel 20a durch den Zusatz „. . . und die Tiere“ zu ergänzen. Der Artikel lautet nun vom Anfang an: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“. 28

5. Der Bedeutungsverlust von Ehe und Familie

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schmerzfrei zu gestalten. Das fünfte Gebot mit dem Inhalt „Du sollst nicht töten“ bezieht sich nicht auf das Töten von Tieren. Der im Hebräischen gebrauchte Ausdruck razach ist mit ,töten‘ oder ,morden‘ zu übersetzen. Dementsprechend betraf es nicht einmal das Töten im Krieg oder die Tötung der Gemeinschaft in Form der Todesstrafe, geschweige denn das Töten von Tieren. Otfried Reinke hat mit der Aussage in seinem Buch „Tiere“ Recht, wenn er ausführt, dass es nur wenige Menschen gibt, die im Bewusstsein leben, „Ebenbilder Gottes zu sein und deshalb einen Auftrag gegenüber aller Kreatur“ haben. Eher verhalten sich die Menschen den Tieren gegenüber, wie er sagt, „unreflektiert, naiv, d. h. bestimmt von ihren Gefühlen und Interessen“30. Damit führen sie sich gegenüber den Tieren ebenso auf, wie diese den Menschen entgegentreten. Nur haben die Menschen das „stärkere Durchsetzungsvermögen“. Und auch das hat zu den ökologischen Katastrophen in unserer Zeit geführt. Den Tieren aber kommt eine „Mitgeschöpflichkeit“ zu31. In diesem Wort drückt sich vor allem die Verantwortung des Menschen gegenüber der Kreatur aus. Da in der Ebenbildlichkeit des Menschen weitaus mehr als nur Verantwortlichkeit ausgesagt ist, gilt es, entsprechende Forderungen zu Gunsten der Tiere abzuleiten. „Ebenbild Gottes zu sein, das ist das Wesentliche, das uns Menschen von Tieren unterscheidet. Gerade dies aber schließt für den Menschen auch ein, den Tieren gegenüber Repräsentant Gottes zu sein“32. Daraus lässt sich folgern und fordern: Die Menschen sollen den Tieren gegenüber die Stelle Gottes einnehmen. Sie werden dann diejenigen sein, die ein Zeichen setzen können für die Verheißung der neuen Schöpfung33.

5. Der Bedeutungsverlust von Ehe und Familie Nicht selten wird heute der Wandel der Gesellschaft mit dem Niedergang der Ehe und Familie in Verbindung gebracht. Die Ehe als die Form des Zusammenlebens von Mann und Frau wird vielfach – zumal bei jüngeren Gesellschaftsmitgliedern – abgelöst von nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Die Ehe steht unter einem Ausschließlichkeitsanspruch. Unter dem christlich-ethischen Aspekt sollte das zur Folge haben, dass die Eheleute zusammenbleiben, bis der Tod sie scheidet. Sie ist damit ökonomisch eine Institution, die mit den höchsten Opportunitätskosten ausgestattet ist34. Das sind in diesem Fall solche Kosten, die dem entgangenen Nutzen entsprechen, den man subjektiv aus der Kinderliebe 30

Reinke, Otfried, Tiere, Neukirchen-Vluyn 1995, S. 94. Reinke, Otfried (1995), S. 97. 32 Reinke, Otfried (1995), S. 113. 33 Vgl. Reinke, Otfried (1995), S. 113. 34 Unter Opportunitätskosten versteht man den Nutzen, den eine nicht gewählte Alternative gestiftet hätte. Vgl. unten 2. Kapitel, 4.7. 31

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

hätte erzielen können. Das ist sicher auch der Grund, warum heute im Zuge der Ökonomisierung der Gesellschaft immer mehr Menschen später heiraten und auf Kinder verzichten. Sie werden in der Populärsoziologie mit dem Kunstwort „Dinks“ gekennzeichnet. Das Kunstwort Dink ist ein Wort, das als Akronym aus: double income, no kids gebildet wurde35. So werden also Menschen bezeichnet, die luxusorientiert keine Kinder haben wollen Bei einem Verständnis von Familie als einer Lebensform, in der Erwachsene mit eigenen oder fremden Kindern zusammenleben, ist der Familienbegriff weiterhin in der Gesellschaft fest verankert. Denn es tragen die Eltern Verantwortung für ihre Kinder und umgekehrt. Allerdings gibt es heute auch Familienbegriffe, die mit dem überlieferten christlich-bürgerlichen Inhalt nicht mehr übereinstimmen. Solche sind etwa dort zu finden, wo man eine Familie definiert als den „Ort, wo Kinder sind“ oder als den Raum, „wo unterschiedliche Generationen füreinander einstehen“. Der traditionelle Familienbegriff ist selbstverständlich auch dann problematisch, wenn man aufgrund einer Anerkennung der Ehe von Homosexuellen als von einer gleichgeschlechtlichen Verantwortungsgemeinschaft spricht. Ehe, Familie und Kinder werden heute als Wert an sich immer mehr infrage gestellt. Dass sich mit der Auflösung dieser Institutionen ein Wertewandel vollzieht oder sich schon vollzogen hat, mag man allerdings nicht gern eingestehen, sondern meint eher, dass es sich nur um einen Trend in der Beurteilung handelt. Früher brachte erst der Tod die Familie oder die Ehepaare auseinander. Heute ist es die Ehescheidung, die aus Ehepaaren zwei Teile macht. Man wird darum wohl eher von einem Bedeutungsverlust und damit auch vom Niedergang dieser Institutionen und nicht nur von einem Bedeutungswandel sprechen müssen. Die neue Bindung ist dann eher eine Art familialer Lebensform. Nicht nur die demographische Fehlentwicklung in verschiedenen Ländern Westeuropas, sondern auch die Vernachlässigung der Wertvorstellungen wird mit der Veränderung der Familien von Grund auf in Verbindung gebracht. Die Modernisierung der privaten Lebensverhältnisse hat allerdings auch die Familie untergraben. Die frühere Kleinfamilie der Fünfziger Jahre hat neuen Formen Platz gemacht. Insgesamt treten die überlieferten Institutionen Ehe und Familie in Konkurrenz zu den anderen neuen Lebensformen. Heute kennzeichnen ,neben‘ der ,Normalfamilie‘ andere Formen das private Zusammenleben, so z. B.: Singles, berufstätige Mütter oder Väter, unverheiratete Paare, verheiratete Ehepaare mit Kindern oder mit unterschiedlich zusammengesetzten Familienmitgliedern (Patchworkfamilien), Paare ohne Kinder, auch Karrierefamilien genannt. Außerdem tritt bei unehelichen Kindern an die Stelle eines fürsorgenden und zahlenden Vaters der Staat und ermutigt so zu einer neuen Mutter-Kinder35

Vgl. Bolz, Norbert, Die Helden der Familie, München 2006, S. 18.

5. Der Bedeutungsverlust von Ehe und Familie

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Verbindung, die dem neuen sozialen Familienbegriff entsprechen soll. Die Gemeinschaft oder der Sozialstaat ersetzt den Vater und lässt die Mutter bewusst auf den Vater verzichten36. Nichteheliche Lebensgemeinschaften, die zahlenmäßig in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen sind, zielen auf eine individuelle Vertragsfreiheit, in der jeder das gleiche Recht besitzt. Aber kann in einer Gesellschaft wirklich ein solches Privatverhältnis die Grundlage zur Zeugung und Erziehung von Kindern bilden dürfen? Hier ist die Gesellschaft letztlich selbst gefragt, wie sie die nachwachsende Generation absichern will. Sicher kann auch eine nichteheliche Lebensgemeinschaft den Kindern Liebe und Geborgenheit bieten. Darum muss die Gesellschaft auch diesen Lebensformen Anerkennung und Schutz gewähren. Aber sie darf sich nicht auf eine Ebenbürtigkeit dieser Lebensformen mit der überlieferten humanen und christlichen Institution der Familie einlassen. Denn gerade im christlichen Glauben ist die Fürsorge für die Kinder ein bestimmendes Merkmal ihres Zusammenlebens. In der Familie werden die Fundamente der Gesellschaft gelegt. Diesen freiheitlichen Grund hat der Staat zu achten. Er hat in der Familie als dem genuinen Raum der Freiheit nichts zu suchen. Die mit der 1966 auf den Markt gekommenen Pille auftretende Freizügigkeit der Sexualität hat die Sexualität von der Ehe emanzipiert. Gleichzeitig mit dieser Emanzipation erfolgte auch die von der Familie. Dadurch wurde ebenfalls die Beziehung von Ehe und Elternschaft entkoppelt. In der Verknüpfung damit fand ebenfalls die Entkoppelung biologischer und sozialer Elternschaft statt37. Der biologische Vater kann so in die Abseitsposition gedrängt werden. Seit langem schon wusste man zwar, dass Sex nicht mit Liebe gleichzusetzen ist. Aber auch die Reproduktion hat nicht unbedingt etwas mit Sex zu tun. Die Verhütungspille hat den Menschen die fast sichere Gewissheit gebracht, dass sie Sex auch ohne die Absicht, Kinder zu bekommen, ausüben können. Nunmehr war die Möglichkeit gewährt, sex for fun zu leben! 5.1 Christliche Vorstellungen Im Alten Testament wird schon im 1. Buch Moses (Gen. 1,26 ff.) darauf verwiesen, dass die Familie aus dem Elternpaar und den Kindern besteht (Gen. 1,28), in der einer dem anderen treu ergeben ist (Mal. 21,14 f.), und in der die Kinder den Geboten ihrer Eltern zu folgen haben (Spr. 1,8 ff.). In der katholischen Soziallehre wird die Gemeinschaft der Eltern in der Familie durch die Kinder ergänzt. Die Familie ist nach ihrer Anschauung für Person und Gesellschaft von großer Bedeutung. Die Familie stellt die Keimzelle 36 37

Vgl. Bolz, Norbert, Die Helden der Familie, München 2006, S. 36. Vgl. Bolz, Norbert (2006), S. 87.

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

der Gesellschaft dar. Eine nach dem Maßstab der Familie gestaltete Gesellschaft gilt als „der beste Schutz gegen jegliche individualistische oder kollektivistische Verirrung, denn sie stellt immer die Person, und zwar nicht als Mittel, sondern als Zweck, ins Zentrum der Aufmerksamkeit“38. Aber die katholische Kirche hat sich erst im 19. Jahrhundert speziell der vom Liberalismus und Sozialismus bedrohten Familie angenommen. Sie verstand sich seit dieser Zeit als Anwalt der Familie, und ist es bis heute geblieben, obwohl ein allgemeiner Bedeutungsverlust von Ehe und Familie nicht zu verkennen ist39. Die Begründung für dieses Eigenrecht ist für die katholische Soziallehre das Subsidiaritätsprinzip40. Im Protestantismus existiert seit Martin Luther ebenfalls eine recht enge Verbindung zwischen Theologie und Familie. Die evangelische Theologie könnte zwar ebenfalls vom Grundprinzip der Subsidiarität aus denken, aber sie argumentiert im Geiste Luthers vom vierten Gebot aus, in dem die Familie als göttliche Ordnung vertreten wird. Dort heißt es: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden“. Luthers Erklärung hebt den Gedanken der engen Verbindung der Generationen besonders hervor. Denn es wird gefordert: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herrn nicht verachten und erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, ihnen gehorchen, sie lieb und wert haben“. Die Elternschaft wurde für die Reformatoren durchaus als ein Beruf angesehen. Diese Berufung Gottes wurde darum wie eine Berufung (vocatio) ins Kloster beurteilt. Vater und Mutter stehen nach Luther unter Gottes Gebot. Aber sie haben zugleich die Aufgaben, ihre Untertanen, ihr Gesinde und ihre Kinder zu ernähren, zu versorgen und sie zu Gottes Lob und Ehre aufzuziehen41. 5.2 Kinder als Wirtschaftsfaktor Im 19. Jahrhundert findet die Trennung von Arbeits- und Berufswelt statt. Gleichzeitig löst sich der private Bereich von der Arbeitswelt. Die Familie wird in die Privatsphäre eingebettet. Die Familie gehört zum Freiheitsbereich der Person. Dieser wiederum ist abhängig von der Gesellschaftsform. Das Familienbild wird ausgerichtet und ausgestaltet durch die jeweilige Gesellschaft. Das gibt selbstverständlich das Recht, über die unterschiedlichen Strukturen von einer autoritären bis zur gleichberechtigten Partnerschaft nachzudenken.

38 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg u. a. 2006, S. 169. 39 Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 88 ff. 40 s. oben Einleitung. 41 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 21952, S. 603.

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In dem überlieferten Familienbild erwartet der Einzelne, dass sich die übrigen Mitlieder der Familie dafür interessieren, was das einzelne Mitglied bewegt und beschäftigt. Der Mensch sehnt sich in der Familie nach Aufmerksamkeit. Er möchte vom anderen gesucht und/oder benötigt werden. Jedenfalls strebt er danach, in irgendeiner Weise gebraucht zu werden. Er darf erwarten, dass sich die anderen Glieder der Familie dafür interessieren, was ihn, das einzelne Glied im Familienverband, betrifft. Nur hier in der Familie wird er „als ganze Person integriert“42. Heute aber stellt sich die Frage, ob das christlich-bürgerliche Familienbild, das über Jahrhunderte hinweg in der Gesellschaft vorgeherrscht hat, nicht eine Umdeutung erfährt, oder ob nicht ein Niedergang der überlieferten Institution eingeleitet wird43. In den neuen Verbindungen kann der Schutz des Lebens und die Würde des Menschen gelebt und gewahrt werden. Aber ob die neuen Formen des Familienbildes dem christlichen Denken entsprechen, ist zu bezweifeln. In der gegenwärtigen Debatte in Deutschland spielen die Kinder besonders als Wirtschaftsfaktor eine Rolle. Sie sind zu Garanten für die Rentenleistungen der Zukunft geworden. Darum strebt man nicht einfach nach Kinderfreundlichkeit in der Gesellschaft, sondern nach der Erhaltung des Rentensystems. Das liefert die Grundlage für die Forderung nach Mehr Kinder! Kinder sind als Wirtschaftsfaktor erwünscht und gelten nicht so sehr als eine Gabe oder Bereicherung oder gar als Geschenk. Dass eine solche Weichenstellung die Motivation zu einer Mehrkinderfamilie hervorbringt, dürfte unrealistisch sein. Wer die Geburtenrate erhöhen will, müsste seine Einstellung zu Kindern neu gestalten. Möglicherweise ist nicht die Kinderlosigkeit das Problem, das zu der demographischen schwierigen Situation in Deutschland führt, sondern eher die geringe Zahl von Mehrkinderfamilien, wie der 7. Familienbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2007 betont. In ihm wird festgestellt, dass in Deutschland Familien in einem so genannten „Achterbahneffekt“ leben44. Dieser besagt, dass zu Beginn der Elternzeit das Familieneinkommen noch hoch ist. Dann aber geht es mit dem Bezug des nicht an das vorherige Einkommen gekoppelten Erziehungsgeldes stark zurück. In Deutschland werden im Gegensatz etwa zu Frankreich mit dem Kindergeld bis zum 27. Lebensjahr die Familien belohnt, in denen die Kinder in der ökonomischen Abhängigkeit der Eltern bleiben, während in Frankreich Kinder 42

Bolz, Norbert (2006), S. 58. s. oben 1. Kapitel, 5. 44 Im 7. Familienbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2007, S. 8. 43

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

Anspruch auf Geld aus der Familienkasse erhalten, wenn sie in einer eigenen Wohnung eine Familie gründen. Der im Grundgesetz Artikel 6 (Abs. 1) festgelegte Schutz von Ehe und Familie durch den Staat hat auch eine steuerrechtliche Komponente: Das 1958 eingeführte Ehegattensplitting hatte zum Ziel, dass das Einkommen der beiden Eheleute zusammengerechnet, durch zwei geteilt und erst dann besteuert wird. Mit dem Ehegattensplitting sollte zum einen die Unterhaltsgemeinschaft der Eheleute gewürdigt und gefördert werden. Zum anderen sollte gleichzeitig die Erziehungsleistung des Elterteils, der die Erziehung der Kinder übernimmt und kein oder nur eine geringes Einkommen erzielt, durch einen steuerlichen Vorteil belohnt werden. Vielfach stoßen sich heute viele Feministinnen und andere Gruppen an dieser, wie sie es nennen, „Zu-Hause-bleib-Prämie“. Diese würden Frauen von der wirtschaftlichen Produktion fernhalten. Darum versucht man, diesem Ehegattensplitting ein Familiensplitting entgegenzustellen. Nicht die Ehen, sondern die Familien sollen steuerlich entlastet werden. Mit Hilfe eines sozialen Familienbegriffs soll eine steuerliche Entlastung erreicht werden. Andererseits glaubt man, mit Hilfe einer solchen Festlegung bevölkerungs-politisch wirksam werden zu können. Nicht die Frauenemanzipation steht hierbei Pate, sondern der Wunsch nach einem Familienlastenausgleich. Denn im Gegensatz zum Familiensplitting ist das Ehegattensplitting bevölkerungspolitisch neutral. Man möchte zur Förderung der Familie entweder – im Fall A – das Gesamteinkommen der Familie nicht nur durch zwei, sondern durch die Gesamtzahl der erwachsenen und der noch minderjährigen Mitglieder der Familie teilen. Oder aber man geht – wie im Fall B – davon aus, dass auch Alleinerziehenden mit Kindern das Splitting zugute kommt. Damit würde nicht mehr die Ehe die Bedingung für die Vergünstigung sein, sondern allein das Vorhandensein von Kindern. Das Familiensplitting könnte dann auch den gleichgeschlechtlichen Ehepaaren gewährt werden. Allerdings wird damit in Deutschland gegen die verfassungsrechtlich gebotene Förderung der Ehe verstoßen. Auch politisch findet im Familiensplitting eine Aufweichung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe statt. Ob ein Ausweg in einer zum Ehegattensplitting zusätzlichen Einführung eines – wie auch immer gearteten – Familien-Splitting gegeben sein könnte, mag bezweifelt werden; denn auch dieses würde wahrscheinlich langfristig das Ehegattensplitting aushebeln. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Staat bei einer entsprechenden Ausstattung des Familiensplittings nicht Sozialpolitik betreibt, sondern Bevölkerungspolitik. Allerdings würden in einem solchen Fall die steuerlichen Einnahmen aus der Einkommensteuer sinken, denn das Gesamteinkommen der Familie wird dann niedriger besteuert.

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Will man jedoch damit die demographische Entwicklung verändern, bleibt die Frage nach der Wirksamkeit des Familiensplittings. Diese Entwicklung ist sicher keineswegs kurzfristig zu erlangen. In Deutschland wird man nach dem 7. Familienbericht neu zu überdenken haben, in wieweit man den drei Elementen der Familienpolitik Rechnung trägt. Denn: 1. Die Gleichstellungspolitik muss zukünftig von einem neuen klar definierten Rollenbild der Geschlechter ausgehen. 2. Die Zeitpolitik sollte regeln, wie Vater und Mutter in unterschiedlicher Weise und Zeiteinteilung an der Kindererziehung beteiligt werden können. 3. In der Infrastrukturplanung müsste stärker als bisher die unterschiedliche Lebensverlaufsplanung von Beruf und Familiengründung Berücksichtigung finden. Diejenigen Elternteile, die sich bewusst entschieden haben, allein erziehende Väter oder Mütter zu bleiben, stellen den überlieferten Familienbegriff letztlich in Frage. Aber die Tendenz geht in die Richtung eines egoistisch geprägten Individualismus. Denn die Idee einer solchen Familiengründung und Partnerschaft, in der man sein individuelles Glück sucht, ist weit verbreitet. Dieser Individualismus führt nicht zur Auflösung der Partnerschaft, sondern eher zu einer Fixierung einer Zweier-Bindung, in der man sich selbst verwirklichen kann. Dennoch wird man davon ausgehen müssen, dass sich ein gewisser Bedeutungsverlust von Familie und Ehe einschleicht bzw. bereits eingeschlichen hat45. Mit der sexuellen Freizügigkeit wurde, wie bereits gezeigt, das Zusammenleben von Männern und Frauen verändert und auf eine neue Grundlage gestellt. Aber letztlich wurde dadurch ebenfalls der Familienbegriff verändert. Denn in der anderen Form von Lebensgemeinschaft, die zugespitzt lautet: Die Gemeinschaft von Erwachsenen mit Kindern wird als Familie definiert, ist zwar nicht eine Gegnerschaft zur Familie oder Ehe zu erkennen. Aber sie stellt eine völlig andere Form des lebenslangen Zusammenlebens dar. Die neue Form will sicherlich den Familien- und Ehebegriff ergänzen, aber sie möchte ihn wohl kaum verdrängen. Darum wird man mit Recht die Behauptung aufstellen können, dass diese Vielfalt von Formen letztlich einen Abschied von dem christlich-bürgerlichen Familienideal bedeutet. Inwieweit allerdings die Institution Familie in ihrer Vielfältigkeit erhalten bleiben kann, wird davon abhängen, wieweit die Gesell-

45 Anders: Nave-Herz, Rosemarie, Von einem Bedeutungsverlust von Ehe und Familie kann nicht die Rede sein, in: Hans-Günter Krüsselberg, Heinz Reichmann (Hrsg.), Zukunftsperspektive Familie und Wirtschaft, Grafschaft 2002, S. 379.

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schaft bereit ist, den unterschiedlichen familialen Formen Rechnung zu tragen. Zwar werden auch in Zukunft Eltern und Großeltern zur Organisation und Unterstützung der jüngeren Generation bei der Bewältigung der Aufzucht der Enkelkinder gebraucht. Ebenfalls wird bei der Erfüllung bestimmter Konsumwünsche vielfach auf ihre Hilfsangebote zurückgegriffen. Aber reicht das aus, um von einem Fortbestand des Familienideals zu sprechen? 5.3 Produktion oder Reproduktion In der Agrargesellschaft, in der es noch keine sozialen Sicherungssysteme gab, war die Familie, speziell die Großfamilie, der Garant für die Sicherheit im Alter. Die Großfamilie bildete die Solidargemeinschaft für die Deckung des täglichen Bedarfs und die Notfälle des Lebens, wie Krankheit, Invalidität, Alter, Pflege und Sterben. Das war auf dem Lande sehr viel stärker ausgeprägt als in den Städten, wo es solche Großfamilien viel weniger gab. In den Familien der Agrargesellschaften herrschte Solidarität unter den Generationen. In den städtischen Kleinfamilien der Industriegesellschaften, die die Großfamilien in einem lang andauernden aber stetigen Prozess ablösten, verschwand notwendiger Weise die Solidarität. Die Absicherungen für Notfälle wurde – mindestens seit Bismarck – von der Gesellschaft übernommen. Die nachwachsende Generation konnte in der Kleinfamilie den solidarischen Dienst nicht mehr leisten. Gerade das ist auch in den neuen familialen Formen nicht möglich. Dennoch meinen viele Menschen, dass die in die gesetzlichen Kassen eingezahlten Beiträge bzw. Sozialabgaben ihnen ihre Rente sichern werden. Aber sie vergessen, dass es nur dann dazu kommt, wenn es auch in der Zukunft genügend Menschen gibt, die in der Lage sind, den Wirtschaftsprozess in Gang zu halten und die erwirtschafteten Güter mit anderen Menschen, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten können, zu teilen. Heute geht es noch um andere Fragen. Junge Frauen müssen vielfach die Entscheidung treffen, ob sie ihrem Wunsch nach einer Mutterrolle nachkommen oder einen ihrer Ausbildung und ihrem Wunsch entsprechenden Beruf ergreifen wollen. Damit ist letztlich die Alternative gegeben: Kinder oder Beruf, Reproduktion oder Karriere? Allgemein ausgedrückt ließe sich der Gegensatz formulieren: Profit oder Nachkommenschaft. Die Produktion nimmt hier die profitablere Seite ein, während die Reproduktion die kostspieligere darstellt. Die Folge ist dann oft: Je produktiver die einzelne Frau in der Gesellschaft ist, umso weniger reproduktiv wird sie sich verhalten. Die Emanzipation der Frau und die Möglichkeit ihrer beruflichen Selbstverwirklichung innerhalb der Gesellschaft ist also schlechthin der Grund dafür, sich weniger um die Mutterschaft zu kümmern. In den letzten fünfzig Jahren hat sich zwischen den Mädchen und Jungen geradezu ein Gleichstand in der schulischen Ausbildung und in den Abschlüs-

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sen der Hochschule ergeben. Das hat seine Folgen. Wer eine mehr oder weniger lange Ausbildungszeit hinter sich gebracht hat, möchte natürlich den erlernten Beruf auch ausüben, wenigstens eine gewisse Zeit lang. Damit steigt das Alter der Erstgebärenden. Und das geht zu Lasten des biologischen Fensters, in dem die Geburt und Erziehung von Kindern möglich wird. Junge Männer streben in ihrer Mehrheit keineswegs nach einer familiären Bindung und damit nach der Gründung einer Partnerschaft mit Kindern. Vielmehr wollen besonders die beruflich hoch qualifizierten Männer nach einer profunden beruflichen Ausbildung, die allerdings Zeit kostet und die dann für die Gründung einer Familie nicht zur Verfügung steht, ihre berufliche Entwicklung voranbringen. Ähnlich sieht es bei den jungen Frauen aus, wenn sie sich für eine berufliche Karriere entscheiden. Allerdings ist die Ausbildung und die Berufstätigkeit der Frau nicht nur ein Grundrecht und eine der Grundlagen zur beruflichen Selbstverwirklichung, sondern auch die Voraussetzung für eine Absicherung des Alters. Sollte im Laufe des Lebens die eingegangene Partnerschaft zerbrechen, stellt die berufliche Tätigkeit einen Schutz gegen die Altersarmut dar. Darum dürfte es für die Familienpolitik des Staates zwingend geboten sein, den Müttern nach ihrer familienbezogenen Tätigkeit entsprechende Hilfestellungen oder Anreize zu gewähren, ihren früheren Beruf wieder auszuüben oder eine alternative Tätigkeit zu ergreifen. Schließlich stellt makroökonomisch die Erwerbsarbeit der Frau ein für die Volkswirtschaft starkes Arbeitskräftepotential dar, das bei der anstehenden demographischen Entwicklung für die deutsche Volkswirtschaft von Bedeutung sein kann. Die Familienpolitik sollte darum nicht einfach in einer monetär-ökonomischen oder steuerpolitischen Begünstigung der Familien stecken bleiben! Freilich darf man die Entscheidung gegen die Familie und damit gegen die Reproduktion nicht allein von den ökonomischen Faktoren abhängig machen. Hier spielen zusätzlich gesellschaftliche Faktoren eine Rolle, die den Wert der Familie insgesamt infrage gestellt haben. Dazu gehören das Karrierebewusstsein des Mannes und ebenso der Wunsch nach einer Selbstverwirklichung der Frau im Beruf. Die Familie ist für die Frau eben nicht mehr die für alle Zeiten den Menschen zur Verfügung gestellte Ordnung, in der sie sich allein verwirklichen kann! Die Familie wird, wie oben bereits erörtert, durch eine andere Zusammensetzung von Elternteilen und Kindern neu definiert. Das allgemeine Streben der Frau nach einem erfüllten Leben richtet sich in der Gegenwart vor allem auf den Beruf und nicht unbedingt auf die Familie. Aber weder die Auswirkungen auf die Sicherheit im Alter und damit auf die Renten noch die Erkenntnis, dass die Kinder letztlich der Garant für die wirtschaftliche Entwicklung oder des kulturellen Erbes sind, wird gesehen und anerkannt. Die Pille rief die entscheidende demographische Veränderung hervor und wurde als Wundermittel gepriesen, die Frauen von einem Zwang zum Gebären

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zu befreien. Aber die damit auftretenden Folgen wurden von vielen Menschen in der Gesellschaft nicht erkannt. Hinzu kam in der Gesellschaft eine neue Einstellung gegenüber den Schwangerschaftsabbrüchen, die zu großen Erleichterungen führte. Bis heute geht – mindestens in einigen Gesellschaftskreisen – die Debatte darüber weiter, ob wirklich alles getan wird, um die hohe Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen zu verhindern. Warum wird nicht den Eltern mehr Mut zu Kindern gemacht, ohne gleich und hauptsächlich an eine Konsolidierung der Sozialversicherungssysteme zu denken? Mit der abnehmenden Wertschätzung der Mutterschaft in der Gesellschaft und der gleichzeitigen Anerkennung der beruflichen Entwicklung der Frau hat sich eine andere zusätzliche Veränderung eingestellt. Da die Reproduktion nicht mehr gefragt wurde, hat sich auch in der Gesellschaft die Einstellung zur Homosexualität verändert. Die Emanzipation der Frau und damit die Feminisierung der Gesellschaft führen gleichsam als ein doppelter Weg zu einer Homosexualisierung in der Gesellschaft. Außerdem hat sich eine seltsame Gleichung eingestellt: Je erfolgreicher man in der ökonomischen Gesellschaft wird, umso mehr gewinnt Homosexualität an Wert. Man wird ferner die Frage stellen müssen, ob der nachhaltige Geburtenrückgang in der Gegenwart beim Alterungsprozess der Bevölkerung auch eine Veränderung in der Verhaltensweise der Politik bedingt. Bisher haben nämlich Staat und Gesellschaft noch unzureichend auf diese Entwicklung reagiert. Aber es muss ein Erziehungsprozess einsetzen, der die Solidarität unter den Generationen fördert und das Bewusstsein für einander schärft. Denn in Deutschland hat sich die Lebenserwartung von 1960 bis 1990 bei den Männern um gut fünf, bei den Frauen um sechseinhalb Jahre erhöht46. Schließlich hat auch die geringere Kinderzahl auf die Betreuung der älter werdenden Menschen einen Einfluss. Es gilt, zwischen den Generationen so zu vermitteln, dass auch die jüngere Generation gegenüber der älteren in Verantwortung tritt, um ihr ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Hier ist die Unterstützung der Dienstfunktion der Jüngeren gegenüber den Älteren gefordert. Dazu gehören selbstverständlich auch entsprechende Rentenbeiträge. Für die Sozialethik der beiden Großkirchen muss als Grundeinstellung maßgeblich bleiben, dass allein die Familie den Auftrag zur Zeugung und Aufzucht der Nachkommenschaft besitzt. Staat und Gesellschaft sollten keine Eingriffsmöglichkeiten haben, es sei denn, die Nachkommenschaft erleidet Schaden. Grundsätzlich aber bleibt auch für Kirchen als Faktum bestehen, dass die in der heutigen Gesellschaft vorhandenen Vorstellungen von Ehe und Familie einem Wandel unterworfen sind. Die neuen Lebensformen zwischen Mann und Frau 46 Vgl. Meyer, Thomas, Das Ende der Familie – Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen II, Opladen 2002, S. 200.

5. Der Bedeutungsverlust von Ehe und Familie

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und ihre gesellschaftliche Bejahung sind zwar bei den Kirchen im Wesentlichen auf Ablehnung gestoßen. Um aber auch ihnen in gewisser Weise gerecht zu werden, hat man für alle Formen menschlichen Zusammenlebens – also auch für Ehe und Familie – das Kriterium der „Lebensdienlichkeit“47 entdeckt. Durch sie soll die Weitergabe, Entfaltung und Bewahrung menschlichen Lebens gewährleistet werden48. Jede solcher Formen, die dem Leben dienen, werden als förderlich angesehen. Man glaubt, so dem Verfall von Ehe und Familie auch in der Kirche aufhalten zu können. Selbstverständlich kann mit diesem Ausdruck zwar jede gesellschaftliche neue Lebensform beschrieben werden, die von Staat und Gesellschaft akzeptiert wird. Aber für die Christen dürfte sie keinen Ersatz für Ehe und Familie darstellen. Alle diese Formen können zerbrechen wie andere Lebensformen auch. Das macht nicht ihren Unterschied aus. In Ehe und Familie aber drückt sich Gottes eigener Wille aus. Zwischen den allgemeinen Lebensformen und den überlieferten christlichen Gebots-Institutionen bleiben die qualitativen Unterschiede bestehen. Die Politik muss sich in ihrem Familienverständnis nach den ökonomischen Notwendigkeiten richten und viel Verständnis für den Schutz und Einfühlungsvermögen zugunsten der Familien aufbringen. Sie wird aber auch den allein erziehenden Eltern, insbesondere den Müttern, langfristig besondere Hilfestellungen bei der Vereinigung von Beruf und Kindererziehung leisten. 5.4 Arbeitswelt und Familienleben Die Erziehung von Kindern ist kein Feierabendjob, den man nebenbei verrichten kann. Er ist ein genuiner Beruf. Die Bedeutung für die Erziehung von Kindern durch die Mütter haben die Verhaltens- und die Entwicklungspsychologie immer wieder hervorgehoben. Dadurch wird die Sozialkompetenz der Kinder besonders gefördert. Freilich ist diese Entwicklung keineswegs zwingend daran gebunden; aber sie ist doch für die Reifung der Persönlichkeit ungemein hilfreich. In der heutigen Arbeitswelt ist allerdings nur sehr schwer ein reibungsloses Miteinander zwischen der Arbeitswelt und dem Familienleben zu praktizieren. Je mehr man sich in seinem Beruf einsetzt, umso weniger Zeit hat man für die Familie zur Verfügung. Die für die Berufausübung beider Elternteile aufgewandte Zeit geht zu Lasten der Familie. Immer besteht die Gefahr, dass man 47 Theologische Kammer der Ev. Kirche von Kuhessen-Waldeck aus dem Jahr 1997, These 7. Vgl. Hein, Martin, Was dem Leben dient: Familie – Ehe – andere Lebensformen, in: Hans-Günter Krüsselberg, Heinz Reichmann (2002), S. 368, 375. 48 Vgl. Hein, Martin, Was dem Leben dient: Familie – Ehe – andere Lebensformen, in: Hans-Günter Krüsselberg, Heinz Reichmann (2002), S. 368.

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1. Kap.: Die sozialpolitische Herausforderung

sich entweder von seiner Arbeit oder von seiner Familie auffressen lässt. Wer sich besonders der Karriere verpflichtet glaubt, wird die Familie vernachlässigen. In der Arbeitswelt gilt die Erfahrung: „Je wichtiger die Arbeit, desto weniger kann sie Teilzeitarbeit sein. Deshalb kann man gerade bei Erfolgreichen keinerlei Neigung zu langem Urlaub, Arbeitszeitverkürzung oder Familienauszeit erkennen“49. Wer im Beruf vorankommen und ganz vorn sein will, lässt sich von seinem Beruf auffressen, oder man arbeitet in untergeordneter Position, kann leichter abschalten, verdient aber dementsprechend auch erheblich weniger. Eine ähnliche Einstellung zum Alles oder Nichts zeigt sich auch im Verhältnis zur Familie. Entweder man gehört innerlich dem Beruf oder der Familie. Aber dabei muss bedacht werden: Der Arbeitsplatz im Unternehmen, Betrieb oder Büro ist meistens der angenehmere gegenüber dem in der Familie. Die berufliche Arbeit ist überschaubarer als der familiäre Platz. Denn hier am Arbeitsplatz ist man kompetent, man wird gefragt und man hat was zu sagen. In der Familie dagegen muss man sich unbequemen Fragen zu stellen und sich der allgemeinen Ordnung anpassen. Oftmals hat man es also mit der Umkehrung der traditionellen Verhältnisse von Arbeitswelt und Familienleben zu tun! Daraus erklärt sich auch das Gefühl, es zu Hause mit einer mehr oder weniger „entfremdeten“ Arbeit zu tun zu haben, während man sich im Arbeitsalltag viel mehr zu Hause und aufgenommen fühlt.

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Bolz, Norbert (2006), S. 64.

2. Kapitel

Neue Ökonomische Strukturen Im November 2005 – zwei Monate nach der Wahl eines neuen Bundestages und fünfzehn Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten – hatten in Deutschland nach einer Umfrage im Auftrage des Bundesverbandes deutscher Banken gerade einmal 6 Prozent den Zustand der deutschen Gesellschaft als noch „in Ordnung“ befunden. Die Deutschen zeigten sich in ihrer politischen Meinung hin- und her gerissen. Immerhin war die Mehrheit der Bundesbürger noch der Meinung, die Soziale Marktwirtschaft habe sich bewährt. Allerdings lag Ende der Neunzigerjahre das Vertrauen in dieses Wirtschaftssystem noch bei siebzig Prozent.

1. Die Marktwirtschaft Ohne Wirtschaft kann sich kein gemeinsames Leben zwischen den Menschen vollziehen. Ein wirtschaftlicher Austausch ist für einen allgemeinen Wohlstand der Menschen vonnöten. Wirtschaften bedeutet, die Knappheit der Güter zu verwalten oder noch genauer, die knappen Ressourcen an die Orte zu lenken, an denen sie am effizientesten verwendet werden. Die Marktwirtschaft ist das Koordinationsinstrument, dieses Effizienzziel zu erreichen. Eindrucksvoll hatte Max Weber die These vertreten, dass der moderne Kapitalismus sich dort am wirksamsten entfalten kann, wo der „Geist des asketischen Protestantismus“ herrscht1. Man glaubte, daraus regionale und sozioökonomische Unterschiede in Europa ableiten zu können. Diese Erklärung wurde bereits zu Beginn der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bestritten2. Zwar hatte der „unverbesserliche republikanische Geist“ des Calvinismus, der im Gegensatz zur Innerlichkeit des Luthertums stand, eine sauerteigähnliche Wirkung in der abendländischen Welt abgegeben, der zu einer allgemeinen Entwicklung des Westens führte, in der freilich der Kapitalismus nur ein Teil des modernen Denkens ist3. Aber es war wohl nicht die Religion, die den Calvinismus zum Sauerteig der abendländischen Ökonomie werden ließ. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51972, S. 378. Vgl. Lüthy, Herbert, Nochmals: „Calvinismus und Kapitalismus“, in: Rudolf Braun u. a., Gesellschaft in der industriellen Revolution, Köln 1973, S. 18 ff. 3 Vgl. Lüthy, Herbert (1973), S. 32. 1 2

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

Max Weber hat vielmehr abgehoben auf die auf Aristoteles fußende und in der Scholastik bekannte Unterscheidung zwischen einer gottgewollten Naturalwirtschaft, einer gutsherrlichen Haushaltswirtschaft, die bei Aristoteles die „Ökonomie schlechthin“ ist, und einer Geld- und Erwerbswirtschaft, die Chrematistik, die eine Tausch- und Marktwirtschaft darstellte4. Letztlich steht das Wort Kapitalismus für diese Chrematistik. Die Scholastik hat stets an der Naturalwirtschaft als der gottgewollten Wirtschaftsordnung festgehalten, während die Tausch- und Marktwirtschaft abgelehnt wurde. Der Unterschied zwischen den katholischen und protestantischen Ländern bestand nicht darin, dass in den katholischen Ländern zinsfrei Kapital verliehen werden musste, während es in den protestantischen Gegenden mit Zinsen verliehen wurde. Vielmehr war in den protestantischen Ländern der Zins ein öffentlich anerkannter und geregelter Faktor des wirtschaftlichen Wachstums. Calvin etwa hat in Genf den Wucher abgeschafft, indem er „die klare Unterscheidung zwischen dem Zins für produktiv angelegtes Kapital und dem fremde Not ausbeutenden parasitären Wucher vollzog“, der für den notwendigen Konsum gewährt wurde. Den Zins für Produktivkapital bettete er in ein strenges Reglement, den ausbeuterischen Wucherzins verbot er und stellte ihn unter Verfolgung5. In den katholischen Ländern war dagegen der verlangte Wucherzins für Kapitaldarlehen ein Haupthindernis für den Aufschwung6. Es gab weitere Modelle für wirtschaftliche Entwicklungen, die sich nicht auf einen Konsens in religiösen Strömungen berufen konnten, sondern aus eigener Kraft im ökonomischen Konzept der Weltmächte mitspielten. Für Marx wird die Gesellschaft durch den Klassengegensatz von Kapital und Arbeit gekennzeichnet. Auf der einen Seite stehen die Kapitalbesitzer, auf der anderen diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen7. Die Arbeitnehmer werden durch die Arbeitgeber ausgebeutet. Das ist der Gewinn für den Kapitalisten. Unter Kapital versteht Marx wie die englischen Klassiker die Produktionsmittel, also Maschinen, Werkzeuge Rohstoffe und Gebäude. Dazu kommt noch das variable Kapital, also die Geldsumme, mit denen die Arbeiter bezahlt werden. „Weil der Kapitalbesitzer nicht mehr selbst auch Arbeiter ist, muss er, um sein Kapital zu verwerten, die Arbeit auf dem Markt kaufen. Dadurch wird die Ar-

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Lüthy, Herbert (1973), S. 34. Lüthy, Herbert (1973), S. 35. 6 Vgl. Lüthy, Herbert (1973), S. 34 f. 7 Vgl. Marx, Karl, Das Kapital Bd. 1, Frankfurt/M., Berlin, Wien 31971, S. 385: „Der Kampf zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter beginnt mit dem Kapitalverhältnis selbst. Er tobt während der ganzen Manufakturperiode. Aber erst seit der Einführung der Maschinerie bekämpft der Arbeiter das Arbeitsmittel selbst, die materielle Existenzweise des Kapitals“. Vgl. auch S. 263. 5

1. Die Marktwirtschaft

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beit zur Ware, und der Kapitalist bezahlt für die Ware Arbeit, genauso wie für jede andere Ware, nicht den Nutzwert, sondern den Tauschwert“8. Nach Marx ist das System des Kapitalismus’ letztlich nur ein Übergangssystem zum Sozialismus. Aber dieser Prozess ist bisher nie geglückt. Durch das Grundvermögen und den Besitz von Produktionsgütern sind die Kapitalbesitzer im Vorteil und können sich über Zinsleistungen mit weiterem Produktionsvermögen versorgen. Die arbeitende Bevölkerung muss sich mit dem Teil des Produktionsergebnisses zufrieden geben, der sich aus ihrer Arbeitsleistung herleiten lässt. Die Gefahr, dass dadurch eine unterschiedliche Entwicklung einsetzt, in der die eine Seite der Bevölkerung immer reicher und andere Teile immer ärmer werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Marktwirtschaft steht nicht nur im Gegensatz zum Sozialismus, sondern auch zum Kapitalismus. Dieser ist nämlich ein Wirtschaftssystem, in dem zwar der Privat-Kapitalbesitz vorherrscht und Arbeit und Kapital getrennt sind. Aber die Kapitaleinkünfte rangieren vor allen anderen Einkunftsarten, besonders vor den Arbeitseinkünften. Heute vollzieht sich dieser Ansatz im globalen Bereich zwischen den Kontinenten. Die Auseinandersetzung zwischen den Systemen einer zentralgelenkten kommunistischen und einer marktwirtschaftlich-dezentralen Wirtschaftsordnung, wie sie für die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts maßgeblich war, scheint in weiten Bereichen dieser Welt überholt zu sein. Im Gegensatz zur zentralen planwirtschaftlichen Entscheidung, bei der die Instanzen der Partei und des Staates über die Produktionsfaktoren und die Erzeugung und Verteilung von Sachgütern und Dienstleistungen zu entscheiden haben, werden in der Marktwirtschaft die Entscheidungen dezentral und autonom von den einzelnen Wirtschaftssubjekten getroffen. Danach findet die Koordination der individuellen Wirtschaftspläne für die Bereiche Konsum, Produktion und Investition auf den jeweiligen Märkten statt. Bei freiem Wettbewerb erfolgt der Ausgleich zwischen den Interessen auf dem Markt und damit durch Angebot und Nachfrage. Dieser Ausgleich findet dann über den Preis statt. Die Preise bilden als Tauschwert das Steuerungselement für die Verteilung von Sachgütern, Leistungen und Rententiteln. Aufgrund des Marktgeschehens verfügen die Wirtschaftssubjekte sowohl über die Kenntnisse hinsichtlich der Ziele, die andere Beteiligte am Marktprozess besitzen, als auch über die vorhandene Knappheit der Produktionsfaktoren. Motor für das unternehmerische Handeln ist die Gewinnerzielung, die auf der Basis von Erzeugung und Absatz der Güter und Dienstleistungen geschieht. 8 Ehrlich, Eugen, Karl Marx und die soziale Frage, Berlin 2006, Sonderdruck S. 10. Vgl. Manfred Rehbinder (Hrsg.), Ehrlich Paul, Politische Schriften II, Zur Sozialpolitik, Berlin 2007.

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

In der Gegenwart ist in Deutschland das Wettbewerbsprinzip keineswegs in der Bevölkerung unumstritten. Die Mehrheit der Menschen ist zwar der Meinung, dass der Wettbewerb gut sei und die Unternehmen zu immer besseren Leistungen zwinge. Aber eine nicht gerade kleine Minderheit hält den Wettbewerb für unmenschlich und möchte ihn eingeschränkt wissen. Das zur Marktwirtschaft gehörende Wettbewerbsprinzip dient dem Gesamtnutzen. Die Einzelinteressen werden dadurch auf die volkswirtschaftlichen Leistungen ausgerichtet, und ein etwaiges Streben nach wirtschaftlichen Machtpositionen wird durch entsprechende Konkurrenz bedroht9. Die Marktwirtschaft ist gekennzeichnet durch eine realistische Aufteilung wirtschaftlicher Macht. Zwar fehlt ihr ein einflussreiches Ordnungsprinzip wie in einer zentralgelenkten Wirtschaft. Aber man kann bei ihr nicht von einem Fehlen jedweder Ordnungsprinzipien sprechen. Vielmehr wird die Marktwirtschaft über eine Rahmenordnung gelenkt. Rahmenbedingungen sind notwendig, um die Ordnungen einzuhalten und einen Missbrauch an Freiheit zu begrenzen. Sie verfügt über ein Preis- und Wertesystem und damit nach Müller-Armack über einen Signalapparat, der ihr die Veränderung der Produktionsfaktoren anzeigt. Heute geht es in der Marktwirtschaft, die allerdings oft populärwissenschaftlich mit dem Kapitalismus verwechselt wird, selbstverständlich in erster Linie um eine Entlohnung der Produktionsfaktoren. Zwar arbeiten immer weniger Menschen allein für Geld, aber sie möchten doch immerhin ein hinreichendes Auskommen erhalten. Die Arbeit soll zwar ein regelmäßiges Einkommen schaffen, aber vor allem und zusätzlich eine Verwirklichung des eigenen Selbst, soziale Sicherheit, sozialen Aufstieg, soziale Anerkennung und anderes mehr, wozu ebenfalls Kreditwürdigkeit oder Sicherheit für die Familie gehört. Aber von einer Ausbeutung der Arbeitnehmer kann man aufgrund einer immer größer werdenden Anzahl von Aktienbesitz bei den abhängig Beschäftigten, der Einführung von Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall und auf Grund eines weit reichenden Kündigungsschutzes, nicht sprechen10. Außerdem existieren viele Klein- und Mittelstandsbetriebe, in denen die Eigentümer zum Teil mehr arbeiten als die Lohnabhängigen. Trotz einer Reglementierung des wirtschaftlichen Handelns ist es Aufgabe des Staates, in der Wirtschaft, durch die angesprochene notwendige Rahmenordnung den Handlungsspielraum für Unternehmen und Konsumenten zu sichern. Nur so kann eine demokratische Gesellschaft am Markt existieren und im Konkurrenzkampf überleben. Diese ist vor falschen Zielsetzungen zu schüt9 Vgl. Müller-Armack, Alfred, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern und Stuttgart 21981, S. 91 f. 10 Vgl. Schulze, Gerhard, Die beste aller Welten, Frankfurt/M. 2004, S. 109.

1. Die Marktwirtschaft

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zen, und sie darf sich nicht gegen die Menschen und ihre Zielsetzungen verkehren. Denn die Würde des Menschen muss bewahrt und darf nicht angetastet werden. Der Markt kann nicht alles richten. Sicher ist der Markt die beste Instanz, um zu einer gerechten Verteilung der Güter zu kommen. Aber es gibt Güter, die weder gekauft noch verkauft werden können und dürfen.

1.1 Die Soziale Marktwirtschaft Als eine besondere Ausprägung der Marktwirtschaft ist die Soziale Marktwirtschaft zu verstehen. Sie ist Ausdruck des Ordoliberalismus, der für ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem steht, das auf einer privatwirtschaftlich organisierten Marktwirtschaft gründet. Sie ist die deutsche Variante des Neoliberalismus. Der Ordoliberalismus fußt auf staatlichen Rahmenbedingungen, in denen die einzelnen Wirtschaftsakteure frei ihre Akzente setzen können. Die Ordnung (ordo) geht von einem möglichst freien Wettbewerb aus. Darum setzt sie auf die Regelung durch Kartellgesetze, die freilich den freien Wettbewerb nicht behindern dürfen, sondern gerade erst garantieren sollen. Die Gründungsväter des Ordoliberalismus u. a. Alfred Müller-Armack, Franz Böhm, Walter Eucken, Wilhelm Röpke sind zugleich die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft. Alle suchten nach einer Wirtschaftsordnung, in der sich Wettbewerb und sozialer Ausgleich ergänzten. Man versuchte, besonders dem sozialen Gedanken in der Marktwirtschaft Nachdruck zu verleihen. Alexander Rüstow, der seinerseits ebenfalls zu den Begründern des Ordoliberalismus gehörte, hat die theologischen Grundlagen erörtert. Alle Begründer der Sozialen Marktwirtschaft haben sich als Christen verstanden. Sie legten ihren Überlegungen das christliche Menschenbild zugrunde, das sein Zentrum in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und in seiner Kreatürlichkeit besitzt. Gewichtige Grundlage war die Gewährung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit. Dazu gehört freilich in ganz besonderer Weise die Verantwortung des einzelnen Menschen gegenüber dem nahen und fernen Nächsten. Schon sehr früh, nämlich 1959, also ein Jahrzehnt nach der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, setzte Müller-Armack die Soziale Marktwirtschaft vom neoliberalen Gedanken ab. Zwar ist die Soziale Marktwirtschaft aus der neoliberalen Strömung von Walter Eucken und Franz Böhm hervorgegangen. „Aber dieser Gedanke des Neoliberalismus, der im Wesentlichen von der Vorstellung einer als öffentliche Aufgabe begriffenen Wettbewerbsordnung ausgeht, füllt nicht das aus, was unter Sozialer Marktwirtschaft insgesamt zu verstehen ist. Während sich die neoliberale Theorie vor allem auf die Technik der Wettbewerbspolitik stützt, ist das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft ein umfassen-

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

der Stilgedanke, der nicht nur im Bereich des Wettbewerbs, sondern im gesamten Raum des gesellschaftlichen Lebens, in der Wirtschaftspolitik wie im Staate Anwendung findet“11. Während der Neoliberalismus stark technisch geprägt ist, lässt sich das von der Sozialen Marktwirtschaft nicht behaupten. Die Marktwirtschaft ist heute als Soziale Marktwirtschaft nur noch im Zusammenhang mit einer sozialen Verpflichtung zu sehen. Bereits in den Frühschriften Müller-Armacks ist zu erkennen, wie sehr der soziale Aspekt in die Marktwirtschaft eingearbeitet worden ist. In der Sozialen Marktwirtschaft war das Soziale nie ein Epitheton ornans für die Marktwirtschaft, sondern stellte den Versuch dar, freies wirtschaftliches Entscheiden und damit auch freien Wettbewerb mit sozialen Überlegungen, die als Voraussetzungen staatlicher und gesellschaftlicher Existenz anzusehen sind, zu verbinden12. Die Schreibweise der Sozialen Marktwirtschaft – einmal mit kleinem s und ein anderes Mal mit großem S – ist kaum davon abhängig, ob das Soziale und der Markt gleichberechtigt neben einander steht, oder ob man den Markt bereits in sich als sozial empfindet. Vielmehr wird das Soziale dann großgeschrieben, wenn man in ihm den zu schützenden und unterstützenden Menschen besondere Beachtung entgegenbringt13. Heute glaubt man in politischen und wissenschaftlichen Kreisen, dass die Soziale Marktwirtschaft aufgrund ihrer nationalen Solidarität an ihr Ende gekommen sei. Vor allem in Deutschland habe die solidarische Rentenversicherung, die einst eines ihrer Kernstücke gewesen sei, das Ende der Sozialen Marktwirtschaft eingeleitet. Aber gerade Müller-Armack hatte bereits den Umweltschutz in die Wirtschaftspolitik und etwa die Verkehrsplanung oder den Städtebau in den Begriff des Sozialen einbezogen! Weiter wird behauptet: Die nationale Orientierung sei im Zeitalter der Globalisierung vorbei. Solche Äußerungen dürften sich freilich nur auf den Ist-Zustand der Sozialen Marktwirtschaft beziehen und keineswegs auf ihre theoretische Basis. Diese ist zwar auch auf soziale Verpflichtungen ausgerichtet, aber ihrem Wesen entsprechend muss vielmehr ihre Orientierung auf die Ordnungs-, Konjunktur- und Finanzpolitik gesehen werden. Allerdings herrschen hier vielfach noch nationale Strukturen vor. So existierte immer schon die Notwendigkeit, nationale und internationale Verflechtung zu harmonisieren! Die Soziale Marktwirtschaft wird niemals ein fertiges System sein, das als ein für alle Zeiten gültiges Rezept angewandt werden kann. Sie ist vielmehr, wie Müller-Armack selbst formulierte, eine „evolutive Ordnung“, in der es im-

11 Müller-Armack, Alfred, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Bern u. Stuttgart 21976, S. 252. 12 Vgl. Müller-Armack, Alfred (21976), S. 254. 13 Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 100 Anm. 5.

1. Die Marktwirtschaft

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mer wieder nötig ist, neben einem festen Grundprinzip entsprechend den Wandlungen der Zeit auch immer wieder neue Akzente zu setzen14. Nach dem Wiederaufbau in Deutschland, der Sicherstellung der Grundversorgung mit Gütern, der Herstellung eines sozialen Schutzes, traten allmählich ganz allgemeine gesellschafts-politische Ziele in den Vordergrund. Diese umfassten etwa Bildungspolitik, Vermögensbildung, Umweltschutz, Siedlungs- und Städtebaupolitik und damit insgesamt die Verbesserung der Lebensqualität der Bürger15. Müller-Armack wollte in der Sozialen Marktwirtschaft zwei große Ziele verwirklicht sehen: Die Freiheit und die soziale Gerechtigkeit. Freilich ging es Müller-Armack zur damaligen Zeit vorrangig um die ökonomische Freiheit. Dieses Ziel war damals wie heute zu einer Forderung aller Bürger geworden, die „die erdrückende Last der in das alltägliche Leben eindringenden Bürokratie auf Schritt und Tritt verspüren“16. Freiheit ist freilich nur mit einem Wettbewerb der Leistung zu haben. Im Mittelpunkt der Sozialen Marktwirtschaft steht der Mensch mit seiner individuellen Freiheit und seinen sozialen Bindungen. Aber diese Freiheit wäre nur ein leerer Begriff, wenn sie nicht zugleich mit dem anderen Ziel der sozialen Gerechtigkeit verbunden wäre. Am Beginn des 21. Jahrhunderts wissen das die Menschen mindestens ebenso gut wie damals, als Müller-Armack das im Jahr 1948 formulierte. Diese Wirtschaftsordnung ruht auf der Basis einer sozialethischen Verantwortung. Selbstverständlich steht gleichzeitig hinter der auf eine Sicherung der Arbeitsplätze und eine Politik der Vollbeschäftigung gerichteten Konjunkturpolitik eine sozialethische Orientierung. Dieses System ist zwar aus einem evangelischen Verständnis heraus entwickelt worden. Aber auch von der katholischen Sozialordnung wird es akzeptiert17. Wie damals versuchen auch heute wieder viele Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspolitiker mittels Planung und Wirtschaftslenkung eine Ordnung einzurichten und so die soziale Gerechtigkeit durchzusetzen. Weitgehende Übereinstimmung besteht ebenso für Plan- wie für Marktwirtschaftler darin, eine ausreichende Güterversorgung, eine soziale Sicherheit und die Wahrung der Menschenwürde zu erreichen. Aber das Ziel wird eben bei der Planwirtschaft durch die Wirtschaftslenkung, in der Marktwirtschaft durch den Markt erreicht. Welches dieser beiden Systeme erfolgreicher ist, hat die Geschichte nachweislich aufgezeigt.

14 Müller-Armack, Alfred, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern, Stuttgart 1981, S. 15. 15 Vgl. Müller-Armack, Alfred (21981), S. 15. 16 Müller-Armack, Alfred (21981), S. 90. 17 Vgl. Müller-Armack, Alfred (21981), S. 17.

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

Freilich ist die Soziale Marktwirtschaft keineswegs nur eine reine Wettbewerbsordnung, sondern enthält bereits wesentliche Elemente sozialen Fortschritts. Sie richtet sich in ihrer gesellschaftlichen Zielsetzung auf „das Ganze der Gesellschaft“18. Das bedeutet, dass es jeweils zu einer umgreifenden gesellschaftlichen Zielsetzung kommen muss. Dort, wo die Soziale Marktwirtschaft verwirklicht wird, geht es immer um eine offene Gesellschaft. Da Eigentumspolitik nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in Zukunft immer wichtiger wird, spielt in der Gesellschaftspolitik die Einkommens- und Vermögensbildung eine besondere Rolle. Die in Deutschland in der Vergangenheit politisch gewollte Vermögensbildung hat nicht ausgereicht, den Menschen für sein Alter abzusichern. Es muss in Zukunft vieles noch geschehen, damit ein sozialer Ausgleich stattfinden kann, und der Arme nicht ärmer wird. In der Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft lassen sich vier Phasen unterscheiden19: 1. Die Soziale Marktwirtschaft in ihrer ursprünglichen Gestalt. Sie dauerte etwa zwanzig Jahre, von 1948 bis 1966. Rahmenordnungen wurden erlassen, und die Sozialpolitik nahm nur einen maßvollen Stellenwert ein. 2. Die aufgeklärte Marktwirtschaft von 1967 bis 1982 ist zu kennzeichnen durch die Begriffe der Globalsteuerung, der Konzertierten Aktion (Karl Schiller). Die Sozialausgaben stiegen, und der Staat errang immer mehr an Einfluss gegenüber dem Markt. 3. Die angebotsorientierte Wende. In der Zeit von 1983 bis 1989 stagnierte die Ordnungspolitik und die Globalsteuerung scheiterte. Der Wohlfahrtsstaat nahm zu. 4. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verschärfen sich seit 1990 die ordnungspolitischen Unsicherheiten. Der Sozialstaat überbordet, die sozialen Sicherungssysteme geraten in Unordnung, die Arbeitslosigkeit steigt rapide ebenso wie die Staatsverschuldung. Heute wird der Ansatz einer immer engeren sozial ausgerichteten Sozialen Marktwirtschaft sichtbar. Die Soziale Marktwirtschaft wird durch die beiden Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität gestaltet. Die Solidarität wird dabei als die Einbindung des Menschen in die Gesellschaft verstanden. Das Prinzip der Subsidiarität vertritt den Gedanken, dass Staat und Gesellschaft dem Einzelnen das nicht entziehen dürfen, was er selbst zu leisten in der Lage ist20.

Müller-Armack, Alfred (21976), S. 304. Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 102 ff. Die zeitlichen Begrenzungen schwanken ein wenig. 20 s. oben Einleitung. 18 19

1. Die Marktwirtschaft

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Die weltweite Ökonomie, in der sich auch die Soziale Marktwirtschaft bewähren muss, ist heute über eine Marktorientierung, eine wirtschaftliche Freiheit und die Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit hinaus stark durch bestimmte Techniken geprägt. Die Entwicklung des Computers und des Internets hat nach der Erfindung des World Wide Web im Jahr 1990 der Informationsund Kommunikationstechnik einen enormen Wachstumsschub gegeben. Durch die Entfaltung der Informationstechniken sind die Börsen- und Bankengeschäfte globalisiert worden. 1.2 Kirchliche Stellungnahmen zur Marktwirtschaft Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika „Centesimus Annus“ ausgeführt, „dass der freie Markt das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse“ ist21. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene vollzieht sich dieser Austausch. Allerdings müssen um der Gerechtigkeit willen die „fundamentalen menschlichen Bedürfnisse“ befriedigt sein. Derselbe Papst trat gleichzeitig für die „berechtigte Funktion des Gewinns als Indikator für den guten Zustand und Betrieb des Unternehmens“ ein22. Wo ein Gewinn erwirtschaftet wird, bedeutet das, nach Meinung des Papstes, dass „die Produktionsfaktoren sachgemäß eingesetzt und die menschlichen Bedürfnisse gebührend erfüllt wurden“23. Eingrenzend wird hinzugefügt, die Gewinnerzielung ist nicht der einzige Zweck des Unternehmens. Hinzukommen muss „die Verwirklichung als Gemeinschaft von Menschen, die auf verschiedene Weise die Erfüllung ihrer grundlegenden Bedürfnisse anstreben und zugleich eine besondere Gruppe im Dienst der Gesamtgesellschaft bilden“24. Der Gewinn ist nicht allein das Anzeichen für den Zustand und die Leistungsfähigkeit des Unternehmens. „Der Gewinn ist ein Regulator des Unternehmens, aber nicht der einzige. Hinzukommen andere menschliche und moralische Faktoren, die auf lange Sicht gesehen zumindest ebenso entscheidend sind für das Leben des Unternehmens“25. Zwar gilt es also, die Berechtigung des Unternehmergewinns anzuerkennen. Aber das Unternehmen darf nach Aussagen von Johannes Paul II. nicht nur als Ansammlung von Kapital angesehen werden. Es ist zugleich eine Korporation von Menschen, die das zur Tätigkeit notwendige Kapital beisteuern, und ebenfalls von solchen, die durch ihre Tätigkeit den Erfolg des Unternehmens 21 Johannes Paul II., Centesimus Annus, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 101, vom 1. Mai 1991, n. 34. 22 Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 35,3. 23 Ebenda. 24 Ebenda. 25 Ebenda.

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

vermehren. Es bedarf des Einsatzes aller Ressourcen, vor allem des Einsatzes der Arbeiter, Intelligenz und Freiheit26. Zugleich gilt es, natürlich den Bedürfnissen der Konsumenten Rechnung zu tragen. Die Freiheit zum Konsum ist sicher in einer Demokratie ein hochwertiges Gut. Aber sie kann nicht alles sein. Allerdings geht es ohne sie auch nicht. Grundlage für die Entscheidung muss das Menschenbild sein, wie es Johannes Paul II. ausdrückte, das dem Handeln zugrunde liegt. Wo sich Konsumgewohnheiten entwickeln, die der Freiheit und Gerechtigkeit und dem Menschenbild widersprechen, muss der Staat hilfreich eintreten, um Fehlentwicklungen zu steuern. Das Wirtschaftssystem selbst enthält nämlich keine Kriterien, die hierbei helfend eingreifen können. Der Konsument muss zu einem verantwortungsbewussten Verbraucherverhalten erzogen werden, so dass die Gesundheit von Mensch und Tier und die Umwelt geschont werden. Dabei gilt: „Nicht das Verlangen nach einem besseren Leben ist schlecht, sondern falsch ist ein Lebensstil, der vorgibt, dann besser zu sein, wenn er auf das Haben und nicht auf das Sein ausgerichtet ist. Man will mehr haben, nicht um mehr zu sein, sondern um das Leben in Selbstgefälligkeit zu konsumieren“27. Es darf zweifelsohne weder für den Einzelnen noch für die Völker das wichtigste Ziel sein, mehr zu besitzen. Zwar möchte der einzelne Mensch vor allem auch an Besitz wachsen, aber das allein darf nicht die einzige Ausrichtung des Lebens sein. Er wird gleichzeitig auch andere Werte verfolgen müssen. Anderenfalls verhärtet sich sein Herz und er kann nicht in aller Freiheit zu einem mehr Menschsein heranwachsen, wie es Paul VI. formulierte28. Eng mit dem Konsum ist die Frage des Umweltschutzes verknüpft. Der Mensch in der industrialisierten Welt meint, die Welt durch seine Arbeit verändern zu können. Denn aufgrund seiner Herrschaft über die Erde, glaubt er, die Verfügungsgewalt über sie zu besitzen. Aber er ist nur Gestalter und Erhalter der Erde. Und damit Mitarbeiter Gottes an dessen Schöpfungswerk. Der Mensch hat eben nicht die Aufgabe, sich die Erde zu unterwerfen, wohl aber besitzt er die Verpflichtung, sie für die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zu erhalten. Außer dem Staat ist die Gesamtheit der Menschen aufgefordert, sich für den nachhaltigen Schutz der Umwelt einzusetzen. Denn schließlich wurde dem Menschen die ganze Erde anvertraut, als ihm aufgetragen wurde: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan“ (Gen. 1,28). Die ganze Schöpfung ist für den Menschen da! Und das bedeutet, dass 26 27 28

Vgl. Johannes Paul II., C.A., n. 43. Vgl. Johannes Paul II., C.A., n. 36. Vgl. Paul VI., Populorum Progressio, n. 19.

1. Die Marktwirtschaft

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alle Dinge dem Nutzen jedes einzelnen Menschen – und aller Völker – dienen sollen. Es ist durchaus korrekt, wenn Papst Paul VI. in Populorum Progressio abgrenzend formuliert: „Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen“29. Allerdings hat er sich in dieser Enzyklika wie bereits in vergangenen Sozialverlautbarungen der katholischen Kirche dem überlieferten Streit zwischen Sozialismus und Liberalismus gewidmet. Aber erst Johannes Paul II. hat der Marktwirtschaft eine Vorreiterrolle zugebilligt. Mindestens in Centesimus Annus von 1991 wird das sichtbar. In der katholischen Soziallehre hat Papst Johannes Paul II. dem Staat die Pflicht auferlegt, den Marktmechanismus zu bewahren. Wenn der Staat früher, wie man sagte, im „alten Kapitalismus“, den Auftrag hatte, die „fundamentalen Rechte der Arbeit zu verteidigen, so muss er – und das ist eine Neuerung in der katholischen Soziallehre – zusammen mit der ganzen Gesellschaft in einem „neuen Kapitalismus“ die gemeinsamen Güter verteidigen30. Da der Markt allein nicht für den Schutz und die Verteidigung der Umwelt sorgen kann, ist es Aufgabe des Staates, diese zu gewährleisten. Der Staat hat eben die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass jeder einzelne Angehörige der Gesellschaft seine Schutzfunktion wahrnehmen kann. Mit diesem neuen ,Kapitalismus‘ wird ein Wirtschaftssystem bezeichnet, „das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt“31. Der Papst meint sogar, in diesem Zusammenhang von Unternehmenswirtschaft, von Marktwirtschaft oder freier Wirtschaft sprechen zu können. Er meint damit im Begriff des Kapitalismus ein System, in dem die wirtschaftliche Freiheit in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, „die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt“32. Freiheit ist immer nur eine partielle Freiheit, wie Papst Benedikt XVI. in einer seiner ersten Ansprachen nach seiner Wahl zum Papst klar herausstellte. Es gibt zwar eine Gesamtheit von Freiheiten! Aber wo verwirklichen sich schon alle Freiheiten – von der Meinungs- über die Bildungs- bis zu den politischen oder wirtschaftlichen Freiheiten? Immer ist mit Einschränkungen zu rechnen. Die Freiheit des Einzelnen muss notgedrungen bei der Freiheit des anderen aufhören. Darum ist nach Benedikt XVI. auch der Dekalog keine Einschränkung der Freiheit oder gar ihre Abschaffung, sondern vielmehr die Grundlage

29 30 31 32

Paul VI., P.P., n. 23. Vgl. Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 40. Johannes Paul II., in: C.A., n. 42. Ebenda.

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

für die Ausübung der Freiheit, die sich sowohl am eigenen als auch am fremden Leben misst. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofkonferenz haben sich 1997 gemeinsam zur zukünftigen Entwicklung der Gesellschaft in Deutschland geäußert. Sie wollen zu einer Verständigung in Staat und Gesellschaft beitragen, die in einer „menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung“ besteht33. Ihr Ziel ist, für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit Sorge zu tragen. Man bejaht die Soziale Marktwirtschaft. Dabei bilden die Freiheit des Marktes und der soziale Ausgleich die tragenden Säulen. Wegen der gleichzeitigen Betonung beider Akzentente muss man heute die verschiedenen Stellungnahmen der Kirchen in Deutschland zu Fragen der Gerechtigkeit, der Armut, der Massenarbeitslosigkeit etc. verstehen! Im Zuge der Globalisierung der Märkte hat sich der Wettbewerb äußerst verschärft. Die Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte haben sich ausgeweitet und die nationalen Grenzen überschritten. Damit verbinden sich Chancen und Risiken miteinander. Zugleich meint man, dass es nicht ohne einen Koordinationsrahmen für die rechtlichen Normierungen und die Institutionen geht. Grundlegend ist heute die Weiterentwicklung zu einer sozialen, ökologischen und globalen Marktwirtschaft. Für einen Systemwechsel in eine andere Richtung spricht nichts34. Allerdings sind in Deutschland Reformen dringend erforderlich. Mittlerweile hat die Politik eingesehen, dass die sozialen Sicherungssysteme wegen ihrer Schwächen eine dauerhafte Veränderung erfahren müssen. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit bedeutet einen gefährlichen Sprengstoff für die Gesellschaft. Darum muss vorrangig hier Abhilfe geschaffen werden. Zugleich fordern beide Kirchen, dass der Staat, speziell der Sozialstaat, eine breite Vermögensbildung anstreben muss. Alle diese Zielsetzungen sind unter dem Prinzip der Subsidiarität zu verwirklichen. Also muss die Eigenverantwortung der Bürger gestärkt werden. Grundbedingung für die zukünftige Entwicklung ist selbstverständlich die nachhaltige Bewahrung der natürlichen Grundlagen. Darum muss das gegebene ökologische System tiefgreifend erhalten bzw. eine Änderung des Lebensstiles vorangebracht werden35.

33 Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofkonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Gemeinsame Texte H. 9, Hannover und Bonn 1997, S. 5. 34 Vgl. Gem. Texte 9 (1997), S. 10. 35 Vgl. Gem. Texte 9 (1997), S. 14 ff.

2. Ökonomie und Ökologie

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2. Ökonomie und Ökologie Der Unterschied der Geschichte der Völker beruht nicht auf angeborenen Wesensmerkmalen, sondern auf den Unterschiedlichkeiten ihrer Umwelt. In den letzten Jahrzehnten hat die Diskussion um das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt mächtig zugenommen. Die Ökologie ist zu einer der wesentlichen Beziehungen zwischen den Menschen und ihren Lebensbereichen geworden. Das Bewusstsein um das Verhältnis des Ökosystems und der Entwicklung der Menschheit ist alt. Es stammt vom deutschen Biologen Ernst Haeckel und bezeichnete die Lehre von den Bedingungen der Lebewesen im Kampf ums Dasein und vom Haushalt der Natur. In jüngerer Zeit wird umgangssprachlich die Beziehung der Lebewesen untereinander als Ökologie bezeichnet. Der eigentliche Ausdruck des Umweltschutzes hat sich aber erst im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts etabliert. Im Detail ist also der Umweltschutz ganz jungen Datums. Insgesamt freilich lässt sich das Verhältnis von Menschheit und Erdgeschichte viel früher ansetzen. Auch für die Zukunft gilt, dass sich gewisse Gefahren, die durch die Umweltbeanspruchung auftreten, bereits in der Gegenwart zeigen. Ein gewichtiges Beispiel für die globale Veränderung ist in diesem Zusammenhang die Klimaerwärmung. Andere Umwälzungen werden erst in den nächsten Jahrzehnten oder Jahrhunderten eintreten. Insgesamt muss sich der Mensch heute so verhalten, dass auch die folgenden Generationen ohne Not auf dieser Erde leben können. 2.1 Ein Abriss der Entwicklungsgeschichte Das Leben der Menschen auf diesem Planeten ist immer ein Leben unter Ausnutzen der gegebenen Ressourcen. Der Mensch nahm auf dieser Erde seinen Lebensraum ein und vernichtete damit Tiere und Pflanzen. Nach dem Forschungsbericht des amerikanischen Evolutionsbiologen und Umweltforschers Jared Diamond hat in jüngster Zeit das Auftreten der Menschen von Anfang an dafür gesorgt, dass es in der frühen Menschheitsgeschichte zu einer Massenausrottung zum Beispiel von Großtierarten in Eurasien oder auch in Australien kam36. Diamond hat die Geschichte der Menschheit herauszuarbeiten versucht, indem er das Sesshaftwerden des Menschen und vor allem seine Betätigung in der Landwirtschaft abhängig gesehen hat von der Domestizierung der Pflanzenund Tierwelt. Technische und wirtschaftliche Entwicklungen werden vom Verfasser des Buches über die Schicksale der menschlichen Gesellschaften deterministisch aus der geographischen Lage her gedeutet.

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Vgl. Diamond, Jared, Arm und Reich, Frankfurt/M. 52005, S. 54 ff.

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

Die Ureinwohner – z. B. Australiens – schufen gesellschaftliche Strukturen. Aber die Entwicklung vollzog sich so, dass es weder ökonomisch zur Ausbildung einer Landwirtschaft oder einer Industrie kam, noch wurde eine Schrift oder eine Demokratie ausgebildet. Das lag nicht an den rassischen oder konstitutionellen Gegebenheiten, sondern vor allem an der Abhängigkeit vom Klima und von der Geographie. Sie gab letztlich die Voraussetzung für die Entwicklung der Menschheit. Die Megafauna in Australien ist nach Meinung des Autors kurz nach dem Eintreffen der Menschen ausgestorben. Noch in der frühen Zeit ihrer Entwicklung besaßen Australien/Neuguinea vielerlei Großtierarten (z. B. Riesenkängurus, nashornähnliche Beuteltiere etc.). Die Ausrottung der großen Säuger war in Nordamerika möglicher Weise der Grund für die langsamere Entwicklung in diesen Regionen. Die mehr oder weniger ausgereiften Jagdmethoden können eventuell als Gründe dafür genannt werden. Freilich wird gegen diese Art von Overkill-Methode in Australien und Neuguinea auch ins Feld geführt, dass diese Grosstiere infolge eines Klimawechsels ausgestorben sind. Endgültig beurteilen kann man diese These bis heute nicht. Es mag sein, dass geographische Unterschiede allein den Entwicklungsprozess der Gesellschaften nicht ausschließlich gestaltet haben. Aber die Menschen bleiben immerhin eine mögliche Ursache für die Auslöschung von vielen Arten. Schließlich nahmen in der Frühzeit der menschlichen Entwicklung die Menschen auf das Überleben der Tiere und den Schutz der natürlichen Ökologie keine Rücksicht. Vielfach tun sie es ja auch heute (noch) nicht, weil das ihren Interessen zuwiderläuft. Andererseits ist es richtig anzuerkennen, dass auf Grund der geographischen Lage ein Staatensystem entstand, in dem Wettbewerb und Offenheit herrschte, in dem sichergestellt wurde, dass Innovationen sich entwickeln konnten, die vielleicht anderswo unterdrückt oder behindert wurden. Viele Erfindungen haben sich an einem Ort durchgesetzt und haben anschließend den Weg in vergleichbare Regionen mit ähnlichen Bedingungen gefunden. Das gilt besonders für die früheren Epochen auf den Kontinenten Europas und Asiens. Freilich hat sich die Entwicklung der Gesellschaften auf verschiedenen Gebieten sehr unterschiedlich vollzogen. In den Gebietskörperschaften der Kontinente gab es solche mit innovativen Entwicklungskräften und solche mit mehr konservativen Einstellungen. Die Innovationskraft war unterschiedlich ausgeprägt. Ebenfalls hat sich in den Gesellschaften unterschiedliche Innovationsbereitschaft eingestellt, die zu Neuerungen in der technischen Entwicklung führte. Sie erzielten mannigfache geographisch-gesellschaftliche Innovationen und Erfindungen37. 37

Vgl. Diamond, Jared, Arm und Reich, Frankfurt/M. 62005, S. 307 f.

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Schon in früheren Jahrhunderten haben die Erfinder ihre Erfindungen meistens nicht aus dem Nichts entspringen lassen. Sie konnten vielmehr die Entwicklungen von Vorläufern benutzen (so z. B. die Dampfmaschine von James Watt im Jahr 1769, der auf dem Vorläufer Thomas Newcomens aufbaute, der wiederum die Erfindung von Thomas Savery verwertete)38. Ebenso werden in Zukunft die neuesten Entwicklungen ebenfalls nicht völlig ex nihilo entstehen, sondern sie werden immer wieder auf irgendwelchen vorausgegangenen Erfindungen oder Errungenschaften aufbauen. Viele technische Entwicklungen haben also Vorläufer oder verdanken ihre Entstehung einem anderen Zusammenhang. Die Erfindung der Technik ist ein Prozess, dessen Tempo sich selbst beschleunigt. Aber die Technik selbst hängt oftmals von der Erfüllung vieler vorhergehender Probleme ab. Allerdings ist Jared Diamond durchaus am Ende seiner Überlegungen bereit, anzuerkennen, dass es auch andere Gründe für die Entwicklungen mannigfacher Gesellschaften in der Welt gibt. Man wird konstatieren, dass es für die gesellschaftliche Entwicklung zwischen China und Europa durchaus mehrere unterschiedliche Gründe gegeben haben kann. Ein Beispiel dafür ist das Entstehen einer besonderen Kaufmannsschicht mit ihrem kaufmännischen bzw. kapitalistischen Denken oder die Einführung eines Schutzes von Erfindungen durch Patente. Auch die Geisteshaltung der griechisch-jüdisch-christlichen Tradition mit ihrem humanistischen Gedankengut hinsichtlich der Entwicklung der Menschenwürde und der Menschenrechte wird das Ihre dazu beigetragen haben. Ebenfalls mag die Uneinigkeit von Europa gegenüber der chinesischen Einheit, die beide eine lange Tradition besitzen, bei der Entwicklung unterschiedlicher Gesellschaften und bei der Vorrangstellung Europas mitgeholfen haben39. Allerdings spielen besonders vier Faktoren für die Umweltdifferenzierung zwischen den Kontinenten eine besondere Rolle: 1. Die Domestikation von Pflanzen und Tieren machen nur einen Bruchteil der Gesamtfläche aus. 2. Diffusion und Migration verliefen in den Kontinenten unterschiedlich. „Am schnellsten verliefen diese Prozesse in Eurasien, bedingt durch die vorherrschende Ost-West-Achse und die relativ geringen ökologischen und geographischen Barrieren“40. Diese Entwicklung gilt ebenfalls für die Ausbreitung von technischen Erneuerungen. 3. Zwischen den Kontinenten vollzieht sich die Domestizierung von Pflanzen und Tieren und der technischen Erneuerungen ähnlich der, die sich innerhalb der Kontinente ergab. 38 39 40

Vgl. Diamond, Jared (62005), S. 294. Vgl. Diamond, Jared (52005), S. 503 ff. Diamond, Jared (62005), S. 503.

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

4. Die letzte Faktorengruppe berücksichtigt die Unterschiede in der Fläche und in der Bevölkerung. Wo es mehr Land und mehr Bevölkerung gibt, existieren mehr potentielle Erfinder und konkurrierende Gesellschaften. 2.2. Ökologie und Soziale Marktwirtschaft Die drängenden Probleme einer Umweltverschmutzung des Bodens, des Wassers und der Luft sind Folgen der Industrialisierung, des technischen Fortschritts und in vielen Teilen der Welt auch der Bevölkerungsexplosion. In allen Fällen ist die Ökonomie nicht nur die Verursacherin. Vielmehr ist sie aufgerufen, bei der Wahrnehmung des Umweltschutzes, bei der Beseitigung von Schäden und vorher bei der Vorbeugung zu helfen. Überzeugend hat der Umweltschutz von der Gründung der Sozialen Marktwirtschaft an seine Berücksichtigung gefunden. Müller-Armack hatte bereits 1960, also mit der zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft, die Belange des Umweltschutzes neben denen des Gesundheitswesens, des Städtebaus, der Landesplanung, des Verkehrs etc. in die Definition mit einbezogen. In der Zielsetzung der Gesellschaftspolitik forderte er im Blick auf die marktwirtschaftliche Ordnung die Berücksichtigung des Umweltschutzes in der Wirtschaftspolitik41. Wenn die Soziale Marktwirtschaft erhalten bleiben soll, wird das nur geschehen, wenn über ihren Ausbau und in besonderer Weise über den des Sozialen Gedankens nachgedacht wird. Marktwirtschaft steht heute mehr denn je unter dem Anspruch der Ökologie und damit einer nachhaltigen Entwicklung. Es ist vor allem Aufgabe des Staates, für die Umwelt einzustehen. Die Umweltverträglichkeit des ökonomischen Produzierens und Handelns ist seit den siebziger Jahren eines der zentralen Themen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Dabei geht es freilich grundsätzlich um das Phänomen, wie die Menschheit insgesamt mit der Natur umgeht. Erst recht spät – am Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – ist der Begriff der Ökologie als zentrales Thema der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in das allgemeine Bewusstsein gerückt42. Mit der UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung im Jahr 1992 in Rio de Janeiro ist dann das Prinzip der Nachhaltigkeit als Begriff für das ökologisch verträgliche Wirtschaften und für den Umgang mit der Natur eingeführt geworden43. Zwar umfasst die Wirtschaft nicht alle Dimensionen des ganzen Lebens, aber doch we41 Müller-Armack, Alfred, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern, Stuttgart 1981, S. 174 u. 310. Die erste Phase der Sozialen Marktwirtschaft dauerte von 1948 bis 1960. 42 Vgl. Schäfers, Bernhard, Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, Stuttgart 82004, S. 206.

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sentliche Teile von ihm. Und dazu gehört auch die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft. Schließlich geht es bis heute um das, was mit dem Begriff der Sustainability und darin mit der Überlebensfähigkeit oder Zukunftsfähigkeit des Unternehmens bzw. der Gesellschaft ausgesagt werden soll. Dazu muss man auch eine Veränderung in der Gewichtung von Finanzierungsmitteln und Betriebskapital im Unternehmen zählen. „Mit dieser Entwicklung hängt zusammen, dass das Betriebseigentum in seiner bisherigen Form – wie Fabrikgebäude und Lagerhallen – gegenüber dem Finanzkapital an Bedeutung verliert“44. Man spricht sogar von einem Verschwinden des Eigentums in seiner bisherigen Form45. Nach einem stärkeren Engagement in Umweltfragen erlahmt heute langsam wieder das Interesse an Umweltfragen ein wenig. Jedenfalls in Deutschland! Nach anderthalb Jahrzehnten Umweltthematik hat sich in der deutschen Bevölkerung mittlerweile das Interesse an Umweltfragen halbiert. Der Umweltschutz wird heute überlagert von anderen gewichtigeren Fragen. Dazu gehören: 1. vor allem die sozialen Probleme wie Arbeitslosigkeit, die Suche nach Ausbildungsplätzen, Auftreten von Insolvenzen, die Angst vor dem Alter und die Sicherung der Zukunft etc. 2. Der Umweltschutz hat im Laufe der letzten Jahre zu einer Fülle von Gesetzen, Richtlinien und staatlichen Maßnahmen geführt, die insgesamt Erfolge zu verzeichnen haben. 3. Der Umweltschutz ist professionalisiert worden. Der Staat hat das private Engagement im Umweltschutz abgelöst. Das führte zu einem gewissen Desinteresse an der Umweltproblematik im privaten Bereich.

3. Arbeit und Arbeitslosigkeit Arbeit gehörte bereits vor dem Sündenfall zum Dasein des Menschen. Das ist Teil der Unterordnung der Erde durch den Menschen. Arbeit ist als solche weder Strafe noch Fluch. Sie dient vielmehr der Existenzsicherung des Menschen. Denn sie will als eine zielgerichtete Tätigkeit mithelfen, die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. In der Auseinandersetzung mit der Natur und der vom Menschen mehr oder weniger geprägten Welt hilft sie ihm, seine Existenz zu sichern46. Nach dem Sündenfall von Adam und Eva wird von der Arbeit gesagt, dass sie mit Schweiß und Mühe verbunden ist (Gen. 3). 43 Vgl. Kramer, Rolf, Das Unternehmen zwischen Globalisierung und Nachhaltigkeit, Berlin 2002, S. 56 ff. 44 Schäfers, Bernhard (82004), S. 213. 45 Ebenda. 46 Vgl. Schäfers Bernhard (82004), S. 177.

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

In der Antike galt nahezu jede Arbeit, insbesondere natürlich die körperliche Arbeit, als Zeichen der Unfreiheit. Sklaven (doûloi) und Handwerker (cheirotéchnes, niedere Handwerker sind die bánausoi) konnten nur durch die als unfrei verstandene Arbeit ihren Lebensunterhalt befriedigen. Die geistige Arbeit bleibt der schöpferischen Muße (scholé) vorbehalten. Die Menschen haben in den früheren Jahrhunderten die Natur nicht in einer linearen Zeitschiene, sondern eher in einer Kreisbewegung und damit nicht in einer Form von unwiderruflicher Gestaltung erlebt. Die Wiederkehr der natürlichen Entwicklung von Saat und Ernte, Sommer und Winter stehen stellvertretend dafür. Nach der Beobachtung der Natur wurde in der Vergangenheit die zu leistende Arbeit ausgerichtet. Der Blick zum Himmel genügte, um zu wissen, was in der nächsten Zeit zu geschehen hat. Diese Naturabhängigkeit hat sich mit der Industrialisierung zwar geändert. Aber die Arbeit weist ihrerseits weiter darauf hin, dass sie zum Lebenserhalt notwendig ist. Sie gehört zum menschlichen Leben auch heute noch hinzu. Ohne sie ist eine generelle Existenz kaum zu denken. Als sich der Wechsel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft vollzog, war der Blick zum Himmel nicht mehr nötig. Im Zeitalter der Industrialisierung trat immer mehr der Begriff einer auf Lohn hin ausgerichteten Erwerbsarbeit in den Vordergrund. Noch im 19. Jahrhundert war die Arbeit gekennzeichnet als eine zielgerichtete Tätigkeit, an deren Ende irgendein gefertigtes Produkt stand. Das bedeutete, dass Arbeit im Industriezeitalter mehr oder weniger als eine handwerkliche Leistung verstanden wurde. Zwar wurden viele Arbeiten ausschließlich um des Erwerbswillen getätigt. Aber auch dieser Begriff erfuhr im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Veränderung. Der Mensch musste noch im 19. Jahrhundert in seinem Leben siebzig oder mehr Stunden in der Woche arbeiten. Arbeit und Beruf sind auch heute noch wesentliche Bestandteile des Lebens, die es zum Teil völlig ausfüllen. Im neunzigsten Psalm wird gesagt: „unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe“ (V. 10). Dennoch ist Arbeit Teil der Sinnerfüllung der menschlichen Existenz. Heute freilich degeneriert der Beruf vielfach zum Job, während die Erfüllung des Lebens in den Bereich der Freizeit gelegt wird. Aufgrund von Arbeit reift der Mensch zugleich zur Persönlichkeit heran, indem er sich mit den Dingen dieser Welt auseinandersetzt. Arbeit ist also ein Grundphänomen der menschlichen Existenz. Durch die Arbeit wächst der Mensch in die Gesellschaft. Sie verschafft den Menschen ihren Anteil an den Gütern der Gesellschaft. Mit dem Übergang von der Industriegesellschaft zur Informations- oder Mediengesellschaft stellten sich völlig andere Arbeitsverhältnisse ein. Heute ist Ar-

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beit nicht allein nur in Form freier Tätigkeit oder in Gestalt eines lohnabhängigen Arbeitsverhältnisses denkbar. Viele Arbeiten werden als so genannte prekäre Arbeitsverhältnisse verrichtet. Man bezeichnet mit diesem Ausdruck die Unterschreitung des in einem normalen Beschäftigungsverhältnis charakteristischen sozialen, rechtlichen und betrieblichen Standards. Das sind ungeschützte Arbeiten, die in eigener Verantwortung vorgenommen werden. Prekär sind sie eben im Vergleich zu den normalen Beschäftigungsverhältnissen. Da der Verlust von Arbeit und die zwangsweise Verkürzung der Arbeitszeit für viele Menschen materiell und psychologisch und zwischenmenschlich verhängnisvoll ist, bedarf es für das Zusammenleben der Menschen untereinander vielfacher Hilfestellungen. Die menschliche Kommunikation leidet unter dem Verlust des Arbeitsplatzes. Das Selbstwertgefühl schwindet. Arbeitslosigkeit wird darum zur Ursache für vielseitige materielle und immaterielle Schäden im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Freilich gibt es auch Menschen, die das nicht so empfinden, sondern vielmehr gern auf Kosten der Allgemeinheit leben und nicht aus eigenen Kräften ihren Lebensunterhalt bestreiten. Zur eigentlichen Erwerbsarbeit treten heute zusätzliche Arbeitsdefinitionen, wie die Hausarbeit der Ehefrauen oder Erziehungsarbeit der Mütter. Aber auch die Selbstarbeit, die der einzelne an sich selbst durch Aus- und Weiterbildung vornimmt, gehört in diese Kategorie von Arbeit. Erwähnt werden müssen Arbeiten, die aus einer Freizeitbeschäftigung oder dem gesellschaftlichen Kommunikationsverhalten erwachsen, wie sportliche Betätigungen oder touristischer Zeitvertreib oder Freizeitzerstreuungen. In die unterschiedlichen Arten von Arbeit gehören ebenfalls ehrenamtliche Arbeiten, deren Ziel nicht Geld ist. Dazu zählen politische oder ehrenamtliche Arbeiten, die in Vereinen oder auch bei kirchlichen Trägern geleistet werden. Seit über einem Vierteljahrhundert ist in der Bundesrepublik Deutschland kein befriedigender Beschäftigungsgrad mehr erreicht worden. Bereits in der alten Bundesrepublik Deutschland hat sich langsam aber stetig eine hohe Arbeitslosenzahl entwickelt. Nach der Vereinigung Deutschlands kam es infolge der Umwandlung der Produktionsbedingungen in Ostdeutschland zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahl. Auch der Aufschwung vom Herbst 1997 bis Frühjahr 2001 hat diesem Trend kein Ende gesetzt, da es gleichzeitig zu einem in die Hunderttausende gehenden Abbau der Arbeitsplätze kam. Über Jahre hinweg blieb es bei einer Anzahl von über vier Millionen Arbeitslosen. Und es scheint, dass es auch in der nächsten und fernen Zukunft nicht wieder zu einer Vollbeschäftigung in Deutschland kommen wird. Allerdings zeichnete sich seit dem Jahr 2006 eine gewisse Entspannung am Arbeitsmarkt ab. In der noch jungen Bundesrepublik Deutschland wurde mit dem Gesetz zur Förderung und Stabilität des Wachstums aus dem Jahr 1967 ein hoher Beschäf-

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

tigungsstand gefordert. Dem Staat wurde damals die Aufgabe der Vollbeschäftigung zugewiesen, von der er heute noch weit entfernt ist. In jedem Fall scheint für die gegenwärtige Zeit die frühere Zielsetzung eines harmonischen Vielecks mit den Eckpunkten der Vollbeschäftigung, der Währungsstabilität, eines angemessenen Wachstums etc. als überholt. Nicht alle, die eine Arbeit suchen, werden in nächster Zukunft eine Arbeitstelle finden können. Nicht jeder wird einen produktiven und gut bezahlten Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt bekommen. Freilich werden selbst Niedriglohnarbeitsplätze, die nicht einmal produktiv sind, in andere Entlohnungsmöglichkeiten integriert werden. Das könnte sicher noch am ehesten regional oder branchenspezifisch (nicht jedoch allgemein) über ein Kombi-Lohnmodell geschehen, also über eine Subventionierung eines Lohnes, der als Grundbetrag beim Arbeitgeber „verdient“ wird, dann aber durch eine Subventionierung zu einer bestimmten Höhe aufgestockt wird, die eine Existenzsicherung für den Arbeitnehmer ermöglicht. Erst im Jahr 2006 setzte, wie gesagt, langsam ein Rückgang der Arbeitslosenzahl ein, so dass die Summe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg. Ob diese Entwicklung aber ausreicht, langfristig nur von einer Grundzahl an Langzeitarbeitslosen auszugehen, oder ob nicht insgesamt mit einer unterschiedlichen großen Anzahl von Arbeitslosen, besonders natürlich im Niedriglohnsektor, zu rechnen ist, bleibt abzuwarten. Eine Bildungsoffensive wird vielleicht zum Teil Abhilfe schaffen können, so dass aufgrund von mehr Bildungschancen der einzelne Arbeitnehmer eine höher bezahlte Arbeit verrichten kann. Allerdings wäre es eine Illusion zu glauben, dass man jedem Arbeitnehmer mittels Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen eine gute und produktive Arbeitsstelle zur Verfügung stellen könnte. Schließlich hat sich aufgrund der Globalisierung auch der Hochgebildete und bestens Qualifizierte mit gleich ausgebildeten Personen aus dem internationalen Raum im Wettbewerb zu stellen. Die moderne Gesellschaft wird neben allen anderen Arbeitsplätzen viele niedrig entlohnte Dienste brauchen. Ob das allein auf die Alten- und Krankenpflege bezogen werden kann, bleibt als eine Frage an die alternde Gesellschaft bestehen. Sicher sind in diesem Zusammenhang alle die unterschiedlichen Dienste zu nennen, die als Saisonarbeiten vom Spargelstechen bis zur Hilfe bei der Weinernte getan werden müssen.

3.1. Von der Würde der Arbeit Im Alten Testament erhält bereits in der Überlieferung der Priesterschrift des 1. Buch Moses der Mensch durch seinen Schöpfer seine Würde. Der Mensch wird zum Ebenbild Gottes geschaffen (Gen. 1,27). Diese Würde wird dem Menschen verliehen, er kann sie sich nicht verdienen. Dieses zeigt sich zwar nicht

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als ein empirisch nachweisbares Sein. Es zielt auch nicht auf einen Zustand, dessen der Mensch sich würdig zu erweisen hat. Er wird vielmehr auf das verwiesen, wozu er zu werden berufen ist. Die Ebenbildlichkeit weist den Menschen daraufhin, wozu er da ist. Aber es wird nicht nachgewiesen, wer oder was der Mensch ist47. Und dieses funktionale Denken ist abhängig von dem Grund, den der Schöpfer selbst legt. Von Gott selbst wird berichtet, dass er arbeitet (1. Mos. 2,2). Auch vom Menschen wird in beiden Schöpfungsberichten gezeigt, dass er in unmittelbarer Beziehung zur Arbeit steht. Im priesterlichen Schöpfungsbericht heißt es, dass der Mensch über die Erde herrschen solle (1. Mos. 1,28). Der jahwistische Bericht spricht davon, dass er den Garten Eden zu bebauen und zu bewahren habe (1. Mos. 2,15). Arbeit wird als eine Verpflichtung zum Dienst am Mitmenschen, der ein Angehöriger der eigenen Familie, der Gesellschaft oder auch ein Angehöriger eines anderen Volkes sein kann. Sie wird für diese Menschen geleistet. Der Arbeit kommt also eine soziale Dimension zu. Der Mensch hat nach der christlichen Soziallehre und der Sozialethik die Pflicht zur Arbeit. Er muss arbeiten, weil das ihm vom Schöpfer so aufgetragen ist. Schon nach den biblischen Überlieferungen besitzt der Mensch ein Grundrecht auf Arbeit, auch wenn er dieses nicht einklagen kann. Aber Arbeit muss allen arbeitsfähigen Menschen zur Verfügung stehen. Darum sollte in jedem Fall Vollbeschäftigung von den Volkswirtschaften angestrebt werden. Es gehört zur Aufgabe des Staates, diese mit Hilfe einer aktiven Arbeitsmarktpolitik anzustreben. Er muss die Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Unternehmen in der Lage sind, Arbeitsplätze ausreichend zu schaffen. Die Soziallehre der katholischen Kirche betont, dass auf Grund der personalen Struktur die Arbeit über den anderen Produktionsfaktoren steht48. Das gilt insbesondere gegenüber dem Kapital. Aber Arbeit und Kapital ergänzen sich. Denn jeder der beiden Produktionsfaktoren kann ohne den anderen nicht existieren. Weiter gehören zur menschlichen Arbeit nach der katholischen Soziallehre eine objektive und eine subjektive Seite. Im objektiven Sinn stellt sie die Gesamtheit aller Tätigkeiten, Ressourcen, Werkzeuge und Techniken dar. Mit ihrer Hilfe herrscht der Mensch über die Erde. Die subjektive Seite ist dadurch definiert, dass der Mensch als Person das Subjekt der Arbeit ist49. „Die Subjektivität verleiht der Arbeit die ihr eigene Würde, die es verbietet, sie als bloße Ware 47

Vgl. Link, Christian, Schöpfung, Gütersloh 1991, S. 393. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg 2006, S. 210. 49 Vgl. Päpstlicher Rat (2006), S. 207. 48

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

oder als unpersönlichen Bestandteil des Produktionsprozesses zu betrachten“50. Im Zwiespalt zwischen objektiver und subjektiver Gestalt der Arbeit gehört zwar der subjektiven Dimension der Vorrang. Aber die Arbeit steht immer im Zusammenhang mit anderen Menschen. Die Globalisierung der Wirtschaft hat ihre Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Die Liberalisierung der Märkte, die Verschärfung der Konkurrenz fordert auch eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Als eigentliche Ursache für die schnelle Entwicklung der Globalisierung ist die Ausbreitung der elektronischen Technik zu sehen. Grundlage dafür ist der subjektive Aspekt der Arbeitswelt. Arbeitslosigkeit ist zwar ein gesamtwirtschaftliches und kein individuelles Problem. Dennoch hat sich in manchen Köpfen – zum großen Teil unberechtigt – das Vorurteil erhalten, dass das einzelne Wirtschaftsobjekt Schuld an der Misere ist. Arbeit wurde freilich seit eh und je von der Muße unterschieden. Sie galt seit der antiken Geschichte bis ins letzte Jahrhundert für die Mehrheit der Arbeitenden als unerreichbares Gut. Muße war gleichsam ein Fremdwort. Sie war eine Chance der bürgerlichen oder adeligen Oberschicht. Aber wir wissen heute, dass der Mensch der schöpferischen Muße bedarf, die sich der aktiven Köperbetätigung verschreibt. Die Wellness-Bewegung mit ihren vielseitigen Entspannungsprogrammen und dem sportlichen Gesundheitstraining ist für viele berufstätigen Menschen von großer Bedeutung. Es kommt zum körperlichen und psychischen Aufbau. Durch Freizeitaktivitäten in Form von Fitnesstraining und auch durch Meditation wollen die Menschen sich vom Arbeitsstress erholen und ihren Körper oder/und ihre Seele wieder aufbauen. Der ins Berufsleben straff eingespannte Mensch möchte gestärkt und mit neuen Kräften seiner Arbeit am nächsten Tag nachgehen. Von der aktiven Muße ist die passive abzugrenzen. Ihr sollte man nicht hinterherlaufen. Denn sie ist gleichzusetzen mit Arbeitsunlust und hat darum letztlich ihren Gipfel in der Faulheit. Von ihr kann darum im Zusammenhang mit Arbeit nicht gesprochen werden. 3.2. Das Recht auf Arbeit Arbeit ist ein Grundrecht der Menschen. Denn mit dem Arbeitsergebnis ist es erst möglich, eine Familie zu gründen und zu ernähren. Die Arbeit legt den Grundstock zur Aufzucht von Kindern. Darauf hat bereits Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika Rerum Novarum von 1891 hingewiesen51. Nicht nur für die 50

Päpstlicher Rat (2006), S. 208. Bundesverband der katholischen Arbeitnehmerbewegung, Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer 41977, n. 35. 51

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katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik gilt Arbeit als ein Gut, das allen Menschen zur Verfügung stehen muss. Auch die Wirtschaftspolitik muss von dieser Voraussetzung ausgehen. Darum haben letztlich Staat und Gesellschaft für Vollbeschäftigung zu sorgen. Generell ist die Erhaltung und Verbesserung des Bildungs- und Ausbildungssystem notwendig, damit die für die Aufnahme von Arbeit erforderliche Grundlage für jeden einzelnen Arbeitnehmer gewährleistet ist. Das seit der französischen Revolution immer wieder geforderte Recht auf Arbeit wird heute von vielen Staaten programmatisch eingefordert, so etwa von Dänemark, Norwegen, der Schweiz etc. Gleichzeitig wird gegenüber dem Recht auf Arbeit korrespondierend auch von der Pflicht zur Arbeit gesprochen. Bisher wird in der Bundesrepublik Deutschland kein Recht auf Arbeit garantiert. 3.3 Das Entstehen von Arbeitslosigkeit Eine der entscheidenden Aufgaben in der Sozialpolitik ist die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Sie stellt ein zentrales gesellschaftliches und wirtschaftspolitisches Problem dar. Immerhin ist seit Mitte der siebziger Jahre ist, wie gesagt, die Quote der Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland nach vielen Jahren der Vollbeschäftigung ständig gestiegen. Der Mensch arbeitet, um seine Bedürfnisse, die seiner Familie und der Gesellschaft, zu der er gehört, zu erfüllen. Allgemein stellt für die westeuropäischen Staaten die Massenarbeitslosigkeit das wohl bedrohlichste wirtschaftliche und soziale Problem der Gegenwart dar. Für alle Gesellschaften ist diese Entwicklung nicht akzeptabel. Alle Verantwortlichen sind aufgefordert, sich dieses Problems anzunehmen. Denn schließlich sind es Millionen Menschen, die ohne Arbeit sind. Darunter befinden sich Hunderttausende von jungen und älteren Menschen, die als Langzeitarbeitslose noch nicht oder nicht mehr gefragt sind. Diejenigen, die aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind, finden nur schwer eine neue Anstellung, weil sie ungelernt sind oder als zu alt für den Arbeitsprozess gelten. Den Jungen wie den Alten fällt es besonders schwer, Arbeit zu finden bzw. neu anzufangen. Es sind also keineswegs nur ältere Arbeitnehmer, sondern sogar schon mittlere Jahrgänge oder junge Menschen, die lange Zeit ohne Arbeit sind. Frauen, insbesondere allein erziehende Mütter, gehören ebenfalls zu den am stärksten Betroffenen. Arbeitslosigkeit ist sicher nicht monokausal zu erklären. In der vergangenen Zeit sind viele Arbeitsplätze abgebaut worden, die aufgrund eines zu geringen Wachstums nicht mehr nachgefragt wurden. Für die wachsende Arbeitslosigkeit wird als Ursache immer wieder die Globalisierung der Wirtschaft genannt. Die einheimischen Unternehmen sehen sich einem international starken Wettbewerb ausgeliefert. Eine weltweite Arbeitsteilung hat eingesetzt, zumal die Lohn-

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

kostenentwicklung, die Arbeitszeiten, der Kündigungsschutz, die Steuer- und Abgabenpolitik selbst in den europäischen Ländern unterschiedlich geregelt sind. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass Unternehmen vor allem aus Kostengründen ihre Produktionsstätten ins Ausland verlagern und damit die heimischen Investitionen zurückfahren. Länder mit niedrigem Lohnniveau werden zukünftig arbeitsintensive Produktionen übernehmen, während Länder mit hohem Lohnniveau sich mehr und mehr auf die Produktion konzentrieren, die einen hohen Kapitalseinsatz erforderten. In solchen Fällen steigt der Bedarf an (hoch) qualifizierten Arbeitskräften. Man kann mehrere Formen von Arbeitslosigkeit unterscheiden: Die zyklische oder konjunkturelle, die strukturelle, friktionelle, saisonale oder die technologische Art. Die friktionelle Arbeitslosigkeit ist durch kurzfristige Anpassungsschwierigkeiten im individuellen und betrieblichen Bereich gekennzeichnet. Diese Form von Arbeitslosigkeit entsteht infolge von Kündigung oder aufgrund eines Konkurses. Die Arbeitnehmer sind die Leidtragenden und verlieren ihre Stellung. Die konjunkturelle Arbeitslosigkeit rührt von einem gesamtwirtschaftlichen Nachfragemangel und einer mangelnden Auslastung des Produktionspotentials her. Sie geht leicht in die strukturelle Arbeitslosigkeit über. Die strukturelle Arbeitslosigkeit hat mehrfache Gründe. Ihre Ursache liegt zum einen in der Ordnungsstruktur des Arbeitsmarktes und zum anderen in der Verhärtung von Strukturen in der Arbeitslosigkeit. Technologische Entwicklungen wie die Aufgabe oder Reduktion ganzer Industriezweige sind hier zu nennen. Darum handelt es sich auch um eine Arbeitslosigkeit, die aufgrund einer geringen Flexibilität auf Seiten der Unternehmen oder aus Mangel an Mobilität der Arbeitnehmer entsteht. Trotz freier Stellen werden viele Menschen arbeitslos! Saisonale Arbeitslosigkeit hat ihren Grund in zeitlich bestimmten Entwicklungen. Technologische Arbeitslosigkeit lässt Arbeitslose entstehen, weil die technische Entwicklung sich verändert. Das größte Problem in der Beseitigung der Arbeitslosigkeit liegt bei der so genannten Sockelarbeitslosigkeit. Diese betrifft eben die große Zahl der ungelernten jungen und alten Arbeitlosen. Sie suchen zum ersten Mal Arbeit oder versuchen, im Alter wieder in ein geregeltes Arbeitsverhältnis zu kommen. Hier können nur intensive Maßnahmen zu Aus- und Weiterbildung helfen. Die Debatte über die Zukunft der Arbeit hat so gut wie fast jede Nation erfasst. Bei der Last der Arbeitslosenzahlen, den erdrückenden Steuern, den überlasteten Sozialsystemen und einem Wirrwarr von Regulierungsmaßnahmen und Gesetzen wird man sich zu fragen haben, ob nicht das politische Handeln zu

4. Wirtschaftsethische Probleme

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Gunsten der Arbeitsverhältnisse verbessert werden muss. Gesucht werden muss eine flexiblere Arbeitsmarktpolitik, niedrigere Steuern und differenziertere geringere Abgaben für Renten- und Sozialleistungen. Aber für keine Handlungsweise ist eine Antwort, die allgemeine Akzeptanz verspricht, in Sicht.

4. Wirtschaftsethische Probleme Ethik will nicht das menschliche Verhalten regeln. Sie kann das gar nicht. Vielmehr soll sie die Normen oder Regeln, nach denen gehandelt wird, begründen und einsichtig machen. Denn Ethik hat zum Gegenstand nicht etwa Tatsachen, sondern Werte. Sie hilft dem Menschen, zu erkennen, was er tun soll und tun muss. Sie bietet nur ihre Hilfe zur Entscheidung an. Also wird sie dem Einzelnen die Verantwortung für sein Handeln aufzeigen, ohne dass diese ihm abgenommen wird. Darum hat sie grundsätzlichen Charakter, indem sie aufzeigt, was nach den Kriterien von Gut und Böse theoretisch die Grundlage des menschlichen Handelns ist. Insofern weist Ethik auch auf die Möglichkeit hin, in Alternativen zu denken. Die Aufgabe der Wirtschaft liegt darin, die Bedürfnisse der Menschen in der Bereitstellung von Gütern und Diensten zu erfüllen. Der Mensch soll in Form einer Bereitstellung von Gütern in quantitativer und qualitativer Hinsicht versorgt werden. Dabei geht es nicht allein um die Anhäufung von Gütern. Vielmehr muss zugleich ein Wachstum im Bereich der Dienstleistungen erfolgen. Aus der Geschichte der Wirtschaft sind zwei Beispiele anzuführen, die aufweisen, dass sich bei der Durchsetzung von Eigeninteressen ein größtmöglicher Wohlstand erreichen lasse. Erstens: In der Bienen-Fabel von Bernard Mandeville wird die Ethik aus der Marktwirtschaft entfernt. Am Beispiel des Bienenstaates legt er dar, dass das staatliche Zusammenleben und die Arbeitsteilung nicht auf den sozialen Trieben beruhen, sondern auf dem Egoismus der Menschen. Denn die einzelnen Bienen im Bienenstock sind jeweils auf den eigenen Nutzen bedacht und formen so eine geordnete Gesellschaft. Ähnlich gehen auch die Menschen vor. Sie erzielen durch Habgier, Eigennutz und Betrug letztlich die gesellschaftliche Wohlfahrt. Es sind also keineswegs die Tugenden, auf die die Gesellschaft baut. Der Wohlstand wird also vielmehr durch die Laster der Bürger gewonnen. Anders ausgedrückt heißt das, das öffentliche Wohl (benefits) wird durch das private Laster (vice) gefördert. Mandeville argumentiert frei von jeder Ethik. Die Leidenschaften der Menschen sind der Motor der Wirtschaft. Für ihn ist nicht der individuelle Nutzen mit dem Nutzen des Volkes identisch. Nicht die persönliche Tugend ist für das Wohlergehen der Gesellschaft förderlich, sondern im Gegenteil der Luxus, die

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2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

Verschwendung, der Krieg und die Ausbeutung. Der Wohlstand beruht danach auf der Arbeit der Unterprivilegierten. Zweitens: Auch Adam Smith sieht in der Triebkraft des Eigennutzes das wirksame Handeln des Menschen. Diese Triebkraft entspricht der Natur des Menschen. Sie bewirkt den größt-möglichen Wohltand aller Menschen. Im Eigennutz des Einzelnen sieht er also die treibende Kraft innerhalb der Ökonomie. Durch die unsichtbare Hand des Wettbewerbs handeln die Menschen effizient. Sie kommen zu diesem Optimum mittels des egoistischen Motivs, wenn die Bedingungen einer vollständigen Konkurrenz und kostenfreien Durchsetzung der Verträge herrschen52. Freilich sind diese in der Wirklichkeit nicht erfüllt. Indessen, die egoistische Triebkraft darf nicht der alleinige Maßstab sein. Denn dann würden sich viele Menschen ausschließlich mit lukrativen aber amoralischen Geschäften abgeben. Es ist Aufgabe des Staates und der Gesellschaft zu verhindern, dass sie das tun können. Es darf dem einzelnen Ökonom nicht allein überlassen bleiben, ob er gefährliche Waren produziert oder ob er mit amoralischen Dienstleistungen handelt. In der Gegenwart dagegen stellt sich auf wirtschaftsethischem Gebiet eine eng verschlungene Doppelfrage: Wie lässt sich Verständnis gewinnen für die Diskrepanz zwischen der Verkündung von milliardenschweren Gewinnen und der Absicht, hundert oder gar tausend Stellen im Inland abzubauen und damit die Zahl der Arbeitslosen zu vergrößern? Man wird hoffentlich zwar nur in den wenigsten Fällen beide Mitteilungen in einem Atemzug verkünden. Aber immerhin bleibt ein hohes Maß an Unverständnis in der Öffentlichkeit dafür erhalten. Zur Begründung dieser Maßnahmen verweist man generell 1. auf die Notwendigkeit einer globalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, wo die Gewinne angefallen sind; 2. macht man auf die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen aufmerksam, die sich gegen Übernahmeversuche zu wehren haben; 3. gibt man zu bedenken, dass man solche Einschnitte aus der Position der Stärke heraus durchführen muss, sonst würde man zu einer späteren Zeit weitaus tiefere Einschnitte vollziehen. Dennoch wird man oft den Verdacht nicht los, dass man einen solchen Abbau von Arbeitsplätzen nur vornimmt, weil das die Analysten und Investoren an den Börsen gern sehen, und so der Aktienkurs gepflegt werden kann. Mindestens müsste die Begründung für diese Maßnahme von Entlassungen 52

Vgl. Koslowski, Peter, Prinzipien der ethischen Ökonomie, Tübingen 1998, S. 24.

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wahrheitsgemäß nachgeliefert werden. Da es um die eigenen Mitarbeiter geht, dürften die Vorstände der Unternehmen solche rigiden Maßnahmen gegen ihr Personal nicht in einer kurzfristigen Planung vornehmen, sondern über eine längere Zeit ausdehnen. In jedem Fall ist es ausgesprochen kontraproduktiv, beide Mitteilungen miteinander zu verknüpfen und dann vielleicht noch in unmittelbarer Verbindung mit der Ankündigung höherer Bezüge für die Vorstandsmitglieder. Eine andere Frage stellt sich im Zusammenhang mit den Vorstandsgehältern, die zum Teil exorbitant steigen, während man sich gleichzeitig etwa bei Tarifabschlüssen gegen eine Steigerung der unteren Einkommen zur Wehr setzt oder gar einen Stellenabbau ins Auge fasst. Psychologisch ist eine Koinzidenz beider Ereignisse zu vermeiden. Andererseits aber ist darauf zu verweisen, dass es in der Gesellschaft bei hohen und höchsten Leistungen (im Sport oder Showgeschäft) ebenso „übernormale“ Entlöhnungen gibt, ohne dass es gleich zu ähnlichen Forderungen aus Neidmotiven kommt. Schließlich muss es auch so etwas wie einen „unternehmerischen Anstand“ geben, der die Erhöhung von Vorstandsgehältern oder Abfindungen und die von Tariferhöhungen in ein rechtes Verhältnis setzt. 4.1 Christliche Wirtschaftsethik Religiöse Themen sind nicht nur Gegenstände der Privatsphäre, sondern gerade Themen der Gesellschaft. Die Wirtschaft ist ein Teil der Gesellschaft und nicht aus dieser auszuklammern. Sie ist kein Sonderbereich, in dem es anders zugeht als in dem üblichen Leben. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das Leben auf Grund einer religiösen Überzeugung ökonomisch erfolgreicher abläuft. Das wirtschaftliche Handeln dient dem Menschen. Auch das religiöse Denken hat eine gleiche Dienstfunktion. Aber das wirtschaftliche Tun ist dem Vorletzten, das Religiöse dagegen dem Letzten verpflichtet. Das Ökonomische Denken ist letztlich auf die Erzielung von Gewinn ausgerichtet. Doch dieses ist wiederum im religiösen Denken nicht das letzte Ziel im Leben der Menschen, auch wenn es hier und dort von vielen Menschen als Zielsetzung im Leben angestrebt wird. Zwar wird dem wirtschaftlichen Erfolg weltweit große Bedeutung zugemessen. Indessen werden die Menschen lernen müssen, dass das Wirtschaftswachstum nicht mit Glück oder mit Lebenszufriedenheit gleichzusetzen ist. Menschliches Sein ist mehr als nur als ein ökonomischer Zustand. Glück und Zufriedenheit werden nicht durch die Komponenten Wachstum, höheren Umsatz oder größeren Gewinn geprägt. Allerdings stellt sich die Frage: Widmet der Mensch den materiellen Dingen zuviel von seiner Kraft? Freilich stimmt es

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für viele Bereiche: Statt dass der Mensch die materiellen Dinge besitzt, besitzen sie ihn. Wo die soziale Bindung intakt ist, wo eine kräftige Gesundheit herrscht oder die Sinn- und Lebensmitte in Ordnung ist, da tritt zunehmend das eigene Glück hervor. Wo Menschen die Mitte ihres Lebens verloren haben, wo der Rhythmus ihres Lebens abhanden gekommen ist, bedarf es einer Neuorientierung. Hier kann die Grundlage des christlichen Glaubens dem Einzelnen weiterhelfen. Denn die positive Ausrichtung des Bankkontos allein schenkt dem Menschen nicht die Mitte seines Lebens. Eine im christlichen Denken verankerte Wirtschaftsethik kann nicht unmittelbar aus der Botschaft des Alten und Neuen Testamentes abgeleitet werden. Sie ist nur indirekt den überlieferten biblischen Schriften zu entnehmen. Eine Wirtschaftsethik kann nicht einfach gesetzlich vorgehen und in Form einer Abhängigkeit eines „Wenn-Dann-Schemas“ Erfolgsrezepte verabreichen. Die christliche Ethik muss den Bereich der Wirtschaftsethik vom christlichen Menschenbild her denken. Der Christ geht von der „Frohen Botschaft“ der Erlösung aus. Er darf den Indikativ dieser Verkündigung als Grundlage seines Existenz annehmen und damit aus der Vergebung für die Sünde leben, die in der Abkehr vom Glauben an den Schöpfergott besteht. Jesus wollte keineswegs die Botschaft von der Erlösung des Menschen zugunsten einer moralischen Botschaft aufgeben, wie heute die biblischen Texte hier und dort verkürzt wiedergegeben werden. Denn Christus hat nicht den Kultus zu Gunsten einer irgendwie gearteten moralischen Botschaft verkürzt. Der Imperativ des Menschen folgt dann dem Indikativ. Erst danach ist ein Konsens zwischen den Beteiligten herzustellen. Nur wem ein bestimmtes Ziel vorgegeben ist, der kann sich entsprechend verhalten. Ethische Entscheidungen können sowohl in der Ordnung des einzelwirtschaftlichen als auch des gesamtwirtschaftlichen Handelns liegen. Ist die Frage im mikroökonomischen Bereich angesiedelt, wird sie diskursiv durch die einzelnen Verantwortlichen entschieden werden können. Nur dadurch, dass das Unternehmen Güter und Dienstleistungen produziert, erfüllt es seine soziale Bedeutung, dem Gemeinwohl der Gesellschaft zu dienen. Wo Gewinn erzielt wird, sind die Produktionsmittel richtig eingesetzt. Allerdings ist der erzielte Gewinn eines Unternehmens nicht durchweg ein Ausweis dafür, dass dieses sich auch in ethisch verantwortlicher Weise verhält. Es kann beispielsweise diesen Gewinn durch Ausbeutung der Mitarbeiter, einen rigorosen Verbrauch der Ressourcen oder durch eine Produktion von lebensbedrohlichen Produkten (Drogen etc.) erzielt haben.

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Aber in der Marktwirtschaft mit Wettbewerbsordnung hat das Unternehmen nur die Entscheidung, einen Gewinn – möglichst in maximaler Höhe – zu treffen oder vom Markt zu verschwinden. Liegt die ethische Entscheidung dagegen im makroökonomischen Rahmen der Wirtschaftspolitik, wird man es eher, um mit dem Begriffen des Sportes zu reden, mit Spielregeln zu tun haben und nicht wie im Mikrobereich mit Spielzügen53. Zwischen der Wirtschaft und der Wirtschaftsethik besteht kein qualitativer Unterschied. Die beiden Bereiche widersprechen einander nicht, sie schließen sich auch nicht aus. Vielmehr durchdringen sie einander und ergänzen sich. Beide haben eine je eigene Zielsetzung hinsichtlich der Entwicklungen menschlicher Existenz. Wirtschaftsethisches Handeln darf letztlich nicht dem wirtschaftlichen Erfolg entgegenstehen. Dieser hat ethisch das Wirtschaften zu Gunsten des gesetzten Zieles und der zu stützenden Personen zu beeinflussen. Die mit dem Wirtschaften ausgeführten Tätigkeiten müssen also wirtschaftlich effizient gestaltet sein. Denn sonst werden Ressourcen verschleudert oder das angestrebte Wirtschaftswachstum nicht erreicht. Dazu bedarf es der Ausrichtung auf eine Solidarität unter den Menschen und auf die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit. Wirtschaftsethik muss die Strukturen des Bösen bekämpfen, die immerhin Unterentwicklung, Armut und Erniedrigung hervorbringen. Die Wirtschaftsethik setzt die Freiheit des Handelns voraus. Nur wer frei sein Handeln bestimmen kann, wird sich auch ethisch oder moralisch verantwortungsbewusst verhalten. Zwar wird zwischen Ethik und Moral oftmals nicht differenziert. Dennoch sind Unterschiede herauszustellen. Die wesentliche Differenz zwischen Ethik und Moral besteht darin, dass man in der Ethik allgemeingültige Aussagen über das gute und gerechte Handeln machen will, das zumal im christlichen Sinn auf den letzten Sinn des christlichen Glaubens hin ausgerichtet ist. Ethik ist mehr oder weniger das Ergebnis einer theoretischen Reflexion über das Verhalten des Menschen hinsichtlich der Kriterien von Gut und Böse. Dem Menschen ist sein Handeln nicht vorgegeben, sondern er ist frei in seiner Entscheidung. Aber nicht alles, was ethisch erstrebens- oder wünschenswert ist, ist auch ökonomisch machbar. In der Moral dagegen werden Grundsätze herausgestellt, die das menschliche Verhalten im Positiven wie im Negativen zu regeln versuchen. Das moralische Denken stellt den normativen Grundrahmen für das Verhalten des Menschen dar. Es ist gesetzlich orientiert. Ihm liegen Handlungsregeln, Wert- und Sinnvorstellungen zugrunde, die sich im Wesentlichen bewährt haben. In der Moral 53 Vgl. Homann, Karl, Blome-Drees, Franz, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, S. 20 ff.

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unterwirft „man“ sich allgemeinen Verhaltenscodices, in denen viele Menschen sich wiederfinden können. Nach christlicher Überzeugung liegt die Basis im Handeln Gottes. Hinter dem Handeln des Einzelnen steht das Gleichnis von den anvertrauten Geldern (Mt. 25, 14–30 und Lk. 19, 12–27). Man muss mit den anvertrauten Talenten wuchern! Der Herr belohnt denjenigen, der mit den anvertrauten Geldern effektiv arbeitet, und er zürnt dem, der nichts tut und die Gelder nur aufbewahrt. Vom einzelnen Menschen wird unter diesen Voraussetzungen eine Leistung abgefordert. Er darf sich nicht darauf verlassen, dass alles wieder ins Lot kommen werde, wenn er nur gläubig bekennt oder ausgiebig betet. Ein Einsatz und ein Handeln mit Sach- und Fachkenntnis wird gefordert! Dem Menschen wird Liebe zuerst ohne jede Vorleistung erwiesen. Wer das erkennt, wird gegenüber seinem Mitmenschen anders eintreten als einer, der davon nicht geprägt ist. Diese Erkenntnis bestimmt den Unternehmeralltag ebenso wie den des Mitarbeiters. Allerdings gibt es keine Garantie für einen Erfolg, auch für den Christen nicht. Aber diese wissen um die „Beihilfe“ Gottes beim Erfolg. Das religiöse Denken relativiert das wirtschaftliche Handeln. Die auf der Gottesebenbildlichkeit des Menschen beruhende Würde ist der Maßstab eines Christen, nach dem der einzelne Mensch beurteilt wird. Es wird eben nicht danach gefragt, ob er Grieche, Sklave, jung oder alt, gesund oder krank ist, mit viel oder geringerem Entgelt entlohnt wird54. Jeder gehört mit gleichem Recht und demselben Anspruch zur Schöpfung Gottes. Der Marktwirtschaft wirft man vor, dass sie zu einer Ellenbogengesellschaft mit sozialer Kälte führe. Also glaubt man, die Ethik, besonders auch die christliche, stehe in einem Widerspruch zur Marktwirtschaft55. Aber gerade das tut sie nicht. Sie ergänzen sich vielmehr. Es ist Aufgabe der Politik, die Ethik in der Marktwirtschaft zu realisieren. Treten dennoch hier und dort zwischen der Ökonomie und der Sozialethik Gegensätze auf, müssen diese dann ebenfalls von ihr geebnet werden. Der Markt hat es immer mit Wettbewerb zu tun. Er gestaltet den Zuteilungsspielraum, der die Solidarität der Menschen bestimmt. Die Marktwirtschaft ist von allen Systemen die beste Ordnung, um die Solidarität unter den Menschen zu verwirklichen. Nur dort, wo Markt und Wettbewerb in einem guten Zustand zueinander stehen, wird sich Solidarität und Verteilungsgerechtigkeit einstellen. 54 Im Galaterbrief des Apostels Paulis heißt es: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal. 3,28). 55 Im Gegensatz zu den früheren Veröffentlichungen, z. B. in: Die postmoderne Gesellschaft und der religiöse Pluralismus, Berlin 2004, S. 113 ff. soll hier nicht auf die makroökonomische Situation eingegangen, sondern vor allem der mikroökonomische Bereich behandelt werden.

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Die Ethik will Solidarität und Gerechtigkeit verwirklicht sehen. Darum muss man die Marktwirtschaft in ihren Funktionen nicht nur erhalten, sondern sie so in Stand setzen, dass sie ihren Funktionen entsprechend zu einer besseren materiellen Verteilung und sozialen Gerechtigkeit führt. Der Markt ist gegenüber staatlichem Protektionismus und der Subventionierung bestimmter ökonomischer Bereiche zu stärken. Darum ist es eine dringende Aufgabe der Politik, wie oben bereits ausgeführt, für eine Rahmenordnung zur Erhaltung von Wettbewerb und Markt zu sorgen. 4.2 Korruption und Schwächen in der Wirtschaft Kommt es zu Entwicklungen, in denen sich einzelne Menschen aus der Bevölkerung Macht oder Reichtum auf illegale Weise verschaffen, indem sie nach privaten Vorteilen auf Kosten der Gesellschaft streben, entsteht Korruption. Sie ist in allen komplexen Gesellschaften mehr oder weniger vorhanden. Vorrangig wird man auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet ihr Entstehen nachweisen können. Aber auch in anderen Bereichen sind Korruptionen festgestellt werden. Sie entstehen auf unterschiedliche Weise: Z. B. wenn derjenige, der in der Gesellschaft bei der Leistungserstellung nicht mithalten kann, die Spielregeln verwirft und auf anderen Wegen (auch kriminellen) versucht, erfolgreich zu sein, oder wenn derjenige, der meint, familiären oder anderen Gruppen (amoralisch) zu helfen, zu denen er sich zugehörig zählt und denen gegenüber er glaubt, verpflichtet zu sein, indem er ihnen Angenehmes oder Gutes unverdient zukommen lässt56. Ebenfalls kulturelle Unterschiede können dafür maßgeblich sein. Die Religion wiederum kann als ein wichtiger Grund für das Auftreten von solchen Unterschieden in Gesellschaften genannt werden. Hinsichtlich der Korruption in der Wirtschaft meint man, in den verschiedenen Religionen eine Antwort auf das Verhalten der Menschen zu erhalten. So soll es etwa eine Differenzierung zwischen lutherischem und katholischem Denken geben. Man glaubt, beobachtet zu haben, dass sich in vorwiegend protestantischen Ländern weniger Korruptionsfälle als in anderen ereignen. Das protestantische Ethos kenne nämlich ein normentreueres Verhalten als andere Religionen. Diese Einstellung sieht man vor allem bei Sektierern ausgeprägt. Sie rufen den einzelnen Menschen in die Verantwortung, wenn es darum geht, Sünde zu vermeiden. In anderen christlichen Bekenntnissen, vor allem im Katholizismus, ist es aufgrund einer inhärenten Schwäche des Menschen schwieriger, der Sünde und dem Irrtum zu entgehen. Hier bedarf es des Schutzes durch die Kirche und der 56 Siehe dazu die Ausführungen von Seymour Martin Lipset und Gabriel Salman Lenz, Korruption, Kultur, Märkte, in: Samuel P. Huntington, Lawrence E. Harrison, Streit um Werte, München 2004, S. 167 ff.

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Vergebung durch den Priester. Man meint sogar, dass die katholische, anglikanische und auch die orthodoxe Kirche eher geneigt seien, die menschlichen Schwächen zu akzeptieren, weil der Priester die Befugnis hat, den Einzelnen von seiner Verantwortung freizusprechen. Die Hinnahme der menschlichen Schwäche ist dann die natürliche Konsequenz57. Sektiererische und evangelikale Gruppierungen fördern allerdings stärker absolute Werte und drängen ihre Anhänger dahin, die Tugend durchzusetzen und das böse Tun zu vermeiden. Man verlangt ein rechtschaffenes Leben von den Mitgliedern. Bei dieser Argumentation wird vergessen, dass nach evangelisch-lutherischer Auffassung die Menschen allzumal Sünder sind und der Rechtfertigung bedürfen. Der Mensch selbst bleibt zeit seines Lebens ein Gerechter und Sünder zugleich (simul iustus et peccator). Gottes Gnade tritt an die Stelle des Gerichtes und des göttlichen Zornes über den Sünder. Diese Gnade der Rechtfertigung lässt sich nicht teilen. Sie umspannt vielmehr die ganze Person. Aber diese bleibt sündig! Der Mensch ist Sünder, ganz und total, wie er auch ganz und total von dem göttlichen Freispruch ohne priesterliche Hilfe durchdrungen wird. Er wird ein neuer Mensch allein aus der Gnade Gottes. Außerdem eignet schließlich gleichfalls dem protestantischen Pastor dieselbe Funktion des Lossprechens wie dem katholischen Geistlichen. Darum stimmen die Aussagen über den Protestantismus nur dann, wenn man einseitig das sektiererische Ethos im Auge hat, mit dessen Hilfe man glaubt, den Menschen zu einem tugendhaften Leben verhelfen zu können. 4.3 Vertrauen als Grundlage des Führungsstils Nach dem Duden heißt Vertrauen Verlässlichkeit. Wörtlich bedeutet Vertrauen (bzw. das Verb vertrauen) nach Wahrig „Deutsches Wörterbuch“: „Fester Glaube daran, dass jemand sich in bestimmter Weise verhält“. Der Brockhaus definiert Vertrauen genauer als „die Einstellung, von einem anderen nichts Böses zu erwarten“. Vertrauen hat also etwas mit Vertrautheit zu tun. In einer Welt, in der alles in Frage gestellt wird oder sich im Umbruch befindet, gerät das Vertrauen der ganzen Gesellschaft in die Krise. Am deutlichsten war diese in der Abstimmung der Franzosen und Niederländer bei der Volksbefragung zur Verfassung Europas zu erkennen. Freilich waren die Gründe für die Ablehnung in beiden Ländern unterschiedlich. In Frankreich herrschten innenpolitische Themen vor, die das Vertrauen für eine politische Verfassung erschütterten. In den Niederlanden führte eine bestimmte euroskeptische Einstellung zur Ablehnung. Ein kleines Land hatte Angst vor den anderen großen und 57 Lipset, Seymour Martin und Lenz, Gabriel Salman, Korruption, Kultur, Märkte, in: Samuel P. Huntington, Lawrence E. Harrison, Streit um Werte, München 2004, S. 179 ff.

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mächtigen Ländern. Man vertraute also dem europäischen Gedanken weniger als dem nationalen. Vertrauen ist auf die Zukunft hin ausgerichtet. Nur Vertrauen schafft die Überwindung der Zukunftsängste. Wo Vertrauen zerrüttet ist, herrscht Angst, und zwar Zukunftsangst. Aber Vertrauen ist immer ein Vorschuss, den man sich letztlich erst verdienen muss. Vertrauen muss in aller Stille gedeihen. Wer viele Worte darum macht, weiß, dass etwas nicht stimmt. Heute ist die Forderung nach Vertrauen in vielen Bereichen der Wirtschaft, in der Produktion ebenso wie im Handel und in der Politik, allgegenwärtig. Politiker und Manager fordern Vertrauen ebenso wie Verkäufer oder Anlageberater. Zwar ist die Suche nach Vertrauen in aller Munde. Aber die negative Wortverbindung ist umgangssprachlich fast noch gebräuchlicher: Vertrauenskrise, Vertrauensschwund, Vertrauensbruch, Vertrauensverlust etc. sind gängige Verbindungen. Wo im Betrieb Vertrauen herrscht, werden Ängste und Bedrohung abgebaut. Aber nicht jeder Vorgesetzte ist zu solchen Gesprächen bereit, obwohl er wissen müsste, dass Vertrauen im Prinzip eine kostengünstigere Produktion erlaubt. Sie ist damit ein ökonomisch wichtiger Faktor. Wichtig ist, dass sich im Ernstfall die Mitarbeiter auf den Vorgesetzten verlassen können. Ist das nicht der Fall, wird nicht nur der Mitarbeiter, sondern auch der Vorgesetzte bald ausgespielt haben. Selbstverständlich werden selbst bei einem noch so guten Vertrauensverhältnis Konflikte auftreten. Aber diese können schneller und reibungslos gelöst werden, wenn der Vorgesetzte seinerseits bereit ist, Fehler zuzugestehen. Wer glaubt, „unfehlbar“ zu sein, hat bald sein Vertrauen verspielt. Das muss Konsequenzen nach sich ziehen: – Die Fehler des Vorgesetzten bleiben immer seine Fehler. – Die Fehler des Mitarbeiters bleiben solange dessen Fehler, solange sie allein in der eigenen Abteilung zur Diskussion stehen. Anders sieht es auf der nächsten Ebene aus. Hier hat der Vorgesetzte für seine Mitarbeiter einzustehen. – Die Erfolge sind die des Mitarbeiters, es sei denn der Vorgesetzte hat diese selbst errungen. Der Vorgesetzte wird entscheiden müssen, wem er mit Vertrauen begegnen kann und wem nicht. Es gibt keine Generalisierung, sondern nur eine Einzelfallprüfung. Schließlich sind nicht alle gleich vertrauenswürdig. Indessen, diese Differenzierung darf keine Willkür sein! Dennoch bleibt Vorsicht geboten. Der Vorgesetzte kann nämlich nicht absolut zwischen einem „guten“ und einem „bösen“ Mitarbeiter unterscheiden. Weiß er wirklich, wen er vor sicht hat? Schließlich gibt es auch einen Wechsel von der einen zur anderen Seite. In jedem Fall muss eine einheitliche Linie verfolgt werden. Ob Vertrauen oder Kontrolle angewandt wird, ist individuell abhängig

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zu machen von der jeweiligen Leistung und Einstellung des Mitarbeiters. Unterschiedliche Maßstäbe bringen nur Chaos in das Führungs-Mitarbeiter-Verhältnis im Unternehmen. Selbstverständlich ist eine Entscheidung nicht als ein für alle Male getroffen anzusehen. Jeder Mensch ändert sich. Andere Zeiten erfordern andere Maßnahmen. Was der Eigenverantwortung des Mitarbeiters dient, sollte gefördert werden. Was dem Ergebnis, dem unternehmerischen Gewinn oder dem Kundenbedürfnis dient, kurz, was das Unternehmen voranbringt, sollte benutzt bzw. praktiziert werden. Dazu dienen am besten individuelle Lösungen. Führen heißt, die Probleme erkennen und sie mit den zuständigen Stellen durchsprechen. Man kann freilich nicht immer gleich eine Lösung parat haben. Gäbe es für alle Fragen immer eine eindeutige praktikable Antwort, fände die umfängliche Personalliteratur keinen so reichen Absatz. Vertrauen ist eine Vorleistung. Das Vertrauen hat seinen Ursprung in der vertrauten Welt; nur in ihr ist Vertrauen möglich. Vertrauen schenken heißt zugleich, Vertrauen ernten. Wer Vertrauen gewährt, setzt darauf, dass auch der Vertrauenspartner seine Verträge etc. einhält bzw. positiv beantwortet. Wer Vertrauen seinem Partner entgegenbringt, schafft neues Vertrauen. Wer dagegen vom Partner Vertrauen fordert, wird sicher keins erreichen. Denn Vertrauen lässt sich nicht erzwingen. Allerdings zeigt sich derjenige, der dem anderen vertraut, verletzlich. Er öffnet sich dem anderen und macht sich so vom ihm abhängig. Wer in einer Partnerschaft oder im Unternehmen dem anderen Vertrauen entgegenbringt, setzt einen Prozess in Gang, an dessen Ende ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis stehen sollte. In einem Unternehmen, in dem vertrauensvoll geführt wird, herrschen zukünftig andere ,Machtstrukturen‘ als in jenem, in dem auf Hierarchie und Abhängigkeit gesetzt wird. Selbstverständlich kann man auch in einem Vertrauensverhältnis Macht einsetzen. Aber dann wird das Vertrauensverhältnis nicht lange anhalten. Zwar müsste zwischen Vorgesetzten und ihren Mitarbeitern Vertrauen, Fairness und Ehrlichkeit herrschen. Aber die Forderung danach ist keineswegs schon ihre Umsetzung. Zugleich mit solchen Wünschen wird von den Mitarbeitern Leistungswille, Nutzenmaximierung für das Unternehmen und kostenbewusstes Handeln erwartet. Der Erfolg in einem Unternehmen hat viele Väter. Wenn die Kosten nicht stimmen, tritt der ökonomische Misserfolg ein. Außer den Produktionskosten ist oftmals die personale Struktur wichtiger als die Reduzierung von Betriebkosten. Ist nämlich die Belegschaft fehlerhaft besetzt, treten viele Schwierigkeiten auf, die noch mehr ins Gewicht fallen als Misserfolge in der Angebots-, Nachfrageoder Kostenstruktur.

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Vertrauen gegenüber Menschen ist, wo immer es praktiziert wird, ein Wagnis. Aber es bleibt zugleich ebenfalls ein Willensakt. Trotz aller gefühlsbezogenen Momente gründet es immer im Verstand. Wer vertraut, will gleichzeitig Vertrauen schenken. In der Unternehmensführung ist die Verlässlichkeit eine wichtige Grundlage für die Zusammenarbeit. Mindestens zwei Zielpunkte muss das Vertrauen haben: 1. gegen sich selbst: Nur der leistet etwas für andere, der ein bestimmtes Maß an Selbstgewissheit besitzt und sich selbst zutraut, Leistungen zu erbringen und Probleme zu lösen; 2. besitzt das Vertrauen auch einen nach außen gerichteten Aspekt, der besagt, dass man alle die Probleme, die man selbst nicht bewältigen kann, gemeinsam mit den Kollegen oder Vorgesetzten lösen kann. Im Leben mancher Menschen gibt es Situationen, in denen sie blind jemandem vertrauen und sich auf ihn verlassen können. Das ist eine Ausnahmesituation. Im Unternehmen geht es ständig um ein gerechtfertigtes Vertrauen. Der Vorgesetzte muss davon ausgehen können, dass er sich auf den Mitarbeiter verlassen kann. Wird dagegen sein Vertrauen missbraucht, hat das Konsequenzen. Aber allein mit Vertrauen kann man kein Unternehmen führen! Andererseits ist es mit dem Leitbild des Menschen durchaus zu vereinbaren, dass auch Misstrauen gegenüber Menschen existiert. Nur mit der Vorstellung vom Guten im Menschen lässt sich kein Unternehmen führen. Darum muss ein gesundes Maß an Kontrolle mit Vertrauen verbunden werden. Stimmt der Satz Lenins wirklich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Wohl jeder möchte, dass ihm vertraut werde. Aber Vertrauen muss erst erlernt werden. Wer Vertrauen schenkt, setzt darauf, dass auch der andere lernt zu vertrauen. Es muss vorgelebt werden! Sozialistisches Planungsdenken war immer geprägt durch Misstrauen. Nicht umsonst waren die Aufpasser die bestbezahlten Arbeitskräfte. Aber das sind unproduktive Kosten. Selbst dort, wo ein intensives Vertrauensverhältnis herrscht, achtet man sehr genau darauf, dass keine Zeit vergeudet und vielleicht für eigene Interessen verbraucht wird. Wo Kontrollen notwendig sind, sind sie kostenträchtig, welcher Art sie auch sein mögen. Entweder bedarf es technischer Installationen oder menschlicher Einsätze, um die Kontrolle vorzunehmen und Überwachungssysteme einzurichten. Trotz allem Vertrauen sind Planungs- und Kontrollabteilungen zur Überwachung und Abrechnung erforderlich. Ganze Systeme zur Beobachtung bzw. zur nachträglichen Durchforstung von Abrechnungen werden benötigt. Selbstverständlich gilt: Vertrauen braucht Freiheit, und wo Vertrauen herrscht, ist immer auch Freiheit zu finden. Kontrolle dagegen ist immer mit Unfreiheit verbunden.

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Otto von Bismarck nannte das Vertrauen eine „zarte Pflanze“. Ist diese zerstört, wächst sie so schnell nicht wieder. Zwar ist gegen ein gesundes Maß an Misstrauen nichts einzuwenden. Immerhin wäre selbst Troja nicht untergegangen, wenn die Trojaner ein wenig misstrauischer beim Anblick des hölzernen Pferdes gewesen wären. Aber wenn Misstrauen zu stark wächst, kann es zersetzend wirken58. Vertrauen ist nicht alles, aber ohne Vertrauen geht nichts in einem Unternehmen. Denn ohne Vertrauen ist jeder Führungsansatz von vornherein tot. Wer langfristig auf Vertrauen setzt, muss auch für seinen Mitarbeiter Zeit haben. Zur Lösung der Probleme ist Zuhören des Vorgesetzten wichtig. Zuhören können, ist eine grundsätzliche Voraussetzung für gutes Führen und dementsprechend für die Motivation von Mitarbeitern. Der Führungsstil des Vertrauens ist immer zugleich in Zusammenhang mit Motivation und Kooperation zu sehen. Vielfach ist man der Meinung, Macht und Geld bestimmen die Motivation. Aber ein Unternehmen kommt ohne eine immaterielle Motivation von Lob und eventuellem Tadel nicht aus. Es gibt keine Motivation ohne eine entsprechende Vertrauensbasis. Ein im Führungsverhalten gelebtes Vertrauen ist von großer Wichtigkeit. Eine zweite Basis im Vertrauensbereich ist die Kooperation zwischen allen Beteiligten. Echte Kooperation ist, wenn sie intensiv sein soll, vom Vertrauen geprägt. Man hatte sich über viele Jahre im letzten Jahrhundert, als man besonders intensiv über den richtigen Führungsstil reflektierte, gegen jede Art von autoritärer Führung entschieden und sich für einen kooperativen, also auf den Mitarbeiter zentrierten Führungsstil stark gemacht. Nicht nur das Staatswesen, sondern auch das Unternehmen sollte eine demokratisch geführte Organisation werden. Aber ist die formale Gestaltung des Führungsstils wirklich so wichtig? Oder ist es nicht in der Praxis viel bedeutsamer, wie der Vorgesetzte seine Mitarbeiter mit Motivationselementen führt? Sicher mag es für viele Mitarbeiter angenehm sein, Kooperativ mit dem Vorgesetzten und den Kollegen den Betriebsalltag zu erleben. Aber nicht jeder will in einem gleichberechtigten Umgang mit seinem Vorgesetzen seine Arbeit verrichten. Auch ist keineswegs von vornherein gesagt, dass dieser Führungsstil der effektivere ist! Er kann durchaus zu einer unfruchtbaren Kumpanei führen. Wo Menschen miteinander arbeiten, bleiben natürlich auch Reibungen und Konflikte nicht aus. Eine Zusammenarbeit ohne Spannungen gibt es nicht. Es darf aber nicht bei einer Konfliktsituation bleiben. Selbst in einer gut geführten

58 Vgl. Dreysson, Christian, Tief in der Grube, in: Wirtschaftswoche Nr. 27 vom 30. Juni 2005, S. 34 ff.

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Ehe kommen hinreichend Meinungsverschiedenheiten vor. Man muss nur wissen, wie man mit ihnen umgeht – in der Ehe wie im Unternehmen. Ob Vertrauen im Unternehmen herrscht, entscheidet sich letztlich erst in einem Konfliktfall. Das Leben in einem Vertrauensverhältnis ist in einer betrieblichen Atmosphäre des Sonnenscheins ein leichtes. Aber bewähren muss es sich erst im Spannungsfall. Vertrauen darf nicht blind gelebt werden. Wer in einem Unternehmen jemandem leichtsinnig vertraut, handelt leichtfertig oder naiv. Jedes Unternehmen wird seine Mitarbeiter auf unterschiedliche Werte festlegen. Allen voran geht es um Ehrlichkeit, Respekt, Vertrauen, Verlässlichkeit. Aber natürlich spielen auch spezielle Werte wie Ziel- oder Ergebnisorientierung oder die besondere Ausrichtung auf die Kunden, die Mitarbeiter, Lieferanten oder Aktionäre eine Rolle. Dazu gehören ebenfalls ein richtiges Terminieren und klare und eindeutige Verantwortlichkeiten. Das heißt auch eine klare Zuordnung der Kompetenzen. Heute wird die vertrauensvolle Zusammenarbeit jedoch weitestgehend hinterfragt. In der Kulturanthropologie gibt es ein Phänomen, das man den BongoBongoismus nennt. Danach wurde ein Ethnologe, der eine konkrete Kultur untersuchte und darstellte, von seinem Kollegen jeweils konterkariert, indem dieser darauf hinweist, dass alle Ergebnisse des ersten Forschers bei den Bongos ganz andere aussähen. Als Erfahrungswert lässt sich das auf viele Unternehmen oder Abteilungen übertragen. Es gibt es immer wieder Beispiele, in denen alles immer ganz anders aussieht und gehandhabt wird als anderswo. Aufgrund der industriellen Entwicklung haben sich die körperlichen Anforderungen, die zur Ausübung der unterschiedlichen Berufe notwendig sind, gewandelt. Es werden heute weniger Körperkräfte als Konzentration, Kreativität und Übersicht gefordert. Insofern gibt es durchaus Berufe, in denen selbst im Alter die Leistungsfähigkeit nicht geschwunden ist. Darum gibt es selbst im BerufsAlltag einen vielseitigen Bongoismus. Existiert in einzelnen Betrieben ein Jugendwahn, dem man bei der Einstellungspraxis von jüngeren Mitarbeitern gegenüber älteren huldigt, wird in anderen gleichzeitig versucht, entlassene ältere Arbeitnehmer wieder in die Betriebe zurückzuholen, weil man auf ihre Erfahrungen nicht verzichten kann. 4.4 Monetarisierung der Gesellschaft Das Wort Geld ist im Deutschen vom Verb ,gelten‘ abzuleiten. Dieser aus dem Mittelhochdeutschen herrührende Begriff bedeutet soviel wie Vergelten, Vergüten, Einkommen oder Wert. Als geprägtes Zahlungsmittel ist das Wort erst in jüngerer Zeit gebräuchlich59. 59

Vgl. dazu insgesamt: Kramer, Rolf, Ethik des Geldes, Berlin 1996, S. 20 ff.

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Im wachsenden Handelsverkehr brauchte man ein Zwischentauschgut. Geld ist heute das von der Gesellschaft anerkannte Tauschmittel. Als allgemeines Tauschmittel ermöglicht es die arbeitsteilige Wirtschaft. Es ist die allgemein akzeptierte Recheneinheit in einer Volkswirtschaft. „Man zahlt in Geld, man rechnet in Geld“60. Geld wird heute außer als Tausch- und Zahlungsmittel selbstverständlich auch als Wertaufbewahrungsmittel anerkannt. Als Zahlungsmittel geht es über die Art eines Tauschmittels hinaus61. Es dient zur Kreditvergabe oder zur Schuldentilgung. Die Rechtsordnung verpflichtet jeden Betroffenen, Geld in Zahlung zu nehmen. 4.4.1 Sozialethische Perspektiven Seit der Antike ist die Spruchweisheit bekannt: Geld regiert die Welt. Damit wird dem alten Grundsatz, der aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert stammt, Rechnung getragen: Pecunia una regimen est rerum omnium (Das Geld allein regiert alle Dinge). In Goethes Faust wird schließlich kaum anders gedacht, wenn Margarete ausruft: „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles“! Im Alten Testament wird Kaesaep für das Material Silber und geradezu als Synonym für (Silber-)Geld gebraucht. Die Zahleinheiten sind identisch mit den Gewichtseinheiten. Als Grundeinheit gilt der Schekel (durchschnittlich 11,4 g Silbergehalt). Er ist die heutige Währung Israels. Das Verb skl bedeutet im Hebräischen abwägen und bezahlen. Das Wort weist auf die Zeit hin, da noch mit gewogenen, ungleichen Metallstücken bezahlt wurde. Der Händler ist derjenige, der das Silber korrekt abwägt (Spr. 11,1). Geld wird wie anderes Eigentum im Alten Testament weder als schlecht noch als gut angesehen. Geld und die Güter der Welt sind Geschenke Gottes (5. M. 13,7 ff.). Allerdings wird auch auf die Gefahren und die Vergänglichkeit des Reichtums hingewiesen (Hiob 27,16). Geld und generell Reichtum können den Menschen zu Hochmut und Gottvergessenheit führen (5. M. 8,12 ff.). Geld steht nach dem siebten Gebot: „Du sollst nicht stehlen“ unter dem besonderen Schutz des Schöpfers. Darum heißt es in der Erklärung von Luthers Kleinem Katechismus zu diesem Gebot: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsers Nächsten Geld oder Gut nicht nehmen, noch mit falscher Ware oder Handel an uns bringen, sondern ihm sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten“. Auch der Betrug mit Geldstücken wird verworfen: „Ihr sollt nicht unrecht handeln im Gericht, mit der Elle, mit Gewicht, mit Maß. Rechte Waage, rechtes Gewicht, rechter Scheffel und rechtes Maß sollen bei euch sein“ (3. Mos. 19,35 f.; vgl. 5. M. 25,13). 60 61

Merk, Gerhard, Einführung in die Geldlehre, Frankfurt/M. 1974, S. 13. Vgl. Issing, Ottmar, Einführung in die Geldtheorie, München 91993, S. 1.

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Im Neuen Testament blieb diese Einstellung zum Geld erhalten. Die Nutzung des Geldes wird ausdrücklich erlaubt. Der treue und kluge Knecht ist der Verwalter der ihm anvertrauten Güter (Mt. 24, 45). Das ergibt sich beispielsweise auch aus dem Gleichnis vom anvertrauten Geld (Lk. 19,11 ff., 23) oder aus der Stellungnahme Christi zur Steuerfrage (Mt. 22,15 ff.). Allerdings steht der Gehorsam gegenüber der Ehre Gottes höher als der gegenüber dem Kaiser und dessen Anspruch. Darum ergehen über den Reichtum auch negative Urteile. Reichtum und die Reichen selbst werden getadelt. Sie stellen falsche Werte dar. Der maßgebliche Begriff für das Geld ist der des Mammons. Dieser kommt im Alten Testament nicht vor. Wer dem Mammon nachfolgt, wendet sich von Gott ab. Es wird also eine Verknüpfung von Gottes- und Mammondienst ausgeschlossen62. Denn der Mammon bestimmt ebenso wie Gott den ganzen Menschen: „Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen“ (Lk. 16,13). Denn: „kein Knecht kann zwei Herren dienen“ (Lk. 16,13). Mammon hat einen abwertende Bedeutung: „Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn es zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten“ (Lk. 16,9). Geld kann Segen und Gabe Gottes sein. Aber der Mensch kann ebenfalls von ihm in Abhängigkeit geraten. Das allerdings wäre dann eine falsche Abhängigkeit. Geld wird verworfen oder verteufelt. Über Geld spricht man nicht, man hat es. Das Streben nach Geld bzw. Mehr-Geld ist zu einem Grundphänomen unserer Gesellschaft geworden. Denn heute hat sich eine Monetarisierung der Gesellschaft durchgesetzt, die viele Menschen lange Zeit für undenkbar gehalten haben. Es werden kaum noch Dienste oder Hilfen angeboten, die nicht mit Geld aufgewogen bzw. abgegolten werden müssen. Verschiedene Berufsgruppen, die man früher als altruistisch kannte, zeigen sich als empfänglich für „Verdienstmöglichkeiten“. Andererseits haben sich die Einkommenschancen in den Gesellschaften vervielfacht. Oft stellt nicht mehr die Bildung oder das handwerkliche Können die Grundlage dafür dar, sondern eher eine besondere Begabung oder ein Einfallsreichtum bzw. Kreativität bei der Einkommenssteigerung. Sportler, Erfinder, Techniker, Manager, Politiker oder Mediziner liefern Beispiele dafür. Der skrupellose Gebrauch – bzw. Missbrauch – des Geldes in der Gesellschaft von einzelnen Gruppen wirft immer neue Fragen auf, die zwingend nach Antworten im persönlichen und sozialen Handeln verlangen. Die Beeinträchtigung unterschiedlicher Sportarten durch Doping und Wettskandale ebenso wie die aufkommenden Korruptionsskandale in den verschiedensten Bereichen der Wirtschaft oder die Lebensmittelskandale in Deutschland sind Beispiele für eine erschreckende Monetarisierung der Gesellschaft. 62

Vgl. Kramer, Rolf (1996), S. 45 ff.

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Nach der Lehre der katholischen Kirche gebrauchen die Menschen das Geld falsch und richtig, sündig und korrekt, negativ und positiv. So konnte Augustin etwa einen rechtmäßig erworbenen Reichtum anerkennen. Aber Habgier ist eine Sünde. Dennoch wird den Reichen ein standesgemäßes Leben eingeräumt. Anders verhält es sich allerdings mit dem Reichtum, mit dem man schlecht umgeht. Ausgiebig wurde in der Kirche die Frage des Zinsnehmens erörtert. Die frühe Kirche war ein radikaler Gegner der Zinsgeschäfte. Von vielen Konzilien wurde das Zinsnehmen den Priestern verboten. Leo der Große hat dann das Verbot auf die Laien übertragen. Der Konsumtivkredit wurde generell verboten. Diese Art Wuchergeschäfte überließ man den Ungläubigen, den Juden. Aber man umging das Verbot des Zinsnehmens durch Entgelte für entgangenen Gewinn und entstandenen Schaden. Die Lockerung des absoluten Zinsverbotes erfolgte im Laufe des 16. Jahrhunderts. Den ersten Anstoß dazu gaben die Leihhäuser, die ,montes pietatis‘, die bereits während des 15. Jahrhunderts in mehreren Städten Italiens Kleinkredite an Handwerker und Gewerbetreibende vergaben. Hier herrschte der Gedanke der Caritas, die Hilfe für die Schwachen leisten wollte, vor63. In der katholischen Theologie, ebenso in den sozialen Verlautbarungen des apostolischen Stuhls werden die ethischen Geldprobleme nur am Rande erwähnt. In der Kirchengeschichte behandelte man die ethische Frage als ein Adiaphoron, also nur am Rande. Der Mensch wird nicht als Eigentümer, sondern als Verwalter der Güter und des Geldes angesehen. Als die Kirche die Bankgeschäfte selbst übernahm, hatte man ein besonderes Interesse an der Währungsstabilität. Darum spielten später Geldfragen als Probleme bei der Stabilität des Geldwertes eine Rolle64. Man setzte sich mit ihr intensiv und darum vor allem mit dem Übel einer Inflation auseinander65. Ebenfalls hat Martin Luther das Verhältnis von Gott und Geld wiederholt zum Thema erhoben. Er hat sich der rein kaufmännischen Fragen und damit auch des Zinses und gerechten Preises angenommen66. In seinen unterschiedlichen ,ökonomischen‘ Schriften behandelt Luther die Zulässigkeit des Zinsnehmens. Dabei ist für ihn von besonderem Interesse der Konsumkredit. Die 63 Vgl. Born, Karl Erich, Die ethische Beurteilung des Geldwesens im Wandel der Geschichte, in: Helmut Hesse und Otmar Issing, Geld und Moral, München 1994, S. 8 f. 64 Lehmann, Karl, Geld – Segen oder Mammon, in: Helmut Hesse und Ottmar Issing, Geld und Moral, München 1994, S. 133 ff. 65 Vgl. Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 19. Generell dazu Weber, Wilhelm, Stabiler Geldwert in geordneter Wirtschaft, Münster 1965, S. 135 ff. 66 Vgl. etwa: Luther, Martin, Großer Sermon vom Wucher (1520), Von Kaufhandlung und Wucher (1524), An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, Vermahnung (1540) u. ö.

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mit der Gewährung von Darlehen verbundenen Zinsforderungen sind für ihn Wucher. Wucher liegt auch dann vor, wenn die Beschaffungskosten und die Kosten für die aufgewandten Mühen merklich überschritten werden. Zinswucher und Missbrauch des Vorkaufsrechtes („Fürkauf“) durch überhöhte Preise, die weit über den so genannten gerechten Preis hinausgingen, sind generell für Luther Wucher. Und dieser ist mit der Nächstenliebe nicht zu vereinbaren. Gleichzeitig lehnte Luther den von den Päpsten erlaubten Rentenkredit ab, den er allerdings nicht unbedingt als Wucher angesehen hat. Für ihn war er sündhaft und schädlich zugleich, da damit, wie er meinte, letztlich nur Luxusgüter gekauft würden. In einem solchen Fall verhüllte man die Vergabe eines Kredits für ein Kaufgeschäft, indem sich der Geldgeber für die Summe, die er dem Besitzer eines Grundstücks zur Verfügung stellte, einen Anteil am Zins oder Ertrag „erkaufte“. Luther verurteilte Auswüchse eines solchen „Zinskaufes“. Er spricht im Großen Katechismus von der speziellen Gottesfrage und lehnt den Gott des Geldes ab: „Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlassest, das ist eigentlich Dein Gott“67. Der Mensch vertraut der materiellen Absicherung seines Lebens, das ist sein Abgott; auf diesen, also auf Geld und Gut, setzt der Mensch gern sein Herz. Aber Gott und Abgott sind für Luther nicht austauschbar. Der Glaube jedoch vertraut allein auf Gott als den Schöpfer von Himmel und Erde. Diesem allein verdankt er alle Reichtümer dieser Welt68. Für Luther ist der Gebrauch des Geldes durch den Menschen entscheidend. Allerdings muss auch der Christ, wie alle Menschen, die Geld geben sollen oder wollen, es erst einmal haben. Die Frage einer Geldentwertung und Inflation reflektiert er nicht. Eine moderne Geldwirtschaft bleibt ihm fremd. Allerdings hat er durchaus für die ethischen Probleme der Geldwirtschaft und die daraus erwachsenen sozialen Fragen ein Gespür69. Für Karl Marx und Friedrich Engels diente im Kommunistischen Manifest das Geld als Tauschwert dazu, zwischen den Gebrauchswerten der einzelnen Güter zu vermitteln. Der Gebrauchswert hat seinen Wert dadurch, dass „abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist“70. 67 Luther, Martin, Der Große Katechismus, Das erste Gebot, in: Die Bekenntnisschriften der Ev.-lutherischen Kirche, Göttingen 1952, S. 560. Etwas später heißt es dann weiter: „Es ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles gnug, wenn er Geld und Gut hat, verlässt und brüstet sich drauf steif und sicher, dass er auf niemand nichts gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er alle sein Herz setzet, welchs auch der alletgemeinest Abgott ist auf Erden“ (S. 561). 68 Vgl. Luther, Martin, Der Große Katechismus, S. 561. 69 Vgl. Honecker, Martin, Geld II, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. XII, Berlin, New York 1984, S. 287.

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Die Güter wechseln nicht mehr im unmittelbaren Tausch ihre Besitzer, sondern auf dem Umweg durch das Geld. Dieser indirekte Weg dient aufgrund des durch Geld vermittelten Tausches nicht mehr „der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern dem Erzielen von Profiten und der Akkumulation des Kapitals“71. Das führte für Marx zur Entfremdung des Menschen. Bei Georg Simmel bringt das Aufkommen der Geldwirtschaft eine individuelle Freiheit! Durch sie wird es möglich, sich in Freiheit aus den sozialen Bezügen zu lösen oder auch erneut zu binden72. Geld kann nicht als Maßstab für den Wert oder generell für personale Werte gelten. Mit ihm kann man wirtschaftliche Güter messen und zueinander ins Verhältnis setzen. Das Geld bleibt eine Sache der Menschen73. Aber Geld darf nicht die alles bestimmende Wirklichkeit im Leben der Menschen einnehmen. In der Verhältnisbestimmung Geld oder Gott ist diese Frage nicht zu Gunsten des Geldes zu beantworten. Das hieße nämlich letztlich, Gott zu entthronen und ihn zu einer innerweltlichen Größe zu machen. Geld hat nun einmal keine transzendente Funktion und darf nach der biblischen Vorstellung nicht mit Gott gleichgesetzt werden74. Viele Menschen glauben, durch eine Monetarisierung des Lebens oder allgemein durch eine Ökonomisierung der Gesellschaft das Zusammenleben der Völker und Nationen regeln zu können. Aber das Geld als solches ist dafür nicht maßgeblich. Es ist wertneutral. Allein der Mensch bestimmt den Wert, seinen Gebrauch und auch seinen Missbrauch. 4.4.2 Währungsproblematik Geld ist seit alters her ein erstrebenswertes Gut. Aber zugleich wird es als Inbegriff des Bösen angesehen. Es erfüllt eine soziale Funktion, denn es bewirkt eine Kommunikation zwischen den Menschen. Mit Geld glaubt der Mensch, sich bestimmte Sehnsüchte zu erfüllen und Lust erkaufen zu können. Die Konsumgüterindustrie gaukelt dem Menschen vor, dass das erreichbar ist. Wer Geld hat, kann sich diesem Glauben hingeben und hoffen, letztlich alles erwerben zu können. Es gibt für Geld kaum Grenzen im Freizeitangebot und in

70

Zitat aus: Kramer, Rolf (1996), S. 95. Watrin, Christian, Geld – Maßstab für alles? In: Geld und Moral, München 1994, S. 169. 72 Vgl. Kramer, Rolf (1996), S. 108. 73 Beutter, Friedrich, Geheimnischarakter des Geldes und ethische Grundlagen der Geheimhaltungspflicht, in: Acta Monetaria Bd. 2 (Hrsg. Gerhard Merk), Frankfurt/M. 1978, S. 16 f. 74 Vgl. Kramer, Rolf (1996), S. 65 f. 71

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der Wahrnehmung von Glückserlebnissen. Durch Geld vollzieht sich eine soziale Verständigung unterschiedlicher Formen. Aber Geld hat nur dann einen Wert, wenn sein Wert stabil bleibt. Darum kann auf die ethische Problematik der Währungsstabilität nicht verzichtet werden. Schließlich spielt sie in der Sozialethik, speziell unter dem Stichwort einer Anti-Inflationspolitik, eine besondere Rolle. Im so genannten harmonischen Vieleck mit seinen Eckpunkten: Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum, Ausgleich der Zahlungsbilanz nimmt die Währungsstabilität einen eigenen Platz ein. Der Stabilitätspolitik gehört das Primat. Mit Recht schreibt schon Walter Eucken: „Alle Bemühungen, eine Wettbewerbsordnung zu verwirklichen, sind umsonst, solange eine gewisse Stabilitätspolitik des Geldwertes nicht gesichert ist“75. Ferner verstößt die Vernachlässigung der Stabilität des Geldwertes zugleich gegen die Eigentumsgarantie und damit gegen das Gemeinwohl. Ein ständiger Verstoß gegen die Geldwertstabilität hat außerdem wirtschafts- und sozialpolitische Fehlentwicklungen zur Folge. Denn jede Schwächung des Geldwertes bedeutet eine Schmälerung des Geldvermögens. Die kleineren Einkommensbezieher werden besonders betroffen. Durch das Steigen der Lebenshaltungskosten erleiden sie eine Verringerung der ihnen zur Verfügung stehenden Geldmittel. Andersherum wird der Eigentümer von Sachmitteln durch die Geldwertinstabilität besonders begünstigt. „Geht man von der Tauschmittelfunktion des Geldes aus, so führt das Problem der Bestimmung des Geldwertes zu der Frage, welche Gütermenge man mit einer bestimmten Geldsumme kaufen kann, also zur Frage nach der Kaufkraft des Geldes“76. Eine Inflation ist immer mit dem Anstieg des Preisniveaus verbunden, und der bedeutet, dass der Wert des Geldes zugleich mit einem Verlust an Kaufkraft verknüpft ist. Die Inflation weist daraufhin, dass man beim Kauf eines bestimmten Güterkorbes (Waren und Dienstleistungen) mehr Geld ausgeben muss77. Die Inflations-Problematik ist notwendigerweise ein Teil der volkswirtschaftlichen Erörterung des magischen Vielecks78. Wer der Inflation das Wort redet, setzt sich über das Recht der Menschen hinweg. Denn „Inflation ist Diebstahl“, betonte immer wieder Albert Hahn79. Im Inflationsgeschehen wird der wirtschaftliche und persönliche Freiheitsraum eingeengt. In den Ländern mit Inflation führt diese letztlich zur Verarmung der Bevölkerung. Dort, wo ein Defizit an Entwicklung herrscht, kommt es zu einer weiteren Begrenzung. Da 75 Zitat aus: Hesse, Helmut, Moral der Stabilitätspolitik, in: Helmut Hesse und Otmar Issing, Geld und Moral, München 1954, S. 43. 76 Issing, Otmar, Einführung in die Geldtheorie, München 91993, S. 177. 77 Vgl. Merk, Gerhard, Einführung in die Geldlehre, Frankfurt/M. 1974, S. 19. 78 Kramer, Rolf, Die Christliche Verantwortung in der Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart 1973, S. 189 ff. 79 Vgl. Kramer, Rolf (1973), S. 193.

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ein Unternehmer nur dann investiert, wenn seine Investition rentabel ist, verschlechtert eine Inflation das Investitionsklima. 4.5 Globalisierte Ökonomie Zwar gab es schon im Altertum grenzüberschreitende Handelsströme. Jahrhunderte später haben Portugiesen und Spanier die Weltmeere durchpflügt. Und seit dem Frühkapitalismus und Kolonialismus stellte sich so etwas wie eine Weltökonomie ein. Darum sind die Ängste vor der Globalisierung keineswegs neu. Bereits zur Wende des 19. auf das 20. Jahrhundert kann man diese feststellen. Man reagierte in den betroffenen Ländern mit Einwanderungsstopps, Handelsbeschränkungen, Protektionismus. Die Folgen sind bekannt: Verlust des nationalen Wohlstands, kriegerische Auseinandersetzungen, weltgeschichtliche Katastrophen. Freilich führt auch heute der erneut geforderte Protektionismus nicht zu mehr Arbeitsplätzen, sondern im Gegenteil zu einer Zerstörung des nationalen Wohlstandes. Zwischen den damaligen Globalisierungsängsten und unseren heutigen gibt es also Parallelen, z. B. die Angst vor Verlagerungen von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer. Unter Globalisierung im wirtschaftlichen Bereich wird ein weltweiter Abbau von Beschränkungen auf Güter- und Faktormärkten bei einer gleichzeitigen internationalen Verflechtung verstanden. Globalisierung beschränkt sich also keineswegs auf den Ausbau des internationalen Handels. Zu berücksichtigen sind ebenfalls die Faktoren Arbeit und Kapital. Diese Entwicklung findet ihre besondere Unterstützung durch eine Homogenisierung der Märkte80. Die Menschen in Europa leben wie auf der ganzen Welt in einem Zeitalter von multidimensionalen Abhängigkeiten. Schon in den vergangenen Jahrzehnten wurde die Wirtschaft immer internationaler. Es herrscht ein Netzwerk von Interdependenzen. Jeder einzelne Bürger, jede einzelne Gemeinschaft oder jeder Staat ist miteinander verbunden. Diese Interdependenz zeigt sich in vielfältigen Bereichen, in Sonderheit auf wirtschaftlichem Gebiet. Nicht nur auf der Makro-, sondern auch auf der Mikroebene der lokalen Wirtschaft. Die gesellschaftlichen und auch die wirtschaftlichen Probleme nehmen eine immer stärker weltweite Dimension an. Die Menschen der Gegenwart fühlen die Verpflichtung, die Entwicklung der Völker so weit zu intensivieren, dass alle Länder auf das Niveau zu heben sind, auf dem viele reiche Völker bereits heute leben! Es müsste sich ein völkerverbindendes solidarisches Streben zu Gunsten aller ergeben. Wohlstand für alle Völker wird als Ziel angestrebt!

80 Vgl. dazu Merk, Gerhard, uni-siegen.de/Download, Globalisierung – Regionalisierung, S. 1.

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Der unmittelbare und zwingende Zusammenhang zwischen Globalisierung und Gesellschaft wird insbesondere im Bereich der Informations- und Vernetzungstechnik sichtbar. Es findet ein Austausch von Daten und Informationen aufgrund der neuen Medien an jedem beliebigen Ort und zu jeder Zeit statt. Dieser macht letztlich die Globalisierung erst zu einem wichtigen Instrument des Handelns für Ökonomen, Finanzverwalter, Banker, Politiker und andere Gruppen. Entwicklungsländer und die durch bestimmte politische Strukturen (Diktaturen, Korruption) geprägten Länder werden wohl solange von der Globalisierung ausgeschlossen bleiben, wie sich ihre ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen nicht zu Gunsten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte und stabiler Währung verändert haben81. Wo solche Kräfte am Werke sind, wird die ökonomische und soziale Entwicklung eingeschränkt oder gar verhindert. Die Ursachen für die Globalisierung sind eng miteinander verschlungen und bedingen einander. Die technischen Entwicklungen im Informations- und Kommunikationswesen wachsen in einem enormen Tempo. Außerdem steigern sich durch diese und andere technische Entwicklungen ganz unterschiedliche Branchen, wie Personenverkehr, Schiffs- und Luftfrachten, Logistikund Reiseverkehrsunternehmen. Die Globalisierung fördert eine Vereinheitlichung der Produkte. Aber diese neue Kultur kann gleichzeitig mit der Wertschätzung lokaler Kultur einhergehen. Die Gefahr liegt bei einer McDonaldisierung der Kultur, deren Zentrum eine Homogenisierung bedeutet, während die lokalen Kulturen zerstört werden. In der Homogenisierung verbreitet sich allmählich der vorherrschende Zeitgeschmack in den Bereichen Kleidung, Wohnung, Essen und Trinken. Nationale und kulturelle Eigenheiten verlieren an Bedeutung. Aber bei den Konsumprodukten stellt sich eben nicht nur eine Homogenisierung, sondern zugleich auch eine Heterogenisierung ein. Denn Konsumartikel werden unter globalen und lokalen Prozessen hergestellt. „Die Globalisierung liefert also Rohstoffe für lokale Variation und gleichzeitig für Vereinheitlichung“82. Das weltweite Wirtschafts- und Finanzsystem organisiert sich in seiner funktionellen Weise äußerst vielschichtig. Ohne ein geeignetes Finanzsystem gibt es heute kein wirtschaftliches Wachstum. Die Finanzmärkte können dank der größeren Beweglichkeit des Kapitals sich leicht der Ressourcen der Welt bemächtigen und über sie verfügen.

81

Vgl. Merk, Gerhard (uni-siegen.de/), S. 4. Brüsemeister, Thomas, Zwischen Welt und Dorf, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen II, Opladen 2002, S. 331. 82

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Während also die Finanzmärkte und die Rohstoffmärkte stark globalisiert sind, sind die Arbeitsmärkte noch relativ national geprägt. Allerdings zeigen die Märkte für hochqualifizierte Arbeitnehmer einen stärkeren Globalisierungsgrad, nicht dagegen in den unteren Lohngruppen. Viele Märkte, wie Bauindustrie, Milchwirtschaft und Dienstleistungsbereiche, lassen sich freilich nicht ohne weiteres globalisieren. In Verbindung mit der Globalisierung verkleinern sich nationale Eigenheiten im Angebot und in der Nachfrage nach Gütern. Darauf weist Gerhard Merk nachdrücklich hin. Oder sie verschwinden ganz. Durch die immer stärker auftretende Globalisierung ergibt sich eine Veränderung der Sozialen Marktwirtschaft. Bei vielen Menschen setzt ein Umdenkungsprozess ein. Manche hoffen, durch sie einen neuen Arbeitsplatz zu erhalten. Andere werden allerdings von der Angst geprägt, ihren Arbeitsplatz gerade durch sie zu verlieren. Die Zahl derer, die glauben, dass die Globalisierung insgesamt Vorteile bringt, liegt nur bei 21 Prozent, während 30 Prozent in ihr eher Nachteile sehen. Immerhin meinen noch 41 Prozent, dass sich Vor- und Nachteile die Waage halten. Die Reaktionen auf sie sind also ganz unterschiedlich. Die öffentliche Meinung ist heute gegenüber der Globalisierung nicht nur skeptisch, sondern stark reserviert. Bei den Gegnern der Globalisierung herrscht vor allem Angst, und zwar Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, der nationalen Identität, vor einer Zunahme von Ungerechtigkeit, einer einseitigen Entwicklung der Welt oder vor vielfältiger Umweltzerstörung. Die Globalisierung wird ferner verschiedentlich angegriffen wegen einer starken Bedrohung der nationalen Lohnarbeit, eines Ausverkaufs der Unternehmen und einer wachsenden Mobilität des Kapitals, das nicht mehr dem eigenen Land zur Verfügung steht und so Arbeitsplätze schaffen könnte, sondern seine Anlage auf den internationalen Kapitalmärkten findet. Aber andererseits werden gerade dadurch auch die einheimischen Arbeitsplätze gesichert. Denn durch die Globalisierung wandern Tätigkeiten mit hohem Wertschöpfungspotential dorthin, wo qualifizierte Faschleute zur Verfügung stehen, während die standardisierte Massenproduktion dahin verlagert wird, wo die Kosten der Arbeit am geringsten sind. Positiv lässt sich für den einzelnen Konsumenten und Produzenten ein Gewinn an Freiheit konstatieren. Die Verbraucher erringen ein hohes Maß an Nutzungsmöglichkeiten für Produkte aus internationalen Märkten, auch wenn der einzelne gar nicht erkennt, in welcher globalen Abhängigkeit er sich bereits befindet. Die Konsumenten erhalten ein weltweites Angebot, die Produktpalette steigt und die Preise fallen. Die Unternehmen können als positive Folge der Globalisierung aufgrund einer größeren Massenproduktion die Waren billiger anbieten. Nischenprodukte werden rentabel. Außerdem weisen die globalisierten Finanzmärkte eine große Flexibilität und Mobilität auf.

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Die positiven Seiten der Globalisierung haben freilich noch andere Aspekte. Die ökonomischen Beziehungen unter den Staaten verstärken sich. Denn Handelshemmnisse werden abgebaut. Aufgrund der engen Zusammenarbeit entstehen größere Konzerne. Dadurch sinken ökonomische und technische Risiken. Denn in der heutigen Globalisierung sind die Rohstoff-, Kapital-, Arbeits- und Handelsströme sowie die Verbrauchermärkte unmittelbar miteinander verbunden. Außer den besonders intern geprägten Faktoren existieren auch externe, die von den Verantwortlichen der Industrieländer zu beeinflussen sind. Dazu gehören etwa ein Agrarprotektionismus in den Industrieländern, eine mangelhafte Entschuldung der Entwicklungsländer, fehlerhafte Entscheidungen der großen internationalen Organisationen (z. B. des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, des UNO Sicherheitsrats)83. Nationalstaatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik wird durch die Globalisierung weitaus schwieriger, sie stößt an ihre Grenzen. Andererseits aber wächst eine weltweite Verantwortung der Völker für Fragen der sozialen Gestaltung, der Ökologie und eines gerechten Gebrauchs der Ressourcen. Die verstärkte Migration, durch Hunger, Kriege, Gewalt, Vertreibung und Flucht hervorgerufen, hat nicht nur das ausgehende zwanzigste Jahrhundert geprägt, sondern ist für die Entwicklung zu Beginn des neuen Jahrtausends maßgeblich und bestimmt deshalb die Gesellschaften in Europa mit. Damit stellt sich das Problem einer Integration dieser Menschen in die Bevölkerung der Aufnahmeländer. Sie bilden ein enormes Entwicklungspotential für die heimische Gesellschaft. Aber sie bilden auch ein enormes Risiko. Denn sie stellen gleichzeitig eine Bewährungsprobe an Toleranz und Offenheit der einheimischen Gesellschaft und ihre Bereitschaft zur Integration. Es bleibt dabei: die Globalisierung birgt sowohl Chancen als auch Risiken: Viele Länder erhalten durch sie die Möglichkeiten, an den Märkten der Industrieländer teilzunehmen und ihre weltweite Ausdehnung zu nutzen. 4.6 Nachhaltigkeit als Herausforderung Die ökologische Krise ist ein Zeichen der Zeit und damit ein weltweites Problem. Die ausgeprägte Industrialisierung hat auf der ganzen Welt zu einer Überforderung des ganzen Ökosystems geführt. Trotz eines stärker anwachsenden Bewusstseins und eines hohen Niveaus des Umweltschutzes in manchen Ländern sind die Natur und ihre Regenerationskräfte überfordert. Der Schutz der Umwelt wird trotz Aufklärung nicht genügend wahrgenommen. Andererseits aber nehmen Raubbau, Belastungen und Schädigungen der Natur immer stärker zu. 83

Vgl. Gem. Texte, Nr. 89.

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Die Ressourcen an Luft, Wasser und Boden werden gegenwärtig weltweit intensiv belastet. Zum großen Teil sind sie begrenzt, und eine Übernutzung gefährdet Pflanzen, Tiere und alle nicht erneuerbaren Rohstoffe. Die Folgen einer Verödung des Bodens und einer Zerstörung von Regionen aufgrund eines Raubbaus an Ressourcen lassen verseuchte Gewässer, ungeheuere Abfallberge, eine zunehmende Erderwärmung, Veränderung des Klimas und verschmutzte Gewässer entstehen. Aufgrund der Veränderung der Ozonschicht treten globale Klimaveränderungen mit unkalkulierbaren Folgen auf. Gerade deshalb muss die Weltbevölkerung Sorge tragen, dass Boden und Wasser als langfristiger Siedlungs-, Wirtschafts- und Erholungsraum erhalten bleiben. Die gegenwärtige Generation lebt auf Kosten der nachfolgenden. Lebt und handelt sie so weiter wie bisher, stiehlt sie der nachwachsenden Generation ihre Lebens- und Wachstumsgrundlage. Dort, wo der Raubbau an der Natur unkontrolliert geschieht, erweist er sich als für alle Beteiligten irreversibel. Er entzieht den nachfolgenden Generationen jegliche Grundlage an der Pflanzen- und Tierwelt. Darum bedarf es eines langfristigen Umweltschutzes. Sonst steigen die Belastungen für die künftigen Generationen unerträglich an. Dem müssen sich alle Kräfte und Entwicklungen langfristig unterordnen. Nachhaltiges Wirtschaften oder nachhaltige Entwicklung (sustainable development) wird bereits seit dem 12. Jahrhundert geübt. Damals durfte im Kloster Marmoutier, im Elsass, nur so viel Holz eingeschlagen werden, wie nachwuchs84. Die Ökologie steht wie die Ökonomie unter der Forderung der Nachnachhaltigkeit. In der UN-Konferenz von Rio de Janeiro wurde im Jahr 1992 das Prinzip der Nachhaltigkeit zu einem Schlüsselbegriff eines ökologisch verträglichen Umgangs mit der Natur und ihren Ressourcen erhoben. Gleichzeitig hat sich dieser Zusatz, der auch als Attribut dem Wirtschaften zuerkannt wird, zu einem besonderen Kriterium des ökologischen Wirtschaftens herausgebildet. Im Rahmen der Nachhaltigkeit gilt, dass von den Ressourcen eigentlich nicht mehr verbraucht werden darf als die Bestandserhaltung zulässt. Darum müssen die heute lebenden Menschen lernen, mit den ihnen übergebenen Gütern so umzugehen, dass sie ihr Leben langfristig nicht zu Lasten der nachwachsenden Generationen gestalten. In der gegenwärtigen Gesellschaft, in der das Haben mehr gilt als das Sein, sollten die Menschen darauf bedacht sein, dass sie die Ressourcen nicht durch einen unverantwortlichen Konsumismus für die künftigen Generationen plündern. Sie haben Verantwortung für die Erhaltung der weltweiten Ressourcen.

84 Vgl. Kramer, Rolf, Das Unternehmen zwischen Globalisierung und Nachhaltigkeit, Berlin 2002, S. 56 ff.

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4.7 Ökonomie und Terrorismus Mit dem Begriff des Terrorismus bezeichnet man eine Vielzahl von politisch orientierten Handlungen. Es lassen sich ihm sowohl die Anschläge auf Amtsträger des zaristischen Russlands aus dem Jahr 1917 als auch die anarchistischen Bewegungen im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts zurechnen. Terroristisch geprägt sind auch die Anschläge palästinensischer Gruppen gegen Israelis in Palästina oder in München 1972 zur Zeit der Olympischen Spiele. An vielen Stellen der Erde finden unterschiedliche Terrorkriege statt: auf dem Balkan, in Palästina, Afghanistan, im Irak, in Somalia und Indonesien, in Lateinamerika und Afrika. Allein Australien ist bisher vom Terrorismus verschont geblieben, obwohl auch gegen Australier in Indonesien Terroranschläge verübt wurden. Bis in die westliche Welt sind Terroristen vorgedrungen: New York, Madrid, London sind Beispiele für unterschiedliche Angriffe. Der Terrorismus hat in der ganzen Welt zugenommen. Es sind dabei vor allem die Terroranschläge der letzten Jahre in Erinnerung zu rufen: der Terroranschlag vom 11. September 2001 gegen das World Trade Center in New York, der Anschlag in Madrid vom 11. März 2004, die Bluttaten in Casablanca (2003) oder in Istanbul (2003) und in London vom 7. und 22. Juli 2005 oder vom 23. Juli 2005 in Scharm al Scheich (Ägypten) oder vorher schon in Djerba in Tunesien am 11. April 2002 und an vielen anderen Orten in der Welt. Sie haben vor allem menschliches Leid hervorgebracht. Alle diese Anschläge haben freilich auch ökonomische Komponenten. (1) Vielfach wird der Terrorismus als Aufstand der Armen bezeichnet. Allerdings ist das nicht das einzige Fundament, auf dem die Anschläge gründen. Hinzukommen auch psychologische, soziale, gruppendynamische und vor allem religiöse Begründungen. So liegt sicher eine Ursache für die individuelle Bereitschaft zu terroristischen Anschlägen bei vielen Attentätern in dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung zu einer bestimmten Gruppe und Ideologie. (2) Eine weitere Ursache mögen die geringen Opportunitätskosten bilden. Unter ihnen werden, wie bereits aufgezeigt, Alternativkosten verstanden, die man subjektiv als entgangenen Nutzen auffassen kann, den man bei einer alternativen Verwendung von Gütern hätte erzielen können85. Sie stellen also eine Vergleichsgröße für den entgangenen Gewinn oder Ertrag dar. Die Opportunitätskosten des Terrorismus hängen von subjektiv empfundenen Kosten bzw. vom subjektiven Nutzen der terroristischen Aktivität ab. Das heißt, diese Kosten umfassen den Nutzen, den der Terrorist durch eine solche ter85

s. oben 1. Kapitel, 5.

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roristische Aktivität erzielt, indem er Angst und Schrecken in der Bevölkerung durch den angerichteten Schaden und zugleich durch die Berichterstattung in den Massenmedien erzielt. Die ,Kosten‘ enthalten natürlich auch solche Posten, die mit der Bestrafung der Täter oder mit dem Verlust der Zustimmung durch die Bevölkerung zusammenhängen. Je höher die Opportunitätskosten für den potentiellen Attentäter sind, je mehr also ein Terrorist aufgeben muss, um ein Attentäter zu werden, desto weniger Attentate werden sich – ceteris paribus – ereignen86. Aufgrund des demographischen Männerüberschusses in den entsprechenden Gebieten, fehlt den jungen Männern einfach eine berufliche Chance und ein normales Familienglück. Der Männerüberschuss kann die Ursache für geringere Opportunitätskosten des angewandten Terrors sein. Wo für die jungen Männer Familienglück oder/und berufliche Perspektiven ausbleiben, ist eine Bereitschaft, einen Terror-Anschlag zu verüben, leichter zu erzielen. Für den potentiellen Attentäter ist diese gruppenspezifische Komponente sehr bedeutungsvoll. Die Zugehörigkeit zur Gruppe ausgesuchter Männern ist ihm oft lebenswichtig. Denn auch der Terrorist sucht wie jedes anderes Mitglied die Gemeinschaft und Anerkennung. Wer dazugehört, senkt die Opportunitätskosten und erhöht damit die terroristische Aktivität. (3) Man könnte noch ein drittes Argument für die individuelle Bereitschaft zum Terrorismus nennen. Dieses liegt in der Wahlmöglichkeit des potentiellen Attentäters. Er kann nämlich zwischen einer irdischen Armut (kaum Wohlstand zu nennen!) und einem himmlischen Segen wählen87! Heute sind die wichtigsten Stützpunkte Pakistan, der Balkan, der Sudan, Irak und Asien. Aber es sind vielfach nicht Staaten, die den Terrorismus vorantreiben, sondern einzelne Personen, politische und religiöse Führer oder Gruppen, die auf ein persönliches Treueverhältnis wert legen. Es sind ,auserwählte‘ Anführer, Prediger oder kriminelle Bandenchefs, die ihren privaten Feldzug betreiben. Ethnische, religiöse Gegensätze oder soziale Unterschiede sind wesentliche Gründe für den Terrorismus. Aber auch Hass auf die westliche Zivilisation, Neid, Rauschgifthandel und andere niedere Begründungen spielen eine entscheidende Rolle. Der moderne Terrorismus ist jedoch meistens nicht auf bestimmte Einzelpersonen ausgerichtet. Er hat durchweg keine bestimmten Personen oder Vertreter im Visier, sondern stattdessen gerade Unbeteiligte, zufällig ausgewählte Menschen. Aber gerade das macht das Schreckliche an dieser Entwicklung aus. Je hehrer die Ziele sind, umso höher stehen die Werte im Kurs, umso größer dür86 Freytag, Andreas, Wer wenig zu verlieren hat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Juli 2005, S. 15, Sp. 1. 87 Vgl. Freytag, Andreas (2005), S. 15, Sp. 1 u. 2.

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fen für die Terroristen die Opfer sein. Das Ende bildet Gewalt und Schrecken, „ohne politischen, wirtschaftlichen oder gar heiligen Hintersinn“, wie der Soziologe Wolfgang Sofsky formulierte88. Allerdings muss bei der augenblicklichen terroristischen Szene zwischen den eigentlichen Tätern und ihren Anführern unterschieden werden. Die Motivation der Täter ist von der ihrer Führer zu unterscheiden. Das Ziel der hinter den Attentätern stehenden Männer ist ein völlig anderes als das der eigentlichen Ausführenden. Die Hintermänner haben als gebildete und wohlhabende Menschen meistens sich selbst eine Zielsetzung gegeben, die im Aufbau eines islamischen Staates besteht, der dem Gedanken westlicher freiheitlicher und demokratischer Grundordnung entgegensteht und ihren Einfluss zurückdrängen will. Ihr Ziel ist es vielfach, einen Kalifatstaat zu errichten, in dem die Scharia herrscht. Aber wahrscheinlich ist nicht einmal die Religion die Ursache des selbstmörderischen Handelns im Islam, wohl eher „ein Reservoir an Sinn und Rechtfertigungen“89. Bei der Anwendung des Terrors geht es nicht so sehr um die Durchsetzung von politischen Zielen, sondern eher noch um die Zermürbung des fixierten politischen (militärischen) oder religiösen Gegners. Darum sucht man, die Zahl der Opfer möglichst zu erhöhen. Die allgemeine Angst soll geschürt werden. Und zugleich soll der Wille des Gegners gebrochen oder der Widerstand in die Resignation gezwungen werden. Die Täter verfolgen oft ebenfalls eigene wirtschaftliche Interessen. Trotzdem lässt sich fragen, ob es überhaupt sinnvoll und statthaft ist, in diesem Zusammenhang wirtschaftliche Überlegungen anzustellen. Die Attentäter, speziell die führenden Köpfe der Terroristen, haben meistens kein Interesse an einer ökonomischen Entwicklung des eigenen oder des Gastlandes. Der Hass gegen die westlichen reichen Länder wird von ihnen geschürt. Die Verantwortung für die schlechte ökonomische Entwicklung des eigenen Landes wälzt man auf die reichen Zielländer ab. Aber nicht nur der Nutzen der Terroristen ist entscheidend, sondern auch der Nutzen ihrer Sympathisanten. „Wenn deren Opportunitätskosten steigen, fällt die Sympathie geringer aus“90. (4) Als letzte, aber nicht als unwichtigste Motivation, hat die soziokulturelle und religiöse Begründung ihre Bedeutung. Denn die Verheißung auf eine jenseitige Belohnung wiegt mehr als das irdische Wohlergehen. Anstatt ein irdisches Leben in Armut und ohne Anerkennung zu führen, beflügelt den Einzelnen zur terroristischen Tat die überirdische Verheißung, in die 88 89 90

Sofsky, Walter, Sicherheit (2005), S. 80. Sofsky, Wolfgang (2005), S. 86. Freytag, Andreas (2005), S. 15, Sp. 6.

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Gruppe der Märtyrer aufgenommen zu werden. Und umgekehrt gilt dann: Je besser die Aussichten im Diesseits sind, umso geringer wird die Bereitschaft sein, entweder sich selbst als Attentäter zur Verfügung zu stellen oder von den Eltern bzw. der Familie dafür auserwählt zu werden. Neben der direkten Bekämpfung des Terrorismus empfehlen sich mehrere Mittel: Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Herkunftsländer und damit Förderung des Wohlstandes in der ganzen Welt, besonders in den Entwicklungsländern bei gleichzeitiger Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen; Wahrnehmung der Menschen- und Freiheitsrechte in den Ländern der potentiellen Attentäter und schließlich Austrocknen der Finanzströme der großen und kleinen Terrorzellen. In dem Maße, in dem sich die persönlichen Bedingungen für den potentiellen Attentäter verbessern, wird auch der potentielle Attentäter von seinem Vorhaben Abstand nehmen. Da er – wie die meisten Menschen – seinen Nutzen maximieren will, wird er, je höher für ihn die Kosten werden oder der Nutzen abnimmt, umso stärker seine Terror-Aktivität einschränken. Insofern können die Opportunitätskosten zugleich helfen, eine Antiterrorstrategie zu entwickeln. Denn je weniger einer zu verlieren hat, umso niedriger sind die Hürden, die ihn abhalten, aggressiv zu werden. 4.8 Zeitversessenheit und Zeitvergessenheit Im Hiobbuch wird nach Gottes Zeit gefragt: „Ist deine Zeit wie eines Menschen Zeit oder deine Jahre wie eines Mannes Jahre (Hiob 10,5)? Im Psalter wird die Antwort geliefert: Deine Jahre nehmen kein Ende“ (Ps. 102,28). Gottes Zeit ist von ewiger Dauer. „Gott hat Zeit, gerade weil er und indem er Ewigkeit hat“, hat Karl Barth in der Kirchlichen Dogmatik formuliert91. Gott hat Zeit für uns. Unser Tod scheidet die Ewigkeit von der Zeit. Wo es keinen Anfang und kein Ende gibt, da gibt es auch natürlicherweise keine Zeit92. Der moderne Mensch wird lernen müssen, mit seiner Zeit anders umzugehen als seine Vorfahren. Zum Teil hat er das bereits getan. In den abgelaufenen Jahrhunderten war die Zeit durch die natürliche Gegebenheit der Erdbewegung bestimmt. Von dort wurde des Menschen Tagesablauf geregelt. Der Morgen wie der Abend war durch den Sonnengang fixiert. Die Kalendarische Zeit übernahm dann später die Zeitrechnung. Diese wurde etwa am Ende des 13. Jahrhunderts mit der Einführung der Schlaguhren abgelöst. Es setzte eine Stundeneinteilung ein93. Fortan beherrschte die Uhr nunmehr immer 91 92 93

Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik Bd. II, 1. Zollikon 31948, S. 689. s. Einleitung. Vgl. Kramer, Rolf, Phänomen Zeit, Berlin 2000, S. 20 ff.

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stärker das Leben der Menschen. Die ökonomische Entfaltung der Industriestaaten ist ohne diese Entwicklung nicht zu denken. Zeit wurde nunmehr in die ökonomische Kalkulation einbezogen. Damit konnte Zeit in Geld umgerechnet werden. Denn Zeit ist Geld94. Für die spezielle Zeitmessung und die damit verbundene Uhrentwicklung sind das Klosterleben und die Stadtentwicklung maßgeblich geworden95. Denn die Klosterinsassen mussten wissen, wann genau die Stundengebete vorzunehmen seien. Auch die Städter hatten ein Interesse daran, wann und wie der Tag ablief. Die städtischen Handelstermine wurden immer weiter unabhängig von den ,natürlichen‘ Zeiten. Nach der Zeit, die durch die Kirche fixiert wurde, begann die Zeit der Händler96. Die Arbeitszeit wurde im Mittelalter durch das Tageslicht begrenzt. Arbeit begann mit dem Sonnenaufgang und endete mit dem Sonnenuntergang. Heute ist ein Zwölf-, Vierzehn- oder gar Sechzehnstundentag keine Seltenheit. Der Terminkalender ist eines der wichtigsten Instrumente des modernen Menschen. In der arbeitsteiligen Gesellschaft der Gegenwart ist Zeit nicht nur ein knappes Gut, sondern auch eine kostbare Ressource geworden. Unter zeitlichem Aspekt findet die Erwerbsarbeit, das familiale Handeln und das Genießen der Freizeit statt. Gerade der Begriff der Freizeit wird einer unterschiedlichen Interpretation unterworfen. Im Kern ist sie zu aller erst Erholungszeit97. Denn sie ist nicht entlohnte Erwerbszeit, sondern dient der Steigerung der Lebensqualität. Das gesamte Zeitkontingent kann aber noch genauer aufgeschlüsselt werden. So teilt sich die zur Verfügung stehende Zeit in eine öffentliche, familiale und persönliche Zeit. Die öffentliche Zeit lässt sich aufgliedern in eine Zeit mit bezahlter Erwerbstätigkeit, in unbezahlte Verpflichtungen und evtl. in Zeiten für die Wege, die zu den jeweiligen Tätigkeiten führen. Die familiale Zeit lässt sich splitten in eine personen- und haushalts-bezogene Versorgung und in die damit verbundenen Wege, Kontakte und Gespräche. Die persönliche Zeit gliedert sich in eine aktive Regenerationszeit mit Sport und Hobbys und Veranstaltungen und in die physiologische Regeneration mit Köperpflege, Essen und Schlafen und ebenfalls wie bei der familialen Zeit in die damit verbundenen Kontakte, Gespräche und Geselligkeiten98.

94

Vgl. Kramer, Rolf (2000), S. 80 ff. Vgl. Kramer, Rolf, Phänomen Zeit, Berlin 2000, S. 14 f. 96 Kramer, Rolf (2000), S. 15. 97 Vgl. Kramer, Rolf (2000), S. 100 ff. 98 Vgl. Krüsselberg, Hans-Günter, Ökonomische Analyse der werteschaffenden Leistungen von Familie im Kontext von Wirtschaft und Gesellschaft – mit Schlussfolgerung und Überleitung, in: Hans-Günter Krüsselberg, Heinz Reichmann (Hrsg.), Zukunftsperspektive Familie und Wirtschaft, Grafschaft 2002, S. 114. 95

98

2. Kap.: Neue Ökonomische Strukturen

Gegenwärtig ist Zeit kein Kennzeichen für das, was Menschen nacheinander tun. Überhaupt macht nicht mehr nur die Schnelligkeit das berufliche Leben der Menschen aus. Es ist vielmehr die Gleichzeitigkeit der Tätigkeiten, die die Zeit verdichtet. Der homo simultans kann nicht nur dem Nachrichtensprecher folgen, sondern auch die am unteren oder oberen Rand laufenden Informationsbänder wahrnehmen. Durch die modernen Informations- und Kommunikationsgeräte ist die Chance gegeben, viele Dinge gleichzeitig zu tun. Man kann etwa gleichzeitig telefonieren, drucken, Mails lesen oder mit der Fernbedienung zappen. Die Mehrfachtätigkeit hat die Arbeitswelt und hier insbesondere den Bürobereich ebenso wie die Freizeitwelt erreicht. Das Handy ist das besondere Kernzeichen für diese Simultanität. Heute können und müssen viele Menschen alles Denkbare gleichzeitig machen. Die im Haushalt und Büro unabdingbaren Geräte wie Computer, Mobiltelefon und Fernbedienung sind die Merkmale für diese Gleichzeitigkeit. Diese Geräte gewähren erst die Form von Mehrfachtätigkeiten. Das viel beachtete Hörbuch ist ein Beispiel für die Möglichkeit, die sich aus den Anwendungen der Technik ergibt. Das Hörbuch ermöglicht anders als das Lesebuch zugleich andere Tätigkeiten gleichzeitig auszuüben, ohne dass die Interessen eingeschränkt werden müssen. Denn sie eröffnen Freiheitsräume. Aber von der Zeitnot wird der Mensch im Zeitalter der verdichteten Zeit nicht befreit. Selbst der Computer befreit den modernen Menschen nicht davon. Zwar ist der PC wohl das Gerät, das ihm am meisten hilft, Zeit zu sparen. Aber zugleich ist es gerade das Werkzeug, das ihm am meisten Zeit raubt. Ein weiteres Kennzeichen unserer Zeit ist die scheinbare Endlosigkeit, in der wir leben. Die eigene Vergänglichkeit wird verdrängt. Die vermeintliche Endlosigkeit, die durch das Internet vermittelt wird, ist gerade nicht von der Tageszeit oder von der Arbeits- oder Urlaubszeit abhängig. Schier endlos sind die Angebote der Rundfunk- und Fernsehanstalten. Oder die angebotenen Einkaufszeiten in den Supermärkten und in den verschiedenen Ketten. Dort, wo Zeit vergessen wird, wird eine unrealistische Ewigkeitsvorstellung produziert. Ebenso wird Endlosigkeit zur Ewigkeitserwartung. Heute wird der Mensch als einer gesehen, dessen Handeln aus dem irdischen Leben abgeleitet wird. Unsere Zeit kennt den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, der in der Zeitdefinition der Relativitätstheorie nicht gegeben ist. Aber für den lebenden Menschen auf dieser Erde macht gerade dieser Unterschied sein Leben aus. Er kommt von der Vergangenheit und geht in die Zukunft99. Zeit ist für ihn eine vergängliche Komponente. Die Ewigkeit ist das Unabdingbare, das Bleibende. Es ist das allerdings nicht die Endlosigkeit, das wäre eine Ewigkeit ohne Zeit, also eine zeitlose Ewigkeit. 99

s. unten 8. Kapitel, 6.

4. Wirtschaftsethische Probleme

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Gottes Ewigkeit ist eine Ewigkeit, die in Verbindung mit der Zeit gedacht werden muss. Auch in der Ewigkeit ist also die Zeit nicht vergessen! Die Einheit von beiden, von Zeit und Ewigkeit, liegt in Gott selbst. Allerdings wird die Ewigkeit nicht in jeder Zeit gleich wahrgenommen. Die Erfahrung der Ewigkeit unterliegt der Wandlung irdischer Entwicklung und Einflüsse100. Aber die einzelnen Dimensionen dürfen nicht isoliert betrachtet werden101.

100 Neuerdings hat sich Reinke, Otfried, Ewigkeit, Stuttgart 2006, S. 45 ff., 79 mit dieser Problematik auseinandergesetzt. 101 Vgl. Kramer, Rolf, Zeit und Ewigkeit als Grunderfahrung menschlichen Lebens, in: Otfried Reinke, Ewigkeit?, Göttingen, 2004, S. 110 ff.

3. Kapitel

Kultur und Religion Nach dem etymologischen Wörterbuch ist der Begriff Kultur am Ende des 17. Jahrhunderts in den deutschen Sprachraum gelangt. Er lässt sich vom lateinischen Begriff colere, bebauen, pflegen, ableiten. Mit dem Wort cultura bezeichnet man in der lateinischen Sprache den Ackerbau und die Landwirtschaft. Man spricht heute wie zur Zeit Ciceros von der cultura animi, also von der Wissens- oder Geisteskultur. Durch die Kultur unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Der menschliche Verstand bildet die Voraussetzung für Kultur. Und der Geist ist der Träger der Kultur. Letztlich ist Kultur nur unter zur Hilfenahme des Verstandes möglich. Sie wird von ihm bestimmt und kontrolliert. Aber gleichzeitig gehören zu ihr sinnliche und emotionale Wahrnehmungen. Für die UNESCO ist Kultur die Gesamtheit der Eigenschaften einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, die außer Kunst und Literatur auch „Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst“1. Die Kultur besitzt immer eine Beziehung zur Gemeinschaft. Sie stellt ein Werk der unterschiedliche Wissens- und Technikgebiete und der Gemeinschaftsleistung der Menschen dar. Also gehören nicht nur der landwirtschaftliche Ackerbau und die Viehzucht, sondern Kunst und Technik, Wissenschaft, Literatur und das Gesamtgebiet der Sprache zum Bereich der Kultur. Sie setzt sich aus unterschiedlichen – aber gemeinsam bestimmten – Werte- und Zielsystemen zusammen. Ohne diese wird es kein gemeinsames Handlungsfeld mehr in der Gesellschaft geben. Aber auch der Umgang mit dem Tod muss als ein herausragendes Merkmal jeder menschlichen Kultur gesehen werden. Diese erstreckt sich vom Ahnenkult der Naturvölker über die Pyramiden des alten Ägyptens bis zur Unsterblichkeitssehnsucht des frühen Christentums oder der Auferstehungshoffnung in der gegenwärtigen Zeit. Kultur steht in einem vielfachen Verhältnis zur Religion. Freilich liegt alles an der Definition dessen, was man unter Religion versteht. Denn es gibt viele unterschiedliche Religionsbegriffe2.

1 2

Zitiert nach Di Fabio, Udo (2005), S. 21. Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 46 ff.

3. Kap.: Kultur und Religion

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Mit der Übernahme des späten römischen Religionsbegriffs durch die katholische Kirche wurde die Religion zur einzigen Religion, der religio vera, nachdem sich die christliche Religion als siegreich durchgesetzt hatte. In dem heidnischen Religionsbegriff war zunächst die Verehrung der fremden Götter angeboten worden. Dann aber stand die alleinige Achtung des eigenen Gottes im Mittelpunkt. Allmählich hob sich das Christentum von den anderen Religionen ab, aber erkannte auch die anderen trotz des eigenen universellen Anspruchs als eben solche Religionen an. Die Beziehungen der Religionen untereinander werden in der Welt von Tag zu Tag wichtiger. Der Begriff der Toleranz zwischen ihnen ist einer Indifferenz gewichen. Säkularisierung ist der allseits prägende Begriff. Das hängt damit zusammen, dass die Gesellschaft in der Zeit nach der Aufklärung das Zusammenleben der Religionen nicht mehr aufgrund gegenseitiger Duldung, sondern durch eine weltanschauliche Gleichgültigkeit akzeptierte. Toleranz dagegen ist immer verbunden mit der Anstrengung, die Glaubensüberzeugung beim anderen zu erkennen und zu respektieren. Aber in der Toleranz müssen wechselseitig die Glaubensüberzeugungen des anderen und seine Rechte anerkannt und gewahrt werden. Die Frage nach dem Christentum als Religion war in der katholischen Theologie nicht umstritten. Es herrschte zwischen Christentum und Religion weder eine Distanz noch eine Identifizierung. Dabei ging es um die Frage nach dem Christus, der jenseits der Religionen oder über den Religionen gedacht wurde. In der protestantischen Theologie war der Zugang zu den Religionen lange Zeit umstritten. Namentlich durch Karl Barth initiiert lehrte sie eine Distanz zwischen beiden. Für ihn bedeutete die Offenbarung Gottes in Jesus Christus die Aufhebung der Religion3. Es ging ihm in seiner Auseinandersetzung mit den Religionen nicht um die einzelnen Religionen, sondern eben um die Religion als solche. Darum spricht er auch von der Religion in der Einzahl. Religion ist für ihn reines Menschenwerk. Aber die Offenbarung kann das Wesen der Religion annehmen, und das tut sie im christlichen Glauben. Für ihn ist darum allein die christliche Religion die wahre Religion. Denn die Religion selbst ist Unglaube4. In der protestantischen Theologie herrschte diese Einstellung gegenüber den Religionen viele Jahrzehnte Jahre lang. Erst in den letzten Jahrzehnten kam es zu einem Kurswechsel5. Ein neues Verhältnis des Christentums zu den Religionen tat sich auf, und es kam damit zu einem neuen interreligiösen Dialog. Die-

3 Vgl. Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. I, 2, Die Lehre vom Wort Gottes, Zürich 41948, S. 304 ff. 4 Vgl. Barth, Karl (1948), S. 324 ff. 5 Vgl. dazu Carl Heinz Ratschow, Die Religionen, Gütersloh 1979, S. 101 ff.

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3. Kap.: Kultur und Religion

ser entstand dadurch, dass sich zunächst die Religionen gegenüber dem Christentum öffneten. Hinzu kam ebenfalls eine neue Einstellung der christlichen Theologie zu den Religionen. In der christlichen Theologie hat sich dieses neue Denken aufgrund von neuen entsprechenden theologischen Entwürfen etabliert. Aber es gibt keine Übereinstimmung zwischen der katholischen und protestantischen Theologie, nach der sich das Heil in allen Religionen erweisen kann. Der Christozentrismus, wie er in der katholischen Theologie verstanden wird, geht zwar davon aus, dass sich das Heil in den Religionen ereignen kann. Aber es muss einschränkend gesagt werden, dass dieser Christozentrismus „aufgrund der Einmaligkeit und Universalität des Heils Jesu Christi“ den Religionen „eine autonome Heilsrolle“ verweigert6. In gewissem Maße herrscht in der katholischen Theologie danach ein exklusiver Christozentrismus vor. Dieser Ansatz ist in der katholischen Theologie sogar weit verbreitet. „Er versucht, den universalen Heilswillen Gottes mit der Tatsache zu versöhnen, dass jeder Mensch sich als solcher innerhalb einer kulturellen Tradition entwickelt, die in der jeweiligen Religion ihren höchsten Ausdruck und letzten Grund hat“7. Die protestantische Theologie lehnt generell die Rede von einem GekommenSein des Heils in den Religionen ab. Hier herrscht darum ein direkter und ausgeprägter exklusiver Christozentrismus vor. Das Heil ist ausschließlich der in Christus verkündeten Offenbarung vorbehalten. Über die katholische Kirche und das in ihr verkündete Heil ist ferner im Blick auf die Religionen zu sagen: Der in ihr früher verkündete exklusive Ekklesiozentrismus, der in dem Satz extra ecclesiam nulla salus gipfelte, wird nicht mehr gelehrt. „Man spricht von der Heilsnotwendigkeit der Kirche in einem doppelten Sinn: der Notwendigkeit der Kirchenzugehörigkeit für diejenigen, die an Jesus glauben; und der Heilsnotwendigkeit des Dienstes der Kirche, die in Gottes Auftrag der Ankunft des Reiches Gottes zu dienen hat“8. Die Heilsmöglichkeit außerhalb der Kirche beruht auf der universalen Gegenwart des Heiligen Geistes, „die vom österlichen Geheimnis Jesu nicht getrennt werden kann“9. Darum gilt, dass nur in Jesus Christus die Garantie für die volle Annahme des Menschen durch den Schöpfer gegeben ist. Aber es existiert trotzdem in der gegenwärtigen katholischen Theologie die Vorstellung, dass es durchaus eine Rettung auch außerhalb der Kirche gibt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesen Gedanken in der Pastoralkonstitution 6 Internationale Theologenkommission, Das Christentum und die Religionen, in: Arbeitshilfen 136 vom Sept. 1996, n. 11. 7 Ebenda. 8 Internationale Theologenkommission, n. 65. 9 Internationale Theologenkommission, n. 81.

3. Kap.: Kultur und Religion

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„Gaudium et spes“ aufgenommen: „Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein“10. Dieses Zitat weist darauf hin, dass die Wahrheitsfrage in den Religionen immer als christologische Frage auftritt und im Kern mit der Heilsrelevanz der Religionen verknüpft ist. Denn die Heilsmöglichkeit gilt nunmehr ebenfalls für Nichtchristen. Selbst die Atheisten können nach dem katholischen Theologen Karl Rahner das Heil erlangen, wenn sie ihrem Gewissen folgen. Schließlich heißt es im Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils Art. 1 (Vorwort) in Nostra Aetate über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, dass die Menschen von den Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel ihres Daseins erwarten11. Dabei gilt: „Die katholische Kirche lehnt nichts von dem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selbst für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet“12. Nach Meinung der Internationalen Theologenkommission vertreten einige katholische Theologen in der heutigen Zeit einen „soteriologischen oder heilsbezogenen Theozentrismus“ mit einer normativen Christologie. Danach kann man einen Pluralismus von Heilsvermittlungen annehmen. Christus selbst offenbarte Gottes Liebe am deutlichsten unter den Menschen. Andere katholische Theologen verfechten eine nicht normative Christologie. Bei diesem Standpunkt findet eine Abkoppelung Christi von Gott statt. Diese Auffassung entzieht dem Christentum den universalen Heilsanspruch. Jesus Christus ist dann nicht mehr „der einzige und exklusive Mittler“. Damit ist der Logos größer als Jesus. Er kann sich deshalb in den „Stiftern anderer Religionen inkarnieren“13. Es ist andererseits auch nicht möglich, etwa zu formulieren: Jesus ist zwar Christus, aber Christus ist mehr als Jesus. Nach dem Neuen Testament ist Jesus Christus der fleischgewordene Logos der alle Menschen erleuchtet14. Dieser ist es, der die Menschen rettet. 10

Vaticanum II 1965, Gaudium et Spes, n. 22,6. Vgl. Karl Lehmann, Das Christentum – eine Religion unter anderen?, Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Nr. 23 vom 23. Sept. 2005, S. 9. 12 Zitat aus Nostra Aetate n. 2; zitiert aus: Karl Lehmann, Das Christentum – eine Religion unter anderen?, Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Nr. 23 vom 23. Sept. 2005, S. 43 f. 13 Internationale Theologenkommission, n. 20 f.; vgl. n. 62 ff. 11

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3. Kap.: Kultur und Religion

Damit kommt dem Christentum ein Universalitätsanspruch zu. Aber zugleich muss erkannt werden, dass es gerade das Kommen Christi ist, der diese universale Heilsbedeutung besitzt. Sie zeigt sich in der überkommenen Lehre des lógos spermatikós (die samenartige auch im Heidentum ausgebreitete Offenbarung Gottes). Nur das Christentum hat einen universellen Heilsanspruch. Freilich wird nach katholischer Lehre eine Heilsfunktion des Geistes Christi in den Religionen nicht ausgeschlossen. Sie können helfen, dass die Menschen ihr letztes Ziel erreichen. Schließlich ist in den Religionen derselbe Geist am Werk wie der, der in der Kirche wirkt15. Die unterschiedlichen Auffassungen von Religion haben ebenfalls Auswirkungen auf die christliche Mission und auf die Frage nach der Bekehrung. Denn wenn die Religionen ihrerseits Heilswege sind, kann es bei der Mission nicht mehr um die Bekehrung gehen. Der inklusivistische Ansatz erachtet die Mission dementsprechend nicht mehr als notwendig. Damit wird eine Verdammung der „Nichtevangelisierten“ verhindert, wie es der exklusivistische Ansatz vorsieht, der immer noch eine Mission zur Voraussetzung hat16. Dennoch bleibt es bei der Aussage, dass Jesus Christus die Fülle der Offenbarung ist. Aber, wie bereits dargelegt, das göttliche Heilshandeln ist für die katholische Lehre auch außerhalb der Christusbotschaft zu erkennen. Der interreligiöse Dialog lässt sich durch den gemeinsamen Ursprung aller Menschen begründen; denn sie sind alle Gottes Ebenbild, ihre Lebensfülle erreicht ihr Ziel in Gott selbst, Christus ist die Erfüllung des göttlichen Heilsplanes, und der Heilige Geist ist wirkungsmächtig auch unter den Anhängern anderer Religionen17. Heute versteht sich das Christentum sowohl in der katholischen Theologie also auch bei vielen protestantischen Theologen gegenüber den anderen Religionen als Religion. Dennoch wird man, wie es die Internationale Theologenkommission getan hat, über die vom christlichen Glauben vertretene Wahrheit und seinen Universalitätsanspruch speziell nachdenken müssen. Diese Religion umfasst nicht mehr nur Aussagen über das Verhältnis der Menschen zu ihrer Transzendenz, sondern vorrangig sogar die über ihr Diesseits und ihre „neuen“ Götter. In ihrer säkularisierten Form treibt die Ersatzreligion besonders die Immanenz voran und bezieht sich auf die Diesseitigkeit. Sie fördert hier das individuelle Glücklich-Sein und fördert den individuellen Lebensgenuss. Das ist im engeren Sinn dann der Ausdruck der Säkularisierung der Welt. 14 15 16 17

Vgl. Internationale Theologenkommission, n. 36. Vgl. Internationale Theologenkommission, n. 84 f. Internationale Theologenkommission, n. 24. Ebenda.

3. Kap.: Kultur und Religion

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Sie enthält nicht nur die Bestimmung von Erde und Himmel, sondern auch die von Geburt und Tod, von Sterben und Auferstehen, von Schicksal- oder Gottergebenheit. Diese Religion ist nicht mehr auf die Gemeinde bezogen, sondern ist individualisiert. Alles kann religiös interpretiert werden. In der Religionssoziologie wird nunmehr unter dem Begriff des Religiösen eine schier unendliche Fülle von Phänomenen erfasst. Aber mit dieser religiösen Interpretation des Alltags bekommt Religion freilich eine neue Dimension. Einerseits verliert die überlieferte (christliche) Religion ihre Bedeutung, andererseits werden gesellschaftliche Phänomene neu religiös interpretiert. Aber trotz einer weitgehenden Säkularisierung erfährt die Gesellschaft eine allgemeine – indes nicht mehr christliche – Religionisierung. Man spricht darum mit Recht von einer säkularen Religion in der Gesellschaft, zumal es vielen Menschen um ein innerweltliches Wohlbefinden und nicht mehr um eine transzendente Beziehung geht18. Bereits der Säkularisierungsprozess der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat darauf hingewiesen, dass der christliche Glaube nicht mehr den Platz beanspruchen kann, wie er ihn bis in die jüngere Vergangenheit noch behaupten konnte. Heute spielen die Religionen und ihre Unterschiede in den Gesellschaftswissenschaften eine gewichtige Rolle, wie einerseits das Erstarken des Islams beweist und andererseits das Auftreten unterschiedlicher religiöser Phänomene erkennen lässt. Denn es werden weltweit immer mehr religiöse Phänomene wahrgenommen, die darauf hinweisen, dass die Menschen sich eher religiös ,binden‘; als dass sie mit einem langsamen Erlöschen des Religiösen rechnen. Allerdings muss erkannt werden, dass diese Form des religiösen Denkens nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun hat. Ihr Zentrum liegt eher in einer säkularen Religiosität. Selbstverständlich existieren zwischen den einzelnen Religionen eklatante Unterschiede. Es besteht ebenfalls eine ganz unterschiedliche Angebotspalette zwischen den Normen und Werten, die von den einzelnen Religionen verkörpert werden. Religion ist immer ein Teil dieser Welt und damit zwingend eine Dimension der Menschen. Darum hat Religion vielfach etwas mit Politik zu tun. Immer dort, wo die Politik sich mit der Religion überschneidet, kann sich aus diesem Schnittfeld die Gefahr einer Gewaltbereitschaft der Gläubigen ergeben. Aber in Gesellschaften, in denen sich das Verhältnis von Religion und Politik spannungsfrei entwickelt, kann es auch gewaltfrei zugehen. In vielen Fällen haben sich beide Bereiche einander so angenähert, dass sowohl der Einfluss der Religion auf die Politik als auch umgekehrt der Einfluss der Politik auf die Religion schwindet. 18

Kramer, Rolf (2004), S. 62 ff.

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3. Kap.: Kultur und Religion

Es bedarf keiner religiösen Bevormundung des Staates durch Theologie oder Kirche. Eher bedarf es einer Überwindung des vorhandenen religiösen Defizits in dem politischen Gemeinwesen. Eine Wiederbelebung des christlich-theologischen Denkens, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes ist und unter seiner Obhut steht, würde keinem einen Schaden zufügen. Andererseits würde eine Absicherung der Verfassung durch einen religiösen Bezug nur die Verantwortung der Bürger vor dem Schöpfer dieser Welt stärken. In Gestalt von Esoterik, Astrologie, Kartenlesen oder Jugendsekten kam es bereits in den siebziger Jahren zu einem gleichsam neuen religiösen Fundamentalismus in Europa. Speziell in den drei monotheistischen Religionen des Judentums, Christentums und Islams fasste der Fundamentalismus Fuß19. Vor allem in der säkular-religiösen Entwicklung wird dem Menschen Lebensgenuss und Selbstverwirklichung verheißen. Ihm wird nicht mehr wie in dem überlieferten christlichen religiösen Denken die Hoffnung auf Ewigkeit und Transzendenz verkündet. Denn es geht nunmehr vor allem um ein innerweltliches Glücklichsein. Allein in diesem Sinn spricht man von einer Wiederbelebung des Religiösen. Man leugnet nicht die Existenz Gottes, aber sieht sie in allen möglichen innerweltlichen Bezügen als gegeben an. Die Religion erfährt eine Vertiefung ihres gesellschaftlichen und kulturellen Seins. Dies findet dort umso mehr statt, wo man sich in dem monotheistischen jüdischen, christlichen und islamischen Fundamentalismus auf eine Rückbesinnung auf das Religiöse eingelassen hat. Darum werden die Schicksalsschläge auch nicht einfach als Fügungen oder Prüfungen Gottes hingenommen. Man fragt ständig, ohne freilich eine Antwort zu erhalten, nach dem „Warum“ dieser Ereignisse oder Schicksalsschläge. Allerdings sind auch für den Christen die Ursachen für die großen NaturKatastrophen bei Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder Tsunami-Wellen, wie die Menschheit sie am 26. Dezember 2004 in Südostasien erlebt hat, nicht einfach durch Verweise auf die Sündhaftigkeit des Menschen zu erklären. Zwar ist in diesem Zusammenhang mit der Aussage der Sündhaftigkeit auch das Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer betroffen. Aber eher noch ist die soziale Komponente angesprochen. Denn die kommunikative Beziehung unter den Menschen ist in Mitleidenschaft gezogen. Die Verantwortung des Menschen ist von ihm nicht wahrgenommen worden. Er hat auf diesem Gebiet fast völlig versagt. Allerdings darf die weltweite Hilfsbereitschaft, die nach solchen Naturkatastrophen einsetzt, durchaus als ein positives Zeichen der Betroffenheit gewertet werden.

19

Vgl. Preul, Reiner, So wahr mir Gott helfe!, Darmstadt 2003, S. 8.

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Im islamischen Fundamentalismus wird allerdings die südostasiatische Naturkatastrophe als eine Heimsuchung Allahs interpretiert; denn es sei nicht genug für die Ausbreitung des Islams in der Welt getan worden. Der Mensch kann bei der Suche nach einer Erklärung anlässlich solcher überregionaler Ereignisse nur schweigen. Denn auch dem Gläubigen versagen in diesem Zusammenhang einfache Antworten, obwohl er wie auch der säkularisierte Mensch jeweils nach einer hinreichenden Antwort sucht. Allerdings wird er sich fragen müssen, ob sein Vorgehen und sein Umgang mit der Natur (Bebauen der meernahen Bereiche, Abholzen der Wälder) nicht wesentlich mit zur Ausweitung der Katastrophe beigetragen hat. Man darf keinesfalls bei diesen Ereignissen und bei der Frage vieler Menschen nach der Ursache einfach auf Luthers Lehre von dem unsichtbaren Gott (deus absconditus) verweisen. Der vielschichtige Begriff des verborgenen Gottes besagt, dass Gott sein Geheimnis allein sich selbst vorbehält. Zwar ist dieser Gott kein anderer als der offenbare Gott (deus revelatus). Aber sein Wille bleibt unserer Erkenntnis verborgen. Sein Handeln – auch das in den Naturkatastrophen – entzieht sich unserer Einsicht. Von der christlichen Offenbarung Gottes in Christus Jesus aus ist nicht nur Gottes Verborgenheit in der Welt, sondern auch in den verschiedenen Religionen, solange hinzunehmen, bis der unsichtbare Gott, der deus absconditus, als Gott sich allen Menschen in seiner ganzen Herrlichkeit offenbart20. In der gegenwärtigen protestantischen Theologie herrscht deshalb weitgehend die Meinung, „dass wir auch in den Religionen dem verborgenen Wirken Gottes begegnen“21. Vielfach wird darum über die Religionen ausgesagt: „Ergo sind die Religionen im Urteil des christlichen Glaubens Teil des Welt-Waltens des dreieinigen Gottes – den Menschen gegeben, damit sie Gott suchen sollten, ob sie ihn wohl fühlen und finden möchten“, wie es in der Apostelgeschichte wörtlich heißt (Apg. 17,27)22. Die Bedeutung der Kirche und ihrer Theologie hat in der modernen Gesellschaft immer mehr an Einfluss verloren. Die Kirchen selbst sind dabei, sich aus ihrer Verantwortung für das ewige Seelenheil der Menschen zu verabschieden und eine mehr religiös-soziale Funktion zu übernehmen, in der es um die Probleme der Gerechtigkeit, Teilhabe oder Partnerschaft geht. Sie übernehmen dabei solche Funktionen, die bisher andere Institutionen, wie Gewerkschaften oder Sozialverbänden, innegehabt haben, und geben dabei ihre eigentliche Aufgabe der Verkündigung preis. Das wird leider in der protestantischen Welt stärker praktiziert als in der katholischen23. 20 21 22

Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 69 f. Schwöbel, Christoph (2003), S. 203. Ratschow, Carl Heinz, Die Religionen, Gütersloh 1979, S. 122.

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3. Kap.: Kultur und Religion

Auf ihrer Synode im Jahr 2007 hat die EKD sich den Fragen für das einundzwanzigste Jahrhundert gestellt. Sie hat ein so genanntes Impulspapier unter dem Titel „Kirche der Freiheit“ herausgegeben, indem sie sich der evangelischen Verantwortung für die Zukunft bewusst werden wollte. Die Synode erörterte den kirchlichen Aufbruch in vier Handlungsfeldern, 1. in der „kirchliche Kernarbeit“, 2. bei den kirchlichen Mitarbeitern, 3

„beim kirchlichen Handeln in der Welt“ und

4. bei der „kirchlichen Selbstorganisation“. Die Kirche muss sich den Problemen stellen, die mit dem demographischen Wandel und den dadurch eintretenden Mindereinnahmen im den kommenden Jahrzehnten gegeben sind. Die genannten Bereichen umfassen zwar nicht alle wichtigen Arbeitsfelder. Aber diese Problemfelder tragen exemplarischen Charakter. Die weitere Diskussion wird dann prüfen müssen, „wie tragfähig und belastbar die gemachten Vorschläge sind“24. In den Schlüsselbreichen entscheidet sich die Zukunft der evangelischen Kirche. So genannte „Leuchtfeuer“ werden der Kirche den Weg weisen, den sie in der Zukunft zu gehen haben wird. Man will unter dem jeweils gleichen Motto: „Auf Gott vertrauen und das Leben gestalten“ die Zukunft der Kirche gestalten25. „Mit den Visionen der zwölf Leuchtfeuer für das Jahr 2030 nimmt die Evangelische Kirche in Deutschland die Umbruchszeit an und ermutigt zu einem gemeinsamen Weg, der sich den voraussehbaren demographischen und finanziellen Entwicklungen stellt und sie durch konzeptionelle Überlegungen zum Positiven wendet“26. Ob ihr das allerdings mit den vier Handlungsperspektiven und den damit verbundenen zwölf Problemfeldern wirklich gelingt, mag dann, wie der Rat in seinem vorgelegten Papier überlegt, die Zukunft erweisen. Grundsätzlich gilt es zu fragen, ob in dem Perspektivpapier und dem darin angesprochenen Reformprozess mit dem verordneten‘ kirchlicher Zentralismus wirklich der richtige Weg gewiesen ist. Freilich möchte er immerhin erreichen, dass auch fernerhin in dem Handeln der Kirche zu erkennen ist: „Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar

23 Eine andere Bewertung nimmt Reiner Preul (2003), S. 79 vor. Er meint, dass in der katholischen Kirche gerade die Auseinandersetzung der Laien mit der Hierarchie für die Lebendigkeit der Kirche spricht. In der evangelischen Kirche zeugen die Spannungen, die zwischen den Christen und den Kirchenvertretern bzw. Synoden in politischen, ethischen sozialen und theologischen Fragen bestehen, von der Meinungsvielfalt in der Kirche und nicht von ihrem Niedergang! Von der Unsicherheit, die in den Gemeinden herrscht, wird in beiden Fällen nicht gesprochen. 24 Rat der EKD (2007), S. 103. 25 Rat der EKD (2007), S. 49. 26 Rat der EKD (2007), S. 46.

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sein“27. Aber die entscheidende Frage bleibt, ob der Reformprozess durch dieses Impulspapier vorangetrieben wird? In den neuen Bundesländern Deutschlands sind nur noch 26 Prozent der Bevölkerung Angehörige der beiden christlichen Kirchen. Ingesamt ist die Mitgliederzahl in Deutschland von 63 Millionen im Jahr 1970 auf 54 Millionen im Jahr 2000 zurückgegangen! Das hat doch wohl mit Recht erneut Anlass gegeben, über den Begriff der Volkskirche nachzudenken. Aber zusätzlich zu dieser Erscheinung hat auch die kirchliche Entwicklung in den westdeutschen Gliedkirchen mit ihrer Infragestellung überlieferter Institutionen (Eheschließungen, Trauungen, Konfirmationen, Taufen) und das Fehlen ganzer Bevölkerungsteile dazu beigetragen, die Volkskirche als eine Kirche offen für alle Menschen im Volk mindestens in Verruf zu bringen28. Es kann schließlich nicht reichen, unter dem Begriff der Volkskirche eine Kirche zu verstehen, die eine kritische aber auch konstruktive Instanz in der Gesellschaft darstellt. Über diese Gedanken hinaus hat Religion traditionell im Allgemeinen nicht nur mit dem Leben, sondern vor allem auch mit dem Tod und Sterben zu tun. Sie bezieht vor allem das eigene Sterben und den eigenen Tod ein. Allerdings geht man mit dem Tod in der säkularisierten Welt der Gegenwart so um, dass er entweder verdrängt oder geleugnet wird. Das Individuum schiebt den Gedanken an den Tod soweit wie nur irgend möglich hinaus. Der Tod wird gleichbedeutend mit dem Nichts gesehen. Immerhin hat sich bereits heute im Christentum der Neuzeit ein religiöser Pluralismus durchgesetzt, der keineswegs zu einer gesellschaftlichen Verchristlichung, wohl aber zu einer irgendwie gearteten Religionisierung der Gesellschaft geführt hat. Denn nunmehr ist Religion zu einem Begriff mit vielen Vorstellungen und einer säkularisierten Orientierung geworden. Dadurch wird selbstverständlich das Gewicht der Religion in der Zusammensetzung der Lebenselemente erheblich verkleinert. Das lässt sich heute ganz besonders etwa an der entstandenen Machtlosigkeit des überlieferten Christentums zeigen. Die Entchristlichung ist seit den letzten beiden Jahrzehnten entscheidend vorangeschritten. Der überlieferte christliche Gottesbegriff hat seine Allgewalt und Transzendenz verloren. Er musste einem innerweltlichen Vernunftbegriff weichen oder verlor seine Mächtigkeit an ein unbestimmtes „Es“, das im Geschick der Menschen wirkt. Mit Nachdruck hat Benedikt XVI. in seiner viel beachteten und umstrittenen Regensburger Vorlesung während seiner Bayernreise im Jahr 2006 darauf aufmerksam gemacht: „Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen ab27 Rat der EKD, Kirchenamt der Evangelischen Kirche (Hrsg.), Kirche der Freiheit (Impulspapier), Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, Hannover 2007, S. 8. 28 Vgl. Reiner Preul (2003), S. 81 f.

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3. Kap.: Kultur und Religion

drängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen“29. Es muss eine neue Weite der Vernunft gesucht und sie muss vor allem im christlichen Abendland wiedergefunden werden. Andererseits enthält aufgrund einer allgemeinen religiösen Ausbreitung die Gegenbewegung eine gewisse Rückentwicklung der Säkularisierung. Aber diese ist im Grund nichts anderes als ein Umbruch weg von dem Bekenntnis einer christlichen Konfession hin zu einem allgemeinen religiösen Denken. Darum stehen heute ein islamischer und ein christlicher Fundamentalismus einerseits einer säkularen Religionisierung andererseits gegenüber. Und es scheint so, dass beide Richtungen weiter zunehmen werden. Allerdings muss bei einer zunehmenden Säkularisierung des Christentums der Befürchtung Karl Löwiths Rechnung getragen werden, der die Angst formulierte, die damit verbunden ist. Er sprach, etwas salopp, davon, dass mit dem Christentum auch die Humanität „flötengehe“. Schließlich liegt dem christlichen Glauben ein bestimmtes Bild vom Menschen zugrunde. Und dieses ist das des Ebenbildes Gottes. Den säkularen religiösen Phänomenen dagegen ist eine solche transzendente Grundlegung unbekannt. Allein eine Bewältigung der Zukunftsaufgabe ist in Deutschland nur möglich, wenn die Sozialsysteme wieder richtig funktionieren, die Arbeitslosigkeit heruntergefahren, die Stabilität der Wirtschaft wiederhergestellt, Wachstum neu geschaffen, die Staatsverschuldung abgebaut und der Globalisierung Rechnung getragen wird. Dazu bedarf es einer Interaktion von Religion und Politik mit einer gleichzeitigen Wiederherstellung der überlieferten Werte in der Gesellschaft. In der heutigen Gesellschaft erfährt die Religion zwar eine Wiederbelebung – aber nicht in Form einer christlichen Erweckung, sondern in Gestalt anderer allgemein-religiöser Begründungen30.

1. Der Begriff der Sünde Die postmoderne Gesellschaft ist durch eine Individualisierung der Person gekennzeichnet31. Das Geschöpf Mensch erhebt sich gegen seinen Schöpfer. Der Mensch wird zum Schöpfer seiner selbst. Der Widerspruch gegen Gott kommt in der Selbstliebe des Menschen zum Ausdruck. Die Sünde geschieht dann als Selbstverwirklichung ohne Gottesbeziehung. Aus der Gottesbeziehung 29 Benedikt XVI., Glaube Vernunft und Universität, abgedruckt in: FAZ 13. Sept. 2006, S. 8, Sp. 6. 30 Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 46 ff. u. ö. 31 Vgl. Schwöbel, Christoph, Christlicher Glaube im Pluralismus, Tübingen 2003, S. 444.

1. Der Begriff der Sünde

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wird also eine Selbstbeziehung. Gleichfalls steht der Mensch im Widerspruch zu den anderen Geschöpfen und der ihn umgebenden Welt. In der Geschichte der Dogmatik hat man zwischen der Erbsünde-, Ursprungsoder Grundsünde und den Akt- oder Tatsünden unterschieden. In der Tradition wurde die Erbsünde (peccatum hereditarium), die schon in der altkirchlichen Tradition nicht als glücklicher Ausdruck empfunden wurde, als Gottesferne oder Gottesentfremdung verstanden. Zunächst glaubte man, sie durch die Zeugung zu vererben. Das Fundamentale und Universelle dieses Sünde-Begriffs wurde später besser durch den des peccatum originale wiedergegeben. Danach besteht zwischen dem Individuum und seinem Sünder-Sein eine Einheit. Der Mensch ist von Geburt an in die Gesellschaft gesellt, die ein Ort der Sünde ist. Gegenwärtig reden die Menschen nicht mehr gern von der Sünde, wohl auch deshalb, weil ihnen die Interpretation des Christentums als eine Erlösungsreligion verloren gegangen ist. Es fehlt ihnen das Bewusstsein, dass Sündigen nicht nur etwas mit der Übertretung von Vorschriften und Gesetzen zu tun hat, sondern mit einem Hang zu einer Beschäftigung allein mit sich selbst, und zwar ohne Gottesfurcht und ohne göttliches Vertrauen. In der christlichen Religion ist ohne die Rede von der Sünde auch die Rede von der Erlösung und Versöhnung des Menschen durch Christi Kommen und Tat nicht zu definieren. Erst vor Gott als dem gnädigen und barmherzigen Herrn wird der Abgrund der Sünde erkannt. Heute aber liegt die geringe Gewichtigkeit des Sündenbegriffs im Schwinden des Gottesglaubens. Wo dieser Gott als Vater Jesu Christi nicht mehr als die alles bestimmende Kraft und Macht gesehen wird, muss auch die Schwere der Sünde an Kraft verlieren. Die Lehre Christi, dass alle Menschen Sünder sind und der Umkehr bedürfen, sehen viele Menschen als nicht mehr gegeben an. Viele Menschen haben Schwierigkeiten mit dem Begriff der Sünde. Ihnen ist der ganze doppelte Begriff der Sünde fremd geworden: Das peccastum orginiale (die Ursprungssünde) wie auch das peccatum actuale (die Tatsünde). Im allgemeinen Sprachgebrauch ist das Wort ,Sünde‘ gar bis zur Unverständlichkeit verkommen. Es mag bei der Abkehr von dem Sündenbegriff vor allem die Abkehr von dem traditionellen Erbsündenbegriff eine Rolle gespielt haben. Sünde wurde personal verstanden. Der Mensch sollte eben nur für die selbst verschuldeten Taten in Anspruch genommen werden. Sünde wurde nicht mehr als eine transpersonale Macht verstanden Immanuel Kant kann zum Beispiel von der Sünde in der personalen Form sprechen, obwohl er immerhin die Bösartigkeit der menschlichen Natur erkannte. Aber das Böse als Böses wird nicht als Triebfeder seiner Maxime angesehen. Das wäre für Kant eine teuflische Triebfeder32. 32

Kant, Immanuel (1974), S. 45.

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3. Kap.: Kultur und Religion

Zwar ist für Kant die Anschauung, dass der Mensch radikal böse ist, nicht so zu verstehen, dass er durch und durch böse ist, wohl aber, dass er dieses wurzelhaft ist. Das Böse ist zwar ein radikales angeborenes, aber von den Menschen selbst „zugezogenes“ Böses, das nicht ausgerottet werden kann33. Das Böse ist deshalb radikal, weil es „den Grund aller Maxime verdirbt“34. Es ist also keine Naturanlage, sondern besteht in gesetzeswidrigen Maximen. Darum liegt für ihn eine Bosheit vor, wenn der Mensch sich gegen das Sittengesetz auflehnt. Und eine solche Auflehnung gegen das Sittengesetzt bedeutet Bösartigkeit. Nicht weil die Handlungen böse sind, sondern weil durch sie auf böse Maximen rückgeschlossen werden kann. Darum also ist der Mensch böse. In diesem Zusammenhang lässt sich Kants Einstellung zum Glauben anführen, mit der er zugleich seinen Standpunkt zur Aufklärung charakterisiert. Er spricht von ihr als von dem Übergang des „Kirchenglaubens“ zum „reinen Religionsglauben“35. Denn allein auf diesem lässt sich eine Kirche gründen, und die Religion besteht immerhin in solchen Personen, die sie „begriffen haben und die sie leben“36. Der Begriff der Sünde hat später dann weiterhin seine ursprüngliche Kraft verloren. Das Reden von Sünde ist in der Gegenwart im westlichen Alltagsleben bis auf subalterne Begebenheiten fast zum Erliegen gekommen. Man spricht darum heute eher im Alltag von den Sünden, und meint damit eher die Mehrzahl der Sünden als die Sünde schlechthin. Daraus resultiert die Redeweise von den Verkehrssündern oder den Umweltsünden. Man meint damit oftmals mehr oder weniger nur Bagatellsünden37. In der katholischen Dogmatik wird zwischen der Todsünde (s. u.) und den lässlichen Sünden unterschieden. Als Todsünde wird derjenige Akt verstanden, „durch den ein Mensch bewusst und frei Gott und sein Gesetz sowie den Bund der Liebe, den dieser ihm anbietet, zurückweist, indem er es vorzieht, [sich] sich selbst zuzuwenden oder irgendeiner geschaffenen und endlichen Wirklichkeit, irgendeiner Sache, die im Widerspruch zum göttlichen Willen steht“38. Für die Schwere der Sünde sind diese drei Merkmale ausschlaggebend: „das Maß der gegebenen und eingesetzten Freiheit, die Klarheit der Erkenntnis und die Wichtigkeit der Sache“39. 33 Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Stuttgart 1974, S. 37, 39. 34 Kant, Immanuel (1974), S. 45. 35 Kant, Immanuel (1974), S. 132 u. 142 ff. 36 Preul, Reiner, So wahr mir Gott helfe!, Darmstadt 2003, S. 176. 37 Vgl. Kramer, Rolf, Die postmoderne Gesellschaft und der religiöse Pluralismus, Berlin 2004, S. 67. 38 Deutsche Bischofskonferenz, Leben aus dem Glauben, Katholischer Erwachsenen-Katechismus 2. Band, Freiburg u. a. 1995, S. 84.

1. Der Begriff der Sünde

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In der Theologie Luthers wird Sünde als die incurvatio hominis in se ipsum (das in sich selbst verkrümmte Sein des Menschen) definiert. „Der um seine eigene Identität bemühte Mensch ist offenbar der Mensch der Sünde. Statt sich dem Dienst an den Sachaufgaben der menschlichen Gemeinschaft zu widmen und in solchem Dienst den Sinn des eigenen Lebens zu erfahren, ist er vor allem um sich selbst bekümmert“40. Die Definition der Erbsünde als Schuld des Menschen, wie sie in der lutherischen Theologie gilt, trifft nach dem Augsburgischen Bekenntnis auch weiterhin zu. Sie ist zu verstehen als Umschreibung dessen, dass die Menschen in Sünden empfangen und geboren werden, dass sie ohne Gottesfurcht, ohne Glauben, und mit böser Lust und Neigung versehen sind („sine metu dei, sine fiducia et cum concupiscentia“)41. Darin steckt letztlich der Aufruhr des Menschen gegen seinen Schöpfergott. Aber nicht schon „die Hinwendung zu den Gegenständen des Weltbezuges“, wie es etwa der Entfremdungsbegriff des jungen Marx ausdrückte, ist als Sünde anzusehen, sondern erst „die Konzentration des Weltbezuges auf das eigene Ich in der Konkupiszenz“42. Darin sieht Wolfhart Pannenberg ein Element der Gemeinsamkeit mit dem Entfremdungsbegriff des jungen Marx. In seiner Theologie hat Paul Tillich den Begriff der Entfremdung des Menschen zur Interpretation der Sünde als Konkupiszenz aufgenommen. In der Geschichte der Dogmatik wurde die concupicentia gern als hemmungsloses Streben nach Sinnlichkeit verstanden. Da die Sünde nach christlichem Glauben kein reiner individueller Akt ist, muss auch im Sinne Tillichs die Sünde als doppeltes interpretiert werden: Der christliche Glaube „muss zugleich die tragische Universalität der Entfremdung und die persönliche Verantwortlichkeit des Menschen anerkennen“43. Für Tillichs Sündenbegriff bedeutet das: „die Tiefe des Begriffs ,Entfremdung‘ liegt darin, dass man essentiell zu dem gehört, wovon man entfremdet ist“44. Allerdings stellt sich die Frage, ob der Entfremdungsbegriff das hält, was man sich von ihm verspricht, zumal Tillich auf den gesellschaftlichen und ökonomischen Entfremdungsbegriff nicht recht eingeht, obwohl sich die Entfremdung doch als ein universales Ereignis erweisen kann, das den Individuen „immer schon vorgegeben und in das ihr Leben immer schon verstrickt ist“45. Aber gerade indem 39

Ebenda. Pannenberg, Wolfhart, Anthropologie, Göttingen 1983, S. 259. 41 C.A. Art. II, Ohne Gottesfurcht, ohne göttliches Vertrauen und mit Begierde und Neigung (s. o.). 42 Pannenberg, Wolfhart (1983), S. 264. 43 Tillich, Paul, Systematische Theologie Bd. II, Stuttgart 31958, S. 46. 44 Tillich, Paul (1958), S. 53. 45 Pannenberg, Wolfhart (1983), S. 277. 40

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3. Kap.: Kultur und Religion

der Mensch mit sich selbst und seiner Identität beschäftigt ist, erweist er sich seiner eigentlichen Bestimmung selbst entfremdet. Die Realität der Entfremdung existiert weiterhin, auch wenn ihm diese Entfremdung bewusst ist und der Wunsch nach ihrer Überwindung besteht. Insgesamt kann man den Entfremdungsbegriff nicht mit dem Erbsündenbegriff in seiner ganzen Universalität als gleichwertig ansehen46. Die Gnade ist nach reformatorischem Verständnis eine individuelle Größe. Denn sie trifft den einzelnen Menschen. Die Gnade wird dem Menschen geschenkt ohne Vermittlung durch einen anderen. Sie wird ihm als ein Heil unmittelbar gewährt. So erfährt der einzelne Mensch in der rechtfertigenden Gnade seine Heilsgewissheit. Darin zeigt sich seine Rechtfertigung, die iustificatio impii (Die Rechtfertigung des Gottlosen). In dieser Rechtfertigung erfährt er seine Individualität. Zugleich wird er in die Gemeinschaft mit den anderen Gerechtfertigten gestellt. Alle Menschen, die die Rechtfertigung aus Gnade erhalten, sammeln sich als communio dei und damit in der Gemeinschaft der recht Glaubenden, also in der Kirche. Damit erfährt die Gnade eine soziale Ausrichtung. Hier widerfährt dem Einzelnen wiederum die Zusage seiner Erwählung!

2. Hedonismus als Inhalt der Sünde? Im Neuen Testament wird nicht nur eine kritische Verhaltensweise gegenüber der Moral der damaligen Welt aufgezeigt, sondern es herrscht vielmehr ein großer Spannungsbogen in den Fragen der Ethik von der Einhaltung gesetzlicher Forderungen bis hin zur Liebe gegenüber dem Nächsten. Im Glauben an den auferstandenen Herrn werden eine Abkehr vom Bösen und zugleich eine Hinwendung in Liebe zu den Armen und Elenden, den Notleidenden aller Art in der Welt und zu den Mitgliedern der Gemeinde gefordert. In der biblischen Überlieferung des Alten Testaments werden darüber hinaus oftmals die Darstellungen von Sünden und Sündhaftem mit den Freuden des Lebens vermischt. Aus dem Munde des Predigers Salomo ist etwa zu hören: „So gehe hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deinem Weibe, das du lieb hast, solange Du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat . . .“ (Prediger 9,7 ff.). In den Apokryphen ist zu lesen: „Der Wein zu rechter Zeit und in rechtem Maß getrunken, erfreut Herz und Seele“ (Sir. 31,35)!

46

Vgl. Pannenberg, Wolfhart (1983), S. 275.

2. Hedonismus als Inhalt der Sünde?

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Jesus selbst hat auf der Hochzeit zu Kana aus Wasser Wein gemacht und zwar einen so guten, dass der Speisemeister dem Bräutigam Vorwürfe macht, dass er diesen Wein nicht zuerst gegeben hat (Joh. 2,1 ff.). Denn jedermann gibt zuerst den guten Wein und, wenn die Gäste betrunken sind, den Wein mit dem geringeren Wert. Zwar ermahnt der Apostel Paulus die Gemeindeglieder, dass sie nach der Taufe der Sünde gestorben sind (Röm. 6,11). Sie sind nicht mehr ihre Knechte, sondern gehören nunmehr der Gerechtigkeit (Röm. 6,17 ff.). Der Apostel Paulus bringt beides zusammen: Die Abkehr von den Lastern des Fleisches und die Hinwendung zu den Werken des Geistes. Darum heißt es ausführlich im Galaterbrief: „Offenkundig aber sind die Werke des Fleisches, als da sind Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen, Neid, Saufen, Fressen und dergleichen. Davon habe ich euch vorausgesagt und sage noch einmal voraus: die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben. Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede. Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit; gegen all dies ist das Gesetz nicht“ (Gal. 5,19–23).

Die Ethik des Apostels ist im Opfertod Christi begründet. Sie fordert eine Abkehr von der Unreinheit und verlangt nach einer Feier im „ungesäuerten Teig der Lauterkeit und Wahrheit“ (1. Kor. 5,8). Dieser Imperativ geht aus dem Indikativ des Heilgeschehens hervor. Daraus entspringt bei Paulus die Ethik der Liebe. Sie ist eine Wirklichkeit jenseits jeder Vernunft und Gesinnung. Sie ist pneumatisch geprägt und steht jenseits jeder Moral. Aber sie kann zur Moral werden, indem sie sich zu einer ganz konkreten Hilfeleistung entwickelt. Die Todsünden sind in der Ethik der katholischen Kirche eng mit den Zehn Geboten verknüpft. Bis zur Renaissance war ihre Übertretung mit dem Begehen der sieben Hauptsünden verbunden. Während die Zehn Gebote oder die Bergpredigt den Respekt vor Gott fordern und die Interessensphäre des Nächsten schützen, sollen die sieben Hauptsünden den Akzent zunächst von der Sozialsphäre in die Individualsphäre verlagern. Sie umgreifen allerdings auch den sozialen Aspekt47. Das Menschliche Allzumenschliche wurde durch sie in die Wirklichkeit des Lebens eingeführt. Denn sie betreffen erst einmal nur die Beziehung des Einzelnen zu sich selbst. Aber man darf die Hauptsünden eben nicht nur individualistisch sehen. Selbstverständlich bleibt der Nächste im Blickpunkt. Und außerdem geht es sogar vorrangig um die direkte Gottesbeziehung. In ihnen ist unmittelbar das Verhältnis des Menschen zu Gott und seiner Gnade betroffen48. Den sieben Todsünden ist gemeinsam, dass sie vom Einzelnen ein Opfer abverlangen. Damit wurde der neue Schwerpunkt des ethischen

47 48

Schulze, Gerhard, Hedonismus, S. 33 f., 138. Anders Schulze, Gerhard, Hedonismus, S. 28.

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3. Kap.: Kultur und Religion

Denkens in dieser Sündenkategorie gedeutet als „Missbilligung des Menschlichen an sich“49. Unter der gegenwärtigen Definition der Todsünden bleiben zwar die Aspekte der Mitmenschlichkeit und der Gemeinwohlorientierung nicht unerwähnt. Heute aber ist von ihnen übrig geblieben eine ethische Quintessens für eine weltweite Paränese, die nach dem Text aus dem Matthäusevangelium lautet: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Matth. 7,12). Oder, wie es in einer allgemeineren ethischen Form heißt: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu“50. Nach dem modernen Katechismus der katholischen Kirche müssen heute drei Bedingungen erfüllt sein: „Eine Todsünde ist jene Sünde, die eine schwerwiegende Materie zum Gegenstand hat und die dazu mit vollem Bewusstsein und bedachter Zustimmung begangen wird“51. Die schwerwiegende Materie wird durch die Zehn Gebote erläutert. Die Erkenntnis und die volle Zustimmung setzen das Wissen um die Sündhaftigkeit der Handlung voraus. Der alte Katalog der sieben Todsünden umfasst etwa: Völlerei, Unkeuschheit, Hoffahrt, Habgier, Trägheit, Zorn, Neid. Sie haben heute in der überlieferten Form die Alltagswirklichkeit fast verloren. Von den sieben sind mindestens die ersten drei fast ganz aus der Alltagssprache verschwunden. Der Katalog der sieben Todsünden prangert die alltäglichen Lüste und Leidenschaften als sündhaft an und tadelt damit „genussvolles Essen, Gefühlsausbrüche, Sex, Besitzstreben, Selbstsicherheit, Entspannung, Ehrgeiz“. Damit wurden die alltäglichen Triebe und Genüsse aufs Korn genommen. Heute mögen sie als Todsünden für antiquiert gelten52. Denn Völlerei, Unkeuschheit, Habgier 49

Schulze, Gerhard, Hedonismus, S. 34. Schulze, Gerhard, Hedonismus (2005) S. 138. 51 Kathechismus der Katholischen Kirche, München 1993. Ziff. 1857 ff. 52 Schulze, Gerhard, Hedonismus, in: Schriftenreihe der Vontobel Stiftung, Zürich 2005. S. 26. Schulze kämpft im Laufe seiner Darstellung für eine profane Deutung der sieben Todsünden als „die Vererbung einer Tradition der Missbilligung des Menschlichen“ (S. 41). Er meint zwar, in einem anderen als üblichen Sinn von der Erbsünde sprechen zu können. Aber damit wird er der Definition der Erbsünde nicht gerecht. Den Hintergrund für diese Vorstellung liefert die so genannte magische Religiosität, die sich in der anti-aufklärischen Haltung der Religionen darstellt. Den streng theologischen Charakter der Sündenlehre verkennt er völlig. Darum ist ihm die Erkenntnis, dass aus dem Indikativ des Erlöst-Seins durch Christi Tod der Imperativ des christlichen Handelns für den anderen und für zu Gunsten der eigenen Person verborgen geblieben. Es geht nicht um den Kampf gegen einen mythische Vorstellung vom Teufel, sondern um das richtige Leben im Stand des Getauft-Seins. Nach Schulze rangen die charismatischen Führer des Christentums um die Idee des Lebens für Gott. Kleriker und Laien, die ein von diesseitigen Wünschen und Leidenschaften bestimmtes Leben als Gottlosigkeit verabscheuen, brandmarken es bei ihren Mitmenschen als Sünde und unterdrückten es bei sich selbst. Sie meinten eben, gegen den Teufel zu kämpfen (vgl. S. 37 f.). Aber in der Zeit nach der Aufklärung ist seit 50

2. Hedonismus als Inhalt der Sünde?

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und Hoffahrt sind gegenwärtig gerade Ausdruck für die Suche nach persönlichem Glück und erlebbarer Sinnesfreude. Bei der Völlerei stehen ganz andere Gebote und Verbote im Vordergrund, die der Erhaltung der eigenen Gesundheit dienen. Die Strafen folgen zeitlich im gesundheitlichen Bereich direkt auf dem Fuß. Man wird bestraft etwa beim Genuss von Alkohol oder Tabak und muss bei einer zu großen Esslust mit erheblichen gesundheitlichen Schäden rechnen. Mancher wird sich aufgrund der allzu ausgeweiteten Esskultur mit Cholesterinablagerungen, mit Fettpolstern oder mit anderen Rückständen aus den Nahrungsmitteln herumschlagen, die sich eingeschlichen haben. Im Blick auf die Unkeuschheit gilt: Aufgrund der Freigabe der Sexualität seit den sechziger Jahren kann es in der modernen westlichen Gesellschaft kaum eine weitere Befreiung im sexuellen Bereich geben, „die Sexualität ist zu Ende befreit“53. Im sexuellen Bereich ist der spektakuläre Tabubruch fast schon ausgereizt. Die Habsucht prangert besonders das Haben-Wollen des Einzelnen an. Das Glück über das Eigentum als eine Habsucht sind ebenso wie Freude am Essen und Trinken und die Befriedigung an der sexuellen Begierde natürliche Glücksmomente des Menschen. Aber wie die anderen Sünden missachtet desgleichen die Habsucht den anderen, den Mitmenschen, den Nächsten. Die Trägheit als Todsünde ist zu einer Verschwendung von Lebenszeit degeneriert. Aber gerade im Nichtstun zeigt sich gegenwärtig eine dezidierte Suche nach Glück. Alle Todsünden – auch Zorn und Neid – werden freilich in moderner Zeit zugleich als Lebensrecht aufgefasst. Mit einer Ausnahmen besitzen alle sieben Todsünden einen positiven Korrespondenzbegriff. Der Völlerei entspricht auf der positiven Seite das „bescheidene“ Essen und Trinken, der Unkeuschheit korrespondiert die eheliche Treue und der auf Fortpflanzung ausgerichtete Geschlechtsverkehr, der Habgier entspricht der Besitz des Notwendigen, der Trägheit das wohlverdiente Ausruhen und die Regeneration nach getaner Arbeit, „dem Zorn das deutliche Wort, dem Stolz die Würde des gläubigen Menschen“. Wohl allein der Neid bleibt ohne positives Gegenstück. Er ist und bleibt unvernünftig und sündig, „selbst der Neid in der Schlange vor der Kasse des Supermarkts“. Würde man aber ihn einzig als sündig erklären, wäre das eine VerSchleiermacher von der Religion in der christlichen Theologie nur noch geblieben „die Idee des Unendlichen, verschwunden ist ihre platte Übersetzung in anthropomorphe Phantasien“ (S. 44). Der normale Mensch ist nicht mehr das „satanische Gegenprinzip zum Göttlichen“ (ebenda). 53 Schulze, Gerhard, Hedonismus, S. 70.

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3. Kap.: Kultur und Religion

kürzung der Definitionen der Todsünden. Denn auch die anderen Hauptsünden bleiben sündig54. Vielleicht ließe sich im Begriff der Gunst, des Gönnens oder Wohlwollens ein entsprechender positive Gegenbegriff erkennen. Aber alle genannten Wörter besitzen keine so umfassende Bedeutung wie der Neid. Heute glaubt man, teilweise zwischen einer alten und einer neuen Moral unterscheiden zu müssen. In der alten Moral hatte der einzelne „im Interesse sozialer und metaphysischer Instanzen“ im Sinne einer Selbstzucht die sieben Todsünden vor allem „sich selbst gegenüber geltend“ zu machen. In der neuen Moral dagegen richtet der Mensch im Zuge einer Selbstentfaltung Ansprüche an sich selbst. Die daraus entspringenden Kernbegriffe sind Glück und Würde55. Dabei ist das Glück immer schon ein Teil der Moralphilosophie gewesen, während die Würde zum neuen Begriff in der Moral der Selbstentfaltung wurde und an die Stelle der Selbstunterdrückung durch die sieben Todsünden trat56. Dabei sollte es gerade bei dem letzten Begriff nicht mehr um Gottgefälligkeit oder um die Achtung anderer, sondern einzig und allein um die Selbstachtung gehen. Was bleibt, ist für viele Menschen einzig und allein das Diesseits. Dieses ist das Oberflächliche, Relative, das Leben ohne Todsünden. Das ließe sich auch umschreiben mit dem Wort eines irdischen Glücks. Das heißt, man macht keinen Unterschied zwischen Haupt- und lässlichen Sünden. In der protestantischen Theologie findet dieser ohnehin nicht statt. Denn alle Sünden bedeuten immer einen Verstoß gegen die Zehn Gebote. Sie zerstören immer das Verhältnis, das der Mensch zu seinem Gott haben sollte. Außerdem sind alle Sünden keineswegs nur im individuellen Bereich anzusiedeln; sie betreffen immer den Nächsten und verstoßen vor allem gegen Gottes Liebe und Gnade. Man weiß bei der Sündhaftigkeit einer Handlung immer gleichzeitig auch um ihren Gegensatz zum Gesetz Gottes. Die katholische Theologie setzt freilich, wie bereits dargelegt, bei einer Todsünde eine besondere Kennung voraus: Bei ihr muss volle Erkenntnis bzw. volles Bewusstsein und schließlich volle Zustimmung herrschen.57.

3. Gesundheit als Wunschvorstellung Als neuer Götzenkult spielt die Gesundheit eine besondere Rolle, obwohl es nicht einfach ist, den Begriff ,Gesundheit‘ zu definieren. Darauf wird mit Nachdruck hingewiesen, wenn etwa der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der hausärztliche Grundsatz gegenübergestellt wird58. Die WHO hatte 54 55 56 57

Schulze, Gerhard, Hedonismus, S. 109. Schulze, Gerhard, Hedonismus, S. 128. Ebenda. Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, n. 1857 ff.

3. Gesundheit als Wunschvorstellung

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erklärt: „Gesundheit ist ein völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“. Geht man bei dieser Definition unter anderem davon aus, dass sich einerseits jemand nur bei einem bestimmten materiellen Vermögen sozial gesund fühlt, andererseits aber Millionäre durchaus psychische Probleme haben können, wird wohl letztlich kein Mensch so recht gesund sein. Da ist der hausärztliche Rat schon besser: Gesund ist nur derjenige zu nennen, der mit seinen Krankheiten einigermaßen glücklich leben kann59. Die Gesundheit ist ein individuelles Gut. Heute gilt die Gesundheit als ein von Menschen herzustellendes Produkt. Man muss nämlich etwas für seine Gesundheit tun. Dann wird es schon mit ihr werden. Man setzt Zeit, Kraft und Geld ein, um gesund zu bleiben oder auch wieder zu werden. Eine auftretende Krankheit wird nur als Störfaktor gesehen, der überwunden und mittels des medizinischen Fortschritts bekämpft werden muss. Aber alles Rackern, Laufen und jede Vorsicht beim Essen hilft nichts, sterben muss man letzten Endes doch! Auf den besonderen Stellenwert und damit auf die Bedeutung der Gesundheit im Leben der Menschen weisen etwa die Verkündung einer das Leben verlängernden Medizin, das vielfältige Angebot von Cremes, Tinkturen und von Antiagingprodukten oder die Errichtung von Fitnesscentern und Wellnesstempeln. Der abendländische Mensch hat seine transzendente Geborgenheit verloren. Er ist auf das Diesseits fixiert. Die Gesundheit als eine irdische Größe erhält wegen ihres irdischen Charakters einen besonders hohen Stellenwert. Man sucht das Heil in einem möglichst langen gesunden diesseitigen Leben und nicht mehr in einer Hinwendung zu einer Transzendenz, während die Menschen früherer Jahrhunderte zusätzlich zu ihrer diesseitigen Existenz ihr Leben in der Ewigkeit vor sich hatten! Der Gesundheitswahn entspricht dem heutigen Jugendwahn. Darum ist auch das Streben nach der Fortsetzung bzw. Erhaltung der Jugend so weit verbreitet – im beruflichen wie im privaten Leben! Die Menschen tun viel für die Erhaltung jugendlicher Körperlichkeit und gesunder Entwicklung. Diese Aussagen müssen allerdings richtig interpretiert werden. Denn gegen eine Erhaltung der Gesundheit und für das Streben nach einem langen gesunden Leben ist schlechterdings nichts einzuwenden. Die Nutzung der ärztlichen Kunst zur Verlängerung des Lebens kann nur als eine sinnvolle Handlung bezeichnet werden. Nur dort, wo aus einem gesunden Streben nach Erhaltung des Lebens eine Ideologie wird, wird diese zur Sucht pervertiert. Ein solcher Gesundheitswahn versucht mit allen Mitteln, Krankheit und Tod zu verdrängen 58 Lütz, Manfred, Gesundheit – das höchste Gut, in: Kirche und Gesellschaft, Hrsg.: Katholisches Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach 2006, H. 333, S. 4. 59 Ebenda.

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3. Kap.: Kultur und Religion

und gaukelt eine endlose Lebenserwartung vor. Der Gesundheitsgläubige interessiert sich allein für seine Werte und seine prognostische Entwicklung. Dagegen ist seine soziale Einstellung auf diesem Gebiet sehr unterentwickelt. Veränderungen auf diesem Gebiet haben sich insgesamt in der Gestalt der Gesundheitsökonomie und der Krankenkassen als Gestalter des Gesundheitsmarktes abgezeichnet. Die Gesundheitsökonomie ist erst jungen Datums. Schließlich spricht man erst ab dem Jahr 1985 in Deutschland von einem modernen „Ritterschlag“ für diese Disziplin60. Deutsche Ökonomen haben sich etwa im Unterschied zu den amerikanischen Forschern erst seit kurzer Zeit mit dem Gesundheitswesen beschäftigt. Aber die Gesundheitsökonomie muss sich vor allem mit den Umgestaltungen durch den demographischen Wandel und mit den Veränderungen in den Leistungsfähigkeiten der Bevölkerung beschäftigen61. Denn schließlich ist das Bedürfnis der Menschen, in die Gesundheit zu investieren, enorm gestiegen. In Deutschland können nämlich seit dem Jahr 2004 aufgrund des Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) die gesetzlichen Krankenversicherungen neue unterschiedliche Leistungen anbieten, zum Beispiel nach dem Kostenerstattungsprinzip mit Selbstbehalt oder mit der Möglichkeit einer Beitragsrückerstattung. Aufgrund von zusätzlichen ökonomischen Anreizen, wie z. B. Bonusmodelle werden die Krankenkassen zu Gestaltern des Gesundheitsmarktes. Diese Neugestaltung lässt sich in einem besonderen Maße an den Veränderungen der Gesetzlichen Krankenkassen gegenüber den Privaten ablesen. Die Gesetzeslage bis zum 1. Jan. 2004 war eindeutig. Die Krankenkassen handelten wettbewerbswidrig, wenn sie ihrer Klientel „in Kooperation mit privaten Krankenversicherungsunternehmen Zusatzversicherungen anboten“62. Seit dem Zeitpunkt des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes dürfen jedoch die gesetzlichen Krankenkassen ihrer Mitgliedern Zusatzversicherungsangebote vermitteln. Das bedeutet jeweils eine Neuregelung der Kooperation zwischen den privaten und gesetzlichen Krankenkassen. Von der breiten Öffentlichkeit ist dieser fundamentale Wandel bisher kaum wahrgenommen. In früheren Zeiten existierte eine hinreichende Einstellung zum Verhältnis von Gesundheit und Krankheit. Sie gehörten zusammen wie Geburt und Tod. Sie waren als Geschenk Gottes oder als Widerfahrnis des Schicksals oder als göttliche Heimsuchung miteinander verbunden. Der Mensch konnte es dann als gottgewollt so hinnehmen, oder er konnte seine Not bzw. sein Schicksal verfluchen. 60 Vgl. dazu Rebscher, Herbert, Günter Neubauer und die Entwicklung der Gesundheitsökonomie in Deutschland, in: Herbert Rebscher (Hrsg.), Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik, Heidelberg 2006, S. VII. Vgl. im selben Werk: Reiners, Hartmut, Der homo oeconomicus im Gesundheitswesen, S. 104 ff. 61 s. unten 4. Kapitel, 5. 62 Gent, Andreas, Die neue Rolle der Kassen im Wettbewerb „Kooperationsmodell PKV/GKV – eine Fallskizze anhand der Kooperation der DAK mit der Hanse Merkur“, in: Herbert Rebscher (Hrsg.), (2006), S. 842.

3. Gesundheit als Wunschvorstellung

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Der Psalmist betet: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps. 90, 12). Diese Worte sind meistens ohne Probleme nachzuvollziehen, wenn es um den objektiven Tatbestand geht. Erst wenn das Sterben auf die eigene Person bezogen wird, setzt die Betroffenheit ein. Die Frage nach dem Sterben wird allerdings dann existentiell relevant. Aber die ars moriendi (die Kunst zu sterben) und damit auch die lebenslange Vorbereitung auf den Tod wird kaum noch im Abendland geübt. Man möchte zwar einen guten Tod sterben, aber wer kann sich schon auf den Tod vorbereiten? Wo und wie findet eine solche ars moriendi noch statt? Der moderne Gesundheitskult fragt bei Krankheit und Tod immer wieder nach dem: Warum geschieht das mir und warum jetzt? Allgemein meint man, die neue Medizin mit ihren Apparaten und ihrer Technik müsste eine Lösung finden, die für den Frager eine positive und hilfreiche Antwort bereithält. Die Forderung nach einem Leben in Gesundheit fordert zwar ihren finanziellen Tribut. Aber auch Eigenleistungen in Gestalt von persönlichen Belastungen bzw. Askesen werden dem Menschen als notwendig abverlangt. Aber selbst wenn er kräftige Eigenleistungen erbringt, kann er kein gesundes und langes Leben erwarten. Denn schließlich weiß er sehr genau, dass er Gesundheit nicht erzwingen kann, wenn auch die Einstellung, dass es einem zielgerichteten Willen gelingen müsste, Gesundheit zu erlangen, weit verbreitet ist! Die Sorge um die eigene oder fremde Gesundheit ist durchaus berechtigt. Darum wird nicht das Streben nach einem gesunden Leben zum Problem, sondern dazu kommt es, wenn den Menschen die Sucht nach Lebensverlängerung um jeden Preis voll in Anspruch nimmt. Die Fixierung auf die Gesundheit als eine wahnhafte Heilsvorstellung ist eine Art Götzendienst. Im Abendland ereignet sich der Tod nach der Vorstellung vieler Menschen nicht deshalb, weil das Leben ein Ende hat, sondern weil bestimmte Ursachen, die dem Leben ein Ende setzen, eintreten. Das zeigt sich besonders an der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Man glaubt den Tabellen, Berichten und Kurven mit ihren objektiven Labor- bzw. Untersuchungsergebnissen. Medizinisch wird vielfach nicht mehr nach dem subjektiven Befinden gefragt, ob der Mensch sich gesund oder krank, lebenstüchtig oder schwach fühlt, sondern es wird auf eine objektive Berichterstattung, nach der er gesund oder krank zu sein hat, geguckt. Diese verobjektivierte Erfolgsgeschichte der modernen Medizin setzt sich in verschiedensten Krankheiten fort, selbst bei Vergrößerungen oder Verkleinerungen von Brüsten, bei Organverpflanzungen oder bei Gelenkendoprothesen. Dabei ist es verständlich, dass die Menschen den Fortschritt der modernen Medizin nutzen und von ihren technischen Möglichkeiten profitieren wollen. Die Folgen einer zu hohen Erwartung an die Medizin und den technischen Fortschritt zeigen sich dann darin, dass Krankheiten als Schuld und Misserfolg oder als eigenes Versagen wahrgenommen werden.

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3. Kap.: Kultur und Religion

Eine nicht erreichte aber immerhin angestrebte Selbstverwirklichung weist weiter auf eine Schicksalsabhängigkeit hin. Ihr fehlt jeder Bezug auf eine etwaige Fügung Gottes. Denn nach der allgemeinen Vorstellung ist jeder seines eigenen Glückes Schmied und trägt für sein Leben und für seine Gesundheit Verantwortung. Der private und berufliche Misserfolg, das Erleiden von Krankheit wird als persönliches Versagen und als Schuld gesehen. Es werden sogar Selbstverwirklichungsdefizite als Begründung für Krankheiten angegeben. Die Erkenntnis aus dem christlichen Sünderbegriffs, dass die Krankheit generell einen Bezug zur Sünde hat und die Menschen aus der in Christus Jesus gewährten Vergebung leben, spielt keine Rolle mehr. Zwar darf der Christ die moderne ärztliche Kunst nutzen, sich des technischen Fortschritts bedienen und sich seiner dankbar erfreuen. So kann der Mensch der Krankheit begegnen und sein Leiden verringern oder vermeiden63. Aber der Christ muss zugleich dem Wahn entgegentreten, als könnte er ewig gesund bleiben. Es gibt keine Zusicherung eines gesunden und langen Lebens! Zum christlichen Glauben gehört es, auch das Leiden im menschlichen Leben zu akzeptieren. Nur wer leiden kann, wird gesunden und seine Selbstüberschätzung überwinden können. In den Genen ist festgelegt, welche Charaktereigenschaften der Mensch besitzt und an welcher Krankheit er eventuell im Leben leiden wird. Die moderne Hirnforschung scheint das zu bestätigen. Das Erbgut wird für das Gelingen des Lebens als maßgeblich angesehen. Der einzelne Mensch selbst will sich frei von Verantwortung dafür sehen. Hatte also früher der Mensch Gott oder das Schicksal dafür verantwortlich gemacht, dass sein Leben so und nicht anders verlaufen ist, wird er heute eher seinem Gehirn, der Gesellschaft, der Umwelt oder den Eltern die Schuld für seine Krankheit oder sein Versagen anlasten. Dem einzelnen Menschen kommt nicht wirklich das Recht zu, vor irgendeiner Instanz ein unbeschwertes und gelungenes Leben hier auf Erden einzuklagen! Die Menschen dürfen zwar hier auf der Erde vor einem weltlichen Gericht klagen. Und das wird weidlich ausgenutzt. Denn es ist tatsächlich gerichtlich eine finanzielle Entschädigung eingeklagt worden, die die Eltern nach einer missglückten Abtreibung eines behinderten Kindes vom behandelnden Arzt verlangen. Krankheit und Tod sind zwar nicht einfach hinzunehmen. Darum darf auch der Christ sich der ärztlichen Kunst erfreuen und dankbar sein Leben aus der Hand Gottes annehmen. Er wird in diesem Wissen leben und sterben können.

63

Vgl. Kamphaus, Franz, Zeige deine Wunde, in: FAZ vom 18.11.2005, S. 8, Sp. 1.

4. Kapitel

Die Zukunft der Gesellschaft Wie viel wissen wir eigentlich von der wirklichen demographischen Entwicklung der Gesellschaft? Warum ist die demographische Entwicklung so gekommen, wie sie sich tatsächlich eingestellt hat? Wie viel weiß die Gesellschaft wirklich von den Menschen und ihren Motiven, die sie bewegen, keine oder nur sehr wenige Kinder in die Welt zu setzen. Johann Peter Süßmilch (1707–1767), der Feldprediger Friedrich des Großen während des ersten Schlesischen Krieges, der spätere Probst, Oberkirchenrat und Pastor in Berlin, hat als Bahnbrecher der Bevölkerungs-Statistik die Entwicklung der Bevölkerung untersucht. Zusammen mit den Merkantilisten hat er die These vertreten, eine zunehmende Bevölkerung und eine daraus erwachsende Bevölkerungsdichte seien gottgewollt. Sie seien zugleich sichere Zeichen des Glücks und der Wohlfahrt eines Volkes. Thomas Robert Malthus (1766–1834), anglikanischer Pfarrer und seit 1805 Professor für Geschichte und politische Ökonomie, bediente sich des Quellenmaterials von Süßmilch. Aber er interpretierte die Zahlen in völlig entgegengesetzter Weise. Malthus war der Meinung, eine wachsende Bevölkerung bedinge eine hohe Leistungsfähigkeit eines Landes. Nach seiner pessimistischen Betrachtung vermehrt sich die Bevölkerung in einer geometrischen Progression, während die Nahrungsmittelproduktion nur in einer arithmetischen Steigerung wächst. Die Bevölkerung nimmt danach stets über den Nahrungsmittelspielraum hinaus zu. Die Vernunft kann die Zunahme der Nahrungsmittel nicht beeinflussen. Deren Vergrößerung kann nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Die landwirtschaftliche Ausdehnung durch Rodung ist zeitlich und räumlich begrenzt und kann den Bevölkerungsdruck nur kurzzeitig verringern. Zwar hat die Bevölkerung die Tendenz, sich rascher zu vermehren, als die Nahrungsmittelproduktion gesteigert werden kann. Aber die Bevölkerungsvermehrung wird durch eine Gruppe von Hemmnissen wie Not, Krieg, Krankheiten, Seuchen und anderes Elend nachhaltig gebremst. Darum sollten auch die Sozialleistungen – z. B. die Armenunterstützung – komplett eingestellt werden, sie fördere nur eine Preistreiberei bei der Nahrungsmittelproduktion. Der Lebensraum der unteren Klassen sollte durch Maßnahmen der Bildung und Heiratskontrolle, sittliche Enthaltsamkeit, Ehelosigkeit etc. eingeschränkt werden. Denn Malthus sah in der Marktwirtschaft keine Lösung der Probleme. Er wollte vielmehr die Armut

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

bereits im Ansatz verhindern und die Menschen aus der Abhängigkeit von der Armenfürsorge befreien. Wonach soll man sich heute richten? Für Malthus war eine schrumpfende Bevölkerung die Basis für den Wohlstand. Soll die heutige Gesellschaft dem nacheifern, obwohl global gesehen die These von Malthus historisch widerlegt ist? Oder soll man nicht vielmehr dem Gedankengut von Joh. Peter Süßmilch folgen und sich über einen Kinderreichtum freuen? Denn mehr Kinder in einem unterbevölkerten Raum schaffen – wie in den Jahrhunderten vorher – Wohlstand und Reichtum. Im Zeitalter einer erhöhten Lebenserwartung der Menschen kommt dem Sterben und dem Tod eine völlig andere Dimension und Bedeutung zu, als sie in den vergangenen Jahrhunderten besaßen. Sterben und Tod spielen während des Erwerbslebens kaum eine Rolle. Denn meistens wird der Endlichkeit des Menschen im Alltag kein Gewicht beigemessen. Viele Menschen befassen sich in der Zeit ihres gesunden Lebens gar nicht mit ihrem Ende. Tod und Sterben haben heute für die meisten Menschen keinen Sinn. Man verdrängt den Tod. Da auch die Hoffnung auf Auferstehung geschwunden ist und kein ewiges Leben erwartet wird, ist es nicht verwunderlich, dass der Mensch von heute nicht mehr auf eine solche Art von „Fortsetzung“ des Lebens zielt, sondern eher von einer ,Zukunft‘ spricht, die er als eine lineare Folge (Extrapolation) von Vergangenheit und Gegenwart sieht1. Aber allgemein ist die Angst vor dieser Form der zeitlichen Verlängerung groß. Eine Hoffnung auf einen Übergang in ein anderes Leben kann, zumal da dieser nicht mehr erwartet wird, auch nicht hilfreich sein. Die demographische Struktur Europas wird durch drei besondere Faktoren geprägt: 1. durch eine steigende Anzahl von alten Menschen an der gesamten Bevölkerung, 2. durch einen Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung, 3. durch eine wachsende Migration2. Beim dritten Problemkreis muss allerdings berücksichtigt werden, dass zwar die Zuwanderer einen gewissen Beitrag leisten können, der Überalterung der Gesellschaft entgegenzusteuern. Aber es muss bedacht werden, dass auch sie altern. Das Problem einer alternden Gesellschaft würde dann nur aufgeschoben. Die Migranten müssten darum eine deutlich höhere Geburtenrate aufweisen, die 1

s. unten 8. Kapitel, 6. Vgl. Héran, François, Bevölkerungswachstum und Einwanderung, in: HerbertQuandt-Stiftung, Gesellschaft ohne Zukunft? In: 22. Sinclair-Haus-Gespräche, Bad Homburg v. d. Höhe 2004, S. 64. 2

4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

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diese Alterung ausgleichen könnte. Auch kann dieser Alterungsprozess besonders durch die Zuwanderung von jungen Migranten, die den Alterungsprozess der vorausgegangenen Zuwanderer kompensieren, aufgefangen werden. Sonst würde dieses Problem einer alternden Gesellschaft nämlich nur „vertagt“. Nach dem Erwerbsleben kommt heute auf die Menschen eine Lebenserwartung von zwanzig bis dreißig Jahre zu. Dadurch wird sich auch die Zahl der Mehr-Generationsfamilien erhöhen. Drei-Elterngenerationsfamilien werden folglich nicht mehr die Ausnahmen sein. Dagegen wird die Entwicklung von den Mehrgenerationshaushalten zu Ein- und Zwei-Familienhaushalten führen. Gleichfalls nehmen die Single-Haushalte zu. Mit der Verbreitung der Mehrgenerationshaushalte könnte zusätzlich bei den alten Menschen die von vielen befürchtete Einsamkeit schwinden. Denn es könnte sich zeigen, dass die Alten gebraucht werden. Sie hüten die Kinder oder Enkel oder führen den Haushalt. In Deutschland verzichtet ein Drittel der gebärfähigen Frauen auf Kinder. In den USA und in Frankreich liegt dieser Anteil bei 20 bzw. 15 Prozent, obwohl zum Beispiel Deutschland und Frankreich noch 1975 im demographischen Spektrum gleich aussahen. Im Blick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gibt es in beiden Ländern keine einfache Gleichung. Das Verhältnis von Geburtenrate und Erwerbsarbeit der Frauen ist nicht einfach auf einen simplen Nenner zu bringen, so dass man etwa formulieren könnte: Wo eine hohe Erwerbsrate von Frauen existiert, tritt gleichzeitig eine niedrige Geburtsrate auf oder umgekehrt: einer niedrigen Erwerbsrate entspricht eine hohe Geburtsrate. Stattdessen gilt wohl eine andere Gleichung, nach der sowohl Frauen als auch Männer auf Kinder verzichten, weil sie erst einmal im Beruf Erfolg haben wollen. Gerade diese Tendenz hat sich bei manchen Frauen gezeigt. Ihr Streben richtet sich auf eine berufliche Verwirklichung. Und deshalb verzichten sie bewusst auf Kinder. Andererseits gibt es in der modernen Gesellschaft genügend Männer, die ihre Vaterschaft erleben und die Hausarbeit übernehmen wollen. Bei der Fertilitätsrate in Frankreich – Anzahl der Geburten bezogen auf die Anzahl von Frauen im gebärfähigen Alter – fällt auf, dass Frankreich gegenüber Deutschland einen weitaus besseren Platz einnimmt. Denn Frankreich ist es im Vergleich zu Deutschland gelungen, seine Alterspyramide jung zu halten. Seit dreißig Jahren bekommen die Französinnen durchschnittlich statistisch ein halbes Kind mehr als die deutschen Frauen. Die Zahlen für Deutschland stimmen eher mit denjenigen der anderen Länder Europas überein. Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen insgesamt demographisch gegenüber Europa weitaus besser da. Dazu gehört, dass sich die Geburtenrate in dem nächsten halben Jahrhundert kaum ändern wird. Das Durchschnittsalter liegt bei 35,5 Jahren in einer wachsenden Bevölkerung, während es in Europa bei 53 Jahren und gleichzeitiger schrumpfender Bevölkerung liegen wird. Die USA hatten 1950 erst 152 Millionen Einwohner. Das ist etwa die Hälfte der

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

europäischen Einwohnerzahl. Bis heute hat sich die Zahl verdoppelt und dürfte weiter – nach UN-Schätzungen – bis 2050 auf etwa 400 Millionen steigen. In der Bevölkerung – auch Deutschlands – müssen die Interessengegensätze zwischen der jungen und alten Generation bei einer steigenden Versorgungslast – diese steigt nun einmal in alternden Gesellschaft – eventuell durch entsprechende Sozialreformen so geordnet werden, dass der soziale Rechtsstaat erhalten bleibt und der soziale Frieden gesichert ist. Seit 1972 ist in Deutschland eine Schrumpfung der deutschen Bevölkerung eingetreten, der bisher durch einen sehr hohen Einwanderungsüberschuss überkompensiert wurde. „Eine Fortsetzung der Praxis der kompensatorischen Zuwanderungspolitik würde in den nächsten fünf Jahrzehnten stark wachsende Einwanderungen erforderlich machen, weil sich das gegenwärtige Geburtendefizit bis 2050 mehr als verfünffacht“3. Die Demographen der UNO stellen sich in einem gesonderten Szenario die Frage, wie sich die Bevölkerung durch eine Zuwanderung verjüngen ließe. In diesem Zusammenhang setzen sie das Ziel, bis zum Jahr 2050 immerhin 161 Millionen Zuwanderer nach Europa holen zu wollen. Auf Deutschland würden dann 24,3 Millionen Zuwanderer kommen. Das entspricht einer jährlichen Rate von ca. 500.000 im Jahr. Auf Frankreich würden die Zahlen 5,5 Millionen fallen mit ca. 110.000 Zuzügen pro Jahr4. Die eigentliche Alterungsphase findet in Deutschland in den Jahren zwischen 2010 und 2050 statt. Das lässt sich schön an den folgenden Graphiken ablesen: Von einem Tannenbaum mit breiten Zweigen (1960), der oben in einer eleganten Spitze ausläuft, wird die Bevölkerung sich zu einem Pilz auswachsen, der langsam in den folgenden Jahrzehnten (gerontisch) zu einem nach oben hin immer dicker werdenden Fuß (2050) ausläuft. Im Bild lässt sich die Entwicklung folgendermaßen darstellen5:

3 Birg, Herwig, Dynamik der demographischen Alterung und Bevölkerungsschrumpfung, in: Herbert-Quandt-Stiftung, Gesellschaft ohne Zukunft? 22. SinclairHaus-Gespräch, Bad Homburg v. d. Höhe 2004, S. 26. 4 Vgl. Héran, François (2004), S. 77. 5 Vgl. Ohliger, Rainer, Das alte Europa und seine (fehlenden) Kinder: Zuwanderung als Lösung? In: Herbert-Quandt-Stiftung, Gesellschaft ohne Zukunft? Bad Homburg v. d. Höhe 2004, S. 107 ff.

4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

Quelle: Statistisches Bundesamt

Altersstruktur in Deutschland 1960

Quelle: Statistisches Bundesamt

Altersstruktur in Deutschland 2015

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Quelle: Statistisches Bundesamt

Altersstruktur in Deutschland 1999

Quelle: Statistisches Bundesamt

Altersstruktur in Deutschland 2033

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

Quelle: Statistisches Bundesamt

Altersstruktur in Deutschland 2050

In einem Aufsatz „Grundkurs Demographie“ vom Februar/März des Jahres 2005 hat sich der ehemalige Leiter des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld, Herwig Birg, in der FAZ zu Wort gemeldet und die parallele Beziehung zwischen Bevölkerungswachstum und Industrialisierung in über hundert Jahren in Deutschland beschrieben: „Beim Frauenjahrgang 1860 kamen im Durchschnitt fünf Kinder auf eine Frau, beim Jahrgang 1874 vier und bei den 1881 Geborenen drei. Bereits der Jahrgang 1904 hatte nur zwei. Abweichend von diesem Trend stieg die durchschnittliche Kinderzahl der um 1932 Geborenen auf knapp über zwei an, aber es blieb bei dieser Ausnahme. Danach setzte sich die Talfahrt bis zum Jahrgang 1965 auf 1,5 fort. Die hohen Kinderzahlen der um 1932 geborenen Eltern bildeten den ,Nachkriegs-Babyboom‘ mit dem Geburtenmaximum von 1964 bei 1,36 Millionen Kindern“6. Nach Birg sind die Verhaltensweisen und Wertvorstellungen der um 1932 Geborenen in der Zeit vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt worden. Darum muss der Nachkriegs-Babyboom als ein Phänomen der Vorkriegsepoche interpretiert werden. 6 Birg, Herwig, Grundkurs Demographie, 100 Jahre Geburtenrückgang in der FAZ vom 26. Febr. 2005, S. 41.

4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

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Die ökonomische Alterslast, die zu Beginn des Jahrhunderts bei 56 Rentnern pro 100 Erwerbstätigen lag, wird sich auf die Zahl von 80 bis 95 Rentnern pro 100 Erwerbstätigen erhöhen. Prognostisch wird zu beklagen sein, dass sich diese Relation nicht verändern wird. Zu dem Verhältnis des ausgehenden Jahrtausends gibt es in absehbarer Zeit kein Zurück. Dabei es ist weiter zu bedenken, dass Menschen, die nicht geboren sind, nach zwanzig Jahren auch als Konsumenten ausfallen. Sie können ebenfalls keine Nachkommen mehr bekommen! In der Diskussion von heute wird eine Tatsache merkwürdig betont. Kinder werden zwar als Wirtschaftsfaktor erkannt, aber ihre Existenz wird dagegen als negativ gesehen. Die Tatsache, dass Kinder Glück, Lebensinhalt und Lebensfreude geben können, findet kaum noch Erwähnung. Schließlich war über viele Jahrhunderte der Gedanke lebendig, dass der Einzelne wie auch die ganze Gesellschaft in den Kindern fortleben. Vielleicht sollte die Gesellschaft von heute weniger von den Lasten und Sorgen, die Kinder mit sich bringen, reden, als vielmehr von dem Glück und der Freude, die sie bereiten. Gegenwärtig ist noch eine andere Frage zu stellen. Denn sind die erfragten und geäußerten Gründe für den mangelnden Kinderreichtum in Deutschland die eigentlichen Gründe? Oder spielen nicht ganz andere Verhaltensweisen eine Rolle. Warum bewegt die Menschen nicht, dass es viele Hunderttausende Abtreibungen in der Gesellschaft gibt? Warum zeugen sie erst – mehr oder weniger bedenkenlos – und treiben anschließend ab? Unachtsamkeit, Gleichgültigkeit, Fahrlässigkeit? Welche Gründe spielen hier wirklich eine Rolle? Es ist mittlerweile allbekannt: Jeder Mensch will zwar alt werden, aber keiner will alt sein. In Deutschland sind heute etwa dreißig Millionen Menschen von 82 Millionen älter als fünfzig Jahre. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes werden im Jahre 2020 annähernd die Hälfte der Bundesbürger (45 Prozent) so alt sein. Die wirtschaftliche Entwicklung ist abhängig von der demographischen Gestaltung in einem Volk. Es ist die Binnennachfrage nach Gütern, die die Entwicklung wesentlich bestimmt. Durch sie wird die Investition der Unternehmen beeinflusst und damit das Wirtschaftswachstum fixiert. Ein außenwirtschaftlicher Überschuss allein genügt nicht. Vielmehr ist es vor allem die Konsumgüterindustrie, die von der Nachfrage der Inländer profitiert. Bedenkt man, dass etwa in Deutschland nach den demographischen Analysen die Bevölkerung bis zum Jahr 2030 um jährlich fast zwei Prozent schrumpfen wird, so dass sich die Einwohnerzahl auf rund 72 Millionen reduzieren wird, lässt sich ermessen, wie stark gleichfalls die Binnennachfrage zurückgehen wird.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

1. Das christliche Menschenbild Die Soziale Marktwirtschaft gründet ebenso wie wesentliche Teile der modernen Rechtsordnung auf dem christlichen Menschenbild. Das wiederum beruht auf der biblischen Tradition und deren Rezeption in der Geschichte. Aus diesem Menschenbild erschließen sich umgekehrt die wichtigen Entscheidungen zur wirtschaftspolitischen und sozialen Gestaltung der Gesellschaft. Im christlichen Menschenbild steht nicht das Edle und Wohlgeratene im Vordergrund, sondern allgemein der Mensch. 1.1 Die Ebenbildlichkeit des Menschen In den christlich-theologischen Entwürfen ist vor allem aufgrund zweier Textstellen vom Menschen schlechthin und von seiner Ebenbildlichkeit die Rede. Die eine lautet: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild (säläm, Bild) das uns gleich sei“ (demuth, Ähnlichkeit, 1. Mos. 1,26). Anschließend wird verkündet: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde (säläm), zum Bilde (säläm) Gottes schuf er ihn“ (1. Mos. 1,27). An beiden Stellen wird systematisch auf die Frage der Gottesebenbildlichkeit des Menschen eingegangen und dabei zwischen den beiden Begriffen säläm und demuth unterschieden. Der Begriff säläm wurde in der Tradition als eikôn, imago und damit als Bild verstanden, während das Wort demuth als homóoiosis, similitudo gedeutet wurde. Nach dem Alten Testament hatte umgekehrt nicht nur der Mensch die Ebenbildlichkeit Gottes, sondern Gott selbst eine Menschengestalt, wie es etwa bei dem Propheten Hesekiel heißt: „Und auf dem Thron [der Feste] saß einer, der aussah wie ein Mensch“ (Hes. 1,26). Die kirchliche Lehre vom Menschen als ein Geschöpf Gottes hat den Begriff der imago der Ebenbildlichkeit in das Zentrum ihrer Aussagen gestellt und dem ganzen Mensch eine Gabe und Aufgabe zuerkannt. Die Gabe des Indikativs lautet: „Denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild (eikôna) dessen, der ihn geschaffen hat“ (Kol. 3,9 f.). Um diese Stelle herum gruppieren sich allerdings viele Imperative, die Christen zu befolgen haben. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen äußert sich in einer doppelten Hinsicht: Der Mensch besitzt die Ebenbildlichkeit im Blick auf seinen Schöpfer und im Blick auf seine Mitgeschöpfe7. Zunächst geht es also um die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die dieser aus Sicht Gottes besitzt. Gott ist das Urbild. In dieser Gabe der imago dei steckt für den Menschen die Aufgabe, die 7 Vgl. Thielicke, Helmut, Theologische Ethik Bd. 1, Tübingen 1965, § 775 ff., S. 271 ff. Hier ist allerdings die Reihenfolge eine umgekehrte.

1. Das christliche Menschenbild

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Gemeinschaft mit Gott zu vollziehen. Er hat dieses Bild vom Menschen und will in Christus bei diesem Bild bleiben. Er wird ganz gegenüber dem Menschen das Ebenbild bewahren, wie es im Gleichnis vom verlorenen Sohn der Vater hat, der ganz der Vater bleiben will8. Andererseits erfährt der Mensch seine Ebenbildlichkeit und damit sein imago-Sein als Beziehungsgröße gegenüber seinen Mitgeschöpfen. Der Mensch darf Herrscher gegenüber dem ganzen Kreaturenbereich sein. Gott selbst entwirft das Ziel (Gen. 1,26) und erteilt den Befehl, diesen Entwurf zu realisieren (Gen. 1,28). Aber gleichzeitig ist der nach Gottesebenbild geschaffene Mensch auch der sündige Mensch. Im Psalter heißt es deshalb: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt“ (Ps. 8,6). Dieser aber ist und bleibt der sündige Mensch und eben auch Gottes Ebenbild also imago dei9. Damit wird jeder Mensch, gleich welcher Religion, Rasse oder Abstammung, zum Ebenbild Gottes geschaffen. Dem stehen allerdings im Neuen Testament deutliche christologische Aussagen entgegen, die allein von Christus als der imago Gottes sprechen. Dieser Jesus Christus ist nach dem Kolosserbrief (1,15) das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (eikôn toû theoû)10. Des Menschen Ebenbildlichkeit erfährt ihre Erfüllung in der Gleichgestaltung mit dem Bilde des göttlichen Sohnes (sy´morphoi tês eikónos toû hyioû autoû)11. Er ist also keineswegs nur das Vorbild (exemplum), dem der Mensch nacheifern oder nachfolgen soll. Er ist auch nicht nur der Träger des Urbildes (exemplar) der göttlichen Majestät, sondern vielmehr, wie Luther es sieht, das Urbild der Schöpfung. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist im Neuen Testament nicht allein zentriert auf das Schöpfungshandeln, sondern zugleich auch auf Gottes erlösendes Tun. Denn der Christus ist der wirklich neue Mensch. Aber er ist die Ebenbildlichkeit nicht für sich allein. Er ist es vielmehr für die Menschen. In ihm erhalten die Menschen einen neuen Status, allerdings nicht in einem ästhetischen Sinn. Es kann von einem neuen Menschen gesprochen werden. Das ist der Mensch, der die Taufe empfangen hat und dem die Sündenschuld getilgt wurde. Dieser Mensch ist auf Christus getauft und hat Christus ,angezogen‘. Wegen dieses Zwiespaltes zwischen der imago dei (Gottesebenbild), die sich auf alle Menschen bezieht, und einer imago dei, die sich allein auf den neuen Menschen bezieht, geriet die theologische Tradition in Schwierigkeiten. Denn 8

Vgl. Lukas 15,11 ff. Im Neuen Testament kann auf Jakobus 3,9 verwiesen werden: „. . . mit ihr (scil. der Zunge) verfluchen wir die Menschen, die Abbild Gottes (homoiosis) geschaffen sind“. Im 1. Korintherbrief 11,7 wird der Mann als Bild (eikôn) und Abglanz (dóxa) Gottes bezeichnet. 10 Vgl. auch 2. Kor. 4,4. 11 Röm. 8, 29. 9

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

es galt festzulegen, was durch den Sündenfall verloren gegangen ist. Nach Röm. 3,23 haben die Menschen als Sünder die Gottesebenbildlichkeit – an dieser Stelle wird allerdings von der Herrlichkeit (doxa) und nicht vom Bild gesprochen – verloren. Dagegen ist in Röm. 1,23 davon die Rede, dass die Gottlosigkeit die Gottesebenbildlichkeit verkehrt. Es ist sicher keine Frage, dass nach den Aussagen des Neuen Testaments durch die Sünde von der Ebenbildlichkeit „etwas“ verloren gegangen ist. Allerdings stellt sich die Frage: Ist der Sünder kein ebenbildlicher Mensch mehr? Mit Sicherheit hat der Mensch die ihm im Schöpfungsgeschehen gewährte Ebenbildlichkeit des Geschöpfseins behalten. Denn schon vom Grundsatz her gilt: Der Mensch ist nicht aus sich selbst geschaffen, sondern er wird gerade als Ebenbild Gottes darauf verwiesen, Gott zu suchen und ihn als Urheber des Lebens zu erkennen. Aber der Frage nach dem Verlust der Ebenbildlichkeit durch die Sünde ging man in der Theologie grundsätzlicher nach. Zunächst freilich behalf man sich besonders in der Scholastik mit der Unterscheidung zwischen imago und similitudo (Ähnlichkeit). Während man die imago auf verbleibende aber verstümmelte Gaben der menschlichen Natur (imago secundum naturalia) bezog, wurde die similitudo durch die Gnadengaben (similitudo secundum gratuita) interpretiert. Luther und die anderen Reformatoren haben sich zwar an die paulinischen Aussagen über Christus als das Ebenbild Gottes gehalten. Aber die Unterscheidung zwischen imago und similitudo wurde von ihnen abgelehnt. Zwar wird die Urstandsgerechtigkeit durch die Gottesebenbildlichkeit des Menschen in den Schriften des Alten Testamentes ausgedrückt. Aber durch Jesus Christus wird dieses ursprüngliche Gottesverhältnis wiederhergestellt. Dabei ist auf die Verhältnisbestimmung acht zu geben. Denn die imago Gottes ist eine unzerstörbare Substanz des Menschen, also auch nicht durch die Sünde des Menschen zerstörbar. Die Ebenbildlichkeit des Menschen ging also keinesfalls in toto verloren. Die Sünde vermag wohl das Verhältnis des Menschen zu seinem Gott zu verkehren, aber nicht das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung bzw. zum Menschen zu zerstören. „Dieses ist von Gott beschlossen und geschaffen und kann darum auch nur von Gott selbst aufgehoben und zurückgenommen werden“12. Dadurch ist die Würde des Menschen begründet: Sie „ist kraft der bleibenden Präsenz Gottes unverlierbar, unabtretbar und unzerstörbar“13. Sie gehört zum Wesen seiner Person und entspricht seiner personalen Würde. Es ist also das Bild Gottes, das den Menschen mit einer unveräußerlichen Würde umgibt. 12 13

Moltmann, Jürgen, Gott in der Schöpfung, München 1985, S. 238. Moltmann, Jürgen (1985), S. 238.

1. Das christliche Menschenbild

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Diese Würde hat der Schöpfer allen Menschen mitgegeben. Sie ist jedem Menschen vom Ursprung her gnadenhaft verliehen. Damit steht ihm auch sein ganzes Leben nicht zur alleinigen Verfügung. Das bedeutet die Unverfügbarkeit des Lebens. Trotzdem bleibt die Verantwortung für das Leben, die jeder zu tragen hat. Der Mensch ist so zwar der Herr der Verantwortung, aber niemals der Herr seines Schicksals. Darüber hinaus gehören zur Grundlegung der Würde des Menschen auch soziale Aspekte. Denn der Mensch ist nach christlichem Verständnis ein soziales Wesen, das im Miteinander mit anderen sein Leben einrichten muss. Nach christlichem Verständnis sind die Menschenrechte Ausdruck der Würde des Menschen. Insgesamt haben sich drei Arten von Menschenrechten entwickelt: – Individuelle Freiheitsrechte wie Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit. Sie regeln und gewährleisten den Schutz vor Eingriffen Dritter oder des Staates. – Politische Mitwirkungsrechte wie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheiten, aktives und passives Wahlrecht. – Wirtschaftliche und soziale Grundrechte wie Recht auf Bildung etc14. Für die beiden Kirchen haben sich zur Ausgestaltung einer modernen Gesellschaft und Wirtschaftsordnung die folgenden Elemente als äußerst wichtig und bedeutungsvoll herausgestellt: – persönliche Verantwortung, – leistungsfähiger Markt, – soziale Rahmenordnung, – gerechtes Steuersystem, – Währungsstabilität, – Beachtung der internationalen Herausforderung, – Ökologisches nachhaltiges Handeln, – Solidarverhalten15. Nach der Einsicht der Kirchen ist die christliche Soziallehre – ausgehend von der biblischen Botschaft – aufgrund menschlicher Erfahrungen in verschiedenen geschichtlichen Situationen und Kulturen formuliert worden. „Die christliche Soziallehre ist darum kein abstraktes System von Normen; sie entspringt vielmehr der immer wieder neuen Reflexion auf die menschliche Erfahrung in Geschichte und Gegenwart im Lichte des christlichen Menschenbildes“16. 14 15

Vgl. Gem. Texte H. 9 (1997), S. 53. Vgl. Gem. Texte H. 9 (1997), S. 61.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

Nur in der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe ist für die christliche Theologie die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft möglich. Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe konkretisiert sich in der Option für die Armen. Allerdings gehört dazu ebenfalls das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Die beiden christlichen Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität bilden die Grundlage für den Aufbau der sozialen Gerechtigkeit. Mit Hilfe des Begriffs der Solidarität soll ausgedrückt werden, dass der Mensch in einer Schicksalsgemeinschaft lebt. Alle Menschen haben die Aufgabe, nach einem sozialen Ausgleich für eine friedliche Zusammenarbeit zu suchen. Dabei schließt die Solidarität die gegenwärtige und die kommenden Generationen mit ein. „Die christliche Soziallehre muss künftig mehr als bisher das Bewusstsein von der Vernetzung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Problematik wecken“17. Dem Solidaritätsprinzip steht das bereits hinreichend erläuterte Subsidiaritätsprinzip zur Seite18. Die kleinsten Einheiten müssen darum vom Staat bzw. von der größeren Gemeinschaft einerseits soviel notwendige Freiheit für ihre Entfaltung erhalten und anderseits zugleich soviel Hilfe erfahren, dass sie zum eigenständigen Handeln fähig sind. Ihre Eigenverantwortung ist darum zu fördern. Zur Verwirklichung der Gesellschaft sind alle Glieder notwendig. Aber gerade die christliche Soziallehre bedarf der immer wieder erneuerten Reflexion und Anpassung an die veränderten Verhältnisse. Sie vermittelt keine endgültigen Lösungen, sondern vermittelt Handlungsanweisungen. Dazu gehört auch die Tatsache, dass die sozialen Ordnungen wandelbar sind. Dem hat auch die Soziallehre zu folgen. Diese Überlegungen stellen eine Grundlage für eine zukunftsfähige sozialorientierte Gesellschaft dar, die in gleicher Weise von Christen und von Nichtchristen akzeptiert werden kann. Dabei meint ein solcher ethischer Grundkonsens nicht schlichte Harmonie, „sondern ein ausreichendes Maß an Übereinstimmung trotz verbleibender Gegensätze“19. 1.2 Der leidende Gottessohn als wahrer Mensch Das Menschenbild im Neuen Testament wird geprägt durch den gekreuzigten Christus. Jesus Christus war der wirkliche Mensch, der vere homo. Er ist der Mensch schlechthin. In ihm, dem deus incarnatus, dem Fleisch gewordenen, wird die Humanität sichtbar. In seiner Menschwerdung wird nach Titus 3, 4 die 16 17 18 19

Gem. Texte H. 9 (1997), S. 43. Gem. Texte H. 9 (1997), S. 50. s. oben Einleitung. Gem. Texte H. 9 (1997), S. 51.

1. Das christliche Menschenbild

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Freundlichkeit (chrestótes) und die Menschenliebe (philantropía) Gottes sichtbar20. In Jesu Geißelung und Verspottung tritt die ganze Unmenschlichkeit der Menschen und in seinem Verhalten gegenüber den Menschen die tiefe Menschlichkeit des einen Menschen zu Tage. Beides erweist sich in dem Ecce homo (Joh. 19,5): „Siehe da, der Mensch“ (idoù ho ánthropos), das Pilatus ausruft, als er den mit der Dornenkrone versehenen Jesus den Menschen vorstellte. Er wird zum Bruder der Menschen. Jesus, der Mensch, wird zum Repräsentanten der Menschen vor Gott. In ihm erfüllt sich die Gemeinschaft mit dem Vater. Mit seiner Hingabe erweist er den vom Menschen geschuldeten Gehorsam, einen Gehorsam bis zum Tod! In der Auferweckung Jesus wird dieses Amt durch die göttliche Tat bestätigt. Diese Auferweckung von den Toten hat Jesus eben nicht nur für sich allein erfahren, sondern für alle Menschen. „Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten“ (Röm. 5,19). Jesus hat die Qual seiner und der Menschen Gottverlassenheit durchlitten. Er ist durch die Hölle des Leidens gegangen. Aber dieses alles ist nicht von ihm selbstverschuldet! Darum heißt es in der Strophe 4 von Paul Gerhardts Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“: „Nun, was du Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast“. Das Kreuz ist das Zeichen der Erlösung und der Versöhnung. Die Erlösung ist Zeichen für die Errettung aus unmittelbarer Gefahr und damit die Befreiung von Not und Übel, von den Mächten des Verderbens. Im christlichen Menschenbild der Überlieferung des Neuen Testaments steht also im Zentrum des Menschensohnes das Fragwürdige, Leidende, Verachtete und Verlorene. Der leidende Menschensohn, der zugleich der Gottessohn ist, ist das Ebenbild Gottes und nicht der mit Mängeln oder Fehlern behaftete Mensch. In der christlichen Überlieferung stehen nicht die Bilder des Wohlgeratenen im Vordergrund. Für die Bibel dagegen ist das Merkmal des Menschen sein Sünder-Sein. Er bedarf der Erlösung. Nach Jesu Selbst-Aussage ist er gekommen, nicht die Gerechten, sondern die Sünder zu rufen (Math. 9,13). Vom Menschensohn (hyiòs anthrópou) heißt es, er müsse viel leiden (pathein) und von den Ältesten, den Priestern und den Schriftgelehrten verworfen werden (Lk. 9,22). Das Neue Testament kennt also nicht das Ideal des griechischen Menschenbildes, das „nach dem Gesetz des Geistes wie ein Kunstwerk ausgestaltet werden soll“21. Darum fehlt auch, wie Rudolf Bultmann hervorhebt, der Gedanke der Erziehung oder der Bildung im klassisch-griechischen Sinn. „Wo das Neue 20 Vgl. Ebeling, Gerhard, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. 2, Tübingen 1979, S. 529 ff.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

Testament das griechische Wort padeía (bzw. paideúein)22 gebraucht, ist nicht Erziehung, sondern Züchtigung gemeint . . .“23. Das im Brief des Apostel Paulus an die Galater (Gal. 3,24) stehende Wort vom Gesetz als paidagogòs eis Christón, das Luther mit „Zuchtmeister auf Christus hin“ übersetzt, sollte nach Bultmann richtiger wiedergegeben werden als Zuchtmeister bis zu Christus. Erziehen heißt nämlich „auf den rechten Weg bringen“ und nicht „fortbilden zu einem Idealbild“, wie es in der Lutherübersetzung durchscheint24. Dieses Bild hebt sich deutlich vom griechischen Ideal des Edlen und Schönen ab. Nach Plato sollten eigentlich kränkliche Menschen nicht leben und keine Nachkommen zeugen dürfen. Als das eigentliche Wesen des Menschen galt im Griechentum der Geist, die Vernunft. Dagegen sind in der Bibel – im Alten wie im Neuen Testament – das Wesen Gottes und das des Menschen primär Wille25. Der Wille des Menschen kann gut oder böse sein. Gut ist er, wenn er im Gehorsam gegenüber Gott und seinen Geboten ausgeübt wird. Schlecht ist er, wenn er im Ungehorsam gegen Gottes Gebote steht. Gottes Gebote sind laut Neuem Testament nicht im Sinn des griechischen Vernunft-Denkens als ein Gutes, also als agathón, zu erkennen. Denn sie sind keine durch die Vernunft begründeten Gebote. Darum kann man seine Übertretungen auch nicht durch Belehrung oder bessere Einsicht überwinden. „Ihre Übertretung ist eine Akt des bösen Willens“ des Menschen26. Der Begriff der Versöhnung ist der Inbegriff der Lehre vom Werk Christi. Die Versöhnung in Christus bedeutet, dass der Mensch befreit wird von der Feindschaft mit Gott. Sie betrifft die Sünde und die damit verbundene Schuld. Man kann von drei Dimensionen der Versöhnungslehre sprechen. Denn es geht 1. um die Versöhnung des Menschen mit Gott, 2. um die Versöhnung des Menschen mit sich selbst und 3. um die Versöhnung mit dem Mitmenschen27. Zur ersten Dimension ist zu sagen, dass das Böse Schuld und nicht Schicksal ist. Hinsichtlich der zweiten Dimension ist anzumerken, dass in der Versöhnung mit sich selbst das Ja zu den eigenen Grenzen und zu seinem Ende angesprochen wird.

21 Bultmann, Rudolf, Der Mensch und seine Welt nach dem Urteil der Bibel, in: Glauben und Verstehen, Bd. 3, Tübingen 1960, S. 159. 22 Erziehung bzw. erziehen. 23 Bultmann, Rudolf (1960), S. 159. 24 Bultmann, Rudolf (1960), S. 159. 25 Vgl. Bultmann, Rudolf (1960), S. 158 ff. 26 Bultmann, Rudolf (1960), S. 160. 27 Vgl. Fritzsche, Hans-Georg, Lehrbuch der Dogmatik, Göttingen, 1976, Bd. III, S. 233 ff.

1. Das christliche Menschenbild

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In der dritten Dimension der Versöhnung mit dem Mitmenschen geht es um die praktisch-ethische Gestaltung dieser Welt. Die in seinem Kreuz den Menschen zuteil gewordene Gerechtigkeit Gottes ist keine passive, sondern eine aktive Gerechtigkeit. Denn die Sünde wird auf den Sohn gelegt, die Gerechtigkeit aber dem Menschen geschenkt. Im Wirken Jesus vollzieht sich, wie ausgeführt, das Strafleiden als stellvertretendes Leiden für den Menschen. Jesus starb den Tod, den alle Menschen verschuldeten. Er starb ihn an ihrer Stelle. Das heißt nicht, dass der Mensch den irdischen Tod nicht mehr erleiden müsste. Aber er hat den gänzlichen Ausschluss vom Vater überwunden.

1.3 Mitsterben heißt Mitauferstehen Christi Sterben führt in ein Mitsterben der Menschen. Sein Auferstehen bringt für sie ein Mitauferstehen. Diese Form von Stellvertretung hat einen inklusiven Charakter. Sie weist darauf hin, dass Jesu Sterben zum Sterben der Menschen führt. Die Auferstehung Jesu aber lässt dem Menschen ein Leben in Hoffnung erwachsen. Über den Tod hinaus können die Menschen Hoffnung haben auf eine künftige Auferweckung. Letztlich ist der Gekreuzigte der Mensch schlechthin! Das Kreuz erinnert an das Leiden des Menschen und an die Grenze seines Handelns. Es beantwortet gleichfalls die Frage nach dem Sinn des Leides und es stellt damit auch die Frage nach dem Tod. Der Mensch wird auf sein SünderSein verwiesen und auf sein Sterben-Müssen. Damit tritt im Kreuz die volle Inhumanität des menschlichen Seins zu Tage. Aber zugleich zeigt sich in ihm die volle Humanität. Im engeren Sinn geht es um die Theologie des Kreuzes oder im Sprachgebrauch Luthers um die theologia crucis. Sie allerdings hat bereits in der Inkarnation, also in der Fleischwerdung des Wortes, ihren Anfang genommen. In der Kreuzestheologie kommt zum Ausdruck, dass es der christlichen Theologie, wie bereits an den Aussagen des Neuen Testamentes gezeigt, nicht um die erhabene und vollendete Person gehen kann, sondern vielmehr um die Auferstehung des Gekreuzigten. Christi Passion und Opfertod werden zum zentralen geschichtlichen Ereignis und damit zur Grundlage für Gottes Geschichtsmächtigkeit. Der Gekreuzigte ist der Auferstandene. Darum geht es für den Menschen nicht um die eigene Rechtfertigung oder um seine Selbstgerechtigkeit, sondern um die Zurechnung einer fremden Gerechtigkeit. Ebenfalls darf das Kreuz Christi nicht zu einer Rechtfertigung der Kirche führen. Dennoch muss die christliche Theologie, die ihre Botschaft als eine Theologie der Hoffnung zu verkünden hat, diese als eine Theologie des Ruh-

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

mes und Triumphes – als eine theologia gloriae – darstellen; selbst wenn es in ihr keinen Platz für eine Kirche der Herrlichkeit und der Hierarchie gibt. Hinter diesen Überlegungen steht selbstverständlich nicht ein Erkenntnisakt, sondern eine Glaubensaussage.

2. Der Altersbegriff In der Altersforschung hat sich bisher kein allgemeingültiger Begriff für das Alter eingebürgert. Darum lässt sich auch nicht der Beginn des Alters fixieren. Im Vergleich mit früheren Generationen fühlen sich heute die Alten erheblich jünger. Gerade weil die Gesellschaft insgesamt altert, sehen sich die Älteren jünger als sie nach dem Lebensalter sind. Heute prägt der demographische Wandel das Alter. Die Grenzziehung zwischen dem Jungsein und dem Älterwerden bleibt willkürlich. An der Überlegung, die über viele Jahrzehnte galt, dass mit 65 das Alter begönne, hält sich heute kaum jemand. Im Gegenteil, das Alter beginnt in den weltlichen Industrienationen immer früher. Und in den Unternehmen findet eine immer weitergehende Vorverlegung des „Alters“ und damit eine Verjüngung der Mitarbeiterschaft statt. Andererseits wird das so genannte „gefühlte“ Alter immer weiter nach hinten verlegt. Denn nicht mehr mit der Aufgabe der Berufstätigkeit, sondern erst Jahre später sieht man sich als alt an. Die Alten von gestern sind also mit den Alten von heute nicht vergleichbar. Man spricht von einem dritten und vierten Lebensalter und meint mit dem dritten Abschnitt dann die Zeitspanne zwischen dem 65. und 75. Lebensjahr und mit dem vierten Lebensalter etwa das Alter vom 80. Lebensjahr an. Speziell unterscheidet man die jüngeren von den älteren Alten und spricht darum innerhalb der eigentlichen Altersgruppe von drei verschiedenen älteren Generationen, nämlich von der Altersgruppe 50 plus, 65 plus und 80 plus28. Diese Altersgruppen werden die sozialen, kulturellen und ökonomischen Wachstumsgebiete der Zukunft sein. In den Industriestaaten redet man gegenwärtig gern und viel über das Altern und die Alten. Das statistische Bundesamt hat nach der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ des 14. Deutschen Bundestages den Altenquotient berechnet und dabei – allerdings recht willkürlich – zu den Alten nur die „Personen ab dem vollendeten 60. Lebensjahr“ gezählt. Immerhin kam es dann zu folgender Entwicklung: Der Anteil der Alten pro hundert Personen stieg von 35,2 im Jahr 1991 auf 41,3 im Jahr 199929. Innerhalb des demographischen

28 29

Vgl. Opaschowski, Horst W. (2004), S. 87. Der Deutsche Bundestag, Enquête-Kommission, S. 26 Anm. 3.

2. Der Altersbegriff

139

Wandels ist für Deutschland festzustellen, dass die ganze Gesellschaft altert. Ja, es lässt sich bereits ihre Überalterung feststellen. Der Begriff der ,Überalterung‘ ist zwar wissenschaftlich problematisch. Aber man kann ihn dennoch so deuten, dass man unter ihm die Veränderung der Alterspyramide hin zu einem höheren Bevölkerungsalter versteht. Die Lebenserwartung ist allgemein gestiegen. Sie liegt heute für Männer bei 74, für Frauen bei 80 Jahren. Eine Zunahme um vier bis fünf Jahre wird aufgrund der medizinischen Fortschritte für das Jahr 2050 als realistisch prognostiziert. Nach der genannten Enquête-Kommission haben wir in Deutschland von einer „älter werdenden Gesellschaft“ sprechen30. Zwar existierte über die Jahrhunderte hinweg eine durchaus wesentlich niedrigere Bevölkerungszahl als heute. Dies hätte als solches keine schlimmen Folgen haben müssen. Aber mit dieser schrumpfenden Bevölkerung ging zugleich eine Veränderung in der Alterstruktur einher. Die Zahl der Älteren nimmt zu, die der Jüngeren dagegen nimmt ab. Seit über einhundert Jahren ist die jeweilige Kinderzahl in Deutschland kleiner als die der Elterngeneration. Der letzte Jahrgang, der sich in der Zahl seiner Kinder selbst ersetzte, soll das Jahr 1892 gewesen sein31. Hinzukommen medizinisch-technische Möglichkeiten, die durch eine Veränderung der Gene den Alterungsprozess verlangsamen werden. Was im Rahmen der amerikanischen Forschungen bei der Fruchtfliege bereits gelungen ist, ihr Leben durch ein Hinzufügen von Phenylbutyrat zu verlängern, könnte auf lange Sicht auch beim Menschen möglich werden. 2.1 Der Umgang mit dem Alter Schon in der Antike hat Ovid in der Zeit von Augustus in seinen Metamorphosen eine der schönsten Geschichten über alternde Menschen geschrieben. Philemon und Baukis lebten bescheiden kinderlos in ihrem Haus in Kleinasien und führten seit ihrer Jugend eine glückliche Ehe. Sie ernährten sich von einer kleinen Landwirtschaft und bewohnten ein kleines Haus, indem sie alt geworden waren. Aber ohne zu klagen, ertrugen sie ihre Armut mit heiterem Sinn. In die Abgeschiedenheit kamen die Götter Jupiter und Merkur in Gestalt müder Wanderer. Sie hatten bisher kein Obdach gefunden. Nur Philemon und Baukis nahmen sie gastfrei auf. Dafür wurden sie belohnt. Als die Sintflut kam, wurden sie gerettet. Ihr Haus blieb stehen und wurde in einen Tempel verwandelt. Die 30 31

48.

Der Deutsche Bundestag, Enquête-Kommission, S. 1, 12, 14, 35 u. ö. Vgl. Opaschowski, Horst W., Der Generationenpakt, Darmstadt 2004, S. 44 u.

140

4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

Götter schenkten ihnen die Tempelwacht und gewährten ihnen, dass sie – uralt und kraftlos geworden – gemeinsam starben. Denn keiner wollte ohne den anderen leben. Philemon und Baukis nahmen die Gestalt von Bäumen an und wuchsen eng umschlungen, von den Menschen verehrt32. Drei Determinanten bestimmten danach das Leben der Menschen in der mitteleuropäischen Kultur: Im Heidentum der Wille der Götter, die Liebe und der Tod. Alle drei waren bestimmend für das Individuum. In ihnen erkennt der Mensch auch heute noch seine Identität, wenn auch der Wille der Götter im christlichen Denken dem Vorsehungsglauben des dreieinigen Gottes gewichen ist. Die Liebe erweist sich zwar zeitlich im irdischen Leben in vielen Fällen nicht als unvergänglich; aber doch auch nicht als ewig. Dagegen ist allein der Tod etwas Abschließendes, er ist für das irdische Leben endgültig und ist nur im Glauben überwindbar. Er ist unausweichlich und ist ständig präsent im Leben. Während der Entwicklung des Lebens strafft sich der Körper. Über die Lebenszeit hinweg muss aufgeladen werde. Dazu braucht er Nahrung und Entspannung. Aber wenn er dem Ende zugeht, dann erschlafft er. Zum Alter hin hat er endgültig seine Jugendlichkeit verbraucht. Und es ist vorbei mit der unbeschwerten Kraft. Das Alter fordert sein Recht, der Körper wird schwach und endet. Bei einer fortschreitenden Schwäche und in einem dauerhaften Zerfall kommt das Leben zu seinem Ende. Indes, das Älterwerden ist ein mehr oder weniger langsamer Prozess, jedenfalls kein punktuell eintretender Umstand. Dieser Vorgang ist in Abhängigkeit zu sehen von körperlichen, psychischen und sozialen Einflüssen. Allerdings wird er auch durch persönliche, politische und kulturelle Bedingungen geprägt. Schon das Alte Testament wusste im Psalter Hervorragendes von der Zeit des Alters zu sagen. In der Luther-Übersetzung: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, wird die menschliche Position des Lebens besonders bildhaft ausgedrückt. Aber in der wörtlichen Übersetzung: „Lehre uns unsere Tage zählen, dass wir ein weises Herz gewinnen“, zeigt sich bereits die Forderung nach Einsicht in die Entwicklung des Menschen (Ps. 90,12). Bereits Cicero hat das Alter als Herbst des Lebens bezeichnet33. Mit dieser Bezeichnung folgte auch er einer Tradition, die durch die Abfolge in der Natur und in ihr durch den Ablauf der Jahreszeiten beschrieben wird.

32 Gutsfeld, Andreas, Epilog, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (Hrsg.), Am schlimmen Rand des Lebens, Köln 2003, S. 209. 33 Cicero, Cato maior de senectute 19,70, S. 93.

2. Der Altersbegriff

141

Der Mensch hat in der Regel keine andere Wahl: Ob er will oder nicht, er muss alt werden. Er wird gegen seinen Willen älter. Im Gegensatz zu früheren Generationen müssen die gegenwärtigen und nachfolgenden Jahrgänge lernen, mit dem Ende anders als bisher umzugehen. Früher waren es die Kriege und die damit verbundenen Entbehrungen, die kurz- oder langfristig das Leben beendeten. Das Leben war, wie in einem Bestseller über das Altern gesagt wurde, Krieg, und das „Leben war immer Überleben“. Die Alten waren immer diejenigen, „die ein Privileg hatten: nicht wie die anderen Generationsgenossen früh gestorben zu sein“34. Die gegenwärtigen Generationen erleben einen neuen Umgang mit dem Alter. Die deutsche Gesellschaft erwartet einerseits, dass die Lebenserwartung fortwährend steigt. Andererseits weiß sie, dass die Geburtenrate sich ständig abschwächt und viele Landstriche in der Zukunft entvölkert werden. Diese Entwicklung wurde zwar in seinem Kern bereits vor über dreißig Jahren erkannt. Aber erst in jüngster Zeit hat man den Rückgang der Geburtenquote erfasst. Allerdings stellt sich die Frage, warum der gesellschaftspolitische Schock, der damit verbunden sein müsste, bis heute ausgeblieben ist. Die ökonomischen Daten, vor allem die des Gesundheits- und Rentensystems, setzen Grenzen für die Wiederherstellung des Körperlichen. Damit erhält sogar die Gesellschaft über ihren wirtschaftlichen Einfluss hinaus ein – wenn auch nur indirektes – Recht, die Lebensdauer der alten Menschen zu bestimmen. Die Lebensqualität des älter werdenden Menschen wird zwar häufiger als bei jungen Leuten durch immer stärker auftretende unterschiedliche Krankheiten und Pflege- und Hilfsbedürftigkeit eingeschränkt. Wer in Selbstmitleid, Niedergeschlagenheit oder Resignation verharrt oder einer Depression erliegt, wird es schwer haben, sein Altersschicksal zu meistern. Für fast alle Menschen spielen das Älterwerden und der Tod im aktiven Berufsleben eine geringe Rolle. Deshalb fällt es vielen Menschen im Erwerbsleben und auch danach schwer, sich mit beiden Phänomenen auseinander zu setzen. Außerdem werden von den Menschen, die nur ein Leben im Diesseits kennen und keine Hoffnung auf ein Jenseits anerkennen, das Sterben und der Tod als ein Scheitern erkannt. Man empfindet diese Entwicklung als Niederlage und Versagen35. Die Angst, nicht mehr gebraucht zu werden, ist natürlich bei den Jüngeren in der Lebensmitte viel ausgeprägter als bei den Älteren. Der Überalterungsprozess breitet sich langsam und stetig in der Welt aus. Dabei zeichnet sich eine seltsame Paradoxie ab: „Während die Industrieländer zuSchirrmacher, Frank, Das Methusalemkomplott, München 112004, S. 187. Vgl. Wort der Deutschen Bischöfe, Älterwerden und Altsein, in: Arbeitshilfen Nr. 151, S. 43. 34 35

142

4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

erst wohlhabend wurden und dann alterten, altern die Entwicklungsländer, bevor sie wohlhabend werden. Die tendenzielle Geriatrisierung der Welt kann in Zukunft zu globalen Verteilungskämpfen zwischen Jung und Alt führen“36. Alter wird meistens in Verbindung mit aufkommenden Krankheiten und zunehmender Leistungsschwäche gesehen. Wo sie auftreten, und es ist schließlich nicht von der Hand zu weisen, dass mit beginnendem Alter – wann immer das anzusetzen ist – beide Erscheinungen einsetzen, lässt sich über Mobilität, Kreativität und Tugendhaftigkeit nicht mehr allzu viel aussagen. Denn alle diese Tüchtigkeiten und Chancen kommen nicht mehr zum Tragen. Von Entscheidungskraft und Reife im Alter kann und soll nur gesprochen werden, wenn weiterhin ein bestimmtes Maß von ihnen noch vorhanden ist. Wann das Alter beginnt, ist sicher nicht für alle Menschen gleich festzusetzen. Es wechselt sowohl von Subjekt zu Subjekt und ist zu differenzieren aufgrund des Ortes und der Zeit, in denen das Alter erlebt wird. Der Zeitpunkt des Alters hat sich in der Gesellschaft vom Ende der Erwerbstätigkeit mit 65 Jahren infolge einer Jugendkultur im Unternehmen deutlich nach vorne verschobene. Denn es kann durchaus geschehen, dass bereits ein Fünfundvierzigjähriger im Erwerbsleben als alt angesehen wird. Ein Fünfzigjähriger findet kaum noch eine Anstellung. Der fünfzigjährige – oft sogar bereits der fünfundvierzigjährige – Arbeitnehmer gehört gegenwärtig bereits zu den nicht mehr sehr gefragten Arbeitskräften. Jedenfalls wird der Fünfzigjährige bereits leicht zum alten Eisen gestempelt. Arbeitslose über fünfundvierzig haben nur eine ganz geringe Chance, erneut in eine Stelle vermittelt zu werden. Hier und da neu eingestellte oder gleichfalls gesuchte Ältere bilden nur die Ausnahmen37. Andererseits versucht man, das Erwerbsleben wegen der Rentenleistung ein wenig nach hinten hinauszuschieben. Das aber hat mit der Festsetzung des eigentlichen Alters nichts zu tun. Die berufliche Leistungsfähigkeit hat sich im Laufe der Industrialisierung stark verändert. In der ersten Phase der Industrialisierung war körperliche Arbeit weit verbreitet. Sie war in ihrer Belastung außerordentlich schwer. Es gab bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Berufe im Bergbau, in der Eisenund Stahl- oder in der chemischen Industrie oder auf der Eisenbahn, in denen Arbeiter und Arbeitnehmer gesundheitliche Schäden davontrugen und sich deshalb frühzeitig aus dem Erwerbsleben zurückziehen mussten. Heute sieht es anders aus. Die moderne Arbeitsweise erfordert in manchen Berufen weniger körperlichen Einsatz. Dafür aber sind die Anforderungen an die geistigen Kräfte, an die Konzentration oder an den psychischen Einsatz erheblich höher. 36 37

Opaschowski, Horst W., Der Generationenpakt, Darmstadt 2004, S. 35. Opaschowski, Horst W. (2004), S. 67.

2. Der Altersbegriff

143

Man hat sogar deshalb zeitweilig gemeint, dass bereits Vierzigjährige für Neuerungen in der Ökonomie unbrauchbar seien. Diese Altersgruppe hat im Laufe der Geschichte immer wieder recht schlechte Werte erhalten. Schon vor zwanzig Jahren haben viele amerikanische Firmen – auch in Deutschland – einen Beförderungsstopp für über Vierzigjährige verfügt. Darum ist es richtig, dass gegenwärtig die jugendlichen Attribute von Schönheit, Kraft, Leistungsfähigkeit und Sexualität als bedrohlich für die Älteren angesehen werden. Aber trotzdem gilt, dass vielfach dennoch die Leistungsbereitschaft bis ins hohe Alter möglich ist. Zwar gilt als allgemeiner Erfahrungswert, dass nur wenige Menschen im Alter Kraft und Lust investieren wollen, um eine Anerkennung in einer harten Berufswelt zu erreichen. Aber dort, wo es auf Klugheit und Einsatzbereitschaft ankommt, können gerade auch die Älteren meistens noch mithalten. Dennoch ist letztlich das Problem der Alterung bisher nicht eindeutig geklärt. Selbst die vitale Phase der Jugend ist letztlich ein Alterungsphänomen. „Den Höhepunkt ihrer körperlichen Fitness und den Tiefpunkt ihrer Mortalität erreichen die Menschen in der Regel dann, wenn sie gerade geschlechtsreif werden. Doch auch um dahin zu gelangen, müssen sie erst einmal älter werden. In der Alternsphase von der Befruchtung bis zur Geschlechtsreife nimmt die Sterblichkeit – also die Wahrscheinlichkeit, in einem bestimmten Lebensjahr zu sterben – beim Menschen dramatisch ab“38. Freilich muss man aus dem Ablauf verschiedener Lebewesen – entgegen der allgemeinen Erfahrung – erkennen, dass zahlreiche Organismen die Stärke ihrer Vitalität und Fruchtbarkeit ebenso wie den Tiefpunkt ihrer altersspezifische Sterblichkeit und damit ihrer Seneszenz erst im hohen Alter erleben. Sie werden nämlich mit der Zeit biologisch „jünger“. Für diese Art von Lebewesen, die ihre Blüte in einem fortgeschrittenen Alter entfalten können, hat man (so der Alterungsforscher James Vaupel) den Ausdruck „negative Seneszenz“ geprägt39. Aber beim Menschen zeigt sich das anders, wie Vaupel darlegte: Was den jungen Menschen gesund und vital macht, der Aufbau- und Reparaturmechanismus des Körpers, wird bei ihm mit wachsendem Alter immer weniger aktiviert werden40. Heute vollzieht sich in der Menschheit ein Alterungsprozess in einem recht hohen Ausmaß. Die Menschheit muss immer mehr ältere Menschen auf der Erde versorgen. Die Anzahl der Menschen nimmt zu und zugleich wird ihr Alter immer höher. Darum ruft man sogar zu einem Komplott der Alten auf. Im dem Bestseller „Das Methusalemkomplott“ wird ein Krieg gegen den biologi-

38 Schwägerl, Christian, Die Quelle der ewigen Jugend, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 30. Juli 2004, S. 40, Sp. 1. 39 Schwägerl, Christian, FAZ 30. Juli 2004, S. 40, Sp. 2. 40 Ebenda.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

schen und sozialen Terror der Jugend und gegen die Altersangst gefordert41. Man kämpft gegen den Jugendwahn und versucht, den Alten neue Kraft zum Leben einzuhauchen. Die so genannte 68-Generation und die nachfolgenden Altersgruppen der Baby-Boomjahre stellten die ewige Frage nach dem Sinn des Lebens, ohne sie wirklich beantworten zu können. Die überlieferte Antwort, den Sinn in der christlichen Form der Unsterblichkeit im Reiche Gottes und in der Ewigkeit des Lebens zu finden, wurde zunehmend als überholt angesehen. Für viele Menschen bedeutet die überlieferte Hoffnung, auf die eschatologische Transzendenz des Lebens hin zu existieren, nichts mehr. Ebenso wird die Fortsetzung des Lebens in der eigenen Nachkommenschaft als zu kurz gedacht angesehen. Schließlich ist nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs auch die Fortsetzung des Lebens in einem ewigen Heldenruhm nicht mehr gefragt. Der Sinn des Lebens wird nunmehr gleichsam ins Diesseits und damit in diese Zeit verlegt. Sieht man seinen Sinn nicht mehr in der Leistung von Heldentaten, in der Schaffung großer Kunstwerke oder in der Heilsgewissheit des Glaubens, verzichtet man – aus welchen Gründen auch immer – auf Kinder, bleibt letztlich nur die innerweltliche Hoffnung darauf, länger leben zu können! Damit liegt der Schluss nahe, dass ein langes Leben nichts anderes als ein Unsterblichkeitsersatz ist. Das Methusalem-Komplott geht von der Geschichte des Methusalem (Methuschelah) aus. Dieser war der Sohn Henochs. Er war nach dem Alten Testament (1. Moses 5,20 ff.) 187 Jahre alt, als er den Lamech zeugte. Danach lebte er 782 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Sein Alter war 969 Jahre, als er starb. Aber trotz medizinischen Fortschritts leben wir Menschen noch nicht in einer solchen Gesellschaft mit einem derartig positiven Altersbild. Allerdings hat Frank Schirrmacher in seiner Einschätzung des Alters nicht den Schritt vom Rentenalter zum letzten Lebensmoment im Visier. Für ihn steht also keineswegs der Mensch im Mittelpunkt, dessen Kräfte abnehmen, bei dem bereits das Siechtum beginnt, sondern eigentlich der so genannte „junge“ Alte. Schirrmacher hat also nicht den Menschen im Auge, hinter dem sich der „Schlagbaum“ schließt und den man dann noch eine Weile erlebt, bis er „kleiner und kleiner in der unendlichen Ebene“ wird und schließlich ganz verschwindet42. Er hat vielmehr die große Gruppe der Menschen im Auge, die sich im Arbeitsleben bereits frühzeitig auf ihr Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vorbereiten müssen, ohne bis zum üblichen Beginn des Rentenalters warten zu können.

41 42

Schirrmacher, Frank, Das Methusalemkomplott, München Schirrmacher, Frank (2004), S. 99.

11

2004.

2. Der Altersbegriff

145

2.2 Rückläufige Geburtenrate und steigende Lebenserwartung Die demographische Veränderung findet mit ihrer doppelten Aussage gerade im gegenwärtigen Deutschland statt. Die rückläufige Geburtenrate trifft nämlich mit einer steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung zusammen. Man rechnet etwa mit einem Rückgang der Bevölkerungszahl von derzeit 82 Millionen auf 72 Millionen Menschen im Jahr 205043. Nach Meinung der Bundesbank hält sich „nur bei starker Zuwanderung und einem kräftigen Anstieg der Lebenserwartung“ der projizierte Bevölkerungsrückgang bis zum angegebenen Datum in „relativ engen Grenzen“44. Der Grund für das demographische Problem resultiert aus ökonomischer Sicht nicht so sehr aus der Schrumpfung der Bevölkerung, „sondern vor allem aus der dauerhaften Verschiebung der Alterstruktur der Bevölkerung und der relativen Verringerung des Arbeitskräftepotentials, zu der es vor allem in den Jahren zwischen 2015 und 2030 kommen wird“45. Trotz hoher Unsicherheiten bei derartigen demographischen Vorausschätzungen wird man sagen können, dass wohl am Ende des Zeitraums jede erwerbstätige Person durchschnittlich im Laufe der nächsten Jahrzehnte für eine zunehmende Zahl von nicht erwerbsfähigen Bürgern zu sorgen haben wird. Allerdings ist eine nicht unerhebliche Quelle der Unsicherheit der lange Zeitraum, über den hier entschieden wird. Er kann zu erheblichen Abweichungen der Projektion führen. Diese Entwicklung ist seit langem vorgezeichnet und kann im Laufe der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte nicht verändert werden. „Eine wirksame Möglichkeit, den demographisch bedingten Verschlechterungen entgegenzuwirken, besteht in der Verlängerung der effektiven Lebensarbeitszeit“46. Außerdem könnte auch daran gedacht werden, die Ausbildung zu straffen und die Ausbildungszeit zu verkürzen. Von zentraler Bedeutung aber ist der Abbau der hohen strukturellen Arbeitslosigkeit47. Die beste Lösung für die Milderung des demographischen Umbruchs wäre die Schaffung einer höheren Arbeitsproduktivität und/oder die Ausstattung der Arbeitsplätze mit mehr Sachkapital. Da der Standort Deutschland an Attraktivität verloren hat, muss für seine Attraktivität geworben werden. Wenn es zum Beispiel gelänge, das durchschnittliche Eintrittsalter in den Ruhestand nur um zwei Jahre anzuheben, könnte die Zahl der Erwerbspersonen um etwa 2 Millionen steigen48. 43 Vgl. Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Dezember 2004, S. 16. Vgl. oben Kapitel 4. 44 Ebenda. 45 Ebenda. 46 Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Dezember 2004, S. 19. 47 Monatsbericht, S. 26.

146

4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

Die Veränderung im Altersaufbau bei der Bevölkerung Deutschlands lässt sich gut ablesen an folgender Tabelle49: Altersklasse

1900

1950

1998

2050*

Mio

%

Mio

%

Mio

%

%

Kinder u. Jugendliche unter 20 Erwerbstätige 20–60 60 Jahre u. älter

24,9

44

21

30

17,6

21

16

27 4,4

48 8

38,1 10,1

55 15

46,1 18,4

56 22

47 (36)–37

Bevölkerung insgesamt

56,4

100

69,3

100

100

100

82

65–70 Mio * Bei einer unterstellten Zuwanderung von 100.000 bis 200.000.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Altersstruktur der Bevölkerung zugunsten älterer Altersgruppen verschoben. Diese Entwicklung beschleunigt sich in der letzten Zeit weiter50. In Deutschland nimmt seit den vergangenen Jahrzehnten einen sich dramatisch entwickelnden Verlauf: Einerseits sank die Geburtenrate von 1965 bis 1975 von über einer Million auf 600 000. Statistisch ging die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau von 2,1 Kindern auf 1,4 (1,5) zurück. Damit wird die Reproduktionsrate der Gesellschaft verfehlt51. Bis zum Jahr 2050 wird sich im Vergleich zum Jahr 1998 der Anteil der 60 Jährigen und Älteren von 22% auf 37% erhöhen! Die entscheidende Frage lautet, ob die Jüngeren noch in der Lage sein werden, die Renten und Pensionen für die älteren Menschen zu tragen und das ganze soziale Sicherungssystem zu finanzieren. Diese Entwicklung war schon in den siebziger Jahren abzulesen, wurde aber in ihrer demographischen und ökonomischen Auswirkung nicht hinreichend erkannt. Sie wurde mehr oder weniger als Schicksal hingenommen. Eine mögli48

Monatsbericht, S. 27. Erstellt und optisch aufbereitet von Rosemarie von Schweitzer, Wandel der Familienstrukturen und des familialen Alltagslebens, in: Hans-Günter Krüsselberg, Heinz Reichmann (Hrsg.), Zukunftsperspektive Familie und Wirtschaft, Grafschaft 2002, S. 169, in: Verbindung mit der Stellungnahme der Bundesrepublik, Dritter Altersbericht, Berlin 19.01.2001, S. 14 f. 50 Vgl. Dritter Altersbericht der Bundesregierung (2001), S. 14. 51 s. oben 4. Kapitel. 49

2. Der Altersbegriff

147

che Gegensteuerung z. B. durch eine Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung wurde nicht überlegt. Selbst ein Anstieg auf zwei Kinder wird die Alterung der Bevölkerung für Jahrzehnte nicht abwenden können. „Wenn ein demographischer Prozess ein Vierteljahrhundert in die falsche Richtung läuft, dauert es ein Dreivierteljahrhundert, um ihn zu stoppen“52. Die prägende Kraft der dritten Lebensphase ist nicht unbedingt mehr Armut, Krankheit, Einsamkeit und Tod. Vielmehr werden die Senioren in der Wirtschaft zu einer eigenen Zielgruppe mit separaten Ansprüchen und starker kaufkräftiger Nachfrage auf verschiedenen Gebieten des Konsums, der Bildung, der Hobbys und des Reisens. Für viele Menschen der jüngeren Generation ist der Umgang mit ihren alternden Eltern zum Problem geworden. Die Vorstellung, dass sie alt werden und vielleicht ins Altersheim „abgeschoben“ werden müssen, bleibt für sie unerträglich. Die Ursache dafür liegt vielleicht in einer Alzheimer- oder einer schweren Parkinson-Erkrankung. Die Folge ist, dass sie auf einer senilen Endstation landen. Diese Entwicklung scheint vielen Beteiligten eine schwer erträgliche Vorstellung zu sein. Auch die Überlegungen der Eltern, einmal bei den Kindern zu wohnen, in deren Heim alt zu werden und ihnen gar zur Last zu fallen, gilt häufig als unerträglich. Vielfach ist das eine Vorstellung, die von den Eltern auf keinen Fall gewollt wird. Weil die Menschen auch nicht in ein Pflegeheim abgeschoben werden wollen, werden sie eher noch ihrem Leben selbst ein Ende setzen. Darum hat die Zahl der Suizide – auch in der Bundesrepublik – zugenommen. Immer mehr ältere Menschen entschließen sich zu diesem Schritt. Das Institut für Rechtsmedizin der Berliner Charité hat die Gründe dafür untersucht und festgestellt, die meisten wollen so einer Heimeinweisung zuvorkommen. „Das entscheidende Motiv war Angst vor absoluter Hilflosigkeit und unwürdigem Weiterleben. Von den insgesamt rund 11.000 Menschen, die 2002 in der Bundesrepublik Deutschland durch eigene Hand starben, waren 3.534 älter als 65 Jahre“53. Ein wichtiges Argument für die Abnahme der Geburtenrate ist in der wirtschaftlichen Entwicklung zu suchen. Das Niveau des allgemeinen wirtschaftlichen Wohlstandes wird gern als Begründung für die geringe Geburtenrate angeführt. In der Tat sinkt diese mit steigendem Wohlstand. Ob das daran liegt, dass es zur Wohlstandsgesellschaft gehört, seinen Konsum aus so genannten Reputationsgründen sichtbar zu machen, ist im Hinblick auf die Gesamtheit der Bürger 52

Birg, Herwig, Grundkurs Demographie, in: FAZ vom 4. März 2005, S. 37. Overath, Angelika, Generationen, in: Schriften der Vontobel-Stiftung, Zürich 2005, S. 51. 53

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

sehr zu bezweifeln, obwohl es einzelne Erscheinungen in dieser Hinsicht geben wird54. Die ökonomischen Konsequenzen einer älter werdenden Bevölkerung gehören zu den wichtigen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Gegenwart. Die Volkswirtschaft hat umso günstigere Chancen für eine Entwicklung, je stärker die ältere Bevölkerung in den Produktionsprozess integriert wird. Aber dennoch ist der wirtschaftliche Fortschritt sicher mit einer der Gründe für den Alterungsprozess der Gesellschaft und die demographische Entwicklung in vielen Ländern. Im Leben wurde die Alternative Kinder oder Wohlstand zu Gunsten des Letzteren beantwortet. Bei der Wahl zwischen Konsum oder dem Aufziehen von Kindern, wählte man eben einen möglichst höheren Wohlstand. Allerdings wird viele Eltern ebenfalls die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder ein vorherrschender Pessimismus gegenüber einer mehr oder weniger durch Mangel geprägten Zukunft daran hindern, sich Kinder oder etwa weitere Kinder zu leisten. Letztlich sind bis in die Gegenwart hinein weder Kirchen noch Religionen imstande, für die westliche Gesellschaft einen umfassenden und von allen akzeptierten Wertekanon zu liefern. Damit werden Religion und Kirche zwar zu Teilbereichen in der Gesellschaft. Aber beide sind aufeinander bezogen. Indes hat auch das christliche und religiöse Denken lange Zeit eine unterschiedliche Entwicklung durchgemacht.

3. Die Mehrgenerationenfamilien Bereits die griechische Antike – etwa bei Platon – kannte die Großfamilie. Sie wurde als Stätte von familialen Spannungen gesehen. In der vorindustriellen Gesellschaft herrschte vielfach die Großfamilie vor. Sie war der beherrschende Verband und stellte die Produktionseinheit dar, in der eine dichte soziale Beziehung herrschte, in der auch die Alten ihren Platz hatten. Aber schon damals wurden auch getrennte Wohnungen für Partikularfamilien empfohlen. Zunehmend entwickeln sich heute bis zu Viergenerationenfamilien, obwohl die einzelnen Familienglieder nicht im selben Haus wohnen. Auch wird die einzelne Familie zahlenmäßig kleiner. Die Kleinfamilien haben die Großfamilien abgelöst. Aber die emotionalen Beziehungen intensivieren sich. Die Gefühlsbeziehungen nehmen gegenüber den sonstigen Beziehungen zu Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen zu. Denn mit zunehmendem Alter sterben Geschwis54

Gegen Bolz, Norbert (2006), S. 62.

3. Die Mehrgenerationenfamilien

149

ter, Freunde und Nachbarn. Darum wird eher eine enge familiale Verbindung zu Kindern, Enkeln und Urenkeln aufgebaut. Aber das direkte Zusammenleben der Generationen ist vielfach zerbrochen. Die Entwickelung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Großeltern nicht mehr im örtlichen Familienverband leben, oftmals sogar von der Familie weit entfernt. Deshalb droht für die ältere Generation Vereinsamung und Isolation, obwohl die Mobilität der Menschen stark zugenommen hat. Je älter die Menschen werden, umso wichtiger wird also die nachwachsende Generation für die Eltern- oder Großelterngeneration55. 3.1 Jugendkult und Jugendreligion in der modernen Gesellschaft Es hat sich eine neue Form von Religiosität in der westeuropäischen Gesellschaft ausgebildet, die von einer säkularen Hoffnung bestimmt wird. In dieser neuen Ersatz-Religion gibt es kein festformuliertes Glaubensbekenntnis mit dogmatischer Grundlegung, sondern nur noch die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben in Jugend und voller Hoffnungsfreude. Die Devise lautet: Spaß muss sein. Allein darum geht es im Leben! Man möchte nicht mehr mit der Leere des Daseins konfrontiert werden, sondern mit einem dauerhaften Glücksgefühl. Sollten Unpässlichkeiten oder Pannen auftreten, müssen diese möglichst schnell und in ihrer Ganzheit behoben werden. Darum nimmt man zwar Krankheit, menschliche Alterungsprozesse oder gar den Tod wahr. Aber sie werden nach Möglichkeit aus dem Alltag verdrängt oder negiert. Gefordert wird eine Situation des Lebens, in der man fit for fun ist. Das ist die Zielrichtung der Jugend. Jugendlichkeit ist nicht nur im Arbeitsprozess, sondern auch in der Alltagswirklichkeit gefordert. Gesundheit und Jugend und nicht Krankheit oder Alterung bilden die Ausrichtung des Lebens. In früheren Jahrhunderten beherrschte die ältere Generation die jüngere. Die Strukturen waren eindeutig geregelt. Die Dominanz des Alters war allgemein akzeptiert, obwohl die Jüngeren selbstverständlich den Älteren an Körperkräften überlegen waren. Sind physische Stärken gefragt, hatte die Jugend gegenüber dem Alter das Übergewicht. Zwar sind bei den älteren Menschen Leistungsabbau und körperliche bzw. geistige Gebrechlichkeiten zu verzeichnen. Aber man muss ernsthaft fragen, wo denn entsprechende Studien belegen, dass sich die Leistungsfähigkeit der Älteren, wenn es sich nicht um körperliche Arbeit handelt, so erheblich vermindert, dass sie nicht durch Erfahrung ausgeglichen werden kann? Zwar gibt es solche Leistungsverminderung. Aber steht diese wirklich in einem gesunden Verhältnis 55

Vgl. Opaschowski, Horst W. (2004), S. 57.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

zur vorhandenen Einsicht und Geschicklichkeit, mindestens bei den gesunden unter achtzigjährigen Menschen. In der Zeit der Industrialisierung hatte sich allerdings die Herrschaft des Geistes gegenüber der Jugend durchgesetzt. Durch dieses Primat des Geistes wurde dann die Herrschaft des Alters begründet. Zur Zeit der Romantik war die Jugendlichkeit zum Ideal erklärt worden. Sie sah in den Kindern und Jugendlichen die „Gestalten der Sehnsucht“56. In der Arbeitswelt zeichnete sich in den letzten Jahren eine Entwicklung ab, die gerade durch die Verjüngung der Belegschaften geprägt wurde. Der Grund dafür liegt im Augenblick in der jugendzentrierten Einstellungspolitik der Unternehmen. Bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und besonders in den letzten Jahrzehnten hat sich in Wirtschaft und Gesellschaft ein kräftiger Wandel vollzogen. Die Jugendlichkeit wurde zum herrschenden Gradmesser! Dadurch wurde der Erwachsene und erst recht der ältere Mensch im seinem Ansehen schnell als nicht mehr voll einsatzfähig, als lernunfähig, immobil oder als zu alt für den Job angesehen. Erfahrung und Altersweisheit sind nicht mehr erwünscht. Stattdessen wurde Anpassung an die wirtschaftliche, naturwissenschaftliche oder gesellschaftliche Entwicklung gefragt. Aber die erbringt der Alte nicht mehr oder nicht so schnell bzw. so intensiv. Die jüngere Generation, also Menschen in den Lebensjahren zwischen zwanzig und dreißig, wollen an ihrem Jungsein festhalten. Das ist für sie die Lebensphase mit der größten Schaffenskraft. Für sie ist es schwer, sich mit einem Älterwerden abzufinden. Selbst der alte Mensch muss noch als jung und dynamisch in Erscheinung treten, um ja nicht als alt zu gelten. Es geht nicht um eine Entwicklung zu einer persönlichen Reifung oder zu einem gesellschaftlichen Zielpunkt. Der Alte möchte jung bleiben, und der Junge strebt nicht nach einer Entwicklung in Richtung auf das Alter. Er ist bereits weise und abgeklärt und sieht einerseits eigentlich keine Notwendigkeit für eine markante Veränderung57. Aber anderseits strebt er nach einer Überwindung des grauen Alltags. Die Menschen suchen nach dem verlorenen Paradies und möchten die Langeweile des Alltags überwinden! Der Sinn des Daseins ist verloren gegangen. Die Menschen fühlen sich unausgefüllt und leer, obwohl sie sich unter einem ständigen gesellschaftlichen Druck befinden, ihre Aktivitäten zu beweisen, haben sie das Gefühl der Untätigkeit und des Mangels. Sie haben das Gefühl, sich in einer Gesellschaft zu befinden, in der es nicht mehr zu überzeugenden Entwicklungen und effektiven Reformen kommt, da die Bürger und Politiker nicht be-

56 57

Opaschowski, Horst W. (2004), S. 62. Vgl. Grünewald, Stephan (2006), S. 108 ff.

3. Die Mehrgenerationenfamilien

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reit sind, im gesellschaftlichen Umbruch nach einem völligem Neubeginn zu streben. Aber man wird sich von dieser persönlichen und gesellschaftlichen Überdrehung nur befreien, wenn man willens ist, diesen Zustand anzuerkennen und die Fähigkeit zu entwickeln, aus der Misere tatsächlich herauszukommen. Das Verhältnis von Jung und Alt im Unternehmen wird heute noch durch das Maß an Frühverrentung und Vorruhestand bestimmt. Über Jahrzehnte konnte man einen Konsens der Solidarität zwischen den Generationen erkennen. Die Frühverrentung wurde als akzeptabel empfunden, weil die Gesellschaft den jüngeren Arbeitnehmern eine Chance zur Arbeitsaufnahme geben konnte. Der Jugendkult hat bereits zur Altersdiskriminierung geführt. Er herrscht seit über 30 Jahren in der Gesellschaft Deutschlands. Das liegt auch an dem gesellschaftlichen Bewertungssystem: Die beruflichen Entscheidungen der ersten Lebensabschnitte werden von verobjektivierten Leistungen, von Prüfungen oder wissenschaftlichen Tests abhängig gemacht. Die Entscheidungen im höheren Alter indessen werden oft nur aufgrund von Mutmaßungen, Schätzungen, von statistischen Durchschnittswerten oder Vorurteilen getroffen. Das ist für die Einstellungspraxis von älteren Menschen ein großes Hindernis. Die Unternehmen werden zukünftig vor der Frage stehen, ob sie aufgrund des demographischen Wandels ihre Personalpolitik ändern müssen. Denn die Betriebe werden zu prüfen haben, ob sie bei der einsetzenden Alterstruktur langfristig das in „den älteren Arbeitskräften schlummernde Humankapital“ ungenutzt lassen können58. Schließlich sind ältere Arbeitnehmer – etwa die 50- bis 65-Jährigen – im Durchschnitt nicht weniger leistungsfähig als jüngere. Manche Menschen haben die Vorstellung, dass sie selbst nicht älter werden, sondern nur die anderen. Und die bereits Älteren leben in der Angst vor dem noch Älterwerden und dem anstehenden Einstieg in die zweite bzw. dritte Lebensphase, also in die Zeit ab vierzig bzw. ab sechzig Jahren. Für diese mittlere Generation der Menschen hat sich in der Altersforschung der Ausdruck der Sandwichgeneration eingebürgert59. Der Ausdruck ist vor etwa einem Vierteljahrhundert aus Amerika kommend in die deutsche Altersforschung eingedrungen. Diese Generation ist noch mit sich selbst und ihrer eigenen Lebensbewältigung beschäftigt. Aber sie kümmert sich zugleich um die Kinder und Enkelkinder und trägt dazu oft noch die Last der Pflege der Eltern oder Schwiegereltern. Der Jugendkult ist bei den privaten Sendern besonders beheimatet. Diese werden aufgrund ihrer Werbe-Ausrichtung als „elektronische Werbemedien“ 58 59

Der Deutsche Bundestag, Enquête-Kommission, S. 47. Vgl. Opaschowski, Horst W. (2004), S. 70 ff.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

und nicht so sehr als Fernsehanstalten angesprochen“60. Das private Fernsehen kennt als Zielgruppe der Werbeblocks die 14- bis 49-jährigen Zuhörer und Zuschauer. Noch sind die Überfünfzigjährigen keine relevanten Gruppen. Das Programm ist auf die Jugend ausgerichtet, die einen nachhaltigen Konsum aufweist und von der Werbewirtschaft angesprochen werden kann. Noch ist also der Alterskonsum nicht erfasst. Die über Fünfzigjährigen sind im Augenblick für die Werbewirtschaft zu wenig attraktiv, während die Jugendlichen für den Konsum aufgeschlossen und zum Konsumieren bereit sind. In nicht allzu großer Ferne wird es hier zu einem totalen Umdenken kommen müssen. Die Zahl der Jugendlichen nimmt ab und die der Alten erheblich zu. Der Konsumanreiz muss sich auf die Gruppe der nicht mehr jungen aber noch nicht ganz alten Menschen richten! Das wird sich dann auf unterschiedliche Bereiche von den Volkshochschulen bis zu den Universitäten und von Sprachkursen über Bildungsreisen bis zu Luxusveranstaltungen oder zur Gesundheitsvorsorge erstrecken. Aus all diesen Überlegungen lässt sich folgern: Der Mensch des 21. Jahrhunderts wird unter anderen Lebensdingungen existieren als die früheren Generationen. In Zukunft ist sogar von einem neueren Typus von Familie und Gesellschaft zu reden. Die daraus resultierenden Trends können nach Meinung der Bundesbank aufgehalten werden. Denn 1. besteht noch ein zehnjähriges Zeitfenster, bevor die demographischen Entwicklungen wirksam werden. 2. gibt es eine Reihe von Optionen, mit denen die Belastungen aufgefangen werden können. Und schließlich 3. ist das noch ungenutzte Potential an Gegenmaßnahmen in Deutschland recht hoch61. 3.2 Der Generationenvertrag Zur Kennzeichnung der Solidarität unter den Generationen wird vielfach der Begriff des Generationsvertrages benutzt. Dieser Begriff will allein darauf verweisen, dass es sich hier nur um eine Solidarität zwischen den Generationen handelt62. Mit dem Begriff des Generationenvertrages ist keine verwandtschaftliche Beziehung, sondern eine soziale Beziehung gemeint. Allerdings versteht man unter ihm auch keinen Vertrag im juristischen Sinn. Er ist vielmehr eine Art von Solidarität. Der Generationenvertrag bezieht sich auf die lebenden drei Generationen, nämlich der Jungen als noch nicht Erwerbstätigen, der Erwachsenen als 60 61 62

Opaschowski, Horst W. (2004), S. 97. Vgl. Monatsbericht, S. 26. Vgl. Lehmann, Karl (2003), S. 14.

3. Die Mehrgenerationenfamilien

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Erwerbstätigen, etwa im Alter von zwanzig bis 60 Jahren, und der Alten als den nicht mehr Erwerbstätigen im Alter von über sechzig Jahren. Im Generationenvertrag kann es um Erwerbstätige und Rentner, um unterschiedliche Lebensschicksale zwischen Geburtskohorten oder etwa um eine Umverteilung der Güter gehen. Darüber hinaus ist zwischen gesellschaftlichen Generationen im selben Lebenszyklus die Rede. Der Generationsvertrag wurde erstmalig im Jahr 1955 von Wilfried Schreiber, dem Vater der dynamischen Rente – geschaffen oder mindestens von ihm als Solidarvertrag zwischen zwei Generationen in die Diskussion eingeführt. Mit dem Begriff eines Generationsvertrages ist heute also nicht mehr der von alters her verstandene Sachverhalt eines Verwandtschaftsverhältnisses angesprochen, sondern eine politische Größe. Dem Generationsvertrag entsprechend soll das Lebenseinkommen auf die Lebensphasen der Kindheit, der Jugend, des Arbeitsalters und des hohen Alters verteilt werden. Es wurde also nicht nur ein Vertrag zwischen der Erwerbsgeneration und dem Alter, sondern zwischen diesen beiden Generationen und den nachwachsenden Kindern geschlossen. Das ist für Wilfried Schreiber der Grund für einen doppelten Generationsvertrag, nämlich einen, der die erwerbstätige Bevölkerung und die Alten, und einen anderen, der die Erwerbstätigen und die nachwachsende Generation umfasst, auch wenn sich die beiden Interessenlagen nicht eindeutig bestimmen lassen63. Der Inhalt des Generationenvertrages ist der „Austausch von Lebensressourcen, die weder auf strikter Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung noch auf voller Reziprozität beruhen“64. Der Generationenvertrag moderner Prägung hat eine Umverteilung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der Lebenszyklen zum Ziel. Es geht dabei also um eine „intergenerationelle Solidarität“65. In Deutschland ist diese im famialen Bereich gegenwärtig gestört. Denn die Familie hat nicht mehr den Stellenwert vergangener Zeiten. Vor allem innerhalb der sozialen Sicherungssysteme, besonders bei der Rentenfrage oder in der Problematik der exorbitanten Staatsverschuldung, ist von einer Krise der intergenerationellen Solidarität zu sprechen. Da ständig mehr Menschen ein immer höheres Lebensalter erreichen, bedeutet das eine wachsende Herausforderung für den Einzelnen, die Familie und die Gesellschaft. Der demographische Wandel wird sich auf alle Lebensbereiche ausdehnen. Etwaige Veränderungen sind im Einzelnen noch nicht abzusehen.

63 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver, Gibt es einen Generationenvertrag, in: FAZ vom Montag, den 12. Juli 2004, S. 7. 64 Der Deutsche Bundestag, Enquête-Kommission, S. 37. 65 Ebenda.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

Der demographische Wandel vollzieht sich unter schnellen sozialen und technischen Veränderungen. In der wissenschaftlichen Forschung wird der Generationenbegriff unterschiedlich gebraucht66. Unterschieden wird zwischen einer familialen und einer gesellschaftlichen Betrachtungsweise. Wird der Generationenbegriff auf das Lebensalter oder den Geburtsjahrgang bezogen, spricht man von Kohorten und Altersgruppen. Der familiale Generationenbegriff umgreift die Abfolge von Großeltern, Eltern, Kindern Enkeln usw. Er zeichnet sich durch wechselseitige Beziehungen und Gefühlsinhalte aus. Der gesellschaftliche Generationenbegriff erfasst solche Personengruppen, die zur selben Zeit geboren wurden und dieselben oder die gleichen Erfahrungen gemacht haben (z. B. Kriegsgeneration, Nachkriegs-, oder Wirtschaftswundergeneration, 68 Generation etc). Dieser Generationenbegriff erfasst vor allem die gesetzlichen Übereinkünfte der jüngeren oder älteren Generation. In ihm wird nach einer politischen (68 Generation), kulturellen (Spaßgesellschaft) oder ökonomischen Generation (Wirtschaftswunder- oder Wohlstandsgesellschaft) differenziert. Alle diese Begriffe zusammen „spiegeln das wider, was heute unter gesellschaftlichen Generationen zu verstehen ist“67. Es gibt eine Solidarität der Generationen. Der ältere Mensch ist auf die Solidarität der Jüngeren angewiesen. Die Jüngeren haben sich um den Schutz und um die Versorgung der Alten zu kümmern. Denn auch sie wollen eine ähnliche Hilfe einmal in ihrem Alter erleben. Der Gedanke der Solidarität zwischen den Generationen ist besonders im Vierten Gebot, dem so genannten Elterngebot, ausgebreitet: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lang lebst in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird“ (Ex. 20,12)68. Das ist das erste der Sozialgebote! Es wird gern als Ausdruck eines patriarchalischen Verhaltens gedeutet. Die Autorität und der Gehorsam werden hervorgehoben. Zur Bestimmung des Generationsverhältnisses gehört aufgrund der unterschiedlichen Einstellungen, Hoffnungen und Ziele der Jüngeren gegenüber den Älteren seit alters neben der Generationssolidarität auch der Konflikt zwischen den Generationen. Immer schon herrschen zwischen der jungen und alten Generation unterschiedliche Auffassungen über viele Dinge des Lebens. Es existiert nicht nur ein Für- und Miteinander, sondern auch ein Gegeneinander. Dabei geht es einerseits um die Hilfestellung der Eltern für ihre Kinder und andererseits um die Verpflichtung der Jugend, für die älter gewordene Generation zu 66 67 68

Vgl. Der Deutsche Bundestag, Enquête-Kommission, S. 36 f. Opaschowski, Horst W. (2004), S. 55. s. unten 5. Kapitel, 5.

3. Die Mehrgenerationenfamilien

155

sorgen. Man spricht gar vor der „Drei-Generationen-Solidarität“. Freilich könnte man auch einfach von einer „Mehr-Generationen-Gesellschaft“ sprechen69. Aber während sich in früheren Zeiten die jüngere Generation von der älteren glaubte, „befreien“ zu müssen, ist heute der umgekehrte Vorgang zu verzeichnen: Die Älteren müssen sich gegenüber den Jüngeren behaupten. Die Solidarität zwischen den Generationen stellt nur die eine Seite des Generationsvertrages dar. Die andere Seite ist durch ein im familialen Bereich vorhandenes Konfliktpotential zu kennzeichnen. Im Laufe der Jahrhunderte gab es viele konfliktreiche und auch harte Auseinandersetzungen zwischen den Generationen. Konfliktsituationen können ganz einfach durch den Meinungsaustausch zwischen den Generationen auftreten. Dazu gehört etwa das Aushandeln des Verteilungsanspruchs unter den Generationen. Heute freilich entsteht solches Konfliktpotential zusätzlich in der Weitergabe bzw. Aneignung der christlich-humanen Solidarität. Viele westliche Gesellschaften entfernen sich in der Gegenwart von ihren überlieferten Werten. Ältere und jüngere Generationen gehören jedoch zusammen auf dieser Erde. Die älteren Generationen dürfen nicht einfach die Ressourcen „verwirtschaften“, sondern müssen die Lebensgrundlagen auch für die nachwachsenden Generationen erhalten. Andererseits bleibt die Fürsorge der Jüngeren gegenüber den Älteren weiterbestehen. Alle haben sie die Würde, ein Geschöpf Gottes zu sein, keiner darf einfach – weil „unbrauchbar“ – „entsorgt“ werden. Ein weiteres Engagement besteht in der Sorge für die in Zukunft zu erwartenden Generationen. Es ist kaum möglich, sich bereits heute auszumalen, unter welchen Vorstellungen und Erwartungen die künftigen Generationen leben werden. Aber alle gegenwärtig Lebenden tragen die Verantwortung für die nächste und für die künftigen Generationen. Sie sind damit Sachverwalter für die Überlebensfähigkeit der nachwachsenden Generationen. Darum sind allen Generationen die Erhaltung der Schöpfung und die Bewahrung der Natur aufgetragen. Herwig Birg hat auf den Zusammenhang von Gestaltungskraft der Generationen und Ethik hingewiesen, als er schrieb: „Jede Kultur, jede Gesellschaft lebt von der Geltungskraft ihrer ethischen Prinzipien. Ethische Maßstäbe können zwar nicht absolut gelten, wenn die Lebenswirklichkeiten unterschiedlich sind, aber trotz aller Relativität der kulturellen Werte gibt es einen Punkt, bei dem auch die unterschiedlichsten Kulturen mit ihren voneinander abweichenden Ethik- und Wertesystemen verglichen werden können: Dies ist die Fähigkeit und Bereitschaft der Menschen, über das eigene Leben hinaus zu denken, zu planen und darauf aufbauende Entscheidungen für die Zeit jenseits ihrer Le69 Lehmann, Karl, Seid fruchtbar und mehret Euch – und ehret Eure Eltern!, in: Bund Katholischer Unternehmer, Grüne Seiten Nr. 61, Dezember 2004, S. II.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

bensspanne zu treffen. Eines der wichtigsten Ergebnisse solcher Entscheidungen sind die Kinder, die die demographische Reproduktion gewährleisten“70. Und damit ist das Stichwort einer Verantwortung für die zukünftige Generation thematisiert. Denn es geht um einen Erhalt der Lebensbedingungen der nachwachsenden Generationen. Darum besteht nicht nur die natürlich Konfliktsituation der Alten gegenüber den Jüngeren bzw. umgekehrt der Jüngeren gegenüber den Älteren, sondern mindestens ebenso der Jüngeren gegenüber den noch ungeborenen Generationen. Die intergenerationelle Solidarität erstreckt sich also heute über mehrere Generationen. Der Inhalt des Vierten Gebotes ist keineswegs nur ein Versorgungs- und Umgangsgebot. Vielmehr geht es auch um die Ehrerbietung, die von den Generationen untereinander zu bezeugen ist. Dabei ist es notwendig, die Verantwortung gerade auch im Hinblick auf die zukünftigen Geschlechter wahrzunehmen! Dieses war in früheren Jahrzehnten nicht so. Denn die Auswirkungen des menschlichen Handelns erstreckten sich nicht auf viele Generationen, sondern nur auf zwei oder höchstens drei. Das jedoch hat sich geändert! Das 4. Gebot wird keineswegs nur als eine Aufforderung verstanden, die sich an die jüngere Generation richtet, für die Elterngeneration zu sorgen, sondern zugleich als Forderung der älteren Generation gegenüber der jüngeren, diese mit materiellen Gütern wie Nahrung, Kleidung, Wohnraum und mit immateriellen Gütern wie Liebe auszustatten. Denn schließlich sind sie später auf die Jüngeren angewiesen. Darüber hinaus erhalten die Eltern die Aufgabe, der nachfolgenden Generation die Thora weiterzugeben71. Die Eltern haben also die Vermittlungsaufgabe. Diese Erzählinstitution muss erhalten werden – von den Alten und den Jungen. Beim Propheten Joel heißt es wörtlich: „Sagt euren Kindern davon und laßt’s eure Kinder ihren Kindern sagen und diese wiederum ihren Nachkommen“ (Joel. 1,3). „Es besteht kaum ein Zweifel, dass dieser generationsübergreifende Zusammenhang, der den Glauben kommenden Generationen weitergibt, für das Überleben nicht zuletzt auch des Judentums und des christlichen Glaubens über Tausende von Jahren eine entscheidende Rolle spielt“72. Die Eltern haben sich um die Glaubensüberzeugung ihrer Kinder zu sorgen. Ihnen obliegt es also, die materiellen und immateriellen Lebensvoraussetzungen zu Gunsten der Jüngeren zu gestalten. Es geht dabei um die Fürsorge und Versorgung der jungen Generation durch die ältere. In den früheren Jahrzehnten gehörte dazu auch die Erzie70 Zitat aus: Lehmann, Karl, Zusammenhalt und Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung zwischen den Generationen, H. 24, Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz v. 22. Sept. 2003, S. 36. 71 5. Mos. 11,18 ff. Vgl. Lehmann, Karl (2003), S. 21 ff. 72 Lehmann, Karl (2003), S. 22.

3. Die Mehrgenerationenfamilien

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hung mit den entsprechenden Hinweisen für eine wertorientierte Lebensweise. Heute hat sich gerade die Autorität der Älteren in dieser Hinsicht aufgelöst. Damit ist sicher manches Konfliktpotential entzerrt worden. Das Zusammenspiel zwischen den Generationen umfasst also, anders ausgedrückt, mindestens die Großeltern – Eltern- und Kindergenerationen. Das jeweilige Vorleben der Elterngeneration kann als beispielhaft für die Entscheidungen der Kindergenerationen angesehen werden. Die eine Generation ist bereits in der Rente, die zweite wird bald dahin kommen, die dritte sichert den Lebensabend dieser beiden anderen Generationen. Die Absicherung des Alters ist für den Menschen von großer Bedeutung. Dabei stellen die materielle und die immaterielle Versorgung des Menschen einen Teil der Menschenwürde und der Freiheit des Menschen dar. Wenn es um die Sicherheit des Alters geht, treten viele Probleme auf, die den einzelnen Menschen und sogar das ganze Gemeinwesen beeinflussen. Die Systeme für die Alterssicherheit sind heute insgesamt fast an den Rand der Unbezahlbarkeit geraten. Der Rückgang der Geburten und eine gestiegene Lebenserwartung haben ihre Auswirkungen auf die Sicherheit im Alter. Denn je weniger Menschen aus der nachwachsenden Generation in das Erwerbsleben einsteigen, umso weniger Beitragzahler stehen zur Verfügung. Sollten außerdem aufgrund der hohen Arbeitslosenzahl immer weniger Menschen als Beitragszahler zur Verfügung stehen, erhöht sich die Zahl der Rentenbezieher, deren Renten dann von einer immer kleiner werdenden Zahl von Erwerbstätigen in der jüngeren Generation finanziert werden müssen. Das gilt insbesondere für die umlagefinanzierten Alterssicherungssysteme. Es sollte aber grundsätzlich den Menschen freigestellt sein, wie sie für ihr Alter vorsorgen. Immerhin kennt die internationale Diskussion um die Alterssicherung heute drei Säulen73: Säule 1: Die solidarische Kernsicherung. Säule 2: Die betriebliche Alterssicherung. Säule 3: Die private Eigenvorsorge. In Zukunft wird der privaten Eigenvorsorge ein bedeutend größerer Raum eingeräumt werden müssen. Dabei wird man auch der steuerlichen Förderung einen entsprechenden Umfang zubilligen. Freilich müssten ebenfalls die betrieblichen Alterssicherungssysteme ausgebaut werden. Altersvorsorge ist eine gemeinsame Aufgabe der Wirtschaft und des Staates in der Gesellschaft. Der Investivlohn könnte in diesem Zusammenhang ein besonderes Angebot in der 73 Vgl. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofkonferenz, Gemeinsame Texte 16, Verantwortung und Weitsicht, Bonn u. Hannover 2000, S. 10.

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4. Kap.: Die Zukunft der Gesellschaft

Verknüpfung von privater und betrieblicher Altersvorsorge sein, wenn er als Grundlage zur Eigentumsbildung benutzt wird74. 3.3 Altersteilzeit In der Bundesrepublik Deutschland hat man zur Förderung des gleitenden Übergangs in den Ruhestand 1996 ein Altersteilzeitgesetz erlassen. Man wollte damit den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand für die älteren Arbeitnehmer erleichtern und fördern. Gleichzeitig sollte vorrangig den Auszubildenden der Einstieg ins Arbeitsleben erleichtert und den Arbeitslosen eine neue Beschäftigungsmöglichkeit eröffnet werden. Allerdings müssen in der neueren Form des Altersteilzeitmodells einige Voraussetzungen erfüllt sein, so zum Beispiel: Beim Arbeitnehmer die Vollendung des 55. Lebensjahres, eine Verminderung der Arbeitszeit nach dem 55. Lebensjahr, um damit die Einstellung eines sonst arbeitslosen Arbeitnehmers zu ermöglichen, der Abschluss einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wonach die Arbeitszeit um die Hälfte reduziert wird. Der Arbeitnehmer muss in den letzten fünf Jahren mindestens an 1080 Tagen in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Im Unterschied zur normalen Teilzeitarbeit hat der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt um mindestens 20% heraufzusetzen. Außerdem ist der Arbeitgeber verpflichtet, um eine Rentenminderung zu verhindern, auch den gesetzlichen Rentenbetrag aufzustocken. Es kommen noch weitere kleinere Merkmale für die Wahrnehmung der Alterteilzeit hinzu. Die Altersteilzeit – in welcher Gestalt auch immer – wird dem einzelnen Arbeitnehmer eine Möglichkeit schaffen, selbst noch in einem begrenzten Maße erwerbstätig zu sein. Sie wird allerdings zum Abbau der Arbeitslosigkeit nicht beitragen. Individualethisch kann sie also durchaus ein Gewinn sein.

74 Vgl. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofkonferenz, Gemeinsame Texte 16, S. 16.

5. Kapitel

Altersbilder in der Antike In den Industriegesellschaften begann das Alter meistens mit dem Eintritt in den beruflichen Ruhestand. Für die Gegenwart freilich ist die Entwicklung sehr viel differenzierter zu sehen. In der Antike war das Alter keine klar bestimmte Phase im Leben des Menschen. Seine Stellung in der Generationenfolge gab an, ob der Mensch als alt galt. In der griechischen Sprache und Geschichte wurde der Begriff des Preby´teros zunächst als Komperativ von présbys (alt) benutzt1. Es ist die Bezeichnung des Älteren von zwei Personen. Man konnte damit aber einfach alt oder die Alten meinen2. Im Gegensatz dazu wird die Altersstufe des Jugendlichen mit néos (neu) beschrieben3. Eine ganze Reihe von Faktoren bestimmten, wie in der Antike die Gesellschaft Menschen im fortgeschrittenen Alter behandelte. Zwei Konstanten existieren, die den Umgang mit alten Menschen deutlich charakterisieren. Die eine betrifft das „Missverhältnis von gesellschaftlicher Wertschätzung“ und den sozialen Einfluss sowie die wirtschaftliche Macht4. Die alten Menschen wurden zwar aufgrund ihres Alters geehrt, aber politisch und wirtschaftlich wurden die meisten von ihnen an den Rand gedrängt. Die andere Konstante im Umgang mit den Alten besteht in der Ehrlichkeit, mit der die Gesellschaft sie behandelte und betrachtete. „Der antike Menschen unterdrückte nicht das praktische Wissen über die Natur des Menschen, der altert, körperlich, emotional und (oft auch) geistig abbaut und schließlich stirbt“5. Der antike Mensch verdrängte darum nicht das „,kranke Alter‘ aus der öffentlichen Wahrnehmung“ – im Gegensatz zur gegenwärtigen Zeit6.

1

s. unten 5. Kapitel, 5. Vgl. Bornkamm, Günther, Presbys, in: Gerhard Friedrich (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch Bd. 6, Stuttgart 1959, S. 652. 3 Vgl. Behm, Johannes, néos, Gerhard Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch Bd. 4, Stuttgart 1942, S. 899. 4 Vgl. Gutsfeld, Andreas, Epilog, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 211 f. 5 Gutsfeld, Andreas, Epilog, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 212. 6 Ebenda. 2

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5. Kap.: Altersbilder in der Antike

Mit Blick auf das Alter kannte man mindestens zwei oder sogar drei Phasen: Mit 50 Jahren war man ein senior oder veteranus, mit sechzig Jahren ein senex, gravis oder maturus. Alles, was über das 80. Lebensjahr hinausgeht, ist die Zeit der „,Jahre des höchsten Alters‘, die anni ultimi senectutis“7. Der römische Bürger war von diesem Zeitpunkt an von allen persönlichen Leistungen befreit. Das Armutsrisiko blieb bei den einzelnen Betroffenen bzw. bei ihren Angehörigen oder Freunden. Man wollte darum bis ins hohe Alter möglichst unabhängig sein. Aber es gab durchaus eine moralische Verpflichtung der Kinder, für ihre alten Eltern zu sorgen, obwohl viele Kindern selbst in Armut lebten und ihren Eltern nicht helfen konnten. Je nach der sozialen Schicht, der man angehörte, entschied sich das Altersschicksal. Aber auch für die nachwachsende Generation galt nicht ein Lebensrecht für alle. Denn kleine Kinder hatten bei den Griechen und Römern in der Antike nicht automatisch ein Recht auf Leben. Beide Völker töteten schwache oder missgestalteten Kleinkinder, indem sie diese in Gebirgsgegenden aussetzten. Platon und Aristoteles meinten sogar, der Staat solle die Tötung von missgestalteten Kindern durchsetzen8.

1. Die Alten im antiken Athen Lange Zeit herrschte die Vorstellung, dass im antiken Griechenland eine Drei-Generationen-Familie existierte. In dieser lebte der Großvater – von der Sohnesgeneration versorgt – im Kreis von dessen Familie. Der Hausvater umhegte ihn. Die Großmutter versorgte mit der Bäuerin den Hof und den Haushalt. Diese Auffassung aber ist überholt. Im antiken Athen herrschte der Vater als Familienvater. Er war der Kyrios, der bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr das Leben der Familie bestimmte. Dann ging er auf das Altenteil des Hofes und unterstellte sich der Autorität seines etwa dreißigjährigen Sohnes. Mit sechzig Jahren begann in der griechischen Antike das Alter. Es war nur selbstverständlich, dass die jeweilige Vätergeneration diese Übergabe hinauszögerte! Für das antike Griechenland war also die Abhängigkeit der Vätergeneration von den Söhnen groß. Die Lebensdauer wird mit immerhin 70 bis 80 Jahren angegeben. Die Väter hatten sich letztlich im Alter den Söhnen unterzuordnen. Denn die Alten hatten nach athenischer Auffassung den Jungen Platz zu machen. Sie wurden an den Rand gedrängt, während die Jugend einen Wert an sich dar-

7 Vgl. Herrmann-Otto, Elisabeth, Die ,armen‘ Alten. Das Neue Modell des Christentums?, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 182. 8 Vgl. Singer, Peter, Praktische Ethik, Stuttgart 1984, S. 107.

1. Die Alten im antiken Athen

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stellte9. Von der Jugend und deren körperlicher Schönheit und Kraft wird ein hohes Lied gesungen. Die Alten aber bringen keinen Nutzen mehr. Das Greisenalter hatte im antiken Griechenland einen schweren Stand. Denn es herrschten bei den ganz alten Menschen Leid und Gebrechen! Zwar war das Alter in Griechenland gleichsam abstrakt hoch geehrt. Und die Achtung des Alters wurde in ganz Griechenland als eine soziale Norm angesehen. Die alltägliche Einstellung gegenüber den alten Menschen sah oftmals anders und gar nicht positiv aus. Denn im klassischen Griechenland galt das überlieferte und von Platon herausgestellte Rangverhältnis zwischen den Jüngeren und Älteren, das den Älteren in eine günstige Position gebracht hatte, nicht mehr. Der Jüngere brauchte nicht mehr wegen des höheren Alters auf den Älteren zu hören! Die positive Bewertung des Alters, wie man sie gemeinhin in der westlichen Welt aus der antiken Welt glaubte herauslesen zu können, ist also zu differenzieren. Denn es gab keineswegs immer nur Lob für das Alter, sondern auch Kritisches zu hören. Generell zählte man die alten Menschen im antiken Athen nicht zu denen, die im Mittelpunkt standen. Man drängte sie politisch und sozial an den Rand der Gesellschaft. Sie konnten von der Demokratie nicht profitierten10. Darüber hinaus herrschte zwischen Athen und Sparta in der Beurteilung der Alten ein erheblicher Unterschied. Zwar beginnt etwa mit sechzig Jahren bei den Griechen das Alter. Aber auch die Zeit zwischen fünfzig und siebzig Jahren spielt im Leben der Menschen eine große Rolle. Das Lebensalter von siebzig nahm bei Solon und Platon einen besonderen Rang ein. Insgesamt ist bei den Schriftstellern aber ganz Unterschiedliches über das Alter zu lesen. Selbst Platon und Aristoteles kamen bei ihren Gedanken über das Alter zu unterschiedlichen Schlüssen. Platon hat dazu einige Überlegungen im Buch „Der Staat“ (Politeia) geäußert. Das Lob des Alters wird dem Kephalos, dem Gesprächspartner des Sokrates, in den Mund gelegt: „Je mehr mir die leiblichen Genüsse verblassen, desto größere Lust und Freude habe ich an Gesprächen“11. Sokrates erwiderte ihm, dass auch er sich gern mit ganz alten Menschen unterhalte, da sie Erfahrungen gesammelt hätten, von denen man nur profitieren könne.

9

Vgl. Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 65. Vgl. Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 86. 11 Platon, Der Staat (Politeia), (Übers. Rudolf Rufener) Zürich 1950, 1. Buch 327, a–c. 10

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5. Kap.: Altersbilder in der Antike

Demgegenüber kommt Aristoteles zu einem anderen Ergebnis. Für ihn ist ein schönes Alter jenes, „das die Gemessenheit der fortgeschrittenen Jahre hat, aber ohne Gebrechen. Es hängt von den körperlichen Vorzügen ab, die man besitzt, aber auch vom Zufall“, so liest man in seiner Rhetorik12. Der Körper der Alten muss intakt bleiben und sich wohlfühlen. Dann kann auch das Alter glücklich sein. Aber insgesamt schätzte man das Greisenalter negativ ein. Aristoteles sah die alten Männer als misstrauisch, geldgierig und selbstsüchtig an. Trotzdem kommt die Altersweisheit zu ihrem Recht, obwohl er die Gerusia in Sparta kritisierte. Plutarch hat sich im 1. Jahrhundert n. Chr. nicht der Meinung Platons, sondern der des Aristoteles’ angeschlossen. Ebenfalls sieht Horaz wie Aristoteles den Greis als geizig, geldgierig und als ein Nörgler an.

2. Die Alten in der Gesellschaft Spartas In Sparta besitzen im Gegensatz zu Athen die Alten Macht und Autorität. Mitglied der Gerusia, des Rates der Alten, wurde man erst mit 60 Jahren. Dieses Amt konnte dann ein Leben lang ausgeübt werden. Die spartanische Herrschaft war eine Gerontokratie, an deren Spitze die über sechzigjährigen Alten standen13. Sie definierten und überwachten die politischen und sozialen Normen14. Die Alten garantierten diese soziale und politische Ordnung. Die Mitgliedschaft im Rat der Alten war besonders von der Verantwortung gegenüber der Jugend geprägt. Die Jugend respektierte das Alter. Das Ziel der spartanischen Erziehung war, die Kinder in die Gemeinschaft zu integrieren. Es ging nicht um Bildung, sondern um Gehorsam und Ehrfurcht bzw. Respekt15. Diese Einstellung wurde den Kindern antrainiert. Überhaupt war das Alter in der spartanischen Gesellschaft ein sozialer Wert. Es galt in ganz Sparta, die Alten zu achten und zu ehren. Autorität gewann man in Sparta allein durch das Alter. Plutarch sprach voller Bewunderung von der Verehrung der Alten in Sparta: „Als ein Fremder nach Lakedaimon kam und dort die Ehrenbezeugungen sah, die die Jüngeren den Älteren erwiesen, rief er aus: ,In Sparta allein lohnt es sich alt zu werden‘“16. Für Aristoteles ist es bedenklich, dass die Räte in Sparta eine lebenslange Funktion innehatten, die ihnen wichtige Entscheidungen übertrug17. In der Zitiert nach Beauvoir, Simone de, Das Alter, Reinbek 22004, S. 140. Vgl. Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 105. 14 Vgl. Schmitz, Winfried, Nicht ,altes Eisen‘, sondern Garant der Ordnung. Die Macht der Alten in Sparta, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 100. 15 Vgl. Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 94. 16 Vgl. Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 111. 17 Aristoteles, Politik, Nr. 1271a. 12 13

3. Die Alten im republikanischen Rom

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„Politik“ äußert sich Aristoteles dann kritisch zum Alter. Schließlich hat auch der Geist wie der Körper seine Zeit. Das heißt, auch er wird alt. Und ferner war die Erziehung der Geronten nicht so beschaffen, dass der Gesetzgeber keinen Anlass gehabt hätte, misstrauisch zu sein. Es zeigte sich vielmehr, dass auch sie bestechlich waren und viele öffentliche Angelegenheiten nach ihrer Gunst behandelten. Deshalb möchte Aristoteles die Alten von der Macht fernhalten. In Athen dagegen herrschte eine demokratische Ordnung. Sie grenzte die Alten aus.

3. Die Alten im republikanischen Rom Aus der frühen Geschichte Roms ist bekannt, dass bei den Römern die seltsame Gewohnheit bestand, sich der Alten aus der führenden Schicht zu entledigen, indem man sie ertränkte; „denn man sprach davon, sie ad pontem zu schicken, und nannte die Senatoren depontani“18. In der späteren Zeit aber ist davon keine Rede mehr. In der späteren römischen Republik hatten die Alten einen weitaus besseren Stand, besser sogar als in dem demokratischen Athen. Allerdings bestand ein Unterschied zwischen den Alten der Oberschicht und denen der Masse. In der römischen Antike hatte der pater familias ein Leben lang die hausväterliche Gewalt inne. Diese vereinigte sich mit der politischen Gewalt. Den Alten – und nicht nur denen, die in den Senat aufgenommen wurden – wurde auch von der Jugend eine hohe Wertschätzung zu teil. In Rom war der Senat – abgeleitet vom lateinischen Wort senex (Greis, Alter) – das wichtigste politische Organ. Aber er bildete nicht wie die Gerusia in Sparta ein Gremium der Alten. Während in Sparta das Mindestalter von 60 Jahren die Voraussetzung für die Mitgliedschaft war, bestand im Rom des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. der Senat primär aus den Ältesten der führenden Familien und Geschlechter. Später kamen die politischen Amtsträger nach dem Ende ihrer Amtszeit automatisch in den Senat. Das konnte für sie bereits in der Mitte von dreißig Lebensjahren sein19. Der ältere Marcus Tullius Cicero hat das Lied des Alters gesungen. Er war bereits zweiundsechzig Jahre alt, als er im Jahr 44 v. Chr. sein Werk Cato maior de senectute schrieb. Dieses ist nach Meinung der meisten Interpreten sein bestes Buch. In diesem Opus über das Alter diente dem Autor sein vier Jahre älte-

Beauvoir, Simone de (22004), S. 143. Vgl. Brandt, Hartwin, ,Die Krönung des Alters ist das Ansehen‘. Die Alten in der römischen Republik, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 141. 18 19

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5. Kap.: Altersbilder in der Antike

rer Freund Cato der Ältere, der den Beinamen Attikus trug, als Vorbild. Ihm widmete er auch sein Buch. Cicero lässt seinen Helden vier Klagen über das Alter äußern, die er im Fortgang seines Werkes jeweils entkräftete20: 1. Das Greisenalter zwingt zur Untätigkeit. Aber es gibt genug ruhmreiche Männer, die im Alter aktiv waren (5,15). Außerdem werden große Dinge nicht durch körperliche Kraft erreicht, sondern durch „Planung“ (consilio), „Geltung“ (auctoritate) und „Entscheidung“ (sententia)“ (6,17). 2. Das hohe Alter schwächt den Körper. Aber dagegen steht die Leistung des Geistes und des Verstandes (11,38). „Man muss gegen das Alter wie gegen eine Krankheit kämpfen; man muss gesundheitliche Rücksichten nehmen und sich maßvollen Übungen unterziehen; man sollte so viel essen und trinken, dass man seine Kräfte stärkt und nicht belastet“ (11,35 f.). 3. Das Alter lässt keine Genüsse und Freuden mehr zu. „Welch herrliches Geschenk des Lebens, wenn es uns wirklich das nimmt, was in der Jugend die schlimmste Quelle des Lasters ist“ (12,39). Vielmehr aber vernebeln jugendliche ungezügelte Leidenschaft und sinnliches Begehren den Verstand und verhindern rationales Handeln: „Die Lust behindert ja die Überlegung, sie ist die Feindin der Vernunft, sie blendet sozusagen die Augen des Geistes, und sie verträgt sich überhaupt nicht mit der Tugend“ (12,42). Befriedigendere Genüsse als Festmähler, Spiele oder Dirnen bietet die Praxis der kultivierten Rede (14,50). Cicero selbst sieht eine besondere Erfüllung in der landwirtschaftlichen Tätigkeit. Sie liefert das Glück der Pflichterfüllung (15,51). 4. Hohes Alter steht im Schatten des nahen Todes. Aber der Tod ist allen Alterstufen gemeinsam (mortem omni aetati esse communem (19,68). Der Tod ist ein naturgemäßer Bestandteil des Lebens. Aber der Mensch wird durch den Tod nicht einfach ausgelöscht (20,73 ff.). „Man muss jeweils mit dem zufrieden sein, was einem an Zeit zum Leben vergönnt ist“ (19,69). Aber es kommt nicht auf die Länge, sondern auf die Qualität des gelebten Lebens an21. Plinius d. Ä. 23/24–79 n. Chr. äußerte sich kritisch über das Altern, wenn er schreibt: „Die Kürze des Lebens ist sicherlich die größte Wohltat der Natur. Die Sinne stumpfen ab, die Glieder werden steif, die Sehkraft, das Gehör, die Beine, sogar die Zähne und der Verdauungsapparat gehen unserem Tod voraus“22.

20 Cicero, Tullius, Cato maior de senectute, Harald Merklin (Hrsg.), Stuttgart 1998, 5, 15 ff. 21 Vgl. Brandt, Hartwin, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 151 ff. 22 Beauvoir, Simone de (22004), S. 154.

4. Die Alten in der Kaiserzeit

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Horaz und Ovid sehen in ihrer Jugend das Alter nicht als eine allgemeine Situation, sondern als ein individuelles Schicksal, das es zu ertragen gilt.

4. Die Alten in der Kaiserzeit In der Kaiserzeit – etwa währender Regierung von Augustus – war das Alter nicht mehr die Voraussetzung für den Vorrang eines der beiden Konsuln, sondern nun bildeten der Familienstand und die Kinderzahl wichtigere Kriterien23. Da die römische Gesellschaft die soziale, politische und wirtschaftliche Stellung miteinander verband, kann man durchaus mit Recht fragen, ob die Alten in dieser Zeit mit der Minderung ihres sozialen Status’ und dem zunehmenden Verlust an Machtfunktionen ihre Stellung auch in den anderen Status eingebüßt haben, so z. B. im familialen und politischen Bereich. Aber der pater familias übte im Regelfall bis zu seinem Lebensende die Herrschaft über die Familie aus. In der Kaiserzeit verfügte er als Familienvater im Gegensatz zur republikanischen Zeit allerdings nur noch über eine geringe Machtbefugnis. Gesellschaftspolitisch und für das Alter von Bedeutung ragen die Ehegesetze des Kaisers Augustus (27 v. Chr. – 14 n. Chr.) hervor. Er hat einige Aspekte des Ehelebens neu geregelt. Außerdem gibt es nunmehr Höchstgrenzen für das Alter im privaten Bereich; während bisher in der Republik Altershöchstgrenzen nur im öffentlichen Leben bekannt waren, galten solche nunmehr auch im privaten Bereich24. Der Zwang zur Ehe und das Gebot der Zeugung von legitimen Nachkommen war der besondere Inhalt der Gesetzgebung. Das Gesetz enthielt gewisse Zeitspannen, innerhalb derer Menschen verheiratet sein mussten. Wegen der Zielsetzung des Kaisers, der Zeugung von legitimen Nachkommen, wurde nunmehr bestimmt, dass die Frauen zwischen 25 und 50 und die Männer zwischen 25 und 60 verheiratet sein mussten. Aus der Verbindung von Freien sollten drei Nachkommen, aus der von Freigelassenen sogar vier hervorgehen. Alte, also Frauen über 50 und Männer über 60 Jahren, wurden in einer Sondergruppe zusammengefasst25. Sie waren nicht mehr an der Reproduktion von Menschen beteiligt. Damit tritt das Alter als eine eigenständige Phase der Lebenszyklen in Erscheinung. Die Alten waren eine schutzbedürftige Gruppe. Aber der Staat tat nichts zur Linderung der Not der Armut im Alter. Das änderte sich erst mit dem Christentum zu Beginn des 2. Jahrhunderts nach Chr.

23 Vgl. Gutsfeld, Andreas, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz, ,Das schwache Lebensalter‘. Die Alten in den Rechtsquellen der Prinzipatszeit, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 165. 24 Vgl. Gutsfeld, Andreas, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 162. 25 Ebenda.

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5. Kap.: Altersbilder in der Antike

5. Die Alten im antiken Christentum Mit dem Auftreten des Christentums setzten sich neue Leitbilder durch. Arme, Kranke, Bedürftige und vor allem Alte und Witwen wurden zum Zentrum der Fürsorge. Die christlichen Gemeinden haben bei ihrem Verhalten gegenüber den Alten die jüdische Tradition beibehalten. Dazu gehört das oben bereits zitierte Gebot des Gehorsams gegenüber den Eltern aus Exodus (2. Moses 20,12) bzw. Deuteronomium (5. Moses 5,16). An anderer Stelle des Alten Testaments – in den Sprüchen des Salomos – heißt es ähnlich: „Gehorche deinem Vater, der dich gezeugt hat, und verachte deine Mutter nicht, wenn sie alt wird“ (Spr. 23,22). In den Apokryphen bei Jesus Sirach ist zu lesen: „Suche nicht Ehre auf Kosten deines Vaters, denn das ehrt dich nicht. Denn den Vater ehren, bringt dir selber Ehre, und deine Mutter verachten, bringt dir selber Schande. Liebes Kind nimm dich deines Vaters im Alter an und betrübe ihn ja nicht, solange er lebt und habe Nachsicht mit ihm, selbst wenn er kindisch wird, und verachte ihn nicht im Gefühl deiner Kraft. Denn was du deinem Vater Gutes getan hast, das wird nie mehr vergessen werden, sondern dir für deine Sünden zugute kommen. Und in der Not wird an dich gedacht werden, und deine Sünden werden vergehen wie das Eis vor der Sonne. Wer seinen Vater verlässt, der ist wie einer, der Gott lästert; und wer seine Mutter betrübt. Der ist verflucht vom Herrn“ (Sirach, 3,12–18).

Das frühe Christentum schloss sich also dem Vierten Gebot des Dekalogs an. Es galt einerseits, Vater und Mutter zu ehren und andererseits, für die Kinder zu sorgen. Aber gleichzeitig war es dem Neuen Testament wichtig, die Eltern um Christi willen zu verlassen. Diese Aussage ist selbstverständlich nicht allein auf das Alter beschränkt. Im Blick auf das Alte und Neue Testament gilt, dass das Alter allein noch kein Verdienst an sich ist. Es ist auch als solches nicht ehrenswert. „Es ist nur dann verehrungswürdig, wenn der alte Mensch ein sittlich einwandfreies Leben geführt hat“26. Alt zu werden ist Gnade. Die Altenbetreuung ist darum ein Teil der allgemeinen Fürsorge der jungen Kirchen, zumal Jesus selbst seinen Jüngern mit auf den Weg gegeben hat: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (toúton tõn adelphõn mou tõn elachíston, emoì poiésate), das habt ihr mir getan“ (Matth. 25,40). Man kümmerte sich deshalb um Arme, Kranke, Witwen und Waisen, Gefangene und Fremde. Mit der Übernahme dieser Aufgabe steht die junge christliche Kirche ziemlich allein in der antiken Welt. Der römische Staat war kein Sozialstaat und kannte keine staatliche Sozialgesetzgebung, selbst wenn es hier und dort im 26 Herrmann-Otto, Elisabeth, Die ,armen‘ Alten. Das neue Modell des Christentums? In: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 185 f.

5. Die Alten im antiken Christentum

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Rahmen sozialer Verpflichtungen sowohl im Judentum als auch in der hellenistisch-römischen Antike zu einem so genannten Euergetismus (Leistung von guten Werken) kam27. Ein Wohlfahrtsstaat aber lag völlig außerhalb der Vorstellung. Indes, auch die private Wohlfahrtspflege reichte nicht aus. In den Schriften des Neuen Testaments – besonders in den Pastoralbriefen – aber auch im Judentum wurde der Begriff des Presbyteros (Ältere, Älteste) nicht einheitlich gebraucht. Er wird zur Altersbezeichnung (1. Tim. 5,1 u. 2) benutzt und als terminus technicus für das die Gemeinde leitende Amt (1. Tim. 5,17 ff.). Darunter waren der Älteste und die Ältesten zu verstehen28. Der Presbyter konnte ebenfalls ein Mitglied einer örtlichen Behörde sein. Im 1. Petrusbrief werden unter demselben Begriff der Presbyteroi sowohl die Ältesten im physischen Sinn als auch die angesprochen, die ein kirchenleitendes Amt innehaben (1. Petr. 5,1 ff.). Diesen Ältesten der Gemeinde haben sich die Jüngeren unterzuordnen (1. Petr. 5,4)29. Im 1. Timotheusbrief lassen sich besonders deutliche Aussagen zum Alter finden. Innerhalb einer Darlegung zur Gemeindeordnung werden zusätzlich zu den Herren und Sklaven, Männern und Frauen die alten Menschen beiderlei Geschlechts behandelt. In den allgemeinen Anweisungen für die Leitung einer Gemeinde geht der Briefschreiber auf die Behandlung der verschiedenen Altersstufen ein: „Einen älteren Mann sollst du nicht grob behandeln, sondern ihm zureden wie einem Vater. Mit jüngeren Männern rede wie mit Brüdern, mit älteren Frauen wie mit Müttern, mit jüngeren wie mit Schwestern, in aller Zurückhaltung. Ehre die Witwen, die rechte Witwen sind. Wenn aber eine Witwe Kinder oder Enkel hat, so sollen diese lernen, zuerst im eigenen Haus fromm zu leben und sich den Eltern dankbar zu erweisen; denn das ist wohlgefällig vor Gott“ (1. Tim. 5,1–4).

Im 1. Timotheusbrief werden also ausdrücklich die Witwen angesprochen. So werden rechte Witwen unter besonderen Bedingungen herausgestellt. Als solche „rechte Witwe“ gilt eine Frau dann, wenn sie a) über sechzig Jahre alt geworden ist, also das Ehegesetz des Augustus erfüllt, b) eines einzigen Mannes Frau war, also auf eine Wiederheirat verzichtet hat und c) Werke der Liebe, also Gutes getan hat. Dann wird sie in das Gemeinde-Verzeichnis der rechten Witwen eingetragen. Hat sie Kinder aufgezogen, sollen diese dem 4. Gebot gemäß ihre Pflicht an der Witwe erfüllen und sie ehren30. Dann würde sie der Gemeinde nicht zur Last fallen.

27 Vgl. Herrmann-Otto, Elisabeth, Die ,armen‘ Alten. Das neue Modell des Christentums? in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 203. 28 Vgl. Bornkamm, Günther, Presbys (1959), S. 666 f. 29 Vgl. Bornkamm, Günther, Presbys (1959), S. 665. 30 Ex. 20,12; Dt. 5,16 s. Luthers kleiner Katechismus.

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5. Kap.: Altersbilder in der Antike

Handelt es sich bei der rechten Witwe um eine Frau, die allein steht und also vereinsamt ist, dann hat die Gemeinde einzugreifen. Allerdings muss sie gastfrei gewesen sein, den Heiligen die Füße gewaschen, den Bedrängten beigestanden, ihre Hoffnung auf Gott gesetzt und beharrlich gefleht und Tag und Nacht gebetet haben. Eine solche rechte Witwe lernt aus dem Leid, das ihr Gott auferlegt hat31. In der Ordnung christlicher Lebensführung stehen im Titusbrief weitere Anweisungen an ältere Männer und Frauen: „Die älteren Männer sollen nüchtern sein, achtbar, besonnen, stark im Glauben, in der Liebe, in der Ausdauer. Ebenso seien die älteren Frauen würdevoll in ihrem Verhalten, nicht verleumderisch und nicht trunksüchtig; sie müssen fähig sein, das Gute zu lehren, damit sie die jungen Frauen dazu anhalten können, ihre Männer und Kinder zu lieben, besonnen zu sein, ehrbar, häuslich, gütig und ihren Männern gehorsam, damit das Wort Gottes nicht in Verruf kommt“ (Tit. 2,2–5).

Den älteren Männern und Frauen kommt also gegenüber den jeweils jüngeren sowohl im ersten Brief an Timotheus als auch im Brief an Titus eine Vorbildfunktion zu. Die älteren Frauen haben sich besonders in ihren häuslichen Aufgaben vorbildlich gegenüber den jüngeren Frauen zu erweisen. Aber von den Männern – und nicht nur von den jüngeren – wird nicht nur ein ehrfurchtsvolles Verhalten gefordert, sondern auch eine tugendhafte Vorbildfunktion der älteren gegenüber den jüngeren Männern. Denn, so heißt es etwa in der Haustafel im Brief an die Kolosser: „Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in allen Dingen; denn das ist wohlgefällig in dem Herrn. Ihr Väter, erbittert eure Kindern nicht, damit sie nicht scheu werden“ (Kol. 3,20 f.).

Von Jesus selbst wird über die Alten nichts gesagt. Aber sie sind im Katalog der Armen, Witwen und Waisen durchaus mit gemeint. Selbst für die spätere Zeit der jungen Kirche gilt das. In den Evangelien nach Markus und Matthäus wird von Jesu Rede berichtet, in der er den Widerspruch zwischen der rabbinischen Satzung und Gottes Gebot darlegt. Dabei geht er auf die Ehrerbietung gegenüber den Eltern ein. Er spricht zu den versammelten Pharisäern und Schriftgelehrten und sagt: „Ihr verlasst Gottes Gebot und haltet der Menschen Satzungen. Und er sprach zu ihnen: Wie fein hebt ihr Gottes Gebot auf, damit ihr eure Satzungen aufrichtet! Denn Moses hat gesagt (2. Mos. 20,12; 2,17): ,Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren‘, und ,Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben‘. Ihr aber lehrt: Wenn einer zu Vater oder Mutter sagt: Korban32 – das heißt Opfergabe 31

1. Tim. 5,5 ff. Das Wort Korban bezeichnet im A.T. das Gott dargebrachte Opfer. Im Judentum leitet es als Gelöbnisformel die Übereignung der Weihegeschenke an den Tempel ein. Danach wird dieser zum alleinigen Erben. Dieses Eigentum, das mit Korban Gott ge32

5. Die Alten im antiken Christentum

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soll sein, was dir von mir zusteht –, so lasst ihr ihn nichts mehr tun für seinen Vater oder seine Mutter und hebt so Gottes Wort auf durch eure Satzungen, die ihr überliefert habt; und dergleichen tut ihr viel“ (Mk. 7,8–13; vgl. Mt. 15,4–7).

Hier wird das Gebot des Dekalogs, das die Kinder verpflichtet, die Eltern zu ehren, in den Gegensatz zur so genannten Korban-Gesetzgebung gestellt. Mit seiner Hilfe wird der eigentliche Sinn des Gottesgebotes im Dekalog umgangen. Christus lehnt einen Hinweis auf den Korban als Entschuldigung ab. Darum stellt Jesus die Unterhaltsverpflichtung der Kinder gegenüber ihren Eltern wieder heraus. Diese kann durch keine andere Verpflichtung aufgelöst werden. Die Fürsorge für die alten Eltern bedeutet nicht eine Art Rückerstattung, sondern eine imitatio Christi. Das Christentum übernimmt zwar in aller Deutlichkeit die hierarchische Familienstruktur der Antike und damit auch die Überordnung der Älteren über die Jüngeren. Aber andererseits versucht es gleichzeitig, den jungen Menschen in der Kirche eine Chance einzuräumen33. Darum können nunmehr auch junge Männer in der Hierarchie der Kirche höhere Ämter wahrnehmen. Ingesamt aber muss erkannt werden, dass die Gleichheit aller Menschen vor Gott die hierarchischen Unterschiede relativiert. Darüber hinaus herrschte die Verpflichtung vor, allen Menschen gegenüber Nächstenliebe zu üben. Auch hier gab es kein Vorrecht des einen vor dem anderen.

weiht wurde, war nun Eigentum Gottes. Denn mit Hilfe des Korban-Gelübdes wird alles jedem anderen Dienst oder Gebrauch entzogen. Es ist heilig und so „jeglicher Möglichkeit profaner Nutzung entnommen“. Vgl. Rengstorf, Karl Heinrich, Korban, in: Gerhard Friedrich (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch Bd. 3, Stuttgart 1938, S. 862 f. 33 Vgl. Herrmann-Otto, Elisabeth, in: Andreas Gutsfeld, Winfried Schmitz (2003), S. 208.

6. Kapitel

Der Wohlfahrtsstaat Schon für Aristoteles galt die Staatsform als gut, die dem Gemeinwohl (tò koinè symphéron) dient. Schlecht dagegen war die Staatsform, die sich der Eigeninteressen der Herrschenden annimmt. Ziel der Staatsform musste es sein, für die Eudämonie (Glückseligkeit) der Bürger in der Polis zu sorgen. Dieses Glück wiederum ist gleichzusetzen mit dem Ausdruck des guten Lebens (eu zên), den Endzweck des sittlichen Handelns.

1. Das Gemeinwohl Der Sozialstaat oder das bonum commune wird heute durch die drei Elemente einer sozialen Gleichheit, sozialen Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit gebildet. Alle diese drei sozialen Grundpositionen zusammen erfüllen etwa das, was früher diesen Begriff des bonum commune oder heute den des Wohlfahrtsstaates ausmacht1. Dabei sind die Zuteilung materieller Güter und die Existenzsicherung die Grundlage der sozialen Gerechtigkeit. Grundsätzlicher definiert die katholische Soziallehre das Gemeinwohl oder bonum commune als Ziel der Politik. Das Wohl eines jeden einzelnen Menschen steht in Verbindung mit dem Gemeinwohl. „Das Gemeinwohl betrifft das Leben aller“2. Als solches versteht die Kirche „,die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ermöglichen, die eigene Vollendung voller und leichter zu erreichen‘ (GS 26,1)“3. Aber es besteht nicht aus der Summe der einzelnen Güter. Vielmehr ist es als das „Wohl aller und jedes Einzelnen“ ein Gemeinsames, das unteilbar ist und das nur „gemeinsam erreicht, gesteigert und auch im Hinblick auf die Zukunft bewahrt werden kann“4. Das Gemeinwohl verpflichtet alle Mitglieder der Gesellschaft, an deren Entwicklung mitzuarbeiten.

1 Vgl. Schäfers, Bernhard, Sozialstruktur und sozialer Wandel, Stuttgart 82004, S. 218. 2 Johannes Paul II., Katechismus der katholischen Kirche, München 1993, n. 1906. 3 Johannes Paul II. (1993), n. 1906. 4 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg 2006, S. 133.

2. Die soziale Gerechtigkeit

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Es stellt keinen Selbstzweck dar. Sein Ziel besteht darin, für die Verwirklichung des letzten Zieles der Personen und der gesamten Schöpfung Sorge zu tragen. Dieses letzte Ziel seiner Geschöpfe ist Gott selbst5. Das Gemeinwohl hat drei Elemente zur Grundvoraussetzung. Zum einen setzt es die Achtung der Person voraus; und es verlangt zweitens das soziale Wohl und die Entwicklung der Gemeinschaft; und es benennt schließlich drittens als Voraussetzung den gesellschaftlichen Frieden im Sinne einer „Dauerhaftigkeit und Sicherheit einer gerechten Ordnung“6. Nach der katholischen Soziallehre besitzt jede menschliche Gemeinschaft ein Gemeinwohl, „durch das sie sich als solche erkennen kann“7.

2. Die soziale Gerechtigkeit Die Industrialisierung und der damit verbundene Wandel haben für die soziale Sicherheit der Menschen einen starken Einschnitt nach sich gezogen. Letztlich wurde dadurch aus der Armenfrage die soziale Frage und diese wiederum wurde zur Arbeiterfrage. Die soziale Gerechtigkeit ist seit der französischen Revolution mit dem Prinzip der sozialen Gleichheit verbunden. Allerdings kommt der Begriff der Gerechtigkeit im bekannten Dreiklang von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nicht vor8. Aber sie ist in den beiden Stichworten der Freiheit und Gleichheit hinreichend mit verankert. Die Frage allerdings, ob die soziale Gerechtigkeit eher und besser in der Freiheit oder in der Gleichheit aufgehoben ist, ist wohl mehr eine Frage der Staatsphilosophie. Aus dieser heraus hat die Antwort zu erfolgen. Der Begriff der Freiheit gehört zum Wesen des Menschseins. Das Grundprinzip der Freiheit hat viel mit der Würde des Menschen zu tun. Der Freiheitsbegriff setzt die Freiheit einer jeden einzelnen Person und zugleich ihre Gleichwertigkeit mit den anderen Menschen voraus. Wird dem Individuum die Freiheit genommen und die Gleichheit vor dem Gesetz geleugnet, wird ihm letztlich zugleich die Menschenwürde abgesprochen. Und wo die Würde verloren geht, verliert der Mensch auch sein Glück. Die Würde des Menschen, seine Freiheit und auch sein Glück – dieser Dreiklang gehört zusammen. Wo dem Rechnung getragen wird, wird man ebenfalls einer zukünftigen Entwicklung der Gesellschaft gerecht.

5 6 7 8

Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (2006), S. 137. Johannes Paul II., Katholischer Katechismus, n. 1907 ff. Johannes Paul II., Katholischer Katechismus, n. 1910. s. unten 8. Kapitel, 5.

172

6. Kap.: Der Wohlfahrtsstaat

Der Sozialstaat in Deutschland lieferte die Garantie, dass der soziale Frieden gewahrt werden konnte. Aber in ihm war nicht die Aufgabe verankert, dass die soziale Gleichheit erreicht werden könnte. Dafür existierte eine allgemeine Forderung nach einem sozialen Ausgleich, ohne dass es in der Gesellschaft zu sozialen Ausgrenzungen käme. Die soziale Gerechtigkeit, verknüpft mit dem Prinzip der Gleichheit und dem Prinzip der sozialen Sicherheit, bildet die Grundlage für den Wohlfahrtsstaatsgedanken in Deutschland. Dass jeder das Seine erhält (suum cuique), gehört dabei zu den wesentlichen Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens. Die soziale Gerechtigkeit dient in Verbindung mit dem Begriff der sozialen Gleichheit, zur Sicherheit der Existenz und der Umverteilung der materiellen Güter. Wo von Gleichheit gesprochen wird, ist oftmals die Rechtsgleichheit gemeint. Sie bedeutet Gleichheit vor dem Gesetz und vor allem die Teilhabe an den Möglichkeiten einer freien Gesellschaft. Aber in der Frage der Gleichheit geht es nicht darum, dass jeder gleichviel erhalten soll, sondern dass er gleichviel innerhalb der Wertschätzung gilt. Freilich ist die soziale Gleichheit nicht das Ziel der Gesellschaftspolitik, sondern der soziale Ausgleich unter den Bürgern des Staates. Das System der sozialen Sicherheit fußt auf der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und nach sozialem Ausgleich. In der staatlichen Sozialpolitik darf nicht eine materielle Gleichheit verfolgt werden, sondern es soll vielmehr die Wahrung der sozialen Sicherheit erreicht werden. Das Streben nach politischer, ökonomischer und juristischer Stabilität im Leben des Menschen ist zwar fundamental entscheidend. Hier kommt individuelles mit kollektivem Sicherheitsstreben zusammen. Aber die Gefährdung der Existenz des Bürgers durch Hunger, Armut, Ungerechtigkeit, Krankheit oder politische oder kriminelle Instabilität kann für den Einzelnen von noch wichtigerer, ja sogar lebensentscheidender Bedeutung sein. Die Gleichheit wiederum ist von der Brüderlichkeit abzugrenzen. Diese ist nämlich etwas anderes als Gleichheit. Brüderlichkeit steht vielmehr der Nächstenliebe nahe, also nicht der Gleichheit. Denn Nächstenliebe bedeutet im Grundsatz „die Freiheit, im Anderen den gleichen Menschen zu erkennen und seine Würde wie die eigene nicht in einem unerträglichen Abstand zwischen Arm und Reich missachtet zu sehen“9. Der Sozialstaat ist der Staat, dem als Rechtsstaat die Pflicht für die individuelle und kollektive Sicherheit und die soziale Ordnung obliegt. Der Sozialstaat ist durch verschiedene Komponenten zu kennzeichnen. Ihm liegt die Verpflichtung zugrunde, dem in Not geratenen Mitbürger aus seiner eventuell selbstver9

Di Fabio, Udo, Die Kultur der Freiheit, München 2005, S. 101.

2. Die soziale Gerechtigkeit

173

schuldeten oder auch unverschuldeten Notlage herauszuhelfen, bzw. diese abzumildern. Als erstes geht es darum, die Existenz der Hilfsbedürftigen zu sichern, zweitens möglichst mit keiner oder wenn nötig nur mit geringen Maßnahmen in die Grundrechte des Einzelnen einzugreifen, drittens seine Chancengleichheit wieder herzustellen, und viertens die wettbewerbsfähige Leistungsgesellschaft zu erhalten10. In der Sozialpolitik soll nicht so sehr die Gleichheit der Gesellschaft erreicht werden, als vielmehr die soziale Sicherheit der Mitglieder. Denn die Sozialpolitik steht immer zwischen denen, die etwas bekommen sollen, und denjenigen, denen man aus diesem Grunde etwas nehmen muss11. Die soziale Sicherheit ist für die Stabilität einer Industriegesellschaft von zentraler Bedeutung. Außerdem ist der Sozialstaat als eine Institution zu verstehen, die aktiv in die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft eingreift. Der Sozialstaat muss darum für bestimmte soziale Bereiche eintreten, so z. B. für die Herstellung von Chancengerechtigkeit und für die Beseitigung von Benachteiligungen. Darum hat die Sozialpolitik nicht nur etwas mit der Familien- und Bildungspolitik zu tun, sondern viel mehr noch mit der Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik zu tun. Die Zielvorstellung des Sozialstaates muss ausgerichtet sein auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, auf die Herstellung einer positiven demographischen Entwicklung und ebenso auf die Errichtung bzw. Erhaltung eines Wirtschaftsund Gesellschaftssystems, das die individuelle und soziale Armut bekämpft und sich gleichzeitig einer Zukunftsplanung des Einzelnen und der Gesellschaft widmet. Eine Altersarmut ist aufgrund der demographischen Entwicklung, die nicht mehr in der Lage ist, die Rentenansprüche der vorausgegangenen Jahrgänge zu erfüllen, in vielen europäischen Ländern zu befürchten. Den nachwachsenden Generationen stellt sich deshalb die Frage, wie sie den Ansprüchen ihrer Elternund Großelterngenerationen entsprechen oder sich ihnen verweigern können. Geht man von einer Generationen-Gerechtigkeitsvorstellung aus, in der die jüngere Generation so viel an Leistung erbringt, wie die ältere erzielt hat, bleibt für die zukünftige ältere Generation nur „übrig“, dass sie letztlich auf eine reine Grundsicherung ihres Alterseinkommens bauen kann. Wird mehr gefordert, wird sich die jüngere Generation dieser Forderung entziehen. Sie wird ihren Wohn- und Arbeitsplatz in ein anderes Land verlegen, in dem sie solche Forderungen nicht erfüllen muss. Das ist bei einer qualifizierten Ausbildung als Naturwissenschaftler, Informatiker, Techniker, Wirtschaft- oder Finanzwissenschaftler sicher sehr viel leichter als bei ungelernten Arbeitnehmern. Darum ist eine Ausbildung bzw. Weiterbildung für jeden einzelnen Arbeitnehmer von fun-

10 11

Vgl. Di Fabio, Udo, Das bedrängte Drittel, in: FAZ 28. Okt. 2006, S. 8, Sp. 6. Vgl. Di Fabio, Udo (2006), S. 8, Sp. 3.

174

6. Kap.: Der Wohlfahrtsstaat

damentaler Bedeutung. Aber die Politik darf den Sozialstaat nicht ausufern lassen. Freilich darf sie auch nicht zulassen, dass alles von immer weniger Personen geschultert wird.

3. Armut in einer Wohlstandsgesellschaft Generell lässt sich Armut mit einem Mangel an Chancen, das Leben mit gewissen Minimalstandards zu führen, umschreiben. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind stärker als andere durch Armut geprägt. Generell lässt sich sagen, dass Haushalte von Arbeitslosen, Alleinerziehende, kinderreiche Familien oder Ausländer am ehesten in Armut fallen. In früheren Jahrhunderten gehörten vor allem auch ältere Menschen dazu. Armut trifft die gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich stark: Häufig sind Kinder betroffen, sowohl in Familien mit mehreren Kindern als auch bei Alleinerziehenden. Hinzukommen materielle Probleme, die durch Arbeitslosigkeit der Erziehungsberechtigten verursacht werden. Eine Benachteiligung der Kinder beginnt oft schon vor der Geburt aufgrund mangelnder pränataler Vorsorge. Auch alleinerziehende Frauen oder solche, die nur mit einem geringen Einkommen ausgestattet sind, sind stark armutsgefährdet. Der Grund liegt darin, dass Frauen oft nur als Teilzeitarbeitskräfte arbeiten. Auch Arbeitsplätze mit unzureichenden Einkommen können Ursache für die Armut sein. Weiter sind Ehescheidung oder der Tod des Ehemannes als Gründe für die Armut zu nennen. Eine Ursache für die Altersarmut liegt ebenfalls in zu geringer Sozialleistung. Schließlich sind ethnische Minderheiten und Asylanten zu nennen, die aufgrund mangelnder Arbeitsmöglichkeiten zum Teil in Armut leben müssen. Eine langanhaltende Massenarbeitslosigkeit führt ebenso wie die begonnene demographische Fehlentwicklung unweigerlich zu einer Gefährdung der sozialen Sicherheit. In der deutschen Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte ist einerseits der Reichtum, aber zugleich ebenfalls die Armut in der Bevölkerung gestiegen. Dabei sind natürlich die Maßstäbe örtlich und zeitlich sehr verschieden. Denn Armut kennt viele Ursachen und besitzt viele Gesichter. Darum lässt sich Armut in den europäischen Ländern des Wohlstandes sicher nicht vergleichen mit der in den Ländern der Dritten Welt. Man unterscheidet speziell zwischen unterschiedlichen Armutsbegriffen: Unter absoluter Armut leben heißt, am äußersten Rande der Existenz zu leben. Das ist ein Leben unter großen Entbehrungen im Zustand der Verwahrlosung und Entwürdigung. Diese Menschen müssen um ihr Überleben kämpfen. In der Wohlstandsgesellschaft gehören zu dieser Gruppe etwa Suchtkranke oder Obdachlose.

3. Armut in einer Wohlstandsgesellschaft

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Eine relative Armut wird geprägt durch soziokulturelle Komponenten. Sie wird beherrscht von einem Defizit an materiellen und immateriellen Ressourcen, also z. B. einem Mangel an sozialer und kommunikativer Beziehung – bei gleichzeitigem finanziellen Defizit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Armut nach dem Einkommen. Arm ist danach, wer weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens seines Landes zur Verfügung hat12. Die Ursachen für die Armut sind vielfältiger Art. Zu nennen sind: Krieg, Bürgerkrieg, politische Strukturen (der Regierung und der Gesellschaft) und ökonomische Verhältnisse, Versagen des Staates bei sozialer Bedürftigkeit, langanhaltende Arbeitslosigkeit, Frauenarbeitslosigkeit, Überschuldung, Mangel an Bildung, technische Rückständigkeit, Naturkatastrophen, Epidemien, zu starkes Bevölkerungswachstum et cetera. Man kennt weiter eine transitorische Armut. Mit ihr bezeichnet man einen vorübergehenden Mangel. Aber dieser gleicht sich mit der Zeit wieder aus. Darüber hinaus lässt sich noch ein anderer Armutsbegriff ausmachen. Denn vielfach wird noch von einer verdeckten Armut gesprochen. Dieser Ausdruck besagt, dass sich Menschen aus bestimmten Gründen nicht zu ihrer Armut bekennen. Menschen haben zwar einen Sozialhilfeanspruch, der ihre Grundsicherung abdeckt. Aber aus Scheu oder Scham gegenüber den Behörden oder auch aus Unwissenheit nehmen sie ihn nicht in Anspruch. Zu dieser Menschengruppe zählen insbesondere kinderreiche Familien mit nur einem Erwerbseinkommen. In den Entwicklungsländern herrscht materielle Armut im absoluten Sinn vor. Sie ist durch ein geringes Einkommen gekennzeichnet, mit dem man keinen würdigen Lebensstandard erreicht. Armut führt zu unterschiedlichen Belastungen. Zu nennen sind etwa: Geringes Einkommen, Mängel in den Wohnverhältnissen, hohe Verschuldung, psychische und organische Erkrankungen. Selbst zu Beginn der 60er Jahre war in Deutschland das Armutsrisiko bei den Älteren noch doppelt so hoch wie bei der übrigen Bevölkerung. Aufgrund der dynamischen Rente und der Vermögensbildung hat sich hier manches geändert. Abhilfe beim Kampf gegen die Armut könnten schaffen: – eine erstarkte und wachsende Wirtschaft, die vor allem Arbeit in den unteren Lohnsegmenten zur Verfügung stellt, – eine andauernde Beschäftigungsmöglichkeit für alleinerziehende Mütter, – die Schaffung von eigenverantwortlichen Tätigkeiten für die Benachteiligten, – steuerliche Begünstigungen speziell für Familien, die unter die Armutsgrenze fallen; dabei könnte eine negative Einkommenssteuer durchaus als erwägenswert gelten, 12 In Deutschland lag diese im Jahr 2003 bei 938 Euro, das sind 60% des mittleren Einkommens.

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6. Kap.: Der Wohlfahrtsstaat

– Berücksichtigung der Bildungspolitik als Faktor bei der Armutsbekämpfung, – Kinderbetreuung, gerade bei einer Kleinstkinderbetreuung können Alleinerziehende ihrer beruflichen Aufgabe nachgehen. Die Armut in Deutschland hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in seiner Denkschrift aus dem Jahr 2006 „Gerechte Teilhabe“ unter eben diesem Gedanken behandelt13. Das Verständnis von Teilhabe gründet nach den Verfassern der Denkschrift in der den „Menschen geschenkten Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes“14. Gott gewährt den Menschen Anteil an seiner Fülle in Form von Begabungen, die sie befähigen, die ihnen in ihrem Leben gestellten Aufgaben zu erfüllen. Im Neuen Testament wird diese Art der Teilhabe an Begabung mit dem griechischen Wort Charismen bezeichnet. Möglichst viele Menschen sollen ihre Begabungen ausleben dürfen. Speziell wird in der Denkschrift gefordert, dass die Menschen in Deutschland materiell ein Leben in Würde leben können. Man sucht zwar nach Wegen aus der materiellen Verelendung. Der Ausschluss von der Teilhabe an den gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten konkretisiert den Gedanken der Armut. Denn Armut ist letztlich fehlende Teilhabe. Aber diese darf nicht auf eine „materielle Dimension“ reduziert werden15. Wichtiger noch erscheint den Verfassern der Denkschrift die Durchsetzung einer gerechten Teilhabe. Wer heute eine soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft fordert, der strebt nach einer Gerechtigkeit hinsichtlich einer Teilhabe und Beteiligung16. Darum gilt: Ein „unfreiwilliger Ausschluss von der Teilhabe an den Grundgütern der Gesellschaft ist zu überwinden“17. Das bedeutet für den einzelnen Menschen in der Gesellschaft: Es darf ihm weder die Teilhabe am Arbeitsmarkt noch die Möglichkeit verwehrt werden, seine Begabungen zu erkennen, sie auszubilden und produktiv für andere einzusetzen. Diese Art der sozialen Gerechtigkeit entspricht einer Befähigungsgerechtigkeit. Die soziale Gerechtigkeit umfasst beide Linien: Die Beteiligungsgerechtigkeit verbindet nämlich die Verteilungs- und die Befähigungsgerechtigkeit. Freilich ist gegenüber diesen Überlegungen einzuwenden, in der Bibel ist nichts darüber zu lesen, dass viele Menschen in einer gerechten Gesellschaft in 13 Der Rat der EKD, Gerechte Teilhabe, Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität, Gütersloh 22006, S. 31, Z. 35. Dort hat er die europäische Armutsquote definiert: „Im Rahmen der Europäischen Union ist ein einheitliches Vergleichsverfahren beschlossen worden. Die Armutsrisikogrenze beträgt danach 60% des Medians des äquivalenzgewichteten Nettoeinkommens. Der Median ist derjenige Wert, der die Bevölkerung in die mehr verdienende und die weniger verdienende Hälfte teilt“. 14 Rat der EKD (22006), S. 11. 15 Rat der EKD (22006), S. 43, Z. 61. 16 Vgl. Rat der EKD (22006), S. 43 ff. 17 Rat der EKD (22006), S. 44, Z. 64.

3. Armut in einer Wohlstandsgesellschaft

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der Lage sein müssen, ihre Gaben erkennen und ausbilden zu können, so dass es zu einer Beschäftigungsgerechtigkeit kommt. Es geht schließlich nicht um Uniformität aller, sondern um eine Gesellschaft, in der jeder auf seine Weise dem von ihm gewünschten Anteil an ihr selbst wählen kann. Es wird zwar in der Denkschrift von Begabungen gesprochen. Aber das sind letztlich geistliche Gaben, die an den Herrn der Gemeinde gebunden sind. Sie sollen bei den Christen ein Leben aus Glauben erwecken. Eine allgemeine Teilhabegerechtigkeit und damit die Bekämpfung einer unzureichend gewährten Teilhabe an wirtschaftlichen, politischen und sozialen Möglichkeiten in der Gesellschaft, mag im Interesse der Mitglieder der Gesellschaft liegen und mag ferner im Zuge der Globalisierung eine Notwendigkeit sein. Aber Inhalt biblischer Überlieferung ist sie nicht. Sie ist auch nicht direkt aus ihr ableitbar!

7. Kapitel

Über Leben und Sterben des Menschen Zwar leben die Menschen heute länger als in früheren Jahren, aber insgesamt ist ihr Leben enger begrenzt. Denn es ist für viele Menschen nur ihre diesseitige Existenz von Bedeutung. Leben und Gesundheit zählen deshalb in der gegenwärtigen Gesellschaft zu den hervorragenden Gütern dieser Welt. Für viele Menschen hat die Gesundheit einen sehr hohen Stellenwert in ihrem Leben. Lebenserhaltung und Gesundheit werden gern als Höchstwerte angesehen. Sie gelten als käuflich. Ständig versuchen die Menschen, ihre Gesundheit zu verbessern und ihr Leben zu verjüngen. Dafür bringen sie viel Zeit und Kraft auf. Umgekehrt werden Krankheit und Tod als eine absolute Bedrohung für das Leben empfunden! Bei einer schweren Krankheit setzen die davon betroffenen Menschen große Hoffnungen auf den Fortschritt der Medizin und ihre eventuellen Therapiemöglichkeiten, die zwar noch in weiter Ferne liegen mögen, die aber in Zukunft realisiert werden können. Für viele Menschen liegen der Lebensinhalt und der Sinn ihres Daseins in der Erhaltung ihrer Gesundheit und in der Verlängerung ihres irdischen Daseins. Deshalb verwischen sich gar die Unterschiede zwischen einer menschlichen Heilungserwartung von einer Krankheit und einer faktisch fehlgeleiteten Heilserwartung, wie es die Veröffentlichung der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD als Argumentationshilfe für aktuelle medizinische und bioethische Fragen ausgedrückt hat1. Aber es besteht nun einmal ein qualitativer Unterschied zwischen dem irdischen Wohlergehen und dem ewigen Heil. Darum muss für den Christen gelten: „Ohne eine solche Unterscheidung kann die Annahme und Verarbeitung der Endlichkeit des Daseins nicht gelingen, weil Krankheit, Behinderung, Sterben und Tod dann den Charakter der radikalen Bedrohung und des totalen Sinnverlustes annehmen. Indem die christliche Kirche so unterscheidet, schätzt sie das irdische Wohlergehen nicht gering. Vielmehr wertet sie es als begrenztes, vorläufiges, zum Vergehen bestimmtes Gut. Und gerade das Wissen um die Be-

1 Evangelische Kirche in Deutschland, EKD-Texte 71. Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen, Hannover 2002, n. 2.1. Oder: Die Kammer für Öffentliche Verantwortung, Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Frage, EKD-Texte 71 (2002), n. 1.2.

1. Probleme bei einer medizin-ethischen Konsensfindung

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grenztheit und Endlichkeit macht dieses irdische Leben mit seinen Gütern wertvoll“2. Für den Christen ist die Heilung von Krankheiten nicht der höchste Wert im Leben. Krankheit und Tod führen bei ihm nicht zur Bedrohung oder Infragestellung des menschlichen Daseins insgesamt. In dem genannten Diskussionspapier der EKD aus dem Jahr 2002 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es aus christlicher Sicht geradezu geboten ist, „neue, leistungsfähigere Therapiemöglichkeiten zu entwickeln und den Betroffenen zur Verfügung zu stellen“3. Der Mensch hat nach der biblischen Überlieferung für den christlichen Glauben eine herausgehobene Stellung. Er unterscheidet sich aufgrund seines Personseins von den anderen Lebewesen. Dieses Personsein verdankt der Mensch allein seinem Geschaffensein durch Gottes Liebe. Aber zum christlichen Verständnis des Menschsein gehört vor allem, dass der Mensch in seiner Menschwerdung erst dann vollendet sein wird, wenn Gott ihn von den Toten auferwecken wird zum ewigen Leben4.

1. Probleme bei einer medizin-ethischen Konsensfindung Die Verständigung über ethische Fragen ist nicht immer ganz leicht. Dafür sind die medizin- und biologischen Fragen zu neuartig, als dass bereits ein Lösungsansatz von allen Forschern übernommen werden könnte. Die Erkenntnis über den Beginn des Lebens hat in letzten Jahrzehnten bedeutende Fortschritte gemacht. Die Einsicht in die Entstehung des Lebens und die Erforschung des menschlichen Genoms hat große Erfolge zu verzeichnen. Die Medizin hat derzeitig gegenüber früheren Jahrhunderten umfassendere Möglichkeiten erhalten, die Lebenszeit des Menschen zu verlängern. Viele Krankheiten können heute geheilt oder gelindert werden. Das hat vor allem in den Entwicklungsländern zu einer höheren Lebenserwartung unter den Menschen geführt. Auf Grund der Analyse des menschlichen Genoms erhoffen sich die moderne Medizin und die biologisch-pharmakologische Forschung eine qualitative Verbesserung der Heilungschancen von bisher unheilbaren Krankheiten5. Die Genetik ist darum geradezu zu einer entscheidenden Wissenschaft des Lebens geworden.

2

EKD-Texte 71 (2002), n. 1,2. Ebenda. 4 Vgl. EKD-Texte 71 (2002), n. 1,4. 5 Vgl. Kramer, Rolf, Die postmoderne Gesellschaft und der religiöse Pluralismus, Berlin 2004, S. 35 ff. 3

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

Durch die extracorporale Insemination bei der In-vitro-Fertilisation haben sich völlig neue Aspekte für den Beginn des menschlichen Lebens ergeben. Der Wunsch nach einem eigenen Kind ist zwar unter einem hohen Aufwand und unter beschwerlichen Bedingungen für die Frau, aber immerhin erfüllbar geworden. Die Medizin hat im Bereich Fortpflanzung und damit in der Präimplantationsdiagnostik (PID) ebenso wie in der Frage des Klonens von Menschen eine auch in der Ethik immer größere Bedeutung erhalten. In der Zellbiologie, besonders in der Stammzellenforschung, werden viele Möglichkeiten eröffnet, die Vorgänge und die Entwicklungen innerhalb einer Zelle oder eines Zellverbandes zu verstehen. Aus christlicher Sicht kann diese Entwicklung nur intensiv unterstützt werden6. Für diese und ähnliche Differenzierungen versuchte die EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung in ihrem bereits erwähnten Diskussionspapier einen Konsens bei den anstehenden ethischen Problemen der Medizin und Biologie zu erreichen. Denn bestimmte Bewertungen lassen sich nicht mit absoluter Sicherheit vornehmen. Man kann durchaus zu unterschiedlichen Meinungen kommen. Bei einigen Problemen kann man nämlich nicht einfach mit richtig oder falsch, gut oder böse urteilen. Zwar wendet man sich in der ev. Ethik gegen die Prinzipienethik, die das Handeln des einzelnen Menschen ausschließlich nach allgemeinen Regeln beurteilt. Aber es spielen immerhin Regeln und Normen in der ev. Ethik eine Rolle. Und außerdem gibt es Einzelfälle, die nicht unter diese Regeln fallen. Die Medizinethik weist viele Beispiele auf, in denen die Prinzipienethik problematisch ist, wenn sie über den Einzelfall hinausgeht. Im Blick auf den Beginn des menschlichen Lebens wird hierauf hingewiesen, es kann aufgrund der gegebenen Dialektik von Regelfall- und Einzelfallgerechtigkeit nicht überraschend sein, dass es „in medizin-ethischen Fragen auch im Raum der Kirche unterschiedliche, einander widersprechende Auffassungen gibt“7. Das führte zu mannigfachen, zum Teil unüberbrückbaren Positionen.

2. Ethische Fragen beim Umgang mit Embryonen Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist von der Entwicklung des Menschseins zu reden. Mit dieser Verschmelzung ist der Mensch schutzwürdig. Denn von Anfang seines Daseins an gelten seine Gottesebenbildlichkeit und die Menschenwürde! Ihm gehört die Liebe Gottes vom ersten Anfang an. Das heißt

6 Vgl. EKD-Texte 71, Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen, Hannover 2002, n. 1.2. 7 EKD-Texte 71, n. 1,4.

2. Ethische Fragen beim Umgang mit Embryonen

181

dann: Vom Zeitpunkt der Keimzellenverschmelzung bis zum Ende seines irdischen Lebens gibt es keinen anderen Zeitpunkt, der sich als Beginn des Lebens bezeichnen ließe8. Andere Einschnitte wären die Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter oder die Geburt. Aber sie bilden eben nicht den Beginn der menschlichen Existenz, sondern sind Einschnitte in der Entwicklung des Menschen9. Der häufig anzutreffende Streit, ob der Embryo ein Zellhaufen oder eine Person ist, stellt eine völlig falsche Alternative dar. Er ist allein aus einer unterschiedlichen Sichtweise zu lösen. Denn er ist natürlich beides, Zellhaufen und Mensch10. Aber je nach Fragestellung wird man zu einer notwendigen Antwort kommen. Sie kann nämlich je nach Perspektive beides sein, richtig und falsch zugleich. Die Definition eines Embryos als menschliches Leben, jedoch nicht als menschliches Lebewesen, wie sie der evangelischen Theologe und Bioethiker Hartmut Kreß vornimmt, hilft nicht weiter. Um ein menschliches Lebewesen zu sein, brauche es nach seiner Meinung mehr als nur die genetische Veranlagung, ein potentieller Mensch zu sein. Denn eine solche Differenzierung kann nicht leugnen, dass es in beiden Fällen um menschliches Leben handelt! Mit dem Erkenntnis-Fortschritt in der Biologie, Pharmakologie und Medizin verknüpfen sich hohe Erwartungen auf zukünftige Therapiemöglichkeiten für bisher noch unheilbare Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson. In der Entwicklung von neuen Medikamenten glaubt die derzeitige medizinische und pharmakologische Grundlagenforschung, nur mit Hilfe embryonaler Zellen in der Forschung voranzukommen. Man hofft, unter Nutzung von embryonalen und/oder adulten Stammzellen einen biologisch-medizinischen Erfolg zu erreichen. Allerdings ist es bisher noch nicht eindeutig nachgewiesen worden, dass man zu gewissen Forschungsergebnissen nur aufgrund einer Verwendung embryonaler Stammzellen kommt. Freilich werden bei diesem Vorgehen Embryonen zerstört. Dadurch wird Leben getötet. Nach dem EU-Votum vom 15. Juni 2006 wurde die deutsche Schutzregelung für embryonale Stammzellen, die den Stichtag 1. Januar 2001 zur Grundlage hat, nicht übernommen. Allerdings wurde dieser Stichtag in Deutschland auch wieder infrage gestellt. Man wollte ihn und damit den Stammzellenimport um vier Jahre auf den 1. Januar 2005 verschieben, so jedenfalls der Ratvorsitzende der EKD. Er wollte damit einen Ausgleich zwischen den gegensätzlichen ethischen Positionen erzielen. Dagegen erhebt sich allerdings die Frage, wie man einer verbrauchenden Embryonenforschung prinzipiell entgegentreten könne, 8

Vgl. EKD-Texte 71 (2002), n. 3.1 (Z. 14). Ebenda. 10 EKD-Texte 71, n. 5.2.4. 9

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

wenn man glaubt, Ausnahmen immer wieder durch etwaige Terminverschiebungen regeln zu können. Denn dieser neue Termin ist ebenso willkürlich wieder jeder zukünftige andere auch. In der EU sollten für den Zeitraum von 2007 bis 2013 auch Forschungsvorhaben finanziert werden, für die neue Stammzellen aus Embryonen gewonnen werden. Der Embryonenverbrauch, der mit der deutschen Gesetzgebung gedrosselt werden könnte, würde bei der EU-Gesetzgebung allerdings keine Einschränkung mehr erfahren. Die „überzähligen Embryonen“, die aus den Kliniken für die künstliche Befruchtung gewonnen werden, können nunmehr für Forschungszwecke genutzt werden, was ohnehin bereits heute weltweit geschieht. Dem aber stehen bisher in Deutschland ganz erhebliche Bedenken entgegen. Denn mit der verbrauchenden Embryonenforschung geht die Tötung und damit die Vernichtung von Embryonen einher. Das aber ist aufgrund der deutschen Gesetzgebung mit vollem Recht nicht zulässig11. 2.1 Pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik In der vorgeburtlichen Diagnostik unterscheidet man zwischen der pränatalen Diagnostik (PND) und der Präimplantationsdiagnostik (PID). Bei der PND geht es um die vorgeburtliche Untersuchung des menschlichen Lebens im Mutterleib, um möglichst frühzeitig zu erkennen, ob das noch ungeborene Leben durch Krankheit oder Behinderung geprägt sein wird. Dadurch eventuell notwendige Therapien könnten dann eingeleitet werden. Eine durch die PND festgestellte Behinderung des Embryo oder des Fötus stellt nach geltendem deutschen Recht eine legale Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch dar. Wenn das für den Embryo in utero gilt, dann muss das auch für den Embryo in der Petrischale gelten. Denn es kann nicht angehen, dass bei einer zu erwartenden Behinderung der Embryo im Mutterleib besser geschützt ist als der im Reagenzglas. Eine legale Abtreibung von genetisch erkrankten Embryonen oder Föten darf selbst bei einer zu erwartenden Behinderung für den Christen kein Rechtsgrund sein12. Die PID wird bei einer künstlichen Befruchtung durchgeführt. Mit ihr lassen sich nach den ersten Zellteilungen genetische Erbkrankheiten nachweisen. Sie kann damit zu einer rein selektiven Methode werden. Für die PID spricht, dass auf diese Weise ein möglicher Schwangerschaftskonflikt mit späterem Abbruch vermieden werden kann. Allerdings erheben sich trotzdem gegen die PID schwere Bedenken. Die Nähe zu einer Züchtung von Menschen ist nicht zu verleugnen. Liegen nämlich genetische Veränderun11 12

s. oben 7. Kapitel, 2. EKD-Texte 71, n. 3.1.1.1.

2. Ethische Fragen beim Umgang mit Embryonen

183

gen vor, werden die in vitro befruchteten Eizellen nicht in die Gebärmutter eingesetzt. Mit Hilfe der PID werden solche genetischen Erkrankungen festgestellt. Liegen diese vor, dann sollte es nicht zu einer Einsetzung in die Gebärmutter kommen. Eine mögliche Behinderung des Kindes bei diesem extrakorporalen Frühstadium kann die Frage nach einem Schwangerschaftskonflikt mit einem späteren Abbruch aufwerfen, obwohl keine unmittelbare seelische oder leibliche Beziehung zwischen Mutter und Kind besteht. Allerdings existiert in einem solchen extrakorporalen Fall immerhin eine ,Mutterschaft‘ oder ,Elternschaft‘13. Die Verhinderung der Einsetzung des Embryos in die Gebärmutter bedeutet letztlich dann eine eugenische Selektion. Wer die PID wegen der eugenischen Auswahl ablehnt, kann nicht einer Abtreibung aus eugenischen Gründen zustimmen. Es ist schließlich nicht einzusehen, warum ein Embryo im Mutterleib zu einem bestimmten Zeitpunkt abgetrieben werden darf, während eine Maßnahme mit gleichem Erfolg im Reagenzglas nicht möglich sein soll. Insgesamt lässt sich also sagen: In der Ausweitung der vorgeburtlichen Diagnostik bis hin zur PID wird die Gefahr einer eugenischen Selektion heraufbeschworen. Schließlich dürfen weder durch die PND noch durch die PID die Behinderten aus dem Gesichtsfeld der Gesellschaft verschwinden. Eine Gemeinschaft, die glaubt, sich – wodurch auch immer – dem Anblick von Leid und Behinderung verschließen zu können, gerät in Gefahr, ihrerseits mitleidlos zu werden. 2.2 Die Nutzung von Embryonen „Die Gewinnung von Stammzellen aus so genannten ,überzähligen‘ Embryonen ist in ethischer Hinsicht besonders umstritten“, so formulierte es im Jahr 2002 die Kammer für Öffentliche Verantwortung in der Evangelischen Kirche in Deutschland14. Den therapeutischen Zielen, die mit der Nutzung von embryonalen Stammzellen verfolgt werden, steht die Überlegung entgegen, Embryonen für solche fremden Zwecke grundsätzlich nicht zu ,verbrauchen‘. Denn immerhin sind selbst Embryonen als sich entwickelnde Menschen mit der Gottesebenbildlichkeit und mit der Menschenwürde begabt. Auch deshalb ist die oben (Kreß) gemachte Unterscheidung zwischen Leben und Lebewesen nicht zu übernehmen. Ist man freilich der Meinung, dass erst bei einem entsprechenden Entwicklungsstand des Embryos von einem Menschen zu sprechen ist, dann lassen sich Prädikate wie die der Ebenbildlichkeit und Menschenwürde nicht auf die Embryonen übertragen. In einem solchen Fall stünde dem Verbrauch der Stammzellen keine unüberwindliche Hürde gegenüber. 13 14

EKD-Texte 71, n. 3.1.1.2. EKD-Texte 71, n. 3.1.2.1.

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

Dass sich die EKD in dieser Frage nicht auf eine gemeinsame Position hat einigen können, ist eine Tragik, der die grundsätzliche Aussage geschuldet ist, nach der ein solcher ethischer Dissens zu ertragen ist. Zwar ist sicher die Darstellung eines Meinungsunterschieds ehrlicher als die einer angeblichen Harmonie im Tatbestand. Aber dennoch ist ein solcher Dissens in einer so gewichtigen ethischen Frage als unglücklich zu bezeichnen15. Die Technik zum Klonen kennt unterschiedliche Zielsetzungen. Man unterscheidet generell zwischen einem therapeutischen und einem reproduktiven Klonen. Mit Hilfe des therapeutischen Klonens sollen Zellen gewonnen werden, die zu medizinischen Zwecken eingesetzt werden können. Um embryonale Stammzellen zu gewinnen, gibt es den Weg des therapeutischen Klonens. Mit Hilfe dieser Art des Klonens will man zu Zell- oder Gewebeersatz gelangen. Der Kern der körpereigenen Zelle wird in eine entkernte Eizelle eingeführt und zum Wachstum angeregt. Der entstehende Embryo wird für die Gewinnung von pluripotenten Stammzellen genutzt. Ist aber jeder Embryo ein unverwechselbarer Mensch, dann bedeutet ein therapeutisches Klonen das Töten eines Menschen. Darum ist die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken ebenso abzulehnen wie der Verbrauch von überzähligen Embryonen, die wegen der In-vitroFertilisation hergestellt wurden und übrig geblieben sind. Das reproduktive Klonen will einen neuen Menschen entstehen lassen. Gegen das reproduktive Klonen spricht nicht nur der augenblickliche Stand der Technik, der eine große Anzahl von fehlgebildeten Embryonen oder Föten entstehen lässt, sondern „der Abkömmling ist zugleich Kind und genetischer Zwilling eines seiner beiden Elternteile, während er mit dem anderen Elternteil biologisch nicht verwandt ist“16. Einigkeit herrscht unter vielen Forschern und Ethikern weitgehend über die ethische Verwerflichkeit des reproduktiven Klonens. Hinsichtlich der Verantwortung bei der Gewinnung von embryonalen Stammzellen durch Klonen gehen die Meinungen auseinander. In jedem Fall ist nach deutschem (nicht nach englischem) Recht das reproduktive Klonen verboten. Allerdings wird vielfach danach gefragt, ob die ethischen Gründe für diese Ablehnung ausreichen. Aber selbst wenn die Embryonen für Forschungszwecke eingesetzt werden und man bestimmte therapeutische Ziele dabei im Auge hat, verstößt ein solcher Einsatz gegen die dem Embryo inhärierende Menschenwürde und Ebenbildlichkeit des Menschen, denn im Embryo steckt nun einmal die Entwicklung zum ganzen Menschen.

15 16

s. oben 7. Kapitel, 1. EKD-Texte 71, n. 3.1.2.2.

2. Ethische Fragen beim Umgang mit Embryonen

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Neuerdings glaubt man, dass sich eine gewisse Entspannung in der Diskussion um die Nutzung von embryonalen Stammzellen abzeichnen könnte. Denn amerikanische Forscher des Unternehmens Advanced Cell Technology in den USA wollen ein Verfahren entwickelt haben, aus sehr jungen menschlichen Embryonen Stammzellen zu gewinnen, ohne den Keim selbst zu zerstören. Man gibt vor, dass die neue Technik helfen könnte, die ethischen und religiösen Probleme zu beseitigen. Bei dem bisherigen Verfahren kann sich der Embryo nach der Zellentnahme nicht mehr entwickeln und ist damit gleichsam „verbraucht“. Bei dem neuen Verfahren will man auf ganz junge Embryonen zurückgreifen, aus denen man einzelne Zellen (Blastomeren) gewinnt. Schon bisher wird zur Aufbereitung einer Präimplationsdiagnostik (PID) nach einer Reagenzglasbefruchtung im Achtzellstadium eine einzige Blastomere entnommen und genetisch untersucht. In gleicher Weise geht man in der neu angewandten Technik vor, indem man in einem noch früheren Stadium des Embryos einzelne Blastomeren zu gewinnen sucht, ohne den Keim dabei zu zerstören. Mit den notwendigen Wachstumsfaktoren versorgt sollen sie sich dann zu pluripotenten Stammzellen entwickeln. In Deutschland ist die PID aus den oben genannten Gründen verboten. Darum bleibt dieser Weg auch den deutschen Forschern weiterhin verschlossen. In den Vereinigten Staaten von Amerika, in denen die PID erlaubt ist, könnte diese Technik einen Ausweg aus dem Dilemma bringen, in dem die embryonale Stammzellenforschung steckt, wenn diese Technik tatsächlich in der Lage ist, in der angegeben Weise korrekt, genau und ohne Vernichtung oder Schädigung des Embryos vorzugehen. Aber vielleicht könnte man auch in Deutschland auf diesem Wege, ohne einer Selektion Vorschub zu leisten, zu einer Embryonen-Nutzung kommen. Freilich muss jedes Zerstören des Embryos ausgeschlossen sein. Die neue Methode gibt zwar vor, ohne Zerstörung auszukommen. Aber es stellt sich die Frage, ob das tatsächlich der Fall ist. Embryonenforscher halten auch der neuen Methode entgegen, dass sie bisher nicht ohne die Zerstörung der Embryonen ausgekommen sind. Denn aus den 16 zur Verfügung stehenden Embryonen wurden nur zwei mehrungsfähige Kulturen gewonnen. Außerdem stellte sich heraus, dass man bei den verwendeten Embryonen in den Versuchen nicht nur einzelne Bastomeren entnommen hat, sondern sogar mehrere, also mehr als vier, manches Mal sogar sieben. Eine solche Prozedur hat kein Embryo bisher überlebt. Ein weiteres Hindernis zeigt sich darin, dass bereits in einem Achtzellstadium nicht mehr alle Zellen des menschlichen Embryos omnipotent sind. Eine oder zwei Zellen sind bereits zu diesem Zeitpunkt festgelegt, den späteren Embryo zu bilden. Die anderen entwickeln sich zu einer anderen Funktion. Allerdings stellt sich die Frage, welche Zelle gerade vom Forscher ,eingefangen‘ wird? Insofern liegt die Praxisreife bei dieser Methode noch in sehr weiter Ferne.

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

3. Über Leben und Tod des Menschen In der Gegenwart ist der Mensch immer stärker zu einem Gestalter und Ordner seines Lebens geworden. Etwaige schicksalhafte Bedrohungen glaubt er, mehr und mehr zu beherrschen, indem er hofft, sie mildern oder aufheben zu können. Für viele Menschen ist darum Autonomie zu einem Schlüsselwort geworden. Aber schon sehr früh im Leben müssen sie erfahren, dass sie in vielen Fällen fremdbestimmt sind und dass ihnen und ihrem Handeln ein Ende gesetzt ist. Wichtig bleibt in jedem Fall der Wunsch nach einem Gelingen des Lebens und damit nach einer Erhöhung der Lebensqualität. Deren Inhalt ist vielfach Glück und der Wunsch nach Spaß. Dort, wo beides im Leben gelingt, meint man, habe man sein Lebensziel und damit sein Leben verwirklicht. Und das bedeutet andererseits, dass der Mensch hofft, möglichst von Leid und Krankheit verschont zu bleiben. Schließlich passen Glück und Leid nicht zusammen. Zum Fortschritt der Lebensqualität gehört darum vor allem der Sieg über Leid und Krankheit. Der Mensch ist Person und als diese ein biologisches Wesen. Menschliches Leben ist schließlich kreatürliches Leben. Aber Leben gehört mit dem SterbenMüssen zusammen. Der Tod des Menschen ist der Abschluss des irdischen Lebens. Im Zusammenhang mit dem irdischen Sterben des Menschen lässt sich auch von der biologischen Seite des Menschen als eines Lebewesens sprechen17. Der Tod ist schließlich die Grenze des irdischen Daseins. Der biologische Tod bestimmt das Leben des Menschen. Denn es ist immer ein „Sein zum Tode“. Als Ereignis hat der Mensch den biologischen Tod mit allen Lebewesen gemein. Die Menschen können nicht leben, ohne sterben zu müssen18. Sterben müssen ist für den Menschen eine absolute Gewissheit. Trotzdem ist die Verdrängung des Todes im Leben der Menschen weit verbreitet. Damit kann gemeint sein, dass die Menschen leben dürfen, ohne ständig den Tod mit einzubeziehen bzw. daran zu denken, dass sie sterben müssen. Zwar erfährt der Christ seinen Tod unmittelbar als biologisches Wesen. Aber zugleich ,erlebt‘ er ihn als Person gegenüber seinem Schöpfer. Jesu Sterben, Tod und Auferstehung bilden im Neuen Testament den Höhepunkt der Verheißung für den Tod des Menschen. Die Zusage eines Lebens in Christus gilt als Botschaft an den Menschen in seinem Tod und über diesen hinaus. Sie nimmt nicht die Angst vor dem Tod, aber sie gibt Zuversicht auf Teilhabe an der Auferstehung Christi. In der Tat bricht am Kreuz Christi und in 17 Vgl. Thielicke, Helmut, Theologie des Geistes, Der Evangelische Glaube Bd. III, Tübingen 1978, S. 524. 18 Vgl. Jüngel, Eberhard, Tod, Stuttgart, Berlin 1971, S. 76.

3. Über Leben und Tod des Menschen

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seiner Auferstehung Gottes neue Welt für den Menschen an. Darum gibt es im rechten Glauben keine Trauer; denn für ihn gibt es keinen Tod. 3.1 Biblische Aussagen über Sterben und Tod Der Mensch wird biblisch geradezu als der charakterisiert, der im Widerspruch zu Gott als seinem Schöpfer lebt. Er ist „der Repräsentant der grundsätzlichen Grenzverletzung“19. Der Mensch will sein wie Gott. Er will an Gottes Stelle treten. Das ist Sünde, die in der Bibel als Grenzüberschreitung beschrieben wird. Als einer, der so seine Grenze erfährt, erlebt er auch seinen Tod. Der Mensch wird in diesem Sinn darauf verwiesen, dass sein Leben ein Ziel hat und zu einem Ende kommt (Ps. 39,5). Darum ergeht die Bitte: (Herr), „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“ (Ps. 90,12). Die Bibel kennt viele Vorstellungen vom Tod. Aber den biblischen Texten ist gemeinsam, dass der Mensch eines Tages dem Tode anheim fällt. Der Tod ist das Ende des Lebens. Umso stärker ist der Mensch daran interessiert, das Sterben abzuwenden, um so dem Tode zu entgehen. Da der Vorgang des Sterbens endgültig und nicht umkehrbar ist, versucht der Mensch, sich solange wie möglich dem Prozess zu widersetzen. Sterben ist ein Teil des Lebens, es gehört wesensmäßig zu ihm. Sterben heißt, einen organischen Prozess des Verfallens hinzunehmen und ihm seinen Lauf zu lassen. Die Einstellung des Menschen zum Sterben und letztlich damit zum Tode ist abhängig von seiner kulturellen und religiösen bzw. religionsgeschichtlichen Sozialisation und seiner geistes-geschichtlichen Einbettung. 3.1.1 Sterben und Tod nach dem Alten Testament Im Alten Testament gehört der Tod zum eigentlichen Wesen des Menschen. Er stirbt nach der Erfüllung seiner Lebenstage. Von Abraham heißt es, er starb „alt und lebenssatt“ (Gen. 25,8). Ähnliches wird von Jsaak (Gen. 35,29), David (1. Chr. 29,28) und Hiob (42,17) ausgesagt. Weiter heißt es im 90. Psalm: „Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahin müssen. Im Alten wie auch im Neuen Testament wird der Tod mit dem Zorn Gottes und seinem Gericht in Verbindung gebracht. „Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde ins Licht vor dein Angesicht. Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn“ (V. 7–9). Als Bild begegnet den Menschen der Tod in der Vorstellung des Reiches der Toten, der Scheol oder der Unterwelt. Hiob klagt vor Gott: 19

Vgl. Thielicke, Helmut (1978), S. 522.

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

„Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt und mir ein Ziel setzen und dann an mich denken wolltest“ (Hiob 14,13). Mit dem Bild vom Totenreich ist das irreversible Ende durch den Tod beschrieben. Im Reich der Toten wird man der Menschen nicht gedenken: „Wer wird dir bei den Toten danken?“ (Ps. 6,6). Ebenso heißt es: „Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen“ (Ps. 88,6). Nach dem alttestamentlichen Gottesgedanken gab es demnach den ungelösten Konflikt einerseits zwischen dem Tod als dem „letzten“ Feind (1. Kor. 15,26): „Stirbt aber ein Mann, so ist er dahin, kommt ein Mensch um – wo ist er? (Hiob 14,10). Andererseits wird freilich dem Tod keine Eigenmächtigkeit zuerkannt, obwohl es so aussieht, als ob es einen Dualismus zwischen dem Tod und Gott gibt. Aber wie aus der Hiobstelle Kapitel 14, Vers 13 ersichtlich ist, ist Gott es selbst, der die Toten im Totenreich verbergen und verwahren wird. Der Konflikt ist darum ein Widerstreit in Gott selbst. Hiob ruft in Erwartung seines Todes aus: Das Grab ist da . . .“ Sei du selbst mein Bürge bei dir“ (Hiob 17, 1.3). Aber dann ist doch noch ein Hinweis auf die Erlösung auch bei Hiob zu lesen: „Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Hiob 19,25)20. Nach dem Alten Testament waren zwar der Tod und das Reich des Todes ewig. Die Toten gehen hinab in die Grube (Tiefe), in die Scheol (Jes. 7,11). Aber dann hat sich der Gedanke eines Fortlebens des Volkes Israels entwickelt (Hes. 36,16–37,28). Und schließlich darf auch der einzelne Mensch mit der Hoffnung auf eine weitere Existenz leben: „Denn Du wirst mich nicht dem Tode überlassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe“ (Ps. 16,10). In der Apokalyptik wird auch für die Toten eine Hoffnung verkündet. Gott kann die ewige Dauer des Todes aufheben. Der Tod wird verschlungen (Jes. 25,8). Beim Propheten Deuterojesaja ist zu lesen: „Deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen“ (Jes. 26,19). Weiter verheißt der Prophet Daniel eine Auferstehung der Toten (Dan. 12,2). Allerdings wird in diesem Zusammenhang auch von einer Auferstehung zur ewigen Verdammnis gesprochen. 3.1.2 Sterben und Tod nach dem Neuen Testament Allein der Glaube weiß nach dem Neuen Testament, dass sich durch den Tod Christi und seine Auferstehung am Tode selbst etwas verändert hat. Dennoch wird an der Schrecklichkeit des Todes in dem Neuen Testament nicht vorbeigeschaut. 20

Vgl. Thielicke, Helmut, Leben mit dem Tod, Tübingen 1980, S. 189.

3. Über Leben und Tod des Menschen

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Auch dort wird der Tod mit der Sünde in Verbindung gebracht. Nach dem Apostel Paulus ist der Tod „der Sünde Sold“ (Röm. 6,23: tà gàr opsónia tês harmartías thánatos). Die Auferstehung ist die Überwindung von Sünde und Tod. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? (1. Kor. 15,54 f.: kathepóthe ho thánatos eis níkos. poûu sou, thánate, tò nı˜kos; poû sou, thánate, tò kéntron). Der Stachel des Todes aber ist die Sünde (1. Kor. 15,56: tò de kéntron toû thanátou he harmatía). Der Tod ist also nicht eine natürliche Ordnung, sondern erwachsen aus der Unnatur auf Grund des Sündenfalls. Der Mensch hat den Zorn Gottes, die ira dei, beschworen. Sie ist die Reaktion Gottes auf das Handeln des Menschen. Der Tod wird zwar als letzter Feind (éschatos echthrós) bezeichnet (1. Kor. 15,26). Aber als selbständiges Thema tritt er nicht hervor. Keinesfalls wird der biologische Tod als Folge der Sünde gedeutet. Zwar zeigt sich das Sterben des Menschen als ein biologischer Tod. Aber dennoch ist der Tod des Menschen qualitativ ein anderer als das animalische Sterben der Tiere21. Denn der Tod des Menschen hat etwas mit dem Zorn Gottes zu tun, während das Sterben der anderen Lebewesen nicht zur Strafe geschieht wie beim Menschen! Luther spricht darum von dem Tod im Menschen und nicht vom Tod des Menschen22. Der Tod im Menschen ist gegenüber dem Sterben der Tiere ein Unheil, das von erheblich größerer Dimension ist als der Tod der Tiere. Das Sterben ist beim Menschen nicht nur ein physisches Lebensende, sondern die „Einbuße der Lebensgemeinschaft mit Gott“23. Der Tod des Menschen ist Ausdruck des zerstörten Gottesverhältnisses. Insofern drückt er nicht Ordnung, sondern das in Unordnung geratene Gottesverhältnis des Menschen aus. Aber mit der Auferstehung Christi ist eine Veränderung eingetreten. Sie ist bereits in ihm geschehen und steht nur noch für uns aus: „Denn er spricht: ,Ich habe dich zur rechten Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tag des Heils geholfen“ (2. Kor. 6,2: légei gar: kairô tektô epékousá sou, kaì en heméra soterías eboéthesá sou). Das Heil ist bereits angebrochen. Im 2. Brief an Timotheus heißt es: „. . . [die Gnade, die] jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesu, der dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium“ (1,10: phanerotheîsan dè nyˆn dià tês epiphaneías toû sotêros hemôn Christoû Jesoû, katargésantos mèn tòn thánaton photísantos dè zoèn kaì aphtharsían dià toû euangelíou).

21 22 23

Vgl. Thielicke, Helmut (1980), S. 55. Vgl. Thielicke, Helmut (1980), S. 218. Thielicke, Helmut (1980), S. 220.

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

Dadurch hat Christus nicht den animalischen Tod überwunden, wohl aber hat er durch Inkarnation und aufgrund seines Todes am Kreuz dem Tod die Macht genommen und so dem Menschen die Angst vor ihm genommen. Er darf heimgehen zu seinem Vater: „Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod wo ist dein Sieg? (1. Kor. 15,55). Der Hörer des Wortes und der, der dem Evangelium glaubt, hat bereits das ewige Leben (échei zoèn aiónion kaì eis krísin ouk érchetai) und kommt nicht mehr ins Gericht“ (Joh. 5,24). Der Mensch ist nicht physisch unsterblich, aber er ist es im Blick auf seine Auferstehung, auf die er harrt24. Gott hält ihm in Christus Jesus die Treue. In Christi Tod wird stellvertretend der eigene Tod des Menschen durchgestanden. Und in seiner Auferstehung eignet er sich die eigene Auferstehung an. Zusammenfassend ist nach dem Neuen Testament zu sagen: Christi Handeln und Leiden hat zwar den animalische Tod nicht abgeschafft, aber er hat die Macht des Todes durchbrochen. Christus selbst hat den Menschen die Hoffnung geschenkt, ihrerseits durch sein Sterben und Auferstehen ins ewige Leben zu kommen. Der Mensch darf darum in der Hoffnung auf die eigene Auferstehung in der Gemeinschaft mit Gott existieren. 3.1.3 Theologische Erkenntnisse aus der biblischen Überlieferung Wer mit dem Sohn Gottes verbunden ist, hat Teil an dem neuen Leben. Das Leben hat den höheren Wert als der Tod. Der Tod Christi – überwunden in seiner Auferstehung – ist für den Glaubenden die Überwindung des eigenen Todes. Der Tod Christi ist der Beweis der Liebe Gottes – nicht seines Zornes! Die Liebe Gottes überwindet den Fluchtod. Für den Menschen heißt das: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20: zô dè oukéti egó, zê dè en emoì Christós). Der Mensch hat nach dem Neuen Testament sein Leben verwirkt. Das bedeutet, er hat durch die Sünde den Fluch der bösen Tat, also seinen, wie es in der kirchlichen Tradition heißt, Fluchtod auf sich geladen25. Dieser Tod zwingt alles in die „Verhältnislosigkeit“26. Er gebiert fortzeugend Böses. Von ihm ist das natürliche Lebensende, der natürliche Tod, zu unterscheiden. Dieser beendet das Dasein des Menschen. Während man nach den Aposteln Paulus und Johannes sagen kann, dass der Glaubende den Fluchtod schon hinter sich hat, hat der Gottlose nach der Johannesapokalypse ihn noch vor sich. 24 25 26

Vgl. Thielicke, Helmut (1980), S. 278. Jüngel, Eberhard (1971), S. 113. Jüngel, Eberhard (1971), S. 113, 145.

3. Über Leben und Tod des Menschen

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Für das Neue Testament steht die Hoffnung auf Auferstehung im Mittelpunkt. Freilich bleibt der Tod der Sünde Sold (Röm. 6,23; 5,12). Und die Sünde führt in den Tod, weil sie eine Aggression gegen Gott ist. Aber das Neue Testament sieht den Tod vor allem im Lichte der Auferstehung Christi und erkennt darin die Auflösung der Todesmacht (Mt. 16,24 ff.). Im Markusevangelium heißt es: „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mk. 12,27). Die Überwindung des Todes geschieht in der Gemeinschaft mit Gott zum ewigen Leben. Das einzige Kriterium für dieses Gottesverhältnis ist Christus Jesus. In ihm ist der Tod überwunden und das Leben endgültig erschienen. Die Auferstehung Christi bringt diese neue Welt hervor. Für den Christen ist also das Sterben in das Leben einbettet. „Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel. Im gegenwärtigen Zustand seufzen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden“ (2. Kor. 5,1 f.). Das Sterben wird verschlungen vom Leben. Karl Barth formulierte. „Unser gewesenes, unser in unser begrenzten Zeit gelebtes, nicht vor seiner Zeit begonnenes und nicht über seine Zeit hinaus fortzusetzendes, eben dieses unser wirkliches, aber auch einziges Leben wird dann jener kainótes zoês (scil. neues Leben – Röm. 6,4) vollständig, definitiv und offenkundig, teilhaftig, ewiges Leben in Gott, in der Gemeinschaft mit ihm sein“27. Der Christ ersehnt die Befreiung aus der Diesseitigkeit und die Vollendung in der Versöhnung. Und damit hofft er „nicht auf eine Erlösung aus der Diesseitigkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit seiner Existenz, sondern positiv: auf die Offenbarung ihrer in Jesus Christus schon vollendeten Erlösung: der Erlösung gerade seines diesseitigen endlichen und sterblichen Wesens“28. Der Christ wartet auf Christus und hofft damit auf seine „Befreiung zum natürlichen Sterben“29. Das beruht darauf, dass „das Sterben des Menschen an sich und als solches nach der Ordnung des Schöpfers zum Leben seines Geschöpfes gehört und diesem also notwendig ist“30. In Christus wird also nach K. Barth nicht der Tod als solcher verneint, sondern der Tod als Zornesgericht Gottes. Was hier von Barth als Errettung vom Tode nach den Aussagen des Neuen Testamentes ausgedrückt wird, ist eben die Errettung von diesem Todesgericht, das auch als zweiter Tod beschrieben wird, der dem ersten, dem natürlichen folgt (Apk. 20,14)31. 27

Barth, Karl, Die Kirche Dogmatik Bd. III, 2, Zürich 1948, S. 760. Barth, Karl, KD. III, 2, S. 771. 29 Barth, Karl, KD. III, 2, S. 779. 30 Barth, Karl, KD. III, 2, S. 779. 31 Vgl. Fritzsche, Hans Georg, Lehrbuch der Dogmatik Bd. IV, Göttingen 1988, S. 475. 28

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

Als Hoffnung gilt für den Sterbenden: Der Tod des Menschen ist das Ende einer Pilgerreise und gleichzeitig die Heimkehr zum Vater. Der Mensch fällt nicht ins Nichts, sondern in den barmherzigen Schoß seines Schöpfers und Erlösers. Er geht ein in die Ewigkeit seines Gottes. Damit wird der Tod zum Tor des Lebens. Im Gegensatz zum natürlichen Tod ist also der Tod im Gericht, der zweite Tod32. Ob man freilich mit dieser numerisch orientierten Aussage dem ersten Tod als dem Ende des Daseins hinreichend Rechnung trägt, ist zu bezweifeln. Aber er weist doch auf das grenzüberschreitende Sterben des Menschen hin. Die Verurteilung durch ein Endgericht spielt heute im allgemein-gesellschaftliches Denken kaum noch eine Rolle. Das Denken der meisten Menschen im europäischen Raum ist auf das Ende ihres natürlichen Lebens ausgerichtet. Es geht ihnen mehr um die Möglichkeit einer Lebensverlängerung und um die Gestaltung des Sterbens. Das sind wichtige Elemente der Erwartung des Menschen. Ihr Ende soll vor dem Tod möglichst ohne Leiden und Schmerzen ablaufen. Zur Vorstellung eines solchen „guten Todes“ gehört vor allem ein Sterben ohne Siechtum und ohne Schmerzen. In einer Gesellschaft aber, in der eine Vielzahl keine Hoffnung auf ein Jenseits mehr kennt, gilt der Tod als etwas Endgültiges. Nach ihm kommt nichts mehr. Der Glaube vieler Menschen richtet sich darum im Angesicht des Todes nicht mehr auf etwas Zukünftiges. Vielmehr glauben sie, dass der Mensch die Erfüllung seines Lebens allein im Diesseits erfährt. Der Tod dagegen gilt eher als ein Versagen des Menschen. Das aber ist er nach der biblischen Überlieferung nicht. Ob man stattdessen pauschal von einem Reifeprozess des Menschen im Tod sprechen darf, wie es die katholische Bischofkonferenz tut, ist wohl aufgrund der Erörterung der biblischen Texte eher zu bezweifeln. Wird das Leben tatsächlich im Tod erst vollendet? Die Geburt ist zwar der Anfang des Sterbens, so wird es zu Recht erklärt33. Darum ist das Sterben biologisch durchaus ein „Auflösen und Zunichtewerden“. Aber von einem Prozess des Reifens lässt sich nur sprechen im Blick auf die Auferstehung ins Reich Gottes, wenn man gleichzeitig das Leben nach dem Tode im Auge hat. Selbstverständlich trägt dieses Leben „seinen Sinn in sich selbst“. Darum ist das Leben des Menschen insgesamt sowohl ein personales Ich als auch eine biologische Existenz. Nur unter diesem Aspekt behält es als biologisches Leben seinen Wert und wird „im Tod vollendet“. Anderenfalls wird der Tod als Niederlage oder als Versagen empfunden34. Denn dem Leben des Menschen als biologische Existenz bleibt eine letzte Vollendung versagt. 32

Jüngel, Eberhard (1971), S. 117. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Wort der deutschen Bischöfe, Älterwerden und Altsein, Arbeitshilfen Nr. 151, Bonn 2000, S. 43. 33

3. Über Leben und Tod des Menschen

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Es gibt keine Idealvorstellung für das würdige Sterben. Denn schließlich stirbt jeder Mensch seinen eigenen Tod. Es ist oft die Angst vor dem Tod, die das Denken und Handeln des Menschen bestimmt. Angst ist auch die Ursache dafür, dass Sterben und Tod aus dem gesellschaftlichen Geschehen verdrängt werden. Aber für den Christen ist es das Gottesbild und die Glaubenserfahrung, die das Leiden und Sterben ertragen lassen. Christen schöpfen daraus Kraft. Durch Hoffnung auf Versöhnung und Erlösung wird ihnen das Sterben erleichtert. Trotzdem ist das Sterben für sie ebenso schwer wie für die Nichtchristen. Aber aus ihrem Glauben schöpfen sie die nötige Kraft, Leiden und Sterben durchzustehen. 3.2 Sterbehilfen Der Nationale Ethikrat hat in Deutschland darauf hingewiesen, dass es bei der Verwendung des Begriffs „Sterbehilfe“ zu einer gewissen Problematik gekommen ist. Denn das Wort „Sterbehilfe“ hat in Deutschland das der Euthanasie abgelöst. Da die Bezeichnung „Hilfe“ jeweils positiv verstanden wird, ist eine Anwendung in der Zusammensetzung einer „aktiven Sterbehilfe“ problematisch. Schließlich geht es in diesem Fall geht es um die Herbeiführung des Todes eines Menschen35. Der Anspruch auf Selbstbestimmung bei einer lebensbedrohlichen Krankheit oder generell im Sterbeprozess bedeutet nicht eine absolute Entscheidungsfreiheit, sondern nur, dass eine Patientenverfügung eine rechtliche Berücksichtigung findet. Die Entscheidung fällt bei den einzelnen Krankheiten z B. bei schweren und/oder unheilbaren Krankheiten unterschiedlich aus. Ähnliches gilt bei den verschiedenen Sterbehilfen. Um den Patienten sterben lassen zu können, muss er selbstverständlich aus eigener Entscheidung eine Maßnahme ablehnen können, die sein Leben verlängern würde. Man kann terminologisch zwischen mehreren Arten der Sterbehilfe unterscheiden, vor allem zwischen einer aktiven und passiven, einer direkten und einer indirekten Sterbehilfe36. 3.2.1 Aktive und direkte Sterbehilfe Die aktive oder direkte Sterbehilfe entspricht einer aktiven Euthanasie, also einem aktiven Eingreifen.

34

Sekratariat der Deutschen Bischofskonferenz (2000), S. 43. Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende – Stellungnahme vom 13. Juli 2006, S. 26. 36 Vgl. dazu neuerdings: Nationaler Ethikrat (2006), S. 9. 35

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

Es geht dabei um eine Hilfestellung bei der Selbsttötung oder um das Töten auf Verlangen. Das Sterben wird durch das Verabreichen von Gift oder eines Pharmakons in einer letalen Dosis herbeigeführt. Diese Form von Sterbehilfe ist widerrechtlich und strafbar und wurde auch in ihren „Grundsätzen“ von der Bundesärztekammer in Deutschland am 11. Sept. 1998 mit den Worten abgelehnt: „Aktive Sterbehilfe ist unzulässig und mit Strafe bedroht, auch dann, wenn sie auf Verlangen des Patienten geschieht. Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein“37. Schließlich darf der Arzt nach deutschem Recht dem Patienten weder Gift verabreichen noch ihm beim Suizid helfen. Wer das negieren und damit die aktive Sterbehilfe bejahen will, muss sich über das geltende Recht hinwegsetzen. Er müsste darlegen, für welche Krankheiten er ein solches allein auf den Selbstbestimmungsgedanken des Patienten gründendes – Recht angewandt wissen will. Allein in Bezug auf lebensbedrohliche Krankheiten wird dieses Recht keine Anwendung finden können. Wer nämlich den Gedanken der Autonomie ernst nimmt, muss diese auch für andere Fälle, wie etwa: Wirtschaftlicher oder finanzieller Ruin, Vereinsamung, Enttäuschungen, Lebensüberdruss etc. gelten lassen. Es gibt schließlich vielfältige Anlässe für den Einzelnen, aufgrund einer Selbstbestimmung aus dem Leben scheiden zu wollen. Eine Beschränkung der aktiven Sterbehilfe allein auf Schwerkranke unter Anwendung des Autonomiegedanken wäre weder konsequent noch einsehbar. Auch ein medizinischer Notstand, aus dem heraus der Einsatz einer aktiven Sterbehilfe geschieht, spricht nicht für eine überzeugende ärztliche Handlungsweise. Sie eröffnet ebenso eine Missbrauchsmöglichkeit wie die Tötung aus Mitleid. In diesem Fall hätte zusätzlich eine Beobachtung der mittelbar beteiligten Personen vorauszugehen. Eine Tötung aus Mitleid müsste von einer Beurteilung der Lebensqualität des Patienten ausgehen, die zwar die Leiden des Betroffenen, aber auch die der Angehörigen oder mittelbar Beteiligten mit zu bedenken hätte. Nach der Zeit des Nationalsozialismus ist vor kurzem in Deutschland wieder die aktive Sterbehilfe in die Diskussion eingeführt worden. Sie sollte nach Meinung eines früheren Hamburger Justizsenators erlaubt werden, wenn drei Bedingungen gegeben sind: 1. Wenn die Unheilbarkeit der Krankheit von einem Arzt bestätigt wird, 2. eine Beratung der Betroffen durch den Arzt erfolgt, 3. ein notarielles Einverständnis der Betroffenen gegeben ist. Freilich bleibt auch diese Position des christdemokratischen Senators in Deutschland weiterhin umstritten. 37 Zitiert nach: Männl, Heinrich F. K., Sterbehilfe aus medizinischer Sicht, in: Die Neue Ordnung, Walberberg 2004, Heft 4, S. 259.

3. Über Leben und Tod des Menschen

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In Deutschland haben sich nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie im März des Jahres 2001 bereits 70% für die Anwendung der Euthanasie und nur 12% gegen sie entschieden38. Die Befürworter einer aktiven Sterbehilfe auf Verlangen für schwerst Schmerzkranke stieg von 53% im Jahr 1973 auf 67% für das Jahr 2001 in Deutschland. Sogar manche Theologen, Philosophen und Juristen fordern heute eine Selbstbestimmung des Menschen am Lebensende, um einen schmerzfreien Tod zu gewähren. Aber das Parlament und auch das Justizministerium haben sich in Deutschland nicht mit einer Änderung der Gesetzeslage bei der aktiven Sterbehilfe bisher befassen wollen. Man kann nur vermuten, dass in vielen Ländern eine aktive Sterbehilfe geleistet wird, auch wenn man sich in der Öffentlichkeit nicht dazu bekennt. In Belgien etwa wurde sogar die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe im Mai 2002 vom Parlament verabschiedet. Während also bereits heute die Sterbehilfepraxis in Belgien legalisiert ist, bleibt sie in Frankreich strafbar. Immerhin hat das französische Parlament im April 2005 die passive Sterbehilfe erlaubt. Auch in den Niederlanden ging im April 2002 die ein halbes Jahrhundert währende Tabuisierung der Euthanasie mit der Verabschiedung des Gesetzes, das die Praxis der Euthanasie legalisierte, zu Ende. Hier gilt seit 2002 das am weitestgehende Gesetz für die aktive Sterbehilfe. Danach ist es Schwerstkranke zusammen mit zwei Ärzten möglich zu entscheiden, dass eine Behandlung abgebrochen werden kann. Freilich dulden die Niederlande keinen besonderen Euthanasie-Tourismus. Darum kann niemand etwa aus Deutschland oder aus anderen Ländern nach Holland fahren, um dort einen Arzt zum Sterben aufzusuchen! In Griechenland ist die aktive Sterbehilfe strafbar und wird mit Mord gleichgesetzt. In Großbritannien, Norwegen. Schweden, Österreich, Italien und Spanien ist sie ebenfalls weiterhin strafbar. Von der Schweiz heißt es, dass die Tötung auf Verlangen teilweise toleriert wird, indem man Patientenorganisationen erlaubt, bei der aktiven Sterbehilfe behilflich zu sein. Peter Singer, der australische Moralphilosoph, der in Princeton lehrt, äußerte über das Lebensende der Eskimos: Es sei in der Eskimogesellschaft Sitte gewesen, „dass ein Mann seine betagten Eltern tötete“. Ein Mord an einem gesunden normalen Erwachsenen dagegen kam fast nie vor39. Für Singer steht fest, dass Menschen die Möglichkeiten haben sollen, welche Art von Leben sie fortsetzen wollen und welche nicht. Er weist auf eine angebliche selektive Handlungsweise in den größeren Krankenhäusern hin. 38 Vgl. Spieker, Manfred, Gescheiterte Reformen, in: Kirche und Gesellschaft Nr. 306, Köln 2004, S. 11. 39 Singer, Peter (1984), S. 214.

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

Würde man die aktive oder direkte Sterbehilfe zulassen, würde der Mensch ein unbegrenztes Verfügen über sein Leben erhalten. Damit würde dann sogar jede Mithilfe bei einer Tötung gestattet. Und aktive Sterbehilfe ist vorsätzliches Töten. Das ist in jedem Fall Unrecht. Zur aktiven Sterbehilfe gehören ebenfalls die Beihilfe zur Selbsttötung und das Töten auf Verlangen. Während bei der Beihilfe zur Selbsttötung letztlich der „Patient“ die Tat ausführt (Selbsttötung), handelt bei der Tötung auf Verlangen nicht der Betroffene selbst, sondern der andere (Fremdtötung). Beides ist letztlich eine aktive Sterbehilfe. Zwar lassen sich bei der Tötung auf Verlangen einige gegensätzliche Überlegungen anstellen, die aber am Grundsatz nichts ändern40. Zwischen der aktiven und passiven Sterbehilfe besteht nur ein kleiner gradueller Unterschied. Ob nämlich das Abschalten eines Gerätes zur aktiven Euthanasie gehört oder eher zur passiven Sterbehilfe, ist eine Frage der Interpretation. Einen Menschen zu töten, heißt jedoch letztlich der Verursacher des Sterbens zu sein. 3.2.2 Passive und indirekte Sterbehilfe Die indirekte Sterbehilfe – am besten verstanden als eine „echte“ Sterbehilfe – kann durch das Verabreichen schmerzlindernder oder das Bewusstsein trübender Mittel eine Beschleunigung des Ablebens hervorrufen. Dieses kann eintreten als eine möglicherweise auftretende aber nicht beabsichtigte Nebenfolge. Der Bundesgerichtshof hatte bereits 1997 festgestellt, dass die Gabe einer schmerzlindernden Medizin, die einem Sterbenden gegeben wird, nicht dadurch unzulässig ist, dass als nicht beabsichtigte aber in Kauf genommene Nebenfolge der Eintritt des Todes beschleunigt wird. Im Katechismus der katholischen Kirche heißt es mit Recht zu diesem Problem: „Schmerzlindernde Mittel zu verwenden, um die Leiden des Sterbenden zu erleichtern, selbst auf die Gefahr hin, sein Leben abzukürzen, kann sittlich der Menschenwürde entsprechen, falls der Tod weder als Ziel noch als Mittel gewollt, sondern bloß als unvermeidlich vorausgesehen und in Kauf genommen wird“41. In der passiven Sterbehilfe wird dem Sterbenden durch Verzicht auf notwendige Behandlungsmaßnahmen oder aufgrund eines Behandlungsabbruchs ein Sterben-Lassen gewährt. Würde das Handeln des Arztes nicht im Sinne einer passiven Sterbehilfe durch eine bloße Untätigkeit, sondern durch das Abschalten von Geräten (z. B. Beatmungsgerät) erfolgen, könnte man solches ärztliche 40 41

s. unten 7. Kapitel, 3.2. Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, S. 580, n. 2279.

3. Über Leben und Tod des Menschen

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Handeln eventuell als eine strafrechtlich verbotene aktive Sterbehilfe verstehen. Aber gerade darum stellt sich die Frage: Trifft das nicht auch dann zu, wenn man die Geräte erst gar nicht anschließt? Gegen die Wortwahl „passive“ Sterbehilfe lässt sich einwenden, dass es im eigentlichen Sinn keine passive Sterbehilfe gibt, sondern nur ein aktives Eingreifen bzw. Nicht-Handeln des Arztes (Nicht-Anlegen oder Abstellen von Geräten). Das Sterben-Lassen eines unheilbar kranken Menschen dagegen hat eine andere ethische Qualität als die Tötung auf Verlangen. Zwischen der passiven Sterbehilfe und einem Töten auf Verlangen ist zu differenzieren. Zwar ist beim Sterben-Lassen eines Patienten in medizinisch aussichtloser Lage der Arzt der Handelnde. Bei einem Töten auf Verlangen des Patienten scheint es ebenso zu sein. Aber es besteht ein qualitativer Unterschied. Denn beim Töten auf Verlangen handelt der Arzt auf Anweisung, auch wenn der Patient ihn ausdrücklich anweist, etwa die Geräte abzuschalten. Er bleibt der aktiv Handelnde. Denn das Töten auf Verlangen zielt unmittelbar auf das leben des anderen. Wer dagegen seinen Patienten sterben lässt, nimmt sich als unmittelbar Tätiger zurück42. Wer nach einer passiven Sterbehilfe ruft, muss daran denken, dass der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat und der Tod in nächster Zukunft zu erwarten ist. In einem solchen Fall handelt es sich um eine passive Sterbehilfe und nicht um ein Töten auf Verlangen. Es geht im strengen Sinn also nicht um die Beendigung eines Lebens, sondern vielmehr darum ,nur‘ um das Abschalten von Geräten, die den Patienten am Sterben hindern. Der schleichende Übergang von der passiven zur aktiven Sterbehilfe wird an diesen Fallbeispielen deutlich sichtbar. In fast allen europäischen Ländern werden zu der indirekten oder passiven Sterbehilfe entweder keine näheren Angaben gemacht, oder sie bleibt von vornherein straffrei. Neuerdings hat man sich nicht nur aus dem Zentralkomitee der Katholiken, sondern auch von anderen Personen aus der Palliativmedizin, speziell auch von einer englisch-belgischen Forschergruppe, gegen den Begriff der passiven Sterbehilfe für Menschen im Wachkoma gewandt. Denn das Wachkoma gehört zu den besonders schwer überschaubaren und keineswegs hinreichend erforschten neurologischen Phänomenen. Gefordert wird, dass man sich hüten solle, sich einfach aufgrund dieser Denkweise mit Hilfe des passiven Sterbens für ein Sterben-Lassen zu verwenden. Ein allerdings umstrittener Vorschlag lautet gar stattdessen „Töten durch Entzug von Nahrung und Flüssigkeit“43. Aber dann wäre

42 43

Vgl. Nationaler Ethikrat (2006), S. 51. Vgl. FAZ vom 13. Sept. 2006, S. N 1: Wach im Koma.

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

man schnell wieder beim Vorgang eines aktiven Sterbens angelangt. Immer gilt es zu bedenken, dass ein würdiges Sterben zum Leben gehört! Ähnliche Aussagen werden über die Tötung auf Verlangen gemacht. Wer schon die Beihilfe zum Suizid ethisch nicht für vertretbar hält, wird ebenfalls das Töten auf Verlangen nicht vertreten können. Die Meinungen über die Frage, ob man der Forderung eines Menschen nachgeben darf, ihn auf sein Verlangen hin zu töten, gingen im Nationalen Ethikrat weit auseinander. Bei der Bewertung muss strikt zwischen der Selbsttötung und der Fremdtötung unterschieden werden. Die Hemmschwelle für den Patienten, der das Töten auf Verlangen an einen anderen Menschen, in diesem Fall an den Arzt, stellt, ist weitaus geringer, als wenn er selbst Hand an sich legt. Freilich stellt sich die Frage, ob dieses Verlangen überhaupt mit dem Berufsethos des Arztes zu vereinbaren sei. Dass eine Suizidhilfe in den Ländern, in denen diese erlaubt ist, von den Patienten nur geringfügig in Anspruch genommen wird, spricht nicht für oder gegen eine ethische Bewertung einer Tötung auf Verlangen. Hier muss es um eine grundsätzliche ethische Entscheidung gehen, ob es mit dem ärztlichen Berufsethos überhaupt zu vereinbaren ist, seine Tätigkeit nicht für die Erhaltung des Lebens, sondern auf das Töten auszurichten. Zwar haben sich insgesamt alle Mitglieder des Ethikrates gegen eine strafrechtliche Aufweichung des Verbots einer Tötung auf Verlangen ausgesprochen. Darum sollte in Deutschland der § 216 StGB auch nicht geändert werden. Von einigen Mitgliedern des Nationalen Ethikrates wird auf den Missbrauch verwiesen, der mit der Tötung auf Verlangen durch die Ärzteschaft bei den Euthanasieverbrechen während der Naziherrschaft betrieben wurde. Diese hatte sich des bedeutenden Strafrechtlers Binding in Verbindung mit dem Freiburger Psychiater bedient, um die Vernichtung von Geisteskranken zu rechtfertigten. Binding aber hatte sich nur dafür ausgesprochen, die Tötung auf Verlangen zu erlauben. Von der Freigabe einer Tötung konnte nicht die rede sein44. Eine kleine Gruppe von Mitgliedern des Nationalen Ethikrates macht mit Recht darauf aufmerksam, dass das Verbot der Tötung auf Verlangen nicht nur aus der besonderen geschichtlichen Verantwortung der Deutschen heraus angesichts der Euthanasieverbrechen des Nazisystems abzulehnen ist45. Der Ethikrat führt dann weiter im Blick auf die individuelle Beihilfe zum Suizid aus, diese sei ebenso zu behandeln wie der Suizid selbst. Wenig überzeugend bleibt allerdings die Stellungnahme der Mehrheit der Teilnehmer. Wo die Selbsttötung als solche nicht strafbar ist, dürfte auch die Hilfe zur Selbsttötung 44 45

Vgl. Schara, Joachim, Sterben helfen, in: FAZ vom 10. Sept. 2004, S. 6, Sp. 1. Vgl. Nationaler Ethikrat (2006), S. 53.

3. Über Leben und Tod des Menschen

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keine strafbare Handlung sein. Ärzte kommen oftmals in die Lage, dass man von ihnen verlangt, bei der Vorbereitung oder Durchführung eines Suizids dem zur Selbsttötung Entschlossenen Hilfe zu leisten. „Nach verbreiteter Ansicht, die in Deutschland von der Mehrheit der Ärzte und auch von der Bundesärztekammer geteilt wird, widerspricht die Suizidbeihilfe dem beruflichen Auftrag des Arztes“46. Andere Ärzte, die nicht dieser Meinung sind, können eine Beihilfe zur Selbsttötung durchaus mit ihrem ärztlichen Ethos vereinbaren. Diese plädieren dafür, die ärztliche Beihilfe zum Suizid unter ganz bestimmten Voraussetzungen berufsrechtlich zuzulassen47. Denn es wird argumentiert, dass eine Beihilfe zum Suizid durchaus dem Wohle des Patienten dienen kann. Freilich gibt es hinreichende Schwierigkeiten, etwa festzustellen, dass der Suizidversuch tatsächlich frei verantwortet wird. Schließlich versucht der Nationale Ethikrat noch einen dritten Fall zu klären. Hier geht es um eine ganz persönliche Gewissensentscheidung, wenn der Arzt nach langer Behandlungsdauer zum Schluss kommt, der Suizid-Wunsch des Patienten sei von diesem hinreichend bedacht worden und auch nachvollziehbar. Das Handeln des Arztes sollte dann einzig seinem Gewissensentscheid verantwortlich sein. Es sei schließlich eine Einzelfallentscheidung, die auch nicht berufsrechtlich geahndet werden dürfe. Der Nationale Ethikrat hat diese Tatbestände akribisch aufgeführt, er hat aber keine eindeutige Stellungsnahme formuliert. Freilich sollte bedacht werden, bedeutender als eine Strafwürdigkeit müsste sein, dass sich eine Tötung auf Verlangen ebenso wie die Beihilfe zum Freitod aufgrund des fünften Gebotes verbietet und erst recht nicht mit dem ärztlichen Ethos vereinbar ist. 3.2.3 Der Willensentscheid des Patienten Dem Arzt ist aufgetragen, zu helfen und zu heilen. Solange noch Hoffnung auf Heilung für den Patienten besteht, ist es seine Aufgabe, ihn zu behandeln. Zwar darf er nicht gegen dessen Willen tätig werden. Auch wenn der Patient sich wegen seines körperlichen und seelischen Zustandes nicht äußern kann, muss der Arzt die Behandlung fortsetzen. In diesem Fall kann er sich nur auf den mutmaßlichen Willen des Patienten beziehen. Dem Arzt obliegt es dann, die Tätigkeit oder die notwendigen Einriffe vorzunehmen, als wäre der Patient befragt worden und hätte sich entscheiden können. Der mutmaßliche Wille des bewusstlosen Patienten hat eine gleiche Bedeutung wie der eines entscheidungs46 47

Nationaler Ethikrat (2006), S. 47. Vgl. Nationaler Ethikrat (2006), S. 48.

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7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

fähigen Patienten. Wie eine solche Entscheidung aussieht, ist allerdings nur aus der Erfahrung des Arztes heraus zu treffen. Das gilt, wenn keine anders lautende Patientenverfügung besteht, das Leben nicht mehr bewusst gelebt wird, der Patient mit der Umwelt nicht mehr kommunizieren kann oder eine eigene Persönlichkeitsentfaltung nicht mehr stattfindet. Schon heute darf gegen den Willen des Patienten nicht behandelt werden. Jeder Eingriff ohne den Willen des Patienten ist nicht erlaubt. Sonst würden diese zu Objekten gemacht werden. Sollte ein Patient davor Angst haben, weil er möglicherweise seine Individualität verlieren könnte, wird er wohl auf eine weitere Behandlung verzichten oder sogar den Arzt ganz ablehnen. Diesem sind dann ausdrücklich die Hände gebunden. Besteht eine spezielle Patientenverfügung, ist dem Arzt ein ausdrückliches Behandlungsverbot auferlegt. Zwar sollte in der Medizin, speziell in der Intensivmedizin, eine Kosten-Nutzen-Überlegung keinen Platz haben. Aber dennoch fragt man in der Gesellschaft immer wieder, was ist notwendig, was kann verantwortet werden? Es versteht sich von selbst, dass jeder Einsatz, der Menschenleben rettet, richtig ist, weil er dem Patienten geschuldet ist. Da man aber im Voraus den Behandlungsausgang nicht kennt, stellt sich jeweils von neuem die Frage, ob man das Leben noch retten kann oder nicht. Ärzte sind auf den jeweiligen Versuch angewiesen, so oder anders vorzugehen. Zwar stellt sich die Zurechnung der anfallenden Kosten jedes Mal für die Gesellschaft und für den Patienten neu. Aber vor allem ist abzuschätzen, inwieweit eine Behandlung für den Patienten seelisch und körperlich zumutbar ist oder aber gegen seine eigenen Interessen verstößt. Der immaterielle Preis, den Patienten glauben, erbringen zu müssen, um zu überleben (Anschluss an Apparate, Einnahme bestimmen Medikamenten etc.) wird oftmals deshalb von ihnen nicht akzeptiert, weil er von ihnen als viel zu hoch eingeschätzt wird (Einbußen an Lebensqualität, allzu große Schmerzen etc.). Darum dürften also nicht allein die materiellen Kosten für die Entscheidung, ob eine Behandlung durchgeführt werden soll oder nicht, den Ausschlag geben, sondern auch die Einschätzung der immateriellen Kosten. Bei den Behandlungskosten muss gelten, dass „Kosten-Nutzen-Überlegungen“ in der Intensivmedizin keine Berechtigung haben. „Aber wenn man Kosten durch in Kauf genommenes Leiden ersetzt und Nutzen durch den Wert, den der Ausgang für den Patienten hat, dann werden Kosten-Nutzen-Überlegungen auch ethisch bedeutsam“48. Könnte man von vornherein den Ausgang übersehen bzw. die Vergeblichkeit der Bemühungen absehen, „dann verböte sich jede Intensivhandlung“49. Denn

48 49

Schara, Joachim, FAZ 2004, S. 6, Sp. 4. Ebenda.

3. Über Leben und Tod des Menschen

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Sterben gehört nun einmal unmittelbar zum Leben hinzu; aber keineswegs eine Behandlung um jeden Preis. Sollten Menschen in den Zustand der Pflegebedürftigkeit fallen, hat heute die Medizin einerseits lebensverlängernde Maßnahmen zur Hand. Andererseits aber ist auch an ein Sterben in einer menschenwürdigen Weise zu denken. Beim Arzt kommt es in der Intensivmedizin auf Erfahrung, Reife und Verantwortungsbereitschaft an. Fehlen bei ihm diese Voraussetzungen, wird er sich an die Technik und an das durch sie Machbare halten50. Versagen die medizinischen Handlungsweisen, ist weder eine Heilung noch die Abwendung des Sterbens erreichbar, dann muss an eine Palliativmedizin und damit an eine Linderung der Schmerzen durch entsprechende medizinische Maßnahmen gedacht werden. Selbst schwerste Zustände sollten durch palliative Maßnahmen, also etwa durch die Gabe von Beruhigungsmitteln oder Opiate, die das Bewusstsein des Patienten trüben können, gelindert werden. Trotzdem gilt für eine christliche Existenz: Nach christlichem Glaube ist der Tod hinzunehmen, aber nicht herbeizuführen. 3.3 Ethische Erwägungen zur Selbsttötung Der Mensch hat die Möglichkeit, sein Leben zu bejahen oder auch zu beenden. Er kann sich selbst – im Unterschied zum Tier – den Tod geben und ist so der Herr seines Schicksals. Der Freitod ist eine spezifisch menschliche Tat. Aber trotz der gesetzlichen Regelung der Straflosigkeit wird generell in der Gesellschaft der Suizid nicht gut geheißen. Die Bewertung des Suizids durch die Religionen ist ganz unterschiedlich. Lehnt der Islam den Suizid einerseits entschieden ab, wird er andererseits als heroische Tat oder als letzte Möglichkeit der Freiheit angesehen. Die christliche Bewertung des Suizids ist nicht einheitlich. Eine Selbsttötung ist oft nur ein Schrei nach Hilfe. Der Mensch steckt vielfach in einer Sinn- bzw. Lebenskrise. Oft ist der Suizid die Folge einer endogenen Depression. In der Theologie der beiden Großkirchen wird die bewusste und freiwillige Selbsttötung aufgrund des fünften Gebotes ablehnt. Dem Menschen ist generell untersagt, eine Selbsttötung vorzunehmen. Im Gegensatz zum griechischen und römischen Heroismus, der eine Selbsttötung als Ausdruck der Freiheit des Menschen verstand, verbietet der christliche Glaube den Suizid. Das Hand-an-sich-Legen ist als moralische oder als menschliche Kategorie „die letzte und äußerte Selbstrechtfertigung des Menschen als

50

Vgl. Schara, Joachim, FAZ 2004, S. 6, Sp. 3.

202

7. Kap.: Über Leben und Sterben des Menschen

Mensch und damit – vom rein menschlichen her gesehen – sogar in gewissem Sinne die selbstverschuldete Sühne für ein verfehltes Leben“51. Nach christlicher Auffassung ist – wie gesagt – die Selbsttötung, auch wenn sie aus noch so hohen Motiven geschieht, nicht gerechtfertigt. Die Verwerflichkeit des Freitodes gilt „nicht vor dem Forum der Moral oder der Menschen, sondern allein vor dem Forum Gottes. Schuldig wird der Selbstmörder allein vor Gott, dem Schöpfer und Herrn über sein Leben“52. Selbsttötung ist darum ein Akt des Unglaubens. „Der Unglaube aber rechnet im Guten wie im Schlechten nicht mit dem lebendigen Gott“53. Freilich gibt es berechtige Ausnahmen des Verbotes eines Freitodes. Aus einer evangelisch-ethischen Erkenntnis heraus kann das strikte Verbot des Freitodes eingeschränkt werden. Wenn es um die Erhaltung eines anderen Menschen geht, kann der Einsatz des eigenen Lebens durchaus gerechtfertigt sein. „Dort nämlich, wo es bei der Selbsttötung um ein bewusstes Opfer des eigenen Lebens für andere geht“, muss die Verwerfung des Suizids zum mindesten suspendiert werden, „weil hier die Grenze menschlicher Erkenntnis erreicht ist“54. Aber noch einmal sei es gesagt: Wo nicht das Leben anderer geschützt, sondern ausschließlich das eigene Leben infrage gestellt wird, ist eine ethische Selbsttötung nicht zu vertreten. Eine freiwillige Beihilfe zum Suizid ist ebenfalls nicht gerechtfertigt. Da nach der neueren Suizidforschung die Selbsttötung am Ende einer Entwicklung steht, die zu einer Verengung der seelischen Selbststeuerung führte, kann dem Suizidgefährdeten nicht die volle Verantwortung zugeschrieben werden55. Wird dagegen eine Ethik vertreten, die sich dem Verbot einer Selbsttötung nicht unterwirft, ist es selbstverständlich leichter, diese zu bejahen und auszuführen. Dort, wo der Mensch sich selbst allein als oberste Instanz anerkennt, kann nämlich der Freitod eine legitime Handlungsweise bedeuten. Im Nationalen Ethikrat Deutschlands werden zwei unterschiedlichen Meinungen über die Bewertung der Selbsttötung vertreten56: 1. Jeder Suizid ist ein elementarer Widerspruch zum Leben und damit zu den Voraussetzungen einer Selbstbestimmung des Menschen. Er ist darum zu missbilligen. Allerdings muss die individuelle Lage (unheilbare Krankheit) 51 Vgl. Bonhoeffer, Dietrich, Ethik (Hrsg. E. Bethke), München 71966, S. 178 (alte Aufl. S. 112). 52 Bonhoeffer, Dietrich (1966), S. 178 f. (112). 53 Bonhoeffer, Dietrich (1966), S. 179 (113). 54 Bonhoeffer, Dietrich (1966), S. 181 f. (S. 114). 55 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.), Katholischer Erwachsenen-Katechismus 2. Band, Bonn 1995, S. 283 f. 56 Nationaler Ethikrat (2006), S. 44 f.

3. Über Leben und Tod des Menschen

203

des einzelnen Menschen Berücksichtigung finden. Aus religiöser und theologischer Sicht ist die Selbsttötung ein unzulässiges endgültiges Urteil über den Wert und Unwert des eigenen Lebens. 2. Die Selbsttötung eines entscheidungsfähigen unheilbaren kranken Menschen zu respektieren und zu akzeptieren, kann durchaus aus allgemein-ethischer Einsicht zulässig sein. Im Blick auf das Handeln der Ärzte wird von einzelnen Teilnehmern des Nationalen Ethikrat gefordert, der Arzt habe jeden Suizidversuch gemäß seiner Eidesleistung zu vereiteln. Von anderen Mitgliedern dagegen wird gefordert, dass der Arzt keine Verpflichtung habe, einen Suizidversuch zu unterbinden. Abschließend und zusammenfassend ist festzustellen: Die Menschenwürde gebietet: – jeder Mensch hat in allen Lebenslagen Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung, – der Wille des Menschen muss auch im Sterbeprozess bzw. bei der Sterbebegleitung maßgeblich sein, – jeder Kranke muss die Möglichkeit haben, eine Behandlungsmethode oder eine medizinische Maßnahme abzulehnen, – jeder Mensch, der an der Pflege eines unheilbaren oder sterbenden Kranken beteiligt ist, hat die Entscheidung des Patienten ernsthaft mit zu bedenken und zu berücksichtigen. Es ist selbstverständlich, dass die Lage der Schwerkranken und Sterbenden nicht nur unter dem Ideal einer Selbstbestimmung und eines Autonomiedenkens zu sehen ist. Fürsorge, Unterstützung durch andere Menschen, medizinische und pflegerische Betreuung sind ebenso wichtig.

8. Kapitel

Rückblick und Ausblick Ein prägendes Element in den europäischen Gesellschaften ist das Wechselspiel von Individualismus und Pluralismus1. Das postmoderne Denken der Gegenwart wird vom religiösen Pluralismus beherrscht. Er ist eines der wesentlichen Kennzeichen unserer Zeit. Wer sich gegen das postmoderne Denken stellt, der ignoriert damit gleichzeitig diesen Pluralismus. Die Vielheit und Verschiedenheit hat mittlerweile die Einheitlichkeit des Wissens ersetzt. Der religiöse Pluralismus in der Postmoderne begegnet einer individuellen Deutung der Wirklichkeit. Diese hat jedoch bereits in der Moderne begonnen und setzt sich weiter fort. Der Trend einer Individualisierung der Gesellschaft hat sich mit dem neuzeitlichen Subjektivismus verbunden2. Der Mensch der Gegenwart erkennt generell seine Wirklichkeit als subjektbezogen. Darum treffen sich derzeitig auch Individualismus und Subjektivismus im Leben des Menschen. Die moderne Gesellschaft kennt eine Vielfalt und Verschiedenheit in den gesellschaftlichen Abläufen der Völker, speziell in deren kirchlich-religiösen Erscheinungsformen. Man kann allerdings den Beginn des Pluralismus bis in die frühe Christenheit zurückverfolgen, als an die Stelle der einen überlieferten Religion die Trennung zwischen Ost- und Westkirche trat. Später kam dann die Trennung der reformatorischen Kirchen von der katholischen hinzu. Jede dieser Kirchen beanspruchte für sich, im Besitz der Wahrheit zu sein. Über das weltanschaulich-religiöse Denken hinaus hat sich das christliche und das wissenschaftliche Erkennen relativiert. Der Anspruch einer monopolistischen Vernunft in den Wissenschaften ist nämlich einem pluralistischen Prozess gewichen. Denn autoritäre Strukturen in der Welterklärung sind heute verpönt. Stattdessen existiert auf diesen Gebieten ein weitgehend weltanschaulich geprägter Pluralismus. Die Einheitlichkeit von Wissen und Handeln hat einem Relativismus Platz gemacht. Gegenüber einer einheitlichen Weltorientierung steht die plurale Weltgestalt auf vielen Gebieten. Im christlich-religiösen Den1 Vgl. Schwöbel, Christoph, Christlicher Glaube im Pluralismus, Tübingen 2003, S. 426 ff. 2 Vgl. Schwöbel, Christoph (2003), S. 6 ff., 428.

8. Kap.: Rückblick und Ausblick

205

ken sind kaum noch Grundlagen für ein gemeinsames Glauben und Handeln der Menschen anderer Religionen und Welterklärungen gegeben. Für die Postmoderne mit ihrem Streben nach dem Pluralen, insbesondere nach der religiösen Pluralität, gibt es keine einfache Wahrheit, sondern eine Vielzahl von Wahrheitsansprüchen. Die moderne Gesellschaft will diese Fragestellung berücksichtigen. Dem muss sich auch die religiöse Welt des Christentums stellen. Die Frage nach dem christlichen Gottesbegriff stellt sich in der postmodernen Gesellschaft neu. Aufgrund dieser Denkstruktur wird auch der jüdisch-christliche Monotheismus zu überdenken sein. Der religiöse Pluralismus der westlichen Gegenwart ist vor allem gekennzeichnet durch den Bruch mit der christlichen Tradition. Aber bereits im Neuen Testament gibt es hinreichende Strukturen, die von einem religiösen Pluralismus sprechen. Allerdings zeigt sich dieser in einem um den christlichen Kern sich gruppierenden inneren Pluralismus des Auferstehungsglaubens. Demgegenüber weist der moderne Pluralismus eine religiöse Beliebigkeit auf. Man sollte darum eher von einem weltanschaulich religiösen Pluralismus sprechen. Durchaus wird mit Recht die Gegenwart als „Zeitalter hypertropher postsäkularer Religiositäten“ genannt3. Zu dieser Religiosität zählen etwa religiöse Erscheinungen, wie sie sich aus der Jugendkultur, der Esoterik, der Theosophie, der New Age-Bewegung, der Schwarzen Magie und anderer so genannten religiösen Erscheinungen, speziell der unterschiedlichen Jugendreligionen ergeben4. Diese säkulare Form der Religiosität entwickelt sich gleichsam neben oder innerhalb der christlichen Überlieferung. Die Wiederkehr des Religiösen findet heute im Alltag des säkularen Lebens statt. In der Wiederkehr des Religiösen sind erstens im Zuge der Migrationsbewegung neue und völlig andere religiöse Einflüsse in die eigenständige Kultur des jüdisch-christlichen Abendlandes eingeflossen, die zu einer Vielfalt der überlieferten Religion beigetragen und gleichzeitig die Gestaltungsformen des Christentums vermehrt haben5. Die Wiederkehr des Religiösen findet zweitens in einer „postsäkularen Religiosität“ statt. Die Religiosität kommt nicht aus der erwachsenen religiösen Tradition, sondern entstammt vielmehr einer „religiösen Gegenkultur“6. Die Wiederkehr des Religiösen in der Alltagswelt zeigt sich drittens dadurch, dass das Christentum durch alle genannten Bewegungen mit betroffen ist. Zum 3

Schwöbel, Christoph (2003), S. 30. Vgl. Kramer, Rolf, Die postmoderne Gesellschaft und der religiöse Pluralismus, Berlin 2004, S. 12 u. ö. Vgl. Preul, Reiner, So wahr mir Gott helfe!, Darmstadt 2003, S. 106 ff. 5 Vgl. Schwöbel, Christoph (2003), S. 3 ff. 6 Schwöbel, Christoph (2003), S. 4 f. 4

206

8. Kap.: Rückblick und Ausblick

einen lernte es neue bisher unbekannte Formen religiösen Glaubens und Denkens kennen und zum anderen partizipiert es von den neuen Bewegungen, die ihm bisher fremd waren. Die gegenwärtigen Menschen bleiben nicht bei ihrem Streben nach Individualität, sondern sie suchen gleichzeitig nach einem Kollektivismus und suchen einen kollektiven Zusammenschluss. Dabei übernehmen sie heute nicht mehr die ihnen von Generation zu Generation überkommenen Muster, sondern erstreben eine Selbstbestimmung und ihre Selbstverwirklichung. Ihr Ziel ist, ihre Lebensmöglichkeiten für sich selbst auszuwählen, zu verwerfen oder anzuerkennen. Aber zugleich unterwerfen sie sich bewusst einem kollektiven Denken und Handeln. Kinder und Jugendliche sind zwar oftmals Individualisten, aber sie unterwerfen sich einem kollektiven Zwang. Darum wählen sie zwar oft individuell, aber akzeptieren vielfach nur bestimmte Markenartikel, die von vielen ,Kumpels‘ bevorzugt werden. Wer im Konsumbereich anderes trägt, ist „out“. Diebstähle in Bereichen von Kleidung oder anderen Wertgegenständen, die in Mode sind (Handy, Handy-Melodien etc.), sind an Schulen und Pausenhöfen nicht selten zu beobachten! Ist es da erstaunlich, dass man heute, um solchem kriminellen Handeln Einhalt zu gebieten, nach Schuluniformen ruft? Man hofft so, dem kriminellen Handeln der Nichtbesitzenden vorzubeugen. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene sind an einem Kollektivismus interessiert. Man schließt sich kollektiv zusammen. Das steckt hinter dem Streben nach kollektivistischen Institutionen und Organen, z. B. nach Vereinen, Klubs und Parteien. In der Gegenwart trachten viele Menschen nicht nur nach dem Besitz von gleichen Kleidungsstücken, sondern ebenfalls nach dem Besitz von teueren Markenartikeln, wie z. B. von Autos oder Elektrogeräten. Vielfach ordnet man sich auch gern einem kollektiven Geschmack unter oder fügt sich in bestimmte Gruppierungen ein. Der Respekt gegenüber der Pluralisierung fordert gleichzeitig die Akzeptanz des anderen Menschen und seiner Fremdheit oder Andersartigkeit. Diese Besonderheit des Gegenüber wird erst richtig auf der Basis des christlichen Glaubens wahrgenommen und respektiert7. Denn in ihm begegnet der Christ einem gleichwertigen Ebenbild Gottes.

1. Vom Leben in dieser einen Welt Nach der visionären und euphorischen Besessenheit von der Idee einer Weltherrschaft während des Dritten Reiches kam es nach dem Zusammenbruch von 1945 und in den Nachkriegsjahren in Deutschland zu einem umfassenden, aber 7

s. unten 8. Kapitel, 3.

1. Vom Leben in dieser einen Welt

207

auch entbehrungsreichen Wiederaufbau. Die Menschen sehnten sich in Deutschland nach der Nazi-Diktatur von 1933 bis 1945 und nach der Diktatur der DDR (1948–1989) nicht nach neuen politisch-gesellschaftlichen Ideologien. Sie wollten keine neue von Ideologien oder Utopien getragene Gesellschaft. Und sie wollten keine kollektive Neuorientierung. Trotzdem herrschte Angst vor einer neuen Ideologisierung der Gesellschaft. Mit der Gründung der Bundesrepublik ist es nicht bei der Abkehr von Ideologien geblieben. Es kam zu einer neuen demokratischen Verfassung, die allen Einwohnern – trotz einiger sozialer Härten – ein hinreichendes Auskommen brachte. Diese Zeit war weitgehend durch Wachstum und Wohlstand der Bevölkerung gekennzeichnet, wenn auch heute ständig von Armut und Verelendung geredet wird. Für den einzelnen Bürger und für die ganze Gesellschaft fehlt eine hinreichende Zielorientierung. Zwar gab es eine Neugestaltung des jeweiligen Deutschlands nach 1945 und 1989. Aber es lagen zwischen diesen Zeiten unterschiedliche Entwicklungsstufen; etwa in Westdeutschland nach 1945 die 68-Bewegung und in Ganzdeutschland die Veränderungen in der Zeit nach der Wiedervereinigung von 1989. In der Zeit nach der Jahrtausendwende hat sich jedoch kein besonderer Aufbruch in die Neuzeit eingestellt. Weder existiert eine neue ideologische Vision noch sind für die Zukunft neue Ziele für die Gesellschaft in Deutschland entwickelt worden. Die gegenwärtige Gesellschaft steht unter ständiger Beobachtung und kritischen Würdigung durch Wissenschaft und Medien. Dabei wird nicht nur über die Missstände geurteilt, sondern zusätzlich werden neue Zustände und Entwicklungen diskutiert. Das bedeutet sowohl Konstanz als auch eine fortschreitende Entwicklung der Gesellschaft. Außer ihrer Beharrlichkeit existiert eine Sehnsucht nach einer Veränderung und Mobilität. Die Erstarrung in der Tradition wird also konterkariert durch ein Streben nach einer gesellschaftlichen Veränderung. Aber zugleich prägt eine Unübersichtlichkeit die gesellschaftliche Entwicklung. Die Menschen leben in einer sozialen Komplexität. Unterschiedliche Tendenzen in ihr machen das Leben aus. Überkommenes wird immer weniger gefragt. Dennoch gibt es so etwas wie ein soziales Beharrungsvermögen. Aber andererseits ist die Gesellschaft gekennzeichnet durch einen permanenten Aktivismus. Die Menschen leben also in einer hektischen Betriebsamkeit. Sie steigern ihren Bewegungsdrang und erfinden immer neue Veränderungen, ohne aber ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Bildlich ist das im Kampf des Autofahrers gegen die Uhr abzulesen. Gelingt es ihm, sich souverän durch den Verkehr zu lavieren, gerade eben noch die gelben Ampeln zu überwinden, den angekündigten

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8. Kap.: Rückblick und Ausblick

und erlebten Staus aus dem Wege zu fahren und andere Verkehrsteilnehmer „abzuhängen“, hat er geradezu ein euphorisches Gefühl, „etwas“ vollbracht zu haben. Er fühlte sich durch die eigene Tat belohnt. Man möchte zwar in der Gesellschaft neu beginnen, weil man die Vorstellung hat, man müsse schließlich etwas tun. Aber man erstarrt in einer ständigen Hinund Herbewegung, die nicht zu einem Ergebnis führt. Die Gesellschaft bewegt sich also wie ein Hamster in einem Laufrad8. Sie dreht sich, aber letztlich nur in der Weise, dass sie sich nicht in eine bestimmte Richtung entwickelt. Einerseits wird die gesellschaftliche Zukunft durch die Erwartung von Beständigkeit gestaltet. Die Deutung der Wirklichkeit richtet sich darum nicht auf eine Forderung nach Modernisierung der Tradition. Und gleichzeitig ist ein Beharrungsvermögen festzustellen, im Ablauf ja nichts zu verändern. Selbst unterschiedlichste Ängste, etwa vor einem ökologischen Umbruch oder einer atomaren Bedrohung, können der Auffassung von einer „ewigen“ Fortsetzung der Gesellschaft nicht gefährlich werden. Anderseits strebt die Gesellschaft nach innovativer Entwicklung. Selbstverständlich erwartet der Mensch, dass die Zukunft besser wird als die Vergangenheit. Aber auch vor dieser Zukunft hat er Angst. Jeder weiß, dass die Zukunft nicht mehr angstfrei vor einer privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Veränderung gelebt werden kann. Die Gesellschaften des Abendlandes leben also mit der Tendenz, sich ständig entwickeln zu müssen. Die Gesellschaft strebt eben danach, das Überlieferte als Überkommenes zu verändern bzw. aufzugeben und Neues zu beginnen. Aber das Neue und die Herausforderung durch die Zukunft sind noch viel zu unbestimmt, als dass sie bereits in Erscheinung getreten sind. Die Menschen leben zwischen einer Tendenz zur Reform-Orientierung der Gesellschaft und der Angst vor dem, was kommen könnte. Deshalb etwa sucht sie nach einer endgültigen Verwirklichung der Angleichung unterschiedlicher Rechte. Auf dem wirtschaftspolitischen Feld wehrt sich die Gesellschaft gegen die Auswüchse des Kapitalismus bzw. der Marktwirtschaft. Aber zugleich bekämpft sie jede Form von Kapitalismuskritik. Einerseits will sie die Freiheit des Einzelnen in wirtschaftlichen Dingen, aber andererseits sucht sie, die Aufgaben des Staates auszubauen. Dabei entstehen gegenwärtig Bewegungen „wie beim Schunkeln mal nach links, mal nach rechts“, ohne dass man recht von der Stelle kommt9. Freilich herrschte in den letzten Jahren eine weitgehende Harmonie, die den Menschen einen Aufbruch vorgaukelte. Aber dahinter stand doch wohl nur eine 8 Vgl. Grünewald, Stephan, Deutschland auf der Couch, Frankfurt am Main 2006, S. 7. 9 Grünewald, Stephan (2006), S. 8.

1. Vom Leben in dieser einen Welt

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Scheinentwicklung. Denn es zeichneten sich politische Reformvorschläge ab, die wie Bewegungen aussahen. Geblieben sind Hoffnung und die Sehnsucht der Menschen, es werde sich über kurz oder lang eine Neuorientierung der Gesellschaften ergeben, in der mehrheitlich Toleranz und Identifikation herrschen. Man spürt, sie möchte das gern erreichen. Aber ihr fehlt letztlich jede Zielvorstellung. Die moderne Frau strebt nach einer Anpassung ihrer Lebensformen an die der Männer. Das zeigt sich in der Stellung der Frau in der Gesellschaft als Mutter und als Beruftätige. Vielleicht ist das Streben nach Perfektion in Deutschland stärker ausgeprägt als in anderen europäischen Ländern. Jedenfalls wird von den Frauen in diesem Lande gesagt, sie stünden unter dem Anspruch, einerseits ganz in der Mutterrolle aufzugehen und sich den Kindern zu widmen. Sie fühlen sich gedrängt, den Alltag der Familie durch ihre materielle Fürsorge in höchstem Maße zu meistern; und andererseits voll ihre berufliche Rolle auszufüllen. Die Kindererziehung ist kein Feierabendjob, den man nebenbei verrichten kann. Er ist ein ordnungsgemäßer Beruf, der die ganze Person, in den meisten Fällen wohl die der Mutter, erfordert. Ihre Bedeutung für die Erziehung von Kindern haben die Verhaltens- und in die Entwicklungspsychologie immer wieder hervorgehoben. Die Sozialkompetenz der Kinder wird durch die Nähe der Mütter besonders gefördert. Freilich ist diese Entwicklung der Kinder keineswegs daran gebunden. Aber sie ist doch für die Reifung der nachfolgenden Generation ungemein hilfreich. Außerdem wollen die Frauen sich als emanzipiert in ihrem Beruf verwirklichen10. Ihre Absicht ist, in ihrer beruflichen Tätigkeit alles zu geben, um ja nicht (wieder) in eine Abhängigkeit von ihrer familiären Bindung oder ihrem Muttersein zu geraten. Immerhin ist zu bedenken, dass die für die Berufausübung aufgewendete Zeit zu Lasten der Familie geht. Das ist auch beim Aufziehen der Kinder zu bedenken. Die Männer wiederum sind keineswegs allein auf die berufliche Verwirklichung und damit auf die Außenvertretung der Familie ausgerichtet. Sie bilden nicht automatisch das patriarchalische Oberhaupt der Familie. Immerhin ist die Rolle der Männer nicht mehr allein durch den Beruf definiert. Sie sind heute häufiger als in früheren Zeiten bereit, ein Babyjahr einzulegen. Die Fürsorge des Mannes für den Nachwuchs wird in der Gegenwart sogar von der Politik durch finanzielle Anreize gefördert. Außerdem ist es keine Seltenheit mehr, dass Männer den Haushalt führen. Zwar ist weiterhin das überlieferte Männerbild erhalten geblieben, aber zugleich müssen die Männer sich den 10

Vgl. Grünewald, Stephan (2006), S. 49.

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8. Kap.: Rückblick und Ausblick

neuen Anforderungen stellen, die sich durch die Emanzipation der Frauen und deren Gleichberechtigung ergeben. Die Entwicklungen und ihre Lebensorientierung haben sich also bei Frauen und Männern angenähert. Die traditionelle Rollenverteilung ist vielfach aufgehoben und sie wird sich noch weiter zu Gunsten einer allgemeinen Gleichberechtigung verschieben. Freilich wird in den Familien von heute die Geburt eines Kindes oftmals nicht mehr als Geschenk für die Eltern empfunden. Sie sehen in ihrer Aufgabe, Kinder großzuziehen zu dürfen, keine Gnadengabe. Was Männer und Frauen an Befriedigung durch die Elternschaft erfahren, wird also nicht mehr wie in früheren Zeiten überall geschätzt. Auch ein materieller Verzicht zu Gunsten der Kinder wird nicht mehr als Glück, sondern mehr als Belastung empfunden. Das zeigt sich besonders in der Wertschätzung der beruflichen Karriere gegenüber dem Elternglück oder an dem zur Verfügung stehendem Einkommen. Das Mehr-Geld, das man ausgeben kann, wenn man keine Kinder hat, ist oft wichtiger als die Erziehung von Kindern. Viele Menschen berechnen nur noch die Kosten, die durch Kinder entstehen. Dabei spielen die Opportunitätskosten eine besondere Rolle. In ihnen wird der gewonnene Nutzen mit den Aufwendungen für die Kinder verrechnet. Stattdessen musste man einsehen: Die Welt hat über diese Entwicklungen keine endgütige Entscheidung getroffen. Diese Entwicklung blieb „gleichermaßen wahr und unwahr“, und „alles ist gleichermaßen gültig und ungültig“11. Die Menschen leben nun zwar in dieser Welt, die, um mit Leibniz zu sprechen, die beste aller möglichen Welten ist12. Aber sie bleibt eben doch verbesserungswürdig. Und die Gesellschaft wird sich in ihr entwickeln müssen. Zugleich mit der am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in Westeuropa einsetzenden Suche nach dem gesellschaftlichen Fortschritt stieg in weiten Teilen der Bevölkerung die Angst, nicht zu wissen, was aus dieser Gesellschaft werde. Die steigende Individualisierung, der Verfall der überkommenen Werte und die durch die Missachtung der Umwelt entstandenen Katastrophenszenarien haben die Angst in der Bevölkerung weiter geschürt. Dazu trat eine durch den steigenden Verbrauch an Rohstoffen erhöhte Kostenbelastung ein. Es kam in manchen Ländern zu einer gravierend erhöhten Massenarbeitslosigkeit, die den Menschen Angst vor dem Armutsrisiko machte. Der ansteigende Terrorismus tat das Seine dazu. In den letzten Jahrzehnten ist es ferner zu einer Bedrohung des Aussterbens unterschiedlicher Tier- und Fischarten, zu einem enormen Verbrauch von Land, 11 12

Vgl. Grünewald, Stephan (2006), S. 25. Vgl. Schulze, Gerhard, Die beste aller Welten, Frankfurt/Main 2004, S. 11 ff.

1. Vom Leben in dieser einen Welt

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Luft und Wasser gekommen. Die Vogelpest in der Geflügelwelt hat zusätzlich weltweit Ängste hervorgerufen. Korrupte Geschäftspraktiken haben in Deutschland zu einem Umgang mit tierischen Lebensmitteln geführt, der weder der Achtung vor den Menschen noch vor den Tieren entspricht. Menschliche Gier nach Geld oder Leichtsinn oder Korruptionshandlungen haben dieses Gefühl wesentlich unterstützt. Zur Frage nach der Situation der Gesellschaft gehört heute der Umgang mit den Alten. In der Bevölkerung bestand viele Jahre die Hoffnung, dass die Menschen in der Lage wären, ein Leben zu führen, in dem Schmerz und Not möglichst nicht mehr vorkamen oder weitgehend vermieden werden können. Denn schließlich wollten sich die Menschen dem Spaß hingeben. Diese Einstellung herrscht seit langem – mindestens in der Jugend – aber auch in der Elterngeneration vor. Nach dem „Dritten Bericht zur Lage der älteren Generation“ besteht eine Wechselwirkung zwischen der Verantwortung des Einzelnen und der Gesellschaft „für ein selbständiges, selbstverantwortliches und persönlich zufrieden stellendes Leben im Alter“13. Das gilt zwar für alle Altersklassen. Aber es ist im Blick auf das Alter schließlich zu bedenken, „dass im Falle zunehmender Einschränkungen Menschen in besonderem Maße von ihrer Umwelt abhängig sind. Die Gestaltung der Umwelt ist dabei abhängig von den Ressourcen, über die die Gesellschaft verfügt und die sie zur Verfügung stellt“14. Das Alter stellt Anforderungen an die Gesellschaft. Diese sind sozialer, kultureller, politischer, gesundheitlicher, medizinischer und pflegerischer Art. Es ist schon jetzt zu erkennen, dass der Generationenvertrag den Beitrag zur Rentenleistung schwer belasten wird. Dagegen wehrt sich heute die Jugend mit Recht. Definitive Tendenzen zu einem bestimmten Ziel sind nicht zu erkennen, weder aus der Jugend noch aus dem Alter. Allgemein sind weder revolutionäre Reformen noch die Erhaltung des Überlieferten gefragt. Die Menschen wollen sich verwirklichen und streben deshalb nach Vollkommenheit. Aber sollte diese tatsächlich erreicht sein, ist die Gesellschaft bereits gestorben. Denn Vollkommenheit bedeutet Tod. Und wer diesen Zustand erreicht hat, hat nicht mehr den Willen, sich zu verwandeln und zu entwickeln. Es ist darum richtig, zu sagen: Das Leben sucht nach einer Tendenz zur Vervollkommnung und nicht nach Vollkommenheit. Totale Vollkommenheit ist schlechtweg eine Illusion15. Die Menschen streben ständig nach Neuem und

13 Der Deutsche Bundestag, Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Alter und Gesellschaft vom 19.01.2001, S. 51. 14 Vgl. Der Deutsche Bundestag (2001), S. 51. 15 Grünewald, Stephan (2006), S. 204 f.

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8. Kap.: Rückblick und Ausblick

dabei nach innerer Vollkommenheit. Sie möchten es möglichst allen recht machen. Erst wenn es in der Gesellschaft wieder zu einem Aufbruch kommt und die Menschen die Notwendigkeit einer Wertorientierung in der Gemeinschaft entdecken, wird es auch zu einer zielorientierten Entwicklung kommen. Dann werden die Menschen erneut lernen, wofür es zu kämpfen gilt, und warum es sich zu leben lohnt. Dann wird die Sinnfrage für eine Gesellschaft, die ihre Grundlagen verloren zu haben scheint, wieder von entscheidender Bedeutung sein. Zwar behauptet man, gegenüber der Vergangenheit sei das Leben insgesamt freier, reicher, farbenfroher und vielgestaltiger geworden, weil in der Gesellschaft keine Leitbilder mehr existieren, die Männer und Frauen einem strengen Diktat unterwerfen16. Die überlieferten privaten bzw. familiären oder beruflichen Ideale, nach denen sich die Menschen einst ausrichteten, gelten nicht mehr. Aber mehr Zukunft hat die Gesellschaft dadurch nicht gewonnen.

2. Veränderungen in der Wirtschaft Auch in anderen Bereichen wird sich ein starker Wandel bis zu einer radikalen Veränderung durchsetzen, zum Teil hat er sich bereits angekündigt: Bereits in den fünfziger Jahren des 2o. Jahrhunderts hatte Jean Fourastié große Hoffnung auf die Dienstleistungsgesellschaft gesetzt. Mit der Entwicklung von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft, bräche das „Goldene Zeitalter“ an, meinte er17. Das Zeitalter der Dienstleistungsgesellschaft, die den Dienstleistungssektor zum Mittelpunkt erklärt, löst den primären Sektor, die Landwirtschaft, und den sekundären, den industriellen Sektor, ab. Denn mit Hilfe der Dienstleistungen glaubt man, Zeit sparen zu können. Bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind tatsächlich in Deutschland zwei Drittel der Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich beschäftigt. Damit wird dieser Wirtschaftszweig zum prägenden Merkmal der Gesellschaft18. Er wird weiter zunehmen und die reine Produktion in den hochgezüchteten Wirtschaftsgebieten ablösen. Viele Arbeitsplätze werden zukünftig im tertiären Sektor geschaffen werden. Gerade die im einundzwanzigsten Jahrhundert knapper werdende Zeit des Menschen wird diesen Sektor in Zukunft wachsen lassen. Zwar weiß man nicht, wohin sich Wirtschaft, Technik oder die Wissenschaft entwickeln werden. Aber man kann bereits heute erkennen, dass sich radikale Umwälzungen abzeichnen. 16 17 18

Grünewald, Stephan (2006), S. 45. Opaschowski, Horst W. (2004), S. 113. Vgl. Opaschowski, Horst W. (2004), S. 113 ff.

3. Von der Toleranz zur Akzeptanz des anderen

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Software-Entwicklungen und Technikerleistungen werden zukünftig in Ländern gefragt werden, in denen die Arbeitskosten zu stark angewachsen sind. Hohe Erwartungen werden an die Dienstleistungsgesellschaft mit ihren Schwerpunkten der Informations- und Kommunikationsbranche gestellt. Diese Entwicklungen haben zwar an und für sich zu einem Umdenken in den Bereichen der Informations- und Kommunikationswissenschaften, des Umweltschutzes oder bei der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse geführt. Vernunft und Einsicht haben tatsächlich bei den Menschen Wirkung gezeigt. Aber es ist bisher zu keiner völligen Verhaltensänderung gekommen. Dabei wissen die Menschen, bestimmte Wissenschaften werden in Zukunft zunehmen und die Wirtschaft und die Gesellschaft beherrschen. Demgegenüber aber werden die Menschen lernen müssen, sie zu beherrschen! Je weniger sich eine neue Wertorientierung in der Gesellschaft durchsetzt und je mehr sich Veränderungen in den Lebensgrundlagen generell abzeichnen, die vor allem die Wurzeln der menschlichen Existenz betreffen, wie sie etwa in der Gentechnik oder in der Bioethik vorliegen, umso mehr treten Ängste bei den Menschen auf. Ebenso wie in der Warenwelt werden in der Umwelttechnik oder in den genannten Techniken viele neue Entwicklungen auftreten. Die Welt der Arbeit wird sich stark verändern und keineswegs nur fortentwickeln. Zu den neuen Wissensgebieten und Wirtschaftsbereichen gehören also vor allem Umwelttechniken, Gentechniken, Biowissenschaften, Informatik und Nanotechnik etc. Gerade in dem Kosmos der Zwergwissenschaften (ho nânos, der Zwerg) – Photonen, Elektronen, Atome, Moleküle – gelten chemische, physikalische oder biologische Gesetze, die nicht mit denen der Makro-Welt übereinstimmen. Besonders der Nanotechnik gehört die Zukunft. Im Autobau, im Baubereich, im Konsum oder in Produkten der Medizin oder der Kosmetikindustrie wird sie bereits erfolgreich angewandt. Sie wird das Leben der Menschen wie zuvor etwa die Erfindung des Autos oder die Einführung des Internets verändern. Aber über die Toxikologie der Nanopartikel weiß man noch recht wenig. Andere Formen von Techniken werden entwickelt. Dazu gehören etwa die Robotertechnik, Formen der künstlichen Intelligenz oder die Raumfahrttechnik mit ihren mannigfachen Anwendungen.

3. Von der Toleranz zur Akzeptanz des anderen Auffällig ist in der Gegenwart die Gleichzeitigkeit der Säkularisierung und der Religionisierung der Gesellschaft.

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8. Kap.: Rückblick und Ausblick

Mit dem Begriff der Säkularisierung wurde durch viele Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts hindurch die Ent-Religionisierung der Welt definiert. Damit wurde vor allem die Freiheit des Bürgers von der Religion umrissen. Auch die Entchristianisierung der christlichen Bildung konnte damit umschrieben werden19. Zugleich mit der Säkularisierung hat aber auch eine gewisse Revitalisierung der Religionen begonnen. Man kann trotz eines erheblichen Substanzverlustes des christlichen Glaubens und des kirchlichen Einflusses von einer Wiederbelebung der Religionen und auch der Religiosität in den westlichen Gesellschaften sprechen. Allerdings sind das gegenüber den überlieferten christlichen Glaubensformen mehr oder weniger esoterische, spiritistische und okkulte Gestaltungen des Denkens. Sie lassen sich vor allem außerhalb der großkirchlichen Organisationen finden20. Immerhin muss man mit fortschreitender Säkularisierung diese Revitalisierung der Religionen feststellen. In einer globalen Interdependenz können die Staaten, die eine gerechtere und tolerante Ordnung eingeführt sehen wollen, nach immer mehr Toleranz streben. Dabei geht es zum einen um die Toleranz der Religionen und zum anderen um die Akzeptanz von anders Denkenden oder anders Glaubenden. Es handelt sich dabei zwar um das Tolerieren und damit um die Hinnahme des anders Denkenden. Aber mehr noch muss der andere vor allem in seinem Anderssein angenommen werden. Die Toleranz gegenüber dem Andersglaubenden ist zwar von besonderer Wichtigkeit, aber sie kann nur der erste Schritt auf dem Wege zur Annahme und zur Zusammenarbeit mit dem anders Denkenden sein. Darum genügt Toleranz allein nicht. „Angesichts der Herausforderungen globaler Interdependenzen müssen Wege von der Toleranz zur Kooperation gefunden werden“21. Aus der Toleranz wird man dann zu einer Akzeptanz der anderen Menschen und damit zu einer Kooperation mit ihnen kommen. Ob bei aller Toleranz die jeweilige Annahme des anderen allerdings in der Realität auch geschieht, ist nach den derzeitigen Erfahrungen zu bezweifeln. Denn die Zielsetzungen der Religionen und die Interessenlagen etwa bei Zuwanderern sind zu unterschiedlich, als dass man sich über bestimmte Ziele wird einigen können, selbst wenn man nicht unbedingt weltweit, sondern nur lokal über gemeinsame Ziele nachdenkt. Allerdings ist die Toleranz der Religionen aus dem Glauben heraus ein wichtiger Schritt zur Gestaltung einer „Gesellschaft im Sinne dialogischer Differenz und Gemeinschaft“22. 19 20 21 22

Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 52 ff. Vgl. Kramer, Rolf (2004), S. 62 ff. Schwöbel, Christoph (2003), S. 242. Schwöbel, Christoph (2003), S. 243.

4. Die Steuerung der Gesellschaft

215

Toleranz und Akzeptanz des anderen ist immer zugleich mit der Identität des Ich verbunden. Selbstverständlich geht es dabei oft und zunächst einmal um die Identität mit der eigenen religiösen Überzeugung. Aber darüber hinaus muss die Identität mit der ganzen Person erreicht werden und damit auch eine Übereinstimmung mit der Umwelt und ihrer Einbindung in die Gesellschaft. Es geht also insgesamt um die kulturelle Identität des Menschen. Solche Identitätsfindung in der Gesellschaft muss gepflegt werden. Der Mensch muss lernen, mit sich übereinzustimmen und gleichzeitig den anderen zu tolerieren und zu akzeptieren. Die Zielsetzung der Kirchen und Religionsgemeinschaften besteht in der Verantwortung, dass ihre Ausbildung von Identitäten die Begegnung mit dem anderen nicht als eine Bedrohung der eigenen Identität befürchten muss, sondern den anderen gerade in der Ausübung der Toleranz akzeptiert23. Darum muss generell eine Form von Toleranz in der Gesellschaft gefordert werden, die solche Gesellschaftsstrukturen wahrnimmt, die diese Toleranz ermöglicht. „Je mehr Toleranz innerhalb eines Gesellschaftssystems geübt wird und je mehr Möglichkeiten sich in ihm zur eigenen Identitätsbildung und Identitätsvergewisserung bieten, desto mehr wächst die positive Identifikation mit dieser Gesellschaft, ihren Rechtsgrundlagen und ihren Institutionen“24. Das bedeutet eine Vermeidung oder Überwindung von Identitätskrisen. Als Ziel muss gelten, dass die Gesellschaft im Zuge eines gemeinsamen Dialogs mit den anderen Religionen und Weltanschauungen gestaltet wird. Den Kirchen oder auch anderen Religionsgemeinschaften kommt also bei diesem Prozess eine besondere Verantwortung zu. Sie müssen einerseits für Identität Sorge tragen und anderseits die Bildung von Toleranz ermöglichen, die den anderen eben als den anderen „respektiert“25.

4. Die Steuerung der Gesellschaft Im so genannten noachitischen Bund (Gen. 9) schließt Gott mit der Welt, die sich aus den Wassern der Sintflut erhebt, einen neuen Bund. Gott vertraut dem Menschen seine Welt an. Der Mensch soll fruchtbar sein, sich mehren und über die Erde herrschen. Außerdem sollen Ordnungen eingeführt werden, die „in dem durch Gewalttat entarteten Verhältnis der Kreaturen zueinander“ herrschen. Und sie sollen das auf Erden ausgeübte Recht des Tötens und der Gewalt-Anwendung mit dem absoluten Hoheitsrecht Gottes über alle Kreaturen in eine Harmonie bringen26. Immerhin werden dem Willen Gottes die Willensäußerungen der Menschen in den Ordnungen dieser Welt gegenübergestellt. 23 24 25 26

Vgl. Schwöbel, Christoph (2003), S. 221. Schwöbel, Christoph (2003), S. 221. Schwöbel, Christoph (2003), S. 221. von Rad, Gerhard, Das erste Buch Moses, Göttingen 1952, S. 108.

216

8. Kap.: Rückblick und Ausblick

Immer wieder wird von der christlichen Ethik gefordert, dass sie bei der Umsetzung in die Praxis nichts anderes zu tun braucht, als die Bergpredigt in die politische Wirklichkeit zu übertragen. Aber die Bergpredigt ist kein Gestaltungsprogramm für die Welt oder ihre Gesellschaften. Die Bergpredigt kann keine Anweisung für die Gestaltung weltlicher Verhältnisse sein. Die Welt und damit die Gesellschaft steht im Widerspruch zu dem, was in der Bergpredigt gefordert wird. Dort heißt es ganz allgemein: „Ihr sollt dem Übel nicht widerstehen“ und dann ganz konkret: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dann biete die andere auch dar“ (Math. 5,39). Mit solchen Radikalismen aber lässt sich keine Gesellschaft regieren. Martin Luther hat dieses Problem in seiner Schrift von 1523 „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“, behandelt27. Es besteht eine Spannung zwischen den Forderungen der Bergpredigt und der Gestaltung des Lebens in der Welt. Diese Spannung versucht Luther dadurch aufzulösen, dass er den Christen in einer doppelten Relation, nämlich als Weltperson und als Christ, definiert. Der Christ im Amt lebt als Weltperson und hat den Nächsten zu schützen. Als diese Weltperson hat der Christ allem Übel zu widerstehen. Aber der Christ hat als geistliche Person für sich das Übel zu übernehmen und zu ertragen. In dieser Unterscheidung steckt die Grundlage für die lutherische Zwei-Reiche-Lehre, bei der es um die Stellung des Menschen coram deo (die Stellung des Menschen vor Gott) und coram mundo (die Stellung des Menschen vor der Welt) geht. In dem Sachverhalt dieser Lehre handelt es nicht um eine nung der Menschen zu unterschiedlichen Bereichen, sondern Welt regiert und gedeutet wird. Die Zwei-Reiche- oder, wie genannt wird, die Zwei-Regimenten-Lehre (die Lehre von den sen), stellt die lutherische Anschauung der Gesellschaft dar.

statische Zuorddarum, wie die sie darum auch zwei Regierwei-

In den beiden Reichen oder Regimenten (dominatio) tritt Gott in unterschiedlicher Weise den Menschen gegenüber. Das Reich Gottes ist das Reich zur Rechten, in dem sich Gottes Schöpfungswillen zeigt. Hier herrscht Erlösung und Versöhnung. Zu diesem Reich Gottes gehören die Rechtgläubigen. Aber neben diesem geistlichen Reich hat Gott das weltliche Reich aufgerichtet. Dieses hat er unter das Schwert gelegt, um dem Bösen zu wehren. Das Reich zur Linken (mit der linken Hand) präsentiert sich als Reich der Welt.

27 Luther, Martin, Von der Obrigkeit in Familie, Volk und Staat, Bd. 5, München 1952, S. 9 ff.

4. Die Steuerung der Gesellschaft

217

Im geistlichen Reich wirkt das Evangelium. Gott will die Menschen zu Christen und in Christus geheiligten Menschen machen. Im weltlichen Reich herrscht das Gesetz. Im weltlichen Reich will Gott das Recht setzen und den Frieden schaffen. Im geistlichen Reich ist Christus König. Dieses Reich tritt im Wort des Evangeliums und in den Sakramenten den Menschen entgegen. Es bringt den Menschen (Christen) die Freiheit der Kinder Gottes. Allerdings ist der Sachverhalt dieser Lehre im Laufe der Geschichte kontrovers interpretiert worden. Das ist deshalb möglich geworden, weil Luther selbst seine Vorstellung nicht in einem geschlossenen System vorgetragen hat. Luther will mit seiner Unterscheidung zwischen einem Christen und einer Amtsperson kein gespaltenes Menschsein feststellen. Selbstverständlich ist der Mensch eine Einheit. Und auch die beiden Reiche sind nicht getrennt, sondern als eine Einheit zu sehen. Andererseits aber dürfen die beiden Reiche nicht vermischt, sondern müssen in ihrem Unterschied erkannt werden. Darum darf das geistliche Reich nicht das Schwert gebrauchen. Dieses geistliche Regiment ist die göttliche Weise, die Welt zu erlösen. Dafür stehen ihm Wort und Sakrament zur Verfügung. Zum weltlichen Regiment gehören die Obrigkeit, die Politik und die Wirtschaft und andere säkulare Institutionen. Gott übt seine Herrschaft durch diese aus. Alle Stände sind von ihm eingesetzt. Sie sollen ebenfalls ihm dienen. Das weltliche Reich steht darum ebenfalls unter dem Gericht Gottes. Der Christ lebt in dem Doppelaspekt als Christ und als Weltperson mit anderen Menschen zusammen. Aber er lebt im Weltreich zugleich noch in einer gewissen zusätzlichen doppelten Struktur als der alte Mensch, untertan dem weltlichen Gesetz, und als Christ, der sich für den Nächsten einzusetzen hat. „Damit zwingt er uns, die Existenz des Christen auf Erden immer von ihren beiden Seiten zu sehen: ,dass du zugleich Gottis Reich und der Welt Reich gnugtuest‘. Jede Einseitigkeit würde nur die Hälfte sagen und die Verbindung der beiden Reiche mit den beiden Regimenten in Frage stellen“28. Obwohl die beiden Reiche untereinander verschieden sind, und das Reich des Wortes dem Reich des Schwertes gegenüber steht, verbindet die Liebe beide. Denn es heißt niemals Reich der Liebe und „Reich ohne Liebe“29. Die Liebe umgreift beide! Denn sie ist für Luther ein umfassendes Gebot für beide Regimente.

28 Bornkamm, Heinrich, Luthers Lehre von den beiden Reichen, in: Heinz-Horst Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Welt, Darmstadt 1969, S. 195. 29 Bornkamm, Heinrich (1969), S. 172.

218

8. Kap.: Rückblick und Ausblick

Die Agape liegt zwischen beiden Regierweisen. Sie dient in beiden Reichen dem Nächsten. Aber sie besitzt in den beiden Reichen eine unterschiedliche Gestalt. Im Reich Christi liegt das offen auf der Hand. Die Liebe ist die Klammer, die die Verpflichtung des Christen im geistlichen Reich und im weltlichen Bereich bestimmt. Es ist immer die eine und dieselbe Liebe. Sie ist unteilbar und bestimmt einerseits das Opfer und das Leiden, also die Hinnahme, und andererseits die Wahrung des Rechtes! Im weltlichen Reich geschieht Liebe durch Güte und Barmherzigkeit. Damit steht im Reich Christi der einzelne Mensch dem anderen unmittelbar als Bruder gegenüber. Im weltlichen Regiment dient der einzelne dem anderen, indem er Liebe zum Nächsten übt. Mittelbar geschieht das etwa durch die Einhaltung der Ordnungen und des Friedens. Es ist der Glaube, der zur Liebe führt. Sie wird empfangen und mit Nachdruck weitergegeben. Der Christ wird zum Handeln in spontaner Liebe aufgerufen. Die Liebe zum Nächsten ist gefordert. Es gilt, wie in einem anderen Zusammenhang aus dem 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther herauszuhören ist: Man solle sich so verhalten, „zu haben, als hätte man nicht“ (hos mé échontes – 1. K. 7,29) und „die Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht“ (kaì hoi chrómenoi tòn kósmon hos mé katachrómenoi – 1. K. 7,31). Selbst das Recht der Vernunft ist nach göttlicher Bestimmung heimlich ein Recht der Liebe30. Immerhin kann er das weltliche Reich auch als Reich der Vernunft bezeichnen. „denn Gott hat der vernunfft unterworfen solch zeitlich regiment und leiblich wesen (Gen. 2,19) und nicht den Heiligen Geist vom Himmel gesandt“31. Luther kennt keinen Unterschied zwischen einer „geistlichen-christlichen“ und einer heidnischen Vernunft. Darum ist es auch schlechterdings nicht möglich, dass man den Christen einen besonderen Zugang zur sozialethischen Erkenntnis bescheinigen könnte. Mit Recht weist Honecker darauf hin, dass eine im christlichen Glauben geschenkte Erneuerung der Vernunft allein durch die Rechtfertigung des Menschen erfolgt. Denn diese erleuchtet die Vernunft. Danach erfährt der Christ erst eine „Ermächtigung zum freien Gebrauch der Vernunft“. Aber „sie vermittelt keine besonderen ethische Maßstäbe“32. Im Reich zur Rechten geht es um die Liebe der Versöhnung in der Verkündigung des Wortes und damit zur Erlösung des Menschen und der Ausübung der Gerechtigkeit in dieser Welt. Anderseits aber soll gleichzeitig auch im welt-

30

Vgl. Bornkamm, Heinrich (1969), S. 172. Zitat aus WA 30 II, S. 562,9 nach Honecker, Martin, Konzept einer sozialethischen Theologie, Tübingen 1971, S. 44. 32 Honecker, Martin (1971), S. 47. 31

4. Die Steuerung der Gesellschaft

219

lichen Regiment die Liebe herrschen. Denn man darf sich nicht der eigenen Lust und dem eigenen Nutzen hingeben! Vielmehr muss man sich dem Aufbau der Gesellschaft zuwenden, Und das bedeutet letztlich nichts anderes als auch der Erhaltung von Ordnung und Frieden in der Gesellschaft. Die Liebe kann in ihren Ausgestaltungen nicht einfach zur Norm der Sozialethik gemacht werden. Die Liebe, die für die beiden Reiche letztlich maßgeblich ist, lässt sich als soziale Wirklichkeit nicht erfassen bzw. gestalten. Es ist nicht möglich, direkt von der lutherischen Vorstellung der Liebe mit einer etwaigen Normvorstellung den Weg zur Sozialgestaltung der Gesellschaft oder des Staates zu finden. Man kann mit der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre auch keine Aufspaltung des Lebens in einen privaten Bereich, in dem nach der Bergpredigt gelebt wird, und in einen öffentlichen Bereich vornehmen, der von den ihm eigenen Gesetzen getragen und geordnet wird. Denn Jesu Gebot lässt sich nicht kompromisslos in die Wirklichkeit umsetzen. Man wird entgegen diesem Gebot dann und wann dem Übel widerstehen müssen, wenn man diese Welt mit ihren Gesellschaften in Ordnung halten will. Denn schließlich lassen es die Strukturen dieser Welt und ihrer Gesellschaften nicht zu, sie nach der Bergpredigt zu ordnen bzw. sie zu erfüllen. Es ist schier unmöglich, Gottes Ordnung und die Bedingtheiten dieser Welt nach der Lehre von den Zwei Reichen zu regeln. Denn es muss die Spannung zwischen den beiden Realitäten durchgehalten werden. Darauf haben sich auch die Gesellschaften einzurichten. Folglich sind die Menschen in der Gesellschaft je in ihrer Zeit in das Dilemma gerufen, das Weltreich vom Reich Gottes zu unterscheiden. Die Menschen stehen in einem Widerspruch einerseits zu dem, was in der Bergpredigt gefordert wird, und andererseits in der Wirklichkeit des Staates und ihrer Gesellschaft. Nur so kann von Seiten der Christen auf die Gesellschaft und damit auf die Welt Einfluss ausgeübt werden. Hier gibt es keine direkte Handlungsanweisung! Darum lässt sich mit der Zwei-Reiche-Lehre keine Gestaltung der Sozialethik vornehmen. Sie enthält auch kein sozialethisches Programm. „Sie ist [vielmehr] die unerlässliche Ortsbestimmung, die der Christ immer wieder für seinen Stand und sein Tun in der Welt vorzunehmen hat“33. Das Gesetz erscheint als der Inbegriff des Reiches zur Linken, des Reiches der Welt. Luther umgreift damit nicht nur den Staat, sondern alles, was an Institutionen zur Erhaltung der Gesellschaft dient. Diese lebt in der Form des biblischen Begriffs des Gesetzes. 33

Bornkamm, Heinrich (1969), S. 195.

220

8. Kap.: Rückblick und Ausblick

Heute müssen die Menschen wieder lernen, ihr Schicksal zur Gestaltung ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Im Reich zur Linken ist es notwendig, zu erkennen, dass die Eigenverantwortung der Menschen bei gleichzeitiger Freiheit steigt. Das gilt für alle Bereiche des Lebens, also auch für die eigene Vorsorge im Alter und in der Gesundheit. Nicht dem einzelnen Christen allein, sondern den christlichen Gemeinschaften und Organisationen werden die Orte in der Welt bzw. in der Gesellschaft nachgewiesen, wo der Christ gegenüber der Welt und dem einzelnen Nächsten zu leben und zu handeln hat. Die Gesellschaft ist Teil der Welt. Und im Dienst an dieser vollzieht sich der Dienst der Christen an dem Reich zur Linken. Ihnen wird das Tun in der Welt und für die Welt ans Herz gelegt. Dabei geht es nicht darum, dass die Kirche den übrigen Teil der Gesellschaft beherrschen will. Diese Gefahr ist ohnehin längst überholt. Aber die Christen haben einen Dienst gegenüber Staat und Gesellschaft. So vollzieht sich speziell ihre menschliche Existenz. Der Christ erkennt in dem gesellschaftlichen Sein das Handeln Gottes. Und das bedeutet umgekehrt für den Christen, aus Verantwortung für die Welt und in Hingabe an sie zu leben. Gott hat zwar nach Luther eine Ordnung für die Gestaltung dieser Welt und ihrer Gesellschaft geschaffen. Aber andererseits besteht das Verhängnis dieser Welt darin, dass sie lebt, als ob es nur sie und es Gott nicht gäbe (etsi deus non daretur). Aber auch für den Christen ist es nötig, so zu handeln, als ob es diesen Gott nicht gäbe. Damit wird die Gestaltung der Welt zu einer Frage der Liebe. Aber wohin diese den Menschen und die Gesellschaft führen wird, bleibt ungewiss und ist keineswegs jeweils im Voraus erkennbar. Denn die Liebe lässt sich nicht in „die Karten“ gucken. Indessen muss sie sich den neuen Herausforderungen auf ethischem Gebiet stellen. Der einzelne Mensch lebt in der Gesellschaft. Diese gehört zu seinem Selbstsein. In der Gesellschaft vollzieht sich ein Wechselspiel zwischen dem Ich, dem Du und dem Wir. Das Verhältnis zur Welt spielt sich in dem Dasein in der Gesellschaft ab. Nur in diesem Dasein und damit in der Welt haben die Christen auch einen Bezug zu ihrem Gott. Heute aber herrschen stattdessen in der Gesellschaft andere Mächte. Es heißt: Geld regiert die Welt und beherrscht die Gemüter. Das Streben nach ökonomischer Macht und politischer Herrschaft ist allenthalben im Gange. Korruption verdirbt das Zusammenleben. Die Bindung an humanistische Ideale, die Menschenrechte und christliche Werte wird zwar noch ständig betont, aber in Wahrheit geht es oftmals nur um wirtschaftliche und politische Interessen. Das Handeln vollzieht sich jedoch in der Zeit. Es entspringt einem ständigen geschichtlichen Prozess.

5. Die Verantwortung gegenüber dem nahen und fernen Nächsten

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5. Die Verantwortung gegenüber dem nahen und fernen Nächsten Nächstenliebe ist nicht die Grundlage für das Handeln des Staates. In der biblischen Überlieferung wird nirgends die Ausübung der Nächstenliebe als staatliche Aufgabe begriffen. Darum ist sie auch nicht verstehbar als Grundlage für eine Umverteilung der Güter zur Gestaltung eines Wohlfahrtsstaates oder der Schaffung von sozialer Gerechtigkeit. Nächsten-liebe ist und bleibt eine Größe für die zwischenmenschliche Beziehung. Von Verantwortung kann man nur sprechen, wenn man die jeweilige zeitliche Komponente einführt und speziell dabei die zeitliche Perspektive der Zukunft im Auge behält34. Denn die ethische Herausforderung der Verantwortung ist zukunftsorientiert. In der Berücksichtigung der zeitlichen Komponente und des sachlichen Aspektes wird die Verantwortung des Menschen in Richtung Zukunft und damit in die Geschichte verwiesen. Ob die Menschen es wollen oder nicht, sie stehen in einer verantwortlichen Herausforderung, die sie zum Handeln gegenüber den anderen Menschen zwingt. Einerseits nötigt die vorgegebene Realität zum Handeln. Andererseits ist es zugleich das moralische Bewusstsein, dem sich die Menschen zu beugen haben. Hans Jonas hat ein neues Bewusstsein für die Handlungssubjekte gefordert und dabei zugleich bestimmte ökologische Gesichtspunkte aufgegeben, unter denen die verschiedenen Umwelt- und Sozialprobleme geregelt werden sollten: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“. Negativ formuliert er den Imperativ in folgender Gestalt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen nicht zerstörerisch sind für künftige Möglichkeiten solchen Lebens“35. Viele der vorhandenen ethischen Probleme sind durch die Menschen selbst produziert. Denn die Menschen leben in einer weitgehend von ihnen selbst gestalteten und auch beherrschten Welt. Selbst bei Naturkatastrophen musste man feststellen, dass auch diese oftmals durch die Hand der Menschen veranlasst werden. Die Verantwortung muss in Zukunft die Aufgaben und Probleme, die Konflikte und Bedingungen berücksichtigen, unten denen die Gesellschaft und die Welt sich entwickeln. Darum wird die Verantwortung nicht nur die Aspekte der Bildung, Forschung, Wissenschaft, Kultur umfassen, sondern auch den Umgang mit der Natur. Dazu gehört auch der Umgang des Menschen mit Tieren, Pflanzen und allgemein mit den Ressourcen der Welt.

34 35

Vgl. Link, Christian, Schöpfung Bd. 2, Gütersloh 1991, S. 484. Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/Main 31982, S. 16.

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8. Kap.: Rückblick und Ausblick

Als besonderes Gebiet für ein ethisches Handeln haben sich in der letzten Zeit zusätzliche Felder aufgetan auf medizinisch-biologischem Gebiet, so z. B. die Gentechnologie, die Embryonenforschung und damit die Schaffung von neuartigen Therapien und die Erprobung von Diagnostika. Ferner ist innerhalb der Energieversorgung der Umgang mit den Ressourcen dieser Welt wieder in die Diskussion geraten. Auch die Nutzung der Kernenergie ist selbst in Deutschland wieder für viele akzeptabel geworden. Die forcierte Anwendung erneuerbarer Energieträger wird in ihrem ganzen Ausmaß immer wieder nachdrücklich gefordert. Die Verringerung des Ausstoßes von CO2-Gasen wird wegen der Erwärmung der Erdatmosphäre und der Veränderung des Klimas ständig neu diskutiert. Erhalten geblieben sind schließlich viele soziale Probleme, um die sich auch die Ethik zu kümmern hat. Dazu gehören vor allem Verantwortungsprobleme, die sich mit dem Mitmenschen beschäftigen. Von den fünfzig Jahre nach der Französischen Revolution unter Napoleon III. erklärten drei Forderungen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hat sich in der öffentlichen Diskussion und in durchdringender Form nur die erste als ein realitätsbezogenes Gemeingut erhalten. Bei einer Betrachtung der modernen Gesellschaft erkennt man, dass sich die Menschen besonders für die Freiheit einsetzen und für sie kämpfen. Allerdings wird auch in der Sozialpolitik und im christlichen Denken die Gleichheit gefordert, mindestens wenn es um die Chancengleichheit in der Bildung geht36. Die Brüderlichkeit dagegen wird nur noch als spezielle ethische Forderung in christlichen Kreisen hochgehalten. Dass sie zugleich einen „antifamilialen Kampfbegriff“ darstellt, lässt sich allerdings auch bei näherem Zusehen und Analysen nicht belegen37. Aber immerhin wird behauptet, dass die Brüderlichkeit so etwas wie der „pathetische Inbegriff aller anti-familiären Bande“ sei, zu denen die Brüderlichkeit der Kommunen, Kirchen und Staaten gezählt wird38. Dass etwa im 19. Jahrhundert, in dem trotz aller Kameradschaftsvereine und Verbindungen gerade die Familie favorisiert wurde, spricht nicht für diese These. Im Begriff der Brüderlichkeit wird vor allem nicht nur das Verhältnis der Brüder, sondern generell das der Menschen umschrieben. Dazu gehört die Gleichheit der Menschen und ihre Würde. Allgemein wird heute damit die Nächstenliebe umschrieben.

36 37 38

s. oben 1. Kapitel, 3. Vgl. Bolz, Norbert, Die Helden der Familie, München 2006, S. 76. Ebenda.

6. Die Gesellschaft unter endzeitlichen Aspekten

223

Die Grundlage für die Brüderlichkeit liegt jedoch im alttestamentlichen Liebesgebot (3. Mos. 19,16–19). Die unterschiedlichsten Wörter wie Volksgenosse, Nächster oder Bruder werden zur Umschreibung gebraucht. Es kann auch schlicht ein Fremder sein (3. M. 19,33 f.). Gegründet ist diese Liebe in der Liebe Gottes zu den Menschen (5. Mos. 6,4 ff.). Diese steht vor der Liebe des Menschen zu seinem Gott. Sie wird in Verbindung mit der Liebe des Menschen zu seinem Nächsten zum Doppelgebot der Liebe. Auch im Neuen Testament erweist sich diese Gottesliebe als die Grundlage für die Bruderliebe. Sie kann bis zur Hingabe des eigenen Lebens für andere Menschen führen (Röm. 5,79). Die Liebe wurzelt nicht in einem im Menschen begründeten Ideal, wie etwa im Humanitätsgedanken der Stoa, sondern in dem Doppelgebot der Liebe, wie es etwa im Markus Evangelium formuliert wurde (Mk. 12,30 f.). Aus der Nächstenliebe wird die Bruderliebe. Sie ist die konkrete Bestätigung der Liebe zu Gott selbst. Gottes Liebe ist ursächlich. Aus ihr folgt das Verhalten zum Bruder, das aus Glauben an Gottes Liebe erwächst (1. Joh. 4,20 ff.). Der dafür maßgebliche Begriff ist der der Agape (agápe). Aus dieser Bruderliebe erwächst die Brüderlichkeit mit den Akzenten der Toleranz gegenüber den anderen Menschen oder Geschöpfen dieser Erde. Sie strebt nach Friedfertigkeit und Hilfsbereitschaft für den anderen. Bruderschaft oder Brüderlichkeit hat darum nichts mit einer Feindschaft gegenüber nahen oder fernen Nächsten zu tun. Der Nächste wird dort gesucht, wo der einzelne Mensch diesem begegnet. Das kann im Haus, auf der Straße, in der unmittelbaren Nähe oder in der Ferne geschehen. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter macht das besonders deutlich. Jeder Mensch, der unserer Hilfe bedarf, ist unser Nächster oder Bruder (Lk. 10,29 ff.). Damit ist in dem Begriff der Brüderlichkeit der Nächste angesprochen, wo und in welcher Situation dieser sich auch immer befindet39. Zu den damit verbundenen Problemen gehören auch solche, die aus der Massenarbeitslosigkeit herrühren. Der Gesellschaft steht danach unter ganz neuen Forderungen, die in naher Zukunft erfüllt werden müssen. Sie baut dabei nicht mehr auf den Glauben an den juden-christlichen Schöpfergott, sondern vertraut stattdessen dem Staat. Dieser legt die gesellschaftlichen Spielregeln fest und wacht darüber, dass sie auch eingehalten werden.

6. Die Gesellschaft unter endzeitlichen Aspekten Es stellt sich mit zunehmender Entchristlichung die Frage, was der christliche Glaube bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme und der ethischen Gestal39

Völlig anders: Bolz, Norbert, Die Helden der Familie, München 2006, S. 77.

224

8. Kap.: Rückblick und Ausblick

tung der Welt wird leisten können. Während der Islam in den letzten Jahrzehnten sich in eine auch im Westen ernst zu nehmende Religionsgemeinschaft verwandelte, verliert das Christentum selbst in seinen angestammten Ländern zunehmend an dogmatischer Überzeugung. In vielen Regionen hat es sich mehr oder weniger den gesellschaftlichen Zwängen angepasst. Darum hat es seine gestalterische Kraft vielfach verloren. Zwar hoffen die Christen in den westlichen Ländern auf die Erlösung von der Sündhaftigkeit und Friedlosigkeit ihres Daseins. Das wird freilich nur im Glauben erfahren. Allein auf diesem Wege wird dann ebenfalls die Vollendung der Geschichte wahrgenommen. Natürlich wird sich das erst in der Zukunft zeigen. Dabei ist der Begriff der Zukunft in seiner Mehrdeutigkeit zu berücksichtigen. Jürgen Moltmann hat zwischen der Zukunft als Futur und als Adventus unterschieden. Dadurch kann zwischen dem, was wird, und dem, was kommt, differenziert werden. Mit dem Begriff der Zukunft als Futur wird ausgedrückt, was aus der Vergangenheit und der Gegenwart wird40. Zukunft in diesem Sinn ist zukünftige Vergangenheit. Dieser Prozess ist irreversibel. Dem Verständnis von Futur als der Zukunft entspricht die Entwicklung aus Vergangenheit und Gegenwart. „Denn was noch nicht ist, wird einmal nicht mehr sein“41. Das Futur gibt Grund und Anlass für Prognosen, Programme, aber nicht für Hoffnung. Es setzt so den Anlass für Entwicklung und Prognose. Aber es kennt keinen Anlass für eine bleibende Hoffnung. Mit dem Begriff des Advents dagegen wird das bezeichnet, was auf die Gegenwart zukommt. Wie Moltmann aufzeigt, entwickelt sich dieses ebenfalls mit dem Begriff Zukunft bezeichnete Geschehen nicht aus der Gegenwart, „sondern konfrontiert die Gegenwart mit Neuem, es sei gut oder böse“42. Der Begriff des Advents jedoch ist die Verkörperung der messianischen Erwartung. Die Hoffnung richtet sich auf ein kommendes Ereignis, das bleibt und nicht wieder vergeht. Es ist im Kommen und also nicht im Werden begriffen. In dieser Unterscheidung zwischen Futur und Zukunft liegt gleichzeitig die Unterscheidung von Extrapolation und Antizipation. Danach lassen sich einerseits Entwicklungen aus der Vergangenheit und der Gegenwart in die Zukunft extrapolieren. Mit der Extrapolation wird die Zukunft eben zu einer verlängerten Gegenwart43. Auch lässt sich die Gesellschaft in die Zukunft extrapolieren. Sie dient letztlich der Stabilisierung der Gesellschaft und

40 41 42 43

Moltmann, Jürgen, Gott in der Schöpfung, München 1985, S. 143. Moltmann, Jürgen (1985), S. 143. Moltmann, Jürgen (1985), S. 145 f. Vgl. Moltmann, Jürgen (1985), S. 144.

7. Das Ende der Welt und die Vollendung der Gesellschaft

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öffnet eben nicht gänzliche neue Möglichkeiten. „Als Futur verstanden bringt die Zukunft nichts anderes als zukünftige Vergangenheit“44. Andererseits stellen sich mit dem Begriff der Antizipation die Menschen auf das Kommende ein. „Ohne das antizipierende Bewusstsein würden wir Zukünftiges gar nicht wahrnehmen“45. In diesem antizipierenden Bewusstsein richten die Menschen sich auf das Letzte, auf Glück oder Unglück, Leben und Tod aus. Während in der Praxis zwischen Extrapolation und Antizipation kaum ein Unterschied gemacht wird, kann die Extrapolation nicht die Grundlage einer christlichen endzeitlichen Hoffnung und damit der Eschatologie sein. Denn Extrapolation ist durch Vergangenheit und Gegenwart festgelegt. Die Antizipation dagegen stellt die Menschen auf das Kommende ein! Um diese beiden Begriffe der Zukunft geht es auch im Umbruch der Gesellschaft. Was von der Zukunft zu sagen ist, ist gleichzeitig auf die Gesellschaft bezogen. Absolut lässt sich nicht in der gesellschaftlichen Praxis zwischen der Extrapolation und der Antizipation unterscheiden. Wir können die gesellschaftliche Entwicklung nicht antizipieren. Denn das Erhoffte oder auch Befürchtete lässt sich nicht von dem Erwarteten oder für möglich Gehaltenen trennen. Man kann im Sinne der Extrapolation von der Zukunft der Gesellschaft sprechen. Denn sie wird nicht neu „erfunden“, sondern setzt sich immer aus der Vergangenheit über die Gegenwart kommend in die Zukunft fort. Sie ist aber zugleich eine noch ungekannte, auf den Menschen zukommende Größe zu verstehen. Eine Antizipation ist nicht möglich. Für die christliche Eschatologie aber kann die Extrapolation nicht das Prinzip sein. Ohne eine Antizipation der Zukunft in die Gegenwart wird nicht über eine Vollendung der Welt und über ihr Heil zu sprechen sein.

7. Das Ende der Welt und die Vollendung der Gesellschaft Eschatologie bedeutet zwar die Lehre vom Ende der Welt. Aber aus christlicher Überzeugung ist das nicht nur das Ende, sondern gleichzeitig die Vollendung der Welt. Für den Christen existiert der Glaube an ein Ende der Welt und gleichzeitig an eine Weltvollendung. Allein der Glaube weiß um diese doppelte Dimension. Insbesondere das Weltende kann sowohl als ein von den Menschen unbeeinflusstes Fatum als auch als ein von ihnen provoziertes Ereignis definiert werden. Das kosmische Ende kann sich sowohl apokalyptisch „ereignen“ als 44 45

Moltmann, Jürgen (1985), S. 143. Moltmann, Jürgen (1985), S. 145.

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8. Kap.: Rückblick und Ausblick

auch durch menschliche technisch-wissenschaftliche Entwicklungen herbeigeführt werden. Immerhin bringt das Ende der Geschichte der Welt für denjenigen, der an die Wiederkunft Christi glaubt, zugleich die Vollendung. Für ihn kommt mit dem Ende der alten Welt die neue göttliche Welt des Reiches Gottes herauf. Die endzeitliche (eschatologische) Hoffnung für den einzelnen Menschen ist also zugleich in Verbindung mit dem Ende der Welt und der Vollendung der ganzen Menschheit zu sehen. Darin zeigt sich die Verknüpfung von individueller und kollektiver Eschatologie. Es geht also um die Einheit von individueller und gesellschaftlicher Zukunft des Menschen und damit letztlich um die Versöhnung von Individuum und Gesellschaft. Diese zeigt sich einerseits in „der Verbundenheit der Bestimmung des Individuums mit der gemeinschaftlichen Bestimmung der Menschheit“ und andererseits zugleich darin, dass die Vollendung der menschlichen Gesellschaft nur dadurch erreicht wird, dass die Menschheit eben in Verbindung zusammen mit allen ihren Gliedern diese erlangt46. In der biblischen Botschaft vom Ende der Welt wird die Errichtung des Reiches Gottes verheißen. Darin wird die Parusie Gottes sichtbar und damit seine unmittelbare Nähe. In dem Ende der Welt und ganz besonders in der Hoffnung auf das kommende Gottesreich ist der Gedanke einer Versöhnung des Individuums mit der Gesellschaft enthalten. Denn nunmehr wird dem Einzelnen zuteil, was ihm zusteht. Das eventuell dem Einzelnen gegenüber ungerechte System „Gesellschaft“ greift nicht mehr. Das Reich Gottes enthält aus sich heraus eine Versöhnung zwischen Individuum und Gesellschaft. Jeder Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft wird überwunden. „Erst das Recht Gottes, das durch die Liebe vollendet ist, versöhnt im Reiche Gottes endgültig die Individuen miteinander und so auch mit der Gesellschaft. Diese im Gedanken des Gottesreiches begründete Versöhnung von Individuum und Gesellschaft findet in der christlich-eschatologischen Hoffnung ihren Ausdruck besonders durch die Verknüpfung der endzeitlichen Vollendung der Gottesherrschaft mit der Auferstehung der Toten“47. Jede innerweltliche Hoffnung auf Vollendung der Gesellschaft, wie sie z. B. im Marxismus erstrebt wird, bleibt hinter einer christlichen endzeitlichen Bestimmung der Menschen zurück. Diese trifft ohnehin nur die im diesem Augenblick Lebenden und nicht die zur Vollendung anstehende ganze Menschheit.

46 Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993, S. 630 in Verbindung mit S. 591 ff. 47 Ebenda.

7. Das Ende der Welt und die Vollendung der Gesellschaft

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Das Ende der Welt ist also keineswegs einzig und allein auf das individuelle Ende hin angelegt. Es gibt ein Ende der Welt, in der auch die Gesellschaften dieser Welt zugrunde gehen. Das alles bedeutet freilich nicht, dass wir uns jetzt schon in einem Zustand befinden, in dem sich die politischen und gesellschaftlichen Grenzen abzeichnen. Sicher kann man in dieser Hinsicht die Zunahme der Bevölkerung auf der ganzen Welt, die Abnahme der Ressourcen, und insbesondere die der Energievorräte, die Zunahme der Umweltverschmutzung oder auch die Zunahme der Unterdrückung der Menschen als Kennzeichen einer eschatologischen Entwicklung sehen. Diese Entwicklungen weisen auf einen sozialethischen Aspekt in der Gegenwart hin, der die Menschheit auf eine geschichtliche Entwicklung aufmerksam macht, in der die politischen Fragen der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit eine immer größere Rolle spielen. Insofern ist die Frage nach der sozialethischen Entwicklung der Gesellschaft immer auch eine eschatologische Frage nach dieser Gesellschaft. Und das bedeutet einerseits Konservatismus der Geschichte und andererseits zugleich ihren Wandel. Und damit Beständigkeit der Gesellschaft und ihre Umgestaltung. Bereits in der Verkündigung Jesu von der kommenden Gottesherrschaft lag die Verkündigung einer neuen Gesellschaft. Die Kirche hat die Aufgabe, die neue Gesellschaft zu verkünden. Seit ihrem Bestehen ist das Inhalt und Aufgabe der Verkündigung. Sie kann gesellschaftlich nur auf dem Boden der vorhandenen Gesellschaft ihren Fortschritt und damit ihren Aufstieg verkünden. Aber die Verkündigung des Reiches Gottes ist nicht nur auf das Diesseits zu beziehen, sondern zugleich auch auf das Jenseits. Damit wird die Verkündigung des Reiches Gottes zu einer dialektischen Botschaft. Denn es wird zu einer realen und damit diesseitigen Gesellschaft erhoben. Karl Barth konnte zwar einerseits von der eschatologische Botschaft dieses Reiches schreiben, wenn er formulierte: „Das Reich Gottes offenbart sich ja in diesem Ruf (scil. in die Nachfolge) inmitten aller Reiche dieser Welt ihnen allen gegenüber, ihnen allen widersprechend und widerstehend, die in der Existenz des Menschen Jesus schon proklamierte, ja schon vollzogene Revolution Gottes“48. Aber andererseits trifft diese Botschaft vom Reich Gottes den Menschen unmittelbar in seinem Diesseits:“ Das Neue des Reiches Gottes ist ja nicht das Außerordentliche, das Unbegreifliche, das Übernatürliche, das Unweltliche, das Jenseitige eines Inbegriffs formaler Transzendenz, einer dem Menschen anonym begegnenden schlechthin überlegenen Machtfülle und also des leeren Geheimnisses seiner Existenz“49. Und etwas später sagt er dann noch deutlicher zum

48 49

Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. IV, 2, Zürich 1955, S. 614. Barth, Karl, IV, 2 (1955), S. 238 f.

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8. Kap.: Rückblick und Ausblick

Diesseits des Menschen: Gott „sagt nicht Nein, sondern Ja zu des Menschen natürlichem Dasein“50. Damit hebt die Botschaft vom Reich Gottes zugleich die geschichtliche Entwicklung auf. Es bricht das völlig Andere auf die Menschen und ihre Geschichte herein. Das ist die neue Welt, die aus der alten hervorgegangen ist, die aber von dieser in toto zu unterscheiden ist. Eine Vermischung dieses alten-weltlichen und des göttlichen Reiches ist völlig verfehlt. Die neue Welt ist nicht nur die Vollendung, sondern vor allem das Ende der diesseitigen Welt und ihrer Geschichte. In der Philosophie- und Theologiegeschichte ist diese Aussage umstritten, wie uns Kant und Jaspers nahegebracht haben. Dessen ungeachtet ist eine Entscheidung hier allein dem Glauben möglich. Zwar kann sich diese dem Glaube streng vorbehaltene Behauptung eines künftigen Weltendes nicht absolut auf die Erkenntnis der Naturwissenschaften stützen. Aber sie muss nicht im Widerspruch zu ihr stehen. Es besteht heute vielmehr in dieser Frage ein höheres Maß an Übereinstimmung als das in den früheren Jahrzehnten der Fall war. Immerhin behauptet die „naturwissenschaftliche Kosmologie“ nicht mehr eine unbegrenzte Ausdehnung des Universums in Raum und Zeit, sondern sie lehrt ähnlich wie die Apokalypse der Bibel die Endlichkeit der Welt. Die Naturwissenschaften haben die Endlichkeit des Universums im Raum, „in den hinein es expandiert“, festgestellt und einen Anfang seiner Expansionsbewegung vor endlicher Zeit diagnostiziert. „Auch die Vorstellung eines künftigen Weltendes ist dem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild zumindest als Möglichkeit vertraut, sei es im Sinne des früher viel erörterten Wärmetodes als Konsequenz aus der unbeschränkten Geltung des Entropiesatzes, sei es im Sinne eines Verschwindens aller Materie in ,schwarzen Löchern‘“51. Und es lässt sich mit gutem Recht feststellen: „Das Bild einer im Raum und vor allem in der Zeit endlichen Welt ist zweifellos mit dem biblischen Weltverständnis eher vereinbar als der Gedanke einer aus sich heraus unendlichen unvergänglichen Welt“52. Freilich bleibt zwischen der biblischen Enderwartung und einem naturwissenschaftlichen zu konstatierenden Ende – heraufbeschworen vielleicht durch einen Missbrauch der technischen Möglichkeiten und einer die Umwelt vernichtenden Anwendung – eine große Differenz. „Es lässt sich daher nicht leicht behaupten, dass beide sich auf dasselbe Ereignis beziehen. Sollte das dennoch der Fall sein, so nur im Sinn sehr unterschiedlicher Formen der Näherung. Die apokalyptischen Perspektiven einer Zerstörung der irdischen Umwelt der Menschheit 50 51 52

Barth, Karl, IV, 2 (1955), S. 249. Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993, S. 635. Ebenda.

7. Das Ende der Welt und die Vollendung der Gesellschaft

229

durch den Missbrauch der Technik sind bedrängender. Doch sie involvieren nicht das Ende des Universums, nicht einmal das unserer Erde, wenn auch vielleicht katastrophale Entwicklungen für die Menschheit“53. Alle möglichen Zeichen, die auf das Ende des Überlebens der Menschheit hindeuten, sind eben nur Zeichen, nicht aber das Ende selbst. „Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater“ (Mk. 13,32). Die Christen glauben, dass Gott der Schöpfer der Welt und der Herr der Wirklichkeit, auch Herr der Geschichte ist. Er wird dieses Herr-Sein in der eschatologischen Vollendung durchsetzen und damit letztlich auch das Ende setzen. Dennoch gilt es weiterhin zu erkennen, dass die Auslegung des Neuen Testamentes im Nicaenum zu Recht von einer individuellen Auferstehung gesprochen wird: „Wir warten auf die Auferstehung der Toten und ein Leben der zukünftigen Welt“. Dabei geht es „um die Realität der neu geschaffenen Kreatur in einem neuen, uns jetzt noch nicht eignenden Sein und Wesen“54. Was darf die Menschheit, die Christenheit insbesondere, speziell erhoffen? Sie erkennt zwar weitgehend nicht, was der Wille Gottes ist. Und sie weiß, dass sie nicht durch ihre Aktivitäten auf politischem, kulturellem, ökonomischen oder gesellschaftlichem Gebiet das Heil der Welt herbeiführen kann. Sie darf trotzdem auf dieses Handeln nicht verzichten. Sie muss nach einer Gesellschaft suchen, die das Böse eindämmt und das Leben der Mitmenschen erleichtert. Es gilt, Frieden und Gerechtigkeit unter den Völkern und Gesellschaften in dieser Welt anzustreben.

53 54

Pannenberg, Wolfhart (1993), S. 635. Vogel, Heinrich, Das Nicaenische Glaubensbekenntnis, Berlin 1963, S. 211.

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Personen- und Sachregister Abendland 21 Abtreibungen 129 Achterbahneffekt 37 Advent 224 f. Agape 218, 223 Akzeptanz 213 Alleinerziehend 38 Alter 40, 68, 138 ff., 141 ff., 157, 158, 159 ff., 162 ff., 165 ff., 173, 211 Altersteilzeit 158 Alterung 19 Altes Testament 24, 31, 64, 82 f., 114, 130, 132, 136, 140, 166, 187 f., 223 Altruismus 18 Angebot 17, 47, 78 Anthropozentrik 31 f. Antike 18, 62, 72, 139 ff., 159 ff. Arbeit 36, 43 ff., 46, 48, 51, 61 ff., 64 ff., 66 ff., 88, 90, 153 Arbeitgeber 28, 46, 64 Arbeitnehmer 28, 46, 54, 64, 173 Arbeitslose 12, 64, 143 Arbeitslosenversicherung 19 Arbeitslosigkeit 12, 15, 19, 26, 29, 52, 56, 61 ff., 67 ff., 173 f., 210 – friktionelle 68 – konjunkturelle 68 – saisonale 68 – Sockelarbeitslosigkeit 68 – strukturelle 68 – technologische 68 Arbeitszeit 44, 145 Aristoteles 46, 160, 161, 162 f., 170 Armut 24 ff., 73, 93, 160, 165, 166, 172 f., 173 ff., 176, 210 – absolute 174 – relative 175

– transitorische 175 – verdeckte 175 Asien 58 Athen 160, 163 Attentäter 96 Auferstehung 100, 114, 189 ff., 192, 226 Auferweckung 135, 137 Aufzucht 42 Augustus 165, 167 Ausbildung 28, 40 f. Australien 21, 58

137,

Baby 209 Barth, Karl 96, 101, 191, 227 Baukis 139 f. Befähigungsgerechtigkeit 28 Behinderung 182 Beihilfe 198 f., 202 Belgien 195 Bergpredigt 115 Beruf 19, 36, 40 f., 43 f., 62, 209 Berufung 36 Bienenfabel 69 Bildung 21, 27, 29 f., 51, 64, 222 Birg, Herwig 128, 155 Bischöfe 15 Bismarck, Otto von 40, 80 Böhm, Franz 49 Bongoismus 81 Brüderlichkeit 171 f., 222 f. Bürger 22 f., 24, 37, 39, 147, 150 Bultmann, Rudolf 135 Bundesärztekammer 194, 199 Bundesbank 145, 152

186,

Personen- und Sachregister Calvinismus 45 Cato 164 China 59 Chrematistik 46 Christ, christlich 21 f., 35, 37, 39, 43, 49, 65, 71 ff., 85, 110, 122, 131, 133, 148, 166, 177, 180, 182, 191 f., 202, 205, 216, 218, 220 Christentum 101, 103, 165 ff., 169 Christozentrismus 102 Christus, Jesus 107, 111, 115, 122, 131 f., 134, 137, 166, 168, 186, 191, 227 Cicero, Tullius 140, 164 Computer 98 Dekalog 55, 166, 169 Demographie, demographisch 12, 19, 34, 38, 41, 94, 124 f., 126, 129, 138, 145 ff., 153, 156, 174 Demokratie 21 ff. Deutschland 16, 19, 25 f., 28, 32, 37 f., 42, 48, 52, 56, 61, 63, 66, 83, 120, 125, 126, 129, 143, 145 f., 152, 153, 158, 175 f., 185, 193 ff., 199, 202, 207, 211 Diamond, Jared 57 Dienstleistung 47 Dinks 34 Doping 83 Doppelgebot 223 Drittes Reich 206 f. Ebenbildlichkeit 32 f., 49, 65, 74, 104, 130 ff., 180, 183 f. Egoismus 18, 69 Ehe 19, 24, 33 ff., 38, 42 f, 165 Ehegattensplitting 38 Ehelosigkeit 123 Ehescheidung 34, 174 Ehrlichkeit 21 Eigentum 61 Einkommen 25 f., 27, 29, 38, 48, 52, 83

237

Einsamkeit 18 EKD 28, 56, 176, 178, 180 ff., 184 Eltern 12 f.24, 34, 40, 43, 147, 151, 154, 156, 160 Elsass 92 Emanzipation 19, 38, 40 Embryo 180 ff., 184, 222 Ende 225 ff. Endgericht 192 Endzeit 224 ff. Engels, Friedrich 85 Entfremdung 86, 111, 113 f. Entropie 228 Entwicklung 59 Enzyklika 14, 53, 55, 66 – Centesimus Annus 53 – Populorum Progressio 55 – Quadragesimo Anno 14 – Rerum Novarum 66 Erbsünde 111, 114 Erlösung 72, 111, 135, 191, 193 Erwerbstätigkeit 143, 144 Eschatologie 16, 225 ff. Eskimogesellschaft 195 Ethik 20, 32, 33, 42, 51, 65, 67, 69 ff., 74 ff., 82 ff., 115, 155, 158, 179 ff., 201 ff., 213, 219, 222, 224 Ethikrat 193, 198, 202 Eucken, Walter 49, 87 Euergetismus 167 eugenisch 183 Eurasien 59 Europa 16, 21, 25, 58, 59, 68 Europäisches Votum 181 f. Euthanasie 193, 198 Evangelium 108, 189 f. Ewigkeit 31, 96, 98 f., 106 Existenzminimum 25 Existenzsicherung 61, 64 Extrapolation 13

238

Personen- und Sachregister

Fabio, Udo Di 23 Familie 14, 19 f., 23 f., 33 ff., 36 ff., 39, 42 f., 43 ff., 48, 94, 96, 148, 153, 160, 165, 174, 210 Familiensplitting 38 f. Feierabend 43, 209 Feminisierung 42 Fertilität/Fertilisation 125, 181 Finanzpolitik 50, 89, 90 Fleiß 21 Fluchtod 190 Fötus 182, 184 Fourastié 212 Fundamentalismus 20, 107, 110 Futur 224 f. Frankreich 12, 37, 125, 195 Franzosen 76 Frau 41 ff., 67, 168, 209 Freiheit 21 ff., 27, 29, 48 f., 51, 53, 55, 90, 96, 108, 133, 220, 222, 227 Freizeit 24, 29, 63, 86, 98 Frieden 229 Fruchtfliege 139 Frühverrentung 151 Führen 76 ff., 80 Gebot 136, 156, 165, 166 f., 169 Geburt 181 Geburtenrate 145 Geburtenrückgang 15 Geld 46, 48, 63, 80, 81 ff., 84, 86, 97, 119 Gemeinwesen 14 Gemeinwohl 170 ff. Gen 122, 213, 222 Genetik 179 Generation(en) 12 f., 27 f., 42, 114 ff., 148 ff., 150 f., 152 ff., 154 ff., 156 f., 160, 173, 211 Genom 179 Gerechtigkeit 137, 171, 173, 227 – Befähigungsgerechtigkeit 176

– soziale 26, 27 ff., 51, 53, 56, 73, 75, 170 ff., 176 Geronten 163 Gerontokratie 163 Gerusia 162 f. Geschlecht 35, 39, 117, 163 Gesellschaft 11 ff., 15, 20 f., 26 f., 29, 34 f., 36, 39 ff., 43, 48, 52, 55 f., 60 f., 64, 67, 69, 75, 81 ff., 83, 88, 105, 107, 110, 123 ff., 129, 141, 149 ff., 155, 157, 159, 161, 162, 165, 170 f., 177, 204, 207 f., 211, 213, 215 ff., 220 ff., 225 ff., 229 – Agrargesellschaft 40, 52, 62 – Dienstleistungsgesellschaft 11, 212 f. – Industriegesellschaft 11, 30, 52 f., 148, 161, 199 – Informationsgesellschaft 62 f. Gesetz 20, 61, 165, 172, 219 Gesundheit 118 ff., 121, 149 Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) 120 Gewinn 53, 72 Gleichheit 21 f., 49, 170 ff., 173, 222, 227 Gleichnis 74 Gleichstellung 39 Globalisierung 11, 23, 50, 56, 64 f., 67, 70, 88 ff., 90 f., 177 Globalsteuerung 52 Glück 71 Gott 24, 31 f., 33, 36, 43, 54, 65, 72, 74, 83 f., 86, 96, 102 f., 107, 110 f., 113, 122, 131, 134, 136, 171, 188, 190, 223, 226 f. Griechenland, Grieche, griechisch 18, 159 f., 195 Großbritannien 12 Großeltern 40 Grundgesetz 38 Gut, Güter 24 f., 47, 97, 178 Händler 97 Hahn, Albert 87 Handy 98

Personen- und Sachregister Haustafel 168 Hedonismus 18 f., 114 ff. Heil 16, 102, 115, 178, 189 Heiliger Geist 218 Hiob 96 Hoffnung 137, 209 Homosexualität, Homosexuell 34, 42 Honecker, Martin 218 Horaz 162, 165 Hunger 173 Imperativ 72, 115, 130 Impulspapier 108 Indikativ 72, 115, 130 Individuum, Individualismus 14, 18 f., 22 f., 24, 27, 36, 109, 115, 158, 171, 206, 210, 225 Industrialisierung 171 Inflation 87 Informationstechnik 11, 23, 53, 89, 98, 213 Insemination 180 Institution 14, 23, 34 f., 37, 39, 43, 107, 109 Intensivmedizin 200 f. Invalidität 40 Islam 21, 105 ff., 110, 224 Jahwist 31, 65 Japan 21 Jaspers, Karl 228 Jonas, Hans 221 Jugend 27, 138, 149 ff., 153, 159, 161, 162 f. Kaiserzeit 165 ff. Kalifatstaat 95 Kant, Immanuel 111 f., 228 Kapital 21, 46, 53, 88 f., 90 f. Kapitalismus 45, 47 f., 55 Kapitalist 46 f. Karriere 40 Katechismus 82, 85, 116, 196

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Kaufmann 59 Kinder 19, 24, 34 f., 36 ff., 129, 146, 148, 151, 154, 156, 160, 162, 166 f., 169, 174, 206 Kindererziehung 43 Kinderlosigkeit 19 Kirche(n) 16, 22, 24, 27, 36, 42 f., 51, 53 ff., 56, 75 f., 84, 102, 107 ff., 115, 137, 148, 166, 168, 170, 178 f., 201, 215 Kloster 36 Klonen 180, 184 – reproduktives Klonen 184 – therapeutisches Klonen 184 Kollektivismus, kollektiv 14, 36, 206 Kommunikation 13, 32, 53, 63, 86, 98, 106, 213 Kommunismus 47, 85 Konjunkturpolitik 50 f. Konkurrenz 65, 70 Konsens 179 ff. Konsum 48, 54, 89, 90, 92, 147 f., 152 Konzertierte Aktion 52 Korban 169 Korruption 75 ff., 89 Kosmologie 228 Kosten-Nutzen 200 Krankenkasse 120 Krankheit 40, 121 f., 123, 143, 149, 166, 172, 178 f., 181, 203 Kreß, Hartmut 181 Kreuz 186, 190 Kündigungsschutz 48, 68 Kultur 20, 75, 81, 100 ff., 110, 155 Länder, westliche 21 Laster 69 Leben 15 f., 18, 22 f., 26 f., 28, 31, 37, 41 f., 54, 62, 86, 92, 109, 117, 119, 122, 124, 141, 164, 170, 174, 178 ff., 186 ff., 206 ff., 227 Lebensdienlichkeit 43 Lebensqualität 186, 200 Leibniz, Wilhelm 210

240

Personen- und Sachregister

Leiden 135, 186, 192 Leistung 51, 149 Letztes 71 Liberalismus 36 Logos 103 Lohn 19 Lohnfortzahlung 48 Luther, Martin (lutherisch) 36, 75 f., 82, 84, 85, 113, 132, 136, 140, 189, 216 ff., 220 Macht 48, 78, 162 Makroökonomie 73 f., 88 Malthus, Thomas Robert 123 f. Mandeville, Bernard 69 Mammon 83 Markt 17, 28, 46, 48 f., 55, 74, 133 Marktwirtschaft 15, 24, 28, 45 ff., 47 f., 49 ff., 53 ff., 56, 60 ff., 73 f. – Soziale Marktwirtschaft 28 f., 49 ff., 52, 90, 130 Marx, Karl 46 f., 85 f., 113 McDonaldisierung 89 Medizin 179 ff. Mensch 30 ff., 33 f., 49 ff., 51 f., 54, 62 f., 64 ff., 67, 69, 71, 73 f., 79 f., 97 f., 102 f., 106 f., 110 f., 122, 125, 130 ff., 133 ff., 139, 141, 147, 150 f., 153, 159, 161, 165, 171, 178 ff., 190 ff., 203, 206 f., 215, 220 Menschenrecht(e) 24, 89, 96, 133 Merk, Gerhard, 82, 87, 88, 89, 90 Methusalem 143 ff. Migration 124 Mikroökonomie 72, 88 Mitarbeiter 77, 81 Moltmann, Jürgen 224 Monetarisierung 81 ff., 86 Moral 20, 73, 75, 114 moral hazard 29 Mord 195 Müller-Armack, Alfred 48 ff., 60 Mutter 40, 67, 209

Nachfrage 17, 47, 78 Nachhaltigkeit, nachhaltig 60, 91 ff., 133 Nachkommenschaft 42 Nächster 49, 85, 114, 134, 172, 221 ff. Nation 24 Nationalsozialismus 194, 207 Natur(-katastrophe) 30, 60, 61 f., 106 Neues Testament 25, 72, 83, 103, 114, 131, 134 f., 136, 137, 166 f., 176, 186 ff., 190 f., 205, 229 Neuguinea 58 Nicaenum 229 Niederlande/Niederländer 76, 195 Norm 20 f., 105, 133, 219 Obrigkeit 215 Ökologie 57 ff., 60 ff., 91 ff., 133 Ökonomie 13, 20, 57 ff., 74, 86, 88 ff., 92, 93 ff., 146 Offenbarung 104, 107, 191 Opaschowski, Horst W. 19 Opportunitätskosten 33, 93, 95, 210 Ordnungspolitik 50 f., 72 Ordoliberalismus 49 Ovid 139, 165 Ozonschicht 92 Palliativmedizin 197, 201 Pannenberg, Wolfhart 113 Papst 14, 23, 27, 53 ff. – Benedikt XVI. 55, 109 – Johannes Paul II. 23, 53 f. – Leo XII. 27, 66 – Paul VI. 54 f. – Pius XI. 14 Partei(en) 14 Patchworkfamilie 34 Patient 199 ff. Person 36 Pflege 40, 201, 203 Pflichterfüllung 21 Philemon 139 f.

Personen- und Sachregister Philosophie 13 Pille 41 Planwirtschaft 47, 79 Platon 148, 160, 161 Plinius 164 Pluralismus 14, 204 f. Plutarch 162 Politik(er) 13, 22, 26, 43, 74, 105, 150, 163, 170, 174 Postmoderne 12, 110, 204 Präimplantationsdiagnostik (PID) 180, 182 ff., 185 Pränatale Diagnosatik (PND) 182 ff. Preis 47, 84 Presbyter 167 Priesterschrift 31, 64 f. Produktion 40 ff. Protestantismus 36, 45, 75 f., 101, 104, 107, 118 Pünktlichkeit 21 Rahmenbedingungen (-ordnung) 49, 52, 65, 96 Rahmenordnung 48, 133 Rahner, Karl 103 Rauschgift 94 Rawls, John, 28 Recht 66 Reich Gottes 192, 227 f. Reichtum 24 ff. Reinke, Otfried 33 Relativitätstheorie 98 Religion 20 f., 45, 71, 95, 100 ff., 105 f., 109 f., 133, 148 f., 204, 205, 214 f. Religionisierung 213 Rente 41, 50 Reproduktion 35, 40 ff. Ressourcen 92, 97, 221 Rio de Janeiro 60, 92 Robotertechnik 213 Röpke, Wilhelm 49 Rom, Römer 18, 160, 163, 165

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Rosmini, Antonio 27 Rüstow, Alexander 49 Russland 93 säkular 104 f., 205 Säkularisation 15, 104 Säkularisierung 110, 213 f. Schirrmacher 141 ff. Schöpfer 25, 85, 110 Schöpfung 30, 32 f. Scholastik 46, 132 Schreiber, Wilfried 153 Schwangerschaftsabbruch 20, 42, 182 f. Schweiz 195 Sektor, tertiär 212 Selbstbestimmung 22, 194 Selbstentfaltung 118 Selbsttötung 194, 198 f., 201 ff. Selbstverwirklichung 18, 29, 110 Selektion 183 Sen, Armatya 26 Sexualität 35, 39, 116, 143 Sicherheit 172 ff. Simmel, Georg 86 Singer, Peter 195 Sintflut 139 Smith, Adam 70 Sofsky, Wolfgang 95 Sokrates 161 Solidarität 14, 18, 40, 52, 56, 73 f., 75, 133 f., 154 f. Sozialismus 47, 79 Soziallehre 35, 55, 65, 133, 170 f. Sozialpolitik 18, 38, 90 Sozialstaat 15, 35, 52, 172 Sozialstruktur 11 Sozialsystem 19, 42, 68, 110 Sozialversicherung(en) 12, 19 Sparta 161 f., 162 ff. Spaß 24 Spielregel 75 Staat 22 f., 24, 38, 43, 48, 54, 60, 64, 106, 157, 166, 170, 172

242

Personen- und Sachregister

Staatsverschuldung 52, 110 Stammzelle 181, 183 Stellvertretung 137 Sterbehilfe 193 ff., 196 ff. – aktive 193 ff., 196 – passive 193 ff., 196 ff. Sterben 40, 109, 122, 124, 137, 178 ff., 187 ff. Steuersystem 133 Subsidiarität 14, 15, 18, 24, 52, 134 Südkorea 21 Sünde 106, 110 ff., 112 ff., 115 f., 122, 131 f., 135 f., 137, 189, 191, 224 Süßmilch, Johann Peter 123 f. Taiwan 21 Taparelli, Luigi 27 Taufe 131 Tauschmittel 82, 87 Teilhabe 26 ff., 28, 172, 176, 186 Teilzeit 158, 174 Terrorismus 93 ff., 210 Theologie 101 ff., 106 f., 113, 118, 132, 137, 181, 190, 201 Tier, Tierschutz 31 ff., 54, 58 f., 92 Tillich, Paul 113 Tod 31, 109, 124, 137, 149, 164, 174, 178, 186 ff., 189 ff., 192 f., 211 Todsünde 112, 115 ff. Töten auf Verlangen 194, 197 f. Tötung 198, 215 Toleranz 101, 213 ff. Transzendenz 106, 119 Troja 80 Tugend 21, 69, 142, 164 Überlebensfähigkeit 61, 155 Uhr 97 Umbruch 14 Umwelt 50, 54, 57 ff., 60 ff., 221 ff., 229 Umweltschutz 50 f., 54, 57 ff., 60 ff., 91 ff., 213

Ungerechtigkeit 172 Unternehmen 48 Urgeschichte 31 USA 12, 16, 21, 125 f., 185 Verantwortung 14 f., 17, 22, 30 ff., 33 f., 49, 51, 54 f., 63, 75, 92, 106, 133, 156, 162, 175, 220 ff. Vergangenheit 12, 98 Verhütung 35 Vermögen 26 f., 47, 51 f. Versöhnung 136, 191, 193, 218, 226 Verteilungsgerechtigkeit 28, 74 Vertrauen 76 ff. Verwirklichung 26 Vieleck 64, 87 Volk 24, 229 Vollbeschäftigung 51 Vollendung 225 ff. Vorgesetzter 77, 79 Vorkaufsrecht 85 Vorletztes 71 Wachkoma 197 Währung 86, 133 Waisen 166 Ware 213 Weber, Max 46 f. Weihnachten 15 Welt 206 ff. Weltgesundheitsorganisation (WHO) 118 Werbung 16 f. Wert(e) 12, 20 f., 34, 47, 73, 85, 105, 110, 148, 213 Wettbewerb 47, 51 f., 58, 67, 73 f. Wettbewerbsprinzip 48 Wille 199 ff. Wirtschaft 21, 23 f., 41, 45 ff., 48, 73, 75 ff., 88 ff., 92, 149, 157, 159, 173, 212 Wirtschaftsethik 69 ff., 71 ff., 73 ff. Wirtschaftspolitik 91 Wissenschaft 21

Personen- und Sachregister Witwen 166 ff. Wohlfahrtsstaat 170 ff. Wohlstand 12, 174 ff. Wucher 85 Würde 22, 37, 49, 64 ff., 180 Zeit 31, 33, 96 ff., 119, 164 f. – Zeitvergessenheit 96 ff. – Zeitversessenheit 96 ff. Zelle 180 ff., 185 Zentralkomitee 197

243

Zeugung 42, 165 Ziel(e) 13, 48, 51, 63, 88, 104, 152, 171, 209 Zins 46 f., 84 Zorn 187 Zukunft 13, 17, 37, 70, 77, 98, 108, 123 ff., 208, 221, 224 ff. Zwei-Reiche-Lehre 216 ff., 219 ff. Zweiter Weltkrieg 12, 142 Zweites Vatikanisches Konzil 102 f.