Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft« (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus) [1 ed.] 3835332996, 9783835332997

Welchen Einfluss nahm der Nationalsozialismus auf die geschlechtlichen Beziehungen? Der Ort von Frauen in der NS-Gesell

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Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft« (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus) [1 ed.]
 3835332996, 9783835332997

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Klaus Latzel/Elissa Mailänder/Franka Maubach: Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft«. Zur Einführung
Bernd Kleinhans: Ich für dich – du für mich. »Volksgemeinschaft« als geschlechterintegrierende Opfergemeinschaft im NS-Spielfilm
Gudrun Brockhaus: Die deutsche Mutter als Siegerin im Geschlechterkampf. Subtexte in Johanna Haarers Ratgebern
Annemone Christians: Gewinner und Verliererinnen. Geschlechterrelationen in der nationalsozialistischen Scheidungspraxis
Maren Röger: Die Grenzen der »Volksgemeinschaft«. Deutsch-ausländische Eheschließungen 1933-1945
Mirjam Schnorr: Jenseits der »Volksgemeinschaft«? Von Prostituierten und Zuhältern
Isabel Heinemann: »Keimzelle des Rassenstaates«. Die Familie als Relais der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik in Osteuropa
Julia Paulus: »Frau mit vielen Männern«. Geschlechterkonstruktionen einer Soldatenheimschwester aus »gutem Hause«
Frank Werner: »Es ist alles verkehrt in der Welt«. Eine Ehe als Leistungsgemeinschaft im Krieg
»One-Night-Stand und Massenmord«. Ein Diskussionsforum zum Film Die Blumen von gestern (Chris Kraus, D 2017)
Fundstück
Klaus Latzel/Franka Maubach: Hochzeit in Uniform. Eheversprechen und »Volksgemeinschaft«
Rezensionen
Jörn Retterath, »Was ist das Volk?«. Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischenMitte in Deutschland 1917-1924 (Michael Wildt)
Mark A. Fraschka, Franz Pfeffer von Salomon. Hitlers vergessener Oberster SA-Führer (Bernhard Sauer)
Katja Kosubek, »genauso konsequent sozialistisch wie national«. Alte Kämpferinnen der NSDAP vor 1933. Eine Quellenedition 36 autobiographischer Essays der Theodore-Abel-Collection (Jürgen W. Falter)
Felix Römer, Die narzisstische Volksgemeinschaft. Theodor Habichts Kampf 1914 bis 1944 (Sandra Dentler)
Sarah Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939) (Manfred Gailus)
Paul-Moritz Rabe, Die Stadt und das Geld. Haushalt und Herrschaft im nationalsozialistischen München (Anton Weise)
Karin Orth, Die NS-Vertreibung der jüdischen Gelehrten. Die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen (Franziska Rehlinghaus)
Christian Rohrer, Landesbauernführer. Bd. 1: Landesbauernführer im nationalsozialistischen Ostpreußen. Studien zu Erich Spickschen und zur Landesbauernschaft Ostpreußen. Bd. 2: Die Landesbauernführer des Reichsnährstandes (1933-1945) (Jan Vondracek)
Jochen Lehnhardt, Die Waffen-SS: Geburt einer Legende. Himmlers Krieger in der NS-Propaganda (Daniel Mühlenfeld)
Sarah Helm, Ohne Haar und ohne Namen. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück (Katharina Zeiher)
Wolfram Pyta/Nils Havemann/Jutta Braun, Porsche. Vom Konstruktionsbüro zur Weltmarke (Manfred Grieger)
Rachel Century, Female Administrators of the Third Reich (Armin Nolzen)
Herlinde Pauer-Studer/ David J. Velleman, »Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin«. Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen (Christine Schoenmarkers)
Arnd Bauerkämper/ Grzegorz Rossoliński-Liebe (Hg.), Fascism without Borders. Transnational Connections and Cooperation between Movements and Regimes in Europe from 1918 to 1945 (Martina Steber)
Federico Finchelstein, From Fascism to Populism in History (Sven Reichardt)
Regina Fritz/Eva Kovács/Béla Ráski (Hg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Before the Holocaust Had Its Name. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden (Beate Meyer)
Wolfgang Benz/Brigitte Mihok (Hg.), »Juden unerwünscht«. Anfeindungen und Ausschreitungen nach dem Holocaust (Nicole Kramer)
Jan Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft (Markus Roth)
Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Karriere (Lutz Budrass)
Abkürzungen
Personenverzeichnis
Autorinnen und Autoren

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Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Band 34 Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft«

Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Band 34

Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft« Herausgegeben von Klaus Latzel, Elissa Mailänder und Franka Maubach

Redaktion: Hannah Ahlheim, Wolf Gruner, Rüdiger Hachtmann, Birthe Kundrus, Elissa Mailänder, Franka Maubach, Armin Nolzen, Babette Quinkert, Sven Reichardt, Sybille Steinbacher, Winfried Süß und Malte Thießen Herausgeber dieses Bandes: Klaus Latzel, Elissa Mailänder und Franka Maubach Verantwortlich für den Rezensionsteil: Armin Nolzen Postanschrift der Redaktion: Prof. Dr. Sven Reichardt Universität Konstanz Fachbereich Geschichte und Soziologie Fach Geschichte Universitätsstraße 10 78457 Konstanz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© der Texte bei den AutorInnen © dieser Ausgabe Wallstein Verlag, Göttingen 2018 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlagkonzept: Basta Werbeagentur, Steffi Riemann Umschlaggestaltung: Wallstein Verlag, unter Verwendung des Hochzeitsfotos von Isolde Springer und Willi Ostermann, November 1944 (in Privatbesitz) Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-3299-7 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4266-8

Inhalt Klaus Latzel / Elissa Mailänder / Fr ank a Maubach Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft«. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Kleinhans Ich für dich – du für mich. »Volksgemeinschaft« als geschlechterintegrierende Opfergemeinschaft im NS -Spielfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gudrun Brockhaus Die deutsche Mutter als Siegerin im Geschlechterkampf. Subtexte in Johanna Haarers Ratgebern . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Annemone Christians Gewinner und Verliererinnen. Geschlechterrelationen in der nationalsozialistischen Scheidungspraxis . . . .

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Maren Röger Die Grenzen der »Volksgemeinschaft«. Deutsch-ausländische Eheschließungen 1933-1945 . . . . . . . . . . . . . .

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Mirjam Schnorr Jenseits der »Volksgemeinschaft«? Von Prostituierten und Zuhältern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Isabel Heinemann »Keimzelle des Rassenstaates«. Die Familie als Relais der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik in Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Julia Paulus »Frau mit vielen Männern«. Geschlechterkonstruktionen einer Soldatenheimschwester aus »gutem Hause« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fr ank Werner »Es ist alles verkehrt in der Welt«. Eine Ehe als Leistungsgemeinschaft im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . .

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»One-Night-Stand und Massenmord«. Ein Diskussionsforum zum Film Die Blumen von gestern (Chris Kraus, D 2017) . . . . . . . . . . . . . . . .

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inhalt

Fundstück Klaus Latzel / Fr ank a Maubach Hochzeit in Uniform. Eheversprechen und »Volksgemeinschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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R ezensionen Jörn Retterath, »Was ist das Volk?«. Volk- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917-1924 (Michael Wildt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mark A. Fraschka, Franz Pfeffer von Salomon. Hitlers vergessener Oberster SA-Führer (Bernhard Sauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Katja Kosubek, »genauso konsequent sozialistisch wie national«. Alte Kämpferinnen der NSDAP vor 1933. Eine Quellenedition 36 autobiographischer Essays der Theodore-Abel-Collection (Jürgen W. Falter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Felix Römer, Die narzisstische Volksgemeinschaft. Theodor Habichts Kampf 1914 bis 1944 (Sandra Dentler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sarah Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939) (Manfred Gailus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Paul-Moritz Rabe, Die Stadt und das Geld. Haushalt und Herrschaft im nationalsozialistischen München (Anton Weise) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karin Orth, Die NS -Vertreibung der jüdischen Gelehrten. Die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen, (Franziska Rehlinghaus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Rohrer, Landesbauernführer. Bd. 1: Landesbauernführer im nationalsozialistischen Ostpreußen. Studien zu Erich Spickschen und zur Landesbauernschaft Ostpreußen. Bd. 2: Die Landesbauernführer des Reichsnährstandes (1933-1945). (Jan Vondráček) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jochen Lehnhardt, Die Waffen-SS: Geburt einer Legende. Himmlers Krieger in der NS -Propaganda (Daniel Mühlenfeld) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sarah Helm, Ohne Haar und ohne Namen. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück (Katharina Zeiher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfram Pyta / Nils Havemann / Jutta Braun, Porsche. Vom Konstruktionsbüro zur Weltmarke (Manfred Grieger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rachel Century, Female Administrators of the Third Reich (Armin Nolzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Herlinde Pauer-Studer / David J. Velleman, »Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin«. Der Fall des SS -Richters Konrad Morgen (Christine Schoenmakers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Arnd Bauerkämper / Grzegorz Rossoliński-Liebe (Hg.), Fascism without Borders. Transnational Connections and Cooperation between Movements and Regimes in Europe from 1918 to 1945 (Martina Steber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Federico Finchelstein, From Fascism to Populism in History (Sven Reichardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Regina Fritz / Eva Kovács / Béla Ráski (Hg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Before the Holocaust Had Its Name. Zur frühen Aufarbeitung des NS -Massenmordes an den Juden (Beate Meyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Benz / Brigitte Mihok (Hg.), »Juden unerwünscht«. Anfeindungen und Ausschreitungen nach dem Holocaust (Nicole Kramer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jan Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft (Markus Roth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Karriere (Lutz Budrass). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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inhalt

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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K l aus L at z e l / E l iss a M a i l ä n de r / Fr a n k a M au b ach

Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft« Zur Einführung Es wäre interessant zu erfahren, was Luise und Fredy Solmitz dazu gesagt hätten: Ihre Ehegeschichte, von der ein vielbändiges Tagebuch der Chronistin Luise Solmitz zeugt, wurde von der NS -Forschung in den letzten Jahren aufmerksam wahrgenommen.1 Sie untersuchte und diskutierte sowohl die intimen Details einer Beziehung als auch die großen Linien der politischen Entwicklung: die Begeisterung des Paares über die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, die beide als »nationale Erhebung« verstanden, dann die schleichende Ernüchterung, als klar wurde, dass Fredy Solmitz’ nationales Bekenntnis nichts ausrichten konnte gegen die Tatsache, dass er, evangelisch getauft, wegen seiner jüdischen Eltern gesellschaftlich ausgegrenzt wurde (nur seine Ehe mit einer nicht-jüdischen Ehefrau bewahrte ihn vor dem Schlimmsten), und schließlich die tiefe Resignation und Abkehr vom Regime. Kurz vor Kriegsende verbrannte Luise Solmitz ihre Hakenkreuzfahne. Diese gleichermaßen dramatischen wie alltäglichen, typischen wie besonderen Erfahrungen haben in den letzten Jahren Eingang in Gesamtdarstellungen wie Spezialforschungen gefunden, wurden weithin aufgegriffen und interpretiert.2 Wie lässt sich erklären, dass die Liebesgeschichte des Ehepaars Solmitz, deren diarische Hinterlassenschaft von der Historikerin Beate Meyer entdeckt und teilweise ediert wurde, in der jüngeren NS -Forschung zum paradigmatischen, fast schon inflationär zitierten Fallbeispiel avancierte? Was kann man an dieser Ehe- und Familiengeschichte studieren, was lässt sich aus ihr lernen? Die intensive Rezeption der letzten Jahre – von Solmitz selbst ermöglicht, indem sie ihre Tagebücher dem Hamburger Stadtarchiv übergab – verweist auf neue Zugänge, 1 Die unveröffentlichten Tagebuchbände liegen im Stadtarchiv Hamburg. Ediert wurden Teile aus dem Jahresband 1933; vgl. Tagebuch Luise Solmitz, in: Frank Bajohr / Beate Meyer /Joachim Szodrzynski (Hg.), Bedrohung, Hoffnung, Skepsis. Vier Tagebücher des Jahres 1933, Göttingen 2013, S. 143-270; s. auch die Einleitung von Beate Meyer, in: ebd., S. 127-142 sowie dies., »Ich schlüpfe unbeachtet wie eine graue Motte mit durch«. Die Wandlungen der Luise Solmitz zwischen 1933 und 1945 im Spiegel ihrer Tagebücher, in: Frank Bajohr / Sybille Steinbacher (Hg.), »... Zeugnis ablegen bis zum letzten«. Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus, Göttingen 2015, S. 61-80. 2 Vgl. z. B. Dietmar Süß, »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich, München 2017, S. 14-19, 24, 225; Markus Roth, »Ihr wisst, wollt es aber nicht wissen«. Verfolgung, Terror und Widerstand im Dritten Reich, Göttingen 2015, passim; Janosch Steuwer, »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933-1939, Göttingen 2017, passim (s. die zahlreichen Nennungen im Namenregister); Michael Wildt, Self-Reassurance in Troubled Times: German Diaries During the Upheavals of 1933, in: Alf Lüdtke (Hg.), Everyday-Life in Mass Dictatorship. Collusion and Evasion, Basingstoke 2016, S. 55-74.

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Perspektiven und Interpretationsweisen der NS -Forschung. Deren Erkenntnisinteressen richten sich immer mehr auch auf die uneindeutigen oder widersprüchlichen Verhaltensweisen und Einstellungen von »Volksgenossen« und »Gemeinschaftsfremden«, die sich, wie im Fall der »Mischehe« von Luise und Fredy Solmitz, zudem über die Zeit hinweg wandeln konnten. In klassischen Dichotomien von Zustimmung oder Ablehnung, Freiwilligkeit oder Zwang, Inklusion oder Exklusion gehen sie nicht auf. Die Beiträge dieses Bandes knüpfen an diese Forschungen an und gehen darüber hinaus, und zwar auf folgende Weise: erstens in der systematischen Analyse der NS Geschichte als Beziehungsgeschichte, zweitens im Versuch, eine integrierte, relationale Geschlechtergeschichte zu schreiben, um auf diesem Wege und unter der Perspektive der »Volksgemeinschaft« das dynamische Verhältnis von Geschlechterbeziehungen und rassistischer NS -Politik besser zu begreifen.

1. NS -Geschichte als Beziehungsgeschichte In den letzten Jahren ist die Suche nach den Gründen für das Mittun und die Taten der nicht-verfolgten deutschen Bevölkerung in der rassistischen NS -Gesellschaft komplexer geworden. Während die Täter- (und Täterinnen-)Forschung seit den neunziger Jahren vor allem über ideologische Dispositionen oder sozialen Gruppenzwang als Motivationen für den engeren Kreis der Tatbeteiligten diskutierte, richtete sich das Erkenntnisinteresse seit den 2000er Jahren unter dem Stichwort der »Volksgemeinschaft« auf das Verhalten und Handeln immer weiterer Bevölkerungskreise.3 Das Versprechen, ja die Verheißung der Aufnahme in die »Volksgemeinschaft« für jeden Einzelnen galt dabei als Katalysator für Systemloyalität und Gewaltakzeptanz oder auch für die aktive Beteiligung an der NS -Verfolgungs- und Mordpolitik.4 Michael Wildt hat dagegen früh darauf hingewiesen und in seinen eigenen Forschungen empirisch gezeigt, dass In- und Exklusionsprozesse notwendig zusammen betrachtet werden müssen.5 Es gilt darüber hinaus nun, nach der ganzen Vielfalt sozialer Beziehungen im »Dritten Reich« zu fragen – Beziehungen, die die NS -Herrschaft mittragen konnten, auch ohne dass die einzelnen Individuen unbedingt »Nazis« oder gewalttätig sein mussten.6

3 Vgl. Wolf Gruner, Das Dogma der »Volksgemeinschaft« und die Mikrogeschichte der NS Gesellschaft, in: Detlef Schmiechen-Ackermann / Marlis Buchholz / Bianca Roitsch / Christiane Schröder (Hg.), Der Ort der »Volksgemeinschaft« in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S. 71-90, hier v. a.: S. 71. 4 Zur »Volksgemeinschaft« als Verheißungs- und Mobilisierungsbegriff s. Frank Bajohr / Michael Wildt, Einleitung, in: dies. (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 7-23, hier: S. 8. 5 Vgl. Michael Wildt, »Volksgemeinschaft« als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007. 6 Vgl. Mary Fulbrook, Dissonant Lives. Generations and Violence Through the German Dictatorships, Oxford 2011. S. auch Janosch Steuwer / Hanne Leßau, »Wer ist ein Nazi? Woran er-

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Auch wenn der stets mitgeführte Streit über die Frage, ob »Volksgemeinschaft« lediglich ein Propaganda- und Quellenbegriff sei oder ob er als analytisches Instrument tauge, die Wahrnehmung der vielfältigen Forschungserträge bisweilen verstellte: Als »Türöffner« für einen »veränderten Blick auf die Gesellschaft des Nationalsozialismus«, auf individuelle Einstellungen und soziale Praktiken, hat der Begriff der »Volksgemeinschaft« einen guten Dienst getan.7 Daran anschließend, nutzen wir »Volksgemeinschaft« als heuristischen Begriff, als einen Impuls- und Suchbegriff, der unser Erkenntnisinteresse ausgerichtet hat.8 Die Volksgemeinschaftsforschung scheint sich derzeit zu einer »neuen Gesellschaftsgeschichte« zu erweitern. Diesem Begriff wurde jedoch bereits eine ähnliche »Vagheit« wie dem der »Volksgemeinschaft« attestiert.9 Sollte man daher nicht vielmehr von einer Geschichte unterschiedlicher Formen der »Vergesellschaftung«10 im Nationalsozialismus sprechen? Zu schreiben wäre eine Geschichte, die vor allem konkrete Wechselbeziehungen auf allen empirischen Ebenen untersucht: zwischen Individuen, zwischen Individuen und Gruppen oder Institutionen sowie zwischen Gruppen oder Institutionen untereinander.11 Private wie gesellschaftliche (Selbst-)Verortungen,

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kennt man ihn?« Zur Unterscheidung von Nationalsozialisten und anderen Deutschen, in: Mittelweg 23 (2014), H. 1, S. 30-51. Janosch Steuwer, Was meint und nützt das Sprechen von der »Volksgemeinschaft«? Neue Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487-534, hier: S. 534. Zur Debatte um die »Volksgemeinschaft« s. auch die konzise Kritik bei Gruner, Dogma (wie Anm. 3), S. 72-76. Die Rede von »Volksgemeinschaft« als »analytischem Leitbegriff« oder »analytischer Kategorie« war schon immer irreführend. Selbst diejenigen, die davon sprechen, verwenden diesen Begriff nicht analytisch, also als aufschließendes Instrument (wie hätte das bei dessen Unschärfe und Bedeutungsreichtum auch gelingen sollen), sondern stattdessen gängige analytische Begriffe wie »Rasse«, »Klasse«, »sozialer Wandel«, »Inklusion«, »Exklusion«, »Normen«, »Praktiken« usw. Vgl. pars pro toto Martina Steber / Bernhard Gotto, Volksgemeinschaft im NS -Regime: Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 433-445. Ulrich Herbert hat zu Recht vorgeschlagen, statt des »euphemistische[n] Quellenbegriff[s] ›Volksgemeinschaft‹« den präziseren Begriff »rassistische Gesellschaft« zu verwenden; vgl. Ulrich Herbert, »Volksgemeinschaft«. Gleichheit und Ungleichheit, in: Winfried Nerdinger (Hg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS -Dokumentationszentrums München, München 2015, S. 408418, hier: S. 418. Steuwer, Was meint und nützt das Sprechen von der »Volksgemeinschaft« (wie Anm. 7), S. 534. Georg Simmel hat diesen Begriff geprägt, um damit den essentialistischen Begriff »Gesellschaft« zu verabschieden und die Dynamiken sozialer Wechselwirkungen zu erfassen: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992, S. 19. Simmel spricht von »Beziehungen und Thätigkeiten von Elementen«, die »nicht nur menschliche Personen«, sondern auch »ganze Gruppen« umfassen: »Gesellschaft ist nur der Name für die Summe dieser Wechselwirkungen.« Georg Simmel, Über sociale Differenzierung, in: ders., Aufsätze 1887-1890, hg. von Hans-Jürgen Dahme, Frankfurt a. M. 1989, S. 109-295, hier: S. 131-134, Zitate S. 131.

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soziale Hierarchien und Machtbeziehungen, Ein- und Ausschlussprozesse wurden auch in der rassistischen Gesellschaft ständig neu verhandelt, sie blieben umkämpft und konnten reproduziert oder verändert werden. Für das Verständnis der eskalierenden Verfolgungsdynamik und der nationalsozialistischen Mordpolitik erscheint uns die systematische, genaue und langfristige Analyse solcher Wechselbeziehungen darum zentral. Zudem erlaubt ein solcher Zugang, »Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten« im Leben der Menschen wie auch das Politische im vermeintlich UnpolitischAlltäglichen zu erkennen und anschaulich zu machen.12 In diesem Zusammenhang kann die Forschung von der Rückbesinnung auf alltagsgeschichtliche Erkenntnisinteressen und Methoden profitieren, die bereits in den achtziger Jahren eingeführt wurden – ganz neu ist die »neue Gesellschaftsgeschichte« nicht.13 Individuen und Gruppen, so hat etwa Alf Lüdtke schon 1989 betont, formen »das Profil ihrer Wahrnehmungs- und Handlungsweisen nicht jenseits, sondern in und durch gesellschaftliche Beziehungen«.14 Paarbeziehungen stellen dabei fundamentale, weil existenziell wichtige soziale Relationen dar. Sie führen den Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin besonders nahe an zentrale Machtdimensionen der rassistischen Gesellschaft heran: an die Politisierung des Privaten, an den rassenbiologischen Blutglauben, an die Ideologie einer blutsverwandten »Volksgemeinschaft«, an die institutionellen Zugriffe des NS -Regimes auf die Individuen. Dabei waren die »Beherrschten« in den hier untersuchten Machtbeziehungen »alles andere als nur passiv«,15 vielmehr gestalteten sie diese Beziehungen nolens volens selbst mit. Wir suchen nach der Bedeutung von »Volksgemeinschaft« auf den unterschiedlichen Ebenen der genannten Wechselbeziehungen. Dabei verstehen wir »Volksgemeinschaft« mit Wolf Gruner »als wichtiges anschlussfähiges Element der NS Ideologie und vielgenutztes Konzept der NS -Politik«. Es »bündelte« nicht nur »eine Menge rassistischer und nationaler Ideen«,16 sondern normierte auch die zwischengeschlechtlichen Beziehungen, die ausschließlich heterosexuell gedacht wurden. In 12 Alf Lüdtke, Rekonstruktion von Alltagswirklichkeit – Entpolitisierung der Sozialgeschichte?, in: Robert M. Berdahl / Alf Lüdtke / Hans Medick (Hg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1982, S. 321-353, hier: S. 328. Detlev Peukert, Alltag unterm Nationalsozialismus, in: Ulrich Hermann (Hg.), »Die Formung des Volksgenossen«. Der »Erziehungsstaat« des Dritten Reiches, Weinheim 1985, S. 40-64. S. auch Rüdiger Hachtmann / Sven Reichardt, Detlev Peukert revisited: Überlegungen zu seiner historiographischen Einordnung, in: dies. (Hg.), Detlev Peukert und die NS -Forschung, Göttingen 2015, S. 9-38. 13 S. v. a. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982. 14 Das Zitat: Alf Lüdtke, Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte, in: ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M. 1989, S. 9-47, hier: S. 13. 15 Alf Lüdtke, Alltag: »Der blinde Fleck?«, in: Deutschland Archiv. 39 (2006), S. 894-901, hier: S. 900; Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Analytik der Macht, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Auswahl und Nachwort von Thomas Lemke, Frankfurt a. M. 2005, S. 240-263. 16 Gruner, Dogma (wie Anm. 3), S. 76.

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diesem Rahmen allerdings war die Ordnung der Geschlechter keineswegs starr fixiert, sondern variabel und entstand performativ. »Doing gender« und »doing Volksgemeinschaft« waren, so jüngst Kirsten Heinsohn, eng miteinander verbunden.17

2. Relationale Geschlechtergeschichte Die Beiträge des Bandes nehmen ernst, was Joan W. Scott bereits Mitte der achtziger Jahre postulierte und was seither zwar viel zitiert, aber selten umgesetzt wurde: Scotts prägnante Definition besagte, dass Geschlecht ein konstitutives Element sozialer Beziehungen sei. Dabei gehe es sowohl um wahrgenommene und zugesprochene Differenzen als auch um Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern. Bereits damals forderte die amerikanische Historikerin dazu auf, Geschlecht als eine relationale Analysekategorie ernst zu nehmen: »Whereas the term ›women’s history‹ proclaims its politics by asserting […] that women are valid historical subjects, ›gender‹ […] is […] used to suggest that information about women is necessarily information about men, that one implies the study of the other. This usage insists that the world of women is part of the world of men, created in and by it. […] Gender is, in this definition, a social category imposed on a sexed body.«18 Eine Geschichte der Geschlechterbeziehungen im Nationalsozialismus zu schreiben, bedeutet mithin, über den »Relationsbegriff«19 Geschlecht Männer und Frauen systematisch zueinander ins Verhältnis zu setzen. Der Weg zu einer in diesem Sinne integrierten, relationalen Geschlechtergeschichte wurde bislang selten beschritten. Bis heute bestellen auch in der NS -Geschichte (mit wenigen Ausnahmen vor allem jüngerer Forscher und Forscherinnen) die einen vornehmlich das Feld der Frauenund die anderen das der Männlichkeitsforschung,20 und das meinen wir mit Blick auf 17 Vgl. Kirsten Heinsohn, Volksgemeinschaft und Geschlecht. Zwei Perspektiven auf die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Detlef Schmiechen-Ackermann / Marlis Buchholz / Bianca Roitsch / Christiane Schröder (Hg.), Der Ort der »Volksgemeinschaft« in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S. 245-258, hier: S. 250. 18 Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: The American Historical Review 91 (1986), S. 1053-1075, hier: S. 1056. 19 Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001, S. 95 f. (der Terminus stammt von Ernst Cassirer). 20 Darauf verweist etwa Lerke Gravenhorst, Geleitwort, in: Anette Dietrich / Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis, Frankfurt a. M. 2013, S. 1-6, hier: S. 1. Vgl. die kritischen Überblicke zur Forschung bei Anette Dietrich / Ljiljana Heise, Perspektiven einer kritischen Männlichkeitenforschung zum Nationalsozialismus. Eine theoretische und pädagogische Annäherung, in: ebd., S. 7-35; Susanne Lanwerd / Irene Stoehr, Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren. Forschungsstand, Veränderungen, Perspektiven, in: Gabriella Hauch / Johanna Gehmacher (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck 2007,

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einige unserer eigenen Beiträge zum Forschungsfeld durchaus selbstkritisch.21 Zwar entwickelte sich seit den neunziger Jahren – im Kontext der Tat- und Tätergeschichte – eine vitale Täterinnenforschung. Diese konzentrierte sich jedoch vornehmlich auf weibliches Mitmachen (und Widerstehen), sodass die Frage nach den Geschlechterrelationen weitgehend im Hintergrund blieb.22 Parallel dazu entwickelte sich eine kritische Männlichkeitsforschung, die vermeintlich selbstverständliche Bilder soldatischer Männlichkeit aus der Gewaltgeschichte des Zweiten Weltkriegs herauslöste und untersuchte.23 Die Geschichte der Männlichkeiten basiert dabei auf zwei Arbeitshypothesen: Einerseits geht es um das Konzept des »doing gender«,24 also um die performative Dimension der Geschlechtsidentität. Auf der anderen Seite konzipiert der hier viel verwendete Begriff der »hegemonialen Männlichkeit« dominante Männlichkeitsmodelle in Beziehung zu marginalen, untergeordneten und insbesondere komplizenhaften Männlichkeiten.25 Die Geschichte der Männer und Männlichkeiten will verschiedene Beziehungsformen zusammendenken: Dominanz von Männern über Frauen, Dominanz bestimmter Gruppen von Männern über andere sowie, intersektional, das Wechselspiel

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S. 22-68; Elke Frietsch / Christina Herkommer, Nationalsozialismus und Geschlecht: eine Einführung, in: dies. (Hg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945, Bielefeld 2009, S. 9-44. Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn 1998; Elissa Mailänder Koslov, Gewalt im Dienstalltag. Die SS Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek 1942-1944, Hamburg 2009; Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009; Klaus Latzel/Franka Maubach/Silke Satjukow (Hg.), Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011. Zum Beispiel von Frauen in der SS vgl. Gudrun Schwarz, Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der »SS -Sippengemeinschaft«, Hamburg 1997; Jutta Mühlenberg, Das SS -Helferinnenkorps. Ausbildung, Einsatz und Entnazifizierung der weiblichen Angehörigen der Waffen-SS 1942-1949, Hamburg 2012; Johannes Schwartz, »Weibliche Angelegenheiten«. Handlungsräume von KZ -Aufseherinnen in Ravensbrück und Neubrandenburg, Hamburg 2018. S. auch Wendy Lower, Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust, München 2014 und die Debatte im Journal of the East Central Europe 44 (2017), in der Wendy Lower die Bedeutung einer differenzierten Geschlechtergeschichte betonte: Wendy Lower, Partners in Crime: Moving Beyond Women’s History to the Gendered Dynamics of the Holocaust, in: ebd., S. 170-174. Vgl. hier nur Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; Frank Werner, »Hier müssen wir hart sein.« Soldatische Männlichkeit im Vernichtungskrieg 1941-1944, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 5-40; Dietrich / Heise, Männlichkeitskonstruktionen (wie Anm. 20). Candace West / Don H. Zimmerman, »Doing Gender«, in: Gender & Society 1 (1987), S. 125-151. Robert Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion von Krise und Männlichkeit (engl. 1995), 4., durchges. u. erw. Aufl. Wiesbaden 2015, S. 129-135, und Raewyn Connell / James W. Messerschmidt, Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept, in: Gender and Society 19 (2005), S. 829-859.

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solcher Geschlechterverhältnisse mit ökonomischen und rassistischen Dominanzverhältnissen.26 Unser Band versteht sich als Beitrag zu einer im oben beschriebenen Sinne relationalen Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus, die untersucht, wie am Beispiel von Paarbeziehungen, staatlichen Institutionen und deren Wechselwirkungen Verhältnisse von Vorherrschaft und Unterordnung entworfen und praktiziert werden und welche Bedeutung dabei dem Bezug auf die »Volksgemeinschaft« zukommt. Zu den frühen Vorbildern einer solchen Geschlechtergeschichte27 zählt die Pionierstudie von Gabriele Czarnowski. Sie arbeitete schon Anfang der neunziger Jahre heraus, dass »die Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus nicht rückwärtsgewandt, reaktionär und konservativ«, »sondern im Gegenteil höchst modern« gewesen sei.28 Der NS Staat, so Czarnowski, habe den rechts- und sozialpolitischen Zugriff auf das Institut der Ehe ebenso wie den biopolitischen Zugriff auf die Körper der Partner jedoch »in spezifischer Weise« fortgeführt (und per Zwang und Gewalt durchgesetzt).29 Czarnowskis Arbeit verweist auf eine Kernfrage auch des vorliegenden Bandes: Was war das Spezifische der Geschlechterbeziehungen und der Geschlechterpolitik im Nationalsozialismus? Denn herkömmliche Beziehungsmodelle erwiesen sich ja als weiterhin beständig, dies gilt insbesondere für die bürgerliche Ehe und Familie. Spezifisch für den Nationalsozialismus war auch nicht der Versuch ihrer Indienstnahme für staatliche Zwecke – die Auffassung von der Familie als »Keimzelle« von Staat und Gesellschaft besaß eine lange Tradition. Bis 1933 unterschied sich die deutsche »Erbgesundheitspolitik« nicht wesentlich von der etwa in der Schweiz, in Dänemark oder in den USA , in denen die eugenische Bewegung einflussreich war.30 Darüber hinaus aber zeigte das NS -Regime, dass es mit der, aus rassenhygienisch-eugenischen Vor26 Connell, Mann (wie Anm. 25), S. 129-135. Zur Männergeschichte Thomas Kühne, »Männergeschichte als Geschlechtergeschichte«, in: ders. (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 7-30; siehe auch Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, »Es ist ein Junge!« Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen 2005, S. 67-93; Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a. M. 2008, S. 9-11, 77-83. 27 Als jüngere Beispiele seien genannt: Ernst Langthaler / Sabine Schweitzer, Das Geschlecht der landwirtschaftlichen Zwangsarbeit – am Beispiel des Reichsgaues Niederdonau 1939-1945, in: Gehmacher / Hauch (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte (wie Anm. 20), S. 87-112; Ela Hornung, Denunziation, »Wehrkraftzersetzung« und Geschlecht, in: ebd., S. 169-184; Robert Sommer, Maskulinität und sexuelle Ausbeutung: Bordellgänger in Konzentrationslagern, in: Frietsch / Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus (wie Anm. 20), S. 156-179; Elke Frietsch, Mediale Inszenierungen von »Volk und Führer«: Akustik – Bild – Skulptur, in: ebd., S. 199221; Barbara Schrödl, Bilder partieller Emanzipation: Künstlerpaare im NS -Spielfilm, in: ebd., S. 244-258. 28 Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991, S. 15. 29 Ebd. 30 Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 1997, S. 11-120.

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stellungen des 19. Jahrhunderts herrührenden, gesellschaftssanitären Utopie auf eine besondere Weise Ernst zu machen gedachte. Eheleute wurden nicht nur zur Mitarbeit an der Gesundung und Gesunderhaltung des »Volkskörpers« verpflichtet. Diese Pflicht zu vernachlässigen, brachte auch die Gefahr mit sich, selbst als Krankheitsherd in diesem »Volkskörper« diagnostiziert und entsprechend behandelt zu werden. Sowohl im Ausmaß der von ihr Erfassten als auch in den immer radikaleren Methoden der Ausgrenzung und Verfolgung bis hin zur Ermordung unterschied sich die NS -Politik gegenüber »erbkranken Minderheiten« von derjenigen in anderen Staaten.31 Aus dem immer schon nur beschränkt privaten Raum von Ehe und Familie wurde so unter dem Primat der »Rasse« ein Raum konstanter Selbstprüfung.32 Auch an den auf den ersten Blick unbeirrt Überzeugten konnten Zweifel daran nagen, ob das, was sie für rassische Unbeflecktheit halten mochten, wirklich so makellos war. Diese in Selbstzeugnissen regelmäßig niedergelegten Zweifel und Irritationen erzeugten ein Spannungsverhältnis, das man nicht selten durch immer wieder erneuerte Tauglichkeitsbeweise und Loyalitätsbekundungen aufzulösen versuchte.33 Die Ungewissheit darüber, ob man der privilegierten »Volksgemeinschaft« angehörte, für die man sich in einem rassenideologischen Sinne als tauglich erweisen wie durch ein politisch loyales Verhalten auszeichnen musste, lässt sich an den Geschlechterbeziehungen besonders deutlich nachvollziehen. Anders als in der jüngeren Forschung werden darum in diesem Band nicht vorrangig Inklusionsprozesse von Männern, Frauen oder (heterosexuellen) Paaren in eine als egalitär gedachte Gemeinschaft untersucht.34 Dass die nationalsozialistische Inklusionspolitik wesentlich auf einer Exklusionsdrohung beruhte, lässt sich nur angemessen begreifen, wenn konsequent die Wechselwirkungen beider Prozesse in den Blick genommen werden.35 31 Auch wenn etwa in den USA bereits seit 1904 Zwangssterilisationen praktiziert wurden. Vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S. 232 f. 32 Vgl. zum Primat von Rasse über Geschlecht klassisch Gisela Bock, Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus, in: Kirsten Heinsohn / Barbara Vogel / Ulrike Weckel (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M./New York 1997, S. 245-277. 33 S. dazu das Fundstück sowie Klaus Latzel / Franka Maubach, »Kriegsbrautleute«. Zukunftssehnsüchte und Beziehungsrealitäten eines nationalsozialistischen Paars im Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), S. 294-322. 34 Sybille Steinbacher (Hg.), Volksgenossinnen. Frauen in der NS -Volksgemeinschaft, Göttingen 2007; Nicole Kramer, Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011. 35 Darauf verweist Daniel Mühlenfeld, Vom Nutzen und Nachteil der »Volksgemeinschaft« für die Zeitgeschichte. Neuere Debatten und Forschungen zur gesellschaftlichen Verfasstheit des »Dritten Reiches«, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 66 (2013), S. 71-104, hier: S. 87. Zum Zusammenspiel beider Aspekte s. schon Elizabeth Harvey, »Der Osten braucht Dich«. Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik, Hamburg 2009 (im engl. Original 2003) sowie die Beiträge von Daniel Siemens, Geraldien von Frijtag Drabbe Künzel, Armin Nolzen und Gerhard Wolf in: Journal of Genocide Studies 19 (2017).

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3. Geschlechterbeziehungen, »Volksgemeinschaft« und rassistische NS -Politik Die vorliegenden Beiträge zeigen, wie aus konkreten Liebes-, Ehe- und Konfliktgeschichten allgemein relevante Erkenntnisse über die Funktionslogiken der rassistischen Gesellschaft und des NS -Staates, über Einschlüsse und Ausschlüsse, über deren Reichweite und deren Ambivalenzen zu gewinnen sind. Erzählt werden keine, um eine Überlegung von Maren Röger aufzugreifen, »naive[n] Liebesgeschichten«; die vorgestellten Paar- und Familiengeschichten reproduzierten vielmehr zeitgenössische politische und soziale Machtbeziehungen.36 Sie reichten über den privaten Raum heterosexueller Beziehungen (die selbstredend auch rein sexuelle oder Abhängigkeitsverhältnisse sein können) hinaus in den Bereich nationalsozialistischer Bevölkerungs-, Kriegs- und Vernichtungspolitik. Die beispiellose »volksgemeinschaftliche« Politisierung des Privaten im Nationalsozialismus wird sowohl auf der Ebene von Ideologie und Propaganda als auch auf der Ebene der praktischen Politik staatlicher Institutionen untersucht. Zugleich wurden Machtverhältnisse in den sozialen Nah- und Intimbeziehungen (re-)produziert, angeeignet, verändert oder zurückgewiesen.37 Darum fragt der Band gleichermaßen auf der Ebene der Beziehungspraxis, wie die Akteurinnen und Akteure die »Volksgemeinschaft« wahrnahmen und wie sie ihr Handeln auf diese bezogen. In der folgenden Zusammenschau betrachten wir die Beiträge im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse in der Ideologie der »Volksgemeinschaft«, auf die Geschlechterpolitik des NS -Staates und auf die Praxis von Paarbeziehungen. Geschlechterverhältnisse in der Ideologie der »Volksgemeinschaft« Mit Blick auf die ideologische Ordnung der Geschlechter im Nationalsozialismus hat sich ein Klischee besonders hartnäckig gehalten: dass Frauen auf die Mutterschaft und Männer auf ihr Kämpfertum reduziert wurden. Diese stereotype Wahrnehmung speist sich aus der Reproduktion kanonischer Ideologiezitate aus Mein Kampf und Hitlers Reden oder aus Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts. Hitlers im interessanten Komparativ auftretende Vorstellung von der »kleineren Welt« der Frau und der »größeren Welt« des Mannes oder Rosenbergs misogyne Tiraden über die »Fähigkeitslosigkeit« des »Weibchens« zeigen jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aus dem weiten Feld einer geschlechterbezogenen Ideologieproduktion über populäre Propagandaträger wie Filme oder Ratgeber.38 Wie weit sich das Feld kurrenter Geschlechterordnungsentwürfe aufspannte, zeigen die hier versammelten Aufsätze. 36 Maren Röger, Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945, Frankfurt a. M. 2015, S. 11. 37 Christa Hämmerle, Gewalt und Liebe – ineinander verschränkt. Paarkorrespondenzen aus zwei Weltkriegen: 1914 /18 und 1939 /45, in: Ingrid Bauer / Christa Hämmerle (Hg.), Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, S. 171-230. 38 Zu Hitlers Rede vor der NS -Frauenschaft am 8. 9. 1934 s. den Beitrag von Gudrun Brockhaus in diesem Band. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der geistig-seelischen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930, S. 482-522 (Kapitel »Der Staat und die Geschlechter«), hier: S. 483.

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Spielfilme, so macht Bernd Kleinhans in seinem Beitrag deutlich, dienten als Medien einer gleichsam ins bewegte Bild versetzten, dynamischen Ideologieproduktion. Die in Filmen wie Ich für dich – du für mich entworfenen Geschlechterverhältnisse sind, mit dem Semiologen Jurij Lotman, als »modellbildende Systeme« zu verstehen, die – indem sie nie nur Geschlechterverhältnisse, sondern immer auch politische Verhältnisse entwarfen – den »Volksgenossen« und »Volksgenossinnen« plausible Praktiken eines gemäßen Verhaltens vorführten und anboten. Der Filmtitel Ich für dich – du für mich lässt sich so als Gelübde verstehen, das Gemeinschaftsversprechen zwischen Mann und Frau in die politische Sphäre einer »Volksgemeinschaft« zu übertragen, für deren Bindung loyales Verhalten essenziell war. Um Liebe ging es dabei nicht mehr in erster Linie. Gefühle wurden zur Funktion einer politischen Vergemeinschaftung. Die »Volksgemeinschaft«, so Kleinhans, wurde als »geschlechterintegrierende Opfergemeinschaft« konzipiert, in der Differenzen als marginal galten. Mehr noch: Das gemeinsame Opfer für die »Volksgemeinschaft« hob die Geschlechterdifferenz(en) überhaupt auf. Eine ganz andere Form der Ideologieproduktion stellen die allbekannten Erziehungsratgeber von Johanna Haarer dar, die Gudrun Brockhaus untersucht. Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind und Unsere kleinen Kinder erschienen zuerst 1934 und 1936 und wurden zu vielfach aufgelegten NS -Bestsellern, die auf ganz eigene Art »ein emotionales Erlebnisangebot« (Brockhaus) speziell für Frauen bereithielten. Zwar reproduzierte Haarer auf der Ebene programmatisch-propagandistischer Aussagen, durch die sich die ratsuchende Mutter erst hindurchlesen musste, zentrale Ideologeme männlicher Dominanz und weiblicher Subordination. Im Subtext jedoch und auf der Ebene konkreter Tipps für die Kindererziehung entwarf Haarer ein ganz anderes Geschlechtermodell. Die separate sphere der Frau, Familie und Mutterschaft, die »unmittelbar politisch-völkische Aufgabe« des »Gebärens und Aufziehens der Kinder«, ist für die ewige Existenz des Volkes erheblich wichtiger als der Beitrag des Mannes dazu. Im Haarer’schen Haushalt tritt der Vater als Störenfried auf, der Schmutz unter den Schuhen ins Kinderzimmer und Keime in die Scheide der Frau trägt. Erwünscht ist er nur als Erzeuger und Ernährer. Ansonsten kann die deutsche Mutter nur auf seine »Abwesenheit oder wenigstens Anspruchslosigkeit« hoffen, darauf, dass er ihr Hoheitsgebiet so selten wie möglich, am liebsten gar nicht betritt. Frauen sind in jeder Hinsicht »die besseren Soldaten« – anders als bei Kleinhans ein im Kern asymmetrisches Geschlechtermodell. In starkem Kontrast dazu stellt Frank Werner für die Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg fest, dass die Propaganda den Frontkämpfer als »männliches role model« und als Leistungsträger der Nation inszenierte, mit anderen Worten: Dieses Männlichkeitsideal wurde zum Ideal einer geschlechterübergreifend als »Leistungsund Kampfgemeinschaft« konzipierten »Volksgemeinschaft«. Wie bei Haarer kämpften beide Geschlechter auf getrennten Feldern und galten der Propaganda als »gleichwertig«. Anders als bei Haarer bedeutete »gleichwertig« hier aber nicht nur eine Aufwertung von Frauen, sondern zugleich die Statussicherung von Männern. Diese galten als die »besseren Soldaten«, weil die Leistung an der Front höher als die hinter der Front bewertet wurde. 18

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All diesen Vorstellungen vom Verhältnis der Geschlechter gemein ist der konstitutive Bezug auf die »Volksgemeinschaft«, der die je entworfene Geschlechterordnung legitimieren sollte. Gleichzeitig unterscheiden sie sich jedoch deutlich in ihrer Auffassung von der »Gleichwertigkeit« der Geschlechter. Als Kernelement nationalsozialistischer Weltanschauung und »Volksgemeinschafts«-Ideologie ist der Begriff der Gleichwertigkeit mehrdeutig, erlaubt ein semantisches Vexierspiel, weil er sowohl die Prädominanz von Frauen als auch die von Männern, aber auch die Aufhebung jeglicher Geschlechterdifferenzen bedeuten kann. Diese Flexibilität verwundert freilich nur dann, wenn man die NS -Ideologie für ein geschlossenes System hält. Tatsächlich aber war sie »inkonsistent und diffus«.39 »Weltanschauung« ist kein statisches, ein für alle Mal fixiertes Konstrukt, sondern – wie das Wort ja sagt – ein perspektivabhängiger Prozess. Sie wird nicht von oben nach unten dekretiert, ist also nicht nur Ergebnis der zentralen Produktion von Reden und Programmschriften, sondern entsteht in der politischen und sozialen Praxis.40 Das weite »Weltanschauungsfeld« des Nationalsozialismus, wie Lutz Raphael es bezeichnet, hat allerdings nicht erst die neue Ideengeschichte beschrieben.41 Schon 1958 wies Martin Broszat für die »völkische« Ideologieproduktion darauf hin, dass im Nationalsozialismus marginale, selbst in einem politischen Sinne randständige Weltanschauungsweisen kursieren konnten, solange sie den politischen Grundkonsens nicht tangierten und im Rahmen genereller Systemloyalität verblieben.42 So forderten »völkische«, zuweilen von Paaren gemeinsam entwickelte Geschlechterordnungsmodelle wie die von Mathilde und Erich Ludendorff oder von Lydia Gottschewski und Karl Richard Ganzer zentrale Vorstellungen einer nachgeordneten nationalsozialistischen Mutterschaft heraus; Gottschewski brachte Alfred Rosenberg dafür sogar in die Nähe jüdischer Geschlechterkonzeptionen.43 Wichtig war allein, dass die Positionen an Kernbegriffe der NS -Ideologie wie Volk, Rasse, Gemeinschaft oder Führer anschließen konnten.44 Wenn die NS -Ideologie in diesem Sinne eingeschränkt bedeutungsoffen war, dann können weder auf der Ebene der Institutionen noch auf der Ebene der sozialen 39 Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsmanagement im »Dritten Reich«. Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Bd. 1, Göttingen 2007, S. 315. 40 Vgl. Janosch Steuwer, Jenseits von »Mein Kampf«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 10 (2016) H. 3, S. 97-106. 41 Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS -Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5-40, hier: S. 28. 42 Vgl. Martin Broszat, Die völkische Idee und der Nationalsozialismus, in: Deutsche Rundschau 84 (1958), S. 53-68. 43 Indem sie seine Position auf das Werk des »Juden Weininger« zurückführte; vgl. Franka Maubach, Volksgemeinschaft als Geschlechtergemeinschaft. Zur Genese einer nationalsozialistischen Beziehungsform, in: Gudrun Brockhaus (Hg.), Attraktion der NS -Bewegung, Essen 2014, S. 251-268, hier: S. 265. Zu Gottschewski allgemein Eva-Maria Ziege, Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Konstanz 2002, S. 123-169. 44 Raphael, Radikales Ordnungsdenken (wie Anm. 41), S. 29.

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Nahbeziehungen bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft« einfach vorausgesetzt werden, die man dann nur noch zu suchen bräuchte. Stattdessen gilt es, jeweils erst zu bestimmen, wie in der politischen und sozialen Praxis derartige Vorstellungen einerseits konstruiert, andererseits wirksam wurden. Geschlechterverhältnisse in der politisch-institutionellen Praxis Mit welchem Blick betrachteten staatliche Instanzen wie Polizei-, Justiz- und Sozialbehörden, Reichsministerien oder Wehrmachtführung Frauen und Männer aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und Milieus? Wie versuchten die Institutionen des NS -Staates, dem Prinzip der Inklusion von »Volksgenossen« und der Exklusion von »Gemeinschaftsfremden« sowie der variablen »Gleichwertigkeit« der Geschlechter in Bezug auf die »Volksgemeinschaft« praktisch zur Geltung zu verhelfen? Die von Annemone Christians untersuchten Scheidungsverfahren am Landgericht München orientierten sich zunehmend an »volksgemeinschaftlichen« Prämissen über das Verhältnis der Geschlechter. Die Qualität einer ehelichen Beziehung wurde primär im Hinblick auf ihre Funktionalität für die »nationalsozialistische Leistungsund Pflichtgemeinschaft«, auf ihren Zweck als »Reproduktions- oder Regenerationsgemeinschaft« beurteilt und am rassistischen Maßstab der »erbgesunden Familie« gemessen. Mit dem nationalsozialistischen Ehegesetz vom Juli 1938 wurde das Eheschließungsrecht an die völkisch-»rassenhygienischen« Staatsziele angepasst; eine Einschränkung der Partnerwahl war die Folge. Die Neuregelung und Erleichterung der Scheidung nach dem Zerrüttungsgrundsatz sollten helfen, staatlich missliebige oder volksgemeinschaftlich »unproduktive« Ehen möglichst schnell aufzulösen. Während die über das Zerrüttungsprinzip gewährte Scheidungsfreiheit in der Weimarer Republik als liberaler Grundsatz verstanden wurde, wurde sie nun nach Nützlichkeitserwägungen und im Einzelfall immer dann gewährt, wenn damit dem »dritten Interesse« der »Volksgemeinschaft« gedient war. Gleichzeitig wurden die Verschuldenstatbestände begrenzt: Außer der Verweigerung der Fortpflanzung galten nun nur noch der Ehebruch und die sogenannte schwere Eheverfehlung als schuldhafte Tatbestände. Der Staat und speziell die »Volksgemeinschaft« wurden damit zu einem zentralen Bezugspunkt, auch zum Argument im Gerichtssaal, was sich, wie Annemone Christians anhand von Fallbeispielen zeigt, häufig zu Ungunsten der Ehefrauen auswirkte. Während Ehemänner ihre Ansprüche auf eine autonomere Beziehungsgestaltung zumeist erfolgreich geltend machen konnten und eine neue »Scheidungsfreiheit« gewannen, wirkte sich das neue Eherecht nachteilig auf ihre Ehepartnerinnen aus, nicht zuletzt deshalb, weil es Gewalt und Misshandlung bagatellisierte. Das novellierte Ehe- und Scheidungsrecht, bilanziert Christians, »bedeutete eine eindeutige Verschlechterung des Rechtsstatus der Ehefrau«. Anders liegt der Fall auf dem Feld der deutsch-ausländischen Eheschließungen, die Maren Röger analysiert. Im Kontext des nationalsozialistischen Staatsbürgerschaftsrechts zeigt sich, dass mit der NS -Formel von der »Gleichwertigkeit der Geschlechter« eine veritable Aufwertung von Frauen einherging, die wegen ihrer Zu20

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ständigkeit für Reproduktion und Erziehung »volksgemeinschaftlich« für wichtiger galten als Männer. Das hatte manifeste juristische Folgen: Frauen verloren nicht mehr automatisch ihre Staatsangehörigkeit, wenn sie ausländische Männer heirateten. War die Ehe rassenpolitisch legitim, wurde sie als erwünschte Erweiterung der »Volksgemeinschaft« verstanden. Deren Grenzen erwiesen sich zudem als fließend. Die seit Kriegsanfang vermehrt gestellten Anträge auf Eheschließung mit Ausländern und Ausländerinnen provozierten Debatten der Ministerien des Innern, des Auswärtigen und der Justiz über die Frage, wer unter welchen Voraussetzungen als Ausländer oder Ausländerin in die deutsche »Volksgemeinschaft« einheiraten dürfe. Die Ministerien operierten in ihren Entscheidungen mit diffusen volkstums- und rassenpolitischen Kriterien, die zudem vielfach dem Primat (außen-)politisch-pragmatischer Gesichtspunkte weichen mussten. Am Ende stand gerade nicht die rigide Abschließung des »Volkskörpers«, sondern ein Anstieg der Zahl deutsch-ausländischer Heiraten. Neben der »volatilen Rassenpolitik« lag dem die antiformalistische nationalsozialistische »Kultur der Einzelfallentscheidung« zugrunde. Die von diesen Entscheidungen betroffenen Paare versuchten der Rechtsunsicherheit zu begegnen und ihre Interessen zu vertreten, indem sie die Volksgemeinschaftsideologie als Argument verwendeten – ob aus pragmatischen Gründen oder aus Überzeugung, lässt sich im Nachhinein kaum feststellen. Isabel Heinemann verweist in ihrem Beitrag wiederum auf die Bedeutung, die Familien im Kontext der nationalsozialistischen Kolonisierungspolitik in Osteuropa zukam. Im Ergebnis dieses neuen Zugangs identifiziert sie die Familie »als Relais der Umsiedlungspolitik«; für alle mit der »völkischen Flurbereinigung« befassten Stellen war sie zentrales Objekt des Zugriffs. Familien wurden erfasst, überprüft und selektiert, »rassisch hochwertige« Familien wurden ausgelesen und gefördert, wobei »arischen« Frauen als Siedlerbetreuerinnen eine zentrale Rolle zukam. Die Zwangszuweisung »gutrassiger Kinder« »fremdvölkischer« Eltern an deutsche Pflegefamilien schuf neue Familien durch Zerstörung anderer. Osteuropäische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen sollten erst gar keine Familien gründen, Schwangere wurden zur Abtreibung gezwungen, Neugeborene von ihren Müttern getrennt und durch gezielte Vernachlässigung dem Tod übergeben. Die Familie als »Blutsgemeinschaft«, als Fundament der anvisierten »Volksgemeinschaft«, war der ideologische Leitstern nationalsozialistischer Umsiedlungspolitik. Jedoch: Bei »andersrassigen« oder »gemeinschaftsfremden« Frauen war die Mutterschaft unerwünscht, wie auch der Beitrag von Mirjam Schnorr zeigt. Die »Asozialenverfolgung« ist ein weiteres Beispiel dafür, wie flexibel und pragmatisch der NS -Staat Ausgrenzung definierte, handhabte und je nach Bedarf ausweitete. Prostituierte und Zuhälter wurden, wie Mirjam Schnorr darlegt, als »Asoziale« aus der »Volksgemeinschaft« hinausdefiniert. Nicht nur die sich auf den Straßen prostituierenden Frauen mussten mit Gefängnis- und / oder KZ -Haft rechnen, sondern auch die Männer für Zuhälterei. Die Maßnahmen der Verfolgung reichten bis zum Mord. Obwohl der Nationalsozialismus in seiner Frühphase heterosexueller Prostitution äußerst negativ gegenüberstand und sie medizinisch und polizeilich streng überwachte, kam es mit Kriegsbeginn – unter staatlicher Kontrolle – zu einer 21

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sukzessiven Akzeptanz. Käufliche Sexualität konterkarierte das ideologische Konzept von Ehe und Familie. Prostituierte verkörperten in der Sicht der Verfolgungsinstanzen das Gegenteil von rassisch wertvoller Mutterschaft und einer auf Reproduktion der »Volksgemeinschaft« festgelegten Weiblichkeit; sie galten als Infektionsquelle für Geschlechtskrankheiten und Musterbeispiel sittlicher Verwahrlosung. Letzteres traf auch auf die Zuhälter zu, die als arbeitsscheu, kriminell und gewalttätig angesehen wurden. Dennoch: Was das Verhältnis der beiden Gruppen zueinander angeht, reproduzierten Polizei und Justiz herkömmliche Vorstellungen von Geschlechterdifferenz – die männliche Überwachung weiblicher Sexualität galt als legitim und ihre Verfügbarkeit für den männlichen Zugriff als selbstverständlich. Vorstellungen männlicher Suprematie beanspruchten sowohl für die Angehörigen der »Volksgemeinschaft« als auch für die aus ihr Ausgeschlossenen Geltung. Geschlechterverhältnisse in der Praxis von Paarbeziehungen Die Perspektive der NS -Institutionen kann, muss aber nicht die Perspektive der Individuen sein. Wie sich die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und die Aneignung »volksgemeinschaftlicher« Identifikationsangebote im Raum sozialer Nahund Intimbeziehungen ausnahmen, untersuchen Julia Paulus und Frank Werner in ihren Beiträgen anhand von Briefwechseln aus dem Zweiten Weltkrieg. Von einer »Nivellierung der Geschlechterdifferenz«, die eine täterinnenfokussierte Forschung vor allem in den zweitausender Jahren postulierte, kann in der Erfahrungsrealität zwischengeschlechtlicher Beziehungen im Zweiten Weltkrieg keine Rede sein, so Julia Paulus.45 Im Gegenteil: Gerade »in Zeiten vermeintlicher Transformation« setzten sich traditionelle »geschlechtsspezifische Verhaltensweisen« fort, verschärften sich gar. So ließen sich die Erwartungen der aus einer regimekritischen, großbürgerlichen Familie – aus »gutem Hause« – stammenden Soldatenheimschwester Annette Schücking in der Realität des Krieges nicht einlösen. Die selbstbewusste, angehende Juristin war vor der Rekrutierung zum Einsatz in der Rüstungsindustrie und vor einer drohenden Verhaftung in den Dienst als Soldatenheimschwester geflüchtet. Sie hoffte, die Soldatenheime im besetzten Osten als »Dame« führen zu können, und erwartete von deren Besuchern eine ritterliche Behandlung. Im ukrainischen Zwiahel angekommen, merkte sie schnell, dass die Soldaten die Helferinnen »nicht wie Damen« behandelten, ja dass man »das Dame-Sein leider aufgeben« musste. Zwar übernahm Schücking – je größer die Bedrohungen wurden, desto mehr – das Selbstbild des uniformierten, kämpfenden Soldaten, eines Kameraden unter Kameraden. Dieses innere cross-dressing entsprang aber weniger einem offensiven Rollentausch, sondern schierer Notwehr: Nur die soldatische Kameradschaft verbürgte jenen Sicherheitsabstand, der Schutz vor einer im Vernichtungskrieg zunehmend entgrenzten, ja maßlosen Sexualität gewährleistete.

45 Sybille Steinbacher, Einleitung, in: dies. (Hg.), Volksgenossinnen. Frauen in der NS -Volksgemeinschaft, Göttingen 2007, S. 9-26, hier: S. 24.

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Auch Frank Werner betont, dass und wie sehr das »volksgemeinschaftliche« Ideal einer gleichwertigen, in seinem Beitrag als »Leistungs- und Kampfgemeinschaft« verstandenen Geschlechtergemeinschaft mit traditionell patriarchalen, bürgerlichen Vorstellungen verbunden war. Weibliches Handeln musste stets auf das männliche bezogen bleiben und durfte den männlichen Führungsanspruch nicht herausfordern. Die Selbstständigkeit von Frauen im Krieg wurde als vorübergehende Assistenz oder selbstlose Hilfe bloß geduldet. Am Beispiel des Feldpostbriefwechsels von Albert und Agnes Neuhaus, die in Münster ein kleines Geschäft führten, zeigt Werner, dass die alte (in diesem Fall kleinbürgerliche) Geschlechterordnung des Ehepaars auch während des Kriegs unangefochten blieb. Selbst als Agnes das gemeinsame Geschäft auf sich allein gestellt führte, hing sie am kommunikativen Faden der Ratschläge ihres Mannes, der sie aus der Ferne der Front wie eine Marionette dirigierte. Nur in Stellvertretung, vorübergehend und unter seinen wachsamen Augen übergab Albert Neuhaus seiner Frau die Verantwortung für das gemeinsame Geschäft. Sobald allerdings der Pegel des geleisteten Arbeitspensums zugunsten seiner Frau auszuschlagen drohte – wenn Frontbewährung ausblieb oder als der Luftkrieg die Frauen an der »Heimatfront« zu doppelter Leistung zwang –, strebte Albert nach Restitution eines vermeintlich selbstverständlichen Führungsanspruchs. Traditionelle Gechlechterordnungsmuster blieben auch hier in der Beziehungspraxis wirksam.

4. Fazit: »Gleichwertig« – aber ungleich Die gegen den liberalen Grundsatz weiblicher Emanzipation und Gleichberechtigung ins Feld geführte, zentrale ideologische Vorstellung, dass Frauen und Männer »gleichwertig«, aber ungleich seien, war, das zeigen die Beiträge in diesem Band, nicht nur vieldeutig, sondern paradox. Zwar wies die in den ersten Jahren des Regimes vor allem von seinen männlichen Führern propagierte hierarchische Geschlechterordnung Frauen und Männern je eigene Räume zu: den Frauen »die kleinere Welt« von Ehe, Familie und Haushalt, den Männern »die größere Welt« des politischen Kampfes. Vor dem Hintergrund der Volksgemeinschaftsideologie als zentraler Ordnung rassistischer Ungleichheit aber erwiesen sich die den Geschlechtern zugewiesenen Räume als eng miteinander verknüpft. Sie standen in einem Spannungsverhältnis, in ständiger Austauschbeziehung, auch in Konkurrenz zueinander. In diesem Rahmen wurde das nationalsozialistische Paar – je weiter es auf den Krieg zuging, desto mehr – auch als Leistungs- und Kampfgemeinschaft verstanden und angesprochen: als »Volksgenosse« und »Volksgenossin«, Kamerad und Kameradin. Das war eine Lernerfahrung aus dem Ersten Weltkrieg, als auch die Frauen an der »Heimatfront« den an den Fronten kämpfenden Männern mit ihren Brotprotesten und Klagebriefen in den Rücken gefallen waren – so lautete das geschlechterbezogene Versatzstück der Dolchstoßlegende. Die Kameradschaftspropaganda wendete sich vor allem an Frauen und Männer der jüngeren, kriegsmobilisierungs- und rekrutierungsfähigen Generation. Diese junge Generation bereits im Nationalsozialismus sozialisierter Paare sollte zum Opfer für die übergeordnete Rassengemeinschaft motiviert werden. 23

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Die damit verbundene Vorstellung der »Gleichwertigkeit« der Geschlechter erlaubte zwar, gingen »Volksgenosse« und »Volksgenossin« zusammen ins Kino, den cineastischen Traum einer Aufhebung aller Geschlechterspannungen und einer Verschmelzung im gemeinsamen Opfer. Gleichzeitig aber ermöglichte diese Projektionsfläche in der Praxis differenzierte Ausdeutungen und vielgestaltige Aneignungen. Der Bezug auf das Wohl der »Volksgemeinschaft« konnte unumschränkte Überlegenheitsansprüche von Frauen ebenso wie von Männern legitimieren; beides konnte parallel existieren. Dabei war es gerade diese auch in anderen Bereichen festzustellende »totalitäre Differenzierung« einer nicht eindeutigen Propaganda, die die Attraktivität des Nationalsozialismus für viele Bevölkerungsgruppen ausmachte und – im heteronormativen Rahmen – vielfältige Genderidentitäten zuließ.46 Diese Uneindeutigkeit des propagierten Geschlechterverhältnisses sollte nicht vorschnell vereindeutigt werden. Um die »Homogenitätssuggestion der Volksgemeinschaft« auch auf diesem Feld »analytisch aufzubrechen«,47 wird in diesem Band das Panorama propagierter, politisch normierter, aber auch realiter gelebter Geschlechterbeziehungen weit aufgespannt. Wie sich diese Beziehungen dann jeweils gestalteten, lässt sich bis 1938/39 vor dem Hintergrund der »volksgemeinschaftlichen« Imperative des Sozialrassismus verstehen, seit Kriegsbeginn dann zusätzlich im Kontext der Notwendigkeit, sowohl die Kriegsfähigkeit der Wehrmacht als auch die Funktionsfähigkeit des SS -Lagersystems aufrechtzuerhalten. Diese Anforderungen konnten sich in den Augen der NS -Institutionen auch widersprechen. Das Beispiel der Prostitution zeigt, wie die »Lösung« zu Lasten der Frauen erfolgte: Während die Prostitution zunächst konsequent als »asozial« verfolgt wurde, errichtete der Staat mit Kriegsbeginn ein ganz Europa überspannendes Netz von Bordellen zur sexuellen »Versorgung« von Männern – von Wehrmachtsoldaten, von »Fremd-« und Zwangsarbeitern und KZ -Insassen. Die staatlich organisierte, die Grenzen der »Volksgemeinschaft« übergreifende, wiewohl rassenpolitisch separierte (Zwangs-)Prostitution macht deutlich, dass der Staat hier Frauen unabhängig von ihrer »volksgemeinschaftlichen« Zugehörigkeit als Ressourcen sexueller Ausbeutung ansah und behandelte. Gleichzeitig eröffnete der rassistische Staat »arischen« Frauen auch sexuelle Handlungsräume gegenüber ausländischen Fremd- bzw. Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.48 In einem weiteren Sinne uneindeutig war die Geschlechterpolitik der NS -Institutionen auf anderen Feldern. Scheidungsrechtlich werteten sie die Frauen ab und ver46 Vgl. dazu Ine van Linthout, Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, Berlin / Boston, S. 16-36. 47 Michael Wildt, Die Volksgemeinschaft nach Detlev Peukert, in: Rüdiger Hachtmann/ Sven Reichardt (Hg.), Detlev Peukert und die NS -Forschung, Göttingen 2015, S. 49-68, hier: S. 62. 48 Cornelie Usborne, Female Sexual Desire and Male Honor: German Women’s Illicit Love Affairs with Prisoners of War during the Second World War, in: Journal of the History of Sexuality 26 (2017), S. 454-488; Birthe Kundrus, Forbidden Company: Romantic Relationships between Germans and Foreigners, in: Journal of the History of Sexuality 11 (2002), S. 201-222.

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einführung

stärkten damit die Geschlechterungleichheit. Wegen ihrer Bedeutung für die Reproduktion des »Volkskörpers« aber stärkten sie zugleich die staatsbürgerschaftsrechtliche Stellung von Frauen im Bereich deutsch-ausländischer Eheschließungen. Insbesondere während des Krieges zogen die Institutionen aus inhaltlicher Unsicherheit über die anzulegenden Kriterien oder aus situativ-pragmatischen Gründen die Grenzen der »Volksgemeinschaft« enger oder weiter, ohne freilich deren rassistischen Kern anzutasten. Auf der Ebene der hier untersuchten Paarbeziehungen ließ sich schließlich erkennen, dass die Ausrichtung und Selbstausrichtung auf die Zwecke der »Volksgemeinschaft« und des Krieges gerade aus den unterschiedlichen Versuchen der Vereindeutigung durch die beteiligten Akteurinnen und Akteure entstand. Während Johanna Haarer ein über Jahrzehnte hinweg höchst wirksames Manual für mächtige Mütter schrieb,49 restituierte Albert Neuhaus beharrlich seinen Führungsanspruch gegenüber seiner Frau und trieb sich auch dadurch zur Leistung – zum Weiterkämpfen und Durchhalten an der Front – an.50 Annette Schücking nutzte das im Krieg auch für Frauen gesellschaftlich sanktionierte role model des soldatischen Kameraden zwar vor allem, um sich vor Vergewaltigung zu schützen, aber es ließ sie auch die Stellung in ihrem Einsatz halten – mit regimestützender Wirkung.51 Solche und andere Versuche, die Geschlechterbeziehungen in der »Volksgemeinschaft« und im Krieg zu definieren oder zu normieren, bleiben weiter zu erforschen. Im Kern ging es jeweils darum, umkämpfte ideologische und praktische Verhältnisse zwischen Gleichheit und Ungleichheit auszutarieren oder festzuschreiben. Diese Relationen wurden durch die Rede von der »Gleichwertigkeit« der Geschlechter sowohl ermöglicht als auch verdeckt. Das Spektrum dieser Verhältnisse war differenzierter, als ein starres Verständnis von Inklusion und Exklusion suggeriert. Der »volksgemeinschaftliche« Status derjenigen, die nicht wie die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung kategorial ausgeschlossen waren, war nie endgültig gesichert. Eine integrierte Geschlechter- und Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus sollte versuchen, der offensichtlichen Bandbreite von Beziehungen und den vielfältigen Dynamiken, die daraus erwuchsen, gerecht zu werden. Möglicherweise, so mutmaßen Nicole Kramer und Armin Nolzen, sei es »ja gerade jene von den Nationalsozialisten bewusst implementierte dynamische Ungleichheit« gewesen, die integrierend gewirkt habe.52 Die Beiträge des Bandes sprechen für diese Vermutung.

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S. den Beitrag von Gudrun Brockhaus in diesem Band. S. den Beitrag von Frank Werner in diesem Band. S. den Beitrag von Julia Paulus in diesem Band. Nicole Kramer / Armin Nolzen, Einleitung, in: dies. (Hg.), Ungleichheiten im »Dritten Reich«. Semantiken, Praktiken, Erfahrungen, Göttingen 2012, S. 9-26, hier: S. 26.

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Dank Im März 2018 durften wir für zwei Tage in den Räumen des LWL -Instituts für Westfälische Regionalgeschichte tagen: Für ihre Gastfreundschaft und Vorbereitung danken wir dessen Leiter Malte Thießen und Julia Paulus. Die Diskussionen in Münster haben uns erlaubt, einen Denk- und Arbeitszusammenhang zu stiften, der die Vorbereitung dieses Jahresbandes gleichzeitig zu einer Herausforderung und einem Vergnügen gemacht hat. Ina Lorenz vom Wallstein Verlag danken wir dafür, dass sie den ganzen Prozess von der Entstehung bis zur Drucklegung mit einer guten Mischung aus Engagement und Geduld begleitet hat. Der DOR-Filmproduktion danken wir für die Bereitstellung von Die Blumen von gestern. Diese Komödie von Chris Kraus (2017) nimmt nicht nur die Holocaustforschenden bei ihrer Arbeit aufs Korn, sie thematisiert auch den wissenschaftlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus als eine deutsch-deutsche und deutsch-israelische Liebes- und Beziehungsgeschichte der dritten Generation, worüber wir im Forum mit Kolleginnen und Kollegen vom Fach diskutieren.

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Be r n d K l e i n h a ns

Ich für dich – du für mich »Volksgemeinschaft« als geschlechterintegrierende Opfergemeinschaft im NS -Spielfilm Hanne ist eine pflichtbewusste junge Frau: Als Hausmädchen versorgt sie ein älteres Ehepaar, putzt, kocht, wäscht und erledigt die Einkäufe. Nach Feierabend ist sie für ihre Eltern da, und schließlich sorgt sie auch für ihren Verlobten Werner, der nach abgebrochenem Jurastudium arbeitslos ist. »Er hat außer mir doch niemand«, klagt sie. Als sie selbst aus einem banalen Grund entlassen wird, meldet sie sich nach kurzem Überlegen freiwillig zum NS -Arbeitsdienst. Mit gut drei Dutzend anderen jungen Frauen – aus allen sozialen Schichten und mit den unterschiedlichsten Berufen – wird sie in ein Arbeitsdienstlager weitab von ihrer Heimatstadt Berlin versetzt. Kaserniert, den Befehlen der Arbeitsdienstführerin unterstellt und einem strikten Tagesplan unterworfen, unterstützen die Frauen Neusiedler, die Ödland urbar machen. Während die »Arbeitsmaiden« den Bauern im Stall und vor allem im Haushalt helfen, hat der Arbeitsdienst der Männer in einem Lager in der Nähe die Aufgabe, Moore trockenzulegen und neues Siedlungsland zu gewinnen. Mit dieser Exposition – eingeleitet von idyllischen Bildern eines ländlichen Sommers und bei der Feldarbeit singender Frauen (»Wir wollen Kameraden sein ein ganzes Leben«) – beginnt der unter der Regie von Carl Froelich im Jahr 1934 inszenierte Spielfilm Ich für dich – du für mich. Auftraggeber, so weist der Vorspann aus, sind die »Reichspropagandaleitung Abt. Film der NSDAP und die N. S.-Gemeinschaft ›Kraft durch Freude‹ der Deutschen Arbeitsfront«.1 Die Narration des knapp 90-minütigen Streifens, der speziell ein weibliches Kinopublikum für den zu dieser Zeit noch nicht verpflichtenden Arbeitsdienst werben sollte, ist schlicht: Als der Jungbauer Christian sich in Hanne verliebt und ihr eifersüchtiger Verlobter Werner aus Berlin anreist, kommt es zum Streit. Die beiden Männer prügeln sich, worauf Werner, als er erkennt, dass Hanne Christians Zuneigung erwidert, wütend den Hof verlässt. Dabei verirrt er sich im nächtlichen Moor und sinkt im Sumpf ein. Erst in letzter Minute, als er bereits zu ertrinken droht, wird er gerettet, weil Hanne eine Suchaktion veranlasst hat. Werner bereut daraufhin sein egoistisches Verhalten und meldet sich nun ebenfalls zum Arbeitsdienst. Dadurch gewinnt er erneut die Liebe von Hanne, die ihm nun endgültig die Treue verspricht. Indem beide ihre persönlichen Wünsche aufgeben und sich ganz dem Arbeitsdienst unterstellen, entsteht zwischen ihnen eine ideelle Gemeinschaft, die sie zugleich mit allen anderen verbindet, 1 Carl Froelich, Ich für dich – du für mich, Deutschland 1934 (Froelich-Film GmbH, Berlin). Froelich war bereits 1933 in die NSDAP eingetreten und als Präsident der Reichsfilmkammer von 1939 bis 1945 einer der einflussreichsten NS -Filmfunktionäre. Die ausführlichen Credits zu allen in diesem Beitrag genannten Filmen des »Dritten Reiches« finden sich auf den Seiten des Deutschen Filminstituts – DIF e. V.: filmportal.de.

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und die erfüllender ist, als es das private Glück als Paar je sein könnte. Mit Bildern von wehenden Hakenkreuzflaggen, die diese letzten Sequenzen überblenden, endet der Film. Vor der Kulisse einer betont jugendnahen Spielhandlung werden hier in der Frühphase der NS -Herrschaft zwei für die Transformation der vornazistischen Gesellschaft in eine nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« hochrelevante Themenkomplexe verhandelt und miteinander verknüpft: zum einen das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, in der NS -Terminologie das zwischen »Volksgenossen« und »Volksgemeinschaft«, und zum anderen das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. »Das neue Deutschland«, so die Filmzeitschrift Illustrierter Filmkurier, »lebt hier seine Welt und formt sich seinen Inhalt durch den Gemeinschaftsgeist. Hier lernen die jungen Menschen in Kameradschaft und Pflichterfüllung den Wert der ›Volksgemeinschaft‹ und der gemeinsamen Arbeit am großen Werk kennen.«2 Ich für dich – du für mich steht, wie ich in meinem Beitrag zeigen möchte, exemplarisch für den Versuch, mit den Mitteln filmischer Narration ein Modell einer künftigen nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« und die sie bestimmenden Geschlechterverhältnisse zu entwerfen.3 In diesen filmischen Gesellschaftsmodellen, so meine These, wird speziell den Frauen zwar ein breites Spektrum von möglichen gesellschaftlichen Rollen zugeschrieben, diese definieren sich aber ebenso wie die Rollen der Männer ausschließlich über ihre Funktion für die »Volksgemeinschaft«. Indem Pflichterfüllung und selbstgewählter Verzicht für die »Volksgemeinschaft« für alle Individuen gleichermaßen als moralische Norm propagiert werden, sind Differenzen zwischen Frauen und Männern, auch im Hinblick auf die Verteilung gesellschaftlicher Macht, marginalisiert oder werden als akzidentiell bewertet. Die »Volksgemeinschaft« wird in diesen Filmen als eine geschlechterintegrierende Opfergemeinschaft konzeptionalisiert.

1. Spielfilme als narrative Gesellschaftsmodelle Im System der nationalsozialistischen Propaganda hatte das Kino von Anfang an eine besondere Bedeutung. Das lag zum einen an seinem Charakter als Massenmedium – selbst während des Krieges wurde mehr als eine Milliarde Kinokarten im Jahr verkauft4 –, zum anderen an seiner Fähigkeit, alle Altersgruppen und sozialen Schichten 2 Zitiert in Manfred Hobsch, Film im »Dritten Reich«. Alle deutschen Spielfilme von 1933 bis 1945, Bd. 3, Berlin 2010, S. 19. 3 Obgleich der Begriff der »Volksgemeinschaft« als Kategorie zur Analyse der realen Gesellschaftsverhältnisse im »Dritten Reich« in der aktuellen Forschung umstritten ist, bleibt er für die Analyse der Ideologie des Nationalsozialismus unverzichtbar, da er in der NS -Propaganda als programmatischer Leitbegriff für die Gestaltung der Gesellschaft fungierte; vgl. dazu Ian Kershaw, Volksgemeinschaft: Potential and Limitations of the Concept, in: Martina Steber / Bernhard Gotto (Hg.), Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Privat Lives, Oxford 2014, S. 29-42. 4 Zur Bedeutung des Kinos als Massenmedium im »Dritten Reich« vgl. Bernd Kleinhans, Ein Volk, ein Reich, ein Kino, Köln 2003.

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und nicht zuletzt beide Geschlechter gleichermaßen anzusprechen. »Der Film hat heute eine staatspolitische Aufgabe zu versehen. Er ist ein Erziehungsmittel des Volkes«,5 so Propagandaminister Goebbels bereits 1934 in einer Rede vor Filmschaffenden. Produktion und Distribution von Filmen unterlagen im NS -Staat daher einer besonders engmaschigen Kontrolle durch das Propagandaministerium und seine untergeordneten Instanzen. Jeder Film, der im Kino gezeigt wurde, war zuvor einer zentralen Zensurstelle in Berlin, die direkt dem Propagandaministerium unterstellt war, zur Prüfung vorgelegt worden. Eine gleich nach der Machtübernahme eingerichtete Reichsfilmkammer knüpfte die Mitgliedschaft, ohne die eine Tätigkeit als Regisseur, Schauspieler oder Drehbuchautor nicht möglich war, an die »Zuverlässigkeit« im Sinne der NS -Führung. Ein »Reichsfilmdramaturg« steuerte bereits im Vorfeld neuer Produktionen die Entwicklung von Stoffen und Drehbüchern – und schließlich behielten sich sowohl der Propagandaminister wie auch Hitler selbst jederzeit vor, in die Filmproduktion einzugreifen, Besetzungslisten zu ändern und ganze Sequenzen nach ihren Vorstellungen drehen zu lassen.6 Dabei setzte die NS -Propaganda frühzeitig auch auf das fiktionale Format des Spielfilmes. Anders als dokumentarische Formate wie etwa die im »Dritten Reich« für jede Kinovorstellung obligatorische Kinowochenschau waren fiktionale Filme nicht darauf beschränkt, Ereignisse der außerfilmischen Wirklichkeit zu referieren,7 diese zu selektieren und zu kommentieren, sondern konnten auf gesellschaftliche Wirklichkeiten Bezug nehmen und sie gleichzeitig mit den Mitteln der Narration und der Filmsprache nach den Vorstellungen der Produzenten neu schaffen. Spielfilme entwickeln mithin nicht nur ein Setting von Protagonisten und konkrete Handlungsverläufe entlang bestimmter Erzählmuster wie Komödien, Dramen, Abenteuergeschichten usw., sondern konstruieren auch Strukturen der Interaktionen zwischen den handelnden Figuren und entwerfen so Modelle gesellschaftlicher Strukturen. Diese können filmisch durch die Schaffung von Identifikationsfiguren und durch das Aufzeigen positiver und negativer Folgen bestimmter individueller und gesellschaftlicher Praxen bewertet werden. Fiktionale Filme zeigen so niemals nur konkrete Narrationen, sondern erzählen diese im Kontext komplexer gesellschaftlicher Strukturen, die durch die Handlungen der filmischen Akteure visualisiert werden und die konkrete Narration gewissermaßen grundieren. Die propagandistischen Intentionen der NS -Spielfilme lassen sich daher nicht allein an den erzählten Geschichten erkennen – hier dominieren im »Dritten Reich« vordergründig unpolitische Unterhaltungsfilme –, sondern insbesondere an der Struktur der Narration und der Organisation der Gesellschaft, in der die Geschichten situiert sind. Zwar müssen auch fiktionale Filme anschlussfähig an Erfahrungen und Er5 Joseph Goebbels, Rede anlässlich der Kriegstagung der Reichsfilmkammer am 15. 2. 1941 in Berlin, abgedruckt in: Gerd Albrecht (Hg.), Nationalsozialistische Filmpolitik, Stuttgart 1969, S. 468. 6 Einen Überblick gibt Felix Möller, Der Filmminister: Goebbels und der Film im Dritten Reich, Berlin 1998. 7 Zur filmwissenschaftlichen Unterscheidung von dokumentarischen und fiktionalen Formaten siehe Knut Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, 4. Aufl., Stuttgart / Weimar 2007, S. 181.

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wartungen ihres Publikums sein, um als kommerzielle Medienprodukte ökonomisch erfolgreich zu sein, aber sie können in diesem Rahmen gesellschaftliche Wirklichkeiten entwerfen und diese als ein zu verwirklichendes Ideal der gegebenen außerfilmischen Wirklichkeit gegenüberstellen. In Anlehnung an die Narrationstheorie von Jurij Lotman, die ursprünglich für die Literaturtheorie entwickelt wurde, kann man auch den Spielfilm als ein »modellbildendes System«8 verstehen: Spielfilme selektieren einzelne Aspekte der außerfilmischen Wirklichkeit und konstruieren daraus Wirklichkeitsmodelle, die entweder die außerfilmische Wirklichkeit unter einem bestimmten Fokus betrachten und bewerten oder die Modelle idealer Gesellschaften entwerfen. Als Modell für die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« kann in den filmischen Narrationen jede Form der Vergemeinschaftung, ein Arbeitsdienstlager, eine berufliche Organisation, eine Familie oder eine Kameradschaft dienen. Sie fungieren als Exempel, an denen die genuin nationalsozialistischen Interaktionen zwischen Männern und Frauen und die auf das Kollektiv der »Volksgemeinschaft« ausgerichteten Praxen aufgezeigt werden können. Bezogen auf die Geschlechterverhältnisse in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« heißt das: In den hier zu verhandelnden Spielfilmen werden zum einen reale Geschlechterverhältnisse der Zeit thematisiert und bewertet, dabei auch den Erwartungen und Hoffnungen der zeitgenössischen Kinorezipienten Projektionsflächen geboten. Vor allem aber werden Muster für die Geschlechterverhältnisse in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« gezeigt, auf die sich die reale Gesellschaft des »Dritten Reiches« hin entwickeln soll. Mit dem in der NS -Zeit lehrenden Pädagogen Erich Weniger kann man auch von einer »latenten« Theorie9 der Gesellschaft sprechen, nach der die Spielfilme gestaltet sind, die sich aber nicht explizit als Theorie ausweist und als solche für das Publikum verborgen bleibt. Dass nationalsozialistische Spielfilme damit auch reale Geschlechterverhältnisse, mithin gegebene gesellschaftliche Prozesse der Modernisierung, etwa im Hinblick auf eine stärkere Berufstätigkeit der Frauen, aber auch Sehnsüchte insbesondere des weiblichen Publikums auf Autonomie widerspiegeln, ist offenkundig. Andererseits konnte in der Forschung nachgewiesen werden, dass die Darstellung der Geschlechterverhältnisse in den Spielfilmen häufig im Widerspruch zu den realen Verhältnissen stand.10 Nationalsozialistische Spielfilme eignen sich daher primär als Quelle zur 8 Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte, 4. Aufl., München 1993, S. 22 f. 9 Erich Weniger, Theorie und Praxis in der Erziehung. Antrittsvorlesung an der Pädagogischen Akademie Kiel, 2. Mai 1929, in: Die Erziehung 4 (1929), S. 577-591. 10 So hat Ute Bechdolf, Wunsch-Bilder? Frauen im nationalsozialistischen Unterhaltungsfilm, Tübingen 1992, auf den Widerspruch zwischen einer »frauenfeindliche[n] Ideologie und Politik der Faschisten«, wo »alle weiblichen Lebensperspektiven, die nicht auf Ehe und Mutterschaft ausgerichtet waren, erschwert oder verhindert« wurden (S. 15), und den zahlreichen weiblichen Hauptrollen in Spielfilmen hingewiesen. Vgl. dazu auch Sybille Steinbacher, Frauen im Führerstaat, in: Dietmar Süß (Hg.), Das Dritte Reich. Eine Einführung, München 2008, S. 103-119; außerdem Jens Fleming, »Die Frau ist die Geschlechtsgenossin des Mannes«. Die Frauen und der Nationalsozialismus, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der 30er und 40er Jahre, München 2009, S. 57-70.

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Analyse der ideologischen Intentionen der NS -Führung, als Quelle zur Erforschung der gesellschaftlichen Wirklichkeit taugen sie nur bedingt.

2. Geschlechterverhältnisse I: Rollenmodelle im NS -Spielfilm »Wenn man sagt«, so Adolf Hitler auf dem Reichsparteitag der NSDAP 1934 in Nürnberg in seiner Rede vor der NS -Frauenschaft, »die Welt des Mannes ist der Staat, die Welt des Mannes ist sein Ringen, die Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft, so könnte man vielleicht sagen, daß die Welt der Frau eine kleinere sei. Denn ihre Welt ist ihr Mann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Haus. Wo aber wäre die größere Welt, wenn niemand die kleine Welt betreuen wollte?«11 Versteht man die Rede Hitlers programmatisch im Sinne einer künftigen Gestaltung der Gesellschaft, wofür sowohl der Zeitpunkt als auch der Ort sprechen, dann lässt sich daraus zwar durchaus eine wechselseitige Bezogenheit der Geschlechter im Hinblick auf eine hier nur angedeutete nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« erkennen, zugleich scheint aber wenig Spielraum für differenzierte Rollenmodelle von Frauen und Männern zu bleiben, indem erstere auf die häuslichen, letztere auf den öffentlichen und militärischen Bereich restringiert werden. Angesichts einer solchen, wie es Joachim Fest bereits 1963 formulierte, »von Hitler und dem Nationalsozialismus betriebene[n] Degradierung der Frau«,12 müssten die staatlich kontrollierten und auch von Hitler selbst wiederholt persönlich bewerteten Filme vorwiegend Frauen als Mütter und Hausfrauen zeigen und deren Beschränkung auf »die kleine Welt« entsprechend positiv konnotieren. Genau das ist aber nicht der Fall: Zwar sind tatsächlich in einigen Filmen »Frauen lediglich als bereitwillige Dienerinnen des Mannes, liebevolle Mütter einer vielköpfigen Kinderschar«13 dargestellt, aber repräsentativ für die Gesamtheit der im »Dritten Reich« produzierten Spielfilme sind diese Frauenfiguren nicht. Sieht man einmal von den Filmen ab, die im militärischen Milieu spielen – wie etwa die Flieger- und Preußenfilme – oder deren Handlung im Bereich der männlichen Hitlerjugend angesiedelt ist, dann sind Frauen in etwa 50-60 Prozent der Filme die Protagonistinnen und decken dabei ein breites Spektrum an Rollenbildern ab, das auch Funktionen in der von Hitler sogenannten großen Welt der typisch männlichen Aufgaben einschließt. Häufig sind Frauen in NS -Filmen beispielsweise erwerbstätig, und dies keineswegs nur in den Berufen, die bereits in der Weimarer Zeit als klassische Frauen 11 In: Ute Benz (Hg.), Frauen im Nationalsozialismus. Dokumente und Zeugnisse, München 1993, S. 41-45, hier: S. 42. 12 Joachim C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1996 (zuerst 1963), S. 371. 13 Ute Bechdolf, Erwünschte Weiblichkeit? Filmische Konstruktionen von Frauenbildern im nationalsozialistischen Unterhaltungsfilm, in: Günter Giesenfeld (Hg.), Capriolen und Vexierbilder. Studien zum NS -Unterhaltungsfilm, Marburg 1993, S. 49-64, hier: S. 49.

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berufe galten wie Krankenschwester, Sekretärin oder Haushaltshilfe. In Auf Wiedersehen Franziska (1941) von Helmut Käutner beispielsweise verkörpert Marianne Hoppe eine selbstständige Unternehmerin in Berlin, die zugleich als alleinerziehende Mutter ihre zwei Kinder versorgt. In Die schwarze Robbe (1941) spielt Lotte Koch eine erfolgreiche Rechtsanwältin, in Der gebieterische Ruf (1944) Maria Holst eine selbstbewusste junge Ärztin. In Capriolen (1937) mit Gustav Gründgens und Marianne Hoppe in den Hauptrollen ist die Protagonistin gegen den Willen ihres Mannes Berufspilotin. In Fracht für Baltimore (1938) spielt Sabine Heitmann eine junge Frau, die nach dem Tod ihres Vaters eine Reederei selbstständig weiterführt, in Versprich mir nichts (1937) und in Frau am Steuer (1939) sind die Frauen die Alleinverdienerinnen im Haushalt, die ihre beruflich erfolglosen Männer versorgen. Selbst im Kontext des eigentlich Männern vorbehaltenen Militärs können Frauen, wenn auch vergleichsweise selten, Hauptrollen übernehmen. In Schwarzer Jäger Johanna aus dem Jahr 1934 etwa spielt Marianne Hoppe eine junge Frau, die in die Wirren der napoleonischen Befreiungskriege gerät. Obwohl sie zunächst weder an Politik noch am Krieg interessiert ist und vor allem ihr privates Glück verfolgt, ist sie bereit, sich auch kämpferisch einzusetzen, als sie per Zufall – während einer Reise in der Postkutsche wird ihr von einem Major ein Brief mit einer militärisch wichtigen Botschaft zugesteckt – in das Kriegsgeschehen involviert wird. Entschlossen schneidet sie sich ihre langen schwarzen Haare ab, zieht eine schwarze Husarenuniform an und kämpft als »Schwarzer Jäger« aufseiten der schließlich siegreichen Truppen. Zwar wird hier nicht die Bedeutung des Mannes als Kämpfer, der entscheidend für den Sieg einer Gemeinschaft über ihre Feinde ist, relativiert, allerdings signalisiert das cross dressing der Frau – einschließlich der späteren Rückverwandlung –, dass Frauen in Krisensituationen auch männliche Funktionen wahrnehmen können. Beinahe noch auffälliger als die Vielfalt von Rollen, die den Frauen im NS -Spielfilm zugestanden wird, ist, dass sie in den filmischen Narrationen häufig die eigentlichen Handlungsträgerinnen sind, die den Verlauf der Erzählung bestimmen und die Männer auf eine reaktive Position festlegen – entgegen der Behauptung einer »immer wieder zelebrierte[n] Durchsetzung des männlichen Führungsanspruches«.14 In Capriolen (1937) akzeptiert Marianne Hoppe als Berufspilotin nicht, dass ihr Mann sie vom Fliegen abhalten will und beantragt daraufhin die Scheidung. Die Geierwally (1940), verkörpert von Heidemarie Hatheyer, lässt sich weder von ihrem Vater noch von dem für sie vorgesehenen Ehemann und auch nicht von der Dorfgemeinschaft von einem eigenständigen Leben abhalten und bestimmt am Ende des Filmes autonom, wann und wen sie heiratet. In Späte Liebe (1943) und Du gehörst zu mir (1943) verlassen die Ehefrauen aus eigener Initiative und gegen deren Willen ihre Ehemänner. In dem antipolnischen Propagandafilm Feinde (1940), der den Überfall der Wehrmacht auf den polnischen Staat legimitieren sollte, versucht eine Gruppe von »Volksdeutschen«, in das Deutsche Reich zu fliehen. Im Zentrum steht die von Brigitte Horney gespielte junge Anna, die in einem polnischen Lokal als Bedienung arbeitet, 14 Gabriele Lange, Das Kino als moralische Anstalt. Soziale Leitbilder und die Darstellung gesellschaftlicher Realität im Spielfilm des Dritten Reiches, Frankfurt a. M. 1994, S. 150.

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und unter dauernden Belästigungen und Schikanen der Polen leidet. Dabei ist es nicht nur Anna, die die Initiative zur Flucht ergreift, sie ist es auch, die die verstreuten »Volksdeutschen« sammelt, die polnischen Verfolger unter Lebensgefahr ablenkt und die Gruppe schließlich an die Grenze und ins Reich führt. Obgleich es bislang keine quantitative Auswertung des immerhin rund 1.500 Spielfilme umfassenden NS -Filmkorpus in Bezug auf Männer- und Frauenrollen und ihrer intradiegetischen Funktion im Narrationsverlauf gibt, zeigen allein diese Beispiele, dass alternative Rollenkonzepte für Frauen jenseits von Müttern und Ehefrauen möglich waren und dass Männer, unabhängig von den Rollen, die sie in den Filmen wahrnahmen, den Frauen nicht zwingend übergeordnet oder handlungsbestimmend waren. Keineswegs also wurden Frauen in NS -Filmen nahezu ausschließlich »in insgesamt drei charakteristischen Rollen – als umworbene potentielle Ehefrau, als verheiratete Frau, als Mutter« gezeigt, wie Angela Vaupel behauptet.15 Die These von Matthew Stibbe, es sei »key feature of Nazi propaganda« gewesen, Frauen auf ihre häusliche Rolle als Hausfrau und Mutter zurückzudrängen,16 scheint im Hinblick auf die Filmpropaganda mindestens ebenso problematisch wie die These von Heide Schlüpmann, das Frauenbild im nationalsozialistischen Film sei nicht »identisch mit dem Propaganda-Stereotyp der deutschen Frau«17 gewesen. Zu Ende gedacht, würde das nicht nur bedeuten, dass die gesellschaftspolitische Praxis der Nationalsozialisten dem filmischen Propagandabild entgegengesetzt gewesen sei – wofür sich fraglos Belege finden lassen –, sondern auch, dass die Spielfilme den ideologischen Prinzipien des Nationalsozialismus, die sie ja eigentlich propagieren sollten, widersprochen hätten. Oder: Es habe im »Dritten Reich« in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse sich widersprechende Propagandastrategien gegeben, eine außerfilmische Propaganda für das Leitbild der Frau als Mutter und des Mannes als Kämpfer und eine filmische Propaganda für eine, mindestens soweit es die Berufstätigkeit anbelangt, vergleichsweise ausgeprägte Emanzipation der Frau und für eine Relativierung des männlichen Primates. Beide Annahmen scheinen gleichermaßen abwegig, zumal angesichts der Zentralisierung der gesamten staatlichen Propaganda unter dem Dach des Propagandaministeriums. Wenig überzeugen kann auch die These, die Darstellung vergleichsweise emanzipierter Frauen im Film sei lediglich ein allgemeines »Zugeständnis an den Publikumsgeschmack, insbesondere an die Sehnsüchte vieler Frauen, die den Hauptanteil des Kinopublikums ausmachten«,18 gewesen. Vor allem als in der zweiten Kriegshälfte verstärkt Frauen für den Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie und an der »Heimatfront« benötigt wurden, hätte die Propaganda einen »vorübergehenden Widerspruch« zur NS -Ideologie 15 Angela Vaupel, Frauen im NS -Film. Unter besonderer Berücksichtigung des Spielfilms, Hamburg 2005, S. 62. 16 Matthew Stibbe, Women in the Third Reich, London 2003, S. 41. 17 Heide Schlüpmann, Trugbilder weiblicher Autonomie im nationalsozialistischen Film, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz / Gerda Stuchlik (Hg.), Frauen und Faschismus. Der faschistische Körper, Pfaffenweiler 1990, S. 211-227, hier: S. 211. 18 Lange, Das Kino als moralische Anstalt (wie Anm. 14), S. 150.

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in Kauf genommen, der sich nach Kriegsende im Sinne der Nationalsozialisten »von selbst oder durch bestimmte Maßnahmen wieder aufheben würde«.19 Tatsächlich ist die Darstellung selbstständiger Frauen kein Phänomen der Filmproduktion in der Kriegszeit, sondern, wie die genannten Beispiele zeigen, bereits seit 1933 zu beobachten. Vor allem aber: Weder aus dem Propagandaministerium selbst noch vonseiten der ihm untergeordneten Zensurstellen gibt es Hinweise darauf, dass diese filmischen Geschlechterverhältnisse als problematisch angesehen wurden. Selbst die NS -Filmpresse, die sich – in der Regel in Rückversicherung mit dem Propagandaministerium – gelegentlich kritisch über einzelne Produktionen äußerte, problematisierte diese Darstellung nicht. Im Gegenteil: Die Frauen, so beispielsweise der Filmkurier im September 1937, »sollten sich das rechte Selbstbewußtsein erobern, das aus dem stolzen Gefühl der Unabhängigkeit kommt, dem Bewußtsein, daß sie zur Not, und wenn es sein muß, auch allein mit dem Leben fertig werden und – so müsste es eigentlich heißen – ihre Frau zu stehen wissen«.20

3. Geschlechterverhältnisse II: »Volksgemeinschaft« als geschlechterintegrierende Norm und gesellschaftliches Telos Tatsächlich lassen sich die Widersprüche zwischen einer angenommenen Nachrangigkeit der Frauen in der NS -Ideologie und den filmischen Frauenrollen als bloß scheinbare erklären, wenn man die Intention der Filmtexte nicht primär, wie es die Perspektive aktueller Genderdiskurse nahelegt, von der Aushandlung der Hierarchien zwischen Männern und Frauen her liest, sondern als ein Unternehmen, das Verhältnis der Geschlechter im Kontext der »Volksgemeinschaft« und ihren Anforderungen an die Individuen zu bestimmen. Rollenzuschreibungen und Geschlechterdifferenzen werden dadurch zwar nicht irrelevant, aber gegenüber der an jedes Individuum gleichermaßen gerichteten Forderung nach Integration in die »Volksgemeinschaft« sekundär. Dass mit der Pluralität der in den Filmen gezeigten Frauenrollen und insbesondere mit der Darstellung selbstständiger und selbstbewusster Frauenfiguren speziell dem weiblichen Publikum auch attraktive Identifikationsmöglichkeiten angeboten wurden, mag man als Zugeständnis des auch im »Dritten Reich« kommerziellen Mediums sehen; allerdings als eines, das der ideologischen Kernbotschaft der Filme nicht widersprach. Es sei »gar nicht so wichtig, an welchem Platz« die Frauen stehen mögen, so die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink, »sei es in der Familie oder sei es im Beruf oder an der Maschine oder in der Erziehungsgemeinschaft des Arbeitsdienstes oder in der Lehr- und Forschungsgemeinschaft einer hohen Schule, entscheidend ist einzig das Maß und die Weise der Kraft, die wir in die Waag19 Irina Scheidgen, Frauenbilder im Spielfilm, Kulturfilm und in der Wochenschau des »Dritten Reiches«, in: Elke Frietsch / Christina Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945, Bielefeld 2009, S. 259-281, hier: S. 265. 20 Filmkurier vom 13. 10. 1937, zitiert in Lange, Das Kino als moralische Anstalt (wie Anm. 14), S. 141.

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schale zu werfen haben, und das Zutrauen, das wir zu unserer Kraft zu fassen vermögen«.21 Diese Relativierung der konkreten Rollen und Funktionen von Männern und Frauen in der propagierten nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« bilden die filmischen Narrationen punktgenau ab. Hinter diesem Spiel mit den Rollen von Frauen und Männern in den Filmen steht freilich ein Bruch mit liberalen, aufklärerischen Vorstellungen, nach denen eine Gesellschaft als Zusammenschluss freier Individuen gedacht wird. An deren Stelle tritt die Postulierung eines (letztlich durch die in den Filmen nicht thematisierte biologistische Rassenideologie begründeten) Kollektivs der »Volksgemeinschaft«, die das Telos der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Zugleich werden von der »Volksgemeinschaft« her alle individuellen Praxen und Interaktionen zwischen den Individuen, und damit auch zwischen den Geschlechtern, normiert. Die Einordnung der Individuen in das Kollektiv und die Übernahme der damit verbundenen Funktionen werden dabei nicht als das Ergebnis eines äußeren Zwanges dargestellt, sondern als moralische Verpflichtung, denen das Individuum aus Einsicht und freiwillig folgt. Zugleich erkennt und erfüllt es dadurch seine Bestimmung. In der nationalsozialistischen Konzeption von Gesellschaft wird das Individuum – ob Mann oder Frau – erst dann wirklich frei, wenn es seine Wünsche nach individueller Freiheit, die eine Quelle beständiger Unzufriedenheit sind, aufgibt und sich als Glied in die Gemeinschaft einordnet. Häufig zeigen die NS -Spielfilme zu Beginn die Protagonistinnen und Protagonisten gleichermaßen in äußerlich prekären oder psychisch unbefriedigenden Situationen, in denen immer auch Interessengegensätze zwischen Männern und Frauen verhandelt werden – etwa um berufliche Selbstverwirklichung oder um die Akzeptanz bestimmter Rollenerwartungen. Diese Konflikte zwischen Männern und Frauen um Selbstbestimmung und gesellschaftliche Bedeutung werden in den Spielfilmen als Ausdruck eines tieferliegenden Konfliktes konzeptionalisiert. Ihre eigentliche Ursache liegt demnach in der Gebrochenheit individueller Existenz, die sich aus der fehlenden Integration in das Kollektiv der »Volksgemeinschaft« ergibt. Weil Frauen und Männer gleichermaßen nicht erkennen, dass sie ihre individuelle Bestimmung nur in der Ausrichtung ihrer Existenz auf das Kollektiv hin erreichen, bleiben sie in ihren Egoismen gefangen, die sich in einem verengten Selbstverständnis der Geschlechter ergeben. Demzufolge sind aus nationalsozialistischer Sicht die Konflikte zwischen Männern und Frauen nicht durch einen Aushandlungsprozess von Interessen lösbar – wie immer dieser aussehen könnte –, sondern nur im Kontext der »Volksgemeinschaft«, als deren Bestandteil sich Männer und Frauen gleichermaßen begreifen sollen. So erweisen sich die Akteurinnen und Akteure zu Beginn der Spielfilmhandlungen häufig als unzufrieden mit ihrer Lebenssituation und führen dies auf Verhalten und Einstellung des anderen Geschlechts zurück. Erst die Einsicht in die Bedeutung 21 Gertrud Scholtz-Klink, Die Berufung der schaffenden Frau im Arbeitsleben unseres Volkes, NS -Frauenwarte 3 (1934 /35), zit. in: Massimiliano Livi, Gertrud Scholtz-Klink: Die Reichsfrauenführerin, Münster 2005, S. 172.

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der »Volksgemeinschaft« für das individuelle Handeln lässt die Konflikte zwischen Männern und Frauen lösbar erscheinen. Den dramaturgischen Regeln filmischer Narration folgend, wird ein Erkenntnisprozess meist durch ein äußeres Ereignis ausgelöst, das zugleich den Beginn einer bewussten, selbstgewählten und vollständigen Transformation der individuellen in eine kollektive Existenz darstellt. In Ich für dich – du für mich leidet Hanne unter den Schikanen ihrer Arbeitgeberin, ihr Verlobter Werner unter seiner Arbeitslosigkeit infolge des nicht abgeschlossenen Studiums. Beide fühlen sich unfrei und äußeren Zwängen ausgesetzt, aufgrund derer sie ihre Lage nicht selbst bestimmen können. Zugleich entsteht trotz Verlobung keine echte Gemeinschaft zwischen ihnen. Hanne klagt darüber, dass sie sich um ihren Verlobten kümmern müsse – was nicht ihrem Verständnis als Frau entspricht –, Werner leidet darunter, dass er dem Ideal des auch ökonomisch starken Mannes und Versorgers nicht genügt und dass Hanne kein Verständnis für seine Situation hat. Beide streiten sich deswegen häufig. Erst infolge ihrer überraschenden Entlassung ist Hanne bereit, ihr Leben zu ändern und in den Dienst der »Volksgemeinschaft« zu stellen. Das Gleiche gilt für ihren Verlobten. Die Todesgefahr im Moor initiiert bei ihm die vollständige, gleichwohl freiwillige Indienststellung seiner Existenz für die »Volksgemeinschaft«. Aus einem durch konfligierende Interessen bestimmten Geschlechterverhältnis wird eine Gemeinschaft wechselseitig aufeinander bezogener Individuen. Dieses Grundmotiv einer freiwilligen Integration in die Gemeinschaft, die die Konflikte zwischen den Geschlechtern überwindet und aufhebt, findet sich in vielen nationalsozialistischen Spielfilmen. In dem von Arthur Maria Rabenalt inszenierten Film Fronttheater (1941) wird zu Beginn ein Ehepaar gezeigt, Paul und Lena, die – gefangen von ihren individuellen Wünschen – weder für sich noch miteinander glücklich sind: Lena muss auf Wunsch ihres Mannes ihren geliebten Beruf als Schauspielerin aufgeben, während Paul als Arzt tätig ist und beruflich nicht so vorankommt, wie er es sich wünscht. Auch fühlt er sich von seiner Frau unverstanden und unzureichend unterstützt. Eine Scheidung der beiden ist absehbar. Durch den Ausbruch des Krieges erkennen sie aber unabhängig voneinander, dass ihre Fixierung auf individuelles Glück und bestimmte Rollenmodelle die eigentliche Ursache ihrer Unzufriedenheit ist. Beide melden sich freiwillig zum Einsatz, Paul als Militärarzt und Lena als Schauspielerin bei einem Fronttheater. Als sie sich am Ende des Filmes zufällig in Griechenland treffen, wo Paul im Lazarett arbeitet und Lenas Fronttheater gastiert, finden sie auch innerlich zusammen, obwohl der Kriegsdienst sie räumlich bald wieder trennt. Indem sie im Bewusstsein ihrer Pflicht für die »Volksgemeinschaft« ihre individuellen Egoismen, die sie bisher trennten, aufgeben, bildet sich zwischen ihnen eine echte Gemeinschaft. Das gleiche Muster zeigt Auf Wiedersehen Franziska (1940) in der Regie von Helmut Käutner. Auch in dieser Geschichte, die in der Vorkriegszeit beginnt, werden die beiden Partner, die Unternehmerin Franziska und der Wochenschaureporter Michael, von ihren individuellen Egoismen und konkurrierenden Auffassungen ihrer Rollen als Mann und Frau bestimmt. Während sich Franziska nicht in das Leben einer treu sorgenden Ehefrau, Hausfrau und Mutter fügen will, ist Michael nicht bereit, sein abwechslungsreiches und gefährliches Leben als Kamerareporter, das ihn rund um 36

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den Globus geführt hat, zugunsten der Verantwortung für seine Familie aufzugeben. Obwohl das Paar zwei Kinder hat, entschließt sich Franziska, die Scheidung einzureichen, will sich also der konventionellen gesellschaftlichen Rollenzuweisung entziehen. Die Interessen von Männern und Frauen werden in dieser Erzählung also zunächst als konträr und kaum vereinbar gezeigt. Auch in diesem Film ist es der Kriegsausbruch, der das Geschlechterverhältnis verändert. Als Michael die Einberufung zu einer Propagandakompanie erhält, will er sich zunächst verweigern und doch lieber bei der Familie bleiben. Aber jetzt ist es Franziska, die Michael auffordert, an die Front zu gehen. »Jetzt kannst du’s nicht, wo es zum ersten Mal einen Sinn hat?«,22 fragt sie ihn vorwurfsvoll und fordert ihn damit auf, seinen Dienst im Krieg abzuleisten. Nach einigem Zögern stimmt er zu und versöhnt sich damit zugleich mit seiner Frau. Auf dem Bahnsteig, an dem Zug, der Michael an die Front bringt, verabschieden sie sich mit dem titelgebenden »Auf Wiedersehen«. Im individuellen Verzicht auf ihr privates Glück zugunsten der Gemeinschaft erlebt das Paar trotz der physischen Trennung zum ersten Mal eine innere Erfüllung, die sie verbindet. Rollenkonflikte, die bisher ihr Leben bestimmten, sind dadurch aufgehoben. »Der Mensch ist auch als Geschlechtswesen kein Einzelner, sondern Glied eines Volkes«, heißt es ganz in diesem Sinne 1942 in einem Aufsatz über den Zusammenhang von Erziehung und Geschlecht.23 In diesen filmischen Narrationen werden also Konflikte zwischen den Geschlechtern nicht negiert, vielmehr wird das Selbstbestimmungsrecht gerade der Frauen auch dort anerkannt, wo es konträr zu den Erwartungen der Männer steht. Es geht gerade nicht um die Propagierung einer »nationalsozialistischen Geschlechterordnung […], verbunden mit dem Primat des Mannes«,24 die Elizabeth Harvey als wesentlich für die nationalsozialistischen Vorstellungen der »Volksgemeinschaft« behauptet. In keiner der hier besprochenen Filmhandlungen setzt sich der Mann einseitig durch oder zwingt der Frau seinen Willen auf, vielmehr wird der Machtanspruch des Mannes dort, wo er in den Filmen formuliert wird, jeweils als eine Gefahr für das Zusammenleben von Mann und Frau beschrieben und entsprechend negativ bewertet. Konflikte, sofern sie auf unterschiedlichen Interessen basieren, werden in diesen Filmen nicht durch die Durchsetzung von Männern oder Frauen, sondern durch den Verzicht beider Geschlechter auf eine Vorrangstellung und durch die gemeinsame Unterstellung individueller Interessen unter das Kollektiv aufgehoben. Dadurch konstituiert sich eine Geschlechtergemeinschaft, in der Frauen und Männer durch ihr Handeln in der und für die »Volksgemeinschaft« aufeinander bezogen sind. Mögliche Fragen 22 Diese Schlussaussage ist nach 1945 aus dem Film geschnitten worden, nachdem dieser zunächst von den Alliierten als Propagandafilm klassifiziert und verboten wurde. Aktuelle Wiederholungen und DVD -Editionen enthalten diesen Schluss daher auch nicht. 23 Elisabeth Lippert / Hermann Noelle, Die Gestaltung des Geschlechterverhältnisses als Aufgabe der neuen Erziehung, in: Die Frau. Monatszeitschrift des gesamten Frauenlebens unserer Zeit. Organ des Bundes Deutscher Frauenvereine 1942, S. 110-113, hier: S. 111. 24 Elizabeth Harvey, Geschlechterordnung und »Volksgemeinschaft« im Nationalsozialismus, in: Winfried Nerdinger (Hg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS Dokumentationszentrums München, 2. Aufl., München 2015, S. 490-496, hier: S. 491.

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nach der Herrschaft des einen über das andere Geschlecht werden durch gleichberechtigte Funktionsbestimmungen in der »Volksgemeinschaft« ersetzt. Die Erfüllung der Volksgemeinschaftspflichten ist das alle gesellschaftlichen Differenzen transzendierende Prinzip, das geschlechterübergreifend »das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen strukturiert«.25 Selbst wenn damit keine Veränderung der gesellschaftlichen Rollen verbunden ist – Hanne arbeitet vor ihrer Verpflichtung zum Arbeitsdienst im Haushalt und tut es nachher, Franziska bleibt Hausfrau, ebenso wie ihr Mann weiterhin als Kameramann arbeitet: Die Bedeutung der jeweiligen Rolle ändert sich, weil sie auf die »Volksgemeinschaft« ausgerichtet ist. Waren sie anfangs allein ein Mittel der Selbstverwirklichung oder ein Ergebnis der Fremdbestimmung, sind sie jetzt Teil einer gemeinsamen Aufgabe, die deren Träger und Trägerinnen gleichermaßen aufwertet und gleichstellt. Modelliert wird in diesen Filmen damit die Konzeption eines Geschlechterverhältnisses, das die erste Frauenführerin der NSDAP, Elsbeth Zander, bereits auf dem Frauenkongress der NSDAP am 3. und 4. Juli 1926 in Weimar einforderte: »Die zu lösenden Aufgaben sind verschiedene, jedoch das Ziel ist das gleiche. Unser gemeinschaftliches Ziel ist die Volksgemeinschaft auf nationalsozialistischer Grundlage.«26

4. Geschlechterverhältnisse III: »Volksgemeinschaft« als geschlechterintegrierende Opfergemeinschaft Die Praxis der freiwilligen Pflichterfüllung, mit der sich Männer und Frauen in den Dienst der »Volksgemeinschaft« stellen, wird in der NS -Ideologie terminologisch als Opfer gefasst, die moralische Disposition dazu als Opferbereitschaft.27 »Es gibt nur ein Gesetz […] das lautet: Ich dien’! Es gibt nur eine Pflicht: Opfer und Hingabe. Wir sind alle Diener der Idee. Sonst nichts«,28 so der Nationalsozialist Theodor Habicht bereits Ende der zwanziger Jahre. Dabei kann prinzipiell jede Form des freiwilligen Verzichtes zugunsten des Kollektivs als Opfer begriffen werden, ob es sich dabei um das eigene Leben handelt, wie es die Helden- und Totenverehrung des NS Staates zelebrierte,29 oder lediglich um die Aufgabe des privaten Glücks, wie es viele Spielfilme thematisieren. Das Verhältnis der Geschlechter ist demzufolge nicht einfach ein Teilbereich innerhalb der Ordnung der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«, sondern bestimmt sich substanziell über die Idee des Opfers. So wie die »Volksgemeinschaft« überhaupt erst durch das Opfer konstituiert wird, bilden Frauen und Männer eine Gemeinschaft, deren Handeln auf die Verwirklichung der »Volksgemeinschaft« ausgerichtet ist. 25 Leonie Wagner, Nationalsozialistische Frauenansichten. Weiblichkeitskonzeptionen und Politikverständnis führender Frauen im Nationalsozialismus, Berlin 2010, S. 47. 26 Zit. in: ebd., S. 22. 27 Vgl. dazu ausführlich Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014, S. 54-62. 28 Theo Habicht, Wider den Unstaat! Gesammelte Aufsätze, 2. Aufl., Leipzig 1930, S. 73. 29 Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow bei Greifswald 1996.

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Paula Siber, die erste Führerin der NS -Frauenschaft, formulierte dies so: »Über die lose Bindung einer bis dahin nur nationalen Volkszusammengehörigkeit hinaus schuf der Nationalsozialismus durch den Begriff der Volksgemeinschaft einen kategorischen Imperativ der Pflicht zum Dienst am Volksganzen. Jedes einzelne Glied des Volksganzen, einerlei ob Mann oder Frau, ist in diese Volksgemeinschaft hineingestellt und in ihr zum Diener dieses Pflichtbegriffes geworden.«30 Frauen und Männer bilden in der NS -Ideologie so in zweierlei Hinsicht eine Opfergemeinschaft: zunächst dadurch, dass sie gleichermaßen dazu verpflichtet sind, ihre individuellen Wünsche dem Kollektiv zu opfern. Hier gibt es eine grundsätzliche Gleichwertigkeit der Geschlechter. Eine Hierarchie existiert nicht in Bezug auf den objektiven Beitrag des konkreten Opfers für die »Volksgemeinschaft«, sondern nur in Bezug auf den subjektiven Verzicht und die Verzichtbereitschaft des Individuums. Auch das ist in Ich für dich – du für mich erkennbar. Das Opfer, das die Frauen durch ihre dienende Tätigkeit im Haushalt der Bauern erbringen, wird nicht geringer qualifiziert als die aktive und produktive Arbeit der männlichen Arbeitsdienstler in der Neulandgewinnung. Zugleich wird in dieser Narration auf einen zweiten Aspekt der nationalsozialistischen Opfergemeinschaft verwiesen: Männliche und weibliche Opferbereitschaft sind aufeinander bezogen und bedingen sich. Das Opfer der Frauen im Arbeitsdienst in Ich für dich – du für mich ist an die Voraussetzung des Opfers der Männer im Arbeitsdienst geknüpft, denn nur durch die Landgewinnungsarbeit bedarf es überhaupt des weiblichen Arbeitsdienstes. Umgekehrt ermöglicht erst der weibliche Dienst in den Bauernhaushalten den Männern ihren Einsatz in der Neulandgewinnung. Man kann mit Kirsten Heinsohn durchaus davon sprechen, dass in der NS -Ideologie das »doing Volksgemeinschaft« mit dem »doing gender« verknüpft wird,31 muss dabei aber im Blick behalten, dass nicht einfach vorhandene Rollenkonventionen in das Konzept der »Volksgemeinschaft« integriert werden, sondern über das Opfer erst in ihrer funktionalen Differenz bestimmt werden. Deswegen können die filmischen Narrationen in den Rollenzuschreibungen für Männer und Frauen auch variieren, solange die Wechselseitigkeit des aufeinander bezogenen Opfers für die »Volksgemeinschaft« erkennbar bleibt. In Annelie von Josef von Baky aus dem Jahr 1941 beispielsweise sind die handlungstragenden Frauenfiguren ausschließlich Mütter und Ehefrauen, die Männer vor allem Soldaten. Der Film zeichnet die fiktive Biografie der Titelfigur Annelie, gespielt von Luise Ullrich, entlang der wichtigsten Daten der deutschen Geschichte nach. Geboren wird sie im Jahr 1871, dem Jahr der Reichsgründung, sie erlebt den 30 Paula Siber, Volksgemeinschaft, in: NS -Frauenwarte 1 (1933), H. 10, S. 219-220. 31 Dazu Kirsten Heinsohn, Volksgemeinschaft und Geschlecht. Zwei Perspektiven auf die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Detlef Schmiechen-Ackermann / Marlis Buchholz / Bianca Roitsch / Christiane Schröder (Hg.), Der Ort der »Volksgemeinschaft« in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S. 245-258.

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Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und den Aufstieg des NS -Staates. 1941, im Jahr des beginnenden Russlandfeldzuges der Wehrmacht, stirbt sie im Kreis ihrer Familie. Ihr Leben ist eine Abfolge von Opfern für den Staat, die sie klaglos hinnimmt. Im Ersten Weltkrieg müssen ihre beiden Söhne und ihr Mann an die Front. Als ihr Mann schwer verwundet wird und schließlich stirbt, muss sie sich allein durchs Leben schlagen und die Kinder großziehen. Mit dem Zweiten Weltkrieg sieht sie wieder ihre Söhne und die Neffen an der Front. An ihrem Geburtstag ist ihr Sohn Reinhold zwar in Berlin, aber er kann seiner Mutter nur telefonisch gratulieren, weil er an die Front muss. Hier opfern beide Geschlechter gleichermaßen ihr Leben für die »Volksgemeinschaft«. Die Männer, indem sie im Krieg sterben und darin ihre Erfüllung finden, Annelie als Mutter, indem der Sinn ihres gesamten Lebens darin besteht, für die »Volksgemeinschaft« eben diese Männer zu gebären und großzuziehen und nach der Erfüllung dieser Pflicht ebenfalls zu sterben. Auch sind männliche und weibliche Opfer aufeinander bezogen: Zunächst in einem ganz trivialen Sinn, dass die männlichen Opfer nur möglich sind, weil Annelie die kommenden Soldaten zur Welt gebracht hat; aber auch in einem höheren moralischen Sinn, indem die Söhne das Opfer der Mutter als Verpflichtung sehen, selbstlos für die »Volksgemeinschaft« einzustehen und notfalls ihr Leben zu opfern. Die Frauen und Mütter wiederum haben die moralische Verpflichtung, das Opfer der Soldaten zu unterstützen: Als die Schwiegertochter von Annelie darüber verzweifelt ist, dass ihr Mann Reinhold wieder in den Krieg muss und dagegen auf begehrt, wird sie von Annelie zurechtgewiesen: »Willst du vielleicht versagen, wo die drei Männer so tapfer sind, an der Front stehen und kämpfen? Grad’ jetzt musst du stark sein, fröhlich, und dem Reinhold dadurch helfen.« Denn: »Das spürt der Reinhold nämlich«, sagt Annelie, »glaub mir, das spürt er.« Die letzten Sequenzen des Filmes visualisieren die Opfergemeinschaft in einer filmischen Parallelmontage: Während Annelie, nachdem sie ihr ganzes Leben geopfert hat, im Sessel stirbt, zeigt eine Parallelmontage die Fahrt des Zuges mit Reinhold und anderen Soldaten an die Front. Während Annelie so in der Aufopferung ihres gesamten Lebens ihre Bestimmung erreicht, sind die Soldaten, die an die Front fahren, bereit, ebenfalls ihr Leben für die »Volksgemeinschaft« zu geben. Das gleiche Bild einer Gemeinschaft, in der männliches und weibliches Opfer aufeinander bezogen sind, allerdings mit nahezu umgekehrten Geschlechterrollen, zeigt der von Gustav Ucicky 1935 gedrehte Historienfilm Das Mädchen Johanna. Der Film behandelt in einer völkisch-nationalistischen Interpretation die Geschichte der Jeanne d’Arc im Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England. Die Franzosen, auf deren Seite sich der Film stellt, sind den Engländern im Krieg allein deswegen unterlegen, weil sie keine Gemeinschaft bilden, stattdessen innerlich zerrissen und bis hin zum König von egoistischen Interessen geprägt sind. Erst Johanna gelingt es, die Franzosen zu einen. Sie übernimmt die militärische Führung, indem sie ein Heer aus zunächst unentschlossenen und passiven Männern zusammenstellt und mit ihnen in den Krieg zieht. Anders als in dem erwähnten Film Schwarzer Jäger Johanna ist Johanna hier von vornherein als Frau zu erkennen, und die Männer ordnen sich 40

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ihr freiwillig unter. Obwohl Johanna die Franzosen zunächst zum Sieg führt, wird sie bald in ein komplexes Geflecht von Intrigen verwickelt, in denen der als schwach gezeigte französische König eine unrühmliche Rolle spielt. Sie wird zum Tode durch Verbrennen verurteilt. Der Film macht daraus nun ein von Johanna wenn nicht freiwillig gewähltes, so doch bereitwillig angenommenes Opfer für die »Volksgemeinschaft«. Aus den Flammen ruft sie: »Ich glaube, dass ich sterben muss, damit mein Vaterland frei wird !« Dadurch wird ein Gesinnungswandel der Franzosen ausgelöst, sie einen sich und ziehen neuerlich in den Krieg gegen die Engländer; jetzt sind sie siegreich. Anders formuliert: Das Opfer Johannas initiiert die Bereitschaft des Königs und der Militärs, im Krieg für die Gemeinschaft das eigene Leben zu geben. Und erst durch diese Verschränkung männlichen und weiblichen Opfers konstituiert sich die neue »Volksgemeinschaft«. Am Ende des Filmes fordert der König das Volk auf, das Andenken an Johanna zu bewahren, »an die treueste Dienerin des Staates, welche durch ihren Opfertod unseliger Zwietracht ein Ende machte«. Die tote Johanna lebt als moralisches Exempel der Opferbereitschaft für die Gemeinschaft weiter.

5. Fazit: Individuum, Geschlecht und Opfer im NS -Spielfilm Das Opfer, das die Protagonistinnen und Protagonisten in den filmischen Narrationen für das Kollektiv bringen, zielt letztlich, wie es Yvonne Karow ausdrückt, auf das »Verlöschen des Subjektes« in einer »Volksgemeinschaft«, die »als Ursprung und Bestimmung des eigenen Seins gedacht wird«.32 Indem die Subjekte ihre anfängliche individuelle Existenz aufgeben, gewinnen sie eine neue Daseinsform als Bestandteil des Kollektivs, das ihre Praxen normiert und ihnen zugleich Sinn gibt. Daraus ergibt sich eine spezifische Dialektik: Das Opfer der Existenz als Individuum wird zur Voraussetzung, um die eigentliche individuelle Bestimmung zu erfüllen. Der freiwillige Verzicht auf ein selbstbestimmtes Handeln wird letztlich als Gewinn persönlicher Freiheit vorgestellt. Was das bedeutet, wird deutlich, wenn man den nationalsozialistischen Opferbegriff mit den Opfervorstellungen in religiösen und mythologischen Kontexten kontrastiert. Für diese ist die Beziehung zwischen der Opferhandlung, dem »sacrificium«, dem Opfernden und dem Adressaten der Opfer, einer transzendenten Macht, konstitutiv. Weil es im nationalsozialistischen Opferbegriff keine solche Transzendenz gibt, wird die Opferhandlung zu einem selbstreferenziellen Prozess, in dem der Adressat des Opfers – die »Volksgemeinschaft« – aus den opferbereiten Volksgenossen besteht, die die »Volksgemeinschaft« bilden. Nach diesem Verständnis ist die »Volksgemeinschaft« also keine primär von ihrer organisatorischen oder rechtlichen Verfassung her zu verstehende Gegebenheit, in die sich das Individuum bloß einzufügen hat, sondern ein dynamisches Beziehungsgeflecht, das sich durch das Opfer immer wieder neu aktualisiert. Erst dadurch kann das Opfer zugunsten der anderen zugleich als Selbstbestimmung des individuellen Lebens begriffen werden: Indem sich 32 Yvonne Karow, Deutsches Opfer. Kultische Selbstauslöschung auf den Reichsparteitagen der NSDAP, Berlin 1997, S. 181-206, hier: S. 181.

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das Individuum opfert, stärkt es sich selbst als Bestandteil des Kollektivs, ohne dass es letztlich nicht existieren kann. Das gilt modellhaft für das Geschlechterverhältnis: Indem Frauen und Männer auf ihre jeweiligen Ansprüche gegeneinander verzichten, opfern sie nicht einfach einen Teil ihrer Individualität, sondern schaffen eine nationalsozialistische Geschlechtergemeinschaft. Mehr noch: Indem sich Männer und Frauen als Individuen durch ihr Selbstopfer in den Dienst an der »Volksgemeinschaft« stellen, geben sie auch ihre Geschlechtsidentität als Bestimmungsmerkmal ihrer individuellen Existenz auf. Differenzen zwischen den Geschlechtern – gleichgültig, ob diese als biologisch bedingtes Eigenschaftsbündel oder als Produkt der Selbst- und Fremdzuschreibung gedacht sind – werden zu bloßen Funktionen innerhalb der »Volksgemeinschaft«, die nicht einmal zwingend einem Geschlecht zugeschrieben werden müssen. Selbst dort, wo Rollen- und Funktionszuschreibungen weiterhin den konventionellen Geschlechtermodellen entsprechen, haben sie in den filmischen Modellen ihre Bedeutung als Faktor der Identitätsbildung verloren. Indem das Geschlecht in dieser Weise sekundär wird, verliert auch die Konkurrenz um Primat und Anerkennung in der Gesellschaft ihre Bedeutung. Wenn man wie Leonie Wagner vom »Ergänzungsmodell« der Geschlechterverhältnisse in der »Volksgemeinschaft« spricht, in dem die »Vorstellung vom polar aufeinander bezogenen Verhältnis der Geschlechter […] eine der zentralen Figuren der nationalsozialistischer Geschlechterideologie« darstelle,33 dann gilt auch für den NS -Film, dass die Geschlechterverhältnisse nur in Bezug auf ihre Funktion für die »Volksgemeinschaft« hin bestimmt und insofern als gleichrangig beurteilt werden können. Allerdings sind die Geschlechterpole in den filmischen Narrationen nicht von vornherein, etwa durch genetische Dispositionen, festgelegt, sondern das Ergebnis eines von den Anforderungen der »Volksgemeinschaft« abhängigen Definitionsprozesses. Die Filme zeigen nicht nur, dass Frauen prinzipiell alle Rollen – selbst militärische – wahrnehmen und ausfüllen können, sondern dass sogar innerhalb einer Filmhandlung Rollenwechsel möglich sind. Geschlechtszugehörigkeit ist kein zentraler Aspekt der individuellen Identität mehr; diese definiert sich jetzt allein über die Opferbereitschaft für die »Volksgemeinschaft«. Das Geschlechterverhältnis wird in diesen filmischen Narrationen dadurch entproblematisiert, dass die Geschlechterdifferenzen marginalisiert werden. Die Spielfilme versprechen den Frauen mit ihren zahlreichen Rollenmodellen vordergründig eine Aufwertung gegenüber den Männern, tatsächlich jedoch fordern sie von Männern wie von Frauen gleichermaßen die Bereitschaft ein, Geschlechterdifferenzen als bloß akzidentiell anzuerkennen. In den Filmen werden also weder alte Geschlechtermodelle perpetuiert noch Alternativen vorgeschlagen, etwa im Hinblick auf die Rollenzuschreibungen, vielmehr wird die Bedeutung von Geschlechterdifferenzen generell marginalisiert. Die Filme suggerieren den Rezipientinnen und Rezipienten nicht simple Modernität, indem Frauen auch traditionelle Männerrollen übernehmen können, sondern behaupten den Nationalsozialismus als emanzipatorische Weltanschauung, die die Bedeutung der Frauen gegenüber den Männern, un33 Wagner, Nationalsozialistische Frauenansichten (wie Anm. 25), S. 38 f.

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abhängig von der gesellschaftlichen Machtverteilung, aufwertet: In der Opfergemeinschaft der Geschlechter müssen die Frauen anders als in der vornazistischen Zeit nicht mehr um Anerkennung gegenüber den Männern kämpfen, sondern üben unverzichtbare, den Männern gegenüber gleichwertige gesellschaftliche Funktionen aus. Wenn Hitler in der weiter oben bereits zitierten Rede auf dem Frauenkongress beim Reichsparteitag 1934, in der er von der »großen Welt« des Mannes und der »kleinen Welt« der Frau sprach, konstatierte, man habe dadurch »die neue nationalsozialistische Volksgemeinschaft gefestigt, daß wir in Millionen von Frauen treueste, fanatische Mitkämpferinnen erhielten, Kämpferinnen für das gemeinsame Leben im Dienste der gemeinsamen Lebenserhaltung«,34 dann ist das vor dem Hintergrund der Idee einer geschlechterintegrierenden Opfergemeinschaft widerspruchsfrei zu denken. »Das bedeutet mit der Übertragung heiligster und verantwortlichster Aufgaben die erstmalige restlose Eingliederung der Frau in die Rechte und Pflichten einer Volksgemeinschaft, in der nicht das Geschlecht den Wert der Persönlichkeit bestimmt, sondern allein der innere Wert des Menschen, d. h. die Treue und Gewissenhaftigkeit, mit der er sein Leben und die Aufgabe seines Lebens lebt«,35 so die bereits erwähnte Paula Siber. Die nationalsozialistischen Spielfilme sind in diesem Sinne ein Versprechen an das Publikum auf eine künftige »Volksgemeinschaft«, in der mit der Aufhebung von Klassen- und Standesunterschieden auch die Geschlechterdifferenzen aufgehoben sind. Welche Wirkung diese filmischen Volksgemeinschaftsmodelle auf die Zuschauerinnen und Zuschauer tatsächlich hatten, lässt sich im Nachhinein nur schwer bestimmen. Ob das Angebot einer geschlechterintegrierenden »Volksgemeinschaft« tatsächlich als positive Utopie verstanden wurde, ob dadurch zeitgenössische Ansprüche auf gesellschaftliche Gleichstellung relativiert oder ob die Filme lediglich über ihre konkreten Erzählungen wahrgenommen wurden und die subtile Propagandastrategie für eine nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« weitgehend ins Leere lief, lässt sich langfristig nur durch detaillierte Rezeptionsstudien klären, die noch nicht vorliegen. Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.

34 Rede Adolf Hitlers vor der NS -Frauenschaft im Rahmen des Reichsparteitags der NSDAP in Nürnberg am 8. 9. 1934, in: Benz (Hg.), Frauen (wie Anm. 11), S. 44. 35 Paula Siber, Die Frauenfrage und ihre Lösung durch den Nationalsozialismus, Berlin 1933, S. 27.

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Gu dru n Brock h aus

Die deutsche Mutter als Siegerin im Geschlechterkampf Subtexte in Johanna Haarers Ratgebern Die ab 1934 erscheinenden Pflege- und Erziehungstipps der überzeugten Nationalsozialistin Johanna Haarer belegen die weltanschauliche Durchdringung auch der privatesten Lebensbereiche. In der folgenden Untersuchung von Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (1934 ff.) sowie Unsere kleinen Kinder (1936 ff.) wird die Darstellung der Frauen- / Mutterrolle und des Geschlechterverhältnisses im Vordergrund stehen.1 Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind ist der auflagenstärkste Mütter-Ratgeber der NS -Zeit, er erzielte bis 1945 eine Auflage von 500.000, erreichte wegen der Verwendung in den Reichsmütterschulungskursen der NS -Frauenschaft jedoch eine weit größere Anzahl von Frauen.2 Nach 1945 wurden beide Haarer-Ratgeber – unverändert in Auf bau und Inhalt und lediglich um die explizit NS -propagandistischen Passagen gekürzt – wieder aufgelegt. Öffentlich wahrgenommen und diskutiert wurden die Ratgeber erst ab den späten achtziger Jahren. Dabei wurde die Schwarze Pädagogik der Bücher an den Pranger gestellt und skandalisiert, zumal Haarers Pflege- und Erziehungstipps als die reale Erziehungspraxis der NS - und westdeutschen Nachkriegszeit verstanden wurden. Die transgenerationale Weitergabe ihrer Erziehungsmaximen von Härte und Distanz habe sich destruktiv auf das Seelenleben und die Demokratiefähigkeit der Deutschen ausgewirkt, so etwa Ute Benz: An »der Härte als pathologischer Folge rigider Erziehung könnte es liegen, wenn die Fähigkeit zu trauern fehlt«.3 Von starken moralischen Werturteilen und Spekulationen blieben auch die wissenschaftlichen Arbeiten zu Haarer nicht frei, wenngleich sie wenigstens teilweise die eigenen Abgrenzungsbedürfnisse der Forscher und Forscherinnen gegenüber der NS -Erlebnisgeneration reflektieren.4 Der 1988 erschienenen, psychoanalytisch aus1 Johanna Haarer, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, München / Berlin 1938, 131.-160. Tsd. (268 Seiten, 58 Abbildungen). Zitiert wird – wenn nicht anders angegeben – aus dieser Auflage, die gegenüber dem Original von 1934 (244 Seiten, 47 Abbildungen) ergänzt (z. B. um die gesundheits- und familienpolitischen Maßnahmen und Gesetze des Regimes) und überarbeitet ist. Beide Ratgeber werden im Text zitiert, hier DM plus Seitenangabe; Johanna Haarer, Unsere kleinen Kinder, München / Berlin 1939, 50.-69. Tsd., 5. Auflage (273 Seiten, Original von 1936: 251 Seiten). Im Text zitiert kK plus Seitenangabe. 2 Vgl. Michaela Schmid, Erziehungsratgeber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine vergleichende Analyse, Berlin 2008, S. 112 f. 3 Ute Benz, Der Mythos von der guten Mutter. Zur Tradition der politischen Instrumentalisierung eines Ideals, in: Brigitte Rauschenbach (Hg.), Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Zur Psycho-Analyse deutscher Wenden, Berlin 1992, S. 148-156, hier: S. 154. 4 Oder auch die eigene familiale Nähe und die Frage, wieweit die eigene Erfahrung als Mutter oder als Kind nationalsozialistischer Eltern zu emotionalen Verzerrungen im Urteil über Haarer führt.

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gerichteten Haarer-Analyse von Benz folgte eine größere Anzahl von Analysen aus unterschiedlichen Disziplinen, sozialpsychologische, pädagogische oder historische Arbeiten,5 die teilweise die Analyse von Benz in spekulativer Weise verschärften und vereinseitigten.6 Am bekanntesten wurde der bindungstheoretische Ansatz von Sigrid Chamberlain.7 Die Sozialpädagogin und in ihrer Nachfolge der Historiker Gregor Dill gehen so weit, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind als eine von der NS Führung geplante Anleitung zur »Erziehung durch Bindungslosigkeit zu Bindungsunfähigkeit« zu interpretieren, die die ihr Unterworfenen dazu prädestinierte, in den NS -Massenorganisationen aufzugehen.8 Diese Sicht einer exklusiven Dämonie der nationalsozialistischen Pädagogik löst die Erziehungskonzepte aus ihren historischen Kontexten, während andere historische und soziologische Arbeiten Kontinuitäten zu früheren – bürgerlichen, preußischmilitaristischen – wie späteren Erziehungskonzepten nachweisen und gleichzeitig differenziert nach den möglicherweise NS -spezifischen Momenten der Haarer’schen Ratschläge fragen.9 In all diesen Arbeiten zu Haarer werden pädagogische Modelle diskutiert, während hier ein anderer, zeitlich und thematisch engerer Ansatz verfolgt wird. 5 Ute Benz, Brutstätten der Nation – »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« oder der anhaltende Erfolg eines Erziehungsbuches, in: Dachauer Hefte 4 (1988), S. 144-163. Sozialpsychologie: z. B. Gudrun Brockhaus, Lockung und Drohung – die Mutterrolle in zwei Ratgebern der NS -Zeit, in: Miriam Gebhardt / Clemens Wischermann (Hg.), Familiensozialisation seit 1933 – Verhandlungen über Kontinuität, Stuttgart 2007, S. 49-68; Pädagogik: z. B. Schmid, Erziehungsratgeber (wie Anm. 2), S. 111-143; Geschichtswissenschaft: z. B. Katharina Rowold, Johanna Haarer and Frederic Truby King: When is a Babycare Manual an Instrument of National Socialism? In: German History 31 (2013), S. 181-203. 6 Benz’ Überlegungen zu Haarer (Brutstätten, wie Anm. 5) sind trotz etlicher spekulativer Übergeneralisierungen bis heute mehr Kreativität und Differenziertheit zuzusprechen als den meisten Nachfolgestudien, die die Widersprüchlichkeit der Haarer’schen Botschaften nicht wiedergeben. Dies hat allerdings auch mit einem anderen methodischen Selbstverständnis z. B. bei Historikern zu tun, die eher auf die Eliminierung von Widersprüchen abzielen. 7 Sigrid Chamberlain, Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS Erziehungsbücher, Gießen 1997. 8 Chamberlain, Hitler (wie Anm. 7), S. 11; Gregor Dill, Nationalsozialistische Säuglingspflege. Eine frühe Erziehung zum Massenmenschen, Stuttgart 1999. Die Problematik dieser schlichten Ratgeber-Erziehungspraxis-Gleichsetzung (»Injektionsnadel«) diskutiert Markus HöfferMehlmer, Elternratgeber: Zur Geschichte eines Genres, Baltmannsweiler 2003, S. 34 f. 9 Gebhardt sieht die meisten Merkmale der Haarer’schen Erziehung »lange vor 1933 etabliert«, im Nationalsozialismus nur »auf die Spitze getrieben« und nach 1945 über Jahrzehnte weiter gültig: »Das Erfolgsgeheimnis des lang anhaltenden deutschen ›Sonderwegs‹ war die Deutung des Sozialisationsziels als ›Lebensbemeisterung‹.« Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, München 2009, S. 92 sowie S. 90 f. Zu Ähnlichkeiten zur Wilhelminischen Pädagogik vgl. Uta Ottmüller, Die medizinische Normierung der Säuglingspflege im deutschen Kaiserreich – »Gleichschaltung« der Mutter-Kind-Beziehung? In: Jahrbuch für Psychohistorische Forschung 7 (2006), S. 21-42. Schmid analysiert Erziehungsratgeber der Nachkriegszeit bis zu den 2000er Jahren und beginnt mit der Wiederauflage des Haarer-Ratgebers von 1949. Michaela Schmid, Erziehungsratgeber und Erziehungswissenschaft. Zur TheoriePraxis-Problematik populärpsychologischer Schriften, Bad Heilbrunn 2011, S. 92-101.

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Im Folgenden geht es um eine textimmanente Untersuchung der Haarer-Ratgeber in den Auflagen von 1938 (Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind) und 1939 (Unsere kleinen Kinder).10 Ein Vergleich mit den Auflagen der (Nach-)Kriegszeit kann ebenso wenig geleistet werden wie eine vergleichende Analyse unterschiedlicher Erziehungsratgeber vor, während und nach der NS -Zeit.11 Der Fokus liegt, entsprechend dem Thema unseres Bandes, auf der Charakterisierung der Mutter- / Frauenrolle und des Verhältnisses zwischen Mann und Frau. Die in den Ratgebern im Zentrum stehenden Erziehungs- und Pflegetipps werden thematisiert, soweit sich aus ihnen die zentralen Normen und Bewertungskriterien ablesen lassen, die das Geschlechterverhältnis bestimmen. Meine sozialpsychologische Perspektive richtet sich auf das emotionale Erlebnisangebot, das die Texte machen, und versucht, diese in den historischen Kontext des Mutterkultes und der Politisierung des Privaten und Familialen in der NS -Zeit zu setzen.12 Sind die Texte wirklich nur eine schlichte Übersetzung der propagandistisch geforderten Reduktion der Frau auf die Hausfrauen- und Mutterrolle und eine Affirmation der Geschlechterhierarchie?

1. Zur Inhärenz psychologischer Perspektiven in der NS -Ideologie Ein Mütterratgeber kann als interessante Quelle für die Untersuchung nationalsozialistischer Ideologieproduktion gelten.13 Damals zentrale Konzepte wie »Weltanschauung«, »Volksgemeinschaft«, »Reinigung des Volkskörpers«, Höherentwicklung der »arischen Rasse« etc. weiteten das Verständnis von Politik aus.14 Die Schaffung eines Neuen Menschen und dessen Charakterformung standen ganz oben auf der politi10 Unbearbeitet bleiben die – natürlich zentralen – Fragen nach der zeitgenössischen Rezeption, nach der Umsetzung der Haarer’schen Tipps in den Erziehungspraktiken, nach der Beziehung von Text und Person. Sehr interessant zur Biografie Haarers und ihrer Erziehungspraktiken: Johanna Haarer / Gertrud Haarer, Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind. Die Autobiografien der erfolgreichsten NS -Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter, Hannover 2012. 11 Haarer hat die einzelnen Auflagen auch schon während der NS -Zeit verändert und an aktuelle politische Entwicklungen angepasst. Schmid, Erziehungsratgeber (wie Anm. 2), S. 135-143, weist für die Nachkriegsauflagen von Haarer Kontinuitäten, vor allem jedoch eine zunehmende Liberalisierung der Erziehungstipps nach. 12 Bis heute wird immer wieder die Familie im Nationalsozialismus als Refugium und Rückzugsort vor dem aggressiven Zugriff des Regimes angesehen. Den Abwehrcharakter dieser Interpretation thematisiert Ralf Schoffit, »Viele liebe Grüße an meine Kinderle, sollen recht brav bleiben«. Väter und die Wahrnehmung der Vaterrolle im Spiegel von Feldpostbriefen 1939-1945, Tübingen 2009, S. 143 [https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/ handle/10900/47782/pdf/Dissertation_RALF_SCHOFFIT.pdf ?sequence=1 (letzter Zugriff: 30. 6. 2018)]. 13 Entsprechend einem Verständnis von »Ideologie« als einem weiten »Weltanschauungsfeld«, das nicht nur aus den programmatischen Texten ideologischer »Führer« besteht. Vgl. dazu die Einleitung in diesem Band. 14 Ute Benz, Brutstätten (wie Anm. 5), S. 148 f., sieht den Ratgeber mit Pflege- und Erziehungstipps als das »ideale Medium schlechthin zur Verknüpfung individueller und politischer Interessen«.

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schen Agenda. Explizit zeigt sich der Wandel in der Politisierung der Frauenrolle. Der Mutter und Hausfrau wird eine zentrale politische Bedeutung zuerkannt, wie Leonie Wagner ausführt: »Die in der bürgerlichen Tradition als privat geltenden Bereiche Ehe, Familie, Haushalt oder Mutterschaft werden in der nationalsozialistischen Ideologie als Teile des Politischen gefaßt.«15 NS -Politik schließt Körperpolitik, Psychopolitik ein.16 Haarer selbst thematisiert dieses erweiterte Verständnis von Politik, wenn sie das mangelnde »Verständnis für politische Angelegenheiten im engeren Sinne« (kK 245) beim Kleinkind anspricht, aber dennoch dezidiert dessen politische Erziehung für möglich hält, zum Beispiel durch beeindruckende sinnliche Erfahrungen: »Wir sahen schon des öfteren, wie die Arbeitsdienstmänner, die Soldaten, SA- und SS -Männer und die Hitlerjugend in ihren Uniformen die Anteilnahme der Kinder in hohem Maße erregen.« (kK 245) Politische Erziehung vollzieht sich auch durch das eigene Miterleben von Umzügen, Beflaggung, Radiosendungen sowie dadurch, dass das Kind die Beteiligung der Eltern daran erlebt. »Das Bild des Führers und der Männer um ihn begegnet ihnen in- und außerhalb des Elternhauses« (kK 245) und lehrt die Kinder die unterschiedslose Präsenz des Nationalsozialismus im Innen- wie Außenraum und die familiale Nähe zur Staatsführung.17 Vor allem aber vollzieht sich die politische Bildung als Charakterbildung, die, wie Haarer betont, auch in der staatlichen Erziehung an erster Stelle steht: »Schon in diesem frühen Alter können auch ihnen die Ziele unserer Staatsjugend anfangen, Richtschnur zu werden: Einordnung in die Gemeinschaft, Abstreifen aller Wehleidigkeit, Tapferkeit und Mut, Gehorsam und Disziplin kann man ohne Künstelei im Spielalter an die Kinder herantragen.« (kK 246) Diese Ziele sollen auch als familiale »Erziehungsideale« (kK 246) gelten. Diese Erziehungsideale sind Charaktereigenschaften, die man als klassisch kleinbürgerliche, als preußisch-soldatische oder als bürgerliche Sekundär-Tugenden bezeichnen kann.18 Till Kössler zeigt in seiner Arbeit über »faschistische Kindheitsentwürfe«, dass neben körperlicher Tüchtigkeit und Gesundheit den Charaktereigenschaften ein zentraler Stellenwert für die Realisierung der rassistischen und imperialen Ziele zugesprochen wird. Der faschistische Kindheitsentwurf, den er für Deutschland bei Haarer formuliert sieht, ist zentriert um die Merkmale »Gesundheit, Heroismus und Opfer«.19 Körper- wie Charakter15 Leonie Wagner, Nationalsozialistische Frauenansichten, Frankfurt a. M. 1996, S. 61. 16 Zur Analyse der körperpolitischen Aspekte bei Haarer vgl. Gudrun Brockhaus, »Dann bist du verloren, liebe Mutter!« Angst und Rassismus in NS -Elternratgebern, in: Paula Diehl (Hg.), Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen, München 2006, S. 33-50. 17 Katja Kosubek, »Genauso konsequent sozialistisch wie national«. Alte Kämpferinnen der NSDAP vor 1933, Göttingen 2017, beschreibt in ihrer Analyse der Abel Collection den herausragenden Stellenwert des emotionalen Miterlebens für die Hinwendung zum Nationalsozialismus bei den »Alten Kämpferinnen« (s. das Kapitel »Den Nationalsozialismus muß man erleben …« – Emotionale Motive, S. 232-277). 18 Auch aus diesem Grund wurde die NS -Spezifik der Haarer’schen Erziehungsmaximen infrage gestellt; vgl. Schmidt, Erziehungsratgeber (wie Anm. 2), S. 127. 19 Till Kössler, Die faschistische Kindheit, in: Meike Sophia Baader / Florian Eßer / Wolfgang

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schulung stehen dabei unter enormem Auslesedruck. Die Betonung des Erlebens, aber auch die Umformung psychologischer Merkmale (Charaktereigenschaften) zu politischen Zielformulierungen legen eine psychologische Perspektive auf die NS Texte besonders nahe.

2. Propagandaklischee und gegenläufiger Subtext: Geschlechterideologie bei Haarer Haarers Ratgeber sind geprägt durch sehr unterschiedliche Genretypiken und Sprachmodi: Zunächst werden Propagandaschriften zitiert, teilweise kaum veränderte Umformulierungen von Parteitagsreden Hitlers, Anrufungen der ewigen Naturgesetze, die das Wesen der Frau, des Mannes, der Rasse und des Volkes bestimmen. Diese Pathos-Formeln sind von der Ebene des Mütter-Alltags maximal weit entfernt, was Haarer selbst bewusst zu sein scheint: »Wir bitten die Mutter um Geduld, wenn ihre Aufmerksamkeit hie und da kurz auf Fragen von letztem weltanschaulichen Inhalt gelenkt wird.« (kK 6) Haarer fürchtet offenbar, dass ihre explizite NS -Propaganda eine abschreckende Wirkung haben könnte. Für diese Passagen des Buches verwendet Haarer eine Sprache voller Pathos. Vor der Drohkulisse der »riesenhaften Gefahr des Volkstodes« wird die Pflicht zu einer »heldische[n] Lebensauffassung, der Opferbringen und Für-andere-Leben eine Selbstverständlichkeit ist« (DM 8), beschworen. Wie ultimativ diese Forderungen sind, zeigt die druckvolle Anhäufung von »Muss«Formulierungen, Ausrufezeichen und Steigerungsformeln: »Die Zeit der Zwei-, Einund Keinkindehe muß überwunden werden um jeden Preis !« (DM 8) Derartige Passagen stehen in starkem Kontrast zu der einfachen, erfahrungsnahen und alltagstauglichen Sprache der Pflege- und Erziehungstipps. Haarer ist Lungenfachärztin, keine Intellektuelle und keine Kinderärztin oder -psychologin, sie verfügt über geringe fachliche Kompetenz und politische Bildung, wenngleich sie sich als überzeugte und begeisterte Fürsprecherin der nationalsozialistischen Gesundheits- und Familienpolitik erweist. Ihre Autorität und Expertise begründet sie mit ihrer eigenen Erfahrung als Mutter mehrerer Kinder:20 Als solche wendet sie sich an junge Frauen aller Schichten und bezieht diese durch die »Wir«Formulierung ihrer Ratgeber in die gemeinsame »Schicksalsverbundenheit« und »Kameradschaft« (DM 5) deutscher Mütter ein: »Die Verfasserin, selbst Hausfrau, Mutter und Ärztin, schreibt aufgrund persönlichster Erfahrungen und hat all die vielen Kleinigkeiten, die während der Schwangerschaft, Geburt und besonders bei der Versorgung des Kindes eine Rolle spielen, selbst ausprobiert.« (DM 7) Deswegen sind die Hunderte von Seiten der beiden Ratgeber angefüllt mit konkreten Schilderungen, die detailliert und präzise Anforderungen und Schwierigkeiten der Schwangerschaft, Geburt und »Aufzucht« von Kindern von null bis fünf Jahren aufgreifen. Eine genaue Lektüre des gesamten Textes zeigt, so werde ich im Weiteren argumentieren, dass die mit Verve und Pathos von Haarer verkündete Propaganda von Schröer (Hg.), Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt a. M. / New York 2014, S. 284-318, hier: S. 298-308. 20 Zwischen 1933 und 1942 bekommt Johanna Haarer fünf Kinder.

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Pflicht, Opfer und selbstloser Entsagung der Mutter bei der Produktion und Aufzucht möglichst vieler erbgesunder Kinder und die Propaganda der männlichen Dominanz in Staat und Gesellschaft in den konkreten Pflege- und Erziehungstipps durch gegenläufige Äußerungen kommentiert, ergänzt und bis in ihr Gegenteil verkehrt wird. Phantasien von Macht und Überlegenheit stehen neben Geboten selbstloser Opferbereitschaft, ohne dass der Widerspruch offengelegt wird. Innerhalb des Rahmens einer expliziten Unterwerfung unter Hierarchien und Exklusionsdrohungen werden die Schranken und Grenzen gedehnt, für die eigenen Bedürfnisse zurechtgebogen. Solche Umdeutungen und Einpassungen in die jeweils höchst unterschiedlichen Bedürfnislagen finden sich in allen Bereichen der nationalsozialistischen Gesellschaft, die Individuen bauen sich ein auf ihre persönliche Geschichte und Agenda hin angepasstes »Drittes Reich«: »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse.«21 Die mögliche Abweichung oder gar der Widerspruch der eigenen Ausdeutung zum eigentlichen Gehalt der NS -Vorgaben wird nicht wahrgenommen, jedenfalls nicht explizit formuliert. Über die individuelle Zurechtdeutung hinaus mag es auch kollektive Korrekturbedürfnisse gegeben haben: Die Rollenfestschreibung als Mütter verortete die Frauen ganz auf der Seite des Opferns, der Entsagung, der Pflichterfüllung, des Dienens und der Unterordnung. Psychologisch, d. h. von der Seite der Emotionen und Motive her betrachtet, stellte diese extreme Mangellage die NS -PropagandistInnen vor eine prekäre, fast unlösbare Aufgabe. Die bekannte Rede von Scholtz-Klink auf dem Nürnberger Parteitag von 1934 veranschaulicht dieses motivationale Dilemma. ScholtzKlink reiht eine »Die-deutsche-Frau-muß«-Formulierung an die andere und resümiert am Ende in deutlicher Hilflosigkeit: »Sie muß so sein, daß sie alles, was von ihr gefordert wird, gern tut.«22 Wie antworteten die propagandistischen Ratgeber von Johanna Haarer auf diese offenkundige Motivlücke? Um diese Frage zu beantworten, untersuche ich den gesamten Text mit Blick auf seine latenten Sinn- und Erlebnisangebote.

3. Hochgestimmter Ton: Aufwertung der Frau als Mutter Die Ratgeber sehen den gesamten öffentlichen Raum als unbestritten männlichen Herrschaftsbereich, propagieren die selbstverständliche Unterordnung der Frau unter den Mann, verorten den »Lebenszweck« (DM 11) der Frau einzig in ihrer Mutterschaft und einer von Verzicht und dem Opfer aller persönlichen Bedürfnisse getragenen »Aufzucht« möglichst vieler erbgesunder Kinder und lehnen die Berufstätigkeit und die Emanzipation der Frau vehement ab: »Mutterschaft und die Aufzucht ihrer Kinder. Dafür ist die Frau da.« (DM 11) Die reale NS -Politik zeigte in ihrer Geschlechterpolitik durchaus pragmatische Anpassungen an wirtschaftliche oder kriegsbedingte Erfordernisse.23 Für viele Mäd21 Janosch Steuwer, »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933-1939, Göttingen 2017. 22 Gertrud Scholtz-Klink, Meine lieben deutschen Menschen !, in: Reden an die deutsche Frau. Reichsparteitag, Nürnberg 1934, S. 15. 23 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Elizabeth Harvey, Geschlechterordnung und

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chen und Frauen eröffneten sich in Jugend- und Frauenorganisationen, im Arbeitsdienst und in neuen beruflichen Feldern während des Krieges Handlungsräume außerhalb der Familie. Jüngst zeigte etwa Katja Kosubek die aktive Aneignung von Männerdomänen bei den »Alten Kämpferinnen«.24 In der Partei existierten relativ unterschiedliche Auffassungen über die Position der Frau in der Gesellschaft. Dagegen vertritt Haarer die Position einer eindeutigen Polarität und Hierarchie im Geschlechterverhältnis. Diese hatte Hitler 1934 in einer Rede vor der NS -Frauenschaft in Nürnberg ausformuliert, Haarer bezieht sich mehrfach auf die Rede und übernimmt Formulierungen. Ausgangspunkt bei Hitler ist die Abwehr weiblicher Angriffe auf früher exklusive Bastionen männlicher Macht: »Wir empfinden es nicht als richtig, wenn das Weib in die Welt des Mannes […] eindringt, sondern wir empfinden es als natürlich, wenn die beiden Welten geschieden bleiben.« Hitler stellt klar: Die Welt des Mannes ist der Staat und sein Einsatz für die Gemeinschaft. Gegenüber dieser »größeren Welt« des Mannes ist die um ihren »Mann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Haus« zentrierte Welt der Frau die »kleinere Welt«: »Die Vorsehung hat der Frau die Sorgen [sic!] um diese ihre eigenste Welt zugewiesen«, das ist ihr Lebensinhalt.25 Die Frau wird an ihren »kleineren« Platz unten in der Hierarchie verwiesen. Hitler spricht das Dilemma dieser Platzierung an: Die »größere Welt« baut auf dem Funktionieren der »kleineren« auf, deshalb muss sichergestellt werden, dass die Frauen zu einer sicheren und tragenden Motivation finden, diesen unteren und gesellschaftlich unsichtbaren Platz in der Hierarchie auch einnehmen zu wollen: »Wo wäre aber die größere Welt, wenn niemand die kleine Welt betreuen wollte? Wie könnte die größere Welt bestehen, wenn niemand die kleinere zu seinem Lebensinhalt machen wollte?«26 Es ist notwendig, die Frauenrolle propagandistisch aufzuwerten. Die bitteren Pillen der Reduktion der Frau auf Gebärpflicht, Sorge für Mann und Kinder und Unterordnung in der natürlichen Hierarchie der »Volksgemeinschaft« müssen durch selbstwertsteigernde Angebote versüßt werden. So wird die »kleinere Welt der Frau« überhöht und idealisiert, und die Rolle der Mutter symbolisch bis hin zu einer kultischen Verehrung der Frau als Mutter aufgewertet.27 Kindergebären und -aufziehen wird zu einem heldenhaften Kampf für das »Sein oder Nichtsein ihres Volkes«28 stilisiert.

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»Volksgemeinschaft« im Nationalsozialismus, in: Winfried Nerdinger (Hg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS -Dokumentationszentrums München, München 2015, S. 490-496. Kosubek, Kämpferinnen (wie Anm. 17), S. 193. Adolf Hitler, Rede an die NS -Frauenschaft am 8. 9. 1934 in Nürnberg, zit. nach Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen, 1932-1945. Bd. I: Triumph, erster Halbband, 19321934, 4. Aufl., Leonberg 1988, S. 450 f. Ebd., S. 450. Der Nationalsozialismus gab »unserem Volk das hohe, aller Zukunft mächtige Bild der Mutter«. Lydia Ganzer-Gottschewski, zit. nach Ilse Erika Korotin, »Am Muttergeist soll die Welt genesen«. Philosophische Dispositionen zum Frauenbild im Nationalsozialismus, Wien / Köln / Weimar 1992, S. 199. Hitler, Rede (wie Anm. 25), S. 450.

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Haarer schließt sich der hymnischen Feier der Frau als Mutter an, auch sie überhöht sie zur Erlöserin, die das deutsche Volk vor dem drohenden Volkstod rettet. »Die riesenhaften Anstrengungen unseres Führers Adolf Hitler […] zur Rettung des Vaterlandes« können nur gelingen, wenn die Frauen Deutschland – »heute vergreist, überaltert und auf dem Weg des Aussterbens« – erlösen: »Die Rettung der Nation und der Rasse ist gelegt in die Hände der Frauen.« (DM 1934, 8)29 Deshalb kommt der Frau als Mutter ein höherer Wert zu als dem Mann, denn sie sorgt für die Unvergänglichkeit von Volk und Rasse. Eine die Mutterschaft bejahende Frau ist bei Haarer die mutige Revolutionärin, die im Unterschied zu den feigen und rassefremden Kinderfeinden der »jüngst vergangenen Zeit« über eine »heldische Lebensauffassung« (DM 8) verfügt und eine weltumstürzende Bewegung voranträgt. Gerade in der Beschränkung der Frau auf die Familienarbeit liegt die revolutionäre Entwicklung: »Eine ungeheure weltanschauliche Wandlung vollzieht sich zur Zeit in unserem Volk. Neue Pflichten, neue Verantwortung warten auf jeden.« (DM 8) Für die Frauen stellt sich nun das Gebären und das Heranziehen von Kindern als »neue Pflicht« (DM 8). In diesem Verständnis von Mutterschaft wird das Gebären und Aufziehen der Kinder von einem privaten Anliegen zu einer unmittelbar politisch-völkischen Aufgabe, die Frau ist entlassen aus ihrer persönlichen Abhängigkeit vom Mann und muss sich nur noch gegenüber der »Volksgemeinschaft« und dem »Führer« verantworten.

4. Haarers Haushalt: Die Frau und »ihre eigenste Welt« Die Frau wird durch ihre Stilisierung zur geheiligten Mutter auf ein Podest gehoben, das hoch über den Niederungen des Mütter-Alltags steht. Während bei Hitler und bei den NS -Propagandistinnen die Äußerungen auf dieser Tremolo-Ebene verharren, bleibt diese bei Johanna Haarer die Ausnahme. Haarer betont vielmehr die reale Aufwertung der Rolle der Frauen, die über die Symbolpolitik des NS -Mutterkultes hinausgeht: »Die Mutterschaft wird endlich wieder als höchstes Ziel der Frau hingestellt. Diese Gesinnung wird in die Tat umgesetzt, der Staat läßt dem werdenden Leben und seiner Trägerin entscheidende Hilfe zuteil werden.« (DM 26) Haarer listet sodann alle staatlichen Maßnahmen im Einzelnen auf und preist ihre Vorzüge für die Frauen. Der hohe Ton, das salbadernde Pathos der Mütter-Feiern verbergen eben nur unzureichend, dass hier die Frauen-Rolle ausschließlich auf Verzicht, Dienen, Unterordnung und Opferbereitschaft ausgelegt ist. Wie gezeigt, nutzt auch Haarer die Opfer- und Pflichtrhetorik – die Frauen als Mütter glänzen als selbstlose Idealistinnen. Aber Haarer beschreibt in ihren Ratgebern Mutterschaft auch und vor allem als eine realistische, alltägliche Möglichkeit zur Machtausübung. Diese Argumentation 29 Diese Zitate entstammen der ersten Auflage von 1934 und sind in der hier verwendeten Auflage von 1938 nicht mehr enthalten. Auch wenn »die riesenhafte Gefahr des Volkstodes […] nicht endgültig gebannt« sei, konstatiert Haarer 1938 in der Zunahme der Geburtenziffern einen »entscheidenden Wandel« (DM 8).

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baut auf der Segregation der zwei Welten von Mann und Frau auf: Beide Geschlechter kämpfen quasi unabhängig voneinander in ihren Welten für das gemeinsame Ziel: die rassereine »Volksgemeinschaft«. Hitler beschreibt das Verhältnis dieser Welten zueinander als harmonische Ergänzung: »Das ist ja das Wunderbare in der Natur und Vorsehung, daß kein Konflikt der beiden Geschlechter unter- und nebeneinander möglich ist, solange jeder Teil die ihm von Natur vorgezeichnete Aufgabe erfüllt.«30 Die Konkurrenz zwischen Mann und Frau wird gegenstandslos, wenn die unterschiedlichen Lebensräume und die »natürliche« Aufgabenteilung der Geschlechter anerkannt werden. Haarer beruft sich immer wieder auf die Naturgesetze und reklamiert Haushalt und Familie als den von der Natur vorgegebenen Herrschaftsbereich der Frau. Hier wird die Hitler’sche Formulierung der »eigensten Welt« wörtlich genommen: Wenn Vorsehung und Natur Haushalt und Familie zur einzigen weiblichen Bestimmung gemacht haben, dann gehört diese Welt der Frau eben auch ganz und gar. Mit diesem Machtversprechen der Familienarbeit wirbt Haarer auch ganz offen, zum Beispiel in ihrem Plädoyer gegen die weibliche Berufstätigkeit. Niemals könne die Ausübung eines Berufes einen solchen Zuwachs an Bedeutung, Selbstbestimmung und Wertschätzung erbringen wie die Mutterschaft: »Die Familie muß wieder ganz und gar zur Hauptsache unseres Lebens, besonders für uns Frauen werden […]. Vorüber sind die Zeiten, da es Auseinandersetzungen geben konnte darüber, wo eine Frau hingehöre, ob in den Beruf oder die Familie […]. Täuschen wir uns darüber nicht: Als Arbeiterinnen sind wir ersetzbar, einerlei ob wir in der Fabrik, in Haus- und Landwirtschaft, in Kunst oder Wissenschaft tätig sind. Die Welt geht weiter und entbehrt nicht viel, wenn eine unserer Leistungen ungetan bleibt, auch der bedeutendsten unter uns. Als Mütter und Frauen aber in unserem Heim, bei unseren Kindern – da sind wir unersetzlich, auch die unscheinbarste unter uns, die durchschnittlichste […].«31 Nur als Mutter ist die Frau unangefochten unentbehrlich.32 Für ihre Kinder, die sie brauchen und emotional von ihr abhängen, hat sie eine einzigartige Bedeutung. In ihren konkreten Ratschlägen für die Mütter entfernt Haarer sich von der Selbstaufopferung der Frau und ihrer dienenden Rolle, gerade indem sie das Label der entsagungsvollen Familienarbeiterin für sich nutzt: »Alle wahre Arbeit und Leistung beginnt und endigt in der Familie.«33 Keinesfalls aber soll die Mutter nur für die Kinder da sein: Es sei »kein erstrebenswertes Ziel, nur und ausschließlich den Kindern zu leben« und ihnen dabei die fatale 30 Hitler, Rede (wie Anm. 25), S. 450. Dort heißt es auch: »Die beiden Welten stehen sich daher nie entgegen. Sie ergänzen sich gegenseitig […].« 31 Johanna Haarer in NS -Frauenwarte 1938, 4, S. 98 f., zit. nach Karin Fontaine, Nationalsozialistische Aktivistinnen (1933-1945), Würzburg 2003, S. 73. Haarer hat ihre Ablehnung der Berufstätigkeit der Frau nach 1945 weiter vertreten. Johanna Haarer, Unsere Schulkinder, München 1955, S. 7. 32 Johanna Haarer in NS -Frauenwarte 1938, 4, S. 98 f., zit. nach Fontaine, Aktivistinnen (wie Anm. 31), S. 73. 33 Ebd.

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Botschaft zu übermitteln: »Du hast doch den lieben langen Tag nichts zu tun als für mich da zu sein.« (kK 124) Ein großer Teil ihrer Erziehungsratschläge für ein rigides Zeitregime, ein frühes Sauberkeitstraining, für die Trennung von Mutter und Kind, unbedingten Gehorsam und die Maximen »Keine Nachgiebigkeit !«, »Nicht zu viel Beachtung!« und »Nicht zu viel Bedauern!« (DM 260) dienen vordringlich dem Ziel, die zeitliche und emotionale Belastung der Mutter durch Kinder zu verringern. Die Frau schafft es allein Für Haarer leistet die Frau mit ihrer Haushaltsführung einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Volkswirtschaft, sie setzt Prinzipien des sparsamen Wirtschaftens, der Suche nach Ersatz für Import-Produkte und der Beförderung einer deutschen Autarkie, der möglichst weitgehenden Selbstversorgung um. Haarers detaillierte Anleitungen zum Basteln, Handwerken, Nähen, Stricken, Konservieren laufen auf größtmögliche Selbstständigkeit der Frau hinaus – was geht, stellt die Frau selber her. Auch Geburtsvorbereitung und alle anfallenden Arbeiten bei Ernährung, Pflege, Bekleidung und Sauberkeitstraining der Babys und Kleinkinder sind Sache der Frau. Ihre Zuständigkeit für den arbeitsintensiven Alltag ist so selbstverständlich, dass eine Information oder mögliche Beteiligung der Männer nicht einmal in Erwägung gezogen wird. Über Pflege, Ernährung, Schlafrhythmen vollziehen sich bereits zentrale Erziehungsschritte. Die Mutter muss bedenken, »daß die Erziehung des Kindes unmittelbar nach der Geburt zu beginnen hat« (DM 104). Den Pflegetipps gelten in der Deutschen Mutter, die sich mit dem ersten Lebensjahr befasst, 150 Seiten, nur die letzten knapp neun Seiten sind explizit Erziehungsfragen gewidmet. Und auch hier gilt: »Ihr Kind zu erziehen, ist für die Mutter eine ebenso selbstverständliche und naturgewollte Aufgabe wie seine Ernährung und Pflege. Sie ist […] seine ihm vorbestimmte Erzieherin. Sie muß immer danach trachten, die Führung zu behalten.« (DM 258) Die Familienarbeit ist »Hoheitsgebiet der Frau und Mutter« (kK 5). Der Mann: vor allem ein Störenfried Wie wird in den Haarer-Ratgebern die Rolle des Mannes und Vaters in der Familie beschrieben? Schmidt kommt in ihrer Analyse zu dem Ergebnis: »Dem Mann und Vater kommt in ihren Büchern keinerlei Bedeutung zu.«34 Das stimmt nicht, aber richtig ist, dass dem Vater keine eigenständige Rolle oder Aufgabe bei der Familienarbeit zuerkannt wird. Er bekommt kaum Platz zugemessen, zumindest nicht in Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, hier wird der Mann und Vater höchstens am Rande erwähnt. Welche Merkmale und Eigenschaften werden ihm hier zugeschrieben? Und was lässt sich aus seinen Kurzauftritten für die Charakterisierung der Beziehung von Mann und Frau entnehmen? Offensichtlich folgen die kursorischen 34 Schmid, Erziehungsratgeber (wie Anm. 9), S. 114; ähnlich Ute Benz, Frühe Kindheit im Nationalsozialismus. Der Mythos Mutter und seine Folgen, in: psychosozial 14 (1991), H. 47, S. 30-42, hier: S. 33.

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Erwähnungen keinem Plan, keiner bestimmten Absicht – im Gegenteil scheinen sie die offizielle Botschaft der Überlegenheit und Bedeutsamkeit des Mannes, die auch Haarer verbreiten will, ungewollt zu unterlaufen. In der Beschreibung der Schwangerschaft, des Umgangs mit den körperlichen und seelischen Veränderungen, in der Vorbereitung auf die Pflege und Unterbringung des Kindes (DM 11-83) tritt der Mann nicht auf, nicht einmal in der vielleicht doch naheliegenden Rolle bei der Geburtsvorbereitung. Die Frau übernimmt die gesamte Organisation in alleiniger Verantwortung: Sie entscheidet über Hausgeburt oder Klinik, überprüft und wählt die Helfer (Hebamme und Arzt), organisiert den Transport in die Klinik durch Nachbarn oder Sanitätswagen und denkt darüber hinaus »selbstverständlich auch an die Versorgung ihres Hausstandes und ihres Mannes während ihrer Abwesenheit« (DM 82). Hier findet der Mann Erwähnung in jener passiven Rolle, die er durch die beiden Bände hindurch immer wieder spielt: Er hat einen Anspruch auf Ernährung und Versorgung. Seine Bedürfnisse haben Priorität und müssen erfüllt werden, auch in den ungelegensten Situationen. Zudem sind seine Wünsche als berufstätiger Mann den Erfordernissen von Schwangerschaft und Geburt, Pflege, Ernährung und Kindererziehung entgegengesetzt. Auf diese Weise bildet sich ein Muster: Der Mann stört den Erziehungsvorgang mit seinen Wünschen nach Bedürfnisbefriedigung. Etwa bei den ersten, aber entscheidenden »Kraftproben zwischen Mutter und Kind«, wenn die Gefahr besteht, den Nachwuchs durch Nachgiebigkeit zu verziehen – »und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig« (DM 165). Gerade dann kommt der Mann nach Hause, verlangt ein pünktliches Abendessen, fordert seine nächtliche Ruhe – »und mein Mann braucht seine Ruhe!« (DM 166) – und konterkariert damit die Erziehungsanstrengungen der Mutter. Mit seinen unbedachten Aktionen kann er sogar die Gesundheit der Kinder gefährden, zum Beispiel wenn er Dreck in die Kinderstube trägt (kK 53) oder im Kinderzimmer raucht. Sehr von oben herab heißt es: »Ein wirklich guter und besorgter Vater wird in dem Zimmer, in dem sein Kind untergebracht ist, das Rauchen selbstverständlich unterlassen. Das tut auch seiner Gesundheit und dem Geldbeutel gut.« (DM 170) Ebenso kann der Mann für die Frau zu einer Gefahr werden, wenn er die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse einfordert: »Der Geschlechtsverkehr wirkt der Richtung der natürlichen Absonderung entgegen. Es werden dabei immer Keime in die Scheide eingeschleppt.« Die gesundheitliche Gefährdung kann sich zu einer tödlichen Bedrohung für die Frau steigern, wenn der Mann auf dem Geschlechtsverkehr besteht: »[K]urz vor der Entbindung eingebracht, können sie [die Keime] […] eine unheilvolle Rolle spielen.« (DM 74) Die Mutter muss Glück haben: »Wie weit die idealste Lösung, nämlich völlige Enthaltsamkeit« während der gesamten Schwangerschaft und Stillzeit durchsetzbar ist, »hängt natürlich von der Einsicht, Rücksichtnahme und geschlechtlichen Veranlagung des Ehemannes ab« (DM 16). Der Ehemann findet auch unter der Überschrift »Hindernisse bei der Entbindung« Erwähnung. Bei der Geburt weiß er nicht, was er mit sich anfangen soll: Er ist überflüssig und im Weg. Der Mann »hat dann gleichfalls seinen schweren Tag. […] Er weiß vielfach nicht recht, wo er bleiben soll. Tatkräftige Hebammen wollen ihn in 55

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der Wochenstube nicht sehen und schieben ihn hinaus. […] In untätigem Warten verstreichen ihm langsam die Stunden« – bis vielleicht die Frau nach ihm verlangt, die »Halt in seinen kräftigen Armen« sucht. Aber häufig wird sie enttäuscht, weil sie erleben muss, dass »das Miterleben auch einer normalen Geburt über die Kraft mancher Männer geht« (DM 96). Oft genug halten die Männer die Konfrontation mit dem Wehenschmerz nicht aus und verlangen einzugreifen, »zu handeln um jeden Preis. Besonders leicht pflegt der Ehemann, der derartiges zum ersten Mal miterlebt, den Kopf zu verlieren. Es ist daraus schon manches schwere Unheil für Mutter und Kind entstanden.« (DM 95) Der Mann steht für Schmutz, Keime, Unordnung und Irregularität, die die hygienische, natürliche Ordnung außer Kraft setzen können, wenn sie sich im Innern ausbreiten. Das Problem für die Frau ist, dass sie nicht über Machtmittel verfügt, den Mann in die Schranken zu weisen. Wie das Kind tritt der Mann ihr mit seinen Forderungen nach Bedürfnisbefriedigung entgegen, aber im Unterschied zum Kind kann sie ihn nicht unnachgiebig auf Gehorsam verpflichten und ist auf seine Einsicht angewiesen. In Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind ist klar: Der Mann wird gebraucht als Begatter. Pflege und Erziehung sind alleinige Sache der Frau – der Mann hat darin keinen Platz. Wenn er auftritt, stört er, und seine Abwesenheit oder wenigstens Anspruchslosigkeit scheint das Einzige zu sein, was sich die Frau von ihm wünscht. Dagegen wird dem Vater in Unsere kleinen Kinder mit einigem Pathos Bedeutung und Kompetenz zugeschrieben: »Das Kind braucht von Anfang an nicht nur die Mutter, nein es braucht ebenso den Vater.« (kK 122) So wie die »natürliche[n] Fähigkeiten für diesen ihren eigentlichen Beruf« bei der Frau sind auch »im Manne« »väterliche Begabungen und Instinkte nicht weniger rege. Auch er ist dem Kind aufs engste verbunden.« (kK 123) Auf eine Konkretisierung oder Beispiele für diese postulierte Begabung und enge Verbindung wartet man jedoch vergeblich. Es folgen nur zwei weitere Postulate: »Vor allem für die sittliche Erziehung des Kindes ist der Vater unersetzlich. Er scheint in noch höherem Maße als die Frau Vorbild zu sein.« (kK 123) Diese Vorbildfunktion des Vaters wird aber schon relativiert durch die Formulierung »es scheint«, und im Folgenden bleibt es bei dieser Behauptung – keine einzige Schilderung veranschaulicht die enge Bindung oder moralische Vorbildwirkung des Vaters. Selbst von einem direkten Kontakt zwischen Vater und Kind ist außerordentlich selten die Rede. Noch an einer weiteren Stelle findet sich eine pompöse Deklaration der Unentbehrlichkeit einer väterlichen Beteiligung an der Erziehung – ein Zugeständnis, dem nur wenige Zeilen später die Klarstellung folgt: »Überhaupt soll eben das kleine Kind von rechtswegen von einem Menschen betreut und erzogen werden – natürlich von der Mutter.« (kK 201) Die vorherige Zuschreibung einer gleichwertigen Bedeutung von Vater und Mutter wird hier aufgelöst in eine Zu- und Hilfsarbeiterrolle des Vaters: »Die rechte Mutter erzieht ihr Kind – […] der Vater unterstützt sie und hilft dabei, soviel in seiner Macht und Zeit steht.« (kK 201) Aber auch diese unterstützende und helfende Rolle nimmt der Vater in den vielfältigen Beschreibungen von Alltagssituationen mit dem Kind, die ein erzieherisches Eingreifen erforderlich machen, an keiner Stelle plastisch ein. Der Vater ist vor allem der Abwesende. 56

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In einer interessanten Volte verortet Haarer nun gerade die Abwesenheit des Vaters zu seinem zentralen Erziehungsbeitrag als Vater: »Auch im Umgang mit dem Vater fordern wir von unserem Kind bestimmte Rücksichten. Schon frühzeitig kann man von ihnen Verständnis für seine Leistung und seine selbstlose Arbeit für die ganze Familie wecken. […] wenn er abends wiederkommt, wie müde er dann ist […]. Kleinen Kindern leuchtet schon ein, daß dann im Hause keine Unordnung herrschen, kein Mißmut, Ungehorsam oder Streit sich breit machen dürfen. Auf diese Weise wird der Vater auch während seiner Abwesenheit zum Erzieher seiner Kinder.« (kK 247) Und auch in dem einzigen Beispiel, bei dem das Subordinationsverhältnis der Frau gegenüber dem Mann angesprochen wird, benutzt es die Mutter als Erziehungsmittel, um das Kind Gehorsam zu lehren; sie zeigt ihm, »dass die Mutter […] ihre Meinung der des Vaters unterordnet« (kK 236). Die postulierten »väterlichen Instinkte« werden nirgendwo belegt, im Gegenteil seine geringere Einfühlungsfähigkeit konstatiert: Der Frau liegt »die Fähigkeit, das Kind und seine Welt zu verstehen […] im allgemeinen näher als dem Manne« (kK 135). Oder die Männer stellen sich geradewegs als völlig inkompetent bei der Kindererziehung heraus, zum Beispiel mit ihrer häufigen Neigung, Kinder zu belügen (kK 263) oder sie zu bedrohen: »Besonders Männer wissen oft mit kleinen Kindern gar nichts anderes anzufangen, als ihnen die unmöglichsten Dinge anzukündigen, wie Ohrenabschneiden, Ins-Wasser-Werfen usw.« (kK 198) Die Männer haben sich nie von solchen infantilen Angeberposen emanzipiert, wie auch ihre kindliche Begeisterung für Militärspielzeug zeigt.35 Auch im Kleinkindalter tritt der Mann als Störenfried auf und torpediert die Erziehungsanstrengungen der Mutter.36 Mehr noch: Weil Männer unverantwortlich sind, weil sie nicht an die Folgen ihres Handelns denken, sind sie Kindern gleich, deren wesentlichstes Merkmal ihre Unvernunft ist. Auf diese Weise wird der Vater / Mann in den Alltagsbeschreibungen der Ratgeber infantilisiert und damit rundum entwertet. Als anwesender Vater ist er ein Versager, er stört, erschwert oder gefährdet die Erziehungsanstrengungen der Mutter. Ein guter Vater ist er nur dann, wenn er nicht zu Hause ist. Das Paar Aber auch als Ehemann, auf den sich sexuelles Begehren, Wünsche nach Zärtlichkeit oder Austausch richten könnten, ist der Mann nicht existent. Die unmissverständlichste Formulierung, die den Ton für die in den beiden Ratgebern durchgängige Abwertung des Mannes als Mann angibt, findet sich gleich zu Beginn: »Die Frau hat nur einmal im Leben einen entscheidenden Einfluß darauf, wie ihre Kinder geartet 35 »Militärspielzeug wie Soldaten, Kanonen und Kriegsmaterial aller Art […], vor denen dann auch noch erwachsene Männer gebannt zu stehen pflegen.« (kK 218) 36 Die Mutter kämpft mit dem Kind z. B., »wenn der kleine Nichtsnutz vor seinem Mittagessen sitzt, […] ausspuckt, sich besudelt« und die Mutter ruhig bleiben muss trotz der Sorge, »der Mann könnte bald kommen« (kK 170).

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sein werden: Zu dem Zeitpunkt nämlich, da sie sich ihren Gatten, ihren künftigen Kindern also den Vater wählt.« (DM 16) Die Frau trifft die Wahl, und sie wählt nicht den Mann, sondern den Begatter. Die extrem kühle und rein funktionale Sichtung und Prüfung des Mannes in seiner Eignung als Spender erbgesunden Samens wird im Verlauf der Texte niemals durch wärmere, intimere, persönlichere Äußerungen zum Ehemann ergänzt werden. Auch die wenigen Bemerkungen Haarers zur Rolle als Ehefrau reduzieren die Bedeutung der Beziehung zwischen Mann und Frau auf die Bereitschaft zur Fortpflanzung. Um diese zu sichern, muss die Frau bei aller vehementen Ablehnung von Eitelkeit darauf achten, sich nicht gehen zu lassen, sich nicht zu vernachlässigen,37 um nicht »abstoßend zu wirken«: »Es ist Pflicht jeder Frau, ihr Äußeres so vorteilhaft wie möglich zu gestalten.« (DM 105) Sexualität wird durchweg negativ bewertet – auch bei den Kindern, wo Selbstbefriedigung als »schlechte Angewohnheit« (kK 266) abgetan wird, die »dem Kinde unter Anrufung seines Ehrgefühls (›Große Kinder tun so etwas nicht !‹) wieder« abgewöhnt wird (kK 267). Leider geht das beim Mann nicht. Haarer betont mehrfach die harmonische Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau. Sie sollen sich einig sein und nicht streiten. Die Beziehung des Paares wird jedoch ausschließlich auf ihre Funktion für die Kindererziehung hin gesehen: Das Paar soll dem Kind gegenüber eine einheitliche Front bilden. Ein Kontakt zwischen Mann und Frau, der nicht auf Kinderproduktion und -aufzucht bezogen ist, kommt in den Ratgebern nicht vor. Nach außen hin folgen die Haarer’schen Ratgeber einem konservativ-bürgerlichen Ehe- und Familienmodell. Genauer betrachtet jedoch buchstabieren sie die destruktiven Folgen der Idealisierung von Mutterschaft für die Institutionen Familie, Ehe und die klassische Männerrolle aus, wie Vinken ausführt: »Mutterschaft, von Sexualität geläutert, wurde aus der Institution Familie gelöst und zum Ideal erhoben. Die Institution der Ehe spielte keine Rolle mehr. Die Rolle des Vaters schrumpfte auf die des erbgesunden und rassisch reinen Begatters und, wenn möglich, Ernährers.«38 Die Frau kennt keine Sexualität, keine Erotik, als Geliebte und Ehefrau löst sie sich vollständig in der Mutterschaft auf: »Das Kind war keine Folge von Geschlechtsverkehr, sondern Ziel, Sinn und Zweck dieses Aktes.«39 Im Mutterkult und dem Zwei-Welten-Modell verschwindet der Mann aus dem familialen Raum und versinkt in die Bedeutungslosigkeit. In den Alltagsbeschreibungen Haarers findet sich eine Fülle von Abwertungen des Mannes in seiner Rolle als Ehemann und Vater. Was ist der Grund dafür, dass er klein und lächerlich gemacht, für inkompetent erklärt und der Verachtung preisgegeben wird? Das Ausmaß und die Konsistenz der Entwertung, der Überschuss von negativen Affekten den Männern gegenüber erklärt sich, so argumentiere ich im letzten Teil, daraus, dass Haarer dem Modell der sauber segregierten Geschlechter-Welten in einem ganz wesentlichen 37 Vgl. DM 58. 38 Barbara Vinken, Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos, München / Zürich 2002, S. 278. 39 Ebd., S. 279.

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Aspekt nicht folgt: Sie stellt vielmehr den Anspruch, denselben soldatisch-kriegerischen Wertekosmos wie die Männer zu vertreten, und steht deshalb von vornherein nicht in einem komplementären, sondern in einem kompetitiven Verhältnis des Vergleichs und der Konkurrenz. Kampf und Krieg als geschlechterübergreifender Werthorizont Haarer nutzt die vermeintlich natürliche Geschlechterpolarität und -segregation, um Haushalt und Familie als Herrschaftsgebiet der Frau zu proklamieren. Aber sie folgt nicht der Zuschreibung einer Hilfsfunktion der Frau für den Mann, wie sie Hitler der Frau als »treuester Mithelferin« in seiner Zwei-Welten-Rede zugewiesen hatte: Frauen waren »treueste fanatische Mitkämpferinnen«, »unerschütterlich treu«: »Sie müssen in diesem Ringen […] die Ergänzung des Mannes sein.«40 So eifrig Haarer sonst Hitler-Zitate aufnimmt, wenn sie auf die Aufwertung der Frau abzielen, so wenig findet sich diese Zuordnung der Frau als treue Gehilfin oder die Rede von ihrer »kleineren Welt« in den Ratgebern. Haarer folgt in keiner Weise den polarisierenden Geschlechterstereotypen, in denen ihr wieder nur eine ergänzende Rolle zugeschrieben wird, wie auch von Hitler: Die Frau habe »zu allen Zeiten ergänzend auf den Geist des Mannes eingewirkt«. Zur Welt des Mannes, so Hitler, »gehört die Kraft des Sehens, die Kraft der Härte, der Entschlüsse und die Einsatzwilligkeit«. Zur Welt der Frau, der »Welt des Gefühls«, gehört »die Kraft des Gemütes, die Kraft der Seele«.41 Die Frau arbeitet dem Mann zu »in ewig geduldiger Hingabe, in ewig geduldigem Leid und Ertragen«.42 Diese Eigenschaftszuschreibungen an die Frau sind ziemlich exakt das genaue Gegenteil dessen, was die Mutter bei Haarer ausmacht. Haarers Schilderungen von Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung machen deutlich, dass das Leben Kampf und Krieg ist und jederzeit Kampfbereitschaft, Härte, Misstrauen, Durchsetzungskraft und Gewöhnung an Schmerz und Ungerechtigkeit erfordert. Die Erziehung muss zum Ziel haben, die Kinder für diesen Kampf tauglich zu machen, eine »Lebensbemeisterung«43 zu erreichen. Das Erzählen von Märchen (»die vielen Grausamkeiten, die in den Märchen vorkommen […], die ›kleineren‹ Ungeheuerlichkeiten wie daß die Eltern von Hänsel und Gretel diese […] verstoßen wollen, damit sie ihnen nichts mehr zu essen zu geben brauchen« [kK 226 f.]) bereiten auf diese Welt des Kampfes ebenso vor wie das Aufwachsen in einer großen Geschwistergruppe, in der sich oft die Stärkeren durchsetzen: »Nicht immer triumphiert auf diese Weise die Gerechtigkeit, sondern Freud und Leid werden gar willkürlich verteilt. Aber was schadet das? Es ist ein Abbild des Lebens im kleinen, eine Vorbereitung auf die Gemeinschaft in und nach der Schule.« (kK 248 f.) Insgesamt müsse das Kind lernen, »körperlich wie seelisch auch einen Stoß zu vertragen« (kK 249). 40 41 42 43

Hitler, Rede (wie Anm. 25), S. 449-452. Ebd., S. 450. Ebd., S. 451. Gebhardt, Angst (wie Anm. 9), S. 92.

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Mutterschaft als Kampf Schon während der Schwangerschaft reiht sich die Frau in die Front der Kämpfenden ein. Sie nimmt teil an dem »groß angelegten Feldzug unserer Staatsführung« (DM 7) durch ihren »Gang an die Front der Mütter unseres Volkes« (DM 5). Erfolgt der Vergleich des an die Kriegsfront versetzten Soldaten mit der schwangeren Frau hier noch eher indirekt, so wird wenige Zeilen später die unter Lebensgefahr gebärende Frau mit dem Soldaten unmittelbar gleichgesetzt.44 Diese Linie, die Mann und Frau gleichermaßen auf dem Schlachtfeld für das Überleben des Volkes sieht, übernimmt Haarer von Hitler: »Was der Mann an Opfern bringt im Ringen seines Volkes, bringt die Frau an Opfern im Ringen um die Erhaltung dieses Volkes […]. Jedes Kind, das sie zur Welt bringt, ist eine Schlacht, die sie besteht für das Sein oder Nichtsein ihres Volkes.«45 Haarer bemüht in ihrer Gleichsetzung von soldatischem und mütterlichem Todesmut die Autorität der deutschen Klassiker und betont die Öffnung des Soldatisch-Kriegerischen als Kampffeld für die Frauen im Nationalsozialismus: »Zu jeder Zeit ist das Mutterwerden verglichen worden mit den höchsten Tugenden des Mannes, der in den Tagen schwerster Not mit Einsatz des eigenen Lebens Volk und Heimat verteidigt. Das unsterbliche Freiheitslied Schillers, sonst nur von Männern und für Männer gesungen, gewinnt […] für uns Frauen eine neue tiefe Bedeutung: ›Und setzet ihr nicht das Leben ein, Nie wird euch das Leben gewonnen sein!‹« (DM 5) Haarer stellt die existenziellen Bedrohungen von Schwangerschaft, Geburt, Stillen und Ernährung des Kindes heraus, welche die Mutter in einen unablässigen Kampfmodus, in eine »Dauermobilisierung«46 versetzen. Die Geburt selbst wird als Kampf beschrieben, die Gebärende mit dem verletzten Soldaten gleichgestellt: »Aber nicht ohne Wunden ist die Frau aus dem Kampf hervorgegangen und ebenso wie jeder andere Verwundete braucht sie völlige Schonung und aufmerksame Pflege.« (DM 97) Die Kriegs-, Kampf- und Schlachtmetaphern ziehen sich als Leitmotiv durch die Bücher, denn nicht nur die Geburt, auch die »Aufzucht« des Kindes ist ein unaufhörlicher Kampf, bei dem die Mutter niemals nachlassen darf. Überall lauern Gefahren, bedrohen das Kind und die Mutter: Keime, unerkannte Krankheiten, »Nährschäden«, die »Todesgefahr« (DM 176) bedeuten, verwöhnende Großmütter, unfähige Ehemänner. Die Mutter ist daher zur Gegenwehr gezwungen, sie führt »den Kampf gegen die natürliche Unsauberkeit des Kindes« (kK 46). »Nimm jeden Kampf mit zärtlichen Verwandten […] auf. Verteidige die richtige […] Erziehung […] jederzeit mit Löwenmut!« (kK 172) 44 Die Militarisierung von Mutterschaft zeigte sich auch an der Einführung des »Ehrenkreuzes der Deutschen Mutter« im Dezember 1938, also nach dem Erscheinen von Haarers Ratgeber 1938. Zur Ambivalenz dieser »einem Kriegsorden gleichkommenden nationalen Auszeichnung« vgl. Irmgard Weyrather, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die »deutsche Mutter« im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2015 [zuerst 1993], S. 7. 45 Hitler, Rede (wie Anm. 25), S. 451. 46 Vinken, Mutter (wie Anm. 38), S. 280.

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Das größte Kampfgebiet ist die Beziehung zum Kind selbst, in der es »sehr früh schon zu förmlichen Kraftproben zwischen Mutter und Kind kommt. Sie in der richtigen Weise zu bestehen, ist das Geheimnis aller Erziehung.« (DM 237)47 Denn das Kind ist gierig, unstet, kennt keinen Ekel, ist unvernünftig, aber schlau, und nutzt jede Schwäche der Mutter gnadenlos aus – »sonst schlägt es schlau und berechnend seinen Vorteil daraus« (kK 193). Jede Stellung, die die Mutter nicht von Anfang an und mit allen Mitteln verteidigt hat, besetzt es sofort mit seinen tyrannischen Ansprüchen, seinem überbordenden Egoismus und schrankenlosen Machtstreben; es raubt der Mutter ihren Lebensraum, »die Mutter reibt sich auf« (kK 180): »Nur ja keine Schwäche, kein langes Zögern! Kinder merken dies mit tausend feinen Sinnen – und dann bist Du verloren, liebe Mutter!« (kK 176) In vielfältigen Variationen wird dieses Bedrohungsszenario entfaltet: Wenn sich die Mutter gutmütig, liebevoll, zärtlich, mitfühlend, nachgiebig verhält, kommt es mit ungeheurer Geschwindigkeit zu fatalen Entwicklungen, dann »vergrößern sich die Schwierigkeiten […] wie eine Lawine, bis sie […] das Familienleben zu zerstören drohen« (kK 167). Die zentralen weiblichen Eigenschaften von »ewig geduldiger Hingabe, […] ewig geduldigem Leiden und Ertragen«, mit denen Hitler die mütterliche Arbeit charakterisierte, führen geradewegs in den Untergang: »Da ist Mutterliebe und Zärtlichkeit fehl am Platze.« (DM 224) Die Mutter muss um ihr eigenes Überleben kämpfen. Es gibt nur den Sieg als möglichen, nicht katastrophalen Ausgang des Kampfes. Die Mutter als überlegene Soldatin und Feldherrin Für diesen dauernden Kampf muss die Mutter sich rüsten und ihre Waffen im Erziehungskampf gezielt und strategisch einsetzen. Vor allem darf sie sich niemals unsicher oder weich zeigen, so rechtfertigt Haarer auch körperliche Gewalt in der Erziehung: Schläge sind immer noch besser, als sich dem Kind schwach und hilflos zu präsentieren.48 »Hier, liebe Mutter hilft nichts als Rückgrat haben und abwehren.« (kK 34) Sie darf ihr Pulver nicht zu früh verschießen. Immer wieder heißt es: »Hier darf es aber keine Nachgiebigkeit geben.« (DM 210) Sie muss »alle Willenskraft zusammennehmen« (DM 166), »dann, liebe Mutter, werde hart !« (DM 165) Sie muss »fest, sicher und entschlossen« (kK 176) sein, »unerbittlich« (kK 170). Die Mutter muss ihre Affekte umfassend kontrollieren und beherrschen und darf sich niemals gehen lassen. Hier häufen sich die militärischen Begriffe. Jetzt wird deutlich, warum die Frau »Mut zum Kind« benötigt, warum es eine »heldische Lebensauffassung« voraussetzt, Kinder zu haben und aufzuziehen (DM 8). Die heroische Deutung der Mutterschaft durchzieht die Texte. Die Mutter ist aber nicht nur die Soldatin, die tapfer, mutig und beherrscht Schmerz und Angst unterdrückt und sich gehorsam diszipliniert ver47 »Gar nicht selten spielen sich regelrechte, aufreibende Kämpfe darum ab.« (kK 182) 48 »Ein paar Schläge zur rechten Zeit scheinen uns weit weniger schädlich als das Kind merken zu lassen, daß es die Mutter endlos auf die Probe stellen, quälen und schließlich rat- und hilflos machen kann.« (kK 197)

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hält. Mehr noch ist sie die Feldherrin, an deren Führungsqualitäten sich ihr Schicksal und das ihrer Familie entscheidet, »die Mutter muß von vornherein trachten, die Führung nicht aus der Hand zu geben« (DM 226). Die potenziellen Mitkombattanten auf dem pädagogischen Schlachtfeld – Väter, Kindergärtnerinnen, pädagogische Experten – sind Konkurrenten, die die mütterliche Führungshoheit bedrohen und aus dem Feld geschlagen werden müssen. Die Geschlechterpolarisierung hatte ermöglicht, dem Konkurrenzkampf mit dem Mann auszuweichen, indem die Frau ein anderes Spielfeld für sich reklamierte: die Familie. In Bezug auf die zentralen Wertvorstellungen macht Haarer jedoch diese Ausweichbewegung nicht mit. Sie versteht die Frau nicht als eine Helferin des Mannes in seinem Kampf, die sich seiner überlegenen soldatischen Männlichkeit unterzuordnen hat. Die Frau beansprucht ein eigenes, vom Mann ganz unabhängiges und für das Überleben des Volkes wichtigeres Kampffeld, auf dem sie sich als heldische Feldherrin beweisen muss. In Bezug auf ihre kämpferischen soldatischen Fähigkeiten setzt sie sich damit in ein direktes Vergleichs- und Konkurrenzverhältnis zu den Männern. Bei der Prüfung soldatischer Tugenden schneiden die Frauen in allen wichtigen Kategorien besser ab. Die Männer sind bequem und haben kindliche Wünsche nach mütterlicher Versorgung und Spielzeug. Sie gefährden mit Dreck und Rauchen die Gesundheit ihrer Kinder und mit ungezügelten sexuellen Begierden die Gesundheit und das Leben der Mutter. Sie erschweren der Mutter die notwendige Konsequenz und Härte in der Erziehungsarbeit, können weniger Schmerzen aushalten49 und sind Belastungen nicht gewachsen. Durch ihre Kopflosigkeit und ihre Neigung zu Panik konterkarieren sie die Kaltblütigkeit und Besonnenheit der Frau in schweren Zeiten. Wegen ihrer Infantilität und Triebhaftigkeit erweisen sich die Männer im Leistungskampf als durchweg unterlegen: Frauen sind die besseren Soldaten. Und außerdem: Die Männer sind Soldaten nur in Kriegszeiten, die Frauen aber gehen jeden Tag an ihre »Front der Mütter« (DM 5).

5. Schluss: Weibliche Solidargemeinschaft als Ausweg? Der propagierte gemeinschaftliche Kampf für das Volk in den getrennten Welten von Mann und Frau verwandelt sich in den Wettbewerb um die bessere Realisierung der kriegerischen Heldentugenden. Die Geschlechter scheinen gar gegeneinander zu stehen. Haarer rühmt auf der ersten Seite unter dem Titel »An die deutsche Frau!« die »Schicksalsverbundenheit« der werdenden Mütter, in der »kein Unterschied mehr zwischen arm und reich, Städterin oder Bäuerin, Arbeiterin oder Bürgerin« besteht und »vor dem Schicksal alle gleich« sind (DM 5). »Die große und immer wieder beglückende Kameradschaft der Mütter – sie ist da!« (DM 5), als ganz reale Erfahrung von Anteilnahme, Hilfe und Rat in der Schwangerschaft.

49 Zur Schmerztoleranz: »Sie hält in dieser Beziehung durchschnittlich viel mehr aus als der Mann.« (DM 86)

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Dies bleibt jedoch der einzige Appell an und Bezug auf konkrete Frauensolidarität, es gibt keine plastischen Beispiele für das Zusammensein mit anderen Frauen. Viele Beispiele veranschaulichen hingegen die Konkurrenz zwischen Müttern (zum Beispiel bei der Sauberkeitserziehung), den erbitterten Kampf zwischen den Generationen aufgrund wechselseitiger Vorwürfe (die moderne deutsche Mutter zeiht die Großmütter der Verwöhnung, die Großmütter werfen umgekehrt der deutschen Mutter Herzlosigkeit vor). Wie die Männer, wie die – womöglich fremdrassigen – Psychologen sind andere Frauen vor allem Störquellen, die die Mutter verunsichern könnten. Mit ihrer Solidarität ist keinesfalls zu rechnen. »Wer hilft Dir und ihm, wenn es [das Kind] allmählich blaß und schwächlich wird […], wenn es hoffnungslos verzogen ist?«, weil man auf die Ratschläge anderer gehört und versäumt hat, die »richtige Ernährung und Erziehung« gegen Einmischung zu verteidigen. »Dann ist von jenen zärtlich besorgten Seelen bestimmt keine zu sehen – sie waschen ihre Hände in Unschuld.« (kK 172) Die Mutter muss sich von der Einflussnahme des Vaters, der professionellen Pädagogen, der Großmütter, aller anderen Frauen und überhaupt jedem anderen Einfluss freimachen, denn sie allein wird verantwortlich gemacht für alle »charakterliche[n] Mängel oder Fehler im Benehmen« (DM 262) des Kindes. Also muss sie allein entscheiden. Es geht um viel, um »das hohe Ziel« der Aufzucht eines »gesunden, geistig und körperlich wertvollen Geschlechtes« (DM 7), das »zäh verteidigt werden [muss] gegen alles Krankhafte und Niedergehende« (DM 7). Alles und alle – der Mann, die Kinder, die Mutter selber – werden auf einer omnipräsenten Skala von Wert, Minderwertigkeit, Unwert eingeordnet. Das gilt schon für die Auswahl des Ehemannes (DM 16) und auch für die Entscheidung zu einer Abtreibung, die das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses den Frauen zur Seite stellt: »[…] das nationalsozialistische Reich […] will junges Leben erhalten und fördern mit allen Mitteln – aber nicht wahllos und gleichmacherisch, sondern möglichst unter Auslese des Wertvollen und Gesunden und unter Ausmerzung des Kranken.« (DM 27)50 Die Mutter steht unter großem Druck und muss sich für ein Scheitern verantworten beziehungsweise die Konsequenzen allein tragen. Trotz der Rede von der harmonischen Einbettung in die »Volksgemeinschaft« und der »Solidaritätshymne« auf die Frauenkameradschaft waren »die Frauen in Wirklichkeit einsam«51 und werden bei Haarer einem enormen Perfektionsdruck ausgesetzt. Die deutsche Mutter hat sich in ziemlich eisige und einsame Höhen hinaufgeschraubt, in denen bei Nichterfüllung der unerbittlichen Leistungsforderungen ein tiefer Absturz droht.

50 Weyrather, Muttertag (wie Anm. 44), v. a. S. 55-130, beschäftigt sich ausführlich mit der Auslese-Seite des Mutterkultes. 51 Benz, Brutstätten (wie Anm. 5), S. 144.

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Gewinner und Verliererinnen Geschlechterrelationen in der nationalsozialistischen Scheidungspraxis Elisabeth und Erwin Kupferschmidt stehen vor den Scherben ihrer Ehe. Fünf Jahre sind der erfolgreiche Arzt und seine Frau, die seit Kurzem als Modejournalistin tätig ist, verheiratet. Nun wollen sie sich trennen, ohne Streit, ohne Vorwürfe, einvernehmlich. Ihre jeweiligen Affären waren nur Symptome eines grundlegenden Fremdseins, das wissen beide und wollen sich deren intime Details deshalb auch nicht gegenseitig vor Gericht vorhalten müssen. Sie möchten lieber nachsichtig sein mit sich und dem anderen, denn schließlich ist keine Beziehung davor gefeit, zu scheitern: »Alles auf der Welt will gelernt sein […], warum soll gerade so etwas Schwieriges wie die Ehe beim ersten Anhieb gelingen?«1 Die Scheidung der Kupferschmidts ist der Fluchtpunkt des Romans Morgen um Neun der 1893 als Tochter eines jüdischen Kaufmanns in Wien geborenen Schriftstellerin Gina Kaus. Das Buch, das 1932 im Ullstein Verlag erschien, war Kaus’ vierter Roman. Sie hatte bisher schon mehrere Dramen verfasst, als Feuilletonistin für verschiedene Zeitungen gearbeitet und 1924 die Frauenzeitschrift Die Mutter ins Leben gerufen.2 In Morgen um Neun griff Kaus nun in Romanform auf, womit sie sich bereits essayistisch und kulturwissenschaftlich intensiv beschäftigt hatte: die kontrovers geführte Debatte um das Institut der Ehe, um Frauenrechte und Geschlechterrollen.3 In der Auseinandersetzung der Kupferschmidts mit ihrer gescheiterten Beziehung arbeitete Kaus ihre Wahrnehmung gesellschaftlicher Realitäten aus, die von einem pragmatischen, sachlichen Verhältnis zu partnerschaftlichen Beziehungen geprägt war: »Man heiratet im Vertrauen auf die leichte Lösbarkeit der modernen Ehen«,4 lässt sie eine ihrer Figuren nonchalant feststellen. Der Unterhaltungsroman verweist auf einige zentrale Aspekte des realen Ehe- und Scheidungsdiskurses der 1920er und 1930er Jahre, in dem es vor allem um die Legitimität von Trennungsgründen, um die Gewichtung der Schuldfrage und um Unterhaltsbemessungen ging. Bei Kaus erscheint die Scheidung selbst als beinahe banaler Akt, nicht viel mehr als ein lästiger, kurzer Gerichtstermin. Diese Verkürzung der gewöhnlich meist langwierigen Modalitäten eines Scheidungsverfahrens mag dem theatralisch-humoristischen Zuschnitt des Romans geschuldet sein. Gleichzeitig spielt 1 Gina Kaus, Morgen um Neun. Roman. Originalgetreuer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1932, Hildesheim 2008, S. 161. 2 Hartmut Vollmer, Gina Kaus, in: Andreas B. Kilcher (Hg.), Metzlers Lexikon der deutschjüdischen Literatur, Stuttgart / Weimar 2000, S. 301-303. 3 Gina Kaus, Die Kameradschaftsehe [1928], in: dies., Heute wie gestern. Gebrochene Herzen – Moderne Frauen – Mutige Kinder. Kleine Prosa, hg. von Veronika Hofeneder, Hildesheim 2013, S. 97-100; Gina Kaus, Ohnmächtiger Protest [1931], in: ebd., S. 283 f. 4 Kaus, Morgen (wie Anm. 1), S. 142.

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es in Kaus’ Erzählung eine bedeutende Rolle, dass eine Scheidung zur Handlungszeit formaljuristisch nur nach der expliziten Feststellung der Schuld am Scheitern der Ehe erfolgen konnte. Wie im deutschen Rechtssystem basierte auch in Österreich das Scheidungsrecht Anfang der 1930er Jahre auf dem sogenannten Verschuldensprinzip.5 Einvernehmliche Scheidungen wegen sogenannter Zerrüttung und ohne einen Schuldnachweis waren nicht möglich. Daher erklärt sich in der fiktiven Geschichte der Kupferschmidts Ehemann Erwin bereit, seine langjährige Affäre zu gestehen und die Schuld an der Entfremdung auf sich zu nehmen. Er will damit Elisabeth auch davor schützen, als »schuldhaft« geschiedene Ehefrau ins finanzielle und gesellschaftliche Abseits zu geraten. Darin scheinen die wirtschaftlichen und rechtlichen Nachteile durch, unter denen vor allem die getrennten Ehefrauen im geltenden Scheidungsrecht zu leiden hatten. Wie zu zeigen sein wird, räumte das nationalsozialistische Scheidungsrecht diese Nachteile keineswegs aus, sondern verhalf ihnen gar zu neuer Legitimation. Der Roman spiegelte den liberalen Zeitgeist eines großstädtisch-künstlerischen Milieus wider und stammte von einer Autorin mit jüdischen Wurzeln – nach der nationalsozialistischen Machtübernahme stand er damit zwangsläufig auf der Schwarzen Liste »undeutscher« Literatur. Sämtliche Schriften Gina Kaus’ wurden indiziert und im Mai 1933 in Berlin öffentlich verbrannt.6 Ihre Prosa, vor allem Morgen um Neun, galt in nationalsozialistischer Lesart als »dekadent«, beschrieb sie doch einen leichtfertigen Umgang mit Treue und die Flüchtigkeit menschlicher Beziehungen. Dabei war der Scheidungsroman vielmehr ein Plädoyer für ein modernes Eheverständnis, das die gegenseitige Wertschätzung der Partner in den Mittelpunkt stellte, auf eine wachsende weibliche Souveränität hinwies und sich nicht mit der Vorstellung aufhielt, eine Ehe sei eine formale, unlösbare Bindung. Morgen um Neun fiel der nationalsozialistischen Zensur zum Opfer – gleichzeitig stellte das darin verhandelte Eheverständnis einen Kern der Rechtsdebatten dar, die unter nationalsozialistischer Führung lebhaft geführt wurden und 1938 zu einer umfassenden Novelle des Ehe- und Scheidungsrechts führten. Der folgende Beitrag will zunächst einen kurzen Überblick über die nationalsozialistische Reform des Ehe- und Scheidungsrechts sowie über deren Motive geben und anschließend anhand der Auswertung exemplarischer Scheidungsverfahren die konkrete Scheidungspraxis untersuchen. Erkenntnisleitend wird dabei nach der Gestaltung und Verhandlung der Geschlechterrelationen gefragt. Wie definierten Scheidungsgegner und Scheidungsrichter die Geschlechterrollen im ehelichen Verhältnis? Welche Erwartungen wurden an das jeweilige Verhalten der Ehepartner gestellt und welche Konsequenzen aus etwaig geschlechtsspezifischen »Verfehlungen« gezogen? Wie identifizierten die Gerichte in der alltäglichen Aushandlung das »Wesen der 5 Als Handlungsort des Romans wird zwar Wien angedeutet, auf Spezifika des österreichischen Scheidungsrechts wird allerdings nicht eingegangen. Es unterschied sich bis 1938 vom deutschen Scheidungsrecht hauptsächlich darin, dass katholisch geschlossene Ehen gerichtlich nicht geschieden werden konnten, sondern lediglich eine Trennung von Tisch und Bett erfolgte. 6 Vgl. Volker Weidermann, Das Buch der verbrannten Bücher, Köln 2008, S. 75-77.

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Ehe« in einem Rechtssystem, für das die »Volksgemeinschaft« und die »erbgesunde Familie« die wichtigsten Bezugspunkte waren? Was war das Spezifische am nationalsozialistischen Scheidungsrecht und (wie) verhalf ihm die Rechtsprechung zu juristischer Realität? Die Quellenbasis dafür bildet vor allem die systematische Auswertung der 722 erhaltenen Akten der Scheidungsverfahren, die zwischen 1933 und 1945 am Landgericht München anhängig waren: Die überlieferten Scheidungsverfahrensakten des Landgerichts München 1933-19457 1933

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Die Münchner Überlieferungsstatistik verzeichnet eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Verfahren für das Jahr 1939. Hierin spiegelt sich durchaus wider, dass die NS -Reform des Scheidungsrechts reichsweit tatsächlich einen leichten Scheidungsboom zur Folge hatte.8 Ergänzend und vergleichend werden Scheidungsverfahren, die im Untersuchungszeitraum vor dem Landgericht Hamburg verhandelt wurden, herangezogen.9

1. Nützlich oder zerrüttet? Ehe und Familie im NS -Recht Das NS -Regime befasste sich mit dem Scheidungsrecht schon seit der Machtübernahme, novellierte es aber erst 1938. Zunächst nahm es die Anpassung des Eheschließungsrechts an seine völkisch-»rassenhygienischen« Staatsziele in Angriff. Gleich mehrere der bevölkerungspolitischen Gesetze aus der Anfangsphase des Regimes griffen grundstürzend in die Ehe und die familiäre Lebensführung ein: Das Gesetz zur 7 Damit ist nur etwa knapp ein Fünftel der tatsächlich zwischen 1933 und 1945 am Landgericht München verhandelten Scheidungsverfahren erhalten. Die beträchtlichen Überlieferungsverluste hängen mit archivalischen Regelungen zur Aufbewahrung personenbezogener Unterlagen zusammen. 8 Vgl. Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794-1945. Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive, Göttingen 1987, S. 210 f.; Michelle Mouton, From Nurturing the Nation to Purifying the Volk. Weimar and Nazi Family Policy, 1918-1945, Cambridge / New York 2007, S. 98. Allerdings ist der hohe Wert wahrscheinlich auch darauf zurückzuführen, dass bewusst mehr Verfahren aus dem Jahr 1939 überliefert wurden, um die rechtspraktischen Auswirkungen der NS -Scheidungsreform abbilden zu können. 9 Der Beitrag stützt sich auf Teilergebnisse einer Studie zur nationalsozialistischen Zivil- und Strafrechtspraxis, die im Rahmen des Forschungsclusters »Das Private im Nationalsozialismus« am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin entstanden ist. Im Rahmen der Studie wurden neben Münchner Scheidungsprozessen die Scheidungsverfahren der Landgerichte Hamburg und Berlin stichprobenhaft ausgewertet. Vgl. Annemone Christians, Das Private vor Gericht. Verhandlungen des Eigenen im Zivil- und Strafrecht 1933-1945, München u. a. 2019 (in Vorbereitung).

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Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom Juli 193310 schränkte die Partnerwahl derjenigen, die nach dem Gesetz als »erbkrank« stigmatisiert waren, drastisch ein und verbot ihnen das Kinderkriegen.11 Zwei Jahre später folgte die Nazifizierung der Ehe: Das sogenannte Blutschutzgesetz erklärte Eheschließungen zwischen deutschen Reichsbürgern und Juden – denen dieser Status mittels des gleichzeitig erlassenen Reichsbürgergesetzes aberkannt wurde – für rechtswidrig und bereits bestehende Ehen für nichtig. Mit dem Ehegesundheitsgesetz kriminalisierte das Regime dann im Oktober 1935 die Eheschließung zwischen »erbgesunden« und vermeintlich »erbkranken« Partnern im Sinne des GzVeN.12 In den Anfangsjahren des Regimes erfolgten also die »ersten bedeutsamen Schritte […], um die Ehe als völkisches Institut endgültig aus der Ebene des Privatrechts, in das sie bis dahin noch weitgehend eingegliedert war, herauszuheben und sie der Erhaltung der Lebenskräfte der Nation dienstbar zu machen«.13 Eine Neuregelung der Scheidungsregeln erschien trotz der virulenten Debatten in den vorangegangenen Jahren zunächst weniger vordringlich, außerdem standen sich gegensätzliche Positionen gegenüber.14 Katalysiert durch die Annexion Österreichs 1938, fanden die Akademie für Deutsches Recht und das Reichsjustizministerium zu einem Kompromiss, der in ein neues »großdeutsches Eherecht« mündete.15 Erlassen am 6. Juli 1938, führte es in Österreich erstmals die faktische Scheidung einer katholisch geschlossenen Ehe ein, aber auch im Deutschen Reichsgebiet begann damit eine neue Phase in der rechtlichen Beurteilung der Ehe, respektive ihrer Lösung.16 Der lange schwelende Konflikt um die schuldlos und objektiv zerrüttete und deshalb lösbare Ehe wurde dabei im nationalsozialistischen Sinn befriedet. Bei aller Ablehnung der aus liberal-individualistischer Anschauung geforderten Scheidungs10 RGBl. I, 1933, S. 529-531. 11 Vgl. zu den Eheverboten durch das GzVeN und zur Einführung der sogenannten Ehetauglichkeitszeugnisse u. a. Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weilheim 1991, S. 62-99; Annemone Christians, Amtsgewalt und Volksgesundheit. Das öffentliche Gesundheitswesen im nationalsozialistischen München, Göttingen 2013, S. 152-161. 12 Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz) vom 18. 10. 1935, RGBl. I, 1935, S. 1246. 13 Heinrich Anz, Eheschließung, Ehenichtigkeit und Eheaufhebung nach dem Gesetz vom 6. Juli 1938, in: Juristische Wochenschrift 67 (1938), H. 33 /34, S. 2069-2071, hier: S. 2069. 14 Michael Humphrey, Die Weimarer Reformdiskussion über das Ehescheidungsrecht und das Zerrüttungsprinzip, Göttingen 2006, S. 286. 15 Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. 7. 1938, RGBl. I, 1938, S. 807-823. 16 Unter den zahlreichen Fachaufsätzen und -publikationen zum Erlass des neuen Gesetzes seien exemplarisch genannt: Roland Freisler, Vom alten zum neuen Ehescheidungsrecht, Berlin 1937; Hans Ficker, Das Ehegesetz vom 6. Juli 1938. Zur Methode des Gesetzes, in: Juristische Wochenschrift 67 (1938), H. 33 /34, S. 2065-2069; Ernst Ludwig Rexroth, Das neue Recht der Ehescheidung, in: ebd., S. 2080-2095.

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erleichterung bot die Einführung des Zerrüttungsgrundsatzes nämlich einen entscheidenden Vorteil für die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik: Das Zerrüttungsprinzip – entsprechend ausgelegt – half dabei, staatlich missbilligte Ehen zu scheiden. Insgesamt erfolgte im neuen Eherecht zwar eine deutliche Verlagerung hin zu einem relativen Verschuldensprinzip, es wurde aber nicht gänzlich vom Zerrüttungsgrundsatz abgelöst. Die Verschuldenstatbestände wurden jedoch begrenzt. Außer der Verweigerung der Fortpflanzung galten nun nur noch der Ehebruch und die sogenannte schwere Eheverfehlung als schuldhafte Tatbestände (§§ 47-49 des Ehegesetzes). Ausführlicher führte das Gesetz Tatbestände an, die, ohne dass einer der beiden Partner eine explizite Schuld daran tragen musste, zur Entfremdung der Eheleute geführt hatten (§§ 50-55 des Ehegesetzes). Völlig neuartig in seiner Formulierung war dabei Paragraf 55 des Gesetzes, der die »Auflösung der häuslichen Gemeinschaft« als Zerrüttungsgrund definierte. Der gemeinsame Hausstand musste dafür nachgewiesenermaßen länger als drei Jahre aufgehoben sein. Mit der »modern« und relativ wertneutral angelegten »Zerrüttungsscheidung« aus den Rechtsdebatten der Weimarer Zeit hatte die Anwendung des nationalsozialistisch eingeführten Zerrüttungsparagrafen nicht mehr viel zu tun. Wie zu zeigen sein wird, verzerrte die NS -Rechtspraxis den Grundgedanken der schuldlosen Scheidung hingegen massiv: Die Eherechtsnovelle erweiterte das Scheidungsrecht, und das vor allem, um Ehen beenden zu können, die aus »rassenhygienischen« Gründen oder wegen Kinderlosigkeit nicht mehr im »volksgemeinschaftlichen Interesse« waren. Gleichzeitig räumte die Novelle nun auch Ehepartnern, die aus anderen, eigennützigen Motiven ihre Ehe lösen wollten, grundsätzlich ein Scheidungsrecht ein. Michelle Mouton hat in ihrer instruktiven Studie zur NS -Familienpolitik herausgearbeitet, dass das Regime diese neue Freiheit durchaus bewusst gewährte – allerdings vor allem Männern, wenn deren individueller Scheidungswunsch sich nicht mit der staatlich vorgeschriebenen »Volksgemeinschafts«-Maxime überkreuzte. Diese faktische Modernisierung habe, so Mouton, anhaltend mit der nationalsozialistischen Staatsräson in Konflikt gestanden, ein traditionelles, im Kern bürgerliches Familien- und Rollenmodell zu wahren und wertzuschätzen.17 Praktisch ermöglichte das neue Recht durch den Zerrüttungstatbestand beides: Eine Ehe konnte durchaus wegen subjektiv gefühlter Entfremdung geschieden werden, die zum Beispiel dazu geführt hatte, das persönliche Glück in einer neuen Partnerschaft zu suchen. Ebenso konnte sich ein Scheidungsurteil auf die Feststellung einer objektiven Zerrüttung stützen, wenn das eheliche Verhältnis vom Gericht als ineffektiv oder gar destruktiv für das »Volksgemeinschaftswohl« wahrgenommen wurde. Rechtstheoretisch tendierte das vom NS -Gesetzgeber eingeführte Zerrüttungsmotiv in Abgrenzung zu seiner Lesart in der Weimarer Diskussion zur zweiten Auslegung, also zur objektiven Zerrüttung. Nicht der Wille des / r Ehegatten sollte entscheidend für eine Trennung sein – dem Trennungswunsch beziehungsweise dem Einverständnis sollte nur eine indizielle Bedeutung zukommen.18 Doch das neue Ehe17 Mouton, Nurturing (wie Anm. 8), S. 87. 18 Humphrey, Reformdiskussion (wie Anm. 14), S. 178.

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gesetz hatte scheidungsbegrenzende Kautelen eingeschrieben bekommen. Im Fall des Widerspruchs gegen ein Scheidungsbegehren wegen Zerrüttung musste das Scheidungsgericht nämlich prüfen, ob dieser Widerspruch als beachtlich gelten konnte. Er konnte die Scheidung verhindern, wenn das Gericht die Eheauflösung für den trennungsunwilligen Partner für unzumutbar hielt. Hier spielten die Opfer, die dieser in der Ehe gebracht hatte, eine große Rolle – in den überwiegenden Fällen betraf dies verlassene Ehefrauen, die in langen Ehejahren mehrere Kinder geboren oder ihre Jugendjahre mit ihrem Mann verbracht hatten und nun im fortgeschrittenen Alter waren.19 Bei aller formaljuristischen Wertschätzung für die weiblichen Opfer offenbarte das nationalsozialistisch gefasste Zerrüttungsprinzip bald nach seiner Einführung, dass es die weibliche Position im Scheidungsverfahren deutlich schwächte – zumal wenn gegen den Willen der Frau geschieden werden sollte. Dass das Prinzip nicht gänzlich zur »Frauenfalle« degenerierte, wie Dirk Blasius pointiert formulierte,20 hing mit den traditionsverhafteten Verhaltensweisen der Scheidungsjustiz zusammen. Es gab, wie der Reichsjustizminister, die unterschiedlichen Äußerungen zusammenfassend, feststellte, keine einheitliche Grundauffassung vom »Wesen der Ehe«. Auch seine mündlich vorgetragenen Richtlinien für die Scheidungspraxis waren in sich widersprüchlich. Einmal sollte es unmöglich sein, die Klage abzuweisen, nur weil der Mann die Zerrüttung allein verschuldet habe; in anderen Fällen aber sei dem Widerspruch der Frau immer dann der größere Wert beizumessen, wenn der Mann nichts weiter begehre als seine Freiheit.21 Die juristischen Unsicherheiten über das »Wesen der Ehe« erweiterten den richterlichen Ermessens- und Entscheidungsspielraum im Scheidungsverfahren deutlich. Gleichzeitig führten sie dazu, dass die Scheidungsrichter dem Prozess des Scheiterns einer Ehe intensiver nachspürten, um Anhaltspunkte für die angemessene Entscheidung zu erhalten. Bei Zerrüttungsscheidungen nahmen die juristischen Beteiligten oft tiefen Einblick in den privaten Alltag und die Lebenswelten der Verfahrensgegner, um den Charakter und die »Scheidungswürdigkeit« der Ehe zu beurteilen. Unter den Bedingungen des neuen NS -Scheidungsrechts erhöhten sich grundsätzlich die Chancen, sich mit seinem individuellen Scheidungswunsch durchzusetzen – doch welchen konkreten Scheidungsinteressen eröffnete sich dieser neue Möglichkeitsraum, und wer »profitierte« davon?

19 Zum »Opfer«-Verständnis vgl. Franz Birndorfer, Der erstinstanzliche Prozessalltag von 1938 bis 1949 anhand der Ehescheidungsakten des Landgerichts Amberg zu § 55 EheG 1938 und § 48 EheG 1946, Regenstauf 2013, S. 71. 20 Blasius, Ehescheidung (wie Anm. 8), S. 215. 21 Vgl. ebd.

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2. Schutzmechanismen im alten Scheidungsrecht Zunächst ist ein Blick auf jene Verfahren aufschlussreich, in denen eine Scheidungsklage in der letzten Phase vor dem Inkrafttreten der neuen Gesetzgebung abgewiesen wurde. So zum Beispiel im Fall des Hamburger Ehepaars F., das seit 1906 verheiratet war, drei mittlerweile erwachsene Kinder hatte und seit Februar 1936 voneinander getrennt lebte. Friedrich F. reichte im Frühjahr 1937 die Scheidungsklage ein und begründete sie mit einer »hoffnungslosen« Zerrüttung der Ehe, die seine Frau verschuldet habe: Die Ehe sei »von Anfang an infolge der in der Person der Beklagten liegenden Umstände unglücklich«22 gewesen. Der Ehemann habe sich um der Kinder willen nur lange Jahre gescheut, die Hilfe des Gerichts in Anspruch zu nehmen. »Der Kläger habe von Anfang an unter der Ehe mit seiner Frau gelitten, die ihm nichts gegeben habe und nichts gewesen« sei, ließ der Rechtsanwalt das Gericht wissen. Der über 60-jährige Schiffsingenieur drängte auf die Scheidung auch deshalb, weil er mittlerweile eine »rechte Gefährtin« gefunden habe. Seine Ehefrau Ilse, mit der er nun mehr als 30 Jahre verheiratet war, wehre sich nur deshalb gegen eine Trennung, so F., weil sie ihm das neue Glück missgönne. Sie besitze zwar »die Fähigkeit, einen Hausstand blitzsauber zu halten und den hausfraulichen Pflichten zu genügen. Hierin erschöpfe sich aber das, was sie für die Ehe getan habe«,23 referierte der Gerichtsbeschluss die Schilderungen des Klägers. Die drei gemeinsamen Kinder und deren Erziehung erwähnte F. dem Gericht gegenüber wohlweislich nicht – seine Argumentation wäre dadurch nur brüchig geworden. Er hob dagegen auf das »Wesen der Ehe« ab und bemühte damit das allgegenwärtige Motiv der nationalsozialistischen Rechtsrhetorik, wie aus dem Urteil hervorgeht: »Das Wesen der Ehe, der Sinn der ehelichen Pflichten sei ihr verschlossen, und wenn sie doch Verständnis dafür gehabt haben sollte, so habe sie sich doch niemals ernstlich bemüht, das beiderseitige Glück ehelichen Zusammenlebens zu fördern und zu pflegen, obgleich der Kläger ihr immer und immer wieder den Weg dazu gewiesen habe.«24 Seine Frau sei nicht nur höchst widerwillig auf die häufigen Anregungen F.s eingegangen, sich femininer zu kleiden und ihre körperliche Attraktivität zu steigern. Sie habe auch keinerlei Anstalten gemacht, seinem geistigen Niveau zu genügen. Sie lese keine Bücher, habe weder Verständnis für seinen Beruf noch für seinen Glauben und habe noch nicht einmal die Contenance bewiesen, ihn bei offiziellen Anlässen würdig zu begleiten. Trotz der redlichen Bemühungen des Ehemanns, seine Frau zu einem anderen Verhalten zu bewegen, habe sie ihre »engherzige« und egozentrische Art beibehalten. Als endgültigen Beweis der völlig fehlgeleiteten Einstellung Ilse F.s zur Ehe brachte der scheidungswillige Ingenieur dem Gericht noch folgenden Vorschlag seiner Frau 22 Dieses und das folgende Zitat: Urteil des Landgerichts Hamburg vom 8. 7. 1937, Scheidung F. gegen F., Archiv des Landgerichts Hamburg, Az. 80 /37, S. 1. 23 Ebd., S. 2. 24 Ebd., S. 3 f.

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zur Kenntnis: Im Mai 1936 – Friedrich F. lebte da bereits seit Längerem in einer eigenen Mietwohnung und führte eine Beziehung mit einer anderen Frau – habe sie ihm angeboten, »wie ein Pascha im Morgenland immer abwechselnd je sechs Monate mit ihr und sechs Monate mit der Frau seiner Herzensneigung«25 zusammenzuleben, wobei sie selbst »ausdrücklich auf jeden Anspruch auf Zärtlichkeit« verzichtet habe. Ilse F. wies die meisten der schweren Vorwürfe ihres Mannes scharf zurück und beantragte die Abweisung der Klage. Sie stellte die Sachlage völlig anders dar: So liege der letzte eheliche Geschlechtsverkehr zwar tatsächlich drei Jahre zurück, das liege aber daran, dass Friedrich F. mit Hinblick auf sein Alter kein gesteigertes Interesse mehr daran gezeigt habe. Er habe ihr im April 1936 nach wochenlangen Dienstreisen ganz plötzlich eröffnet, dass er sich zwischendurch ein Zimmer in Hamburg genommen habe und dies bereits seit zwei Monaten bewohne. Der eigentliche Grund für die örtliche Trennung und damit auch für die Scheidungsklage sei nicht die ihr angelastete Zerrüttung der Ehe, sondern Friedrich F.s Verhältnis mit der knapp 30 Jahre jüngeren früheren Gymnastiklehrerin des gemeinsamen Sohnes. Er wolle diese nun sogar heiraten. Das Landgericht wies die Scheidungsklage am 8. Juli 1937 ab. Mit beinahe psychologischem Feingefühl führten die Richter in der Urteilsbegründung aus, dass sich das Verhältnis von Verheirateten zueinander auch bei einem noch so glücklichen Ehebeginn mit den Jahren freilich wandeln könne. Beeinflusst von »äußeren und inneren Erlebnissen« würden Eheleute »bald nähergerbacht, bald voneinander entfernt«.26 Sie hielten das Vorbringen des Klägers, seine Frau sei nicht mehr »ideal« für ihn, für glaubhaft und gestanden ihm ebenso zu, dass die jüngere Gymnastiklehrerin seinen »seelischen Bedürfnissen« vielleicht besser entspreche. Doch alle vorgebrachten Argumente begründeten keine Scheidung nach Paragraf 1568 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Dieser griff dann, wenn der beklagten Partei nachgewiesen werden konnte, dass sie ihre ehelichen Pflichten schuldhaft schwer verletzt hatte. Im vorliegenden Fall sei dies nicht gegeben. Die Defizite auf sexuellem und geistigem Niveau, die Friedrich F. seiner Frau vorwarf, seien – wenn sie denn überhaupt vorlagen – nicht als Verschulden anzusehen, sondern als persönliche Eigenheiten. Außerdem war das Gericht nicht davon überzeugt, dass die Ehe überhaupt zerrüttet war. Dies sehe nur der Kläger so, die Beklagte aber nicht. Die Kammer des Landgerichts folgte außerdem dem Argument der Beklagten, dass eine Scheidung in diesem Fall unangemessen sei: »Man muß Verständnis dafür haben, daß ihr die Stellung als geschiedene Frau, insbesondere, wie der Kläger es verlangt, als schuldig geschiedene Frau, nach außen in ihrem verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Kreis eine schiefe sein würde, ganz abgesehen von den rechtlichen Folgen einer solchen Scheidung.«27 Da das Gericht keinen Nachweis für eine Schuld nach Paragraf 1568 BGB als erbracht ansah, musste das Urteil auf Klageabweisung lauten. Die Begründung machte deut25 Dieses und das folgende Zitat ebd., S. 7. 26 Ebd., S. 20. 27 Ebd., S. 23.

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lich, dass das Schicksal der betrogenen – aber weiterhin ehewilligen – Ehefrau dabei eine maßgebliche Rolle spielte. Mochte Friedrich F. auch noch so sehr seine »Freiheit« begehren und die Ehe offensichtlich nicht mehr intakt sein, das Schuldprinzip des alten Eherechts verhinderte Trennungen, die von einem einseitigen, zumeist männlichen, Interesse geleitet wurden.

3. Die »Volksgemeinschaft« im Scheidungsverfahren Mit dem neuen Eherecht von 1938 veränderten sich die Parameter, unter denen die Scheidungsgerichte die Trennungsinteressen abwägen mussten. Denn mit der Gesetzesreform erhielt ein dritter, ungleich abstrakterer Interessenvertreter deutlich mehr Handlungsmacht im Scheidungsverfahren: die »Volksgemeinschaft«. Dieses dritte Interesse stand allerdings nicht zwingend im Gegensatz zu dem der Scheidungswilligen oder -unwilligen, sondern diente den Parteien nicht selten zur Untermauerung der eigenen Argumente – so zum Beispiel im Scheidungsverfahren der Eheleute P. vor dem Münchner Landgericht. Anhand des Falls lassen sich zwei Charakteristika der neuen Scheidungspraxis herausarbeiten: Zum einen zeigt er, wie die Maßstäbe der »Volksgemeinschaft« in den individuellen Argumentationstaktiken der Scheidungsgegner zur Anwendung kommen und zur Untermauerung des Eigeninteresses dienen konnten. Zum anderen werden in dem langen Verfahren die Unsicherheiten deutlich, die an den Scheidungsgerichten gerade in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des neuen Ehegesetzes bestanden. Worin lag das konkrete »volksgemeinschaftliche« Interesse an der Lösung oder Erhaltung einer Ehe? Darin waren sich das Erstgericht und die Revisionsinstanz keineswegs immer einig. Der Scheidungsprozess der Eheleute P. am Landgericht München wurde erbittert geführt und endete erst vor dem Oberlandesgericht.28 Seit 1901 waren der Postsekretär Johann P. und seine Frau Therese verheiratet, seit 1913 lebten sie getrennt. Johann hatte schon 1919 ein Scheidungsverfahren angestrengt, konnte seiner Frau den damals vorgeworfenen Ehebruch allerdings nicht nachweisen, sodass die Klage abgewiesen worden war. Nach einem weiteren erfolglosen Klageversuch 1930 reichte er im Mai 1939 erneut eine Scheidungsklage ein und stützte sie nun auf den Zerrüttungsparagrafen des neuen Ehegesetzes. Zur Begründung trug er vor, dass ihn seine Frau von Beginn der Ehe an schlecht behandelt habe. Sie habe bei jeder Kleinigkeit genörgelt und ihn beschimpft, ihn einmal nachts überfallen und so misshandelt, dass ihm die Zähne geblutet hätten. Seine Frau Therese sei außerdem »Bibelforscherin« und Adventistin, er selbst hingegen seit 1919 Parteimitglied und Ehrenzeichenträger, betonte Johann P. Trotzdem aber sei sie Mitglied dieser staatsfeindlichen Organisationen geblieben. Die Ehe sei infolge ihres Verhaltens restlos zerrüttet und eine Wiederherstellung undenkbar. Therese P. beantragte die kostenfällige Klageabweisung. Sie gab zwar zu, dass das eheliche Verhältnis »unheilbar zerrüttet« und die Wiederherstellung einer »dem 28 Scheidungsverfahren P. gegen P. am Landgericht München, Staatsarchiv München (StAM), Landgerichte 9778, Az. 192 /39.

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Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft« nicht zu erwarten sei, bestritt aber, die Zerrüttung der Ehe verschuldet zu haben. Sie ließ dazu ausführen, sie habe den Kläger während des ehelichen Zusammenlebens nie schlecht behandelt oder beschimpft, es sei vielmehr der Kläger gewesen, der sie, wenn er schwer angetrunken nach Hause kam, in gröbster Weise beschimpft habe. Sie habe auch niemals den »Bibelforschern« oder den Adventisten oder einer sonstigen staatsfeindlichen Organisation angehört.29 Therese P. widersprach der Scheidung auch mit der Begründung, ihr Mann habe schon in den ersten Ehejahren ein zwei Jahre lang dauerndes Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt. Seit 1910 oder 1911 stehe er außerdem in mindestens ehewidrigen Beziehungen zur als Zeugin vorgeladenen Veronika K. Diese Beziehungen hätten ihn veranlasst, seine Frau im April 1913 zu verlassen. Als Hausfrau und Mutter habe sie ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Ehe, so Therese P., weil sie im Fall einer Scheidung alle Pensionsansprüche verlieren würde, wenn ihr Mann vor ihr verstürbe. Therese P. versuchte noch, ihr hohes Alter und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse für die Klageabweisung geltend zu machen: Sie sei jetzt fast 70 Jahre alt und daher nicht mehr erwerbsfähig. Der Kläger sei überdies selbst bereits 65 Jahre alt. Die »Volksgemeinschaft« habe daher an einer Aufhebung ihrer Ehe nicht das geringste Interesse, da aus einer etwaigen Ehe des Klägers mit Veronika K. Kinder nicht mehr zu erwarten seien. Das Landgericht München hielt die Ehe nach der Verhandlung im Juli 1939 zwar tatsächlich für zerrüttet, hielt aber den Widerspruch von Therese P. gegen die Scheidung für begründet: »Die vom Kläger erstrebte Scheidung liegt […] nicht im Interesse der Volksgemeinschaft. Der § 55 des Ehegesetzes lässt die Scheidung einer unheilbar zerrütteten und deshalb für die Volksgemeinschaft wertlos gewordenen Ehe deshalb zu, um den Gatten die Gründung einer neuen, völkisch wertvollen Ehe zu ermöglichen. Dieser Grundgedanke trifft jedoch hier nicht zu. Beide Ehegatten, auch der Kläger selbst, stehen in einem Alter, in dem sie eine völkisch wertvolle Ehe nicht mehr eingehen können. Die Volksgemeinschaft hat auch kein Interesse daran, dass das Verhältnis des Klägers zu der Zeugin Veronika K[…], das nun schon seit über 26 Jahren besteht, legalisiert wird.«30 Weil Johann P. sich selbst gar nicht darauf berufen hatte, seine außereheliche Beziehung nun legalisieren zu wollen, sah das Landgericht das Scheidungsbegehren für unbegründet an. Es sei unverständlich, warum der Kläger nach so langen Jahren der 29 Zur nationalsozialistischen Verfolgung von ZeugInnen Jehovas und (weiblicher) Resistenz gegen das NS -Regime vgl. v. a. Detlev Garbe, Kompromißlose Bekennerinnen. Selbstbehauptung und Verweigerung von Bibelforscherinnen, in: Christl Wickert (Hg.), Frauen gegen die Diktatur. Widerstand und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, Berlin 1995, S. 52-73; Gerald Hacke, Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR . Feindbild und Verfolgungspraxis, Göttingen 2011. 30 Urteilsbegründung des Landgerichts München vom 26. 7. 1939, Scheidung P. gegen P., StAM, Landgerichte 9778, Az. 192 /39.

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Trennung eine Scheidung anstrebe und welches besondere Interesse er daran habe. Es folgte damit der Argumentation der Ehefrau, die den Nutzen einer Scheidung für die »Volksgemeinschaft« infrage gestellt und ihr eigenes Interesse damit explizit mit der NS -staatlichen Bevölkerungsmaxime verknüpft hatte. Das Erstgericht wies die Klage also ab. Doch Johann P. ging in Berufung – und hatte damit Erfolg. Das Münchner Oberlandesgericht widersprach Ende Oktober 1939 der Entscheidung des Landgerichts und schied die Ehe. Dabei hatte Therese P. im Berufungsverfahren ihre Argumentation nochmals zu untermauern versucht: Es sei nicht zu bestreiten, dass die Ehe der Parteien, die seit 1913 getrennt lebten, für die »Volksgemeinschaft« wertlos sei. Ebenso sicher sei es aber auch, dass die »Volksgemeinschaft« an der Lösung dieser Ehe nicht das geringste Interesse habe, sondern vielmehr an deren Aufrechterhaltung, denn der Grundsatz der Treue habe im »Dritten Reich« überall voranzustehen. Es komme außerdem nicht darauf an, dass sie als geschiedene Frau den Unterhalt weiter erhalte, es sei vielmehr zu berücksichtigen, dass sie ihren Pensionsanspruch verliere und dann der Allgemeinheit zur Last falle. Das Oberlandesgericht hielt es zwar für bedauerlich, dass die Beklagte von der Lösung der Ehe nun in einem Alter betroffen wurde, in dem sie sich »kaum noch umstellen« könne. Die Scheidung würde an ihren wirtschaftlichen Verhältnissen aber nichts ändern, die Unterhaltsleistungen blieben gleich. Es sei Johann P. auch anzurechnen, so das Gericht, dass er bereits zum wiederholten Mal die Ehe zu lösen versucht habe, unter den Bedingungen des alten Eherechts aber erfolglos geblieben war. Nun herrsche aber ein neuer Geist: »Für die Aufrechterhaltung der Ehe werden vornehmlich zwar Gründe von der Beklagten ins Feld geführt, einmal dass sich der Ehemann der Freiheit unwürdig gemacht hat und dann dass die Beklagte eventuell die Hinterbliebenenbezüge verliert. Beides kann jedoch nicht zur Abweisung der Klage führen. Es entspricht nicht dem Geist des neuen Ehegesetzes, den treulosen Ehegatten durch Aufrechterhaltung der Ehe zu strafen.«31 Die Berufung auf die »Volksgemeinschaft« bot hier also keine eindeutige Leitlinie für oder wider eine Scheidung. Deren Interesse wurde schnell diffus, wenn zum Beispiel weder die Ehe noch eine neue Partnerschaft als »Reproduktionsgemeinschaft« gelten konnten. Wenn solche harten Kriterien fehlten, öffnete sich den Richtern ein weiterer Entscheidungsraum.

4. Die männliche Scheidungsfreiheit in der Scheidungspraxis ab 1938 Anders als im Kommentar zum Scheidungsgesetz vorgesehen, spielte eine (altersbedingte) Schutzwürdigkeit der Ehefrau bei der richterlichen Entscheidungsfindung nur eine untergeordnete Rolle. So wirkte sich die Argumentation des Münchner Oberlandesgerichts im zuletzt geschilderten Fall auf die Spruchpraxis der ersten Instanz rasch aus, wie im Scheidungsverfahren des Ehepaars A. deutlich wird. Jakob A., 31 Ebd., S. 10.

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von Beruf Registrator, erhob Ende 1939 vor dem Münchner Landgericht Scheidungsklage gegen seine Ehefrau Anna Maria. Das Paar war seit 1917 verheiratet und hatte drei Kinder, die jüngste Tochter war 15 Jahre alt. A. warf seiner Frau vor, die Ehe zerrüttet zu haben, weil sie sich seinen sexuellen Annäherungen seit Längerem entzogen habe – beim letzten Versuch eines ehelichen Geschlechtsverkehrs habe sie zudem die Verwendung eines Kondoms eingefordert. Im Klageschriftsatz bezeichnete Rechtsanwalt Hubert Buchberger dies als eine Verweigerung der ehelichen Pflichten. Außerdem habe Anna Maria A. die gemeinsamen Kinder gegen den Vater aufgehetzt. Es war nicht das erste Mal, dass der Kanzleiangestellte seine Ehe lösen wollte, bereits 1936 hatte er beim gleichen Gericht eine Scheidungsklage eingereicht. A. war im September 1936 aus einer knapp fünfmonatigen »Schutzhaft« im Arbeitslager Dachau entlassen worden – die Gründe für die Inhaftierung blieben im Scheidungsverfahren ungenannt – und war danach nicht in die familiäre Wohnung zurückgekehrt. Seine Klage wurde damals aus Mangel an Beweisen für eine schuldhafte Zerrüttung abgewiesen. Mittlerweile hatte sich die Gesetzeslage geändert, und A. versuchte es erneut. Wie im ersten Scheidungsverfahren legte seine Frau Widerspruch gegen die Scheidung ein und beantragte die Klageabweisung. Sie sei bereit, die eheliche Gemeinschaft wiederherzustellen und in vollem Umfang auszufüllen. Sie ließ durch ihren Anwalt mitteilen, dass sie nur deshalb damals ein Empfängnisverhütungsmittel verwenden wollte, weil die letzte ihrer drei Entbindungen beträchtliche körperliche Beschwerden und Nachwirkungen verursacht hatte. Im anwaltlichen Schriftsatz schilderte die 48-jährige Hausfrau eindringlich ihre Bedenken, als Geschiedene gesellschaftliche Nachteile zu haben. Sei die Scheidung aber unabwendbar, beantrage sie vorsorglich, ein Verschulden des Mannes festzustellen. Nach einer kurzen mündlichen Verhandlung fällte Assessor Planer am 31. Januar 1940 das Urteil: Die Ehe wurde nach Paragraf 55 des neuen Ehegesetzes geschieden, da die häusliche Gemeinschaft seit mehr als drei Jahren aufgehoben war und »die Aufrechterhaltung […] bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe und des gesamten Verhaltens der Ehegatten sittlich nicht gerechtfertigt« sei. Der Richter gab dem Schuldantrag der Ehefrau jedoch statt und stellte ein Mitverschulden des Mannes fest, denn dieser habe durch seine erste Scheidungsklage die Zerrüttung befördert und auch die häusliche Gemeinschaft nicht wieder herstellen wollen: »Das eheliche Verhältnis ist schon durch dieses Verhalten des Klägers als zerrüttet anzusehen. Schliesslich sind auch religiöse Momente und das Interesse der Beklagten, nicht als geschiedene Frau zu erscheinen, nicht geeignet, die Aufrechterhaltung der Ehe zu rechtfertigen. Ausschlaggebend allein ist, ob vom Standpunkt der Volksgemeinschaft aus die Aufrechterhaltung der Ehe zu befürworten ist. Das ist aber zu verneinen. Die Ehe ist in ihrer innersten Grundlage zerrüttet und kann nicht mehr zu einer wahren ehelichen Gemeinschaft führen. Es hiesse die Arbeitsfreude und Arbeitskraft des Klägers lähmen, wollte man ihn zwingen, an einer derart zerrütteten Verbindung festzuhalten.«32 32 Urteilsbegründung vom 31. 1. 1940, Scheidung A. gegen A., StAM, Landgerichte 9499, Az. 394 /39.

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Der letztgenannte Aspekt der richterlichen Entscheidung muss als ebenso bemerkenswert wie symptomatisch hervorgehoben werden: Der scheidungswillige Ehemann erscheint hier als Leistungsträger der »Volksgemeinschaft«, dessen Arbeitskraft eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde.33 In der Programmatik der nationalsozialistischen Leistungsgemeinschaft hatte die Stärkung und Erhaltung dieser Kraft oberste Priorität. Mit dem neuen Scheidungsrecht fand diese Maxime nun Eingang in die juristische Bewertung der Ehe. Diente sie – dem Ehemann – nicht mehr als regenerativer Rückzugsort, verfehlte sie ihren Zweck und konnte gelöst werden. Bei der Auswertung der Scheidungsverfahren, die ab der Jahresmitte 1938 am Münchner Landgericht anhängig waren und nach dem neuen Scheidungsrecht verhandelt wurden, lassen sich noch in der Spruchpraxis in der zweiten Hälfte des Jahres 1939 Abweichungen von der bisher geschilderten Deutung der Zerrüttung erkennen. Denn das Widerspruchsrecht gegen eine Scheidungsklage, die sich auf Paragraf 55 des Ehegesetzes stützte, war in Rechtswissenschaft und -praxis weiterhin umstritten.34 Langsam setzte sich allerdings eine Lesart durch, wie an zwei weiteren Münchner Verfahren deutlich wird. Die Scheidungsklage des Versicherungsangestellten Philipp F. hielt das Landgericht für durchaus begründet: Die Ehe mit seiner Frau Luise, die 1914 geschlossen worden war und zwei Kinder hervorgebracht hatte, sei mittlerweile »unheilbar zerrüttet«. Die Eheleute lebten seit Ende 1933 in derselben Wohnung getrennt, im Sommer 1935 war der Ehemann schließlich ausgezogen. Der Kläger gab zu, seit Längerem mit einer anderen Frau in einer ehewidrigen Beziehung zu stehen, mittlerweile lebte er auch mit ihr zusammen. Luise F. beantragte in erster Linie die Klageabweisung, stellte aber gleichzeitig einen hilfsweisen Antrag, im Fall einer Scheidung die Schuld des Ehemanns an der Zerrüttung festzustellen. Abgesehen von dem offensichtlichen Ehebruch habe er sich auch ehewidrig verhalten, indem er Frau und Kinder lieblos behandelt, sie beschimpft und sogar geschlagen habe. Eigentlich war ihr aber an der Beibehaltung der Ehe gelegen, was sie vor allem damit begründete, dass der Ehemann noch regelmäßig zu ihr und den Kindern zu Besuch kam. Für das Gericht war die Schilderung des freundschaftlichen Verhältnisses aber nicht relevant für die Scheidungsfrage. Es war bereits von der Zerrüttung überzeugt: »Die vom Kläger nicht bestrittene Behauptung der Beklagten, dass er noch öfters in die Wohnung zu ihr komme, um die Kinder zu besuchen, sich auch mit ihr unterhalte und dabei Kaffee getrunken habe, vermag an der Erkenntnis des Gerichts nichts zu ändern. Die Beklagte muss selbst einräumen, dass der Besuch den Kindern gelte. Wenn sich der Kläger dabei auch mit der Beklagten unterhält und Kaffee von ihr trinkt, so kann dieses Verhalten des Klägers nur als bloße Höflichkeit gewertet werden.« 33 Vgl. dazu den Beitrag von Frank Werner in diesem Band. 34 S. dazu ausführlicher Dieter Niksch, Die sittliche Rechtfertigung des Widerspruchs gegen die Scheidung der zerrütteten Ehe in den Jahren 1938-1944, Univ. Diss. [masch.], Passau 1990, v. a. S. 333-583.

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Der Widerspruch der Beklagten gegen die Scheidung sei zwar zulässig, aber nicht beachtlich. Die Ehe sei »zu einer leeren Form herabgesunken«, befand das Landgericht und zitierte damit die gängige Fachliteratur. Es könne auch offen bleiben, ob Philipp F. sich scheiden lassen wolle, um mit seiner neuen Partnerin Fräulein O., die als Zeugin im Verfahren befragt worden war, heiraten zu können. Dies sei grundsätzlich sogar sehr zu begrüßen, selbst wenn dies ein wirtschaftliches Risiko für seine geschiedene Frau bedeutete.35 Es lässt sich deutlich nachweisen, dass der Zerrüttungsparagraf gerade in den Jahren 1939 und 1940 vor allem von männlichen Ehepartnern genutzt wurde, die nun offen eine neue Beziehung eingehen wollten. In den meisten dieser Verfahren widersprachen die Ehefrauen zunächst einer Scheidung, obwohl sie von der Untreue ihres Mannes wussten. Eine eigeninitiative Scheidungsklage, die sich – vermutlich erfolgreich – auf den Ehebruch-Paragrafen 49 des Gesetzes hätte stützen können, erhoben diese Frauen nicht, sondern nahmen die Schmach eines andauernden Betrugs in Kauf. Offenbar überwog die Furcht vor dem unsicheren und weiterhin stigmatisierten Status als geschiedene Frau die erlittene Herabwürdigung. Denn auch wenn Ehescheidungen seit den 1920er Jahren statistisch häufiger geworden und keineswegs mehr ein gesellschaftliches Randphänomen waren, stellte eine Scheidung – zumal im familienfixierten Gesellschaftsbild der NS -»Volksgemeinschaft« – ein Scheitern dar, das zumeist den Frauen angelastet wurde: Sie hatten es nicht geschafft, eine stabile Kleinstgemeinschaft zu bilden oder zu erhalten und damit den Kernauftrag, den ihnen der NS -Staat erteilt hatte, nicht erfüllt.36 Um diesem Stigma zu entgehen – häufig allerdings auch aus purer Existenzangst –, kämpften Ehefrauen scheidungswilliger Männer um den Erhalt ihrer Ehe, mochte sie noch so unglücklich sein. Der Widerspruch der Ehefrauen gegen eine Zerrüttungsscheidung scheiterte meistens an den Nützlichkeitserwägungen, die die Scheidungsrichter über die bestehende Ehe im Vergleich zu einer neuen Partnerschaft anstellten.37 So tat sich das Landgericht München zum Beispiel im Verfahren der jungen Eheleute M. mit der Abweisung des Widerspruchs leicht, zu offensichtlich schien der bevölkerungspolitische Nutzen der neuen Beziehung des Klägers. Der 33-jährige Schlosser Franz M. reichte Anfang 1940 die Scheidungsklage ein, er hatte seine Frau Maria im Juli 1933 geheiratet. Bereits kurz nach der Eheschließung begann er eine Affäre, aus der mittlerweile auch ein Kind entstanden war. Nun stützte er seine Scheidungsklage auf den Zerrüttungsparagrafen, doch Maria M. versuchte, dagegen anzugehen. Es sei erwiesen, dass Ehemann Franz die Zerrüttung verschuldet habe, damit stehe ihr ein Widerspruchsrecht zu. Das Landgericht gab dem Kläger Recht, und in der anschließenden Berufung bestätigte das Oberlandesgericht diese Entscheidung. Die Begründung liest 35 Urteil des Landgerichts München vom 31. 1. 1940, Scheidung F. gegen F., StAM, Landgerichte 9538, Az. 398 /39, S. 5. 36 Zur Rolle der Frau in der NS -Familienpolitik vgl. grundlegend Claudia Koonz, Mothers in the Fatherland. Women, the Family and Nazi Politics, New York 1987, S. 175-220; Mouton, Nurturing (wie Anm. 8), S. 34-68; Czarnowski, Paar (wie Anm. 11), S. 173-229. 37 Dazu auch bei Niksch, Rechtfertigung (wie Anm. 34), S. 333-583.

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sich wie ein Zirkelschluss, da sie lediglich die Zerrüttung der Ehe noch einmal bekräftigte: »Schliesslich ist aber auch noch die Erhebung des Scheidungsbegehrens des Klägers aus § 55 EheG ein sicheres Anzeichen dafür, dass die Ehe der Streitsteile schon seit Jahren vollkommen zerrüttet und nun wegen der ablehnenden Haltung des Klägers die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft der Parteien nicht mehr zu erwarten ist.«38 Die bisherige empirische Überprüfung der nationalsozialistischen Scheidungspraxis belegt, dass männliche und weibliche Interessen bei der Anwendung des Zerrüttungsparagrafen äußerst unterschiedlich bewertet wurden. Überwiegend setzte sich der männliche Scheidungswille durch, auch, weil das NS -staatliche Interesse zumeist damit übereinstimmte. Zum einen stützt der empirische Befund die gültige Forschungsmeinung, dass die frauen- und familienpolitischen Maßnahmen des Regimes deutliche Tendenzen aufwiesen, die Rechtsstellung der Frau zu schwächen. Zum anderen manifestiert sich darin, dass Räume individueller Selbstbestimmung auch und gerade im NS -Recht geschlechtsspezifisch bemessen wurden. Während männliche Ansprüche auf eine autonomere Gestaltung ihrer partnerschaftlichen Beziehungen im neuen Scheidungsrecht häufig erfolgreich geltend gemacht werden konnten, wirkte sich die neue »Scheidungsfreiheit« auf viele weibliche Biografien nachteilig aus.

5. Scheidung im Krieg: Der Staat als Verfahrensgegner Die Entmündigungstendenzen des NS -Scheidungsrechts – insbesondere gegenüber den Ehefrauen – lassen sich in spezifischer Weise auch an der Einführung der sogenannten Totenscheidung im Zweiten Weltkrieg zeigen. Per Durchführungsverordnung ermöglichte der NS -Gesetzgeber ab März 1943 Post-mortem-Scheidungen, um »unwürdige Kriegerwitwen« von Versorgungszahlungen und Erbschaftsansprüchen auszuschließen. Die Totenscheidung flankierte andere familienpolitische Kriegsmaßnahmen wie die Fern- oder Leichentrauung, die die Kampfmoral an Front und »Heimatfront« heben sollten.39 Bei der Totenscheidung konnte nun die Staatsanwaltschaft ein Scheidungsverfahren anstrengen, so zum Beispiel im Fall des Anfang Dezember 1942 in Selo-Gora an der Ostfront gefallenen Soldaten Friedrich R. Bei seinem letzten Fronturlaub hatte er seiner Ehefrau Gunda gebeichtet, dass er sich beim außerehelichen Verkehr mit einer Geschlechtskrankheit infiziert hatte. Enttäuscht und verletzt von ihrem mittlerweile wieder an der Front stehenden Ehemann suchte Gunda R. im Herbst 1942 bei einem alten Freund Trost und begann mit ihm ein sexuelles Verhältnis. Die Familie des Ehemanns erfuhr von der Affäre und meldete 38 Urteil des Oberlandesgerichts München vom 2. 10. 1940, Scheidung M. gegen M., Az. 150 /39, ebd., S. 2. 39 Vgl. Cornelia Essner / Edouard Conte, »Fernehe«, »Leichentrauung« und »Totenscheidung«. Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 201-227.

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sie kurz nach Friedrich R.s Tod der Münchner Staatsanwaltschaft, die daraufhin ein Scheidungsverfahren einleitete. Im März 1943 verkündete das Landgericht München das Scheidungsurteil und begründete es wie folgt: »Die Handlungsweise der Antragsgegnerin ist umso verwerflicher, als sie während des Fronteinsatzes ihres Ehemannes diesem die Treue gebrochen hat. Im Hinblick auf das besonders ehrlose, pflichtvergessene und unsittliche Verhalten […] ist als sicher anzunehmen, dass Friedrich R. […] sich bei Kenntnis der Eheverfehlung auch nicht durch die Rücksicht auf die ehelichen Kinder Edith und Eva von der Scheidungsklage hätte abhalten lassen.«40 Das NS -staatliche Trennungsinteresse übernahm hier nun gänzlich die Federführung – zumeist blieben die post mortem-geschiedenen Frauen nicht nur »ehrlos«, sondern auch mittellos zurück, denn einen Anspruch auf Unterhalt oder eine Witwenrente konnten sie nicht geltend machen.

6. Die Bagatellisierung ehelicher Gewalt im NS -Scheidungsrecht Der Blick auf die praktische Anwendung des Zerrüttungsparagrafen erhärtet die These, dass der NS -staatlich gewährte Zugewinn männlicher Privatautonomie zu Lasten der weiblichen Verfügungs- und Mitspracherechte und mitunter gar ihrer körperlichen Unversehrtheit ging. Dieses Teilergebnis soll im Folgenden unter einem speziellen Aspekt dysfunktionaler Mann-Frau-Beziehungen überprüft werden: Wie gingen die Scheidungsgerichte damit um, wenn physische oder psychische Gewalt im Trennungsprozess eine Rolle spielte? Rund 15 Prozent der ausgewerteten Münchner Scheidungsverfahren standen in unmittelbarem Zusammenhang mit schweren oder mittelschweren Tätlichkeiten oder gewaltsamen Nötigungen. Eine Schweizer Spezialstudie zur ehelichen Gewalt Anfang der 1940er Jahre hat bereits herausgearbeitet, dass eheliche Gewalt keineswegs eine Randerscheinung darstellte: In mehr als einem Drittel der Fälle, in denen vor dem Luzerner Scheidungsgericht eine Scheidung oder Trennung verlangt wurde, berief sich zumindest eine Partei auf den Scheidungsgrund der »schweren Misshandlung«.41 Es handelte sich bei den analysierten Gewaltanwendungen fast ausschließlich um Tätlichkeiten und Misshandlungen von Männern an Frauen. Im deutschen Recht fand der Sachverhalt der Gewalt in der Ehe mit dem Scheidungsgrund der »groben Misshandlung« unter Paragraf 1568 Eingang in das Bürgerliche Gesetzbuch. Die »grobe Misshandlung« galt als relativer Scheidungsgrund, der Paragraf 1566 benannte die nachgewiesene »Lebensnachstellung« – also den nachgewiesenen Versuch, dem Partner das Leben zu nehmen – als absoluten Scheidungsgrund.42 40 Urteil des Landgerichts München vom 15. 3. 1944, Scheidung Oberstaatsanwalt gegen R., StAM, Landgerichte 17381, Az. 7 /44. 41 Sonja Matter, Verletzte Körper. Eheliche Gewalt vor dem Luzerner Scheidungsgericht zu Beginn der 1940er Jahre, Nordhausen 2005. 42 Christoph Schimrosczyk, Zivilrechtliche Schutzmöglichkeiten gegen Gewalt in der Ehe. Ein

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Die Grenzen des zulässigen Maßes hatte der Gesetzgeber aber bisher nicht definiert. Man müsse sie deshalb vom Einzelfall und dabei von der körperlichen Beschaffenheit der betroffenen Person und dem Grad der Widersetzlichkeit abhängig machen, so die juristischen Experten. Eine gesundheitsgefährdende Behandlung sei aber auf jeden Fall als eine Überschreitung des zulässigen Maßes anzusehen. Das neue nationalsozialistische Scheidungsrecht von 1938 sah keine Form der Gewalt mehr als absoluten Scheidungsgrund vor, es unterschied auch nicht mehr zwischen grober und einfacher körperlicher Misshandlung. Zudem führte es die Regelung ein, ein Scheidungsbegehren zurückweisen zu können, wenn beide Partner sich ein gewaltvolles Verhalten hatten zuschulden kommen lassen.43 Damit bagatellisierte der NS -Gesetzgeber faktisch harte Gewaltanwendungen in Paarbeziehungen. Das Recht der »Volksgemeinschaft« bot also keinen legitimierten Schutz vor Gewalt und Missbrauch in der Ehe. Es duldete vielmehr implizit Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und verstand selbst die Ehe nicht als möglichst gewaltfreien Raum. In anderen Rechtsbereichen lassen sich ähnliche Entgrenzungstendenzen nachweisen, so vor allem durch das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, das 1934 die zwangsweise Sterilisation einführte. Das nationalsozialistische Scheidungsrecht schlug damit auch einen eklatant frauenfeindlichen Weg ein – und fiel weit hinter die Linien zurück, die das BGB bereits in Bezug auf den Schutz der Ehefrau gezogen hatte. Die juristischen Kommentatoren des neuen Ehegesetzes verwiesen darauf, dass man nun mehr Spielraum schaffen wolle, um im Einzelfall entscheiden zu können, wann eine gewalttätige Handlung als »schwere Eheverfehlung« zu werten sei. Die Einzelfall-Gerechtigkeit stellte einen programmatischen Schwerpunkt bei der Neuordnung des Rechtswesens im NS -Regime dar. Sie galt als direkter und »volksnäher«, konnte man damit doch das Prinzip der neutralen Rechtssicherheit aushebeln und die konkreten Bedürfnisse von Rechtsuchenden immer wieder neu abwägen und gewichten – die richterliche Entscheidungsfreiheit erreichte mit dieser Methode ihre maximale Ausdehnung.44 Auf den konkreten Umgang mit ehelicher Gewalt unter den Bedingungen des neuen Scheidungsrechts werfen einige Beispiele aus der Münchner Spruchpraxis Schlaglichter: Im Scheidungsprozess der Eheleute E. widersprach Karoline E. der Scheidungsklage ihres Manns aus Furcht vor der völligen Mittellosigkeit. Im Falle eines Scheidungsurteils wollte sie zumindest die Schuld des 35-jährigen Monteurs an der Trennung festgestellt wissen. Ihr Anwalt Adolf Moser schilderte dem Gericht einen gewaltvollen Ehealltag, der die Beklagte psychisch krank gemacht hatte: rechtshistorischer Überblick von 1900 bis zum Inkrafttreten des FamFG, Frankfurt a. M. 2012, S. 97-105. 43 Ebd., S. 113-121. 44 Vgl. dazu v. a. das Grundlagenwerk von Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 1968; außerdem Rainer Schröder, »... aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben !« Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich, Baden-Baden 1988; Christians, Private (wie Anm. 9), Kap. 3. S. auch den Beitrag von Maren Röger in diesem Band.

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»Der Kläger hat bewusst eine nervenkranke Frau geheiratet, um in den Besitz ihrer Aussteuer zu kommen und hat sie dann lieblos, brutal behandelt und misshandelt, mit anderen Frauen wahllos betrogen und ihr sogar nahegelegt, sie möchte sich selbst das Leben nehmen, sodass ihr körperlicher und seelischer Zustand von der Psychiatrischen Klinik nicht zuletzt dieser brutalen Behandlung zugeschrieben wurde.«45 Dass Karoline E. dennoch an der Ehe festhalten wollte, hing vor allem mit ihrer wirtschaftlichen Notlage zusammen. Es stehe zu befürchten, so ihr Anwalt Moser, dass Walter E. sie nach der Lösung der Ehe vollends der Verelendung preisgeben werde, denn er habe schon bisher seine Unterhaltspflicht grob vernachlässigt. Diesen Bedenken zum Trotz wurde die Ehe im Juni 1940 geschieden, das Gericht befand beide Eheleute für schuldig.46 Die Scheidungsrichter bewerteten die psychische Erkrankung der Ehefrau als ebenso »schuldhaft« für das Scheitern der Ehe wie die gewaltvollen Übergriffe des Ehemanns. Hier manifestierte sich nicht zuletzt die massive Stigmatisierung von psychischen Krankheitsbildern im Leistungssystem der »Volksgemeinschaft«. In einem anderen Verfahren hatte die Zeitungsausträgerin Rosa G. die Scheidungsklage gegen ihren Mann Josef eingereicht und diese auf seine regelmäßigen gewaltvollen Ausbrüche unter Alkoholeinfluss gestützt. Das Landgericht schied die Ehe zunächst aus beiderseitigem Verschulden, weil es Rosa G. ein ehewidriges Verhältnis unterstellte. Zudem seien die Misshandlungen als verziehen anzusehen, weil danach noch ehelicher Geschlechtsverkehr stattgefunden habe. Die 37-Jährige ging in die Berufung. Die Ermittlungen des Münchner Oberlandesgerichts förderten Folgendes zutage: »Wie sich aus der Aussage der in erster Instanz vernommenen Zeugin […] ergibt, hat der Beklagte am 21. Juni 1939 die Klägerin in der ehelichen Wohnung durch Schläge am ganzen Körper schwer mißhandelt, sie auch mit Erstechen bedroht. Wie damals, so kam er auch sonst häufig betrunken nachhause und gebrauchte in diesem Zustande gegen seine Frau Schimpfworte wie ›Hure, Mensch, Fetzen‹ u. ä. Am 1. Dezember 1939 hat er die Klägerin bei einem ehelichen Streite gepackt und sie auf die Ottomane geworfen, sodann nach dem an der Türe hängenden Seitengewehr gegriffen und dabei geschrien, er werde sie umbringen; dieser Sachverhalt ist durch die glaubwürdige Bekundung der Klägerin vor dem ersuchten Richter in dem erwähnten militärgerichtlichen Verfahren dargetan.« Das Gericht stellte außerdem fest, dass die Verfehlungen nicht als verziehen gelten konnten, da es danach nicht zu einem ehelichen Verkehr gekommen war. In der Berufungsverhandlung hatte Josef G. außerdem zugegeben, dass er im März 1940 wegen einer Geschlechtskrankheit, die er sich beim Verkehr mit einer unbekannten Frau zugezogen hatte, ärztlich behandelt wurde. Das Münchner Oberlandesgericht änderte 45 Schriftsatz von Rechtsanwalt Adolf Moser an das Landgericht München, 19. 5. 1939, StAM, Landgerichte 9528, Az. 216 /39, S. 2. 46 Urteil des Landgerichts München vom 5. 6. 1940, ebd., Az. 216 /39.

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das erstinstanzliche Urteil daher ab und befand den Hilfsarbeiter für überwiegend schuldig. Doch Ehefrau Rosa trug nach Ansicht der Richter eine Mitschuld an der Trennung. In einigen Briefen, die dem Gericht vorlagen, hatte sie gegen ihren Ehemann häufig »gröbliche Schimpfworte« gebraucht.47 Das Urteil bewertete männliche und weibliche Handlungsoptionen also völlig unterschiedlich und zeigte damit die massive Unwucht der jeweilig zugestandenen Verhaltensweisen auf: Die rein verbalen Ausfälle der Ehefrau gegenüber ihrem Mann schätzten die Richter als ebenso schwerwiegend ein wie dessen nachgewiesene schwere körperliche Misshandlungen und Übergriffe. In einem anderen Fallbeispiel finden sich direkte Bezüge zu Elissa Mailänders und Alf Lüdtkes Analyse der »kleinen Gewalt« als Machtmittel.48 Im Scheidungsverfahren wurde ihr keine zwingende Relevanz beigemessen: Nach elf Jahren Ehe reichte die 32-jährige Franziska G. die Scheidungsklage ein, weil Ehemann Johann sie wiederholt geschlagen habe und außerdem fremdgegangen sei. Nach einer umfangreichen Beweisaufnahme wies das Münchner Landgericht die Klage im Herbst 1940 zurück, mit folgender Begründung: »Wenn der Mann wirklich einmal der Frau eine Ohrfeige versetzt hat, so geschah es in der Erregung über unbegründete Vorwürfe der Frau oder weil sie nicht aufhörte, in den Mann hineinzureden; aber auch diese Gewalttätigkeiten liegen vor dem letzten Verkehr. Es ist nun sicher, dass die Parteien keine Ehe führen, wie sie vom Staat erwartet und gewünscht wird; das ist aber gegenwärtig noch kein hinreichender Grund, die Eheleute von ihrer Pflicht zu befreien, denn sie haben, selbst wenn sie sich gegenseitig nichts mehr bedeuten sollten, jetzt noch auf Jahre hinaus die Verpflichtung, gemeinsam für das Kind zu sorgen.«49 In der zweiten Instanz wurde die Ehe vom Oberlandesgericht jedoch geschieden, nun aber aus beiderseitigem Verschulden. Die herabwürdigenden und wiederholten Tätlichkeiten des Manns gegen die Frau spielten hier keine Rolle mehr. Für das Oberlandesgericht fiel weitaus stärker ins Gewicht, dass die Ehefrau gegen ihren Mann zwischenzeitlich bei der Gestapo eine Anzeige wegen ausbleibender Unterhaltszahlungen erstattet hatte. Dieses »ehrverletzende« Verhalten Franziska G.s galt also als ungleich verwerflicher als die regelmäßigen körperlichen Angriffe, die sie erdulden musste. Von einem besonderen Schutz der Ehefrau und Mutter, deren besonderer Stellenwert doch eigentlich den Kern der familienpolitischen Propaganda der »Volksgemeinschaft« bildete, war in solchen Entscheidungen nichts mehr zu finden. Durch vermeintlich deviantes Verhalten konnte sie ihren Nimbus also schnell verlieren. Die 47 Urteil des Oberlandesgerichts München vom 3. 5. 1940, StAM, Landgerichte 9544, Az. 369 /39. 48 Elissa Mailänder, Gewalt im Dienstalltag. Die SS -Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek, Hamburg 2009, v. a. S. 410-450; Alf Lüdtke, Gewalt und Alltag im 20. Jahrhundert. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Erfurt »Gewalt und Terror«, 3. 12. 2002, online unter: https://www.db-thueringen.de/servlets/MCRFile NodeServlet/dbt_derivate_00001316/luedtke.htmlformen (letzter Zugriff: 1. 12. 2017). 49 Urteil des Landgerichts München vom 30. 5. 1940, Scheidung G. gegen G., StAM, Landgerichte 9553, Az. 508 /39.

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»Volksgemeinschaft« garantierte keinen Status, er bedurfte vielmehr der immer neuen Bestätigung, wurde permanent – geschlechtsspezifisch – staatlich wie sozial kontrolliert und war damit höchst fluide. Es finden sich in den 722 überlieferten Münchner Scheidungsverfahren mehrere Fälle, in denen »kleine« Tätlichkeiten faktisch als unbedeutend oder – wegen Geschlechtsverkehrs noch nach der Tat – als verziehen galten. Ihnen stehen wenige Verfahren gegenüber, in denen das Gericht das »zulässige Maß« an körperlicher Gewalt gegen die Ehefrau überschritten sah: So im Scheidungsverfahren der Eheleute H., das im Herbst 1939 am Landgericht anhängig war. Ehemann Georg hatte die Scheidungsklage eingereicht, weil seine Frau den Haushalt angeblich vernachlässigt und ihn dann grundlos verlassen habe. Die Beweisaufnahme ergab massive Tätlichkeiten des Mannes gegen seine Frau, sodass das Gericht im Januar 1940 die Ehe wegen körperlicher Misshandlungen aus Verschulden des Mannes schied: »Was die Behandlung der Frau durch den Mann anlagt, so hat zunächst die Zeugin H[…] ausgesagt, die Beklagte habe wiederholt erzählt, dass sie ihr Mann bedroht und auch geschlagen habe. Misshandlungen sind […] seit längerer Zeit wiederholt vorgekommen. Auch am Aschermittwoch 1939 hat die Zeugin H[…] wieder gesehen, dass die Beklagte ein verschwollenes Gesicht, blaue Flecke und Kratzwunden im Gesicht hatte. Durchaus glaubhaft ist die Behauptung der Beklagten, ihr Mann habe sie geschlagen. Dieser war nicht berechtigt, in dieser rohen und die Beklagte bloßstellenden Weise diese zu misshandeln.«50 Die Reform des Eherechts 1938 hatte eine deutliche Hierarchisierung von gewalttätigen Handlungen zur Folge. Hatten »kleinere« Tätlichkeiten im häuslichen Rahmen stattgefunden und konnten wegen »ungehorsamen« Verhaltens der Frau als gerechtfertigt gelten, waren sie für die Gerichte meist unerheblich. Erst Schläge und Misshandlungen vor den Augen Dritter konnten als Eheverfehlung eine Scheidung begründen. Strafrechtliche Konsequenzen hatten allerdings auch solche Verhaltensweisen von Ehemännern in den seltensten Fällen, was Rückschlüsse auf deren grundsätzliche gesellschaftliche Akzeptanz im Untersuchungszeitraum zulässt.

7. Fazit: Die NS -Spezifik des Scheidungsrechts Die Bewertung der im Nationalsozialismus erlassenen familienrechtlichen Gesetze und der erarbeiteten Gesetzentwürfe war in der juristischen Zeitgeschichte lange umstritten.51 Gerade das Scheidungsrecht entzog sich einer klaren rechtspolitischen und 50 Urteil des Landgerichts München vom 16. 1. 1940, Scheidung H. gegen H., StAM, Landgerichte 9612, Az. 460 /39, S. 4. 51 Vgl. Heinz Holzhauer, Die Scheidungsgründe in der nationalsozialistischen Familienrechtsgesetzgebung, in: NS -Recht in historischer Perspektive, München 1981 (Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 4), S. 53-70, hier: S. 53-56; Thilo Ramm, Das nationalsozialistische Familien- und Jugendrecht, Heidelberg 1984, S. 6-10; Blasius, Ehescheidung (wie Anm. 8), S. 139-141; Joachim Stolz, Zur Geschichte der Trennung von Ehegatten, Kiel 1983, S. 139-144.

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rechtshistorischen Einordnung. So fragte bereits Michael Humphrey pointiert, ob es als Ausdruck einer die politischen Umwälzungen überbrückenden Reformkontinuität anzusehen sei oder als eine spezifische Ausprägung nationalsozialistischer Ideologie.52 Tatsächlich standen große Teile des Ehegesetzes mit den Reformentwürfen der Weimarer Zeit in engem Zusammenhang, wie Humphrey selbst einleuchtend herausarbeitete. Doch gab der Privatrechtsexperte Werner Schubert zu Recht zu bedenken, dass eine zu starke Gewichtung der Kontinuitäten im Ehe- und Familienrecht »die vom NS -Rechtsdenken beeinflussten Bestimmungen unberücksichtigt«53 ließe – dabei hätten diese die nach 1933 beziehungsweise vor allem 1938 erlassenen Gesetze entscheidend mitgeprägt. Sowohl im nationalsozialistisch ausgestalteten Konzept der Zerrüttungsscheidung als auch in den Regelungen zur Unterhaltsfrage lassen sich Elemente nachweisen, die völkisch und »rassenhygienisch« motivierte Prämissen in die Gesetzgebung einschrieben. Und auch die empirische Überprüfung der NS -Scheidungspraxis bestätigt und präzisiert Schuberts Befund. Denn die »Belange der Volksgemeinschaft« wurden in der Praxis maßgeblich für die Bewertung einer Ehe. Aus den untersuchten Scheidungsverfahren geht hervor, dass es bei strittigen Verfahren vor allem um die Nützlichkeit der ehelichen Verbindung für die nationalsozialistische Leistungs- und Pflichtgemeinschaft ging. Erfüllte eine Ehe nicht mehr ihren Zweck als Reproduktions- oder Regenerationsgemeinschaft, galt sie den Scheidungsgerichten zumeist als lösbar. Die Nützlichkeitserwägungen, die mit dem neuen Zerrüttungsprinzip in die Scheidungspraxis Einzug hielten, spielten gerade scheidungswilligen Ehemännern in die Karten. Konnten sie nachweisen, dass die bestehende Ehe sie von einer neuen, aussichtsreichen Partnerschaft abhielten oder sich ansonsten nachteilig auf ihre Leistungsfähigkeit auswirkte, setzten sie ihren Scheidungswunsch auch häufig gegen den Widerspruch der Ehefrau durch. Das nationalsozialistisch novellierte Ehe- und Scheidungsrecht muss daher frauen- und familienpolitisch als anachronistisch gelten. Es bedeutete eine eindeutige Verschlechterung des Rechtsstatus der Ehefrau – und beraubte sie nicht zuletzt der Rechtssicherheit vor Tätlichkeiten durch den Mann, indem es Gewaltanwendungen in der Ehe de facto bagatellisierte. Damit schrieb es lange tradierte patriarchale Normen und Verhaltensmuster fest und verhalf ihnen zu neuer Legitimität.

52 Humphrey, Reformdiskussion (wie Anm. 14), S. 290. 53 Vgl. Werner Schubert, Einleitung, in: ders. (Hg.), Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgewählte Quellen zu den wichtigsten Gesetzen und Projekten aus den Ministerialakten, Paderborn 1993, S. XXI-XXIV, hier: S. XXII.

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Die Grenzen der »Volksgemeinschaft« Deutsch-ausländische Eheschließungen 1933-1945 Ehe und Familie spielten in den nationalsozialistischen Konzeptionen einer rassisch homogenen »Volksgemeinschaft« eine zentrale Rolle.1 Für die Nationalsozialisten war die Ehe maßgeblich eine Institution zur Erhaltung des »Volkskörpers«, sodass sie mit zahlreichen politischen Maßnahmen und Gesetzen die Freiheit von Eheschließungen einschränkten. Soweit bekannt und erforscht, markierten die Nürnberger Gesetze von 1935, die den als arisch definierten Deutschen Eheschließungen mit als Juden definierten Personen untersagten, einen Schritt auf dem Weg in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Weitaus weniger bekannt sind die Planungen, die Nürnberger Gesetze auf andere Gruppen zu übertragen und sogar alle Ehen mit Personen zu verbieten, die weder der Staatsangehörigkeit nach noch sprachlich-kulturell der deutsch-arischen »Volksgemeinschaft« zugerechnet wurden – auf die mangelnde Eindeutigkeit der Kriterien und ihre Widersprüchlichkeit wird zurückzukommen sein. Quantitativ überstiegen die Ausländerehen, das heißt Ehen mit Personen anderer Staatsangehörigkeit, die »Mischehen«, wie in der nationalsozialistischen Diktatur Eheschließungen mit Juden genannt wurden. Im Zentrum des Aufsatzes steht erstens eine Rekonstruktion der Ideen, den »Volkskörper« durch ein Verbot aller Ausländerehen umfassend abzugrenzen. Dies erreichte zwar nie förmlichen Gesetzesstatus, wurde aber partiell in Form von Erlassen und Verordnungen umgesetzt – typisch für die Rechtsetzung im »Dritten Reich«. Zweitens werden die hochgradig ambivalenten Entscheidungen der involvierten Institutionen analysiert. In der Forschung standen lange die harten Grenzen der »Volksgemeinschaft« im Fokus, an denen sich die gedachte Ordnung, die Projektion der nationalsozialistischen idealen Gesellschaft, auf dem Wege der Exklusion manifestierte.2 1 Vgl. die Pionierstudien der Frauen- und Geschlechtergeschichte, v. a. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986 und Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991. 2 Forschungen zur »Volksgemeinschaft« fokussierten über lange Zeit hauptsächlich die politischen Abgrenzungs- und Exklusionsverfahren, v. a. auf dem Territorium des »Altreichs«. Demgegenüber hat Elizabeth Harvey auf die Bedeutung der Utopie der »Volksgemeinschaft« außerhalb des »Altreichs« und auf das damit verbundene Forschungspotenzial verwiesen. Vgl. Elizabeth Harvey, Eine Utopie mit tödlichen Ausschlussklauseln, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 445-452, hier: S. 450. Martina Steber / Bernhard Gotto arbeiten die Flexibilität des Begriffs »Volksgemeinschaft« heraus. In einem Analysemodell stellen sie fünf mögliche (Be-)Deutungsdimensionen des Begriffs vor. Vgl. Martina Steber / Bernhard Gotto, Volksgemeinschaft im NS -Regime. Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens. Diskussion: Volksgemeinschaft und die Gesellschaftsgeschichte des NS Regimes, in: ebd., S. 433-445, hier: S. 439-443.

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Doch es wird zu fragen sein, warum bis zum Zusammenbruch des Regimes in die nationalsozialistische Gesellschaft eingeheiratet und sie auf diese Weise erweitert werden konnte. Der Aufsatz wird zeigen, dass und wie seit Beginn des Krieges – als die immer wieder situativ und vor Ort neu geschaffene »Volksgemeinschaft« endgültig zu einer »Kampfgemeinschaft« umgeformt wurde3 – vermehrt Anträge auf Eheschließungen mit Ausländerinnen und Ausländern eingingen, oftmals von denjenigen, die unter ihren Waffen standen. Die jeweiligen Entscheidungen lassen sich aus der volatilen Rassenpolitik erklären. Doch zudem – so die These – lag es im Rechtsverständnis des Nationalsozialismus begründet, nicht nur zahlreiche Ausnahmen von den Erlassen und Verordnungen zuzulassen, sondern eine regelrechte Kultur der Einzelfallentscheidung zu pflegen. Wie die »Volksgemeinschaft« zusammengesetzt wurde, war also mitunter eine Frage der Pragmatik und der Praxis, der außenpolitischen oder militärstrategischen Rücksichtnahmen, des Taktierens der verschiedenen Institutionen im System des Nationalsozialismus. Nationalsozialistische Geschlechterkonzeptionen bildeten sich, so eine weitere These, in den Debatten und Beschlüssen ab – und wirkten sich auf diese aus. Die nationalsozialistische Formel von der »Gleichwertigkeit« der Geschlechter, die in der Debatte überwiegend auf Sphären der Partizipation bezogen wird,4 sollte sich im Unterlaufen des Staatsbürgerschaftsrechts zeigen. Zudem lassen sich Bedeutungszuschreibungen aus dem nationalsozialistischen Blick auf das Geschlechterverhältnis erklären, der Männern und Frauen unterschiedliche, geschlechtsspezifische Sphären zuwies, womit zwar ganz offensichtlich an tradierte Konzeptionen aus dem Bürgertum angeknüpft, explizit aber die weibliche Sphäre aufgewertet wurde. Franka Maubach hat dies einmal überzeugend als »attraktiven Weg zwischen differenz- und gleichheitstheoretische[n] Ansätze[n]« beschrieben, der sowohl Frauen als auch Männern Überlegenheitsgefühle ermöglicht habe, während die Abwertung sich nach außen richtete, auf die vom Kollektiv Ausgegrenzten.5 Für die Betroffenen, deren Perspektive hier drittens nur angedeutet werden kann, bedeutete dies permanente Rechtsunsicherheit. Es stellt sich die Frage, ob und wie sich die Heiratswilligen in ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus verorten lassen, wie sie argumentierten und ob sie sich trotz der Ausländerheirat in die »Volksgemeinschaft« einordnen wollten. Grundlage des Aufsatzes sind neben der Forschungsliteratur die im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes überlieferten Zentralakten zu deutsch-ausländischen Eheschließungen.6 3 Zum Begriff der »Kampfgemeinschaft« siehe Nicole Kramer, Krieg und Partizipation. »Volksgenossinnen« in den NS -Frauenorganisationen, in: Christine Hikel / Nicole Kramer / Elisabeth Zellmer (Hg.), Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 73-84, hier: S. 76. 4 Ebd., S. 74. 5 Franka Maubach, »Volksgemeinschaft« als Geschlechtergemeinschaft. Zur Genese einer nationalsozialistischen Beziehungsform, in: Gudrun Brockhaus (Hg.), Attraktion der NS -Bewegung, Essen 2014, S. 251-268, hier: S. 268. 6 Mehreren Personen bin ich zu Dank verpflichtet. Vincent Hoyer und Martina Egger unterstützten als Hilfskräfte die Recherchen, Dr. Annemone Christians gab mir weiterführende

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1. Eheregulierung im Nationalsozialismus 1933-1939 Nach der Machtübertragung entfalteten die Nationalsozialisten zahlreiche Aktivitäten zur Regulierung und Kontrolle von Ehen.7 Das NS -System kappte die Schutzund Schrankenfunktion des Rechts in vielen Bereichen, was die immer stärkere Durchdringung des Privaten ermöglichte. Insbesondere das Familien- und Eherecht waren von der Rechtsumgestaltung betroffen.8 Für die Nationalsozialisten war die Ehe maßgeblich eine Institution zur Erhaltung der deutschen »Volksgemeinschaft«. Entsprechend war die Frage der Nachkommen zentral, und so ergingen zahlreiche politische Maßnahmen und Gesetze in diesem Geiste.9 Hinsichtlich des erwünschten Teils der »Volksgemeinschaft« war die Politik klar pronatalistisch, wobei zu betonen ist, dass einige Akteure, gerade in der Parteikanzlei, die Geburtenförderung nicht an die Institution der Ehe koppeln wollten.10 Auch das 1938 verabschiedete neue Ehegesetz stand deutlich in diesem Zeichen, denn es erweiterte die Möglichkeiten für Scheidungen um »Fortpflanzungsverweigerung« und Unfruchtbarkeit.11 In Bezug auf rassenpolitisch und (sozial-)eugenisch unerwünschte Personen war die Politik hingegen antinatalistisch.12 So bedeutete das »Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes« vom 18. Oktober 1935, auch »Ehegesundheitsgesetz« genannt, ein Eheverbot für physisch und psychisch Beeinträchtigte.13 Explizit galt dieses Gesetz nicht für diejenigen Paare, bei denen der Verlobte Ausländer war. Hintergrund hierfür war die juristische Stellung der Frau im Staatsangehörigkeitsrecht: Noch bis 1953 verloren deutsche Frauen die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn sie einen Ausländer

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Literaturhinweise, und mit Dr. Gaelle Fisher diskutierte ich erstmals die Argumente. Wesentliche Anregungen verdanke ich den HerausgeberInnen des Themenhefts, der Reihe und den anderen AutorInnen. Zu weiteren Veränderungen im Eherecht, etwa der Möglichkeit zur Fernehe, vgl. Cornelia Essner /Edouard Conte, »Fernehe«, »Leichentrauung« und »Totenscheidung«. Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 201-227. Generell zur Rolle der Standesbeamten s. Siegfried Maruhn, Staatsdiener im Unrechtsstaat. Die deutschen Standesbeamten und ihr Verband unter dem Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2002. Vgl. u. a. die Argumentationen der Rechtshistoriker Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 2005, S. 400-429 und Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974, S. 99. Vgl. grundlegend Czarnowski, Paar (wie Anm. 1). Rudolf Heß etwa stellte den Pronatalismus über die Ehe. Vgl. Peter Longerich, Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes, Berlin 2015, S. 206; Michelle Mouton, From Nurturing the Nation to Purifying the Volk. Weimar and Nazi Family Policy, 1918-1945, New York 2009. Arno Buschmann, Mit Brief und Siegel. Kleine Kulturgeschichte des Privatrechts, München 2014, S. 237. S. dazu auch den Beitrag von Annemone Christians in diesem Band. Nach wie vor exzellent Gisela Bock, Gleichheit und Differenz in der nationalsozialistischen Rassenpolitik, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 277-310. Online unter: http://www.verfassungen.de/de/de33-45/ehegesundheit35.htm (letzter Zugriff: 22. 12. 2017).

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heirateten (damit hielt Deutschland besonders lange am Prinzip der Familieneinheit fest, das zahlreiche andere Staaten bereits in der Zwischenkriegszeit kippten).14 Entsprechend sah das Gesetz von 1935 solche deutsch-ausländischen Verbindungen als verloren für die deutsche »Volksgemeinschaft« an; für das Regime waren sie nicht weiter von Interesse.15 Interessanterweise wurde dieses Prinzip noch im NS -Staat ausgehöhlt, worauf ich zurückkommen werde. Zu den zentralen Ehegesetzen im »Dritten Reich« gehörten die erwähnten Nürnberger Gesetze von 1935, die jüdischen Deutschen den Geschlechtsverkehr und die Heirat mit nicht-jüdischen Deutschen verboten und Zuwiderhandlungen unter strenge Strafe stellten.16 Das Verbot der »Mischehen«, zuvor Bezeichnung für interreligiöse und vor allem interkonfessionelle Ehen, war Teil des nationalsozialistischen Ideals eines rassisch reinen Deutschlands. In zahlreichen Studien untersucht,17 sind das Verbot und das teils widerständige Handeln der »arischen« Ehepartner mit dem Film Rosenstraße (BRD 2003, Regie: Margarethe von Trotta) oder mit den Tagebüchern Victor Klemperers in der jüngeren Vergangenheit auch in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Insgesamt geht man für 1933 von 35.000 deutsch-jüdischen Ehen aus. 1939 lebten noch knapp 20.500 Paare im Deutschen Reich. Während die erste Zählung nur diejenigen Paare umfasste, bei denen ein Partner der jüdischen Gemeinde angehörte, basierte die zweite, nach NS -Kriterien durchgeführte Zählung auf der Abstammung der Ehepartner.18 Flankiert wurde das dritte der Nürnberger Gesetze, das sogenannte Blutschutzgesetz, von einer Ausführungsverordnung, die noch weiter griff. So lautete der Paragraf 6: »Eine Ehe soll ferner nicht geschlossen werden, wenn aus ihr eine die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährdende Nachkommenschaft zu erwarten ist.«19 Was das genau hieß, ließ der Kommentar zur deutschen Rassengesetzgebung von Wilhelm Stuckart und Hans Globke offen. Es wurde lediglich auf persönliche rassenbiologische Merkmale verwiesen. In Dienstanweisungen erhielten die Standesbeamten, die in der Praxis über Ex- und Inklusion entschieden, ebenfalls nur spärliche Hinweise auf konkrete Gruppen, für die ein Eheverbot ergehen sollte. Im Großen und Ganzen blieben die ausführenden Beamten daher auf sich gestellt.20 14 Vgl. Leo Raape, Die Staatsangehörigkeit kraft Eheschliessung und kraft Abstammung. Eine rechtsvergleichende Abhandlung zum Staatsangehörigkeitsrecht und zum internationalen Privatrecht, Hamburg 1948. 15 Vgl. Dorothee Klinksiek, Die Frau im NS -Staat, München 1982, S. 75 f. 16 Vgl. grundlegend Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933-1945, Paderborn 2002; Beate Meyer: »Jüdische Mischlinge«. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945, München 1999. Zu verweigerten Eheschließungen bereits vor 1935 vgl. Maruhn, Staatsdiener (wie Anm. 7), S. 92. 17 Vgl. den Literaturbericht von Yfaat Weiss, Deutsche, Juden und die Weder-Nochs: Neuerscheinungen zum Thema deutsch-jüdische Mischehen, in: WerkstattGeschichte 27 (2000), S. 73-82. 18 Vgl. Meyer, »Mischlinge« (wie Anm. 16), S. 25. 19 Erste Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 14. November 1935, online unter: http://www.1000dokumente.de/pdf/ dok_0007_nue_de.pdf (letzter Zugriff: 22. 12. 2017). 20 Vgl. dazu Maruhn, Staatsdiener (wie Anm. 7), S. 100 f.

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Erst 1938 erfolgten mit einem neuen Personenstandsgesetz detaillierte Instruktionen, und eine Dienstanweisung schrieb den Standesbeamten vor, die Abstammung genau zu prüfen.21 Während die Anweisungen für Heiraten mit als Juden definierten Personen immer weiter ausdifferenziert wurden, blieb die Kategorie der Personen »artverwandten Blutes« weiterhin diffus – eben weil die Rassenpolitik so volatil war. Doch seit Mitte der dreißiger Jahre gab es Debatten über die Ausweitung der Eheverbote. Daran beteiligt waren unter anderem die Reichskanzlei, das Reichsministerium des Innern, das Reichsministerium der Justiz, das Auswärtige Amt sowie der Stab des Stellvertreters des Führers. Führend in dieser Debatte war die Parteikanzlei beziehungsweise der Stab des Stellvertreters des Führers, ein grundsätzlich einflussreicher Faktor im Partei- und Staatsapparat des »Dritten Reichs«. Einige Motive der Akteure deckten sich, andere wurden unterschiedlich stark akzentuiert, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Generell herrschte in vielen Ministerien die Vorstellung vor, dass bei binationalen Ehen, wenn also die Partner vor der Eheschließung unterschiedliche Staatsangehörigkeiten hatten, politische Loyalitätskonflikte auftreten könnten. So hieß es 1939 in der Begründung zu einem Gesetzesentwurf, der Ausländerehen untersagen sollte, dass innere Konflikte in solchen Fällen vorprogrammiert seien. Das betreffe sowohl den deutschen Partner als auch die ausländische Frau, die mit der Heirat zwar die deutsche Staatsbürgerschaft erwerbe, aber doch weiter unter dem Einfluss ihrer »Sippe« stehe, was wiederum auf den deutschen Partner zurückwirke.22 Noch in der Weimarer Republik dominierte der Glaube an die männliche Führung in der Familie, sodass man davon ausging, dass mit der Familieneinheit der Staatsbürgerschaft keine Loyalitätskonflikte auftreten würden.23 Im Nationalsozialismus änderte sich das, was auf die Konzeption der völkischen Gemeinschaft zurückzuführen ist. Denn das Ideal der »Komplementarität der Geschlechter« wertete die Bedeutung der Frauen für das Gemeinwesen deutlich auf, waren sie doch für Reproduktion und Erziehung in der häuslichen Sphäre zuständig, und es wurden ihnen eigene Räume der politischen Partizipation eröffnet.24 Frauen, die in die Gemeinschaft einheirateten, konnten in dieser Vorstellung nicht einfach von ihrem Mann geleitet und geführt werden, da sie von Beginn an eine wichtige und eigenständige Rolle für die »Volksgemeinschaft« spielten. Doch über wie viele binationale Paare diskutierte man? Insgesamt heirateten im Jahr 1937, für das Zahlen vorliegen, knapp 13.000 Personen Ausländer, wobei mehr Männer ausländische Frauen ehelichten (7.581) als andersherum (5.279). Absolut gesehen, gab es damit im »Dritten Reich« mehr Ehen mit nichtdeutschen Staats21 Vgl. ebd., S. 113. 22 Reichsministerium des Innern (RMI) an Auswärtiges Amt (AA), Stellvertreter des Führers, Einladung zur Besprechung am 7. Januar 1939; Gesetzesentwurf, beiliegend, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (nachfolgend PA AA), RZ 409, R 49686. 23 Vgl. Maren Röger, Choices Made in Times of Rising Nationalism and National Socialism. Intermarriage between Germans and Eastern Europeans (1871-1945), in: Adrienne Edger / Benjamin Frommer (Hg.), Intermarriage in Eastern Europe and Eurasia: Ethnic Mixing Under Fascism, Communism, and Beyond, Lincoln 2018 (im Druck). 24 Kramer, Partizipation (wie Anm. 3), S. 74.

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angehörigen als »Mischehen«, wobei hier bei einer Verteilung von 60 zu 40 Prozent durchaus ein »Gender-Bias« auszumachen ist. Eine Erklärung dafür kann das angeführte Staatsbürgerschaftsrecht liefern, das für Frauen den Verlust der Staatsbürgerschaft bedeutete und sie vor einer Eheschließung mit Personen zögern ließ, deren Landesrecht sich im Falle von Scheidung und Unterhaltsstreitigkeiten für Frauen nachteilig auswirken konnte. Eine weitere Ursache könnte in zeitgenössischen Mobilitätsmustern zu finden sein, die mehr Männer durch berufs- und ausbildungsbedingte Auslandsaufenthalte in Kontakt mit ausländischen Frauen brachten. Bei diesen Berechnungen bleibt aber zu bedenken, dass die Anzahl der jüdischen Bevölkerung ein Prozent nie überschritt. Dagegen gab es prozentual gesehen stets mehr Ausländer: So weisen Statistiken aus dem Jahr 1925 mit 921.900 nicht-deutschen Personen insgesamt einen Ausländeranteil von 1,48 Prozent aus (1933 war der Ausländeranteil auf 1,16 Prozent gesunken; der Anteil der jüdischen Bevölkerung auf 0,77 Prozent).25 Wurden zusätzlich zum Kriterium der Staatsangehörigkeit allerdings noch sprachlich-kulturelle Kriterien einbezogen, dann veränderten sich auch die absoluten Zahlen. Denn bei einem Drittel der 13.000 Ausländer handelte es sich, wie in der Behördenkorrespondenz vermerkt wurde, um sogenannte Volksdeutsche, das heißt im Ausland lebende Personen, die zwar keine deutsche Staatsbürgerschaft hatten, aber als deutsch eingeordnet wurden.26 Die Behandlung dieser Gruppe – in sich sehr heterogen und immer wieder neu definiert – stellte die Institutionen, die an der Diskussion der umfassenden Eheverbote beteiligt waren, vor die größten Herausforderungen. Auf der einen Seite waren die als deutsch definierten Personen ohne deutschen Pass zentral für die »Volksgemeinschaft« in ihrer inklusiven Dimension.27 Auf der anderen Seite konnten Personen, die im Ausland lebten und keinen deutschen Pass hatten, schwerlich deutscher Gesetzgebung unterworfen werden. Das spielte in den Überlegungen der meisten Diskussionsbeteiligten jedoch keine Rolle. Eine wichtige Bedeutung hatten dagegen volkstums- und rassenpolitische Überlegungen, die von den beteiligten Institutionen – je nach Zeitpunkt der Debatte – mehr oder weniger prononciert vertreten wurden. Insbesondere Martin Bormann als Stabsleiter des Stellvertreters des Führers Rudolf Heß betonte stets rassische Gründe und drängte auf möglichst umfassende Lösungen.28 Am weitreichendsten war die 25 Angaben nach Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, S. 401 f.; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Vierundfünfzigster Jahrgang 1935, hg. vom Statistischen Reichsamt, Berlin 1935, S. 16; Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008, S. 283. 26 Reichsminister des Innern an Chef der Reichskanzlei, Berlin, 7. Januar 1939, in: PA AA , RZ 409, R 49686. 27 Vgl. als ersten Einstieg zur »Volksliste« Gerhard Wolf, Deutsche Volksliste, in: Ingo Haar / Michael Fahlbusch / Matthias Berg (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen, Institutionen, Forschungsprogramme, Stiftungen, München 2008, S. 129-135. Ein umfassender Überblick über »Volksdeutsche« fehlt uns bis heute. 28 Stellvertreter des Führers an Chef der Reichskanzlei München, Braunes Haus, 23. März 1939, in: PA AA , RZ 409, R 49686.

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Idee, sowohl Deutschen im Inland als auch den im Ausland lebenden Deutschen Eheschließungen mit Staatsangehörigen anderer Nationen generell zu verbieten. Dabei entspannen sich Diskussionen, wie mit den »Volksdeutschen« umgegangen werden sollte. So wies unter anderem der Außenminister darauf hin, dass es politisch problematisch sei, die »Volksdeutschen« als Ausländer zu definieren: »Ich möchte noch bemerken, dass es nicht in der Absicht des Führers liegen dürfte, Heiraten zwischen deutschen Staatsangehörigen und Volksdeutschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, grundsätzlich zu verhindern. Auch empfiehlt es sich meiner Ansicht nach nicht, bei Eheschließungen mit Angehörigen von Völkern, die uns politisch oder rassisch nahestehen, einen zu strengen Maßstab anzulegen.«29 Der Gesetzesentwurf, den das Reichsjustizministerium Anfang 1939 vorbereitete, umfasste »Volksdeutsche« erst einmal nicht. Zu groß waren die juristischen Schwierigkeiten. Im Text hieß es daher lediglich, dass im Inland wohnende Deutsche »eine Ehe mit Ausländern nicht eingehen sollen« und dies für Funktionsträger, Beamte, Angehörige der Wehrmacht und des Reichsarbeitsdienstes (RAD), die Unterführer der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie Angehörige der Parteigerichte und des Sicherheitsdienstes (SD) auch gelte, wenn der Wohnsitz im Ausland liege.30 Vor allem der Reichsminister der Justiz sowie die Reichsminister des Innern und des Äußeren waren sich einig, dass es kaum möglich sei, das Verbot auf die »Volksdeutschen« auszuweiten. Diese Personen könnten deutschem Recht gar nicht unterworfen werden, selbst wenn deren häufige Heiraten mit Nicht-Deutschen politisch in hohem Maße unerwünscht seien, so der Reichsminister der Justiz.31 Bormann fand diese Lösung unbefriedigend und pochte darauf, dass auf jeden Fall alle im Ausland wohnenden deutschen Staatsangehörigen einbezogen werden müssten, wenn man eine »für das deutsche Volk verderbliche Rassenmischung« vermeiden wolle.32 Diesem Druck gaben die Beteiligten schließlich nach, wenngleich die rechtliche Umsetzung offenblieb. Doch in einem Punkt widersprach Reichsjustizminister Franz Gürtner entschieden. Bormann wollte die Verbote als sogenanntes trennendes Ehehindernis ausgestaltet wissen, was eine Annullierung bestehender Verbindungen und die nachträgliche Auflösung bereits geschlossener Ehen durch ein Gericht bedeutet hätte. Im Ergebnis ist eine Annullierung einer Scheidung gleichzusetzen, folgt aber anderen Grundsätzen. Aufgehoben werden kann eine Ehe etwa dann, wenn zum Zeitpunkt der Eheschließung ein Eheverbot bestand. Gürtner wies diese Idee nach einer erneuten Ressortbesprechung im April 1939 zurück. »Die Aufstellung eines trennenden Eheverbots«, argumentierte er, sei »eine so scharfe Waffe in der Hand des 29 Reichsminister des Auswärtigen an Reichsminister des Innern und Chef der Reichskanzlei, Berlin, Januar 1939, in: PA AA , RZ 409, R 49686. 30 Gesetzesentwurf über die Eheschließung Deutscher mit Ausländern, in: PA AA, RZ 409, R 49688. 31 Vgl. Reichsminister der Justiz an Chef der Reichskanzlei, Berlin, 14. Januar 1939, in: PA AA , RZ 409, R 49686. 32 Stellvertreter des Führers an Chef der Reichskanzlei, München, Braunes Haus, 23. März 1939, in: PA AA , RZ 409, R 49686.

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Staates«, dass er seine Bedenken in diesem Bereich aufrechterhalten müsse.33 In diesem Dokument finden sich zumindest noch Versatzstücke der bürgerlichen Rechtsvorstellung, dass die Familie ein privater Raum sei, in dem die staatliche Interferenz begrenzt sei. Derlei Konzeptionen spielten bei den anderen Vertretern der NS -Behörden keine erkennbare Rolle mehr. Vielmehr überwog die Idee eines biologischen deutschen Volkskörpers, der Individuen als Teil eines größeren Ganzen klassifizierte, das vor fremden rassischen Einflüssen geschützt werden müsse.34 Auch in der Zeitschrift Der Standesbeamte, dem Zentralorgan für diesen Berufsstand, spiegelte sich dieses Denken wider. Achim Gercke, Sachverständiger für »Rassenforschung« beim Reichsinnenministerium und von 1933 bis 1935 Vorsitzender des Reichsbundes der Standesbeamten, informierte die Beamten 1934 dezidiert: »Der Einzelne gilt für sich wenig, im Rahmen seines Volkes kann er ein wertvolles Glied sein. In rassischer Hinsicht liegt sein Wert in der Bereitschaft, eine hochwertige Ehe zu führen.«35 Die meisten Argumente gegen ein allumfassendes Eheverbot mit Ausländern waren jedoch eher politisch-pragmatischer Natur. So spielten etwa die politischen Reaktionen des Auslands in diesen internen Debatten eine wichtige Rolle. In den ersten Jahren der NS -Diktatur war das Auswärtige Amt vor allem um diplomatische Verwicklungen besorgt, da sich ausländische Botschaften über nicht genehmigte Ehen beschwerten. Zum Beispiel zeigte sich im Dezember 1933, also deutlich vor Verabschiedung der Nürnberger Gesetze und den weitreichenden Diskussionen um umfassende Verbote von Ausländerehen, die Türkische Botschaft verärgert, als sie erfuhr, dass die Ehe eines Türken mit einer Deutschen nicht genehmigt wurde, da »es sich um eine rein arisch deutsche Frau handelt«. Rassen- und Religionsunterschiede gebe es in der Türkei nicht mehr, und internationale Gesetze verböten eine Diskussion darüber, ob Türken »Arier« oder Nicht-»Arier« seien: »Eine Klassifizierung von höheren und niederen Klassen zwischen deutscher und türkischer Nation, die beide im Kriege Schulter an Schulter gekämpft haben, könnte man dahin deuten, daß sie einen schlechten Eindruck auf die dadurch entstandene Freundschaft machen würde.« Die Türkische Botschaft fügte hinzu, dass sie sich glücklich schätzen werde, die diesbezügliche Antwort des Deutschen Auswärtigen Amtes zu erfahren.36 Eine Verbalnote sandte auch die Chinesische Gesandtschaft, als einem ihrer Staatsangehörigen, der in Berlin-Charlottenburg wohnhaft war, die Heirat untersagt wurde.37 33 Reichsminister der Justiz an Beauftragten für den Vierjahresplan, Stellvertreter des Führers, Reichsminister des Innern, Reichsminister des Auswärtigen, Chef der Reichskanzlei, Berlin, 5. Mai 1939, Betrifft: Verbot der Eheschließung Deutscher mit Ausländern, in: PA AA , RZ 409, R 49686. 34 Auch Gürtner sieht dies als einzigen akzeptablen Grund an, weshalb sogar trennende Ehehindernisse eingesetzt werden können. Nur da, »wo Grundlagen der völkischen Ordnung gefährdet sind«, sei dies ausnahmsweise möglich. Vgl. ebd. 35 Zit. nach Maruhn, Staatsdiener (wie Anm. 7), S. 65. 36 Türkische Botschaft an das Deutsche Auswärtige Amt, Verbalnote, Berlin, 20. Dezember 1933, in: PA AA , RZ 409, R 49683. 37 Chinesische Gesandtschaft an das Auswärtige Amt, Verbalnote, Berlin, 1. November 1933, in: PA AA , RZ 409, R 49700.

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Fälle wie diese belegen, unter welchen Druck das Auswärtige Amt geriet. Sie belegen aber auch, dass sich Eheablehnungen in der NS -Diktatur aus unterschiedlichen Quellen speisten. Zumindest für diese frühe Phase sollte auf Kontinuitätslinien von Kaiserreich und Weimarer Republik in den Nationalsozialismus verwiesen werden. Auch in den »Schutzgebieten« der Deutschen wurden partiell Eheverbote erlassen. Rassische Ideologien spielten dabei eine Rolle, wenngleich sie nicht das stärkste Motiv für die Kolonialehenverbote darstellten.38 Als Gründe zu nennen sind außerdem das »Prestige des weißen Mannes«, dem diese Ehen vermeintlich schadeten,39 sowie das Homogenitätsideal, das hinsichtlich Ehen vorherrschte. Eheschließungen innerhalb der gleichen Glaubensgemeinschaft und der gleichen Klasse waren die Norm. Entsprechend waren es neben direkten politischen Interferenzen vor allem Standesschranken und konfessionelle Differenzen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Partnerwahlentscheidungen beeinflussten. Im Kaiserreich selbst gab es kein derartiges Reichsgesetz wie in den überseeischen Kolonien. Entsprechend konnten solche »gemischten« Paare auch nach Erlass der »Ehehemmung« in den »Schutzgebieten« im Kaiserreich und später in der Weimarer Republik vor den Standesbeamten treten. Angetan waren die deutschen Autoritäten von den Heiratswünschen der Paare mit unterschiedlicher Hautfarbe nicht, vor allem aber lehnten sie Ehen von Menschen unterschiedlicher Konfession ab. Sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik finden sich Fälle, in denen Ehewünsche mit Moslems zwar nie offiziell verboten, aber auf bürokratischem Wege blockiert wurden. Dazu kam, gerade im Fall von Heiratswünschen deutscher Frauen mit Männern muslimischen Glaubens, eine selbst ernannte Schutzfunktion des Staates seinen weiblichen Mitgliedern gegenüber.40 38 Gerade diese Eheverbote haben die Geschichtswissenschaft stark beschäftigt, da an ihrem Beispiel die Frage nach Kontinuitätslinien in der Geschichte des rassischen Denkens speziell in Deutschland verhandelt wurde. Viele Kolonialmächte stellten sich um 1900 die Frage, ob und wie man politisch solche gemischten Ehen samt ihrer Nachkommenschaft verhindern könne, doch Deutschland agierte am rigidesten. Vgl. Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen / München 2001, S. 304. Mich überzeugt die Position von Birthe Kundrus, die argumentiert, dass das Deutsche Reich als imperialer Nachzügler habe aufholen wollen, woraus ein gewisses »Overacting« resultiert habe, welches sich gerade in der »Mischehen«-Gesetzgebung zeigte. Vgl. Birthe Kundrus, Von der Peripherie ins Zentrum. Zur Bedeutung des Kolonialismus für das Deutsche Kaiserreich, in: Sven Oliver Müller / Cornelius Torp (Hg.), Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 359-373, hier: S. 368. 39 Birthe Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003, S. 222. 40 Zur Regulierung deutsch-ausländischer Ehen 1871-1945 vgl. Röger, Choices (wie Anm. 23). Dort auch zum generellen Umgang mit Ausländerehen im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Vgl. auch die Publikationen im Rahmen von Christoph Lorkes Habilitationsprojekt, etwa Christoph Lorke, Challenging Authorities through »Undesired« Marriages: Administrational Logics of Handling Cross-Border Couples in Germany, 1880-1930, in: Journal of Migration History 4 (2018), S. 54-78.

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Die Akten des Auswärtigen Amtes zeigen, wie besorgt das Ministerium in dieser ersten Phase der NS -Diktatur wegen möglicher diplomatischer Verwicklungen war. Dabei spielten konkrete außenpolitische Ereignisse keine Rolle, zumindest nicht in der archivalischen Überlieferung. So wird etwa die Olympiade 1936, bei der das Regime bekanntermaßen ein positives Bild von sich abgeben wollte, in den Quellen nicht als besonderes Ereignis erwähnt. Bis 1939 änderte sich die Haltung des Auswärtigen Amtes jedoch. Ein absolutes Verbot, befand der neue Außenminister Joachim von Ribbentrop nun, solle nicht an der Furcht vor ausländischen Protesten scheitern. Sicherlich würde ein derartiges Verbot »im Ausland ziemliches Aufsehen erregen und der gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichteten Hetze eine Zeitlang neuen Stoff bieten. Jedoch ist kaum zu befürchten, dass hierdurch unsere außenpolitischen Beziehungen wesentlich belastet werden könnten.«41 Die politischen Prioritäten des Amtes hatten sich geändert – ein weiteres Indiz dafür, dass sich das Amt zunehmend in den Dienst der NS -Rassenpolitik stellte.42 Ribbentrop wollte allerdings an der Bearbeitung der wichtigen Fälle beteiligt werden, um unerwünschte außenpolitische Rückwirkungen zu vermeiden. Zwar hatte das Auswärtige Amt seine Position geändert, doch ist die »kunstvoll aufrechterhaltene Unbestimmtheit« in der Rassen- und Ehepolitik, die Maruhn »zumindest in den Anfangsjahren des Regimes« konstatiert, nicht nur darauf zurückzuführen – und sie dominierte, so meine These im Gegensatz zu Maruhns Interpretation – auch in den folgenden Jahren.43 Denn das Prinzip der Einzelfallentscheidungen wurde weiter praktiziert, auch wenn kurz vor Kriegsausbruch eine Lösung nahe schien. Hitler gab konkrete Weisungen zum Gesetzesentwurf, und das Reichsjustizministerium als federführende Behörde sollte nochmals die Punkte aller beteiligten Institutionen zusammenfassen. Doch mit Kriegsbeginn wurden all diese Debatten eingestellt. Ausschlaggebend dafür waren die nun wieder höher bewerteten außenpolitischen Erwägungen.44 So wollte man es weder riskieren, Verbündete zu brüskieren, noch sich politischen Protesten anderer Länder aussetzen. Gleichwohl war aber noch vor Kriegbeginn Einigkeit darüber erzielt worden, dass bestimmten Gruppen die Eheschließung mit Ausländern 41 Reichsminister des Auswärtigen an Reichsminister des Innern und Chef der Reichskanzlei, Berlin, Januar 1939, in: PA AA , RZ 409, R 49686. Der Reichsminister des Innern zog an anderer Stelle den Vergleich zu Italien, das ein Eheverbot erlassen hatte. Vgl. Reichsminister des Innern an Chef der Reichskanzlei, Berlin, 7. Januar 1939, in: PA AA , RZ 409, R 49686. 42 Um die Rolle des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus, vor allem hinsichtlich der Judenvernichtung, entspann sich 2010 eine intensive Kontroverse, ausgelöst durch die Publikation von Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010. 43 Vgl. Maruhn, Staatsdiener (wie Anm. 7), S. 126. 44 In einem späteren Vermerk des AA war zu lesen, dass Hitler selbst die Anweisung gegeben habe, das absolute Verbot während des Krieges nicht weiter zu verfolgen. Vgl. die Aufzeichnung des zuständigen Referenten Schwagula über eine Besprechung mit dem Sachbearbeiter im RJM, Massfeller, in: PA AA , RZ 409, R 49687.

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generell untersagt sein sollte. Auf einem förmlichen Gesetz basierte dieses Verbot nicht. Es stützte sich teils auf Führererlasse, teils auf Verordnungen. Das entsprach der üblichen Rechtssetzungstätigkeit im Nationalsozialismus, die von einer Gemengelage aus Regierungsgesetzen, Führererlassen, Ministerialerlassen, Ministerialverordnungen und Verordnungen mit Gesetzeskraft bestimmt war.45 Welche Gruppen waren von Verboten und / oder Genehmigungspflichten betroffen? Und welche Funktion hatte dies für die weitergehende Umgestaltung in die geplante »Volksgemeinschaft«? Den vier Millionen NSDAP-Mitgliedern wurden Eheschließungen mit Ausländern zwar nicht vollständig verboten, sie waren aber ab 1937 genehmigungspflichtig. Ein parteiinternes Verbot erging im gleichen Jahr an die politischen Leiter der NSDAP, die die Weltanschauung des Nationalsozialismus vermittelten und abweichendes Verhalten kontrollierten. Bei Zuwiderhandlung erfolgte die Amtsenthebung.46 In der Armee gab es schon lange vor 1933 Heiratsbestimmungen. Sie wurden nun im Sinne der NS -Rassenideologie erweitert. Bereits seit 1936 bestand für alle Wehrmachtangehörigen die Pflicht, eine militärische Erlaubnis für die Eheschließung einzuholen, die nur erteilt wurde, wenn die Braut »deutschen oder artverwandten Blutes war«.47 Im Krieg wurde dies zeitweise in ein absolutes Verbot umgewandelt. Interessant ist außerdem die Gruppe der Angehörigen des Auswärtigen Dienstes. Ihnen war bereits in der Weimarer Republik kommuniziert worden, dass Eheschließungen »mit Ausländerinnen grundsätzlich unerwünscht« seien.48 Ab 1935 verschärfte sich das Vorgehen im Auswärtigen Amt.49 Ausnahmen, wie es sie in den letzten Jahren noch gegeben habe, hieß es, seien in Zukunft ausgeschlossen. Denn die Gründe, die gegen Hochzeiten mit Ausländerinnen sprächen, bestünden jetzt »in erheblich verstärktem Maße, und nicht nur hinsichtlich der höheren und mittleren Beamten, sondern auch hinsichtlich aller übrigen Beamten und der deutschen Angestellten und Arbeiter des gesamten auswärtigen Reichsdienstes«.50 Ein Verbot erging erst im September 1940, ein Jahr nach Kriegsbeginn. Vor Kriegsbeginn 45 Vgl. Bernd Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, Tübingen 2009, S. 9-13. 46 Vgl. Auswärtiges Amt an alle Missionen und Berufskonsulate, Berlin, 28. Februar 1937, in: PA AA , S 10, R 27258. Es handelte sich um ein parteiinternes Verbot, kein gesetzliches. Vgl. Stellvertreter des Führers an Chef der Reichskanzlei, München, Braunes Haus, 23. März 1939, in: PA AA , RZ 409, R 49686. 47 Vgl. zu den Details Diemut Majer, »Fremdvölkische« im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard am Rhein 1981, S. 191. 48 Auswärtiges Amt an alle Missionen und konsularischen Behörden, Berlin, 20. März 1935, in: PA AA , S 10, R 27258. Darin wurde an die Runderlasse vom 18. 8. 1925 (I A 1079) und vom 3. 8. 1927 (I A 2061) aus der Weimarer Republik erinnert. 49 Trotz dieser Anweisung scheint es weiterhin Anträge aus diesen Kreisen gegeben zu haben. Vgl. Auswärtiges Amt an die Leiter der deutschen diplomatischen und berufskonsularischen Vertretungen im Auslande, Berlin, 2. Mai 1936, in: PA AA , S 10, R 27258. 50 Ebd. Der Verbotserlass erging dann im September 1940. Vgl. Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Ehen der Beamten des Auswärtigen Dienstes vom 21. September 1940, in: PA AA , RZ 409, R 49687.

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intervenierte die NS -Diktatur nur bei den Personen, die qua Amt eine Art Vorbildfunktion für die breite Bevölkerung hatten oder deren Position als besonders neuralgisch für ausländischen Einfluss angesehen wurde, sei es im Auswärtigen Dienst oder im Militär. Der Kriegsausbruch brachte dann auf der einen Seite die Gesetzesinitiative für das absolute Verbot zum Erliegen, auf der anderen Seite führte er erst dazu, dass vermehrt deutsch-ausländische Ehen geschlossen wurden.

2. Flexibilisierung der Grenzen im Rassenkrieg – Einzelfallentscheidungen 1939-1945 Mit dem Überfall auf Polen begannen die Deutschen einen Krieg, der Millionen Zivilisten und Soldaten in Europa das Leben kosten sollte und von exzesshafter und geplanter Gewalt bislang unbekannten Ausmaßes, am deutlichsten sichtbar am Mord an den europäischen Juden, geprägt war. Ausgrenzung und Vernichtung wurden nun zur zentralen Aufgabe der »Volksgemeinschaft« erhoben.51 In dieser Phase, die aufgrund der tiefgreifenden Veränderungen für Gesellschaft und Mentalitäten als zweite Etappe der »nationalsozialistischen Revolution« bezeichnet wurde,52 stiegen die Eheschließungszahlen zwischen Deutschen und Ausländern an.53 Vor dem Krieg waren Ausländerehen mit zwei Prozent kein Massenphänomen gewesen.54 In der Tat öffneten sich mit Kriegsausbruch neue Kontakträume. Erstens kam es zu einem massenhaften Einsatz ausländischer Arbeiter auf dem Gebiet des »Altreiches«. Der Großteil von ihnen, vor allem aus den osteuropäischen Ländern, bestand aus unfreien Arbeitern. Von den 13 Millionen Zwangsarbeitern stammten sieben Millionen aus Polen und der Sowjetunion, inklusive der Ukraine. Zweitens gingen Millionen Deutsche in die besetzten Länder. Allein in der Wehrmacht dienten im Verlauf des Zweiten Weltkriegs insgesamt 18 Millionen deutsche Männer, außer51 Michael Wildt, Die Ungleichheit des Volkes. »Volksgemeinschaft« in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Frank Bajohr / Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 24-40, hier: S. 40. 52 Hans-Ulrich Thamer, Die Widersprüche der »Volksgemeinschaft« in den späten Kriegsjahren, in: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.), »Volksgemeinschaft«. Mythos der NS Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte, Paderborn 2012, S. 289-300, hier: S. 289. 53 Im August 1942 stellte der Reichsinnenminister Wilhelm Frick fest, dass erst der Krieg zu einem starken Anstieg von Eheschließungen geführt habe. Reichsminister des Innern an Auswärtiges Amt, Leiter der Parteikanzlei, Reichsminister der Justiz, Oberkommando der Wehrmacht, Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums und Volksdeutsche Mittelstelle, Berlin, 11. August 1942, betrifft: Regelung der Staatsangehörigkeit von Ehefrauen und Kindern, in: PA AA , RZ 409, R 49688. Vgl. auch die Klagen von einzelnen Auslandsvertretungen und NSDAP-Landesgruppen in den Beständen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, etwa NSDAP, Auslandsorganisation, Landesgruppe Mandschurei, Mukden, 10. Dezember 1940, in: PA AA , RZ 409, R 49687. 54 RMI an Chef der Reichskanzlei, betrifft: Staatsangehörigkeit von Ehefrauen und Kindern, Entwurf, 1943, in: PA AA , RZ 409, R 49688.

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dem 500.000 Frauen als Wehrmachthelferinnen. Dazu kamen zahllose Beamte und Angestellte aus den Bereichen Partei, Polizei, Verwaltung, Wirtschaft und Kultur. Außerdem wurden mit Kriegsverlauf zunehmend ausländische Hilfstruppen in der Wehrmacht eingesetzt. Drittens war mit der Einverleibung zahlreicher Länder vor allem Ostmittel- und Südosteuropas auch die dortige als »volksdeutsch« klassifizierte Bevölkerung in den Einflussbereich der Rassenplaner geraten, die sich nicht zuletzt für deren Heiratsverhalten interessierten. Nach Kriegsbeginn wurden diverse Maßnahmen ergriffen, um diese Personengruppen getrennt zu halten. Doch sowohl zwischen Zwangsarbeitern beziehungsweise Zwangsarbeiterinnen und deutschen Männern beziehungsweise Frauen im »Altreich« als auch zwischen deutschen Soldaten und Einheimischen in den verschiedenen besetzten Ländern kam es zu dem ganzen Spektrum an Kontakten – von sexuellen Übergriffen bis zu einvernehmlichen Beziehungen.55 Es bedürfte sehr kleinteiliger Forschungsarbeit, um die Gesamtzahl der Anträge auf Ehen mit »Artfremden« und Ausländern zwischen 1939 und 1945 auch nur näherungsweise bestimmen zu können, denn diese gingen bei unterschiedlichen Stellen ein: SS -Angehörige beantragten ihre Eheschließungen beim Rasse- und Siedlungshauptamt. Deutsche im Ausland wandten sich an die dortigen Konsulate, Gesandtschaften und Botschaften, sofern das Gebiet nicht von den Deutschen besetzt war.56 In den besetzten Gebieten wiederum landeten die Anträge bei den Standesämtern, die über die Wünsche der lokalen Deutschen (»Volksdeutsche«) und der im Kriegsverlauf zugezogenen Deutschen (Zivilbesatzer, Wehrmachtangehörige) entschieden. Natürlich konnten deutsche Soldaten – aufgrund ihrer Anzahl und Mobilität diejenige Gruppe, die die meisten Anträge gestellt haben dürfte – die Heirat auch vor einem Standesamt im »Altreich« beantragen.57 Als Wehrmachtangehörige mussten sie dafür vorab eine Genehmigung ihres militärischen Vorgesetzten einholen. Anfang 1943 erging kurzzeitig ein komplettes Verbot von Ausländerehen – wofür sich in der Überlieferung allerdings keine Erklärung findet. Es lässt sich nur vermuten, dass die absoluten Antragszahlen die beteiligten Institutionen überforderten und dass sich so auch die spätere, gegenläufige Entscheidung erklären lässt. Die partielle, aber pauschale Freigabe, die das Oberkommando der Wehrmacht (OKW ) dem Auswärtigen Amt im September 1943 meldete, wurde folgendermaßen legitimiert:

55 Vgl. Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, 1941-1945, Hamburg 2010; Maren Röger, Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945, Frankfurt a. M. 2015; Birthe Kundrus, Forbidden Company: Romantic Relationships between Germans and Foreigners, 1939-1945, in: Journal of the History of Sexuality 11 (2002), S. 201-222. 56 So erinnerte das Auswärtige Amt im Mai 1940 seine Auslandsvertretungen daran, dass Hochzeiten mit Ausländern unerwünscht seien und die beteiligten Beamten von Eheschließungen abraten sollten. Vgl. Auswärtiges Amt an Deutsche Botschaften, Gesandtschaften, Generalkonsulate und Konsulate, Berlin, 22. Mai 1940, vertraulich !, betrifft: Eheschließung von deutschen Staatsangehörigen mit Ausländern, in: PA AA , RZ 409, R 49686. 57 Zu den Standesämtern grundlegend Maruhn, Staatsdiener (wie Anm. 7).

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»[G]egen Eheschließung von Wehrmachtsangehörigen mit rassisch verwandten Personen der germanischen Nachbarvölker Holland, Norwegen, Dänemark, Schweden, Finnland und der flämischen Volksgruppen [ist] an sich nichts einzuwenden.«58 Damit war man wieder bei den Anweisungen von 1936, die Genehmigung nur dann zu erteilen, wenn die Braut »deutschen oder artverwandten Blutes war«59 – eine Formulierung, die in ihrer Uneindeutigkeit dem Paragrafen 6 der ersten Ausführungsverordnung zu den Nürnberger Gesetzen ähnelt. Diese hatte, wie erwähnt, eine Ausweitung des darin verfügten Eheverbotes auf andere Gruppen vorgesehen, »wenn aus ihr eine die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährdende Nachkommenschaft zu erwarten« sei.60 Innerhalb der Wehrmacht gab es im Umgang mit solchen Anträgen bereits vor 1943 Ausnahmen von der Regel. So finden sich in den Standesamtsakten des besetzten Warschaus zahlreiche bestätigte Anträge auf Eheschließung mit einheimischen Frauen, oft genug Polinnen, die erst kurz zuvor zu Staatenlosen oder zu »Volksdeutschen« erklärt worden waren.61 Obwohl 1943 klar gemacht wurde, dass weitere Ausnahmen nicht zuzulassen seien, agierten die Entscheidungsträger in der Wehrmacht mitunter anders. Auch für die Ausländer in ihren Reihen setzte sich das Militär bisweilen ein, wenn diese deutsche Frauen ehelichen wollten.62 Aus Sicht des Auswärtigen Amtes schien das OKW generell zu nachgiebig. So vermerkte man in der Wilhelmstraße erbost: »Jedenfalls ist es nicht tragbar, dass dem AA die Rolle überlassen bleibt, sich bei den Ausländern unbeliebt zu machen, während die Wehrmacht in weitherzigster Weise die Genehmigungen erwirkt.«63 Auslöser war die Tatsache, dass das OKW einem Iraner wegen seines Engagements in der Wehrmacht eine Ausnahmegenehmigung erteilt hatte, obwohl er wiederholt im Auswärtigen Amt wegen seines Heiratswunsches vorgesprochen hatte, aber abgewiesen worden war. Unterschiedliche Institutionen, das zeigt dieser Fall, waren aus unterschiedlichen Gründen daran beteiligt, dass die Blaupause einer rassisch reinen »Volksgemeinschaft« eine nie vollendete Idee blieb. Bei den Entscheidungen über Anträge von Wehrmachtangehörigen lassen sich Muster erkennen. Als »nordisch« klassifizierte Bräute wurden eher akzeptiert als slawische Frauen, die aber entgegen der über Jahrzehnte verbreiteten Forschungsmeinung nicht 58 Oberkommando der Wehrmacht an Auswärtiges Amt, Berlin, 3. September 1943, Betreff: Eheschließungen von Wehrmachtsangehörigen mit Ausländerinnen, in: PA AA , RZ 409, R 49689. 59 Vgl. zu den Details Majer, »Fremdvölkische« (wie Anm. 47), S. 191. Zu den Kriterien vgl. Maruhn, Staatsdiener (wie Anm. 7), S. 199-205. 60 Erste Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 14. November 1935 (wie Anm. 19). 61 Vgl. Stephan Lehnstaedt, Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk, 1939-1944, München 2010, S. 232-236. 62 Vgl. zu den Heiratsanträgen muslimischer Einheiten Stefan Petke, »Überzeugte Mohammedaner sind in jedem Falle entschiedene Gegner des Bolschewismus.« Die Rekrutierung, Aufstellung und der Einsatz muslimischer Einheiten der Wehrmacht und Waffen-SS, Diss. TU Berlin 2015, S. 454-456. 63 Aktennotiz – R VI mit der Bitte um weitere Veranlassung vorgelegt, Berlin, 3. März 1943, in: PA AA , RZ 409, R 49703.

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immer abgelehnt wurden. Neuere Studien konnten zeigen, dass in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion durchaus Eheschließungen mit einheimischen Frauen genehmigt wurden.64 Keineswegs waren die Grenzen der »Volksgemeinschaft« hier ganz undurchlässig, wenngleich Heiraten in diesen Gebieten kein Massenphänomen waren – das wurden sie aber trotz anderer rassenpolitischer Vorgaben auch im besetzen West- und Nordeuropa nicht. Für Norwegen gehen Historiker von 400.000 Besatzungsbeziehungen aus, wovon nur 400 bis 500 legalisiert wurden.65 Doch auch außerrassische Kriterien spielten eine große Rolle, etwa wirtschaftliche Interessen. In diesem Sinne argumentierte im November 1939 die Deutsche Gesandtschaft Luxemburg, als sie das Auswärtige Amt bat, eine Eheschließung einer Luxemburgerin mit einem »reichsdeutschen« Assistenzarzt zu unterstützen. Denn der Vater der Braut sei Zollrat und habe einen »Einfluss auf die zolltechnische Behandlung deutscher Einfuhrwaren«.66 Von großer Bedeutung war auch die politische Einstellung bei der Bewilligung von Hochzeitsanträgen. Dazu nur ein Beispiel: Das Konsulat in Malmö lud eine junge, heiratswillige Schwedin vor, um einen Eindruck von ihrer politischen Haltung zu gewinnen. Die Dame erklärte, dass »sie Deutschland liebe und dass sie nur Freundinnen habe, die das neue Deutschland schätzten«.67 Hier zeigt sich deutlich, dass die Konzeption der »Volksgemeinschaft« nicht nur auf rassischen Kriterien beruhte, sondern »als politisch-gesellschaftliche Normen- und Werteordnung« – und hier vielleicht zudem als strategisch benutztes Argument – zu verstehen war,68 die über das »Altreich« hinaus funktionierte. Besonders der Bewertungsmaßstab der politischen Einstellung bot im »Altreich« selbst, aber auch an den Rändern der »Volksgemeinschaft« großen rechtlichen Spielraum. Bei der »Eindeutschung« von Polen, die mit deutschen Frauen Umgang gepflegt und Nachwuchs gezeugt hatten, spielte die politische Einstellung neben der rassischen Einordnung ebenfalls eine Rolle. Ungefähr 2.000 Polen durchliefen das Überprüfungsprozedere im »Sonderlager Hinzert«. Fiel die Entscheidung über die rassischen Qualitäten positiv aus, war der Geschlechtsverkehr nicht straf bar, die Paare durften heiraten und der Mann bekam die deutsche Staatsangehörigkeit zu64 Für Polen siehe Birthe Kundrus, Regime der Differenz. Volkstumspolitische Inklusionen und Exklusionen im Warthegau und im Generalgouvernement 1939-1945, in: Bajohr / Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft (wie Anm. 51), S. 105-123, sowie Röger, Kriegsbeziehungen (wie Anm. 55), S. 153-167. Für die Sowjetunion siehe Mühlhäuser, Eroberungen (wie Anm. 55). 65 Kåre Olsen, Under the Care of Lebensborn: Norwegian War Children and their Mothers, in: Kjersti Ericsson / Eva Simonsen (Hg.), Children of World War II. The Hidden Enemy Legacy, Oxford 2005, S. 15-34, hier: S. 24. 66 Deutsche Gesandtschaft Luxemburg an Auswärtiges Amt, Luxemburg, 27. November 1939, in: PA AA , RZ 404, R 43935. 67 Deutsches Konsulat Malmö an Auswärtiges Amt, Malmö, 20. Mai 1941, in: PA AA , RZ 409, R 49687. 68 Vgl. Daniel Mühlenfeld, Vom Nutzen und Nachteil der »Volksgemeinschaft« für die Zeitgeschichte. Neuere Debatten und Forschungen zur gesellschaftlichen Verfasstheit des »Dritten Reiches«, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 6 (2013), H. 1, S. 72-105, hier: S. 97.

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gesprochen.69 Im Kontext der Germanisierungspolitik hebelte das »Dritte Reich« hier die lange tradierten Grundsätze des Staatsangehörigkeitsrechts partiell aus, vor allem das lange gepflegte Prinzip der Familieneinheit im Bereich der Staatsbürgerschaft, was de facto bedeutete, dass Frauen bei Heiraten mit Ausländern die Staatsbürgerschaft des Mannes annahmen und die deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Im Zuge der immer weiteren Verbreitung des rassenbiologischen Denkens bemängelten mehrere Institutionen genau das, allen voran Innenminister Frick. Um zu verhindern, dass Frauen und Kinder der deutschen »Volksgemeinschaft« verloren gingen, empfahl er, sei es am sinnvollsten, zusammen mit der Entscheidung über eine Ehe mit Nicht-Deutschen gleichzeitig über die Staatsangehörigkeit des Mannes zu befinden.70 Die nationalsozialistische Formel von der Gleichwertigkeit der Geschlechter fand hier also durchaus ihren Widerhall: Wenn es um eine als sinnvoll erachtete Erweiterung der »Volksgemeinschaft« ging, dann zählten Frauen genau so viel wie Männer. Trotz solcher erkennbaren Muster ist das Entscheidungsprinzip als Kultur der dezisionistischen Einzelfallentscheidung am besten beschrieben.71 Sicherlich lässt sich dies zum einen auf die Volatilität der »Rassenlehre« zurückführen. 1943 notierte ein Referent des Referats Inl I B der Partei, dass die Wissenschaft sich über Rassenmischung nicht einig sei und leitete daraus direkt die Notwendigkeit zu Einzelfallentscheidungen bei deutsch-ausländischen Eheschließungen ab: »Auch deshalb ist es daher besser, von einer gesetzmäßigen Ermäßigung abzusehen und die Beurteilung lediglich den Einzelfällen und damit dem freien Ermessen zu überlassen.«72 Der Reichsminister des Innern diskutierte zum anderen offen das Prinzip der Einzelfallentscheidung als Lösung. Überall, wo es Verbote gebe, müssten Ausnahmeregelungen möglich sein – nicht für bestimmte Volksgruppen generell, sondern für individuelle Paare.73 Ein wesentlicher Grund für die Priorität von Einzelfallentscheidungen liegt in der Rechtsphilosophie und Rechtsetzung des Nationalsozialismus selbst. Die Rechtsetzung und -sprechung vor 1933 lehnten die Nationalsozialisten als formalistisch ab und änderten in der Folge ein Grundprinzip des Rechts, indem die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz abgeschafft wurde.74 Dies war eine wesentliche Voraussetzung für die sich etablierende Kultur der Einzelfallentscheidung. Befördert wurde sie zudem, auch im speziellen Fall der Ausländerehen, durch eine Gemenge69 Zum »Sonderlager Hinzert« u. a. Röger, Choices (wie Anm. 23). 70 Reichsminister des Innern an Chef der Reichskanzlei, Betrifft: Staatsangehörigkeit von Ehefrauen und Kindern, Entwurf, 1943, in: PA AA , RZ 409, R 49688. 71 Vgl. Bianca Vieregge, Die Gerichtsbarkeit einer »Elite«. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS - und Polizei-Gerichtsbarkeit, Baden-Baden 2002, S. 108, die den Begriff für Himmlers Einzelfallprüfungen bei Verstoß gegen das Verbot des geschlechtlichen Verkehrs von SS -Männern mit Frauen und Mädchen andersrassiger Bevölkerung verwendet. 72 Entwurf einer Verordnung über die Eheschließung deutscher Staatsangehöriger mit Ausländern, Notiz, Berlin, 28. April 1943, in: PA AA , RZ 409, R 49688. 73 Reichsminister des Innern an Chef der Reichskanzlei, Betrifft: Staatsangehörigkeit von Ehefrauen und Kindern, Entwurf, 1943, in: PA AA , RZ 409, R 49688. 74 Vgl. Hans-Jürgen von Dickhuth-Harrach, Gerechtigkeit statt Formalismus. Die Rechtskraft in der nationalsozialistischen Privatrechtspraxis, Köln 1986, S. 351.

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lage von Erlassen, Verordnungen und Normen.75 Die Behördenkorrespondenz ist voll von Nachfragen verwirrter Exekutivorgane, wie nun genau die Gesetzeslage sei oder wie gewisse Bestimmungen umzusetzen seien. Mit der Definitionsmacht über die Grenzen der »Volksgemeinschaft« hatten die Machthaber ein flexibles Instrumentarium in der Hand, um über das Überleben und den Lebensweg von Menschen zu bestimmen. Wie vielen Deutschen nämlich die Eheschließung untersagt blieb, ist unklar. Margarete Dörr hat darauf verwiesen, dass Frauen etwa die Hälfte der Opfer der NS -Rassenpolitik stellten, darunter »eine unbekannte Anzahl von Frauen, denen das Heiraten verweigert wurde«.76 Frick argumentierte also für Einzelfallentscheidungen, aber auch dafür, dass dort, wo Eheverbote nicht umfassend genug seien, Ehen auf administrativem Wege verhindert werden sollen. Derzeit, so Frick im Jahre 1942 offen, stehe nur das indirekte Verbot zur Verfügung, indem Genehmigungen nicht erteilt würden »oder die zur Eheschließung erforderlichen Ausweise wegen der Kriegsverhältnisse nicht beschafft werden können«.77 In der Empfehlung, ein Heiratsverbot de facto zu installieren, war das Innenministerium auf einer Linie mit dem Auswärtigen Amt.78 Häufig findet sich auch die Empfehlung, nicht rassisch, sondern etwa mit mangelnden Sprachkenntnissen zu argumentieren, um das jeweilige Herkunftsland nicht zu verstimmen.79 De-facto-Verbote wurden auf die Ebene der Bürokratie verlagert – was zunächst an Ernst Fraenkels bekannte Interpretation des Nationalsozialismus als Normen- und Maßnahmenstaat denken lässt. Das Agieren der Verwaltungsinstanzen könnte mit Fraenkel so interpretiert werden, dass sie mit zunehmender Dauer der nationalsozialistischen Diktatur die Entscheidungsfreiheiten des Maßnahmenstaates 75 Vgl. Mertens, Rechtsetzung (wie Anm. 45), S. 9-13. 76 Margarete Dörr: »Wer die Zeit nicht miterlebt hat …« Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach, Bd. 3, Das Verhältnis zum Nationalsozialismus und zum Krieg, Frankfurt a. M. 1998, S. 372. 77 Reichsminister des Innern an Auswärtiges Amt, Leiter der Parteikanzlei, Reichsminister der Justiz, Oberkommando der Wehrmacht, Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums und Volksdeutsche Mittelstelle, Berlin, 11. August 1942, betrifft: Regelung der Staatsangehörigkeit von Ehefrauen und Kindern, in: PA AA , RZ 409, R 49688. 78 Der Hinweis, auf dem Verwaltungsweg zu blockieren, findet sich in zahlreichen Schriftwechseln. Beispielhaft: Auswärtiges Amt an Reichsminister der Justiz, Reichsminister des Innern, Leitung der Auslandsorganisation der NSDAP, Berlin, Juni 1940, Betreff: Konsularische Eheschliessung zwischen einem deutschen Staatsangehörigen und einer Ausländerin, in: PA AA , RZ 409, R 49687. 79 Reichsminister des Innern an Auswärtiges Amt, Berlin, 18. Februar 1941, in: PA AA , RZ 409, R 49687. Natürlich konnte hier recht einfach gekontert werden. Im betreffenden Fall, in dem ein Deutscher in der Mandschurei eine Japanerin heiraten wollte, hatte diese nach dem Verweis auf ihre mangelnden Sprachkenntnisse einfach einen Sprachkurs gemacht. Der Mann war fest entschlossen, seine Beziehung zu legalisieren. »Es hat also bislang keine irdische Macht fertig gebracht, uns, meine japanische Frau und mich, die das Schicksal zusammengekettet hat, zu trennen«, schrieb er 1941 an das Auswärtige Amt. Brief von Erich C. an das Auswärtige Amt, Mukden, 17. Mai 1941, betrifft: In Ordnungbringen meines Privatlebens, in: PA AA , RZ 409, R 49687.

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immer weiter ausnutzten.80 Doch setzte sich hier auch eine Kontinuitätslinie fort, die das behördliche Agieren in Kaiserreich und Weimarer Republik ausgezeichnet hatte: Wo es keine Verbote gab, wurden schon früher Verwaltungshürden geschaffen.81 Die Betroffenen selbst verstanden sehr wohl, dass die Entscheidungsgrundlagen variierten. Ein türkischer Staatsbürger richtete, nachdem sein Antrag auf Eheschließung unter Berufung auf formale Gründe abgelehnt worden war, einen flammenden Brief an Goebbels: »Herr Reichsminister, ich frage Sie hiermit, wie und auf welchem Wege man in Deutschland sein Recht suchen kann?« Der in Karlsruhe wohnhafte Mann hatte offenbar verstanden, dass hier Entscheidungen auf Einzelfallbasis getroffen wurden, was seinem Rechtsempfinden – und seinen Interessen – widersprach. Er betonte deswegen, dass er die Gründe für die Ablehnung nicht nachvollziehen könne, zumal er aus anderen Kontexten wisse, »daß gerade in letzter Zeit in Berlin, München, Wien, Düsseldorf usw. Türken deutsche Frauen, ja sogar Türkinnen deutsche Männer heirateten«. Warum, so der Türke weiter, herrsche hier keine Gerechtigkeit? Denn: »Es gibt doch nur Reichsgesetze und keine Ländergesetze.« Gleichzeitig schenkte Kemalletin K. den Erklärungen, dass ihm die Eheschließung aus juristischen beziehungsweise bürokratischen Gründen verwehrt wurde, keinen Glauben: »Wenn sich Herr Justizminister nicht in der Lage sieht, trotz alter deutsch-türkischer Freundschaft, ist meiner Meinung nach kein anderer Grund als der der Rassenfrage [sic]«.82 Deutlich wird hier, dass sich die Antragstellenden durchaus über Präzedenzfälle informierten und darauf auch rekurrierten.83 Von 1933 an machten die ersten Gerüchte die Runde. Seitdem tauschten sich die Betroffenen aus84 oder fragten bei den Behörden nach. So schrieb ein Mann aus Hamburg im September 1936 an das Auswärtige Amt, er wisse, dass bald Hochzeiten mit den Bewohnern der ehemaligen Provinz Posen verboten werden sollten und fragte nach dem Zeitpunkt: »Da ich erwäge mich evtl. mit einer gegenwärtig im Reichsgebiet befindlichen deutschstämmigen Polin zu verheiraten, bitte ich um Mitteilung, ob und wann mit dem Erscheinen der Gesetzesbestimmungen zu rechnen ist.«85 Das Auswärtige Amt wiegelte ab, ob80 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat [1974, amerikan. Original 1941], Hamburg 2001. 81 Röger, Choices (wie Anm. 23). 82 Brief von Kemalletin K. an Reichsminister Goebbels, Karlsruhe, 16. März 1943, in: PA AA , RZ 409, R 49688. Herr K. wurde ohne Angabe von Gründen nicht von der Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses befreit. Da die Türkei derlei Schriftstücke aber nicht mehr ausstellte, war Herrn K. damit die Möglichkeit zur Eheschließung auf administrativem Wege verwehrt geblieben. 83 Vgl. beispielsweise Ali M., Export-Import, an Legationsrat Melchers, Auswärtiges Amt, Berlin, 1. März 1943, in: PA AA , RZ 409, R 49703. 84 Bereits 1933, als einem chinesischen Professor in Berlin noch vor den Nürnberger Gesetzen die Ehe mit einer Deutschen verboten worden war, hatte das bei Studierenden und Geschäftsleuten die Runde gemacht. Vgl. Auswärtiges Amt, Aufzeichnung, Berlin, 3. November 1933, in: PA AA , RZ 409, R 49700. 85 Walther S., Hamburg, an Auswärtiges Amt, Abteilung für das Deutschtum im Ausland, 5. September 1936, in: PA AA , RZ 409, R 49684.

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wohl es an den Diskussionen über solche Verbote beteiligt war. In Deutschland, hieß es, sei eine solche Vorschrift nicht ergangen, und man wisse auch nichts darüber, dass in Polen ein solches Gesetz in Vorbereitung sei.86 Zeigte sich Kemalletin K. über das offenbar rassisch motivierte Verbot offen erbost und argumentierte mehr gegen die bislang involvierten Behörden als für sich selbst (er führte für seinen Fall nur einige Argumente an, etwa das Kind, das er mit einer Deutschen hatte), versuchten andere Antragsteller mit ihrem Engagement für Deutschland zu punkten. Ali M., iranischer Staatsbürger, betonte, dass sein technisches Büro »ausschließlich für die deutsche Rüstung arbeitet und Aufträge des Reichsluftfahrtministeriums zu erledigen« habe. Er unterstrich damit seine Leistungen für die Kriegsgesellschaft, eines der wesentlichen Narrative der Ideologie von der »Volksgemeinschaft«.87 Ali M. rekurrierte sogar auf ein wesentliches Element der Propaganda in Kriegszeiten, die soldatische Leistung an der Front als Beitrag zur idealen Gesellschaftsordnung des Nationalsozialismus: »Wie ich bereits angab, bin ich in der Rüstungswirtschaft als Konstruktionsleiter beschäftigt. Ich werde jederzeit mein Bestes und Möglichstes tun, um hier in meiner zweiten Heimat genau so meinen Mann zu stehen, wie der Soldat an der Front.« Zudem strich er seine kulturelle Verwurzelung hervor: »Da ich aber bereits seit meiner Jugend mit Deutschen aufgewachsen bin und deutsche Sitten, Charakter und Gebräuche kenne sowie eine deutsche Erziehung genossen habe, bin ich in der festen Überzeugung, dass ich mit einer deutschen Frau genauso glücklich leben kann, wie ein deutscher Mann. Ich fühle mich daher, besonders auch durch meine lange Anwesenheit in Deutschland, wie ein Deutscher, nur, dass ich eben eine andere Staatsangehörigkeit habe.«88 Ali M. versuchte den Behörden insgesamt den Nachweis zu erbringen, warum die Aufnahme seiner Person in die »Volksgemeinschaft« lohnenswert sei und führte seine quasisoldatischen Leistungen, kriegswichtige Arbeit und kulturelle Assimilation als Pluspunkte an. Über seine deutsche Verlobte ist in dieser Akte, wie in anderen Fällen, nichts zu erfahren. Die Anträge und die Behördenkorrespondenz übernahmen zumeist die Männer. Ein Selbstverständnis als »tapfere kleine Soldatenfrau«, wie das Auto- und Heterostereotyp vieler Frauen in der Kriegszeit lautete, kann sie nicht gepflegt haben.89 Auch haben wir keine Quellen, wie andere Frauen auf derlei Heiratswünsche, die die »Volksgemeinschaft« über ihre Grenzen hinaus erweitern wollten, reagierten. Das »Volk« und die »Volksgemeinschaft« waren, wie zahlreiche Forschungen belegt haben, zentrale Topoi in der Selbstdarstellung konservativer Frauen spätestens seit der Weimarer Republik.90 In der NS -Zeit selbst waren es federführend die NS 86 Auswärtiges Amt an Walther S., Berlin, 15. September 1936, in: PA AA , RZ 409, R 49684. 87 Vgl. Dietmar Süß, Leistung, Aufstieg und Vernichtung, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 463-467. 88 Ali M., Export-Import, an Legationsrat Melchers, Auswärtiges Amt, Berlin, 1. März 1943, in: PA AA , RZ 409, R 49703. 89 Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn 1998, S. 347. 90 Kirsten Heinsohn, »Volksgemeinschaft« als gedachte Ordnung. Zur Geschlechterpolitik in

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Frauenorganisationen, die »die Rolle der Hüterin des ›Volkstums‹ an der ›Heimatfront‹« übernahmen. Elizabeth Harvey hat weitergehend befunden, dass Frauen sich auf diesem Feld als »Lehrmeisterinnen der Männer« gerierten.91 Andere Männer versuchten mit Versatzstücken der NS -Geschlechterideologie zu überzeugen. So führte beispielsweise ein österreichischer, in Warschau bei der Bahn eingesetzter Mann, selbst NSDAP-Mitglied, die deutschen Empfindungen und die Mütterlichkeit seiner polnischen Braut an, um die Behörden von der Eheschließung zu überzeugen: »Fräulein L. zeigt starke hausfrauliche und mütterliche Eigenschaften. Sie ist die einzige Tochter einer deutsch empfindenden Familie, die in Pruszkow ein mittleres Grundstück besitzt. Fräulein L. beherrscht die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Ich beabsichtige, meine Tochter aus Wien hierher zu nehmen und mich auf dem Grundstück meiner Frau niederzulassen. […] Ich rechne unbedingt mit einer bejahenden Antwort. Heil Hitler!«92 Franz N. hob die Stärken seiner Braut in der als weiblich kodierten Sphäre von Haus und Familie hervor, betonte aber auch ihre richtige politische Einstellung, womit der Antragsteller den unterschiedlichen Perspektiven auf die Rolle der Frau im Nationalsozialismus Rechnung trug. Den ersten abschlägigen Bescheid wegen vermeintlich mangelnder rassischer Qualitäten konnte der Bahnbeamte durch Hartnäckigkeit in eine Zusage verwandeln.93 Die Trauung fand am 6. Juni 1944 statt, zu einem Zeitpunkt also, als Teile des Generalgouvernements schon unregierbar waren und der Warschauer Aufstand vor der Tür stand. Wie die Betroffenen damit umgingen, dass ihr Heiratsantrag endgültig scheiterte, lässt sich durch die behördliche Überlieferung selten rekonstruieren. In Einzelfällen sehen wir hartnäckige Antragsteller, die immer neue Argumente für eine Eheerlaubnis fanden; andere gaben offenbar bereits nach der ersten Ablehnung auf oder entschieden sich dafür, die Beziehung ohne offiziellen Segen weiterzuführen oder aber sie zu beenden. Diese Personen sind dabei durchaus auch als Opfer der NS -Rassenpolitik zu verstehen, da ihnen die Realisierung ihres Lebensentwurfs staatlicherseits verweigert wurde. Doch zeitgleich konnten einige von ihnen durchaus zu Komplizen einer Politik der »Volksgemeinschaft« werden, etwa diejenigen, die als Besatzer im eroberten Ausland stationiert waren. Denn einigen der Begründungen ist durchaus abzulesen, dass sie sich als Mitglieder der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« der Deutschnationalen Volkspartei, in: Gabriele Boukrif u. a (Hg.), Geschlechtergeschichte des Politischen. Entwürfe von Geschlecht und Gemeinschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2002, S. 83-106, hier: S. 83. 91 Elizabeth Harvey, Geschlechterordnung und »Volksgemeinschaft« im Nationalsozialismus, in: Winfried Nerdinger u. a. (Hg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS Dokumentationszentrums München, München 2015, S. 490-496, hier: S. 495. 92 Eingabe von Franz N. an das Deutsche Standesamt vom 10. 11. 1943, in: Archiwum Państwowe Warszawa (nachfolgend APW ), 486 /287. 93 Vgl. Heiratsakte Franz L. und Joanna L., in: APW, 486 /287.

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fühlten, womit sie sich, so Andreas Wirsching, »zumindest implizit auf die Seite der Täter« stellten.94

3. Fazit Eine »Volksgemeinschaft« aus der deutschen Bevölkerung zu formen, die rassisch rein, sozial egalitär und leistungsstark sein sollte, war ein übergeordnetes Ziel im nationalsozialistischen Staat. Um die erwünschte Gesellschaftsordnung herbeizuführen (die immer auch Entwurf einer Geschlechterordnung war), wurden zahlreiche Maßnahmen in diversen Politikfeldern ergriffen, wobei die Ehe- und Familienpolitik ein besonders wichtiger Bereich war. Dieser Aufsatz stellte einen bislang nicht beachteten Aspekt der Ehepolitik ins Zentrum, die Eheschließungen mit Ausländern. Vor Kriegsausbruch handelte es sich mit nur ungefähr zwei Prozent um ein quantitativ eher marginales Phänomen, doch kann der Blick auf politische Regulierung und Alltagspraxis an den Rändern der »Volksgemeinschaft« aufschlussreich sein für das Verständnis wesentlicher Bereiche des NS -Staates, seiner Ideologeme und deren politischer Umsetzung. Es zeigte sich zum einen deutlich die Volatilität der Rassenpolitik, die es erlaubte, unterschiedliche Gruppen, selbst in der rassenpolitischen Hierarchie niedrig eingestufte, durch Heirat einzuschließen, während andere Grenzen undurchlässig blieben, vor allem gegenüber als jüdisch definierten Personen. Diese tatsächliche Erweiterung des »Volkskörpers« qua Eheschließung geschah vermehrt ab dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und damit zu einem Zeitpunkt, als die Gesellschaft endgültig in eine »Kampfgemeinschaft« umgewandelt werden sollte und eine »rassisch homogene« und militarisierte, kämpfende »Volksgemeinschaft« verstärkt als »Instrument der Mobilisierung und Loyalitätssicherung«95 propagiert wurde. Die Rhetorik wurde umso lauter, je weniger das propagierte Ideal den Realitäten entsprach. Zudem verdeutlicht der Umgang mit Ausländerehen das Rechtsverständnis im Nationalsozialismus, das bisheriges Recht und Rechtssetzung als zu formalistisch ablehnte. Als Folge dieser beiden Faktoren, Rassenpolitik und Rechtsverständnis, kam es zu einer sehr widersprüchlichen Politik bei der Bewilligung von Ausländerehen, die mit der fehlenden Gleichbehandlung von Personen ein zentrales Element bürgerlichen Rechts aushebelte. Es gab lediglich eine Matrix, an der sich die Entscheidungen orientierten, etwa die grobe Einordnung im Rassenschema, politische Einstellung oder militärische Verdienste des Betroffenen, politische Bedeutung der Person / Familie/ Nation für das NS -Bündnissystem. Insgesamt dominierte ein Prinzip der Einzelfallentscheidung, und manche Eheverbote bestanden nicht offiziell, sondern wurden über Verordnungen und bürokratische Hürden faktisch geschaffen. Doch die Entwicklung zum Maßnahmenstaat, wie sie klassischerweise Ernst Fraenkel beschrieben hat, ist nur eine Erklärung hierfür. Vielmehr agierten die Verwaltungs94 Vgl. Andreas Wirsching, Privatheit, in: Nerdinger u. a. (Hg.), München (wie Anm. 91), S. 443-449, hier: S. 444. 95 Thamer, Widersprüche (wie Anm. 52), S. 289.

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instanzen in der NS -Diktatur in einer Traditionslinie mit praktizierten Ehehemmungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Dem derartig unberechenbar agierenden Staat traten die Betroffenen selten mit mutiger Penetranz, sehr häufig aber mit zielgerichteten Argumenten entgegen, die zeigen, dass sie die ideologischen Versatzstücke der »Volksgemeinschaft«-Ideologie und die darin enthaltenen geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen kannten. Männliche Ausländer argumentierten mit ihrer quasi-soldatischen Leistung, während Reichsdeutsche die mütterlichen und hauswirtschaftlichen Fähigkeiten ihrer nichtdeutschen Herzensdamen ebenso priesen wie deren richtige politische Einstellung. Ob aus Überzeugung oder instrumentell argumentierend, zeigen die Eingaben der Betroffenen die Wirkmacht des Konzepts der »Volksgemeinschaft« auf, inklusive des damit verbundenen Entwurfs einer Geschlechterordnung. Diese war auf der einen Seite traditionell und überbetonte die familiäre Sphäre, doch wertete sie die politische Meinung und Aktivität von Frauen stark auf. Zudem zeigt sich am Beispiel der Ausländerehen ein Bruch mit dem bislang dominierenden patrilinearen Staatsbürgerschaftsrecht: Frauen konnten bei Eheschließung mit Ausländern ihre Staatsangehörigkeit behalten, wenn der nichtdeutsche Mann als sinnvolle Erweiterung der »Volksgemeinschaft« befunden wurde. Doch die Rassenpolitik sah nur punktuelle Gewährung im Einzelfall vor, aber mündete nicht in rechtlicher Gleichstellung. Auch hier begrenzten sich die Angebote des nationalsozialistischen Systems an Frauen auf die Bereiche, in denen es von einer Veränderung der Situation der Frauen direkt profitieren konnte.

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Jenseits der »Volksgemeinschaft«? Von Prostituierten und Zuhältern Die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« konstituierte sich über einen Zusammenschluss »erwünschter«, das heißt im Allgemeinen »arischer«, »genetisch einwandfreier«, loyaler sowie tüchtiger Mitglieder. Gleichzeitig schloss jene Gemeinschaft in ideologischer Hinsicht »unerwünschte« Individuen, also »Fremde«, »Asoziale« und »Andere« beziehungsweise »Feinde« aus.1 Die Sinngehalte dieses, die Ordnung »schädigenden« Gegenpols waren variabel und damit auf verschiedene Gruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen 1933 und 1945 anwendbar.2 Die »Volksgemeinschaft« gründete sich aber neben offen zutage tretenden Mechanismen von Inklusion und Exklusion auch über die Konstitution und ausschließliche Duldung einer »normalen« Heterosexualität unter dem Primat des Männlichen, die auf Fortpflanzung und Nachwuchs ausgerichtet war.3 Alle hiervon »abweichenden« Formen der Sexualität, ebenso wie prostitutive Handlungsweisen, die nicht reproduktiv waren oder sein sollten, wurden stigmatisiert, verfolgt, ja »ausgemerzt«. Der Beitrag stellt in einem ersten Schritt Prostituierte und Zuhälter in den Kontext der »Asozialenverfolgung« in der NS -Zeit und widmet sich damit einem Kollektiv, das von der »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen blieb. In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, inwiefern diese Gruppen innerhalb der weltanschau1

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Hierzu Rolf Pohl, Das Konstrukt »Volksgemeinschaft« als Mittel zur Erzeugung von Massenloyalität im Nationalsozialismus, in: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hg.), »Volksgemeinschaft«: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte, Paderborn 2012, S. 69-74; Richard Bessel, Eine »Volksgemeinschaft« der Gewalt, in: ebd., S. 357-360; Jeremy Noakes, Social Outcasts in the Third Reich, in: Richard Bessel (Hg.), Life in the Third Reich, Oxford 1987, S. 83-96. So standen z. B. zu Beginn der nationalsozialistischen Verfolgung von »Gemeinschaftsfremden« bzw. »Asozialen« vor allem Fürsorgeempfänger oder auch männliche »Kriminelle« im Fokus, in der Folge kamen dann weitere, neue Gruppen wie etwa »Zigeuner«, »asoziale« Großfamilien oder weibliche »Fürsorgezöglinge« hinzu, vgl. Patrick Wagner, »Vernichtung der Berufsverbrecher«. Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei bis 1937, in: Ulrich Herbert / Karin Orth / Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 1, Göttingen 1998, S. 87-110, hier: S. 97; Wolfgang Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus. Überblick über die Breite der Maßnahmen gegen soziale Außenseiter und die hieran beteiligten Stellen, in: Thomas Lutz / Ulrike Puvogel / Dietmar Sedlaczek / Ingrid Tomkowiak (Hg.), »minderwertig« und »asozial«. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter, Zürich 2005, S. 51-64, hier: S. 53 f. Hierzu z. B. Gudrun Hauer, Der NS -Staat – ein zwangsheterosexuelles / heteronormatives Konstrukt, in: Michael Schwartz (Hg.), Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933 bis 1945, München 2014, S. 27-33.

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lichen Konzeption des Nationalsozialismus als dezidierte Gegenbilder zu Frauen und Männern der »Volksgemeinschaft« fungierten und wie diese Bilder konstruiert waren. Anschließend soll jedoch auch problematisiert werden, ob Prostituierte und Zuhälter tatsächlich trennscharf jenseits der »Volksgemeinschaft« und in Opposition zum NS Geschlechterbild standen. Oder lassen sich nicht vielmehr im Blick von Behörden auf diese Gruppen und in den Beziehungen zwischen Prostituierten und Zuhältern, die durchaus feste Partnerschaften oder Ehen eingehen konnten, auch »Spiegelungen« zur »Volksgemeinschaft« feststellen? Untersucht wird also, ob sich zwischen Angehörigen des Milieus,4 das heißt Prostituierten und Zuhältern, und jenen Frauen und Männern innerhalb der »Volksgemeinschaft« Parallelen in Bezug auf das Geschlechterverhältnis ausmachen lassen. Hierbei gerät auf der einen Seite der staatlichbehördliche Umgang mit Prostituierten und Zuhältern in den Fokus. Auf der anderen Seite werden Interaktionen dieser Gruppen untereinander berücksichtigt. Unter Prostitution wird im Folgenden das überwiegend von Frauen betriebene gewerbsmäßige Ausüben von Sex mit meist männlichen Kunden, den »Freiern«, gegen Geld oder andere Vergünstigungen verstanden.5 Die Zuhälterei bildet ein der Prostitution systemimmanentes Element und kann deshalb bei einer Beschäftigung mit der Geschichte des Prostitutionsgewerbes nicht ausgeklammert bleiben. Zuhälter überwachen und fördern einerseits die Prostitution, und sie beuten die Prostituierten gleichzeitig aus, selbst wenn sie in einer persönlichen Beziehung zu ihnen stehen. Zuhälter nutzen den durch die Frauen erwirtschafteten Verdienst, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.6 Der Beitrag denkt somit bewusst Prostituierte und Zuhälter zusammen. Dies geschieht zum einen aus einem quellenpragmatischen Grund, denn ohne die Berücksichtigung der Zuhälter gibt es vielfach überhaupt keine Nachweise zu einzelnen Prostituierten. Zum anderen lässt nur der Fokus auf beide Personengruppen Aussagen darüber zu, wie sich Beziehungen im Milieu ausgestalteten beziehungsweise wie diese von Polizei und Gerichten wahrgenommen wurden und inwiefern diese übergeordneten Instanzen durch ihre Verfolgungspraktiken Einfluss auf das Gewerbe nahmen. Die folgenden Ausführungen basieren auf einer Untersuchung zeitgenössischer Quellen zum Prostitutions- und Zuhältereiwesen auf Reichsebene sowie auf der Auswertung von Artikeln zum Thema aus den kriminologischen, psychiatrischen und wohlfahrtspflegerischen Disziplinen. Darüber hinaus bilden Akten zur strafrechtlichen Verfolgung von Prostituierten und Zuhältern in den badischen und württembergischen Städten Mannheim, Karlsruhe und Stuttgart sowie weitere einschlägige 4 Der Begriff des »Milieus« wird in der Folge als Forschungsterminus verwendet. Er bezeichnet das gesamte Umfeld und den Lebensbereich von Prostituierten und Zuhältern. 5 S. zur Definition von »Prostitution« z. B. Martina Löw / Renate Ruhne, Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt, Berlin 2011, S. 23; Ulrich Leo, Die strafrechtliche Kontrolle der Prostitution. Bestandsaufnahme und Kritik, Köln 1995, S. 23. 6 Michael Bargon, Prostitution und Zuhälterei. Zur kriminologischen und strafrechtlichen Problematik mit einem geschichtlichen und rechtsvergleichenden Überblick, Lübeck 1982, S. 129133; Roland Girtler, Der Strich. Soziologie eines Milieus, Berlin 62013, S. 272 f.

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und für diese Orte erhobene Unterlagen einen zentralen Referenzrahmen. Dieser Quellenkorpus erlaubt es, Rückschlüsse auf die Stellung, Wahrnehmung und Behandlung von Zuhältern und Prostituierten im »Dritten Reich« zu ziehen und anhand von lokalen Beispielen Überlegungen zu Charakteristika des Prostitutionsmilieus im Nationalsozialismus allgemein anzustellen. Dabei ist zu beachten, dass diese Überlieferung von Institutionen und Behörden stammt, die Anteil an der Diskriminierung und Verfolgung der betrachteten Gruppe hatten. Sie geben also zuvorderst die Sichtweise der Verfolgungsinstanzen wieder. Thematisch relevante EgoDokumente liegen nur vereinzelt vor.

1. Prostituierte und Zuhälter im »Dritten Reich« Die NS -Ideologie definierte Frauen, die als Prostituierte arbeiteten, und Männer, die sich daran zuhälterisch beteiligten, als »Gemeinschaftsfremde«, das heißt als Menschen, »die durch unsittlichen Lebenswandel aus der Volksgemeinschaft herausfallen«.7 Sie wurden nicht als Mitglieder, sondern aufgrund ihrer »Asozialität« vielmehr als »Parasiten« der nationalsozialistischen Gesellschaft verstanden.8 Als »asozial« galt, so fasste es die Zeitschrift für Heimatwesen im Mai 1938 zusammen, »wer sich wegen eines nicht nur vorübergehenden Zustandes körperlicher, geistiger oder sittlicher Unzulänglichkeit nicht in das freie Gemeinschaftsleben einordnen kann oder will und dadurch das Volk, seine Familie oder sich selbst erheblich schädigt oder gefährdet, insbesondere, wer verwahrlost ist oder zu verwahrlosen droht«.9 Damit wurden freilich nicht nur Angehörige des Prostitutionsgewerbes als »Asoziale« stigmatisiert. Unter den Begriff wurde ein Personenkreis subsumiert, der flexibel definiert und nach Bedarf ausgeweitet werden konnte. Meist handelte es sich dabei um Menschen aus gesellschaftlichen Randgruppen und sozialen Unterschichten, die gemäß der NS -Auffassung wenig, unzureichend oder gar nicht arbeiteten oder einen von der Norm abweichenden Lebensstil pflegten.10 An das ideologische Muster der »Asozialität« koppelte der Nationalsozialismus weitere negative Zuschreibungen wie Unmoral, Faulheit, Minderwertigkeit, Schwachsinn, Kontrollverlust und Verkommenheit. Eine angenommene wirtschaftliche Bedürftigkeit bildete ein gesellschaftliches Stigma und konnte als ausschlaggebendes Moment staatliche Kontrolle, Festnahme, 7 Die Bekämpfung der Gemeinschaftsunfähigen, Berlin, 20. 6. 1942, in: Wolfgang Ayaß, »Gemeinschaftsfremde«. Quellen zur Verfolgung von »Asozialen« 1933-1945, Koblenz 1998, S. 307-309, hier: S. 309. 8 Stefan Mörchen, Schwarzer Markt. Kriminalität, Ordnung und Moral in Bremen 1939-1949, Frankfurt a. M. 2011, S. 386 f. Der Berliner Kommunalverwalter Josef Tress spricht vom »Parasitentum« der »Dirnen [und] Zuhälter« in Großstädten, vgl. ders., Die Asozialenfrage, in: Blätter für Gefängniskunde 72 (1941 /42) H. 5, S. 163-210, hier: S. 206, aus: International Tracing Service (ITS) Digitales Archiv 1. 1. 28.0 /82234368-82234392, S. 182. 9 Auszug »Umschau. Behandlung Asozialer«, in: Zeitschrift für Heimatwesen 43 /13 (1. 5. 1938), aus: Stadtarchiv Stuttgart 201 /1-1002, Bl. 254. 10 Als »Asoziale« wurden neben Prostituierten und Zuhältern z. B. »Zigeuner«, Wohnsitzlose, Suchtkranke oder Homosexuelle bezeichnet.

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Ausbeutung und »Ausmerze« begründen.11 So mussten als »asozial« Gebrandmarkte theoretisch mit allen Ausgrenzungs-, Verfolgungs-, ja sogar Tötungsmaßnahmen rechnen: Sie konnten zur Zwangsarbeit verpflichtet, in Schutzhaft genommen, zwangssterilisiert oder in Arbeitshäuser, Anstalten oder Konzentrationslager verbracht werden.12 Der Umgang mit dem Angebot von und der Nachfrage nach Prostitution bildete ein wichtiges Thema der NS -Sexualpolitik, die sich insbesondere mit den Möglichkeiten der Eindämmung von Geschlechtskrankheiten sowie mit Fragen beschäftigte, wie Prostitution und Zuhälterei bekämpft oder womöglich abgeschafft werden konnten. Auch in der Weimarer Republik waren das intensiv diskutierte Themen, aber aus der Sicht der NS -Machthabenden hatte das System der Weimarer Republik versagt.13 Im Visier der Kritik stand insbesondere das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von 1927, das die polizeiliche Überwachung der Prostitution aufhob.14 Indem es die Reglementierung der Prostituierten abschaffte und bestimmte, dass nun nicht mehr die Polizei, sondern die Gesundheitsbehörde für die Prostitution zuständig war, setzte das Gesetz den Fokus auf ärztliche Behandlung und Vorsorge, das heißt auf die Heilung von Personen, die an einer Geschlechtskrankheit litten, sowie auf den Schutz von Gesunden.15 Prostitution blieb folglich bei Berücksichtigung 11 Unter »Ausmerze« ist die Aussonderung ungewollter Personen und Gruppen im NS -Staat mittels sozialrassistischer und rassenhygienischer Maßnahmen (etwa Arbeitszwang, Sicherungsverwahrung, Ausweisung, Zwangssterilisation und Ermordung) als Gegenpol zur »Auslese« »erwünschter« Bevölkerungsanteile zu verstehen, vgl. hierzu z. B. Karl-Heinz Roth, »Auslese« und »Ausmerze«. Familien- und Bevölkerungspolitik unter der Gewalt der nationalsozialistischen »Gesundheitsfürsorge«, in: Gerhard Baader / Ulrich Schultz (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?, Berlin 1980, S. 152-164, hier: S. 158; Baris Alakus / Katharina Kniefacz / Robert Vorberg, Sex-Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Wien 2006, S. 25; Maike Rotzoll, Verwahren, verpflegen, vernichten. Die Entwicklung der Anstaltspsychiatrie in Deutschland und die NS -»Euthanasie«, in: Petra Fuchs / Maike Rotzoll / Ulrich Müller / Paul Richter / Gerrit Hohendorf (Hg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen ²2008, S. 24-35, hier: S. 33. 12 Zum Thema »Asozialität« v. a. Wolfgang Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, S. 9, 12, 106; Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 89. Auch: Richard J. Evans, Social Outsiders in German History. From the Sixteenth Century to 1933, in: Robert Gellately / Nathan Stoltzfus (Hg.), Social Outsiders in Nazi Germany, Oxford 2001, S. 20-44, hier: S. 38-40. 13 Hierzu Adolf Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hg. v. Christian Hartmann u. a., München / Berlin 2016, S. 651-657. 14 Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Vom 18. Februar 1927, in: RGBl. I /9, 1927, S. 61-63. Das Gesetz war Folge der seit dem Ersten Weltkrieg geführten Debatte über die Möglichkeiten, die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten einzudämmen. Es bestimmte in seinen Hauptpunkten die Behandlungspflicht von Geschlechtskranken durch approbierte Ärzte, den Ausbau von Beratungsstellen und die Liberalisierung von Schutzmitteln. 15 »Reglementierung« ist als Oberbegriff für alle staatlichen, ärztlichen und polizeilichen Kontrollmaßnahmen gegenüber der Prostitution zu verstehen.

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verschiedener Verpflichtungen wie zum Beispiel einer turnusmäßigen gynäkologischen Untersuchung straffrei. Wohnungsbeschränkungen für die Prostituierten auf Häuserblocks oder Straßenzüge waren durch die Aufhebung der Reglementierung nicht mehr erlaubt, das heißt Bordelle und »bordellartige Betriebe« wurden abgeschafft. Wer doch ein Bordell unterhielt, galt fortan als »Kuppler«.16 Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten führte auch zu einer Änderung des Paragrafen 361, 6 im Reichsstrafgesetzbuch (RStGB). Dieser hatte 1871 die Regelungen zur Prostitution im gesamten Deutschen Reich vereinheitlicht. Gemäß der Fassung von 1871 waren Frauen in der Prostitution einer sittenpolizeilichen Kontrolle unterlegen, und Prostitution war im Falle des Zuwiderhandelns gegen die Vorschriften der Sittenpolizei straf bar gewesen.17 Da die Sittenpolizei aber durch das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ausgedient hatte, bestimmte der Paragraf 361, 6 RStGB ab Oktober 1927, dass Prostitution lediglich in einer »Sitte oder Anstand verletzenden oder andere belästigenden Weise« – zum Beispiel in der Nähe von Kirchen oder Schulen – strafbar blieb. Zeit seines Bestehens standen das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und insbesondere die Aufhebung der sittenpolizeilichen Überwachung der Prostitution in harscher Kritik des bürgerlichkonservativen Lagers, denn beides hatte nach Aussage der Polizei und gemäß der öffentlichen Meinung dazu geführt, dass die »Dirnen« wie »Pilze aus dem Boden«18 schossen und so das Straßenbild verunstalteten. Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten blieb formal aber auch im »Dritten Reich« bis zum Zweiten Weltkrieg bestehen.19 Dennoch kamen die Nationalsozialisten der Kritik am Gesetz entgegen: Um im Vergleich zu Weimar die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten in der Form einzugrenzen, dass deren »Schrittmacherin, die Prostitution«,20 beseitigt werden konnte, rekriminalisierten sie Frauen in der Prostitution mit einer Novellierung des Paragrafen 361, 6 RStGB. Er 16 § 17 des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (wie Anm. 14), S. 63. Auch: Sabine Gleß, Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland, Berlin 1990, S. 78. 17 Robert Sommer, Das KZ -Bordell: Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, München 2009, S. 32; Romina Schmitter, Prostitution – Das »älteste Gewerbe der Welt«?, in: APuZ 63 (2013), H. 9, S. 22-28, hier: S. 24. S. § 361, 6 RStGB (in der Fassung von 1894). 18 Artikel »Stuttgart. Zur Aufhebung der Sittenpolizei«, aus: Schwäbische Tagwacht 229 vom 1. 10. 1927, in: Stadtarchiv Stuttgart 201 /1-1085, Bl. 13. Auch ein Bericht des Kriminalobersekretärs von Karlsruhe vom September 1939 verwendet die gleiche Beschreibung für die Entwicklungen hinsichtlich der Prostitution infolge des Gesetzes, vgl. Schreiben Kriminalobersekretär, Karlsruhe, 29. 9. 1939, betr. Behandlung der Prostitution, S. 2, in: Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe 330 Zugang 1991 /34-63, unfol. 19 Zur Geschichte und Entwicklung des Geschlechtskrankheitengesetzes von 1927 s. z. B. Michaela Freund-Widder, Frauen unter Kontrolle. Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik, Münster 2003, S. 81-105; Albrecht Scholz, Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in verschiedenen politischen Systemen, in: Der Hautarzt 7 (2003), S. 664-673; Sommer, Das KZ -Bordell (wie Anm. 17), S. 31-34. 20 Hitler, Mein Kampf (wie Anm. 13), S. 671.

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erhielt durch die »Abänderung strafrechtlicher Vorschriften« am 26. Mai 1933 eine modifizierte Formulierung. So drohte er nun nicht nur Haft für diejenige Person an, die in einer »Sitte oder Anstand verletzenden oder andere belästigenden Weise« Prostitution ausübte, sondern die »in einer Weise, die geeignet ist, einzelne oder die Allgemeinheit zu belästigen, zur Unzucht auffordert oder sich dazu anbietet«.21 Damit bekamen die Polizeibehörden freie Hand, gegen »das Dirnenwesen vorzugehen«.22 Herkömmliches Strafrecht wurde durch Polizeirecht ersetzt, das je nach personeller Besetzung der Polizeistellen willkürliche Anwendung erfahren konnte. Auch bedeutete der neu aufgelegte Paragraf eine Weitung der Definition, was unter Prostitution zu verstehen war. Nicht nur Frauen, die tatsächlich gewerbsmäßig Sex anboten, wurden fortan auf Basis des neuen Auslegungsrahmens von Paragraf 361, 6 RStGB festgenommen, sondern prinzipiell konnten alle Frauen (und Männer) belangt werden, die sich in der Öffentlichkeit in irgendeiner Art und Weise »auffällig« zeigten.23 Doch der NS -Staat lenkte seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Prostituierten. Vor dem Hintergrund der Forderung nach einer »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« entstand gleichermaßen in der Frühphase des »Dritten Reichs« ein interdisziplinärer Diskurs zur Frage des Umgangs mit Männern, die sich der Zuhälterei schuldig gemacht hatten.24 Zuhälter waren schon kurz nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten eines der Hauptobjekte der »Asozialenverfolgung« – neben Obdachlosen, Bettlern und »Zigeunern«. Sie galten als »Asoziale«, die durch negative Vorbelastungen zum »anti-sozialen« Verbrechen neigten und ein stetiges Gefahrenpotenzial zukünftiger Straftaten bildeten. Darum erschien eine rassenhygienisch motivierte präventive Kriminalitätsbekämpfung gerechtfertigt.25 Paragraf 181 a RStGB, der den Straftatbestand der Zuhälterei regelte, wurde im November 1933 durch das »Ge21 Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 185 (Hervorhebung d. Verf.); § 361, 6 RStGB (in der Fassung von 1933). 22 Minister des Innern an die Bezirksämter, die Polizeipräsidien und die Polizeidirektion BadenBaden, Karlsruhe, 19. 8. 1933, betr. Bekämpfung der Gewerbsunzucht, in: GLA Karlsruhe 234-6621, unfol. 23 So konnten auch Frauen, die alleine in einer Gaststätte angetroffen wurden oder in Verdacht standen, an einer Geschlechtskrankheit erkrankt zu sein und diese weiter zu verbreiten, unter dem Vorwurf der Prostitution verhaftet werden. Dies hing von den moralischen Vorstellungen der jeweiligen Beamten ab, vgl. Freund-Widder (wie Anm. 19), S. 114 f. Auch: Rahel Gugel, Das Spannungsverhältnis zwischen Prostitutionsgesetz und Art. 3 II Grundgesetz – eine rechtspolitische Untersuchung, Berlin 2010, S. 30. 24 Wagner, »Vernichtung der Berufsverbrecher« (wie Anm. 2), S. 97. 25 S. Thomas Roth, Von den »Antisozialen« zu den »Asozialen«. Ideologie und Struktur kriminalpolizeilicher »Verbrechensbekämpfung« im Nationalsozialismus, in: Lutz, »minderwertig« und »asozial« (wie Anm. 2), S. 65-88, hier: S. 72. Wohlfahrtsamt Stuttgart, Reichs- und Preußischer Minister des Innern an die Landesregierungen u. a., Berlin, 14. 12. 1937, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei und betr. Richtlinien zum Erlass vom 14. 12. 1937 über den Begriff asozial, Stuttgart, 20. 2. 1942, in: Stadtarchiv Stuttgart 201 /1-1002, unfol. und Reichskriminalpolizeiamt, Reinhard Heydrich, an die Staatliche Kriminalpolizei, Berlin, 1. 6. 1938, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, in: ITS Digitales Archiv 1.2. 7. 26 /8234397-82342399.

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setz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« ausgeweitet: Ab Januar 1934 konnte Zuhälterei, anstatt mit kürzeren Gefängnisstrafen, mit Zuchthausstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft werden.26 Für den Zugriff der Nationalsozialisten auf das Milieu waren, zusammenfassend gesprochen, also die bereits kurz nach Machtantritt der NSDAP im Jahr 1933 verabschiedeten verschärften Maßnahmen gegenüber Prostituierten und Zuhältern grundlegend. Im Vergleich zur Weimarer Republik avancierte die Rückkehr zur staatlichen Kontrolle des Gewerbes zum signifikanten Kennzeichen der Prostitutionspolitik zwischen 1933 und 1945.27 Das Frappierende hinsichtlich des Umgangs mit dem Milieu im »Dritten Reich« war zudem, dass die Konsequenzen der auf staatlicher oder behördlicher Ebene ergriffenen Maßnahmen für die Betroffenen lebenslanges Leid und selbst den Tod bedeuten konnten. Zu denken ist hier beispielsweise an die Zwangssterilisationen, an eine über das Jahr 1945 hinaus anhaltende Stigmatisierung und an die Anstalts- oder Lagerhaft. Die Prostitutionspolitik der Nationalsozialisten lässt sich insgesamt in zwei Phasen einteilen. Die Frühphase ab 1933 war vor allem davon gekennzeichnet, Straßenprostitution zu verhindern.28 Ziel der ab diesem Zeitpunkt vorgenommenen Überwachungsaktionen, Razzien, Verhaftungen und der zunehmenden Kasernierung der Prostitution war folglich die »Reinhaltung des Straßenbilds«.29 Das Vorgehen der Polizei konnte allerdings je nach Region und Stadt variieren. Der Kriegsausbruch 1939 dann stellte eine wesentliche Zäsur und den Übergang in eine zweite Phase der Prostitutionspolitik dar, da sich der Umgang mit der Prostitution radikalisierte: Die staatliche und polizeiliche Reglementierung des Gewerbes wurde intensiviert, das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten außer Kraft gesetzt und die polizeiliche Kontrolle der Prostitution wieder zentral und umfassend eingeführt. Der NS -Staat nutzte das Milieu fortan für seine Zwecke und richtete Bordelle im Heimat- und Besatzungsgebiet und in Konzentrationslagern ein.30 26 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung. Vom 24. November 1933, in: RGBl. I /133, 1933, S. 995-999; § 181 a RStGB (in der Fassung von 1934). 27 Zur Abgrenzung des nationalsozialistischen Umgangs mit dem Milieu von jenem der Weimarer Zeit sowie zu den verschiedenen Phasen der Prostitutionspolitik zwischen 1933 und 1945 s. Julia Roos, Backlash against Prostitutes’ Rights: Origins and Dynamics of Nazi Prostitution Policies, in: Journal of the History of Sexuality 11 (2002), S. 67-94, hier: S. 74, 78-93; Annette F. Timm, Sex with a Purpose: Prostitution, Veneral Disease, and Militarized Masculinity in the Third Reich, in: ebd., S. 223-255, hier: S. 228-251. Auch: Victoria Harris, Selling Sex in the Reich. Prostitutes in German Society, 1914-1945, Oxford 2010, S. 149-151. 28 Die heimliche Prostitution blieb straffrei, vgl. Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 185. 29 Erlaß des preußischen Innenministers Hermann Göring an die Polizeibehörden, Berlin, 22. 2. 1933, in: Ayaß, »Gemeinschaftsfremde« (wie Anm. 7), S. 3 f. Hierzu: Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 185; Roth, Von den »Antisozialen« (wie Anm. 25), S. 77 f. 30 Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 192 f.; Timm, Sex with a Purpose (wie Anm. 27), S. 246249. Vorliegender Beitrag unterscheidet zwei Phasen der NS -Prostitutionspolitik. Es ist aber denkbar, insbesondere zwischen 1939 und 1945 weitere Zäsuren anzusetzen, z. B. 1940 mit dem Erlass, Bordelle für »fremdvölkische Arbeiter« einrichten zu lassen oder 1941 mit dem

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Prostituierte wie Zuhälter fielen, wie gezeigt wurde, beide durch ihren »unsittlichen Lebenswandel aus der Volksgemeinschaft« heraus.31 Das Milieu und seine Angehörigen stellten für Vertreter der Polizei, Gerichte, Medizin und Fürsorge ein Gegenbild zur »Volksgemeinschaft« dar, von dem es sich durch die Exklusion jener »Asozialen« aus der Gemeinschaft zu distanzieren und abzugrenzen galt. Gleichzeitig definierten sich die staatlichen Akteure über diese Ausgrenzung, indem sie beispielsweise in Ermittlungsverfahren oder vor Gericht »volksgemeinschaftliche« Ideale, die den ausgeschlossenen »Anderen« vermeintlich nicht zu eigen waren, performativ vertraten.32 Aber wie sah das Gegenbild konkret aus?

2. »Haltlos« und »triebhaft«: Darstellungen von Prostituierten in zeitgenössischen Quellen Erstens stellten Prostituierte das negative Gegenbild des von den Nationalsozialisten propagierten Ideals der deutschen Frau dar; sie waren das Gegenteil der »wertvollen« Frau. Sie galten als »unmoralische« und »liederliche« »Frauenpersonen«: als »NichtFrauen«.33 Mit Blick auf die Frage nach dem Frauenbild im Nationalsozialismus und die Verortung von Prostituierten darin ist es wichtig festzuhalten, dass die NS -Ideologie im Grunde genommen kein generelles Frauenbild, sondern ein »Mutterbild« aufwies. Die »arische« Frau sollte (nicht nur, aber vor allem) Ehefrau und Mutter sein und ihrem Mann, der sich durch Engagement in der Bewegung und bestenfalls auch als Soldat im Krieg zu beweisen hatte, als »Lebenskameradin« dienend zur Seite stehen, indem sie ihm ein Heim schuf, Kinder gebar und aufzog. Ihre Kinder potenzierten die Stärke des »deutschen Volkes« – zahlenmäßig und in ihrem künftigen Dienst für die »Volksgemeinschaft«. Deren Bestehen und Zukunft sicherte die Frau, indem sie »arischen«, »erbgesunden« und für die »Volksgemeinschaft« »erwünschten« Nachwuchs austrug. Damit gestalteten und schützten Frauen als Mütter den familiären Mikrokosmos und repräsentierten die Familie als »kleinste, aber wertvollste Einheit im Auf bau des ganzen Staatsgefüges«34 NS -Deutschlands. Wünschenswerte »Attribute« von Frauen in charakterlicher und körperlicher Hinsicht waren neben Erbgesundheit, »arischer« Abstammung und politischer Konformität vor allem Treue, Anstand und Sittlichkeit, Bereitschaft zur Unterordnung, Dienstbarkeit, Pflicht-

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Befehl Heinrich Himmlers, das erste Lagerbordell im KZ Mauthausen zu etablieren; vgl. hierzu Roos, Backlash (wie Anm. 27), S. 91; Sommer, Das KZ -Bordell (wie Anm. 17), S. 112. Die Bekämpfung der Gemeinschaftsunfähigen, in: Ayaß, »Gemeinschaftsfremde« (wie Anm. 7), S. 309. Elizabeth Harvey bezeichnet es folgendermaßen: »Gemeinschaft impliziert die Fixierung des Eigenen gegenüber dem Fremden«, vgl. dies., Weibliche Gemeinschaft als »Volksgemeinschaft«: Vergnügen, Konformität und Zwang, in: Schmiechen-Ackermann, »Volksgemeinschaft« (wie Anm. 1), S. 249-264, hier: S. 250. Auch: Pohl, Konstrukt (wie Anm. 1), S. 70. Gisela Bock, Racism and Sexism in Nazi Germany: Motherhood, Compulsory Sterilization, and the State, in: Renate Bridenthal / Atina Grossmann / Marion Kaplan (Hg.), When Biology Became Destiny. Women in Weimar and Nazi Germany, New York 1984, S. 271-296, hier: S. 288. »Adolf Hitlers Programm«. Aufruf zur Wahl am 31. 7. 1932, in: Werner Siebarth, Hitlers Wollen. Nach Kernsätzen aus seinen Schriften und Reden, München 1939, S. 126.

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bewusstsein, Anspruchslosigkeit und Verfügbarkeit, speziell auch in sexuellen Aspekten, sowie generelle äußerliche Ansehnlichkeit.35 Prostituierte konterkarierten das ideologische Konzept einer auf Ehe, Mutterschaft und Familie ausgerichteten idealisierten Frauenrolle. Mit ihrer angeblich freizügigen Sexualität, die auf Lust und Profit und nicht auf Ehe und Fortpflanzung ausgerichtet schien,36 entzogen sie sich nach nationalsozialistischem Verständnis der biologischen, reproduktiven »Pflicht« der Frau zu Schwangerschaft und Mutterschaft.37 Waren sie verheiratete Mütter, unterliefen sie die nationalsozialistische Ordnung gar auf doppelte Weise. Dann vermischten sich sexistische und rassistische Motive. Frauen, die sich prostituierten oder als Prostituierte aktenkundig waren, wurden zur Abtreibung beziehungsweise Sterilisierung gezwungen, Mütter bekamen – da sie ihre Kinder ohnehin nur negativ beeinflussen würden – das Sorgerecht entzogen. Ihre Mutterschaft wurde nicht anerkannt, Nachwuchs war nach Meinung von NS -Medizinern und Juristen für sie – als »Asoziale« – nicht vorgesehen.38 Das Mutterkreuz sollte ihnen nicht verliehen werden, da sie das »Ansehen der Deutschen Mutter« schädigten.39 Diese Stigmatisierung als »minderwertig« und als »Prototypen« der »asozialen Frau«40 teilten Prostituierte mit Müttern von »asozialen Großfamilien« und sexuell »freizügig«, etwa lesbisch lebenden Frauen.41 35 Zu Frauen im Nationalsozialismus z. B. Claudia Koonz, Mütter im Vaterland. Frauen im Dritten Reich, Freiburg 1991, S. 70-76, 97; Irmgard Weyrather, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die »deutsche Mutter« im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1993, S. 10-16, 58, 115 f. 36 Freund-Widder, Frauen unter Kontrolle (wie Anm. 19), S. 109 f. 37 Cornelia Usborne, Abtreibung: Mord, Therapie oder weibliches Selbstbestimmungsrecht? Der § 218 im medizinischen Diskurs der Weimarer Republik, in: Johanna Geyer-Kordesch / Annette Kuhn (Hg.), Frauenkörper. Medizin. Sexualität. Auf dem Wege zu einer neuen Sexualmoral, Düsseldorf 1986, S. 192-236, hier: S. 207. 38 Kristine von Soden, Auf dem Weg zur »neuen Sexualmoral« – Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik, in: Geyer-Kordesch / Kuhn, Frauenkörper (wie Anm. 37), S. 237-262, hier: S. 256; Freund-Widder, Frauen unter Kontrolle (wie Anm. 19), S. 110; Ingrid Tomkowiak, »Asozialer Nachwuchs ist für die Volksgemeinschaft vollkommen unerwünscht«. Eugenik und Rassenhygiene als Wegbereiter der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter, in: Lutz, »minderwertig« und »asozial« (wie Anm. 2), S. 33-50, hier: S. 36. Der Reichsminister des Innern verordnete z. B.: »Ich weise darauf hin, daß derartige Fälle [schwangere Prostituierte – Anm. d. Verf.] in den Rahmen meines Erlasses vom 19. September 1940 […] fallen und daher bei mir die Genehmigung zur Schwangerschaftsunterbrechung und die etwa notwendig gehaltene Unfruchtbarmachung nachgesucht werden kann«, vgl. Reichssicherheitshauptamt, Arthur Nebe, an alle Kriminalpolizei(leit)stellen und Abteilungen, Berlin, 13. 5. 1942, betr. Schwangere Prostituierte, in: GLA Karlsruhe 330 Zugang 1991 /34-269, unfol. 39 Erlaß des Reichs- und preußischen Innenministers, Dr. Wilhelm Frick, an die Landesregierungen u. a., Berlin, 28. 1. 1939, in: Ayaß, »Gemeinschaftsfremde« (wie Anm. 7), S. 194-195, hier: S. 194 f. 40 Claudia Schoppmann, Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im »Dritten Reich«, Berlin 1993, S. 23; dies., Zur Situation lesbischer Frauen in der NS -Zeit, in: Günter Grau (Hg.), Homosexualität in der NS -Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt a. M. 1993, S. 35-42, hier: S. 41. 41 Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 184.

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Bezüglich gleichgeschlechtlich begehrender Frauen ist zudem eine zeitgenössisch angenommene Relation von Homosexualität und »Asozialität« erwähnenswert: So gingen die Nationalsozialisten davon aus, dass speziell unter Prostituierten lesbische Liebe verbreitet sei. Folglich konnte im Falle einer Anzeige nach Paragraf 361, 6 RStGB auch der Vorwurf der Homosexualität erhoben werden und vice versa. Ob Prostituierte tatsächlich häufiger in lesbischen Beziehungen lebten und ob sich der Vorwurf der Homosexualität erschwerend auf jenen der Prostitution auswirkte, bleibt im Rekurs auf Einzelfälle zu prüfen – und ist im Nachblick oft nicht zu entscheiden. Grundlegend ist, dass das NS -Regime vermeintlich abweichendes weibliches (Sexual-) Verhalten brandmarkte und repressiv behandelte.42 Eine zweite Stigmatisierung von Prostituierten beruhte auf der diskursiven Verknüpfung von Prostitution und Geschlechtskrankheiten. Prostituierte galten als gefährdeter, an einer Geschlechtskrankheit zu erkranken, als Frauen, die nicht in der Prostitution arbeiteten. Hitler bezeichnete in Mein Kampf die Prostitution als »eine Schmach der Menschheit«, die als Hauptursache der »Seuche« – womit er die Syphilis meinte – zur »Entartung« ganzer »Kulturvölker« geführt habe.43 Damit knüpfte er an das gängige Bedrohungsszenario an, das sich auf der Vorstellung der Prostituierten als Infektionsquelle venerischer Krankheiten gründete.44 Befürchtet wurde vor allem, dass sich Männer bei Prostituierten anstecken und dann ihre Ehefrauen ebenfalls infizieren könnten, wodurch diese dann entweder unfruchtbar würden oder kranke Kinder zur Welt brächten.45 Im Fokus der Behörden standen insbesondere »heimliche« Prostituierte, also jene Frauen, die nicht gemeldet waren und unter Aufsicht der Gesundheitsbehörde standen, aber »dringend verdächtig [waren], häufig wechselnden Geschlechtsverkehr auszuüben«.46 42 Hierzu die Publikationen von Claudia Schoppmann, Lesbische Frauen und weibliche Homosexualität im Dritten Reich. Forschungsperspektiven, in: Schwartz, Homosexuelle (wie Anm. 3), S. 85-91, hier: S. 87 f.; dies., Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, Pfaffenweiler 1991, S. 205-209. Ein lesbisches Paar, das in der Prostitution arbeitete, wird in: Samuel Clowes Huneke, The Duplicity of Tolerance: Lesbian Experiences in Nazi Berlin, in: Journal of Contemporary History 52 (2017), S. 1-30, hier: S. 15, 17 behandelt. Für den Konnex von »abweichenden« weiblichen Geschlechterrollen und »Asozialität« bietet das Beispiel von Ilse Trotzke, das Laurie Marhoefer, Lesbianism, Transvestitism, and the Nazi State: A Microhistory of a Gestapo Investigation, 1939-1943, in: The American Historical Review 121 (2016), S. 1167-1195, hier: S. 1180-1182, vorstellt, genauere Anhaltspunkte. 43 Hitler, Mein Kampf (wie Anm. 13), S. 661-669. 44 Bereits seit dem Kaiserreich wurden überwiegend Prostituierte für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verantwortlich gemacht, s. Sybille Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011, S. 88. 45 Freund-Widder, Frauen unter Kontrolle (wie Anm. 19), S. 110. 46 Tätigkeitsbericht der Gesundheitsbehörde für das Wirtschaftsjahr 1937, 1. April 1937 bis 31. März 1938, o. O., o. D., S. 1 f., in: Stadtarchiv Karlsruhe 1 /H-Reg A 864, unfol. Der NS Staat befürchtete bezüglich jener Frauen drei Dinge: zum ersten, dass diese durch die heimliche schnell in die gewerbsmäßige Prostitution »absinken« würden, zum zweiten, dass es vermehrt zu unerwünschten Schwangerschaften käme und zum dritten, dass eine Ausbrei-

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Die Nationalsozialisten stellten weiterhin einen expliziten Zusammenhang her zwischen der angeblich verstärkten »sittlichen Verwahrlosung« infolge einer Sterilisation und der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Wie das Protokoll der ersten Arbeitstagung des Ausschusses für Wohlfahrts- und Fürsorgerecht der Akademie für Deutsches Recht in Hamburg 1938 dokumentiert, würden Frauen durch die Unfruchtbarmachung verleitet, »sich einem völlig ungehemmten Triebleben hinzugeben«, »unter ihnen« seien dann »die gefährlichsten Träger und Verbreiter der Geschlechtskrankheiten« zu finden.47 Diese angenommene Verknüpfung von »Verwahrlosung«, Sterilisation und Übertragung venerischer Krankheiten kann anhand des Beispiels der Mannheimer Arbeiterin Anna S. verdeutlicht werden: Anna S. wurde im Februar 1941 angezeigt, weil sie ihrer Verpflichtung, sich bei der Gesundheitsbehörde auf Geschlechtskrankheiten untersuchen zu lassen, nicht nachgekommen war.48 Ihr wurde vorgeworfen, dass sie »die Aufsichtsmaßregeln, welche zur Verhütung des Verbreitens einer ansteckenden Krankheit angeordnet worden sind[,] wissentlich« verletzt habe, »indem sie als eine Person, die dringend verdächtig ist, geschlechtskrank zu sein und die Geschlechtskrankheit weiter zu verbreiten, der Anordnung der zuständigen Gesundheitsbehörde, sich der Untersuchung durch einen durch diese Behörde benannten Arzt zu unterziehen, zuwiedergehandelt [sic !]« habe.49 In einem Gutachten des Anstaltsarztes am Strafgefängnis Mannheim zum »Geisteszustand« der Angezeigten heißt es, dass sie nach ihrer Sterilisation 1934 zunehmend »sittlich verwahrloste«, »besonders in sexueller Hinsicht« sei »sie immer haltloser« geworden.50 Das Gutachten dokumentiert die Verfolgungs- und Leidensgeschichte von Anna S. vor und nach der Anzeige: So war sie 1934 nicht nur sterilisiert und 1940 entmündigt, sondern mittels ärztlicher Einschätzung von 1941 auch wegen eines »schizophrene[n] Defektzustand[s]« als »Schwachsinnige« eingestuft worden. Das Gutachten bildete die Grundlage für die Einweisung von Anna S. in die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch, von der aus sie im April 1944 auf einen Transport nach Auschwitz kam.51

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tung der Geschlechtskrankheiten durch diese »Infektionsquellen« massiv begünstigt würde, vgl. Alakus, Sex-Zwangsarbeit (wie Anm. 11), S. 30; Freund-Widder, Frauen unter Kontrolle (wie Anm. 19), S. 111. Hierzu Protokoll der I. Arbeitstagung des Ausschusses für Wohlfahrts- und Fürsorgerecht der Akademie für Deutsches Recht, Hamburg, 19. 8. 1938, in: Ayaß, »Gemeinschaftsfremde« (wie Anm. 7), S. 141-172, hier: S. 144. Anna S. wurde wegen Vergehens gegen § 327 RStGB in Verbindung mit § 4 des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten angezeigt. Sowohl § 327 RStGB (in der Fassung von 1912), als auch § 4 des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten regelten die Aufsicht der Geschlechtskrankenfürsorge und gewährleisteten die Möglichkeit, eine geschlechtskranke oder der Geschlechtskrankheit und ihrer Weiterverbreitung verdächtige Person ermitteln und behandeln zu lassen. Strafanzeige gegen Anna S., Mannheim, 14. 2. 1941, in: GLA Karlsruhe 309-1998, Bl. 1 f., hier: Bl. 1. Sachverständigengutachten des Anstaltsarztes am Strafgefängnis, Mannheim, 21. 3. 1941, betr. Geisteszustand der Anna S., in: GLA Karlsruhe 309-1998, Bl. 22-27, hier: Bl. 23. Ebd., Bl. 25; Schreiben Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch an Oberstaatsanwalt Mannheim, Wiesloch, 11. 4. 1944, betr. Pflegling Anna S., in: GLA Karlsruhe 309-1998, unfol.

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Wird in zeitgenössischen Überlieferungen über Prostituierte – sowie Mädchen und Frauen, die aus nationalsozialistischer Sicht in die Prostitution abzusinken drohten – geschrieben, so finden sich stets Konnotationen einer geschlechtsspezifischen Devianz. Hierin lässt sich eine dritte zeitgenössische Kategorisierung der Prostituierten ausmachen. Betrachtet man Beiträge in polizeilichen oder wohlfahrtspflegerischen Zeitschriften, Gerichtsprotokolle über Verhandlungen gegen Prostituierte oder auch Unterlagen von Arbeitshäusern bezüglich der Einweisung von Prostituierten, dann dominierten wiederkehrende Sinnzusammenhänge von Prostitution und Unbeständigkeit, Disziplinlosigkeit, Faulheit, Dummheit, Schwäche und Unsauberkeit.52 Häufig wurden in Bezug auf betroffene Frauen deren »Herumtreiberei« und »liederlicher Lebenswandel« hervorgehoben und darüber hinaus ihre »Verwahrlosung« in sittlicher und moralischer Hinsicht, ihre »Triebhaftigkeit«, »Hemmungslosigkeit«, »Haltlosigkeit«, »Wahllosigkeit« bezüglich ihrer Sexualpartner, ihre »Abartigkeit« oder Vernachlässigung typisch weiblicher Aufgabengebiete moniert. So heißt es in dem Verfahren gegen Wilhelmine W., die 1943 als Prostituierte wegen Verstoßes gegen die »Volksschädlingsverordnung« verurteilt wurde,53 dass sie »ihren Haushalt stark vernachlässigt« habe und einem »wechselnden Geschlechtsverkehr« nachgegangen sei.54 Wilhelmine W. machte laut medizinischem Gutachten einen »äusserst ungünstigen Eindruck« und wurde als eine »moralisch minderwertige, leichtsinnige und lügnerisch veranlagte Person« bezeichnet, »die – obgleich sie erst seit einigen Jahren von der Unzucht lebt – das Gebaren und die moralischen Qualitäten einer mit allen Wassern gewaschenen Dirne hat«.55 Prostituierte galten außerdem als »beeinflussbar«, »geistesschwach«, als »ethisch defekt« sowie »stimmungslabil«. In den Akten der Insassinnen des Arbeitshauses Buttenhausen bei Stuttgart wird etwa über die der »gewerbsmäßigen Unzucht« nachgehende Johanna S. geurteilt und mit den Zuschreibungen »trieb52 Diese Zusammenhänge finden sich auch in der Beschreibung des Verhaltens von Frauen, das eigentlich mit Prostitution nichts zu tun hatte. Die Termini verwendete man also generell zur Brandmarkung von weiblich-deviantem Verhalten und zur Beschreibung der Gefährdung von Mädchen und Frauen vor dem »Absinken« in die Prostitution, vgl. Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 195. Zeitgenössisch unterschied man verschiedene »Kategorien« von Prostituierten, so benannte z. B. der Direktor der Heilanstalt Strecknitz-Lübeck, J. Enge, drei Gruppen von Prostituierten: jene, die aus wirtschaftlicher Not zur Prostitution kamen, »moralisch schwachsinnig[e]« und solche, die aus »lebhafte[m] Geschlechtstrieb« als Prostituierte arbeiteten, vgl. J. Enge, Entmündigung Prostituierter, in: Zeitschrift für psychische Hygiene 14 (1942), S. 78-86, hier: S. 80. 53 Die »Volksschädlingsverordnung« wurde 1939 als Kriegsverordnung zur Handhabe der Sondergerichte erlassen. Sie richtete sich gegen den »inneren Feind«. Anwendungsbereiche waren die »Ausnutzung der Verdunkelung« wegen der Fliegerangriffe und Diebstahl aus Luftschutzkellern, vgl. Verordnung gegen Volksschädlinge. Vom 5. September 1939, in: RGBl. I /168, 1939, S. 1679. Hierzu: Christiane Oehler, Die Rechtsprechung des Sondergerichts Mannheim 1933-1945, Berlin 1997, S. 170 f.; Mörchen, Schwarzer Markt (wie Anm. 8), S. 89. 54 Urteil Sondergericht Mannheim gegen Erich F., Wilhelmine W. und Elisabeth O., Mannheim, 28. 5. 1943, S. 6, in: GLA Karlsruhe 507-12276, unfol. 55 Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde bei dem Sondergericht in Mannheim an den Vorsitzenden, Mannheim, 27. 4. 1943, S. 13, in: GLA Karlsruhe 507-12276, unfol.

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haft, ethisch defekt, haltlos« operiert.56 Ein weiteres wichtiges Klassifikationsraster von Polizisten und Fürsorgerinnen in Bezug auf Prostituierte war die ihnen zugesprochene Unsauberkeit. Sie galten nicht nur als »sittlich verwahrlost«, sondern auch als körperlich »unreinlich«.57

3. »Verkommen« und »kriminell«: Der Zuhälter in der NS -Ideologie In der NS -Ideologie rangierte die Figur des Zuhälters zwischen den Vorstellungen von Kriminalität und »Asozialität«. Der Zuhälter wurde als »[a]rbeitsscheu von Jugend auf« eingeschätzt – ein Merkmal, das eine »frühzeitig einsetzende kriminelle Betätigung« sowie »verhältnismäßig starke kriminelle Vorbelastung« bedingen würde.58 Bezüglich seiner vermeintlichen kriminellen Disposition ist erstens die genauere Betrachtung des bereits erwähnten »Gewohnheitsverbrechergesetzes« aufschlussreich. Mit der Verabschiedung des Gesetzes 1933 erreichte die Vorstellung eines neuen »Tätertyps« Eingang in das Strafrecht: Die Aufmerksamkeit der strafrechtlichen Verfolgung bewegte sich von der zu ahndenden Tat weg und konzentrierte sich auf den Charakter des Täters.59 Der Rahmen, in dem ein Richter fortan delinquentes Verhalten beurteilen konnte, wurde hierdurch ausgeweitet. Für die Gruppe der Zuhälter bedeutete dies, dass sie nicht nur wegen des Vergehens der Zuhälterei mit einer Zuchthausstrafe, sondern daneben auch mit einer Einstufung als »gefährlicher Gewohnheitsverbrecher« rechnen mussten. Das wiederum hieß, dass es zu einer Strafverschärfung und Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Zeit kommen konnte, um den Täter zum »Schutz« der Allgemeinheit unschädlich zu machen.60 56 Akte des Arbeitshauses Buttenhausen von Johanna S., in: Stadtarchiv Stuttgart 201 /1-1004. 57 Käthe Petersen, Entmündigung geistesschwacher Prostituierter, in: Zeitschrift für psychische Hygiene 15 (1942), S. 67-76, hier: S. 73. 58 Dr. Hauke, Der Zuhälter als asozialer Typus, in: Archiv für Kriminologie 107 (1940), S. 22-27, hier: S. 27. 59 Zum »Täterbild« vgl. Dr. Becker, Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher, seine Bekämpfung im Kriege, in: Der öffentliche Gesundheitsdienst A /8 /7 (1942), S. 154-157, hier: S. 154. Die Gefahr des Zuhälters bestand dabei nicht darin, dass er als Gewaltverbrecher galt, sondern dass er dauerhaft in seiner »Domäne« der »leichte[n] und mittlere[n] Kriminalität« tätig war, vgl. Hauke, Zuhälter (wie Anm. 58), S. 24. 60 Der Beurteilungsspielraum, der dem Richter nun eingeräumt wurde, begründete sich aus der Tatsache, dass das »Gewohnheitsverbrechergesetz« zur Ergänzung des RStGB um den § 20 a geführt hatte; in diesem war die Annahme eines »Tätertyps« verankert, vgl. Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher (wie Anm. 26), S. 995. Auch: Heinz Wagner, Das Strafrecht im Nationalsozialismus, in: Franz Jürgen Säcker (Hg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, Baden-Baden 1992, S. 141-184, hier: S. 149 f.; Monika Frommel, Verbrechensbekämpfung im Nationalsozialismus, in: ebd., S. 185-201, hier: S. 198 f. Das Gesetz wurde während des Krieges noch verschärft, denn ab 1941 drohte dem »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« auch die Todesstrafe, wenn es »der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne« erforderten. Vgl. Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4. September 1941, in: RGBl. I /101, 1941, S. 549 f. Auch: Oehler, Rechtsprechung (wie Anm. 53), S. 215 f.

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Neben ihrer Kategorisierung als »Gewohnheitsverbrecher« fielen Zuhälter zweitens als »Asoziale« unter die Bestimmungen des »Grunderlasses Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei« vom 14. Dezember 1937 und dessen Durchführungsrichtlinien vom April 1938. Mit dem Grunderlass wurde erstmals eine reichseinheitliche Regelung der Vorbeugehaft verabschiedet, die für »Berufs- und Gewohnheitsverbrecher« schon seit 1933 galt. Ähnlich wie die von der Gestapo verhängte Schutzhaft wurde auch die Vorbeugungshaft in Konzentrationslagern vollstreckt.61 Ein im Juni 1938 »streng vertraulich« an die Kriminalpolizeileitstellen versendeter Rundbrief Reinhard Heydrichs ermöglichte den massiven Zugriff auf Zuhälter, die sich der »Arbeit entzogen«, und ihre Verbringung in kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft. Für die »Juni-Aktion« ordnete Heydrich an, dass binnen einer Woche aus den jeweiligen Kriminalpolizeileitstellenbezirken »mindestens 200 männliche arbeitsfähige Personen (asoziale) in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen« seien.62 Darunter sollten laut Heydrich auch Zuhälter gefasst werden, »die in ein einschlägiges Strafverfahren verwickelt waren – selbst wenn eine Überführung nicht möglich war – und heute noch in Zuhälter- und Dirnenkreisen verkehren oder Personen, die im dringenden Verdacht stehen, sich zuhälterisch zu betätigen«.63 Auch in polizeilichen oder wohlfahrtspflegerischen Zeitschriften, Gerichtsprotokollen oder Unterlagen von Arbeitshäusern lassen sich stigmatisierende Darstellungen finden, die auf eine männlich konnotierte Delinquenz hindeuten. Es wurden dabei drittens Sinnzusammenhänge von Zuhälterei und Verkommenheit, Gemeingefährlichkeit, Gerissenheit, Brutalität und Maßlosigkeit gebildet. Häufig wurden in Bezug auf diese Männer Zuschreibungen wie »verdorben«, »haltlos«, »moralisch schwach« und »sittlich eingeschränkt« verwendet, aber auch ihr »angeborener Schwachsinn«, ihre »anormale geistige Veranlagung«, »gefährliche Asozialität« sowie ihre »Arbeitsscheu« von Jugend an hervorgehoben. Zuhälter galten gleichzeitig als »Gefahr für die Umwelt«, »Schmarotzer«, »unverbesserliche« und »gefährliche Verbrecher«, als »Gewohnheitsverbrecher« oder »Berufsverbrecher«, die in »ehrloser Gesinnung« als »dunkle Persönlichkeiten« ihrem »lichtscheuen Treiben« nachgingen. Gerade in Unterlagen von Arbeitshäusern werden sie als »unruhigste Elemente« beschrieben, die keine Obrigkeit anerkennten und die eigentlich – laut den Einschätzungen einzelner Vorsitzender von Arbeitsanstalten – nicht in ein Arbeits-, sondern in ein Zuchthaus gehörten, weil sie »entsprechend ihrer Charakterveranlagung zu antisozialer Betätigung neigen« würden.64 So heißt es über den im Dezember 1941 in 61 Zum Grunderlass v. a. Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 138-149, 157. Prostituierte konnten auch auf Basis des Grunderlasses in polizeiliche Vorbeugungshaft genommen werden, vgl. Wohlfahrtsamt Stuttgart, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung (wie Anm. 25), S. 2 f. 62 Reichskriminalpolizeiamt, Reinhard Heydrich, an die Staatliche Kriminalpolizei, Berlin, 1. 6. 1938, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, S. 1, in: ITS Digitales Archiv 1.2. 7. 26 /8234397-82342399. 63 Ebd., S. 2. 64 Direktor der Provinzial-Arbeitsanstalt Brauweiler an den Direktor der Badischen Landesarbeitsanstalt Kislau, Brauweiler bei Köln, 7. 12. 1932, bzgl. Untergebrachte Zuhälter, in: ITS Digitales Archiv 1. 1. 16.0 /82115164.

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Karlsruhe wegen Zuhälterei zu vier Monaten Haft verurteilten Walter K.,65 dass er sich während seiner »Nachhaft« in Kislau zwar »hausordnungsgemäss« verhalten habe, denn als »erfahrener Gefängnispraktiker« wisse er, dass er »nur auf diese Weise seine Lage erträglich gestalten« konnte. Allerdings: »Irgendwelche bessernde Wirkung vermochte […] der Strafvollzug bei ihm nicht zu erreichen. K. ist haltlos, moralisch minderwertig und arbeitsunlustig. […] Er verdient in keiner Hinsicht Vertrauen.« Die Prognose hinsichtlich Walter K. war denkbar schlecht, sodass »die Verhängung der polizeilichen Vorbeugungshaft« zum »Schutze der Volksgemeinschaft« gefordert wurde.66 Zuhälter werden in den diversen Akten als »gerissen« und »gewandt«, dabei »unwahrhaftig«, »widerspenstig«, »vorlaut« und »unbeherrschbar« typisiert, als »Aufschneider« und »Schwindler«, die »Lumpereien treiben« und »Zwietracht säen« und in den Arbeitshäusern unter den »Wühlern« seien.67 Dominierend ist auch der Verweis auf die Neigung der Zuhälter zu Gewalttätigkeit, so werden sie als »übel«, »gemein«, »skrupellos« und »reizbar« beschrieben. Sie böten ihren »Dirnen« durch Gewalt Schutz auf »Strichgängen«. Als Beweggrund für die Zuhälterei wird vielfach der »Hang« zu »mühelosem« Einkommen genannt. In diesem Kontext stellte man auch die »Trunksucht«, »Einsichtslosigkeit«, »Eigensucht« und den »liederlichen Lebenswandel« der Zuhälter heraus. Über den zwischen 1933 und 1935 in Kislau inhaftierten Kurt M. wurde geurteilt, dass er sich in psychischer Hinsicht als »brutaler, widerspenstiger[,] überheblicher[,] reizbarer und explosiver Psychopath [erwies]«,68 und als »Typ eines brutalen gemeinen Zuhälters […] gar nicht den Versuch macht[,] wieder ehrliche Arbeit zu bekommen«. Er habe den »grössten Teil des sehr erheblichen Unzuchtverdienstes der H. für sein üppiges Leben verbraucht«.69 Viertens versäumte der NS -Logik zufolge ein Mann, der sich zuhälterisch betätigte und obendrein auch der Ehepartner einer Prostituierten war, seine »Mannespflicht«, den Unterhalt für seine Familie zu bestreiten. Er verhielt sich »verwerflich«, weil er sich von einer Frau aushalten ließ und der Verantwortung nicht nachkam, seine Ehefrau davon abzuhalten, sich zu prostituieren. So lautete es im Urteil gegen Rudolf B. von 1936 wegen Zuhälterei und Kuppelei: »Das Verhalten des Angeklagten stellt eine Gipfelleistung an unmoralischer Gesinnung und mangelndem Ehrgefühl dar. Er hat seine eigene Ehefrau an einen, 65 Urteil Amtsgericht Karlsruhe gegen Walter K., Karlsruhe, 23. 12. 1941, S. 1, in: GLA Karlsruhe 521-3960, unfol. 66 Beschluss Kislau an die Staatliche Kriminalpolizei, Kriminalpolizeistelle Augsburg, auf die Zuschrift vom 20. 3. 1942, Kislau, 23. 3. 1942, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, in: GLA Karlsruhe 521-3960, unfol. 67 Direktor der Landesarbeitsanstalt Glückstadt an die Badische Landesarbeitsanstalt Kislau, Glückstadt, 10. 12. 1932, betr. Bekämpfung des Zuhältertums, in: ITS Digitales Archiv 1. 1. 16.0 / 82115165. 68 Obermedizinalrat bei den Strafanstalten in Freiburg an das Polizeipräsidium, Mannheim, 21. 11. 1933, in: GLA Karlsruhe 521-4647, unfol. 69 Urteil Schöffengericht Mannheim gegen Kurt M., Mannheim, 20. 1. 1932, S. 2, in: GLA Karlsruhe 521-4647, Bl. 27-29, hier: Bl. 28.

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ihm als Dirnenaufenthalt bekannten Ort gebracht, damit sie dort die Unzucht ausübe. Es wäre Pflicht des Angeklagten gewesen […] zu verhindern, dass seine Ehefrau […] ihr früheres Gewerbe wieder aufnahm.« Hieraus leitete das Gericht eine »ausserordentlich verwerfliche moralische Einstellung und das Fehlen jeglicher Begriffe von dem sittlichen Gehalt einer Ehe« des Angeklagten ab.70 In diesen negativen Stigmatisierungen spiegeln sich idealisierte Bilder einer vermeintlich angemessenen, mit Eigenschaften wie Tatkraft, Leistungsstärke, erblicher und körperlicher Gesundheit sowie politischer Kompatibilität und Loyalität ausgestatteten nationalsozialistischen Männlichkeit: Zuhälter wurden an hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen gemessen.71

4. Das Prostitutionsmilieu als Spiegel der »Volksgemeinschaft«? Betrachtet man den staatlich-behördlichen Umgang des »Dritten Reiches« mit dem Prostitutionsmilieu, so spiegelt dieser Blick von außen »volksgemeinschaftliche« Normen wider, trotz des zeitgleichen Ausschlusses Milieuangehöriger als »Asoziale«.72 Zuschreibungen und Kategorisierungen der Polizei und des Gesetzgebers gingen von Vorstellungen einer Geschlechterdifferenz von Mann und Frau, von getrennten Wirkungsbereichen und von der Annahme einer männlichen Kontrolle über das Weibliche aus. Dies zeigt sich besonders eindrücklich mit Blick auf die männliche Überwachung weiblicher Sexualität und in der Gewährleistung eines allseitig möglichen männlichen Zugriffes auf den weiblichen Körper. Gleichzeitig wurden die als Prostituierte arbeitenden Frauen grundsätzlich unsichtbar gemacht und blieben gegenüber den Männern, die als ihre Zuhälter fungierten, marginalisiert. Auch bei einer Betrachtung der Paarbeziehungen im Milieu von innen lassen sich Belege für eine Aufrechterhaltung der Geschlechterdifferenz ausmachen. Mehr noch: Konstituierende Merkmale der sozialrassistischen NS -Gesellschaft finden sich auch in Gruppen, die jenseits der »Volksgemeinschaft« standen. 70 Urteil in der Strafsache gegen Rudolf B. wegen Zuhälterei und schwerer Kuppelei, Karlsruhe, 7. 7. 1936, in: GLA Karlsruhe 309-1369, Bl. 95-102, hier: Bl. 98, 101. 71 Zum Thema »Männlichkeit« im »Dritten Reich« z. B. Hauer, NS -Staat (wie Anm. 3); Raewyn Connell, Masculinity and Nazism, in: Anette Dietrich / Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis, Frankfurt a. M. 2013, S. 38-42. Zu Männlichkeitskonstruktionen speziell im Krieg s. z. B. Frank Werner, »Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser«. Soldatische Männlichkeit im deutschen Vernichtungskrieg 1941-1944, in: ebd., S. 45-63. Weiterführend zur Frage von »soldatischer« Männlichkeit, die auf Bewährung im Krieg beruhte, und dem Verhältnis von »weiblicher« Heimat und »männlicher« Front anhand eines konkreten Beispiels s. den Beitrag von Frank Werner im vorliegenden Band. 72 Die Frage nach dem Prostitutionsmilieu als Spiegel der »Volksgemeinschaft« ist angeregt durch Annette F. Timm, die in der Prostituierten im Vergleich zur »respektablen« Frau im Nationalsozialismus beides begründet sieht, »a contrast and a mirror«, vgl. dies., The Ambivalent Outsider. Prostitution, Promiscuity, and VD Control in Nazi Berlin, in: Gellately, Social Outsiders (wie Anm. 12), S. 192-211, hier: S. 200.

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Zwar bekämpften die Nationalsozialisten die Straßenprostitution und verschrieben sich der Eindämmung von Geschlechtskrankheiten.73 Dennoch ging es ihnen nicht darum, die Prostitution abzuschaffen; vielmehr sollten Frauen, die in diesem System arbeiteten, beaufsichtigt, kontrolliert und bei Bedarf gemaßregelt werden.74 Das heißt, die Prostituierte war verpflichtet, sich regelmäßig bei der jeweiligen Gesundheitsbehörde untersuchen zu lassen,75 sie musste gleichfalls mit Sanktionen wie Haft, Arbeitshausverbringung und zwangsweiser Sterilisation oder Abtreibung rechnen.76 Die zwischen 1933 und 1939 festzustellende Tendenz, Prostitution verstärkt zu reglementieren, zeigt sich auch in der nach 1933 schrittweise wiedereingeführten Kasernierung der Prostituierten in bestimmten Vierteln. Nur dort wurde das Gewerbe geduldet. Damit trugen die Städte dem erklärten Ziel der NS -Prostitutionspolitik Rechnung, die bereits angesprochene »Reinhaltung« des Straßenbildes durch das Wegsperren der Prostituierten zu erreichen.77 Diese Maßnahme verbannte die Prostituierten zwar aus der Öffentlichkeit, eingedämmt wurde die Prostitution an sich aber nicht. So lange sie unauffällig ablief, blieb sie straffrei.78 Und während die Prostituierte mit Auflagen bedacht, der Raum, 73 So hielt z. B. ein Runderlass des Reichsjustizministeriums von 1938 fest, dass für eine wirksame Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten die Ermittlung der »Ansteckungsquellen« unbedingt notwendig sei und zur »Erfüllung dieser dem Gemeinwohl dienenden Pflicht« alle Ärzte und Beratungsstellen sich besonders verpflichtet sehen müssten, vgl. Unveröffentlichter Erlass, Runderlaß des RMdJ vom 27. 1. 1938, betr. Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, S. 1, in: GLA Karlsruhe 330 Zugang 1991 /34-135, unfol. 74 Angelika Ebbinghaus, Der Staat – Prostituiertenjäger und Zuhälter. Eine Dokumentation, in: Angelika Ebbinghaus / Heidrun Kaupen-Haas / Karl-Heinz Roth (Hg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984, S. 85-92, hier: S. 85; Ulrike Eichborn, Ehestandsdarlehen. Dem Mann den Arbeitsplatz, der Frau Heim, Herd und Kinder, in: Annette Kuhn (Hg.), Frauenleben im NS -Alltag, Pfaffenweiler 1994, S. 48-64, hier: S. 62; Gisela Bock, Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus, in: Kirsten Heinsohn / Barbara Vogel / Ulrike Weckel (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M. / New York 1997, S. 245-277, hier: S. 265. 75 Freund-Widder hat für Hamburg eine wöchentliche Untersuchung nachgewiesen, vgl. dies., Frauen unter Kontrolle (wie Anm. 19), S. 126. Für Karlsruhe galt z. B. die Untersuchung einmal im Monat bei der Gesundheitsbehörde, vgl. Verwaltungs- und Rechenschafts-Bericht der Gau- und Grenzlandhauptstadt Karlsruhe 1935, 1. 4. 1935 bis 31. 3. 1936, S. 102 f., in: Stadtarchiv Karlsruhe, ohne Signatur. Entzog sich eine Prostituierte dieser Verpflichtung, musste sie mit Sanktionen rechnen, vgl. Freund-Widder, Frauen unter Kontrolle (wie Anm. 19), S. 129 f. 76 Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 188; Soden, Auf dem Weg (wie Anm. 38), S. 256. Generell zu Sanktionen bei Nichtbeachtung der gesundheitsbehördlichen Verpflichtungen vgl. Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 3, Berlin 1992, S. 173. 77 Vgl. Erlaß des preußischen Innenministers Göring (wie Anm. 29). Auch: Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 185; Freund-Widder, Frauen unter Kontrolle (wie Anm. 19), S. 111. 78 Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 185.

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in dem sie sich bewegen durfte, eng begrenzt wurde und ihre Anwesenheit in einschlägigen Vierteln zu Eingriffen in ihre Privat- und Intimsphäre berechtigte, erhielt der »Freier« einen bequemen und unkomplizierten Zugang zum weiblichen Körper. Das männliche »Recht«, diesen Körper gegen Bezahlung jederzeit in Anspruch nehmen zu können, wurde nicht hinterfragt.79 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kulminierte diese bis dahin lokal verhandelte Entwicklung in einer verschärften Reglementierung. Die polizeiliche Kontrolle der Prostitution wurde 1939 offiziell wieder eingeführt, das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten außer Kraft gesetzt. Die neuen Regelungen – und damit die Institutionalisierung der räumlichen Beschränkung der Prostitution – hielt Heydrich in einem vertraulichen Erlass vom 9. September 1939 fest. Sie lauteten: »Die Polizei hat mit sofortiger Wirkung Massnahmen zur Erfassung der Prostitution zu treffen […]. Jeder Aufenthalt von Prostituierten auf Strassen und Plätzen zum Zwecke der Anwerbung zur Unzucht ist polizeilich zu verhindern. […] Die Ausübung der Gewerbsunzucht ist in besonderen Häusern zu dulden […]. Die […] Häuser sind […] zu überwachen.«80 Doch der NS -Staat führte nicht nur zentral die zwangsweise Kasernierung von Prostituierten in deutschen Städten ein, sondern förderte gleichermaßen die Einrichtung verschiedener, vermeintlich aufgrund des Krieges erforderlicher Bordellformen. So entstanden – zur sexuellen »Versorgung« von »Fremd-« und Zwangsarbeitern, Soldaten und Offizieren der Wehrmacht sowie »privilegierten« KZ -Insassen – Bordelle überall im Reich, in den Besatzungsgebieten und in Konzentrationslagern.81 Entsprechend einem Rundschreiben Martin Bormanns vom 7. Dezember 1940 sollten für »fremdvölkische Arbeiter möglichst an allen Orten, an denen sie in grösserer Zahl eingesetzt« waren, Bordelle eingerichtet und dabei »den allgemeinen rassischen Grundsätzen Rechnung« getragen werden.82 Das heißt, man stellte west- und osteuropäischen Zwangsarbeitern in eigens eingerichteten Unterkünften ausländische Frauen zur Verfügung, die, wie Heydrich es im Januar 1941 konkretisierte, möglichst dem »Volkstum« der »Freier« entsprechen sollten.83 Für die Konzentrationslager war ein ähnliches System vorgesehen. Heinrich Himmler schrieb schon 1942 an den 79 Hierzu Christa Paul, Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus, Berlin 1994, S. 134; Regina Schulte, Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, Hamburg ²1994, S. 181. 80 Reichsminister des Innern, Unterzeichner Reinhard Heydrich, an die Landesregierungen u. a., Berlin, 9. 9. 1939, betr. Polizeiliche Behandlung der Prostitution, S. 1 f., in: ITS Digitales Archiv 2.2.0.1 /82330943-82330947. 81 Ayaß, »Asoziale« (wie Anm. 12), S. 192 f. 82 Ausschlaggebend für diesen Erlass war die »Gefährdung des deutschen Blutes« durch Beziehungen von »Fremd-« und Zwangsarbeitern mit deutschen Frauen, vgl. Rundschreiben NSDAP, Stellvertreter des Führers, Stabsleiter Martin Bormann, München, 7. 12. 1940, betr. Einrichtung von Bordellen für fremdvölkische Arbeiter, in: GLA Karlsruhe 330 Zugang 1991 /34-269, unfol. 83 Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, an das Amt des RSHA u. a.,

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Leiter des SS -Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, Oswald Pohl, dass er es zur Steigerung der Arbeitsleistung von Häftlingen für »notwendig halte […], daß in der freiesten Form den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden«. Dies zu »verneinen, hieße […], welt- und lebensfremd [zu] sein«.84 Mit der zwangsweisen Kasernierung von Prostituierten in deutschen Städten ging folglich die Errichtung von Bordellen im Reich und in den im Krieg eroberten Gebieten einher.85 Diese Entwicklungen, die Prostitution nicht nur steuerten, sondern dezidiert förderten, zeigen die Verdinglichung der Frauen. Prostituierte, ob freiwillig oder unter Zwang, sollten – ähnlich wie Frauen innerhalb der »volksgemeinschaftlichen« Ehe – dem Mann dienstbar gemacht werden. Während die Ehefrauen durch ihre biologische Verfasstheit, nämlich ihre Möglichkeit, schwanger zu werden und Kinder zu gebären, dem Staat und den männlichen Interessen dienten, ergab sich der Nutzen der als »asozial« und »gemeinschaftsfremd« stigmatisierten Frauen aus der Befriedigung der männlichen Triebbedürfnisse. Darin bestand der primäre »Dienst« jener »anderen« Frauen für den Staat, insbesondere während des Krieges. Die vonseiten des Mannes ausgeübte Kontrolle über die Frau und sein Zugriff auf ihren Körper wurden somit für bestimmte Männer sowohl innerhalb wie außerhalb der »Volksgemeinschaft« gewährleistet: Mit ihren Ehefrauen sollten sie »erbgesunde« Kinder zeugen, mit den »gemeinschaftsfremden« Frauen bei Bedarf ihre »Triebe« ausleben. Die Frauen in der »volksgemeinschaftlichen« Ehe besorgten dabei vorrangig den privaten, häuslichen Bereich, die Prostituierten verbannte der NS -Staat im Reich wie im Einsatzgebiet der Wehrmacht in ausgesuchte Bordelle, Straßen und hinter Sichtblenden.86 Und in den Arbeitslagern »versteckte« man die in den Bordellen arbeitenden Frauen in bestimmten Baracken, die sich optisch nicht von den Unterkünften der Arbeiter unterschieden, jedoch abseits lagen, was unter anderem dazu diente, die »deutsche Bevölkerung vor Berlin, 16. 1. 1941, betr. Polizeiliche Behandlung der Prostitution (Bordelle bei massiertem Einsatz fremdvölkischer Arbeiter), in: ITS Digitales Archiv 2.2.0.1 /82330951-82330953. 84 Brief Heinrich Himmler an Oswald Pohl, Berlin, 23. 3. 1942, S. 3, in: Bundesarchiv BerlinLichterfelde NS 19 /2065, Bl. 37. 85 Zur Errichtung von Bordellen in eroberten Gebieten s. Maren Röger, Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945, Frankfurt a. M. 2015, S. 29-58; Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941 bis 1945, Hamburg 2010, S. 214-239. 86 In Hamburg wurden z. B. 1933 die Sichtblenden an der Herbertstraße angebracht, vgl. Gaby Zürn, »A. ist Prostituiertentyp«. Zur Ausgrenzung und Vernichtung von Prostituierten und moralisch nicht-angepaßten Frauen im nationalsozialistischen Hamburg, in: Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS -Regimes in Hamburg e. V. (Hg.), Verachtet – verfolgt – vernichtet. Zu den ›vergessenen‹ Opfern des NS -Regimes, Hamburg 1986, S. 128-151, hier: S. 137. Heydrich erweiterte den Bereich, in dem der Erlass vom 9. 9. 1939 gültig war, am 21. 9. 1939: »Hinsichtlich des örtlichen Geltungsbereichs des Erlasses vom 9. 9. 1939 weise ich darauf hin, daß er auch in denjenigen Gebieten innerhalb der jetzigen Reichsgrenzen in Kraft treten soll, die bis zum 9. 9. 1939 Operationsgebiet des Heeres waren.« Vgl. Schnellbrief Reichskriminalpolizeiamt, Reinhard Heydrich, an die Staatliche Kriminalpolizei, Kriminalpolizei(leit)stelle, Berlin, 21. 9. 1939, betr. Polizeiliche Behandlung der Prostituierten, in: GLA Karlsruhe 330 Zugang 1993 /34-136, unfol.

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Belästigungen zu schützen«.87 Die »Sonderbauten« in den Konzentrationslagern errichtete die SS gleichfalls peripher; sie waren vor neugierigen Häftlingsblicken geschützt.88 Alle Frauen mussten somit »unsichtbar« zum Funktionieren der normativ männlich gestalteten und ausgeprägten Gesellschaft beitragen – in den ihnen jeweils zugewiesenen Bereichen.89 Jene Unsichtbarmachung der sich prostituierenden Frauen wird in Schriftgut aus Gerichtsprozessen besonders deutlich. Gerade wenn Prostitution und Zuhälterei gleichzeitig und in Korrelation zueinander verhandelt wurden, trat der Zuhälter, der Mann, immer als die aktive, regulierende und bestimmende Person auf, die Prostituierte dagegen als der passive, beeinflussbare, oftmals schwache, anzuleitende Gegenpart. Über den Zuhälter Otto B. aus Karlsruhe heißt es zum Beispiel: »Für das Gericht bestand daher kein Zweifel, dass er die Z. […] bewusst an sich gelockt und durch ein geschlechtsvertrauliches Verhältnis an sich gefesselt hat, um sie dann auszubeuten, um sich hierdurch eine ständige Nebeneinnahme verschaffen zu können.«90 Die beteiligte Frau schien sich gegen den Mann nicht wehren zu können, sie handelte naiv und gefühlsbetont, war verblendet von ihren Gefühlen ihm gegenüber und beurteilte die Situation nicht realistisch. So soll die Prostituierte Inge S. über ihren Zuhälter Karl W. gesagt haben: »Ich lebe und sterbe für W., was ich dem schon alles getan habe.«91 Gleichzeitig urteilten die Gerichtsinstanzen über die jeweilige Prostituierte, dass sie aufgrund eines angenommenen natürlichen »Hangs« zur Liederlichkeit und geringer »Geistesfähigkeit« auf den Strich ging und stellten damit einen Kausalzusammenhang zwischen mentaler Konstitution und sexueller Promiskuität her. Beispielsweise sei es hinsichtlich der Prostituierten Wilhelmine W. »infolge ihrer Triebhaftigkeit […] unwahrscheinlich«, dass »sie ihr Dirnenleben aufgeben und sich von 87 Bericht Kriminalpolizeistelle Karlsruhe über die Besprechung im Reichskriminalpolizeiamt vom 2. 10. 1941, Karlsruhe, 11. 10. 1941, betr. Errichtung von Bordellen für fremdvölkische Arbeiter, in: GLA Karlsruhe 330 Zugang 1991 /34-269, unfol., und Schnellbrief Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, an alle Kriminalpolizei(leit)stellen, Berlin, 10. 1. 1941, betr. Polizeiliche Behandlung der Prostitution (Bordelle bei massiertem Einsatz fremdvölkischer Arbeiter), in: GLA Karlsruhe 330 Zugang 1991 /34-269, unfol. 88 Hierzu Sommer, Das KZ -Bordell (wie Anm. 17), S. 163 f. Noch in der Nachkriegszeit sollten die Bordellbaracken »unsichtbar« bleiben, so war es z. B. bei Führungen über das Gelände des KZ Buchenwald nicht erlaubt, das Lagerbordell zu erwähnen, vgl. Alakus, Sex-Zwangsarbeit (wie Anm. 11), S. 138, 179 f. 89 Zur Unsichtbarkeit von Prostituierten und anderen Frauen: Schulte, Sperrbezirke (wie Anm. 79), S. 181; Hauer, Der NS -Staat (wie Anm. 3), S. 30-32; Wolfgang König, Das Kondom. Zur Geschichte der Sexualität vom Kaiserreich bis in die Gegenwart, Stuttgart 2016, S. 123 f. 90 Urteil Landgericht Karlsruhe gegen Otto B., Karlsruhe, 8. 6. 1938, in: GLA Karlsruhe 3091636, Bl. 69-75, hier: Bl. 74. 91 Urteil Schöffengericht Mannheim gegen Karl W., Mannheim, 17. 5. 1933, S. 3, in: GLA Karlsruhe 521-7741, unfol.

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dem einmal eingeschlagenen Lebenswandel abwenden wird«.92 Hier, so appellierten die Gerichte, müsste der Mann wiederum restriktiv eingreifen. Tat er dies nicht, stellte er einen »schlechten« Vertreter des männlichen Geschlechts dar und übernahm die Rolle des Zuhälters.93 Ferner beschreiben die Akten Zuhälter als dominant und sexuell aktiv; sie holten sich Geschlechtsverkehr wo, wann und von wem sie wollten.94 In der Vorstellung der Justizbeamten machten diese Männer mit dem Körper der Frauen Geschäfte und verschafften sich durch Gewalt Respekt bei den Frauen. Folglich schätzte das Gericht Karl W. als »gewalttätige[n] Zuhälter« ein, der jede Frau »darauf ansieht, ob er mit ihr Geschäfte machen kann«. Die Prostituierte Inge S., hieß es, lebte in ständiger Angst vor ihm.95 Verlässt man die Ebene der Wahrnehmung des Milieus durch übergeordnete Instanzen und versucht, aus den vorhandenen Quellen Paarbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im Milieu zu beschreiben, so zeigt sich eine ambivalente Realität.96 In den überwiegenden Fällen standen die Frau, die in der Prostitution arbeitete, und der Mann, der sich daran zuhälterisch beteiligte, in einer Art Liebesverhältnis zueinander, nicht selten waren sie Ehepartner beziehungsweise führten die Beziehung in der Annahme, bald zu heiraten. Vereinzelt kamen gemeinsame Kinder hinzu. Oftmals waren beide schon vor der Beziehung im Milieu verankert, manches Mal wurde die Frau durch den Mann oder eine gemeinsame Notlage in die Prostitution gedrängt. In vielen Fällen lebten sie in getrennten Wohnungen oder gemeinsam im »Absteigequartier«, also in dem Zimmer, das zur Ausübung der Prostitution von der Frau bewohnt wurde. Sie war in der Beziehung die Haupterwerbstätige. Er erwirtschaftete eventuell auch einen kleinen Verdienst aus Gelegenheitsarbeiten oder Hausierhandel. Oftmals versorgte die sich prostituierende Frau ihren Partner zusätzlich mit Kleidung, sie verköstigte ihn, kam für Tabak und Alkohol auf und bezahlte seine oder gemeinsame Zechen, Mietsummen und Schulden. Seine Arbeitsleistung bestand in der Zuführung von Männern. Häufig begleitete oder kontrollierte er die Frau auf ihren »Strichgängen« und leistete gegebenenfalls (gewaltsame) Hilfe bei »Freiern«, die sich beispielsweise weigerten zu zahlen. Kennzeichen der Beziehungen insgesamt waren in den quellenbasiert untersuchten Verhältnissen immer körperliche Gewalt vonseiten des Mannes, gegenseitiger Druck – so in den Fällen, in denen sie drohte, 92 Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde bei dem Sondergericht in Mannheim an den Vorsitzenden, Mannheim, 27. 4. 1943, S. 25, in: GLA Karlsruhe 507-12276, unfol. 93 Hierzu das bereits erwähnte Beispiel von Rudolf B. 94 Ein Zuhälter sagte aus: »Wenn ich das Bedürfnis hatte mit ihr den Verkehr auszuüben, dann […] gab [ich ihr] durch Zeichen zu verstehen, dass sie zu mir kommen soll. Für den Verkehr habe ich […] nichts bezahlt«, vgl. Vernehmung des Beschuldigten Alexander B., Karlsruhe, 29. 11. 1938, in: GLA Karlsruhe 309-1794, Bl. 5-11, hier: Bl. 9. 95 Urteil Schöffengericht Mannheim gegen Karl W., Mannheim, 17. 5. 1933, S. 3, in: GLA Karlsruhe 521-7741, unfol. 96 Die Erläuterungen basieren auf einer Auswertung zahlreicher Akten der Staatsanwaltschaften und Gerichte in Mannheim, Karlsruhe und Stuttgart im GLA Karlsruhe (Bestand 309) und Staatsarchiv Ludwigsburg (Bestand E 323 II), in denen Paare innerhalb des Prostitutionsmilieus auszumachen waren.

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ihn wegen Zuhälterei »hochgehen« zu lassen –, Streit, Eifersucht, Zwang oder wechselseitige Abhängigkeit, etwa, wenn eine gemeinsame Straftat vorlag. Zum einen pflegte der Mann vielfach zeitgleich mehrere Beziehungen zu unterschiedlichen Prostituierten, zum anderen gewährleistete in manchen Fällen die Frau mehreren Männern gleichzeitig oder aufeinanderfolgend finanzielle Unterstützung aus der Prostitution. Die Beziehung von Karl D. und Rosa C. kann beispielhaft herangezogen werden. Die beiden lernten sich 1931 /32 in Karlsruhe kennen. Rosa C. ging seit 1930 der Prostitution nach. Das Paar verlobte sich im April 1932 und wohnte zusammen in der Entengasse 16 in Karlsruhe, allerdings vermutlich in verschiedenen Wohneinheiten. Drei Jahre später geriet Karl D., der wegen Diebstahl, Bettelei und unerlaubtem Glücksspiel bereits vorbestraft war, erneut in das Visier der Justiz, als er im März 1935 wegen Zuhälterei an Rosa C. festgenommen und einen Monat später zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt wurde. In der Verhandlung vor dem Landgericht Karlsruhe gab Rosa C. an, dass ihr Verlobter seit Beginn ihrer Beziehung jeden Tag zum Essen gekommen sei, sie für ihn gekocht, aus ihrem »Unzuchtsverdienst« die Miete bezahlt und Kleider gekauft habe. Wie aus den Quellen zu lesen ist, hatten die beiden ursprünglich geplant, im Sommer 1934 zu heiraten, wozu es jedoch nicht mehr kam, da Karl D. ein Verhältnis mit einer anderen Frau begann, die vermutlich ebenfalls in der Prostitution arbeitete. Rechnet man die von Rosa C. während der Gerichtsverhandlung angegeben Beträge zusammen, dann stellte sie ihrem Verlobten und Zuhälter durchschnittlich täglich drei bis vier Reichsmark zur Verfügung. Das Landgericht schätzte die Gesamtsumme dieser Zuwendungen auf circa 4.000 Reichsmark. Wie viele ihrer Kolleginnen berichtete auch Rosa C. von regelmäßigen Misshandlungen durch Karl D. und gab an, dass sie ihm deswegen mehrfach gedroht habe, ihn wegen Zuhälterei anzuzeigen, worauf er ihr jedoch erwidert habe, dass er ihr »den Hals abschneiden werde«. Eingeschüchtert hiervon, traute sich Rosa C. nicht mehr, gegen ihn vorzugehen. Für das Gericht bestand letztlich kein Zweifel daran, dass Karl D. intensive Beziehungen zu »Dirnenkreisen« eingegangen war und Rosa C. zur Ausübung der Prostitution angehalten und ihr dabei Schutz gewährt hatte.97 Die Beziehungen von Prostituierten und Zuhältern machen deutlich, dass die Frau teilweise das hierarchische Geschlechterarrangement, wie wir es auf der Ebene der äußeren Wahrnehmung des Milieus feststellen können, infrage stellte: Die in der Prostitution tätige Frau trat im Falle partnerschaftlicher Verbindungen zwar als die Hauptverdienerin des Lebensunterhalts auf, was sie jedoch innerhalb einer Beziehung nicht handlungsmächtig machte, vielmehr blieb ihr meist einzig das Mittel, mit einer Anzeige zu drohen, um sich ihrer Partner und Zuhälter zu erwehren. Obwohl Prostituierte oftmals allein beziehungsweise getrennt von ihren Partnern lebten, gelang es den jeweiligen Zuhältern letztlich, die Beziehung zu dominieren, indem sie die Rolle des Beschützers und Förderers der Prostituierten übernahmen und ihren männlichen Überlegenheitsanspruch notfalls durch Druck und Gewalt durchzusetzen suchten. Damit verwiesen sie die Frauen auf eine subordinierte Position und schrieben die Geschlechterdifferenz fest. 97 Zum Fall Karl D. und Rosa C.: GLA Karlsruhe 309-1882.

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Die Ausführungen haben gezeigt, dass sowohl in der Außenwahrnehmung des Prostitutionsmilieus durch die zeitgenössische Rechtsprechung als auch in Paarbeziehungen zwischen Prostituierten und Zuhältern die Frauen überwiegend marginalisiert, unsichtbar, gar von Männern zu überwachende, zu regulierende und benutzbare Objekte blieben.98 Hieran anknüpfend ist zu fragen: Inwiefern setzte die Unsichtbarmachung der Frauen, die in der Prostitution arbeiteten, ihre Marginalisierung durch Männer voraus? Beziehungsweise: Bedingte die Unsichtbarkeit der Frauen ihre Marginalisierung? Und inwieweit lassen sich hinsichtlich der »verdinglichten« Prostituierten weiterführend Parallelen und Gegensätze zur »volksgemeinschaftlichen« Frau ausmachen?

5. Fazit Die Frage, ob sich Prostituierte und Zuhälter im »Dritten Reich« hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung jenseits der »Volksgemeinschaft« befanden und ob sie in Bezug auf ihre Wahrnehmung und Darstellung in der NS -Ideologie in Opposition zum zeitgenössisch gängigen Geschlechterbild standen, lässt sich in zwei Richtungen beantworten. Zum einen wurden sie als »Gemeinschaftsfremde«, als »Asoziale« von der »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen und als »Gegner« und »Feinde« der Gesellschaft stilisiert. Auch waren sie faktisch allen Verfolgungsmaßnahmen des NS -Staates ausgesetzt, hierin besteht ein Spezifikum im Umgang des »Dritten Reiches« mit Milieuangehörigen. Die Begründung für Stigmatisierung, Überwachung, Diskriminierung, Verwahrung, Gewalt und nicht selten auch Ermordung zogen staatliche und behördliche Instanzen, ebenso wie Vertreter der kriminologischen, psychiatrischen und wohlfahrtspflegerischen Disziplinen, vielfach aus der Konstruktion eines vermeintlich klaren und wirkmächtigen Gegensatzes zwischen Milieuangehörigen und »Volksgenossen«. Die Frau in der Prostitution galt innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie als »Nicht-Frau«, als »Asoziale« und »Verbreiterin« von Geschlechtskrankheiten. Der Mann, der an der Prostitution der Frau zuhälterisch teilnahm, wurde als »gewohnheitsmäßiger« und »krimineller« »Asozialer« dargestellt, der seine »Pflichten« als Mann nicht kannte, versäumte oder schlichtweg ignorierte. Der Zuhälter und der hegemoniale Mann bildeten folglich ein ähnlich dialektisches Gegensatzpaar wie die Prostituierte und die ideale Frau. Beide, Prostituierte und Zuhälter, schädigten durch ihr deviantes und delinquentes Verhalten die »Volksgemeinschaft« und konterkarierten das idealtypische Geschlechterbild des Nationalsozialismus. Sie sollten demnach im Sinne der NS -Rassenpolitik »ausgemerzt« werden. Zum anderen galten Prostituierte und Zuhälter zwar aus ideologischer Sicht nicht als Mitglieder der »Volksgemeinschaft« und widersprachen in ihren Handlungsweisen den nationalsozialistischen Vorstellungen von angemessener Weiblichkeit 98 Zum Thema des Weiblichen als das vom Männlichen zu überwachende, zu begrenzende und nutzbare Element s. z. B. Helga Amesberger / Katrin Auer / Brigitte Halbmayr, Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS -Konzentrationslagern, Wien 4. Aufl. 2010, S. 28 f.; Elfriede Jelinek, Das weibliche Nicht-Opfer, in: ebd., S. 10-16.

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und Männlichkeit. Dennoch waren sie der NS -Gesellschaft gar nicht so »fremd«, im Milieu spiegelten sich vielmehr, wie dieser Beitrag gezeigt hat, »volksgemeinschaftliche« Prinzipien. In der sozialen Wirklichkeit standen Frauen in der Prostitution jeglichem Zugriff durch Männer zur Verfügung. Prostitution sollte als System nicht bekämpft werden, sie durfte lediglich nicht sichtbar sein und wurde letztlich im Zweiten Weltkrieg für die Zwecke der Machthabenden instrumentalisiert und gefördert. Die Frauen in der Prostitution wurden dabei von Männern marginalisiert und »verdinglicht«, von Männern der »Volksgemeinschaft« ebenso wie von Zuhältern als Teil des Milieus, in dem sie sich bewegten. Das Prostitutionsmilieu stellte eigentlich ein Gegenbild zur NS -»Volksgemeinschaft« dar, es war die »Nicht-Volksgemeinschaft«. Doch auch jene »Nicht-Volksgemeinschaft« lässt sich mittels eines heteronormativ ausgeprägten und angenommenen binären Verhältnisses der Geschlechter unter männlicher Vormachtstellung charakterisieren. Sie beinhaltete letztlich die gleichen dispositiven Elemente und war damit ebenso Ausdruck einer patriarchal faschistischen Gesellschaft wie die »Volksgemeinschaft«.

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»Keimzelle des Rassenstaates« Die Familie als Relais der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik in Osteuropa »Es ist daher die höchste Aufgabe, den beiden Lebensgefährten und Arbeitsgenossen auf der Welt die Bildung der Familie zu ermöglichen. Ihre endgültige Zerstörung würde das Ende jedes höheren Menschentums bedeuten. So groß die Tätigkeitsbereiche der Frau gezogen werden können, so muss doch das letzte Ziel einer wahrhaft organischen und logischen Entwicklung immer wieder in der Bildung der Familie liegen. Sie ist die kleinste, aber wertvollste Einheit im Auf bau des ganzen Staatsgefüges.«1 Adolf Hitler war keineswegs der erste Politiker, der in der Familie die zentrale Einheit des Staates sah. Doch im Nationalsozialismus erlebte der Begriff »Familie« nicht nur eine Aufladung mit einer imminent biologistischen Bedeutung – als »Blutsgemeinschaft« im NS -Jargon –, sondern auch eine Stilisierung als Fundament einer noch zu schaffenden »Volksgemeinschaft« – durch In- und Exklusion:2 Einerseits wurde die »gutrassige« Familie durch diverse Unterstützungsangebote (von finanziellen Anreizen wie »Ehestandsdarlehen« und »Kindergeld« über symbolische Anerkennungen wie das »Mutterkreuz« bis zu einer generell geburtenfreundlichen Rhetorik) hofiert.3 Andererseits wurden »unerwünschte« Familien, jüdische aber auch nicht-deutsche, solche mit »mangelnder rassischer Eignung« oder auch als »sozial deviant« eingestufte Familien gezielt aus der NS -Volksgemeinschaft ausgeschlossen und zu Opfern der NS -Rassen- und Vernichtungspolitik gemacht.4 Schließlich muss die nur in Ansätzen 1 Das Programm Adolf Hitlers (5. April 1932), aus: Völkischer Beobachter Nr. 96, 5. April 1932, in: Johannes Hohlfeld (Hg.), Deutsche Reichsgeschichte in Dokumenten 1894-1934, Bd. 4: Die nationalsozialistische Revolution, 2. Aufl. Berlin 1934, S. 459-469, hier: S. 467. 2 Die hier vorgestellten Forschungen entstammen dem Kontext eines größeren Forschungsprojektes zur Familie im Nationalsozialismus, welches ich an der Universität Münster leite (»Families, Gender Norms, and Reproductive Policies in National Socialism and World War II«). Hierzu vgl. auch das DFG -Projekt »Zwischen Arbeitseinsatz und Rassenpolitik: Die Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen und die Praxis der Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus«, bearbeitet von Marcel Brüntrup, http://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/ NwG-ZG/ (letzter Zugriff: 1. 6. 2018). Ich danke den Herausgeberinnen und Mitautorinnen des Sonderheftes zudem sehr herzlich für ihre Hinweise zur Überarbeitung dieses Aufsatzes. 3 Zur Familie im NS vgl. derzeit v. a. die Arbeiten anglo-amerikanischer Forscher: Lisa Pine, Nazi Family Policy, 1933-1945, Oxford 1997; Michelle Mouton, From Nurturing the Nation to Purifying the Volk: Weimar and Nazi Family Policy, 1918-1945, Boston 2007; Hester Vaizey, Surviving Hitler’s War: Family Life in Germany, 1939-48, Basingstoke 2010; Paul Ginsborg, Family Politics: Domestic Life, Devastation and Survival 1900 to 1950, New Haven 2014. 4 Allgemein zur NS -Euthanasie, aber ohne spezifischen Blick auf die Funktion der Familie: Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung

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realisierte »Volksgemeinschaft« eben auch als »gendered community« gedacht werden, die den Geschlechtern strikt biologistisch getrennte Rollen zuwies: Frauen waren zuständig für Reproduktion, Kinderaufzucht und Haushalt, Männer für Politik, Lohnarbeit und Kriegführung.5 Die jüngere Forschung hat demgegenüber mit Recht darauf hingewiesen, dass eine solche schematische Geschlechterordnung wohl kaum den Lebensverhältnissen vieler nichtjüdischer Deutscher während des Zweiten Weltkrieges entsprach: Frauen waren wichtige Arbeitskräfte in der Kriegswirtschaft, leisteten Dienst in den diversen Verbänden der Partei und betätigten sich als Rotkreuzschwestern, Wehrmacht- und SS -Helferinnen.6 Doch wurde damit das Konzept der patriarchal strukturierten Kernfamilie konterkariert oder gar obsolet? Obgleich das Standardbild des Nazitäters dasjenige des ledigen jungen Mannes ist (die Einsicht in die aktive Täterschaft von Frauen ist noch relativ neu7), waren im Rahmen der Besatzungsverwaltung und auch der SS zahlreiche Familien vor Ort präsent.8 Die Idee einer längerfristigen »Germanisierung« insbesondere Osteuropas

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zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, 1890-1945, Göttingen 1987; Götz Aly, Die Belasteten. »Euthanasie« 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013; Maike Rotzoll / Gerrit Hohendorf / Petra Fuchs / Christoph Mundt / Wolfgang U. Eckart (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010. Das Argument von der »Volksgemeinschaft« als »gendered community« zuerst bei Maubach, allerdings beschränkt auf die Zeit bis 1933: Franka Maubach, »›Volksgemeinschaft‹ als Geschlechtergemeinschaft. Zur Genese einer nationalsozialistischen Beziehungsform«, in: Gudrun Brockhaus (Hg.), Zur Attraktion der NS -Bewegung, Essen 2014, S. 251-268; Elizabeth Harvey, Housework, Domestic Privacy and the »German home«. Paradoxes of Private Life during the Second World War, in: Rüdiger Hachtmann / Sven Reichardt (Hg.), Detlev Peukert und die NS -Forschung, Göttingen 2015, S. 115-131. Vgl. Ruth Leiserowitz / Maren Röger (Hg.), Women and Men at War: A Gender Perspective on World War II and its Aftermath in Central and Eastern Europe, Osnabrück 2012; Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrung und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009; Nicole Kramer, Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011; Ludger Tewes, Rotkreuzschwestern. Ihr Einsatz im mobilen Sanitätsdienst der Wehrmacht 1939-1945, Paderborn 2016. Die NS -Täter-Forschung der 1990er Jahre hat das Bild der »Ordinary Men« einerseits und der harten, rationalen »Generation des Unbedingten« andererseits entworfen. Für Frauen als Täterinnen war hier allenfalls am Rande Platz. Christopher Browning, Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1999, S. 552-558; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 846-871; Gerhard Paul (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche, Göttingen 2002. Vgl. neben der noch immer grundlegenden Studie von Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, Opladen 1986, Gudrun Schwarz, Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der »SS -Sippengemeinschaft«, Hamburg 1997, S. 112-215; Sybille Steinbacher (Hg.), Volksgenossinnen. Frauen in der NS -Volksgemeinschaft, Göttingen 2007; Marita Krauss (Hg.), Sie waren dabei. Mitläuferinnen, Nutznießerinnen, Täterinnen im Nationalsozialismus, Göttingen 2008; Elissa Mailänder, Gewalt im

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beruhte ferner auf der massiven Beteiligung deutscher beziehungsweise volksdeutscher Siedlerfamilien.9 Zugleich brachten Besatzungsbürokraten, Polizisten und SS Führer ihre Familien mit oder bildeten neue Familien mit ihren Sekretärinnen oder weiblichen Hilfskräften.10 Während Elizabeth Harvey argumentiert hat, dass innerhalb der NS -Besatzungspolitik traditionelle Geschlechterrollen sowohl transzendiert als auch neu bestätigt wurden, hat Wendy Lower betont, dass die Anwesenheit von Familienmitgliedern in den besetzten Gebieten deutlich zur Eskalation der Gewalt beitrug.11 Ego-Dokumente wie Briefe und Tagebücher hingegen suggerieren, dass Familienwerte und Geschlechternormen tatsächlich für viele Menschen Stabilität boten inmitten des Krieges und der vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen.12 Auch auf der Ebene der NS -Ideologie zeigt sich, dass der neue Rassenstaat auf der Voraussetzung beruhte, »gutrassige« Siedlerfamilien (deutschen, volksdeutschen oder »germanischen« Ursprungs) würden sich als »Bollwerk« gegen das Slawentum einsetzen lassen. Wie genau und wie lange die Familie als zentrales Element der Umsiedlungs- und Germanisierungspolitik im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde und was dies wiederum für die Geschlechterrollen bedeutete, war bislang noch nicht Gegenstand einer historischen Analyse.13

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Dienstalltag. SS -Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek, Hamburg 2009, S. 123-157, 240-251, 326-331. Zur Geschichte der Volksdeutschen im Zweiten Weltkrieg vgl. Jerzy Kochanowski (Hg.), Die »Volksdeutschen« in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, Osnabrück 2006; Andreas Strippel, NS -Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. Rassenpolitische Selektion der Einwandererzentralstelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, 1939-1945, Paderborn 2011; Maria Fiebrandt, Auslese für die Siedlergesellschaft. Die Einbeziehung Volksdeutscher in die NS -Erbgesundheitspolitik im Kontext der Umsiedlungen, 1939-1945, Göttingen 2014. Hierzu Wendy Lower, Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust, München 2014 (englisch zuerst 2013), z. B. S. 176-177, 226-227; Schwarz, Frau (wie Anm. 8), S. 91-97, 187-215; vgl. auch Ilse Schmidt, Die Mitläuferin. Erinnerungen einer Wehrmachtsangehörigen, Berlin 1999. Lower, Helferinnen (wie Anm. 10), S. 173-187, 212-215; Elizabeth Harvey, »Der Osten braucht Dich!« Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik, Hamburg 2009 (englisch zuerst 2003), z. B. S. 208-215, 417-422. Als Einstieg: Vaizey, Purifying the Volk (wie Anm. 3); Julia Paulus / Marion Röwerkamp (Hg.), Eine Soldatenheimschwester an der Ostfront. Briefwechsel von Annette Schücking mit ihrer Familie (1941-1943), Paderborn 2015; Harald Bösche (Hg.), »Meine liebe Elli …!« Fotos, Briefe und Berichte aus der Gebietslandwirtschaft Iwankow (Ukraine) 1942 und 1943, Münster 2010; Sven Keller (Hg.), Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939-1946, Berlin 2015. Gerade dieser letzte Text ist im Hinblick auf die Verhandlung von Familie und »Volksgemeinschaft« besonders interessant, zeigt sich doch die »fortdauernde Bedeutung und Bindungskraft der Familie parallel zum Hinaus- und Hineinwachsen in die ›Volksgemeinschaft‹« anhand der einzelnen Tagebucheinträge während des Krieges eindrucksvoll. Keller, Kriegstagebuch, S. 24. Dieser Fragestellung widmet sich u. a. mein Forschungsprojekt zur Geschichte der Familie im Nationalsozialismus an der Universität Münster, vgl. Anm. 2. In der Forschung dazu bisher

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Hier setzt dieser Artikel an und diskutiert die Familie als »Relais«, also zentrale Schaltstelle der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik, analog zur Begriffsverwendung wie sie Jürgen Martschukat angelehnt an Bruno Latour mit Blick auf die Kernfamilie innerhalb der US -Geschichte vorgeschlagen hat. Damit ist gemeint, dass Familie als zentrale Ordnungskategorie des Sozialen wirkt, über Familie also reguliert wird, »wer auf welche Weise an Gesellschaft partizipiert: Wer welchen Platz einzunehmen vermag, welche Rechte für sich reklamieren kann, auf welche Ressourcen zugreifen darf und welche Aufgaben zu erfüllen hat«.14 Der Familie kommt in der Moderne eine ungeheure Bedeutung zu als soziale Ordnungskategorie und kulturelles Dispositiv nach Foucault – das haben für die USA nicht nur Martschukats Untersuchungen zu Väterkonzepten erwiesen, sondern auch meine eigenen Studien zur Bedeutung von Familienwerten.15 Doch liegt in der Kategorie Familie auch ein bislang ungenutztes Potenzial zur Erklärung der Funktionsweise der primär exkludierenden (aber auch, im Falle »rassisch erwünschter Familien«, partiell inkludierenden) nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik: Reichsdeutsche und volksdeutsche Familien wurden für den Einsatz als »Ostsiedler« ausgewählt, nicht-deutsche Familien dagegen vertrieb die SS als nicht eindeutschungsfähig respektive identifizierte eine kleine Minderheit als »wiedereindeutschungsfähig«. Der Beitrag zeigt also, wie diese Ex- und Inklusionspolitiken über die Institution Familie organisiert wurden. Damit hebt er sich ab vom derzeit sichtbaren »family turn« der Holocaustforschung (Atina Grossmann), der Familien im Wesentlichen als Erinnerungsgemeinschaften und Ort von Resilienz im Angesicht der Vernichtungspolitik versteht, weniger aber als Scharnierstelle und zugleich Ziel genau dieser Politik.16 Folgende Fragestellungen stehen im Fokus des Artikels: Wie verhielten sich offizielle NS -Familienpropaganda und die konkrete Umsiedlungspraxis zueinander? Wie genau funktionierte der Zugriff auf die Um- und Anzusiedelnden über die Familie? Erhöhten sich möglicherweise die Handlungsspielräume von Volksdeutschen und nur Elizabeth Harvey, allerdings mit Fokus auf die Genderrollen und Gendervorstellungen deutscher Dorfhelferinnen in der Germanisierungspolitik im besetzten Polen. Harvey, Osten (wie Anm. 11), S. 198-262. 14 Jürgen Martschukat, Die Ordnung des Sozialen. Väter und Familien in der amerikanischen Geschichte seit 1770, Frankfurt a. M. 2013, S. 10; Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 9-38. 15 Isabel Heinemann (Hg.), Inventing the Modern American Family: Family Values and Social Change in 20th Century United States, Frankfurt a. M. 2012, S. 7-28; dies., Wert der Familie. Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, S. 1-39, 424-442. 16 So stand die Familie im letzten Jahr im Fokus gleich dreier großer Konferenzen: »The Jewish Family in the Soviet Union: Under German Occupation and in the Soviet Rear« (Yad Vashem, 20. 11. 2017), »The Holocaust and Its Aftermath from the Family Perspective« (Prag, 15.-17. 3. 2017) und »Tracing the Legacies of the Roma Genocide: Families as Transmitters of Experience and Memory« (Prag, 20.-21. 9. 2017). Vgl. auch Atina Grosmann, Remapping Survival: Jewish Refugees and Lost Memories of Displacement, Trauma and Rescue in Soviet Central Asia, Iran, and India, in: Jahrbuch des Simon Dubnow Instituts 15 (2016), S. 71-97.

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»Wiedereindeutschungsfähigen« durch den Grundsatz des Erhalts der Familieneinheit? Oder wurde die »familienweise Erfassung« vielmehr zum effektiven Repressionsinstrument der »Unerwünschten«? Wo lagen die »Grenzen der Familie«, das heißt wann wurde die Familieneinheit in der Umsiedlungspolitik nicht mehr respektiert, Kinder aus ihren Familien gerissen, Ehen getrennt? Um diese Fragen zu beantworten, wählt der Artikel einen multi-perspektivischen Ansatz: Er untersucht erstens das von der NS -Propaganda und -Rhetorik entworfene Bild der »gutrassigen, kinderreichen Siedlerfamilie« und fragt, welche Ein- und Ausschlüsse hierbei vorkamen, welche Geschlechterkonzeptionen und Familienvorstellungen mitschwangen. Als Quellenmaterial dienen die Reden und Schriften Heinrich Himmlers, aber auch Zeitschriften wie die SS -Leithefte, die an die Siedler verschickt wurden, sowie die Publikation Neues Bauerntum des Reichsnährstandes und die Parteizeitschrift Volk und Rasse.17 Zweitens werden die Berichte der Umsiedlungsorganisationen aus der SS - und Parteibürokratie auf die Bedeutung der Familie als Schlüsseleinheit der Rassen- und Umsiedlungspolitik analysiert. Hierzu stehen vor allem Sachakten zur Verfügung, die sich mit Erfassung, Rassenüberprüfungen, Um- und Ansiedlung volksdeutscher sowie reichsdeutscher Siedler und sogenannter Wiedereindeutschungsfähiger befassten.18 Die so gewonnenen Erkenntnisse zur Relevanz der Familie als Struktureinheit und Propagandakonstrukt für die Gestaltung der Umsiedlungspolitik werden drittens mit konkreten Fallbeispielen konfrontiert, wobei sich insbesondere die Frage nach der Verhandlung der »Grenzen von Familie« stellt.19

1. Die deutsche (Siedler-)Familie in der NS -Propaganda Während Hitler bereits in Mein Kampf die Bedeutung der Familie als Basis des nationalsozialistischen Staates hervorgehoben hatte, waren für die Ausformulierung des Familienverständnisses der Nationalsozialisten andere zuständig. Heinrich Himmler 17 Hierzu wurden folgende Quellenbestände durchgearbeitet: Reden und Schriften des RFSS, dazu auch Helmut Heiber (Hg.), Reichsführer! Briefe an und von Himmler, Stuttgart 1968. Bradley Smith / Agnes F. Peterson (Hg.), Heinrich Himmler, Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt a. M. 1974. Ebenfalls ausgewertet wurden die Zeitschriften Volk und Rasse (Bd. 12 [1937] bis Bd. 18 [1943]), Neues Bauerntum (Bd. 24 [1932] bis Bd. 35 /36 [1943 /44]) und SS -Leithefte (Bd. 1 [1935] bis Bd. 10 [1944]). 18 Hierzu wurden folgende Aktenbestände im Bundesarchiv Berlin (BAB) ausgewertet: NS 2: Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA), NS 44: Reichsfrauenführung, R 49: Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF), R 69: Einwandererzentralstelle der Sicherheitspolizei und des SD (EWZ), R 59: Volksdeutsche Mittelstelle (VoMi), R 75: Umwanderzentralstelle der Sicherheitspolizei und des SD (UWZ). 19 Dieser Punkt stellt quellentechnisch die größte Herausforderung dar. An dieser Stelle verwende ich Berichte über die Auflösung einzelner Familien, aber auch Beispiele von Resilienz betroffener Familien aus den Sachakten von RKF und UWZ . Lohnenswert wäre auch die systematische Auswertung von Ego-Dokumenten, welche an dieser Stelle aus Platzgründen nicht geleistet werden kann, aber einen zentralen Aspekt des hier umrissenen Forschungsprojektes darstellt.

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als Reichsführer SS (RFSS) konzipierte zunächst die SS als soldatischen Orden und »blutsmäßige Auslese«, aber auch als »Sippengemeinschaft« auserwählter SS -Familien.20 Während des Krieges beschwor er die Vision einer ländlichen Siedlergemeinschaft deutscher und germanischer Familien an der Ostgrenze des Reiches – zur Herrschaftskonsolidierung und als Legitimation für Holocaust und Genozid. Dies verdeutlicht die folgende Ansprache vor SS - und Wehrmachtsangehörigen von Juli 1944 – also buchstäblich im Angesicht der absehbaren Kriegsniederlage, deren thematische Ausrichtung stellvertretend für viele Kriegsreden aus den Jahren 1942 bis 1944 des RFSS steht: »Der Sinn des Krieges besteht viertens in einem soliden Hinausschieben der deutschen Volkstumsgrenze um mindestens 500 km nach dem Osten, von der Grenze des Jahres 1939 aus gesehen. Es gilt die Besiedlung dieses Raumes mit deutschen Söhnen und deutschen Familien, mit germanischen Söhnen und germanischen Familien, so dass ein Pflanzgarten germanischen Blutes wird, damit wir weiter ein Bauernvolk bleiben, was wir fast aufgehört haben zu sein, da der Anteil des Bäuerlichen in unserem Volke immer weniger geworden ist.«21 Obgleich das Zitat bestenfalls als Wunschdenken im Angesicht der unausweichlichen Kriegsniederlage zu betrachten ist, finden sich die enthaltenen Charakteristika der idealen NS -Familie auch in anderen propagandistischen Schriften der Zeit: die Familie als ländliche, kinderreiche Siedlerfamilie und die Familie als »Blutsgemeinschaft«. Die erste Institution, die noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein rassenanthropologisches Auswahlprozedere verpflichtend machte, welches überdies auch die Ehepartner einbezog und die Familie als »Blutsgemeinschaft« definierte, war Heinrich Himmlers SS.22 Bereits im Heiratsbefehl der SS vom Jahresende 1931 20 SS -Befehl – A – Nr. 65 vom 31. 12. 1931. Gedruckt u. a. in Bruno Kurt Schultz, 10 Jahre Verlobungs- und Heiratsbefehl in der Schutzstaffel, in: Volk und Rasse 17 (1942), H. 1, S. 1. Vgl. auch die Auszüge aus Vorkriegsreden Himmlers: Rede vor der Hitlerjugend, 22. 5. 1935; Rede vor den SS -Gruppenführern, 8. 11. 1937, abgedruckt bei Smith / Peterson, Himmler (wie Anm. 17), S. 61, 63, 82-83. Der nach Kriegsbeginn erlassene sogenannte Fruchtbarkeitsbefehl des RFSS verpflichtete die SS -Männer dazu, möglichst viele Nachkommen zu zeugen. Der RFSS und Chef der deutschen Polizei, SS -Befehl für die gesamte SS und Polizei vom 28. 10. 1939, BAB NS 2 /276. 21 Heinrich Himmler, Geheimrede vor dem Offizierskorps einer Grenadierdivision auf dem Truppenübungsplatz Bitsch am 26. 7. 1944, in: Smith / Peterson, Himmler (wie Anm. 17), S. 215-237, hier: S. 236. Ganz ähnlich die Formulierungen in der berüchtigten »Posener Rede« des RFSS vor den SS -Gruppenführern in Posen vom 4. 10. 1943 sowie in den Reden des RFSS vor den Reichs- und Gauleitern in Posen vom 6. 10. 1943, Rede des RFSS vor den Befehlshabern der Wehrmacht in Bad Schachen vom 14. 10. 1943 und Rede des RFSS vor SS und Parteivertretern in Posen vom 24. 10. 1943. Erstmals äußerte sich der RFSS programmatisch über den Osten als »Pflanzstätte germanischen Blutes« vor SS - und Polizeiführern in seiner Feldkommandostelle Hegewald bei Shitomir in der Ukraine am 16. 9. 1942. 22 Zur Theorie und Praxis der SS -Auslese und der Heiratsgenehmigungen vgl. Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Die nationalsozialistische Rassenpolitik im besetzten Europa, 1939-1945, 2. Aufl. Göttingen 2003, S. 50-62; Bastian Hein, Elite für Volk und Füh-

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hatte der Reichsführer SS die Notwendigkeit der »bewussten Gattenwahl« hervorgehoben und eine rassenanthropologische Ausleseprozedur für Braut und Bräutigam verbindlich gemacht.23 Dies sollte der SS als »blutlichem Neuadel«, vor allem aber auch der SS als »Sippengemeinschaft« zugutekommen. Die Schulungszeitschrift der SS, die SS -Leithefte, formulierten es simpler: »Vergiss nie, SS -Mann, daß Du bei der Wahl Deiner Frau die zukünftige Mutter Deiner Kinder wählst.«24 Dies bedeutete zugleich die Indienstnahme des Einzelnen für das Wohl des Volkes und mittelbar für die Herstellung der »Volksgemeinschaft«: »Der Wert eines Mannes oder einer Frau für das ewige Leben des deutschen Volkes besteht in der Reinheit des Blutes, in der Erbtüchtigkeit und in der Leistungsfähigkeit im Dienst für das Leben des Volkes.«25 Wie Bruno Kurt Schultz, 1941 bereits kommissarischer Chef des Rassenamtes im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, zum 10. Jahrestag des »Heiratsbefehls« der SS in der Partei-Zeitschrift Volk und Rasse feststellte, entfaltete die Prozedur aus Sicht der Verantwortlichen durchaus eine erzieherische Wirkung in den Reihen der SS: Der einzelne SS -Mann lerne, dass er in die Bevölkerungsentwicklung selbst eingreifen könne und »selbst mit verantwortlich für die Entwicklung kommender Geschlechter« sei.26 Vor allem aber habe die SS mit diesem Befehl in der gesamten deutschen Gesellschaft »vorbildlich und erzieherisch« gewirkt, da diese »Gedanken der bewußten Gattenwahl weitesten Kreisen unseres Volkes geradezu selbstverständlich geworden sind und in vieler Hinsicht in der staatlichen Gesetzgebung ihren Niederschlag gefunden haben«.27 Schultz verwies unter anderem auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933, das sogenannte Ehegesundheitsgesetz von 1935 und die gesamte »Rassengesetzgebung«, welche diese Maßnahme von »weltgeschichtlicher Bedeutung« vorweggenommen habe. Leitend sei der Gedanke der biologischen Reproduktion: »Sinn und Zweck der Ehe ist das Kind oder besser sind die Kinder. Darauf kam es dem Reichsführer aber mit diesem Befehl besonders an.«28 Der Topos der ländlichen Siedlerfamilie hatte zwar vor 1939 bereits Konjunktur, erfuhr mit dem Sieg über Polen und der Eroberung »neuen Lebensraumes im Osten« jedoch eine deutliche Aufwertung. Bis dahin bezog sich die Siedlungspolitik der

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rer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925-1945, München 2012; ders., Himmlers Orden. Das Auslese- und Beitrittsverfahren der Allgemeinen SS, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 263-280. Heiratsbefehl der SS, A 65, 31. 12. 1931 (wie Anm. 20); Schwarz, Frau (wie Anm. 8), S. 17-98. Aus der Praxis des Sippenamtes, in: SS -Leitheft, Bd. 3, Nr. 4 (15. 8. 1937), S. 31-33, hier: S. 33. SS -UStuf. Dr. Gerhart Schinke, Woran sterben Völker, in; SS -Leitheft, Bd. 5, Nr. 5 (1939), S. 15-19, hier: S. 15. Bruno Kurt Schultz, 10 Jahre Verlobungs- und Heiratsbefehl in der Schutzstaffel, in: Volk und Rasse 17 (1942), Heft 1, S. 1-2. Tatsächlich hatten bis 1940 mehr als 106.000 SS -Männer eine Heiratsgenehmigung beantragt, von denen allerdings erst 16.500 endgültig und 40.000 nur vorläufig angesiedelt waren, vgl. die Statistik »Entscheidungen von Verlobungs- und Heiratsgesuchen in den ersten 10 Jahren seit Bestehen des RFSS -Befehls vom 31. 12. 31«, BAB NS 2 /57. Schultz, Verlobungs- und Heiratsbefehl (wie Anm. 26), S. 2. Ganz ähnlich auch die Instruktion der SS -Eignungsprüfer des RuSHA über die Bedeutung der »Deutschen Familie«, BAB NS 2 /1093.

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Nationalsozialisten auf die landwirtschaftliche Binnensiedlung zum Zwecke der »Neubildung deutschen Bauerntums«. Seit 1934 übernahmen Siedlungsgenossenschaften vor allem in Norddeutschland, Bayern, Hessen und Ostpreußen die Einrichtung von »Neubauernhöfen«.29 Die Auswahl und Schulung der »Neubauern« lag in Händen des Landwirtschaftsministers und Reichsbauernführers Richard Walther Darré, wobei im gesamten Prozess der Neusiedlung der Familie des Bauernbewerbers eine ganz entscheidende Bedeutung zukam. Nur »rassisch und erbgesundheitlich einwandfreie Sippen« sollten die Zulassung als »Neubauern« erhalten:30 »Die Fernhaltung kranker, erblich belasteter und untüchtiger Familien wird sich auf Generationen hinaus für die gesamte Dorfgemeinschaft günstig auswirken.«31 Ziel war nicht nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Neubauern (wobei von »Erbwert« auf »Arbeitsfähigkeit« und damit auf ökonomische Leistungsfähigkeit geschlossen wurde), sondern vor allem auch eine hohe Kinderzahl der so Ausgelesenen zur Steigerung der Bevölkerungszahl.32 Diese bevölkerungspolitische Zielsetzung stand von Beginn an fest, wie der oberste Rassenkundler der SS, Bruno Kurt Schultz, zugleich Mitglied im Stabsamt des Reichsbauernführers, bereits 1935 erklärt hatte: »Denn der Bauernsiedler von heute soll ja der Vater vieler tüchtiger Geschlechter von morgen werden und muß daher sorgfältig für diese große Aufgabe ausgelesen werden. Gemäß den Richtlinien vom 18. 1. 1934 muß der Siedlungsbewerber folgende Voraussetzungen erfüllen: Berufseignung, Gesundheit und Erbgesundheit, deutsche oder stammesgleiche Blutszugehörigkeit, persönliche Ehrbarkeit sowie Verheiratung oder Verlobung und richtige Gattenwahl.«33 Dabei geriet die gesamte Familie ins Visier der Rasse- und Erbgesundheitsprüfer: »Ärztlich untersucht werden neben dem Bewerberpaar sämtliche Kinder und alle sonstigen auf den Neubauernhof mitziehenden Familienangehörigen.«34 So sollte eine »zuverlässige Begutachtung des Erbwertes der Gesamtfamilie« sichergestellt werden. Dieses Prinzip der Auslese und Auswahl der gesamten Familie stellte ab 1939 zumindest theoretisch die Grundlage für die angestrebte bevölkerungspolitische Neuordnung des »deutschen Ostens« durch Umsiedlung bereit: »Der Neubauernschein 29 Reichsnährstand, Der Weg zum Neubauernhof, Berlin 1938. 30 Und keineswegs nur diejenigen, die nicht vom Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), dem zentralen Eugenik-Gesetz des NS -Staates, »von der Fortpflanzung ausgeschlossen« wurden. 6 Jahre Neubauernauslese. Aus der Arbeit des Verwaltungsamtes des Reichsbauernführers, 2. Aufl. Berlin 1941, S. 10. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 10-12. 33 Vortrag von Bruno Kurt Schultz, Stabsamt des Reichsbauernführers, über »Rassenhygienische Gesichtspunkte bei der Neubildung deutschen Bauerntums«, Bericht unter dem Titel »Rassenhygiene und Neubildung deutschen Bauerntums« in der Zeitschrift Neues Bauerntum, Bd. 27 (1935), S. 433. Zu Bruno Kurt Schultz, dem späteren Leiter des Rassenamtes im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, vgl. Heinemann, Rasse (wie Anm. 22), S. 634-635. 34 6 Jahre Neubauernauslese (wie Anm. 30), S. 11.

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soll bekunden, dass die Familie, die ihn besitzt, sowohl in beruflicher als besonders auch in biologischer Hinsicht über besondere Qualitäten verfügt.«35 Bereits einen Tag nach seiner berüchtigten Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, in der er eine »Neuordnung der ethnographischen Verhältnisse« Europas durch Vertreibung und Umsiedlung angekündigt hatte, ernannte Hitler den Reichsführer SS zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) und beauftragte ihn mit der Planung und Durchführung der Umsiedlung.36 Himmler wiederum konnte auf das SS -Auslese-Prozedere zurückgreifen, das er nun auf Millionen volksdeutscher und nicht-deutscher Menschen anwenden ließ, um sich einen Überblick über deren »Rassewert« zu verschaffen. Dieser vermeintlich objektiv durch anthropologische Messungen bestimmbare Wert wurde zum zentralen Kriterium für die Entscheidung erhoben, welche Menschen als »volksdeutsche Ostsiedler« den versprochenen Bauernhof im Osten erhalten würden und welche als »Polen und Ukrainer« von ihrem Besitz vertrieben oder als sogenannte Wiedereindeutschungsfähige ins Altreich zur Arbeit und späteren »Germanisierung« gebracht werden würden.37 Entscheidend für den hier diskutierten Zusammenhang ist jedoch, dass in der Umsiedlungspraxis (hierzu siehe Abschnitt 2) wie in der Propaganda die Siedlerfamilie den Ansatzpunkt bildete. So beschrieb ein Artikel in den SS -Leitheften im Sommer 1941 unter dem Titel »Im Osten wächst neues Volk auf neuem Land« den Vorgang der »Umsiedlung und Ansiedlung im Zusammenhang«: »Rassische Scheidung und rassische Auslese und ein gesundes, starkes Bauerntum stehen daher im Mittelpunkt. […] Familienwirtschaften müssen nach Form, Größe und Anlage eine gesicherte Grundlage für das Leben und die Entwicklung kinderreicher Bauernfamilien bieten.«38 Der Artikel »Wie werde ich SS -Siedler im deutschen Osten?« informierte interessierte Kandidaten im gleichen Jahr darüber, dass die Kinderzahl sich günstig auf die Vergabe auswirke. Für Unverheiratete dagegen gelte »die große Bedeutung der richtigen Gattenwahl«: »In einen Bauernhof gehört eine gesunde, tüchtige, arbeitsame Frau, die mit Liebe und Pflichtbewusstsein ihrer Tätigkeit nachgeht.«39 Dass die so angesprochene Frau neben rassischer und erbgesundheitlicher Eignung auch eine 35 Ebd., S. 21. 36 Michael Wildt, »Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse«. Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006), H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Wildt-1-2006 (letzter Zugriff: 19.2.2018). Zu Himmler als RKF vgl. Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, S. 453-484, 595-620; Alexa Stiller, Germanisierung und Gewalt. Nationalsozialistische Politik in den annektierten Gebieten Polens, Frankreichs und Sloweniens, 1939-1945, Dissertation Universität Bern 2015. 37 Hierzu im Detail Heinemann, Rasse (wie Anm. 22), S. 187-303. 38 Im Osten wächst neues Volk auf neuem Land. Umsiedlung und Ansiedlung im Zusammenhang, in: SS -Leitheft, Bd. 7 (1941), Nr. 2a, S. 2-6, hier: S. 3. 39 Wie werde ich SS -Siedler im deutschen Osten? Auskunft aus dem Rasse- und Siedlungshauptamt-SS, in: SS -Leitheft Bd. 7 (1941), Nr. 2b, S. 15-18, hier: S. 16.

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landwirtschaftliche Ausbildung und die Teilnahme an der Bräuteschulung der NS Frauenschaft nachzuweisen hatte, verstand sich für die SS von selbst.40 »Eine so ausgerichtete Neubildung deutschen Bauerntums ist dann in der Lage, Vollstreckerin des Auftrags zu sein, deutsches Siedlungsgebiet im Osten zu den wahrhaft deutschesten Gauen zu machen«,41 bilanzierte der Reichsnährstand zufrieden.

2. Die Familie als Relais der Inklusion und Exklusion in der Umsiedlungspolitik Nicht nur für das stets vage Konzept der »Volksgemeinschaft« bildete die Familie den entscheidenden Ansatzpunkt.42 Insbesondere der Versuch, durch Vertreibung und Neuansiedlung zunächst das besetzte Polen, später auch das Baltikum, Böhmen und Mähren, Teile der Sowjetunion, Slowenien und Elsaß-Lothringen in ein »germanisches Europa unter deutscher Vorherrschaft« zu verwandeln, basierte auf der Idee, dass Familien die Grundeinheit der ethnischen Neuordnung bilden würden: Deutsche und volksdeutsche Siedlerfamilien, »germanische Familien« sowie »gutrassige Wiedereindeutschungsfähige« – unterstützt von einem Heer an fremdvölkischen Sklavenarbeitern – würden den Osten für alle Zeit »deutsch machen«. Die Planungen hierzu lieferte die Hauptabteilung Planung und Boden des RKF und führte diese in den verschiedenen Stufen des »Generalplan Ost« aus.43 An der Umsiedlungspolitik waren viele Organisationen beteiligt: der Stab des RKF, das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA), SS -Ansiedlungs- und Arbeitsstäbe, die für die Erfassung der Volksdeutschen verantwortliche Einwandererzentralstelle (EWZ) und die für die Registrierung und Vertreibung der »unerwünschten Fremdvölkischen« und Juden zuständige Umwandererzentralstelle (UWZ), beides Dienststellen der Sicherheitspolizei und des SD, dazu die mit der VolksdeutschenBetreuung befasste Volksdeutsche Mittelstelle (VoMi). Sie alle bezogen sich auf die Familie als relevante Einheit derjenigen Menschen, die es zu erfassen, zu beplanen, zu vertreiben oder anzusiedeln galt. 40 Vgl. den Schriftwechsel der NS -Frauenschaft mit dem Rasse- und Siedlungshauptamt über Bräute- und Mütterschulung: Deutsches Frauenwerk, Hauptabteilung Mütterdienst, gez. Erna Linhardt-Röpke, an RuSHA-Heiratsamt vom 14. 3. 1943; Deutsches Frauenwerk, Hauptabteilung Mütterdienst, gez. Erna Linhardt-Röpke, an das RuSHA-Heiratsamt, 6. 7. 1943, BAB NS 2 /233, Bl. 32-34, 74. 41 6 Jahre Neubauernauslese (wie Anm. 30), S. 26. 42 Als Einstieg in die umfängliche Literatur zum Begriff und zum Konzept der »Volksgemeinschaft« vgl. Bernhard Gotto / Martina Steber (Hg.), Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014; dies., Volksgemeinschaft im NS -Regime. Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), H. 3, S. 433-445. 43 Zur Umsiedlungs- und Germanisierungspolitik des NS vgl. u. a. Stiller, Germanisierung (wie Anm. 36); Czesław Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan. Dokumente, Berlin 1994; Christian Ingrao, La promesse de l’Est. Espérance nazie et génocide 19391943, Paris 2016.

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Betrachtet man die Akten der am Umsiedlungsprozess beteiligten Institutionen, so zeigt sich schnell, dass die Menschen prinzipiell familienweise vertrieben (in der Quellensprache: »evakuiert«), aber auch familienweise um- und angesiedelt wurden. Erst die Familieneinheit ermöglichte den umfassenden Zugriff auf die Menschen – in positiver wie negativer Hinsicht. Zugleich symbolisierte die Familie als »Blutsgemeinschaft«, wie oben ausgeführt, die Verkörperung des biologistischen Ordnungsdenkens. Was dies konkret bedeuten konnte, soll nun an einigen Quellen, zunächst bezogen auf die annektierten Regionen Polens, insbesondere den Warthegau, erläutert werden. Als Hitler nach dem Ende des Polenfeldzugs die »Neuordnung« der besetzten Gebiete durch Umsiedlung ankündigte und Himmler dafür zum RKF ernannte, zeichnete sich der erste Schritt dieses Unternehmens, nämlich die sogenannte Rückführung der Volksdeutschen aus den östlichen Regionen Polens, dem Baltikum und der Sowjetunion, bereits ab. Idealiter sollten diese Familien, die ihre Heimatorte und Regionen verließen und bereitwillig dem »Ruf des Führers: Heim ins Reich !« folgten, als Bauern und Handwerker im Warthegau und anderen annektierten Regionen »angesetzt« werden. Im Laufe des Jahres 1940 implementierte die SS ein formales Überprüfungsund Selektionsprozedere, das gleichermaßen auf die Volksdeutschen44 und die vertriebenen Polen angewendet wurde.45 Auch die Rassenauslese der für die Ansiedlung der Volksdeutschen vertriebenen Polen – später auch Tschechen, Ukrainer, Slowenen, Franzosen – folgte in den Sammellagern der Evakuierten dem gleichen Prinzip der Familieneinheit.46 Im Warthegau funktionierte dies im Sommer 1940 folgendermaßen: »Im Sammellager des Gaues werden die auszusiedelnden Familien einer eingehenden politischen, rassischen, gesundheitlichen und arbeitseinsatzmäßigen Überprüfung unterzogen. Die für tauglich zum Einsatz ins Altreich befundenen Familien werden auf freiwilliger Basis vom Arbeitsamt zum Einsatz als Landarbeiterfamilien im Altreich [gemeldet]. Die von der Umwanderungszentralstelle für nicht zum Einsatz im Altreich tauglich befundenen und diejenigen, die nicht auf freiwilliger 44 Auch die nachträglichen Rassemusterungen der bereits in den annektierten Regionen Polens lebenden Volksdeutschen und ihre Eintragung in die sogenannte Deutsche Volksliste (DVL) liefen nach gleichem Muster ab. Allerdings wurden nach einigen Differenzen zwischen Himmler und den Gauleitern nur die Angehörigen der Gruppen III und IV der DVL – die Mehrheit – einer rassischen Überprüfung unterzogen. Vgl. Heinemann, Rasse (wie Anm. 22), S. 260-282. Eine divergierende Einschätzung zur Bedeutung der »rassischen Musterungen« bei Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012, S. 266-342. 45 Ein erster Entwurf zur Organisation der Rückführung der Deutschen aus dem Ausland hatte schon am 10. 10. 1939 die Beteiligung der verschiedenen Dienststellen SD, RuSHA , Reichsgesundheitsführer, DRK und NSV bei der »Auslese« und Ansiedlung der Volksdeutschen vorgeschlagen und das RuSHA erließ umgehend eine vertrauliche »Anleitung zur Eignungsprüfung der Rückwanderer«. BAB NS 2 /88. Bl. 89-91, 93-99. Hierzu vgl. im Detail Heinemann, Rasse (wie Anm. 22), S. 232-250. 46 Vermerk der Abteilung III »Volkstum« im RSHA vom 16. 2. 1940, BAB R 75 /3, Bl. 1-2.

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Basis ins Altreich gehen wollen, werden durch die Staatspolizei in das Generalgouvernement abgeschoben.«47 Als im Zuge der Vorbereitungen des Krieges gegen die Sowjetunion keine Transportkapazitäten mehr zur Verfügung standen, entschied sich der Chef der UWZ Posen, SS -Hauptsturmführer Rolf-Heinz Höppner, die unerwünschten polnischen Familien zwar aus ihren Wohnungen zu vertreiben, aber vor Ort zu belassen – unter strikten Auflagen: »Damit der Aufenthalt der ausgesiedelten Polen stets kontrolliert werden kann, wird jeder evakuierten polnischen Familie eine Meldekarte ausgehändigt werden, mit welcher sich diese beim zuständigen Gendarmerieposten bezw. Polizeirevier wöchentlich einmal zu einer bestimmten Zeit melden muß (Muster 2). […] Im Augenblicke der Aufhebung der Transportsperre in das Generalgouvernement kann zum Abtransport in erster Linie auf diese ausgesiedelten Polen zurückgegriffen werden.«48 Pragmatisch hieß das dann: Ausbeutung durch Arbeit, zum Teil in eigenen »Reservaten« für Evakuierte, so wie es der Vertreter des Reichsstatthalters im Warthegau noch 1944 schilderte: »Die Polen sind dort mit Meliorationsarbeiten, Kanalisationsund Straßenbauarbeiten beschäftigt. Sie sind jeweils mit der ganzen Familie angesetzt.«49 Hier diente der Erhalt der Familieneinheit also nicht der Inklusion in die zu schaffende »Volksgemeinschaft« oder der Begründung von Loyalitäten, sondern ganz im Gegenteil der Ausschließung der kompletten Familie aus rassischen Gründen. »Rassisch unerwünschte Polen« (oder auch Ukrainer, Tschechen, Slowenen, die ihre Häuser für »volksdeutsche Siedler« hatten räumen müssen) waren im Familienverband leichter zu kontrollieren, als Arbeitskräfte auszubeuten und vor allem, in der Logik der NS -Rassenideologen, von einer »Vermischung« mit der »deutschen Blutsgemeinschaft« abzuhalten. Familie wirkte hier also als effektives Erfassungs- und Ausschließungsinstrument. Wenn hingegen bei den so Untersuchten ein »rassischer Wert« festgestellt wurde, konnten die gesamten Familien zur »Wiedereindeutschung« ausgewählt werden – was bedeutete, dass sie von weiteren Zwangsmaßnahmen verschont blieben, wobei auch wieder auf die Familieneinheit geachtet wurde: »Bis zu ihrer Überführung sind gegen die Familien, die für eine Eindeutschung vorgeschlagen sind, Zwangsmaßnahmen (d. h. Um- und Ansiedlung, Wohnungszwangstausch, Entziehung des Arbeitsplatzes) untersagt.«50 Das gelang im besetzten Polen durch die strikte Rassen47 Vermerk SS -Stubaf. Dr. Menz über das Verfahren bei der Auswahl der zum Einsatz der Wolhyniendeutschen zur Aussiedlung kommenden Polen, 16. 2. 1940, BAB R 75 /3; Dienstanweisung für die SS -Führer im Rasse- und Siedlungswesen, 20. 1. 1941, BAB NS 2 /62, Bl. 31-39. 48 Der Chef der Sipo und des SD, UWZ Posen, Durchführung der weiteren Aussiedlung durch Verdrängung im Gebiet des Wartegaus, 23. 5. 1941, BAB R 75 /3b, Bl. 96-97. 49 Der Reichsstatthalter im Warthegau, gez. Dr. Heß, 23. 1. 1944, AP Poznan 299 /2198, Bl. 214216. 50 So die Anordnung des Oberpräsidenten der Provinz Oberschlesien über die »Eindeutschung

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wertung jedoch nur rund einem Prozent der von ihren Höfen vertriebenen Menschen.51 Wurde ein positives Urteil über ein Mitglied der Familie gefällt, bedeutete dies für die übrige Familie, dass sie nicht der Enteignung, Vertreibung oder gar Ermordung anheimfiel. War der Ehemann oder auch der Sohn einer mit ihren Kindern als »wiedereindeutschungsfähig« eingestuften Frau in deutscher Kriegsgefangenschaft, so wurde er zunächst rassisch gemustert. Falls die Bewertung ebenfalls positiv ausfiel, wurde der Betreffende freigelassen, damit er »mit seiner Familie wieder vereint werden kann«.52 Bei diesem Auswahlprozess zeigt sich, dass die Familie bei Volksdeutschen wie »Wiedereindeutschungsfähigen« und Evakuierten als Erfassungskriterium, zugleich aber auch als Projektionsfläche der Ziele der ethnischen Neuordnung diente. Auch ein Blick auf den Umgang mit evakuierten polnischen Familien illustriert die Bedeutung der Familie für Exklusion aus der »Volksgemeinschaft« – oder deren Aufschub. So sollten polnische Hofbesitzer, deren Familienangehörige entweder bereits im Altreich als Arbeiter eingesetzt waren oder die nahe Verwandte in den USA hatten, von der »Evakuierung«, also Vertreibung, ausgenommen werden – wie Adolf Eichmann vom RSHA bei einem Besuch in Posen im Juni 1940 dem Leiter der UWZ Posen, SS -Hauptsturmführer Rolf-Heinz Höppner, bestätigte. Augenscheinlich wollte hier die SS keine Proteste der Familienangehörigen im Ausland oder im Altreich riskieren. Im Aktenvermerk zur Besprechung hieß es: »Aus außenpolitischen Erwägungen sind jedoch Evakuierungen in diesem Falle tunlichst zurückzustellen, es sei denn, dass aus dem Gesamtbild der Evakuierten zu erwarten wäre, dass sie bei durchgeführter Maßnahme keine Verbindung mit ihren in USA wohnenden Verwandten aufnehmen würden.«53 Dabei nahmen die Umsiedlungsexperten hier eine Korrelation an zwischen dem »Gesamtbild der Evakuierten«, also ihrer äußeren Erscheinung und rassenanthropologischen Bewertung, und deren Fähigkeit, Kontakt zu den Verwandten im Ausland herzustellen. Der Logik der Rassenforschung zufolge waren die besonders »ungünstigen Elemente« zu träge oder lethargisch, um sich zu beschweren. Ein weiterer Vermerk wies die Außenstellen der UWZ an, sofort Hof besitzer zu melden, »die infolge verwandtschaftlicher Beziehungen zu Reichsangehörigen zur Aussiedlung nicht freigegeben werden können. Es ist der Grund der Ablehnung mitzuteilen. Auf die Dringlichkeit wird besonders hingewiesen.«54 Dies bedeutet, den Menschen wurde

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von Polen«, 9. 6. 1942, Staatsarchiv Nürnberg, NO 3076. Es ließen sich zahlreiche vergleichbare Dokumente anführen. Heinemann, Rasse (wie Anm. 22), S. 282-303, bes. 284. Der RuS-Führer Litzmannstadt an Dr. Seitz, RFK , 10. 8. 1940, betr. Kriegsgefangener Sohn und Schwiegersohn der Familie Wielczarsk, Kasimierz. Vgl. die zahlreichen Einzelfälle in BAB R 75 /15. Die Akte enthält den Schriftwechsel des Rasse- und Siedlungsführers Litzmannstadt, der jeweils die Familienzusammenführungen anmahnte, mit dem RKF in Berlin. Aktenvermerk für SS -HStuf. Höppner, Posen, 6. 6. 1940, über die Unterredung zwischen SS HStuf. Eichmann und SS -UStuf. Seidl am 5. 6. 40 in Posen, BAB R 75 /20. UWZ Posen, 2. 10. 1940, an die Außenstellen der UWZ , BAB R 75 /20.

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offen kommuniziert, dass ihre Verwandtschaftsbeziehungen im Altreich der Grund für ihre Verschonung von der Evakuierung waren. Befand sich hingegen ein Familienmitglied, in der Regel der Vater, als polnischer Soldat in deutscher Kriegsgefangenschaft, so bot dies keinen Schutz vor »Evakuierung«.55 Dagegen konnte die vorübergehende Entsendung kompletter Familien zum Arbeitseinsatz ins Altreich zumindest einen befristeten Aufschub der Deportation bedeuten. Angesichts des Arbeitskräftemangels der deutschen Kriegswirtschaft hatten die deutschen Behörden hieran großes Interesse. Wichtig war den Experten jedoch, dass die kompletten Familien nach beendetem Einsatz nicht etwa im Altreich verblieben, sondern ins Generalgouvernement deportiert wurden. Sie unterlagen also weiterhin dem Zugriff der Umsiedlungsbehörden: »Die Familien erhalten in ihren Papieren, soweit sie evakuiert worden sind, den Stempel ›evakuiert‹. Es muss Sorge getragen werden, dass sie nach Beendigung des Arbeitseinsatzes nicht zurück in die eingegliederten Ostgebiete, sondern in das Generalgouvernement kommen.«56 Doch nicht nur innerhalb der »Germanisierung« der annektierten Gebiete Polens diente die Familie als zentrales Zugriffsinstrument auf die Bevölkerung. Ähnliches lässt sich auch für den ab 1941 zur deutschen Besiedlung vorgesehenen Distrikt Lublin im Generalgouvernement feststellen, ebenso für die Region um Shitomir in der Ukraine. In den Dörfern rund um Himmlers Feldhauptquartier »Hegewald« sollte auf Anordnung des RFSS ab Herbst 1942 ebenfalls eine deutsche Siedlung entstehen. Ein eigens gegründeter »Sonderstab Henschel« des RKF unter SS -Standartenführer Theo Henschel, einem Fachmann für Siedlungsfragen, sollte die »Zusammensiedlung« der geschätzt 43.000 Volksdeutschen des Generalkommissariats Shitomir durchführen.57 Auch hier setzten die SS -Siedlungsfunktionäre bei der Familie an. Vor Beginn der Umsiedlungsmaßnahmen sprachen sie die volksdeutschen Familien in einem – bezeichnenderweise auf Russisch und Deutsch verfassten – Flugblatt an: »Ungeachtet des Krieges findet jetzt im ganzen Lande zum Erstaunen unseres gemeinsamen Gegners ein Neuaufbau statt, dessen Ziel allein Euer Wohlergehen ist. Der deutsche Wille und die deutsche Liebe zur Ordnung gehen dahinaus, einer jeden Familie ihre Rechte zu sichern.«58 55 Aktenvermerk für SS -HStuf. Höppner, Posen, 6. 6. 1940, BAB R 75 /20. 56 Der Chef der UWZ Posen, SS -HStuf. Höppner, an das RSHA III B, 15. 3. 1941 über die Bereitstellung von Arbeitskräften aus den eingegliederten Ostgebieten zur Deckung des Kräftebedarfs der Kriegswirtschaft, BAB R 75 /20. In diesem Fall ging es um die Übersendung von 4.000 »evakuierten polnischen Familien« aus dem Warthegau. 57 Wendy Lower, A New Ordering of Space and Race: Nazi Colonial Dreams in Zhytomyr, Ukraine, 1941-1944, in: German Studies Review 25 (2002), S. 227-254; dies., Nazi EmpireBuilding and the Holocaust in Ukraine, Oxford 2005. Zum Sonderstab Henschel s. Heinemann, Rasse (wie Anm. 22), S. 453-464. 58 Flugblatt vom 8. 10. 1942 »An die Bauern dieses Dorfes!«, BAB R 59 /1513.

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Um rund 10.500 Volksdeutsche aus dem Generalkommissariat Shitomir (anstelle der ursprünglich geplanten 43.000) aufzunehmen, mussten im Oktober und November 1942 aus den vier Siedlungsdörfern rund um Hegewald etwa 15.000 Ukrainer ausgesiedelt werden. Anders als die aus dem Warthegau »evakuierten« Polen sollten die Ukrainer – gemäß der Rassenlogik des NS das »höherwertige Volk« – jedoch eine Entschädigung für den Verlust ihres Besitzes erhalten und insgesamt besser behandelt werden.59 In der Realität schien das nicht zu funktionieren, suchten die ukrainischen Familien sich doch durch Flucht der Umsiedlung zu entziehen. So berichtete der Gebietskommandant Hegewald, SS -Oberführer Jungkunz, über die ersten Erfahrungen mit der Aussiedlung von über 10.600 Personen: »Die während der ersten Tage aufgetretenen Schwierigkeiten durch Flucht ganzer Familien konnten bald beseitigt werden durch geschickte propagandistische Beeinflussung. […] Die späteren Transporte verliefen infolgedessen reibungslos und völlig ruhig. Es gelang sogar, die meisten der vordem geflüchteten Familien noch mit abzutransportieren.«60 Im Nachgang zu den ersten Winter-Umsiedlungen kam der Sonderstab überein, »die Zahlen der im Frühjahr aus dem Gebiet Hegewald noch zu entfernenden Familien genau festzustellen und zu erforschen«, um für die nächste Evakuierungsaktion detaillierte Pläne aufstellen zu können. »Bei der Feststellung dieser auszusiedelnden Familien ist auch Rücksicht darauf zu nehmen, welche ukrainischen Familien durch ihre Beschäftigung bei der Wehrmacht, Luftwaffe und ähnlichen Betrieben zurückgestellt werden müssen.«61 Die ins Generalkommissariat Dnjepropetrowsk verbrachten ukrainischen Familien trafen dort jedoch völlig unzureichende Lebensbedingungen an, wie der Leiter der Abteilung Landwirtschaft des Sonderstabes Henschel berichtete: »Es sind schon im Laufe des Winters einige im Herbst ausgesiedelte ukrainische Familien nach Arbeit [der Name eines Siedlungsdorfes, I. H.] zurückgekommen. […] Die Leute sind nun bei anderen Familien eingezogen und wohnen unangemeldet im Dorf. Ich wäre mit Strenge gegen diese Familien vorgegangen, doch das ist nur dann möglich, wenn die Wohnungs- und Wirtschaftsverhältnisse in ihrem Ansiedlungsgebiet geregelt sind.«62 59 Vgl. den Vermerk des Leiters der Abteilung Landwirtschaft des Sonderstabes Henschel für den Führer des Sonderstabes i. V. SS -HStuf. Laforce, Hegewald 12. 5. 1942, BAB R 59 /1513. 60 Sonderstab Henschel, 1. Bericht von SS -Oberf. Jungkunz zur Vorbereitung des Berichts des Gebietshauptmanns Hegewald an Reichsführer-SS, Stichtag 20. 11. 1942, BAB R 59 /1513. 61 Niederschrift über die erste Referentenbesprechung des Sonderstabes Henschel unter Vorsitz SS -Staf. Henschel am 12. 1. 1943, gez. Laforce, BAB R 59 /1513. 62 Sonderstab Henschel, Abt. Landwirtschaft, Hegewald 9. 5. 1943, an den Führer des Sonderstabes i. V. SS-HStuf. Laforce, über die Wohnungsverhältnisse der im Herbst 1942 umgesiedelten Ukrainer aus dem Gebiet Hegewald. Vgl. auch den Bericht des Abteilungsleiters über die Erkundung der Ansetzungsmöglichkeiten von ukrainischen Familien aus den deutschen Siedlungsgebieten im Gen. Bez. Shitomir in den Gen. Bez. Dnjepropetrowsk und Nikolajew vom 20. 8. 1943, BAB R 59 /1513.

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Während die ukrainischen Familien nur unzureichend versorgt wurden, galt das nicht für die in den Dörfern um Hegewald angesiedelten Volksdeutschen. Hier bestanden insgesamt vier sogenannte Betreuungsstützpunkte – Maienfeld, Neuposen, Amhügel und Troja – denen wiederum jeweils neun bis fünf Siedlungsdörfer zugeordnet waren. Bei der Betreuung der Volksdeutschen spielten Frauen eine große Rolle, sie leiteten die vier Betreuungsstützpunkte oder wirkten in den Dörfern als Betreuungshelferinnen, abgeordnet entweder von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt NSV oder der HJ.63 Diese Frauen arbeiteten in enger Kooperation mit den der SS angehörenden Stützpunktleitern.64 Ihre Aufgabe bestand neben der Mütterschulung und Versorgung der Familien mit den nötigsten Gebrauchsgütern, Möbeln und Kleidungstücken – letztere nachweislich aus den Hinterlassenschaften ermordeter Juden aus Auschwitz und Majdanek – auch in der Überwachung der volksdeutschen Familien.65 Dabei ging es nicht nur um im nationalsozialistischen Sinne »politisch korrektes« und arbeitsames Verhalten, sondern auch um den Gebrauch der deutschen Sprache und vor allem um Familienwerte. Zu Beginn des Jahres 1943 leitete ein gewisses »Fräulein Mayer« den Betreuungsstützpunkt Troja im Gebiet Hegewald. Volksdeutsche ihres Stützpunktes, die dem Idealbild der »deutschen Siedlerfamilie« nicht entsprachen, meldete sie pflichtbewusst dem Sonderstab Henschel. So denunzierte sie im April 1943 einige Familien, die abends gemeinsam ukrainische Lieder sangen, beim stellvertretenden Leiter des Sonderstabes, SS -Hauptsturmführer Laforce.66 Zwei volksdeutsche Umsiedler, Elisabeth Krause aus dem Dorf Heimat und Adolf Dorn aus dem Dorf Troja, die nach ihrer Umsiedlung heimlich ukrainische Ehepartner geheiratet hatten und dies erst nachträglich offenlegten, schwärzte sie im Januar 1943 ebenfalls an.67 Das hatte Konsequenzen für die Betroffenen. Laforce schrieb an den Gebietshauptmann Shitomir, 63 Sonderstab Henschel, Richtlinien für die Betreuung und Auflistung der Betreuungsstützpunkte des Siedlungsgebietes Hegewald, o. D. Richtlinien für die Sofort-Betreuung der volksdeutschen Umsiedler, 30. 10. 1942, gez. SS -Staf. Henschel. Vgl. auch die Aufstellungen über die personelle Ausstattung der Betreuungsstützpunkte im Siedlungsgebiet Hegewald in BAB R 49 /774, Bl. 001-003, 036-037, 101, 102, 105. Zur Rolle der Siedlerbetreuerinnen und Dorfberaterinnen im besetzten Polen vgl. Harvey, Osten (wie Anm. 11), S. 198-261, 366397. 64 Aktenvermerk über die Aussprache der Stützpunktleiter und Betreuerinnen des Siedlungsgebietes Hegewald am 2. 7. 1943 vom 5. 7. 1942; Aktenvermerk über die Besprechung mit den Stützpunktleitern und Betreuern am 1. 8. 1943 vom 2. 8. 1943, BAB R 49 /774, Bl. 132-133, 156. 65 Aktenvermerk betr. Ausstattung der Höfe mit Möbeln und sonstigen Hausratsgegenständen vom 27. 10. 1942, gez. der Leiter des Sonderstabes Henschel i. V. SS -HStuf. Laforce, BAB R 49 /774, Bl. 028; Sonderstab Henschel, 1. Bericht von SS -Oberf. Jungkunz zur Vorbereitung des Berichts des Gebietshauptmanns Hegewald an Reichsführer-SS, Stichtag 20. 11. 1942, BAB R 59 /1513. 66 Brief der Leiterin des Betreuungsstützpunktes Troja, M. Mayer, an SS -HStuf. Laforce, 12. 4. 1943, BAB R 49 /774. 67 Die Leiterin des Betreuungsstützpunktes Troja, M. Mayer, an SS -HStuf. Laforce, 23. 1. 1943, betr. Verheiratung mit Fremdvölkischen, BAB R 49 /774, Bl. 003, 017.

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SS -Staf. Jungkunz, und verlangte kurzerhand die Annulierung beider Ehen.68 Diese

Fälle sind wichtig, weil sie zeigen, dass auch die Familienentscheidungen der Volksdeutschen im Siedlungsgebiet der Kontrolle der Umsiedlungsstäbe unterlagen und dass Frauen als Siedlerbetreuerinnen dabei eine ganz entscheidende Rolle spielten.69 Der letzte Teil des Beitrags lotet nun aus, wie die Grenzen der Familie in der Umsiedlungspolitik gezogen wurden respektive unter welcher Bedingung die Einheit und der Zusammenhalt von Familie eben nicht mehr schützenswert erschien – wie im Falle der beiden Volksdeutschen, die heimlich ukrainische Partner geheiratet hatten.

3. Die Grenzen der Familie: Auflösung von Familien in der NS -Umsiedlungspolitik Drei Beispiele sollen zeigen, wie die Umsiedlungsfunktionäre die Grenzen dessen, was als Familie galt, im Laufe des Zweiten Weltkrieges und der NS -Umsiedlungspolitik immer wieder neu verhandelten und vermaßen: die Aufhebung des Prinzips der familienweisen »Evakuierung« bei Erkrankung einzelner Familienmitglieder, der Umgang mit Familien »fremdvölkischer« Zwangsarbeiterinnen und die Behandlung »wiedereindeutschungsfähiger« Kinder, deren Eltern zuvor ermordet worden waren. Im ersten Fall argumentierten die Umsiedlungsbehörden systemisch: Die Einheit der Familie von »evakuierten« Polen aus den eingegliederten Gebieten wurde ab Sommer 1940 nicht mehr aufrechterhalten, wenn einzelne Familienangehörige erkrankten. Der Leiter der UWZ Posen, Rolf-Heinz Höppner, meldete an Adolf Eichmann beim RSHA : »Durch Anweisung vom 9. 5. 1940 ist getrennte Evakuierung von Familien verboten. Wenn also ein Mitglied der Familie erkrankte und transportunfähig war, wurde die Familie so lange im Lager behalten, bis dieses Mitglied gesund war. Nach Mitteilung des Lagerarztes hat sich jetzt herausgestellt, dass durch dieses Verfahren Familien mehrere Monate im Lager bleiben, durch diesen Lageraufenthalt erneut Erkrankungen auftreten und so Fälle eintreten, wo Familien überhaupt im Lager bleiben müssen. […] Ich schlage deshalb vor: Die Familien trotz Erkrankung eines Mitgliedes in das Generalgouvernement abzuschieben und das erkrankte Mitglied nach der Genesung nachzuschicken.«70 Eichmann schrieb zurück, dieses Verfahren sei nach Rücksprache mit dem RSHA , Abteilung IV D 4 anzuwenden, wenn das erkrankte Familienmitglied das 14. Lebensjahr vollendet habe. Bei jüngeren Kindern hingegen sei allerdings »eine weitere zur Familie gehörende Person, die das 18. Lebensjahr überschritten haben muss, im Lager 68 Der Führer des Sonderstabes i. V., SS.-HStuf. Laforce, o. U., 6. 2. 1943 an den Standortkommandanten und Gebietshauptmann Hegewald, SS -Staf. Jungkunz, betr. Verheiratung mit Femdvölkischen, BAB R 49 /774, Bl. 004, 019. 69 Grundlegend zu den Siedlungsbetreuerinnen in Polen Harvey, Osten (wie Anm. 11), S. 198397. 70 Der Leiter der UWZ Posen, SS -HStuf. Höppner, an RSHA IV D 4, z. Hd. SS -HStuf. Eichmann, 12. 8. 1940, BAB R 75 /20.

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zurückzuhalten, um das Kind nach seiner Genesung zu den übrigen evakuierten Familienmitgliedern zu bringen«.71 Hier standen nicht »humanitäre Motive«, sondern das Interesse an einer zügigen »Evakuierung« möglichst vieler Familienangehöriger im Vordergrund. Eine andere Personengruppe, der das Recht auf eine Familie schlicht abgesprochen wurde, waren osteuropäische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. War »Verhütung« bei deutschen Frauen unerwünscht und Abtreibung mit hohen Strafen belegt,72 galt für Frauen aus Polen und der Sowjetunion das genaue Gegenteil. Mit der Ausweitung des Arbeitseinsatzes von Zwangsarbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft ab 1942 rückten »unerwünschte Schwangerschaften« in den Blickpunkt der Rassenpolitik. An die Stelle der Rücksendung schwangerer Polinnen und »Ostarbeiterinnen« in ihre Herkunftsländer trat eine Politik der Zwangsabtreibung und der Einweisung von Neugeborenen in eigens geschaffene »Ausländerkinder-Pflegestätten«, behelfsmäßige Heime, in denen die Kinder getrennt von ihren Müttern elend zugrunde gehen sollten.73 Die Mütter dagegen wurden weiterhin als Arbeitskräfte ausgebeutet. Dass die Verhinderung und Ermordung »fremdvölkischer Kinder« ein zentrales Ziel der Volkstumspolitik darstellte, verdeutlicht exemplarisch ein Memorandum der Volksdeutschen Mittelstelle von 1944, das sich mit den Kindern »fremdvölkischer Landarbeiterinnen« befasste. Der Autor, Professor Karl Schöpke, zeigte sich besorgt über die hohe Geburtenrate der in der Landwirtschaft eingesetzten osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen und hielt fest: »Wie ein schweres Schicksal muß es über jeder fremdvölkischen Landarbeiterin liegen: Ein in Deutschland geborenes Kind bedeutet gleichzeitig dessen Verlust!«74 Zu erreichen gedachte er dieses Ziel, im Einklang mit den Direktiven Himmlers und des Generalbeauftragten für den Arbeitseinsatz, durch Propaganda, Freigabe von Verhütungsmitteln, Zwangsabtreibung und die räumliche 71 Fernschreiben Gestapo, 13441, 30. 8. 1940, gez. Eichmann, an Chef der UWZ Posen Höppner und Litzmannstadt Krumey, BAB R 75 /20. 72 Polizeiverordnung über Verfahren, Mittel und Gegenstände zur Unterbrechung und Verhütung von Schwangerschaften in: Reichsgesetzblatt I, 3. 2. 1941, S. 63-64. Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft, in: Reichsgesetzblatt I, 9. 3. 1943, S. 140-141. 73 Erlaß des RKF, RSHA , gez. Kaltenbrunner, über die Schwangerschaftsunterbrechung bei Ostarbeiterinnen vom 9. 6. 1943, Staatsarchiv Nürnberg (StAN) NO -3520; Erlaß des RFSS und Chefs der deutschen Polizei, gez. i. V. Kaltenbrunner, über die Behandlung schwangerer ausländischer Arbeiterinnen und der im Reich von ausländischen Arbeiterinnen geborenen Kinder vom 27. 6. 1943, StAN NO -1383; Geheime Anordnung des RuSHA-Chefs, gez. Hildebrandt, über Schwangerschaftsunterbrechungen bei Polinnen vom 13. 8. 1943, StAN NO -3557; Geheime Anordnung des RuSHA-Chefs, gez. Hildebrandt, über die Behandlung schwangerer ausländischer Arbeiterinnen und der im Reich von ausländischen Arbeiterinnen geborenen Kinder vom 23. 8. 1943, StAN NO -933. 74 Prof. Dr. Karl Schöpke, VoMi Amt IV, Memorandum über »Sofortige Reichsmaßnahmen zur Verminderung der Unterwanderungsgefahren in Folge der zahlreichen fremdvölkischen Geburten auf dem Lande«, 18. 5. 1944, BAB R 59 /48, auch StAN NO -5311. Ich danke Marcel Brüntrup für den Hinweis und die Überlassung einer Kopie dieses Dokumentes.

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Trennung von Müttern und Kindern – allesamt Maßnahmen, wie sie seit 1943 angewandt wurden.75 Im Detail forderte er: »Eine rücksichtslose, aber sehr geschickte Propaganda unter den fremdvölkischen Landarbeitern, dahin aufklärend, daß sie und ihre auf deutschem Volksboden in die Welt gesetzten Kinder nicht viel Gutes zu erwarten hätten, nämlich sofortige Trennung von Eltern und Kindern, später völlige Entfremdung. […] Allgemeine und eiserne Durchführung des Grundsatzes, daß sämtliche neugeborenen Kinder fremdvölkischer Landarbeiterinnen – ebenso die Kinder deutscher Frauen von fremdvölkischen Vätern – den Müttern, spätestens 4 Wochen nach der Geburt, für immer genommen und in örtlich entfernten Heimen untergebracht werden.«76 Diese Vision des VoMi-Experten war 1944 längst Realität, allein im Heim Velpke bei Helmstedt, wohin die Kinder »landwirtschaftlicher Ostarbeiterinnen« aus der Region gebracht wurden, starben vom Mai bis Dezember 1944 96 Säuglinge von insgesamt 110.77 Die Zahl der insgesamt in den Jahren 1943 bis 1945 durch gezielte Vernachlässigung gestorbenen Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen geht nach vorsichtigen Schätzungen in die Zehntausende. Diese Mütter und ihre Kinder galten den Nationalsozialisten nicht als Familien, sondern im Gegenteil als »unerwünschter Bevölkerungszuwachs«, es ging darum, in den Worten Schöpkes, »die Erzeugung und Geburt solcher fremdvölkischer Kinder überhaupt auf ein Mindestmaß zu beschränken«.78 Das dritte Beispiel betrifft die »Eindeutschung« als »gutrassig bewerteter« nichtdeutscher Kinder.79 Diese konnten entweder aus Waisenhäusern stammen, welche die 75 Runderlass des Generalbevollmächigten für den Arbeitseinsatz (GBA), Rückführung schwangerer ausländischer Arbeitskräfte, 15. Dezember 1942, wiedergegeben in: Rundschreiben des Reichsverbands der Landkrankenkassen, 20. Februar 1943; Anordnung des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti, Schwangerschaftsunterbrechung bei Ostarbeiterinnen, 11. März 1943, wiedergegeben in: Rundschreiben des Reichsverbands der Landkrankenkassen, 10. September 1943, beide in »Ruehen Baby Case«, National Archives, London, WO 235 /271, Exhibit 1. Vgl. das DFG Projekt von Marcel Brüntrup (wie Anm. 2); ders., Verbrechen und Erinnerung. Das »Ausländerkinderpflegeheim« des Volkswagenwerks (Wissenschaftliche Beiträge zu Wolfsburg, Bd. 3), im Erscheinen; Heinemann, Rasse (wie Anm. 22), S. 499-507; Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 8), S. 436. 76 Schöpke, Memorandum (wie Anm. 74). 77 Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999 (Erstausgabe 1985), S. 290; George Brand, Trial of Heinrich Gerike [and Others]: The Velpke Baby Home Trial 1946, London 1950. 78 Schöpke, Memorandum (wie Anm. 74). 79 Das Schicksal von Kindern im Zweiten Weltkrieg hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren. Einzig die Geschichte von Kindern als Opfer der NS -Germanisierungspolitik ist bislang nur in Einzelaspekten / für einzelne Herkunftsländer erforscht. Vgl. Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg, Essen 1997; Johannes-Diether Steinert, Deportation und Zwangsarbeit. Polnische und sowjetische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Osteuropa, Essen 2013;

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SS gezielt durchkämmte, oder es handelte sich, was deutlich häufiger vorkam, um Kinder getöteter polnischer, ukrainischer, tschechischer und slowenischer Zivilisten.80 Die SS nahm solche Kinder schlicht ihren Verwandten weg und ließ sie über den Lebensborn e. V. in Kinderheime in den besetzten Gebieten bringen.81 Dort mussten sie erst Deutsch lernen und kamen dann in Pflege- und Adoptionsfamilien im Altreich. Diese oftmals noch sehr jungen Kinder sollten Paaren mit Kinderwunsch helfen, eine neue NS -Familie zu gründen – aufseiten der Kinder geschah dies unfreiwillig und unter Zwang. Ein solches Kind war Tamara, Jahrgang 1936, die mit ihren jüngeren Brüdern Waldemar und Anatol im Jahr 1943 in ein Kinderheim der Volksdeutschen Mittelstelle in Podhajce im Bezirk Tarnopol in der Westukraine gebracht wurde.82 Ihre Eltern waren von den deutschen Besatzern ermordet worden, der Vater erschossen, die Mutter mutmaßlich in einem Lager verstorben. Die Kinder wurden getrennt auf weitere Heime im Warthegau verteilt. Tamara kam von dort zu einer Pflegefamilie nach Kalisch: Emma und Oskar K., geboren 1888 und 1891, waren ihrerseits Ostsiedler, die ursprünglich aus Leipzig stammten. Den Pflegeeltern sagte man, Tamara sei ein deutsches Waisenkind aus Odessa, dessen Eltern von den Russen erschossen worden seien – eine übliche Lüge zur Vertuschung des Kindesraubs. Nach der Flucht aus dem Warthegau zurück nach Leipzig 1945 »behielten« die Pflegeeltern Tamara (und ihre Brüder, die sie mittlerweile nachgeholt hatten) noch einige Jahre, setzten sich 1950 jedoch in die Bundesrepublik ab und ließen die Kinder zurück. Tamaras Schicksal war kein Einzelfall, es ist von zehntausenden solcher Familien auszugehen, die so im Rahmen der Besatzungs- und Umsiedlungspolitik zerstört und neu gegründet wurden. Die Kinder wurden dabei gleich doppelt Opfer einer rücksichtslosen Volkstumspolitik, die bei der Familie ansetzte. Insgesamt zeigen die drei Fallbeispiele, dass »Familie« als Ordnungskategorie in der Exklusionspolitik da aufgegeben wurde beziehungsweise Familien dort gezielt zerstört wurden, wo es rassenpolitisch opportun erschien. Das Auf brechen der FamilienVerena Buser, »Mass detective operation« im befreiten Deutschland: UNRRA und die Suche nach den eingedeutschten Kindern nach dem Zweiten Weltkrieg, in: HISTORIE . Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 8 /9 (2015), S. 347-360. 80 Einen weiteren Sonderfall bildeten die sogenannten Besatzungskinder. Hierzu Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, Hamburg 2012, S. 309-365. 81 Zum genauen Prozedere der von Himmler verordneten »Jagd auf gutes Blut« und den entsprechenden Richtlinien des Reichsführers-SS vgl. Heinemann, Rasse (wie Anm. 22), S. 508530. Zum »Lebensborn« s. Thomas Bryant, Himmlers Kinder. Zur Geschichte der SS -Organisation »Lebensborn e. V.« 1935-1945, Wiesbaden 2011; Dorothee Schmitz-Köster, »Deutsche Mutter, bist Du bereit …« Der Lebensborn und seine Kinder, erw. Neuaufl. Berlin 2010; Volker Koop, Dem Führer ein Kind schenken. Die SS -Organisation »Lebensborn« e. V., Köln 2007. 82 Ich danke Frau Tamara M., die mir freundlicherweise ihre Geschichte berichtet und mir Kopien der Umsiedlungsdokumente überlassen hat. Schriftwechsel von 2005 im Besitz der Verfasserin.

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einheit von zur Deportation vorgesehenen »rassisch unerwünschten Fremdvölkischen« und das Sterbenlassen von Kindern osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen fußte maßgeblich auf ökonomischen Interessen (Lagerexistenz verkürzen, Arbeitskräfte ausbeuten) und auf ausgrenzendem Rassismus. Doch spätestens die Behandlung »gutrassiger nicht-deutscher Kinder« als Verfügungsmasse zur Gründung neuer deutscher Familien folgte einer rassenpolitischen Logik, die essenziell auf Stärkung der »Volksgemeinschaft« ausgerichtet war.

4. Fazit: Die Familie in der NS -Umsiedlungspolitik zwischen In- und Exklusion Zusammengefasst zeigt sich, dass die Familie als Relais der Umsiedlungspolitik fungierte: Während die NS -Propaganda die Familie als »Blutsgemeinschaft« und »bäuerliche Siedlerfamilie« konzipierte, bezogen sich alle an der Vertreibung der nicht-deutschen Bevölkerung, an der Ansiedlung der Volksdeutschen und der Identifikation der »Wiedereindeutschungsfähigen« beteiligten Institutionen auf die Familie als Referenzkategorie. Lediglich die Erfassung »gutrassiger Kinder« und ihre Zwangseinweisung in deutsche Pflegefamilien zielten auf die Schaffung neuer Familien, indem sie zuvor andere zerstörten. Familien von osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sollten dagegen aus rassenpolitischen Gründen gar nicht erst entstehen. Während bei »unerwünschten« und »wiedereindeutschungsfähigen« Familien in der Regel die Familieneinheit dazu diente, die Familien zu erfassen, zu kontrollieren und für die NS -Umsiedlungspolitik verfügbar zu machen – aber auch dazu, sie als Arbeitskräfte auszubeuten –, lag der Fall bei den volksdeutschen Familien etwas anders. Hier ging es darum, wie am Beispiel der kurzlebigen Siedlungen im Generalkommissariat Shitomir geschildert, diesen Menschen »deutsche Familienwerte« und konformes Verhalten anzuerziehen. Sie wurden zu Objekten von Fürsorge, aber auch von Kontrolle und manchmal Denunziation – wobei Frauen als Siedlerbetreuerinnen eine zentrale Rolle spielten. Der unbedingten Förderung der deutschen und »rassenpolitisch wertvollen« Familie als Teil der nationalsozialistischen Inklusionspolitik stand ein ganz anderer Umgang mit »fremdvölkischen« Familien gegenüber. »Die Zerstörung der Familie«, so wie sie Adolf Hitler für Deutschland auf jeden Fall verhindert wissen wollte,83 wurde bei den Menschen, die »rassenpolitisch« nicht als Teil der deutschen »Volksgemeinschaft« gedacht werden konnten, planmäßig herbeigeführt. Das verdeutlicht der Umgang mit ausgesiedelten polnischen Familien, mit osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen und schließlich mit »wiedereindeutschungsfähigen« Kindern. Neben die Förderung der »rassisch hochwertigen Siedlerfamilie« trat die Zerstörung »unerwünschter Familien« als gezieltes Mittel der Umsiedlungspolitik.

83 Das Programm Adolfs Hitlers (wie Anm. 1).

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»Frau mit vielen Männern« Geschlechterkonstruktionen einer Soldatenheimschwester aus »gutem Hause« 1 »Die Unterhaltungsabende, die die Männer fast allein bestritten, müssten in die richtigen Bahnen gelenkt werden [so DRK-Hauptführerin Dr. Buchert]. Die Soldaten sollten dadurch, dass ihnen Unterhaltung, Abspannung geboten würde, gehindert werden, in die Bordelle zu gehen. Es sei eine so grosse Aufgabe. […] Der Ton der Soldaten ist schon ziemlich schlecht geworden. Bis man sich Respekt erobert, wird man erst einen Kampf mit einer vielköpfigen Hydra ausfechten müssen, aber nun, es wird eine gute Schulung sein, und ich werde den Krieg, rein wie er geistig wirkt, nicht körperlich, kennen lernen.«2 Dieses Zitat aus einem Brief von Annette Schücking an ihre Mutter gleicht einem inneren Selbstgespräch: Die Soldatenheimschwester resümiert die Unterhaltung mit einer Hauptführerin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und wägt die Vor- und Nachteile ihrer neuen, scheinbar herausfordernden »grosse[n] Aufgabe« ab. Weil sie dabei grundlegende Motive und die eigene Positionierung im Krieg anspricht, bündeln sich hier bereits wesentliche Aspekte einer in hohem Maße vergeschlechtlichten Kriegsgemeinschaft, deren Analyse hier im Zentrum stehen soll. Den Hintergrund dieser Perspektivierung bildet eine in jüngerer Zeit aufgeworfene Forschungsfrage, die sich mit den Motiven und den Motivationen derjenigen Frauen beschäftigt, die sich insbesondere für einen Einsatz in den von der Wehrmacht besetzten Ostgebieten meldeten. Neben dem Wunsch, eine kriegswichtige Rolle einnehmen und die expansorischen und ideologischen Ziele des Krieges unmittelbar unterstützen zu können, machen Studien etwa zu Wehrmachthelferinnen oder zu den Auslandseinsätzen der NS -Frauenschaft deutlich, dass es durchaus unterschiedliche Beweggründe waren, die Frauen bewogen, eine Arbeitsstelle in den Kriegsgebieten anzunehmen. So boten diese Tätigkeiten für Frauen eine sozial anerkannte Möglichkeit, ein weitgehend eigenständiges Leben führen zu können. Vorwiegend für junge Frauen stand darüber hinaus auch das Motiv des Abenteuers beziehungsweise der Freiheit – in den späteren 1 Das Zitat im Haupttitel findet sich in einem Brief von Annette Schücking an ihre Mutter vom 21. 6. 1942, abgedruckt in (der für diese Untersuchung relevanten kommentierten Edition): Julia Paulus / Marion Röwekamp (Hg.), Eine Soldatenheimschwester an der Ostfront. Briefwechsel von Annette Schücking mit ihrer Familie (1941-1943), Paderborn 2015, S. 309. Der Untertitel spielt auf den ersten Teil von Simone de Beauvoirs Autobiografie an (Memoiren einer Tochter aus gutem Hause), in der sie ihre Entwicklung vom Mädchen zur Frau beschreibt. 2 Annette Schücking an ihre Mutter Louise Schücking, o. D. [nach dem 19. 9. 1941], in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 112.

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julia paulus

Kriegsjahren auch die Gelegenheit zur Flucht aus den zerbombten Städten – im Mittelpunkt dieser Entscheidung.3 Doch weniger den möglichen Motivlagen des Auf bruchs als Ausbruch – meist jugendlicher Frauen – aus dem Gewohnten möchte dieser Beitrag nachgehen, als vielmehr den Irritationen, Verhinderungen und Verletzungen im Selbstverständnis einer sich als selbstbewusst und unabhängig gerierenden jungen Akademikerin. Am konkreten Beispiel eines Briefwechsels der im Sommer 1941 frisch examinierten Juristin Annette Schücking, die zwischen Oktober 1941 und Februar 1943 in Soldatenheimen in der Ukraine und im Kaukasus arbeitete, werden hierzu zunächst die äußeren Rahmenbedingungen dieses Einsatzes unter Soldaten nachgezeichnet. Vor allem aber wird danach gefragt, welchen inneren Beweggründen und Strategien Annette Schücking folgte, wenn es darum ging, dem eigenen Handeln einen Sinn zu verleihen und sich selbst im Krieg – in Bezug auf die angenommene Rollendefinition als »Frau mit vielen Männern« – eine Position zu verschaffen.4 Im Zentrum der Untersuchung steht die Korrespondenz Annette Schückings mit ihren Eltern. Sie sind die Hauptadressaten ihrer Briefe, in denen sie sowohl ihre Position in als auch den Umgang mit der sie umgebenden homosozialen Soldatengemeinschaft reflektiert.

1. Der äußere Anlass – Motivlagen und Rahmenbedingungen Aufgewachsen ist die am 1. März 1920 geborene – und im Dezember 2017 verstorbene – Annette Schücking zusammen mit ihren beiden jüngeren Geschwistern Sibylle und Engelbert als Tochter des Rechtsanwalts Lothar Engelbert Schücking (1873-1943) und seiner Ehefrau Louise, geborene Hudoffsky (1894-1969), sowohl in Dortmund, dem Sitz der Anwaltskanzlei ihres Vaters, als auch in Sassenberg, einem kleinen münsterländischen Ort bei Warendorf. Auf dem dortigen Erbhof ihrer Familie väterlicherseits bezog die Familie jedes Jahr ihre Sommerresidenz; dort wurden die Kinder vor allem von Hausangestellten betreut, da ihre Mutter – außer an den Wochenenden – standesgemäß dem Wohnhaus in Dortmund vorstand und ihren Ehemann in dessen Kanzlei unterstützte. In Gesprächen betonte Annette Schücking immer wieder die liberale, weltoffene Haltung ihrer Eltern: Ihr Vater, Sozialist, Pazifist und Atheist, hatte sich als Bürgermeister der Stadt Husum bereits im Kaiserreich für die Demokratie eingesetzt, daraufhin seine Stelle in der preußischen Verwaltung verloren und stattdessen im Jahre 1909 in Dortmund als Rechtsanwalt und Notar eine Kanzlei eröffnet und dort 3 Vgl. hierzu: Franka Maubach, Die »Macht weiblicher Hilfe« im Zweiten Weltkrieg. Ein Phänomen an der Schnittstelle von Frauen- und Militärgeschichte, in: Jörg Echternkamp / Wolfgang Schmidt / Thomas Vogel (Hg.), Perspektiven der Militärgeschichte. Raum, Gewalt und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung, München 2010, S. 187-198, hier: S. 187; Elizabeth Harvey, »Die deutsche Frau im Osten«: »Rasse«, Geschlecht und öffentlicher Raum in Polen 1940-1944, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 191-214. 4 Annette Schücking an ihre Mutter, 21. 6. 1942, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 309.

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nicht nur Sozialdemokraten und Kommunisten verteidigt, sondern sich auch in mehreren Vereinen für Demokratie, Frieden und Menschenrechte und gegen den aufkommenden Antisemitismus engagiert.5 Auch die Liberalität ihrer Mutter schätzte Annette Schücking sehr – eine Haltung, die so ganz anders war als die all der Mitglieder ihrer Herkunftsfamilie, einer großbürgerlichen Hamburger Kaufmannsfamilie, die politisch eher konservativ eingestellt waren. Diese aufrechte demokratische Haltung der Eltern hatte nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten Folgen für die ganze Familie: Nachdem Lothar Schücking am 26. Mai 1933 wegen angeblicher »kommunistischer Betätigung« aus der preußischen Anwaltskammer ausgeschlossen worden war und damit unweigerlich Berufsverbot erhalten hatte,6 war die Familie von einem auf den anderen Tag ohne Einkommen. Die Eltern mussten die gemietete Kanzlei und das Wohnhaus in Dortmund aufgeben und sich zusammen mit den drei Kindern gänzlich nach Sassenberg zurückziehen. Hier war es nun vor allem Louise Schücking, die ihre fünfköpfige Familie mithilfe ihrer genealogischen Arbeiten, einer kleinen Erbschaft, vor allem aber durch ihre – autodidaktisch erworbenen – landwirtschaftlichen Kenntnisse über Wasser hielt. Neben ihrer Unabhängigkeit und Liberalität gehörte eine akademische Ausbildung zum bildungsbürgerlichen Selbstverständnis der Schücking’schen Familie. Für Lothar und Louise Schücking, die – obgleich sie Ambitionen besaß – kein Studium hatte aufnehmen können, war unzweifelhaft, dass sowohl ihre Töchter als auch ihr Sohn studieren und einen akademischen Beruf ergreifen sollten. Während Sibylle Veterinärmedizin studierte, trat Annette in die Fußstapfen der in der Familie Schücking bereits seit sieben Generationen nacheinander beschrittenen Juristenlaufbahn. Damit war sie zusammen mit einer ihrer Cousinen erst die zweite Frau in dieser Juristendynastie. Nach Abitur und obligatorischem halbjährigen Arbeitsdienst begann Annette Schücking im Wintersemester 1938 ihr Studium an der Universität in Münster, das sie im Juli 1941 mit dem zweiten juristischen Staatsexamen am Oberlandesgericht Hamm abschloss. Weder Annette noch ihre Schwester Sibylle waren während ihrer Schul- oder Universitätszeit Mitglied in einer NS -Organisation. Erst nach ihrem Studium empfahl ihr eine Freundin, zum eigenen Schutz zumindest in das Deutsche Frauenwerk einzutreten.7

5 Vgl. u. a. Hermann Josef Bausch, »Kommunismus der Kunst« und »die Pflege des Guten im Menschen«. Das Engagement des Freidenkers und Pazifisten Lothar Engelbert Schücking für das Kulturleben in Dortmund, in: Heimat Dortmund (2012), S. 99-107. 6 Vgl. das Schreiben des preußischen Justizministeriums vom 26. 5. 1933 an Lothar Schücking betr. Entfernung aus dem Anwaltsberuf: Stadtarchiv Dortmund, NL Lothar Engelbert Schücking (Bestand 608), Nr. 641 und Nr. 82. 7 Vgl. Ahnenpass von Annette Schücking, in: Kreisarchiv Warendorf, Depositum »Schücking«, Akte »Aus der Russlandzeit«. Dort ist vermerkt, dass Annette Schücking dem Deutschen Frauenwerk (DFW ) am 1. 4. 1941 beigetreten war.

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Entscheidung zur Kriegsteilnahme Beschäftigt sich der Briefwechsel zunächst mit Annette Schückings Eindrücken aus ihrem Urlaub bei Bekannten unmittelbar nach Abschluss ihres Studiums in dem bereits von Kriegseinwirkungen gezeichneten Danzig, ändert sich der Tenor der Korrespondenz mit ihren Eltern ab September 1941 grundlegend: Ihre Ernennung zur Gerichtsreferendarin ließ immer länger auf sich warten, sodass Schücking befürchtete, grundsätzlich keine Zulassung zur zweiten Ausbildungsphase mehr zu erhalten und stattdessen zu kriegswichtigen Diensten in der Kriegsindustrie verpflichtet zu werden.8 Darüber hinaus vermutete sie wegen der Erfahrungen ihres Vaters und der Erzählungen ihrer Eltern über Schikanen seitens NS -Dienststellen zu Recht, dass man ihre Ernennung zur Referendarin zu verhindern suchte.9 Nicht zuletzt aus diesem Grund belegte Annette Schücking schließlich freiwillig einen Helferinnenkurs beim DRK in Danzig mit der Aussicht, während des Krieges als Krankenschwesterhelferin tätig zu werden;10 wenig später jedoch entschloss sie sich stattdessen – auf Anregung der eingangs zitierten DRK-Hauptführerin Dr. Buchert – zum Dienst in einem Soldatenheim. Hatte sich Annette Schücking in ihren Briefen zunächst noch abfällig über die bloße »Beschäftigung« in Soldatenheimen geäußert, so geriet sie nach ihrer Entscheidung zunehmend ins Schwärmen darüber, wie sehr gerade diese Tätigkeit sie reize.11 Insbesondere die Aussicht, dass man »selbständig« arbeiten könne und – wie sie es als eine von nur wenigen Frauen bereits im Studium erfahren hatte – das nötige Selbstvertrauen im Umgang mit Männern besitzen müsse, führten sie zu dem Entschluss, dass ihr diese Arbeit »besser liege«. Nicht zuletzt die Möglichkeit, als Frau auf dem (Um-)Weg eines – rein geistigen, von jeglicher Erotik freien – »Kampfes« um die Tugendhaftigkeit der Soldaten im ansonsten vornehmlich homosozial männlichen Feld die Gelegenheit zu erhalten, »den Krieg […] kennen lernen« zu können, war für Annette Schücking Herausforderung genug. 8 Vgl. Wehrgesetz vom 22. 5. 1935, § 1 Abs 3, S. 609, in: RGBl. I 1935, S. 52: »Im Kriege ist über die Wehrpflicht hinaus jeder deutsche Mann und jede deutsche Frau zur Dienstleistung für das Vaterland verpflichtet.« Der Ausführung dieses Gesetzes dienten verschiedene »Verordnungen zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung«. Wurden unter diese Formulierung zunächst vor allem junge Männer gefasst, schuf kurz vor Ausbruch des Krieges eine allgemeine Dienstverpflichtung die Basis, auch Frauen »zur Bekämpfung von Notständen« zu kriegswichtigen Arbeiten heranzuziehen. Vgl. Rudolf Absolon, Fraueneinsatz im Kriege. Schwestern und Helferinnen im Gefolge der Wehrmacht – 1. Teil (Heer). Grundlegende Gesetze, Verordnungen und Erlasse, Kornelimünster 1953, S. 7. 9 Vgl. die zahlreichen Nachfragen von NS -Dienststellen bei Gauämtern, ob Annette Schücking während ihrer Studienaufhalte politisch auffällig geworden sei, in: Archiv des Landessozialgerichts Essen, Personalakte Annette Schücking-Homeyer. 10 Vgl. zur Tätigkeit von Krankenschwestern im DRK während des Zweiten Weltkrieges: Ludger Tewes, Rotkreuzschwestern. Ihr Einsatz im mobilen Sanitätsdienst der Wehrmacht 19391945, Paderborn 2016. 11 Vgl. auch im Folgenden den gesamten Brief von Annette Schücking an ihre Mutter, o. D. [nach dem 19.9.], in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 112-114.

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Eine spezielle Ausbildung für ihre Tätigkeit oder Informationen über die Einsatzorte, in die sie dann im Oktober 1941 abkommandiert wurde, erhielt Annette Schücking allerdings nicht.12 Erst seit Anfang 1942 wurde aufgrund des hohen Bedarfs sowohl die Aus- und Fortbildung von DRK-Schwesternhelferinnen als auch die Werbung von Freiwilligen intensiviert;13 eine zentral geregelte siebenwöchige Ausbildung des weiblichen Personals in Soldatenheimen erfolgte jedoch erst ab 1943.14 Trotz dieser nur provisorischen Vorbereitungen seitens des DRK beziehungsweise der Wehrmacht, in deren Obhut die Soldatenheimschwestern – zusammengefasst als sogenannte Betreuungshelferinnenschaft und im Status eines »Wehrmachtsgefolges« – seit dem 1. November 1941 standen,15 hatte sich Annette Schücking bereits intensiv mit ihren zukünftigen Aufgaben auseinandergesetzt. Noch bevor sie schließlich Ende Oktober 1941 ihren Einsatzbefehl zur Übernahme eines neu errichteten Soldatenheims in der Ukraine erhielt, schmiedete sie begeistert Pläne, organisierte Materialbeschaffungen und versuchte, die neuen Herausforderungen bereits im Vorfeld – zumindest gedanklich – zu antizipieren. Darüber hinaus weist die anderthalbjährige Feldpost-Korrespondenz mit ihren Eltern und Geschwistern eine große Bandbreite an Themen und Erzählgenres auf: Alltagsbeschreibungen ebenso wie Schilderungen von Kriegsereignissen und Reiseerlebnissen, Erzählungen über Begegnungen mit Soldaten oder der besetzten Zivilbevölkerung, aber auch durchaus selbstkritische Reflexionen über persönliche Zumutungen, Herausforderungen und Irritationen. Insbesondere in diesen reflektierenden Textpassagen wird deutlich, dass Annette Schücking vermutlich nicht alles erzählen konnte oder wollte. Die im Kontext der Feldpostforschung diskutierte Bedeutung der äußeren und inneren Zensur, die die Schreibenden hemmte, sich ungezwungen

12 Bis dahin galten für den freiwilligen Dienst lediglich die Voraussetzungen der Volljährigkeit und der Mobilität, was bedeutete, dass die Helferinnen älter als 20 Jahre, möglichst unverheiratet und kinderlos sein sollten. Vgl. RGBl. I 1939, S. 1775. 13 Vgl. Klara Lest, Schulung der Verpflegungseinheiten, in: Deutsches Rotes Kreuz (1942), S. 91-94; Anordnung Nr. 141 /42 vom 21. 7. 1942. DRK Präsidium Führungsamt, Betr. Vorschulung der für den Betreuungsdienst des Heeres vorgesehenen DRK Helferinnen, DRKArchiv Berlin, RK 96. 14 Vgl. Wilma Ruediger, Frauen im Dienst der Menschlichkeit. Erlebtes im »Deutschen Roten Kreuz« von 1914 bis Friedland, München 1962, S. 213-224; Dieter Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864-1990, Paderborn 2002, S. 329 f. 15 DRK-Betreuungshelferinnen der Wehrmacht: Dienstanweisung, Mitteilungen, Anordnungen, Verfügungen, Dienstordnungen, Richtlinien 00752 (1941-1945), DRK-Archiv-Berlin, RK 134. Vgl. auch Brigitte Morgenbrod / Stephanie Merkenich, Das Deutsche Rote Kreuz unter der NS -Diktatur 1933-1945, Paderborn 2008, S. 267; Rudolf Absolon, Krankenpflegedienst, in: Sammlung wehrrechtlicher Gutachten und Vorschriften 1974, S. 55. Die Betreuungshelferinnen des DRK , unter »Aufhebung der [bisherigen] Zugehörigkeit zur freiwilligen Krankenpflege« (ebd.), wurden somit nicht – wie vielfach angenommen – zu der Gruppe der Wehrmachthelferinnen gerechnet. Vgl. hierzu auch: Franka Maubach, Die Stellung halten. Helferinnen der Wehrmacht im Einsatz. Erfahrungsräume und Lebensgeschichten, Göttingen 2009, hier insbesondere: S. 23, Anm. 73.

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über ihre Eindrücke und Erfahrungen mitzuteilen,16 belastete im Vorfeld auch Annette Schücking. Noch bevor sie ihre Arbeit in einem Soldatenheim in der Ukraine aufnahm, findet sich in einem Brief an ihre Mutter der Hinweis: »Was mein geistiges Leben angehen wird, so werde ich mich künftig mehr an die Kandarre nehmen müssen. Ich bin auch schliesslich da, um zum Aushalten zu ermuntern. Ich muss alle pessimistischen Gedanken unterdrücken. Meine Briefe werden sicher dadurch eine andere Färbung annehmen. Das müsst Ihr hinnehmen. Ich habe keine Lust, als Spion oder Volksfeindin verhaftet zu werden.«17 Anscheinend wusste Schücking um die rigiden Zensurbestimmungen, die den Soldaten wie auch den Schreibenden an der »Heimatfront« auferlegt waren, und um die Folgen von Verstößen; im schlimmsten Fall drohte Verhaftung.18 Doch mehr noch als diese Instruktionen, die im Wesentlichen darauf abzielten, vermeintlich defätistische Meinungsäußerungen zu unterdrücken oder die Weitergabe militärischer Informationen zu verhindern, beschäftigten sie ihre eigenen, selbst auferlegten Restriktionen. Nicht erst seit dem Ausschluss ihres Vaters aus der Anwaltskammer und der erzwungenen Übersiedlung von Dortmund nach Sassenberg hatten ihre Eltern nach Schückings Erinnerung gehofft, dass »das mit den Nazis in ein paar Jahren zu Ende sein würde«.19 Vor allem als der Krieg begann, spätestens jedoch mit dem Überfall auf die Sowjetunion schienen die Eltern sicher zu sein, dass die zu erwartende Niederlage auch das Ende des Regimes besiegeln würde. Annette 16 Zur Organisation und Bedeutung der Feldpostzensur während des Zweiten Weltkrieges vgl. u. a.: Ortwin Buchbender / Reinhold Sterz (Hg.), Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945, München 1982; Gerd R. Ueberschär, Die Deutsche Reichspost im Zweiten Weltkrieg, in: Wolfgang Lotz (Hg.), Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder, Berlin 1989, S. 289-320. Speziell zur Selbstzensur von Verfasserinnen und Verfassern von Feldpost vgl. u. a.: Martin Humburg, »Jedes Wort ist falsch und wahr – das ist das Wesen des Worts«. Vom Schreiben und Schweigen in der Feldpost, in: Veit Didczuneit / Jens Ebert / Thomas Jander (Hg.), Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 75-86; Bernd Ulrich, Feldpostbriefe im Ersten Weltkrieg – Bedeutung und Zensur, in: Peter Knoch (Hg.), Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedenserziehung, Stuttgart 1989, S. 40-83. 17 Postskriptum in dem Brief von Annette Schücking an ihre Mutter, o. D. [nach dem 19. 9. 1941], in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 114. 18 Die Briefzensur der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges – die Überwachung oblag den Zensurbehörden im Oberkommando der Wehrmacht, nicht der Reichspost – diente der Verhinderung und Abwehr von Spionage und »Zersetzung«. Nach der »Verordnung über den Nachrichtenverkehr« vom 9. 4. 1940 unterlagen Angaben von Truppen- und Dienststellenbezeichnungen, Truppenorte, Stimmungsberichte sowie das Beilegen von Bildern und Abbildungen aller Art der Geheimhaltung. Vgl. Benjamin Ziemann, Feldpostbriefe und ihre Zensur in den zwei Weltkriegen, in: Klaus Beyrer / Hans-Christian Täubrich (Hg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg 1997, S. 163-171. 19 Vgl. Videoaufzeichnung eines Interviews mit Annette Schücking-Homeyer im Rahmen der Ausstellung »Wie wir wurden, was wir nicht werden sollten. Frauen in Amt und Würden« des LWL -Industriemuseums Zeche Zollern und des LWL -Instituts für westfälische Regionalgeschichte (Juni 2009 bis Februar 2011).

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Schücking hatte diese Gespräche verfolgt, wusste um das Engagement ihrer Eltern für Verfolgte und Flüchtlinge und unterstützte deren humanistische Haltung.20 Mit ihrer Entscheidung, eine Tätigkeit in einem Soldatenheim aufzunehmen, war sie wie ihre Vettern und ihr Halbbruder Lothar nun unmittelbar in diesen Krieg involviert, von dem sie ahnte, dass er nicht nur ihre pazifistische Gesinnung heausfordern würde21 – sondern auch ihr Selbstverständnis als Juristin und Frau. Dienst im Feld Die Stadt Zwiahel, in der Annette Schücking mit der bereits erfahrenen DRKSchwester Julie Zell ein Soldatenheim aufbauen sollte, gehörte zu dieser Zeit zum Generalkommissariat Shitomir. Nationalsozialistischen Planungen wie dem »Generalplan Ost« zufolge stellte diese Region sowohl ein entscheidendes Zentrum der NS Eliten wie auch ein Laboratorium für die rassistischen »Umsiedlungsaktionen« der SS dar, also für die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und die Kolonisation des Ostens durch sogenannte Volksdeutsche.22 Die Tatsache, dass alle NS -Größen in der Umgebung von Shitomir ihre Hauptquartiere – Hitler das Führerhauptquartier »Werwolf«, Himmler die Feldkommandostelle »Hegewald« – planten, führte dazu, dass es in der Gegend um Zwiahel zu den umfangreichsten und grausamsten Massenvernichtungsaktionen von jüdischen Ukrainerinnen und Ukrainern außerhalb von Konzentrationslagern kam.23 Als Annette Schücking und Julie Zell am 31. Oktober 1941 in Zwiahel eintrafen, lebte die in den umliegenden Städten noch verbliebene jüdische Bevölkerung bereits in Ghettos.24 Allein in den Monaten Juli bis September waren 70.000 Menschen durch die SS, durch Polizeieinheiten und die deutsche Wehrmacht in der Stadt und in der Region um Zwiahel ermordet worden.25 Von 20 Vgl. u. a. Annette Schücking an ihre Eltern, o. D. [Berlin, vor dem 14. 8. 1941], in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 80 f.; Annette Schücking an ihren Vater, 1. 10. 1941, in: ebd., S. 124. 21 Vgl. hierzu bereits ihre Briefe aus Danzig, in: ebd., S. 80-130. 22 Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1941 gab es im Raum Shitomir knapp 44.000 sogenannte Volksdeutsche, davon allein 7.500 in Zwiahel, das somit die größte Anzahl an Volksdeutschen beheimatete. Vgl. Meir Buchsweiler, Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkriegs – ein Fall doppelter Loyalität?, Tel Aviv 1987, S. 129; Wendy Lower, A New Ordering of Space and Race. Nazi Colonial Dreams in Zhytomyr. Ukraine 1941-1944, in: German Studies Review 25 (2002), S. 227-253, hier: S. 231, Anm. 41. 23 Vgl. u. a. Yaacov Lozowick, Rollbahn Mord. The early activities of Einsatzgruppe C, in: Holocaust and Genocide Studies 2 (1987), S. 221-241. 24 Vgl. Bert Hoppe / Hildrun Glass, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd. 7: Sowjetunion mit besetzten Gebieten, Teil I: Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien, München 2011, S. 13-89, hier: S. 44; Moshe Gildenman, Gedenkbuch. Zwiahel in den Jahren 1920-41, in: Azri’el Uri/ Mordekhai Boneh/ Hishtatef Yonatan Shayn (Hg.), Zv. hil (Nov. ogrodv. olinsk. ), Tel Aviv 1961 /1962, S. 204-208. 25 Vgl. Wendy Lower, Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine. Zivilverwalter und der Holocaust

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Abb. 1: Soldatenheim in Zwiahel mit Anbau, 1941 /42 (Fotoalbum Annette Schücking: Privatarchiv Schücking). einigen in der Region um Zwiahel verübten Verbrechen erhielt Annette Schücking bereits im November 1941, also nur wenige Tage nach ihrer Ankunft in Zwiahel, von den im Soldatenheim arbeitenden »volksdeutschen« Ukrainerinnen Kenntnis.26 Und auch von der zweiten Welle dieser euphemistisch als »Umsiedlung« bezeichneten Verschleppungen und Ermordungen, die im Frühjahr 1942 begannen, wurde Annette Schücking mehr als nur einmal in Gesprächen mit Soldaten Ohrenzeugin.27 Als Arbeitsstätte fanden Annette Schücking und Julie Zell in Zwiahel statt eines ausgebauten Soldatenheims lediglich eine Gaststätte vor, die die vor Ort stationierte fünfte Kompanie des Landesschützenbataillons 231 für das neu einzurichtende Soldatenheim beschlagnahmt und zunächst nur notdürftig hergerichtet hatte. Neben dem Heim im circa 85 Kilometer entfernten Shitomir gehörte dieses neu einzurichtende in Shitomir, in: Albert Moritz (Hg.), »Fackelträger der Nation«. Elitebildung in den NS Ordensburgen, Köln 2010, S. 199-227, hier: S. 211; Kriegstagebuch Nr. 1 vom 16.6. bis 31. 12. 1941, in: Unsere Ehre heisst Treue. Kriegstagebuch des Kommandostabes Reichsführer SS. Tätigkeitsberichte der 1. und 2. SS -Inf.-Brigade, der 1. SS -Kav.-Brigade und von Sonderkommandos der SS, hg. von Fritz Baade, Wien 1965, S. 22, 27 und 106; Klaus Jochen Arnold, Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Kriegführung und Radikalisierung im »Unternehmen Barbarossa«, Berlin 2004, S. 125-146. 26 Vgl. Tagebucheintrag von Annette Schücking, 26. 11. 1941, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 170. 27 Vgl. allein nur ihre Tagebucheinträge vom 7.2. bis 28.2., 6.3., 30.5., 6.6. und 5. 7. 1942, in: ebd., S. 225-229, 242, 291 f., 317.

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Soldatenheim zu den östlichsten in der Ukraine.28 Nach einer knapp einjährigen Tätigkeit in Zwiahel wechselten beide Frauen gemeinsam im Oktober 1942 auf eigenen Wunsch in ein Soldatenheim in den Kaukasus, nach Krasnodar. Als die dort eingesetzten Truppen der Wehrmacht im Dezember 1942 angesichts der Schlacht um Stalingrad in Auflösung begriffen waren, wurden auch die DRK-Schwestern im Februar 1943 aufgefordert, das dortige Soldatenheim aufzugeben.29 Neben wiederholten Auseinandersetzungen mit militärischen wie zivilen Verwaltungsdienststellen, vor allem aber aufgrund von Berichten über brutalste Gewalt hatte Schücking sich und ihren Eltern bereits Monate zuvor eingestanden, dass der Einsatz »für eine Frau doch nichts« sei – und vor allem nicht für sie als »Juristen«, auch wenn dieser eigentlich gar »nicht mehr […] vorhanden« sei.30 Nun thematisierte sie ihre Erlebnisse immer häufiger nur noch indirekt.31 Demgegenüber nahmen in ihren Briefen Berichte über ihren Alltag, beispielsweise detaillierte Beschreibungen ihrer ausgedehnten Reisen zu Versorgungszentren der Wehrmacht, über Land und Leute, denen sie auf ihren Fahrten begegnete, aber auch Reflexionen über ihre Rolle und ihr Selbstverständnis als DRK-Soldatenheimschwester und generell über das Leben »als Frau mit vielen Männern« einen immer größeren Raum ein.32

2. Die »innere« Haltung – Repräsentation und Selbstbild(er) Die Mitarbeit von deutschen Frauen im Krieg war keine neue Erscheinung. Sie knüpfte sowohl an die Praxis der antinapoleonischen Kriege Preußens im 19. Jahrhundert an, als die preußische Königin Luise die Kriegskrankenpflege organisiert hatte, als auch an die Erfahrungen im Deutsch-Französischen Krieg, in dem neben Frauen aus aristokratischen Familien in den neu gegründeten Vaterländischen Frauenvereinen nun auch vermehrt bürgerliche Frauen tätig wurden.33 Im Ersten Weltkrieg wurden Frauen erstmals in Verpflegungsstellen auf Bahnhöfen sowie in Soldaten28 Vgl. Frieda Cleve, Aus der Arbeit in den Soldatenheimen der besetzten Gebiete, in: Jahrbuch des Deutschen Roten Kreuzes 2 (1942), S. 58-61. 29 Fortgesetzte Unstimmigkeiten mit der Kommandantur und der DRK-Stabsleitung wie auch das Drängen ihrer Eltern hatten Annette Schücking bereits wenige Tage zuvor veranlasst, ihre Entlassung beim DRK einzureichen. Vgl. Tagebucheintrag von Annette Schücking, 8. 1. 1943, sowie Annette Schücking an ihre Eltern, 12. 11. 1942, und an ihre Mutter, 9. 1. 1943, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 434 f., 371-373. 30 Brief von Annette Schücking vom 15. 7. 1942, in: ebd., S. 320 f. 31 So z. B. wenn sie nur andeutungsweise von der Verschleppung jüdischer Einwohner aus Rowno berichtete: »Ich war vorgestern in Rowno und kam ziemlich kaputt nach Hause. Es war in der Nacht eine grosse Aktion gewesen, und der Rest wurde noch vollendet.« Annette Schücking an ihre Mutter, 15. 7. 1942, in: ebd., S. 320 f. Vgl. hierzu auch Ilse Schmidt, Die Mitläuferin. Erinnerungen einer Wehrmachtsangehörigen, Berlin 1999, S. 75. 32 Annette Schücking an ihre Mutter, 21. 6. 1942, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 309. 33 Vgl. Günther de Bruyn, Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, Berlin 2002; Jutta Schmidt, Beruf: Schwester. Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 24-30.

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und Erholungsheimen tätig.34 Und auch im Zweiten Weltkrieg bediente sich die Wehrmacht solcher Helferinnen.35 Zunächst sollten diese Frauen vornehmlich für fürsorgerische oder Verwaltungstätigkeiten bei Dienststellen der Wehrmacht oder in staatlichen Einrichtungen herangezogen werden. Im Laufe des Krieges dehnte sich der Tätigkeitsradius von Frauen jedoch immer weiter aus, wenngleich weiterhin der Grundsatz galt, dass Frauen beim Militär nur als Helferinnen, nicht als Soldatinnen eingesetzt werden durften.36 Darauf machte eigens ein Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW ) vom 22. Juni 1942 aufmerksam, in dem Richtlinien für den Einsatz der Wehrmachthelferinnen insbesondere in Gebieten außerhalb der Reichsgrenze festgelegt wurden: »In steigender Zahl müssen Frauen heute im Bürodienst, Fernsprechdienst usw. der Wehrmacht auch in den Gebieten außerhalb der Reichsgrenze den Soldaten ersetzen, der an der Front gebraucht wird. […] Die zur Durchführung der Betreuung erforderlichen Maßnahmen müssen aber der fraulichen Art entsprechen und dürfen keinesfalls zu einer im Bereich der Wehrmacht besonders naheliegenden Militarisierung der Frauen führen. Der ›weibliche Soldat‹ verträgt sich nicht mit unserer nationalsozialistischen Auffassung von Frauentum.«37 In diesen Rahmen gehörte auch die Mitarbeit der bis zu 350.000 weiblichen Hilfskräfte des DRK sowohl im traditionellen Sektor der Krankenpflege, als auch im Luftschutz, in Verpflegungseinheiten an Bahnhöfen, in der Betreuung von volksdeutschen Umsiedlern und Flüchtlingen aus den bombardierten Städten sowie in Soldatenheimen.38 34 Vgl. Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz (wie Anm. 14), S. 329 f.; Ursula von Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914-1945, Stuttgart 1969, S. 27-30; Regina Schulte, Die Schwester des kranken Kriegers. Verwundetenpflege im Ersten Weltkrieg, in: dies. (Hg.), Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod, Frankfurt a. M. 1998, S. 95-116; Bianca Schönberger, Mütterliche Heldinnen und abenteuerlustige Mädchen. Rotkreuz-Schwestern und Etappenhelferinnen im Ersten Weltkrieg, in: Karen Hagemann / Stefanie SchülerSpringorum (Hg.), Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M. 2002, S. 108-127. 35 Die Relation Helferin – Soldat betrug zuletzt 1:20. Vgl. Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst (wie Anm. 34), S. 65 und 74; Franz W. Seidler, Blitzmädchen. Helferinnen der Wehrmacht, Augsburg 2003, S. 11 f. 36 Vgl. Bettina Blum, »Einen weiblichen Soldaten gibt es nicht«. Helferinnen der Wehrmacht zwischen männlichem Einsatz und »fraulicher Eigenart«, in: Ariadne 47 (2005), S. 46-51; Karen Hagemann, »Jede Kraft wird gebraucht«. Militäreinsatz von Frauen im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Bruno Thoß / Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 79-106, hier: S. 102; Franka Maubach / Silke Satjukow, Zwischen Emanzipation und Trauma. Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg (Deutschland, Sowjetunion, USA). Ein Vergleich, in: Historische Zeitschrift 288 (2009), S. 347-384. 37 Richtlinien des Oberkommandos der Wehrmacht, Fraueneinsatz im Bereich der Wehrmacht, insbesondere in den Gebieten ausserhalb der Reichsgrenze vom 22. 6. 1942, zit. nach: Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst (wie Anm. 34), S. 361 (Dok. 169). 38 Vgl. Ilse Göring, Helferinnen-Wehrmachtverpflegung, in: Jahrbuch des DRK 2 (1941), S. 86-91;

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Die Soldatenheimschwester als »deutsche Frau schlechthin« Für die Betreuerinnen von Soldatenheimen gab es zu Anfang des Krieges allerdings noch keinerlei Ausbildung oder Einweisung, insofern wussten DRK-Schwestern wie Annette Schücking im Moment ihrer Abordnung nicht, was sie erwarten würde. Der Propaganda konnten sie lediglich entnehmen, dass die Arbeit in einem Soldatenheim zu den »schönsten Aufgabengebieten für die Einsatzkräfte des DRK« gehöre,39 nicht zuletzt da die Heime den Soldaten »Inseln der Heimat« sein sollten.40 Aus diesem Grund hatte im Mittelpunkt der Arbeit der Soldatenheimschwestern vor allem die »geistige […] Betreuung der Truppe« zu stehen, was unter anderem auch in der »einfachen und zweckmäßigen, aber gefälligen und behaglichen« Einrichtung und Ausgestaltung der Heime zum Ausdruck kommen sollte.41 Ermahnt, eine »vorbildliche Haltung und Kameradschaft, bestes fachliches Wissen, Gehorsam, Disziplin, Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft bis zum Letzten« zu zeigen,42 wurden die Soldatenheimschwestern dazu angehalten, im eroberten, das heißt besetzten Gebiet die »deutsche Frau schlechthin« zu repräsentieren,43 worunter in erster Linie das Rollenmodell der »Hausfrau« verstanden wurde.44 Dieser immer wiederkehrende Rückgriff auf familienkonnotierte Leitvorstellungen in der Aufgabenbeschreibung der Helferinnen verwies darauf, dass die an der Front tätigen Frauen keinerlei Eigenständigkeit erwerben, sondern in einem ihnen vermeintlich vertrauten Arbeitszusammenhang den militärischen Einsatz der männlichen Soldaten durch ihre – genuin weibliche – Aufgabe lediglich unterstützend begleiten sollten. Andererseits war die Arbeit der Betreuungshelferinnen eingebettet in ein profanes Regelwerk von Dienstanordnungen, die etwa Bestimmungen für Bezahlung, Arbeitszeiten und einen genau definierten Anspruch auf Urlaub festlegten.45 Das Arbeiten in der dadurch verursachten Uneindeutigkeit gestaltete sich für die Soldatenheimschwestern dementsprechend äußerst schwierig. Dies war jedoch weniger der Positionszuweisung der Schwestern als Nur-Hausfrauen geschuldet, als

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Riesenberger, Deutsche Rote Kreuz (wie Anm. 14), S. 331-333; Morgenbrod / Merkenich, Deutsche Rote Kreuz (wie Anm. 15), S. 392 f. Cleve, Aus der Arbeit (wie Anm. 28), S. 61. Geleitwort, in: Helfende Hände, hg. vom Deutschen Roten Kreuz, Berlin 1943, o. S. »DRK-Einsatz in Soldatenheimen«, DRK-Archiv Berlin, RK 96. So DRK-Generalführerin Ilse Göring (Schwägerin von Herrmann Göring) in einem Interview über »Führerinnen-Schulung vor neuen Aufgaben«, in: Das Deutsche Rote Kreuz 5 (1941), Februar, S. 18. »Richtlinien für Leiterinnen und Mitarbeiterinnen in Soldatenheimen« (5. 11. 1941), in: Heeresverordnungsblatt 62 (1941), S. 636, DRK-Archiv Berlin, RK 96. Den vom DRK eingesetzten Leiterinnen wurde in den militäreigenen Einrichtungen der Soldatenheime eine Position eingeräumt, in der sie »Rechte im Rahmen der sogenannten Schlüsselgewalt« ausüben konnten, analog zu § 1354 BGB, der das Recht von Ehefrauen, Rechtsgeschäfte zur Deckung des Lebensunterhalts durchführen zu dürfen, regelte. Vgl. Friederike Butta-Bieck, »Ich war so stolz auf meine Uniform.« DRK-Schwestern im Zweiten Weltkrieg, in: Ingrid Arias (Hg.), Im Dienste der Volksgesundheit. Frauen – Gesundheitswesen – Nationalsozialismus, Wien 2006, S. 93-113, hier: S. 100.

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vielmehr dem polykratischen Desorganisationsmodell der deutschen Besatzung – insbesondere in der besetzten Ukraine, wo neben einer Militär- auch eine deutsche Zivilverwaltung existierte.46 Vor allem die Beachtung militärischer Befehlsketten und die Akzeptanz hierarchischer Strukturen stellten keine leichte Herausforderung dar. Annette Schücking, so scheint es, fühlte sich in dieser Situation durch die als korrupt und selbstherrlich wahrgenommenen Funktionsträger regelrecht persönlich herausgefordert.47 In ihren Briefen wimmelt es deshalb nur so von bisweilen scharfer Kritik an deren Verhalten und von Zeugnissen eigener Ohnmachtserfahrungen, aber auch von Berichten über selbstbewusst geführte Auseinandersetzungen. Schließlich musste Schücking feststellen, dass ihr die bislang vertrauten Maßstäbe ihrer (akademischen) Professionalität zu entgleiten drohten, weil ihnen keinerlei Bedeutung mehr beigemessen wurde.48 Sie reagierte darauf, indem sie an die Stelle des juristischen Urteils nun immer häufiger die sittliche oder ethische Gesinnung setzte, mit deren Hilfe sie jedwedes Zeichen »moralische[r] Verwüstung« zu identifizieren suchte.49 In der Hoffnung, sich auf diese Weise vom »verfluchten Osten« zumindest »innerlich« zu distanzieren,50 begab sie sich andererseits mehr und mehr in die Rolle der Soldatenheimschwester, von der sie erwartete, dass sie ihrem Handeln eine Struktur und nicht zuletzt einen Sinn verleihen könne.51 Entsprechend füllen das Gros ihrer Briefe und Tagebucheinträge Berichte über ihre praktischen Tätigkeiten, bei denen sie und Julie Zell Unterstützung zunächst von zwölf, später von bis zu 30 sogenannten volksdeutschen Mädchen und Frauen bekamen, die vornehmlich für die Wäsche, Raumpflege und Essenszubereitung zuständig waren. Da weder die Ankunftszeit noch die Zahl der künftigen Gäste im Voraus bekannt waren, wurden täglich bis zu 600 warme Essensportionen gekocht sowie etliche kalte Speisen angeboten.52 Die Aufgaben von Annette Schücking und Julie Zell als Leiterinnen bestanden demgegenüber vor allem im »Organisieren«.53 Wäh46 Militär- und Zivilverwaltung befanden sich in der von Deutschland besetzten Ukraine im Konflikt, wobei die Zivilverwaltung, wie auch Annette Schücking es in ihren Schilderungen andeutet, bei den Zeitgenossen im Verdacht stand, korrupter zu sein als die Militärverwaltung. Vgl. Andreas Zellhuber, »Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu …«. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941-1945, München 2006, S. 136-140. 47 Vgl. neben ihren vielen Einträgen zu diesem Thema ihren Tagebucheintrag vom 15. bis 18. 1. 1942, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 211 und ihre Briefe vom 14. 12. 1941 und vom 2. /3. 3. 1942, in: ebd., S. 186, 241. 48 Vgl. Annette Schücking an ihre Eltern, 1. 11. 1941, in: ebd., S. 136-144. 49 Vgl. ihren Tagebucheintrag vom 30. 10. 1941, in: ebd., S. 135, wie auch den Brief an ihre Eltern, 5. 11. 1941, in: ebd., S. 146-149. 50 Annette Schücking an ihre Mutter, 3. 11. 1941, in: ebd., S. 144, wie auch den Brief an ihre Mutter, 6. 5. 1942, in: ebd., S. 280-282. 51 Vgl. u. a. Annette Schücking an ihre Eltern, 5. 11. 1941, in: ebd., S. 146-149, und Annette Schücking an ihre Mutter, 14. 12. 1941, in: ebd., S. 186. 52 Vgl. u. a. Brief von Annette Schücking vom 23. 4. 1942, in: ebd., S. 269-171. 53 Gleichzeitig verstand Annette Schücking den Begriff »Organisieren« als Synonym für die – ihrer Meinung nach insbesondere in der Kriegswirtschaft im »Osten« – herrschende Auf-

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rend Zell tagsüber vorwiegend für die Beaufsichtigung der Bediensteten, die allgemeine Verwaltung und zusätzliche Arbeiten im Innern des Heimes verantwortlich war – wie die Einrichtung eines Kamin- und Schreibzimmers sowie von Spiel- und Leseräumen –,54 übernahm Annette Schücking sozusagen den Außendienst, wozu die Beschaffung von Gütern jeglicher Art aus Lagern der Wehrmacht, aus Geschäften oder Bauernhöfen gehörte.55 Dazu musste sie oft tagelang im Umkreis von bis zu 100 Kilometern um Zwiahel reisen, nachdem es Ende 1941 zu einem Wechsel von der Militär- zur Zivilverwaltung gekommen war und zunächst aus Deutschland übersiedelte Grundbesitzer und Landwirte die Verwaltung der requirierten Landgüter übernommen hatten.56 Daneben waren sie für die Verteilung der Bezugsscheine für Lebensmittel und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs zuständig. Zwar war vorgesehen, dass der jeweilige Ortskommandant die nötigen Vorräte sicherstellte, in der Realität aber fehlte es meist an dem notwendigen Engagement wie auch an den Möglichkeiten, ausreichend Lebensmittel vorzuhalten. Aus diesem Grund war es für die Soldatenheimschwestern zusätzlich notwendig, kleine Gärten anzulegen und Nutztiere anzuschaffen. Introspektion und Differenzerfahrung Boten ihr die Fahrten zu Wehrmachtdepots und zu den von der deutschen Zivilverwaltung enteigneten landwirtschaftlichen Betrieben Gelegenheit, Einblick in die dort herrschenden Abläufe und in das Handeln der vor Ort verantwortlichen Personen zu gewinnen, erhielt Annette Schücking nunmehr auch unmittelbar Kenntnis von den Folgen der Besatzung für das Leben der ansässigen Bevölkerung. Allerdings interpretierte sie die – von ihr durchaus empathisch wahrgenommene – Notsituation der ukrainischen Landbevölkerung weniger als unmittelbares Ergebnis der Kriegsverwüstungen durch die deutsche Besatzung. Vielmehr sah sie den ärmlichen und in ihren Augen »primitiven« Lebensstandard vorrangig als Fortsetzung einer unter anderem unter der sowjetischen Herrschaft betriebenen Ent-Kultivierung,57 womit sie unreflektiert und analog zu ihrem damaligen Umfeld – wenngleich vornehmlich auf

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lösung jeglicher Konventionen und Regeln. Vgl. u. a. den Brief von Annette Schücking an ihre Eltern, 21. 12. 1941, in: ebd., S. 191-193, und ihren Tagbucheintrag vom 20. 12. 1941, in: ebd., S. 190. Hanns Sylvester Stürgkh, DRK-Einsatz in Soldatenheimen, in: Jahrbuch des Deutschen Roten Kreuzes (1941), S. 130-136, hier: S. 132; vgl. auch: DRK-Präsidium, Richtlinien für den DRK-Einsatz in Soldatenheimen, S. 1, DRK-Archiv Berlin, RK 96. Vgl. hierzu u. a. Annette Schücking an ihre Eltern, 1. 11. 1941, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 136-144, und Annette Schücking an ihre Eltern, 23. 4. 1942, in: ebd., S. 269-171. Vgl. detailliert zum Arbeitsablauf im Zwiaheler Soldatenheim: Annette Schücking an ihren Vater, 23. 11. 1941, in: ebd., S. 165-167. Vgl. ebd., sowie den Brief von Annette Schücking vom 5. 11. 1941, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 146-149. Vgl. u. a. den Tagebucheintrag von Annette Schücking vom 1. 1. 1942 bis 5. 1. 1942, in: ebd., S. 198, sowie Annette Schücking an ihre Schwester, 21. 3. 1942, in: ebd., S. 251 f.

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der Ebene eines kulturellen anstelle eines biologistischen Rassismus – zunehmend gängige völkisch-nationalistische Stereotype reproduzierte. Deutlich wird jedenfalls, dass sie hierüber mit ihrer Mutter in Konflikt geriet, die sie ermahnte und daran erinnerte, dass »wir […] uns freilich hier kein rechtes Bild von dem Charakter der Russen machen [können]. Es steckt so viel Propaganda dahinter.«58 Ähnlich deklassierende Bemerkungen von Annette Schücking – nunmehr aus der Warte einer sich als gereifte Intellektuelle inszenierenden Kulturbürgerin – finden sich auch über die ihr unterstellten weiblichen Bediensteten und die nachrückenden DRK-Helferinnen in den Soldatenheimen,59 aber auch über deutsche Soldaten. In allen drei Fällen urteilte sie – bei aller deutlich formulierten Ambivalenz – aus der Perspektive der ihr zugewiesenen Funktion, die mindestens zwei Komponenten beinhaltete: zum einen aus der Position der Vorgesetzten und Heimleiterin, deren Prinzipien sich an Effizienz und Haushaltungsstandards orientierten, mit denen Schücking zum Teil fern jeglicher Kontextgebundenheit großbürgerliche Wertmaßstäbe beizubehalten und zu transportieren suchte. Zum anderen sollte sie die Haltung der mitfühlenden, aufmunternden und unterstützenden DRK-Schwester einnehmen, die – wie es ein Propagandatext des DRK beschwor – »in ihrer schmucken Tracht keinem, aber allen gehört, die vom frühen Morgen bis zum sinkenden Abend unermüdlich ist in redlichem Schaffen mit nimmermüden Händen und zu allem ein freundliches Lächeln, ein freundliches Wort dazu schenkt«.60 Wenngleich sich aus einigen – allerdings nur verschwindend wenigen – Briefen Annette Schückings auch jenes Bild der sich selbstlos aufopfernden Pflegerin nachzeichnen lässt, finden sich sowohl in ihrem organisatorischen Handeln wie auch in ihrem Umgang mit den Soldaten vor allem Hinweise auf einen gänzlich anderen Diskurs, der statt der geforderten mütterlichen Fürsorge Aspekte wie Unabhängigkeit, Selbstbewusstsein und Idealismus betonte. Entsprechend empört äußerte sie sich in ihren Briefen und Tagebucheinträgen über Soldaten, Kompanieführer und Kommandanturen, die ihr nicht den gebührenden Respekt für die geleistete Arbeit zollten und die »uns meist nicht wie Damen behandeln wollen«.61 Verhindertes Dame-Sein Der Begriff »Dame« scheint ein Schlüsselbegriff in der – nicht zuletzt in Anlehnung an das Vorbild ihrer Mutter – (familiären) Selbstdefinition Annette Schückings zu sein.62 Im Ringen um ihre selbstgestellte Aufgabe, beim Auf bau und bei der Leitung 58 Louise Schücking an ihre Tochter, 24. 1. 1942, in: ebd., S. 497 f. Vgl. auch Annette Schücking an ihre Eltern, 24. 2. 1942, in: ebd., S. 233-236, und die darauffolgende Antwort ihrer Mutter, 1. 3. 1942, in: ebd., S. 508 f. 59 Vgl. u. a. Annette Schücking an ihren Vater, 23. 11. 1941, in: ebd., S. 165-167. 60 Stürgkh, DRK-Einsatz in Soldatenheimen (wie Anm. 54), hier: S. 133. 61 Annette Schücking an ihre Mutter, o. D. (Mitte Februar 1942), in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 231-233; vgl. hierzu auch Annette Schücking an ihre Mutter, 1. 11. 1942, in: ebd., S. 356-359. 62 Vgl. hierzu den Brief von Annette Schücking an ihre Mutter, 19. 9. 1941, in: ebd., S. 111, in

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Abb. 2: Annette Schücking beim Reiten mit Offizieren der 5. Kompanie in Zwiahel (Fotoalbum Annette Schücking-Homeyer: Privatarchiv Schücking-Homeyer). von Soldatenheimen an der Front helfen zu wollen, erlebt sie das ZusammenseinMüssen mit »jedem, auch Leuten die es wirklich nicht verdienen«,63 immer mehr als zusätzliche Grenzerfahrung. Hatte sie bereits zur Kenntnis nehmen müssen, dass ihre humanistischen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit in diesem Krieg einer vollständigen Pervertierung zum Opfer fielen, geriet sie nun in einen Konflikt, der zusätzlich ihr inneres Selbstbild, vor allem aber ihre Selbstachtung herauszufordern drohte. Konnte sie bis dahin ihre Position als Frau allein unter Männern nicht zuletzt durch ihr unerschrockenes und unbefangenes Selbstbewusstsein behaupten, sah sie sich – angesichts einer ihr fremden Missachtung vermeintlich traditioneller sittlicher Regeln im zwischengeschlechtlichen Umgang – zusehends auf ihren Körper und damit auf ihre Sexualität zurückgeworfen. Ausführlich berichtete sie dazu ihrer Mutter in einem Brief, in dem sie erstmals ihren Unmut, ja ihren Abscheu Männern gegenüber zum Ausdruck brachte, die sich ihr gegenüber sexuell anzüglich verhalten hatten, Männer, »bei denen man sich allein schon durch eine Unterhaltung mit ihnen beschmutzt vorkommt« und »die man zu Hause nicht mit dem Scheuertuch anfassen würde«.64 Ihrer Würde wie auch ihrer – nach Unabhängigkeit strebenden – Gedem sie ihre Mutter explizit als »Dame« bezeichnet; vgl. auch den Brief an ihre Mutter, 7. 1. 1943, in: ebd., S. 433. 63 Annette Schücking an ihre Mutter, 6. 5. 1942, in: ebd., S. 280-282. 64 Ebd. Vgl. auch die Briefe von Annette Schücking an ihren Vater, 23. 11. 1941, in: ebd., S. 165167, und an ihre Eltern, 12. 2. 1942, in: ebd., S. 229 f.

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schlechtsidentität zunehmend beraubt, sah sie schließlich nur einen Ausweg: »Das Dame-Sein muss man hier leider aufgeben«, zumindest was eine angemessene Haltung der Unnahbarkeit anging. Da der Kontakt zu diesen Männern nicht zu vermeiden war, hoffte sie, mithilfe »männliche[r] Anschauung«, wenngleich »nicht im Äusseren, in dem Auftreten, da werden wir höchstens noch weiblicher, aber doch im Innern«, ihre Würde zumindest nicht gänzlich zu verlieren. Zum Mentor wählte sie nun ihren Vater, dessen »Anschauung den Menschen gegenüber« sie hoffte erlernen zu können: Die Kunst lag darin, »alle ein bisschen von oben herab zu betrachten und vieles komisch oder merkwürdig zu finden, was andere aufregen oder zu Auseinandersetzungen mit ihnen nötigen würde«65 – ein Changieren zwischen (elitärer) Distanz und (unbefangener) Gelassenheit. Kameradschaft als Ausweg Schließlich präferierte Annette Schücking in ihren Berichten über ihr Zusammentreffen mit Soldaten wie auch mit Kolleginnen aus dem Umfeld des DRK nun weitaus häufiger den äußerst ambivalent besetzten Begriff der »Kameradschaft«.66 In Analogie zu seiner auch emanzipatorisch konnotierten Verwendung im Kontext der Jugend- und Reformbewegung während der Weimarer Republik wurde der Kameradschaftsbegriff insbesondere während des Zweiten Weltkrieges zu einem ideologisch überhöhten Vergemeinschaftungsmythos pervertiert; für die Helferinnen der Wehrmacht definierte er nicht zuletzt das einzig legitime Verhältnis zu den Soldaten. Annette Schücking schien sich demgegenüber vor allem an einem – auch ihren Eltern aus ihrer Dienstzeit während des Ersten Weltkriegs noch vertrauten – bürgerlichen und durchaus konservativen Kameradschaftsbegriff zu orientieren, der vornehmlich Tugenden wie Gemeinsinn, Anstand und vor allem »Ritterlichkeit« betonte.67 Mit dieser traditionell ausschließlich auf eine hegemoniale Männlichkeit bezogenen Deutung68 versuchte sie das weibliche Pendant ihrer Selbstdeutung als »Dame« zu verbinden – der Begriff fungierte als eine Art Komplementärfigur.69 Erst diese Verknüpfung ermöglichte es ihr, angesichts der Unberechenbarkeit des Krieges und seiner Krieger zwischen Achtbarkeit und Unehrenhaftigkeit zu unterscheiden. Zwar wurde auch vonseiten der Wehrmacht von den Soldaten »Ritterlichkeit« erwartet. Mindestens zweimal wurde der deutsche Soldat in seiner Dienstzeit während des Zweiten Weltkriegs an sie erinnert. Erstens gleich bei Eintritt, so er das erste der »10 Gebote für die Kriegführung des deutschen Soldaten« las: »Der deutsche Soldat kämpft ritterlich für den Sieg seines Volkes. Grausamkeiten und nutzlose Zerstörun65 Annette Schücking an ihre Mutter, 6. 5. 1942, in: ebd., S. 280-282. 66 Vgl. Annette Schücking in einem Brief an ihre Mutter vom 21. 11. 1942 rückblickend auf ihre Zeit in Zwiahel, in: ebd., S. 389. Insgesamt an 47 Stellen benutzte Annette Schücking in ihren Briefen und Tagebucheinträgen den Begriff »Kamerad« bzw. »Kameradin«. 67 Vgl. Annette Schücking an ihre Mutter, 2. 12. 1941 und 14. 12. 1941, in: ebd., S. 173 f., 186. 68 Vgl. Annette Schücking an ihre Mutter, 29. 1. 1942, in: ebd., S. 223 f., und an ihren Vater, 19. 3. 1942, in: ebd., S. 248-250. 69 Vgl. Annette Schücking an ihre Mutter, 13. 1. 1942, in: ebd., S. 206 f.

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gen sind seiner unwürdig.«70 Zweitens später, wenn er im Feld an seine »Ritterlichkeit« erinnert und ermahnt wurde, dass »ein korrektes und sauberes Verhalten gegenüber jeder deutschen Frau Ehrensache« sei, »erst recht in Feindesland beim gemeinsamen Kriegseinsatz«.71 Dem Vorwurf der Unmoral und Liederlichkeit jedoch wurden ausschließlich die an der oder nahe der Front tätigen Frauen ausgesetzt. Allein ihre Präsenz in diesem Raum, die sowohl territoriale wie kulturelle Grenzen der traditionellen Geschlechterordnung infrage stellte, reichte aus, um in einer speziellen Anordnung zur Aufsicht über die Betreuungshelferinnen darauf hinzuwirken, dass deren Dienst ausschließlich in einem »geschlossenen Einsatz«, das heißt innerhalb von Soldatenheimen oder dergleichen zu erfolgen habe, da außerhalb dieser Einrichtungen eine »ordnungsmäßige Überwachung dieser Kräfte nicht möglich ist und eine Gewähr für tadellose Haltung und Führung der Helferinnen nicht übernommen« werden könne.72 Demgegenüber nutzte Annette Schücking dieses Geschlechterarrangement, um auf dem ihr zugewiesenen Posten als Ausnahmeerscheinung und Sonderfall die Position der gleichermaßen (An-)Teilnehmenden ausüben zu können. Auf dieser Ebene adaptierte sie den Begriff der »Kameradschaft« schließlich für sich selbst, insbesondere wenn sie das ihr entgegenbrachte Vertrauen und die Erfahrung einer (vermeintlich übergeschlechtlichen) egalitären Gemeinschaft betonte.73 In diese »innige Gemeinschaft« bezog sie ihre Mitschwester Julie Zell als »Kameradin« ein,74 deren Zuverlässigkeit sie wiederholt hervorhob. Insbesondere aber bewunderte sie ihren Mut und ihre Entschlossenheit, Eigenschaften, die Annette Schücking bislang nur bei Män70 Vgl. Gustav-Adolf Caspar, Ethische, politische und militärische Grundlagen der Wehrmacht, in: Hans Poeppel / Wilhelm-Karl Prinz von Preußen / Karl-Günther v. Hase (Hg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 30. 71 Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht bzgl. der Behandlung von Nachrichtenhelferinnen, zit. nach: Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst (wie Anm. 34), S. 62. 72 Anordnung Nr. 9 /43. Betr.: Einsatz von DRK-Helferinnen im Betreuungsdienst des Heeres, DRK-Präsidium, 19. 1. 1943 mit Bezug auf ein Schreiben des DRK-Präsidiums an den General z. B.V.IV. vom 18. 12. 1942, DRK-Archiv Berlin, RK 96. Bereits im Ersten Weltkrieg waren Vorbehalte gegenüber dem angeblich unmoralischen Verhalten von Etappenhelferinnen aufgekommen, denen man – im Unterschied zu den DRK-Schwestern im Krankenpflegedienst – allein aufgrund ihrer zumeist nicht adligen oder großbürgerlichen Herkunft unterstellte, lediglich »Kriegsgewinnlerinnen« zu sein und keinen ausgeprägten »weiblichen Patriotismus« zu besitzen. Vgl. hierzu: Karen Hagemann, Female Patriots: Women, War and the Nation in the Period of the Prussian-German Anti-Napoleonic Wars, in: Gender & History 16 (2004), S. 397-424; Schulte, Schwester (wie Anm. 34), S. 95-116. Wenngleich im Zweiten Weltkrieg keine derartigen klaren sozialen Trennlinien unter dem DRK-Personal mehr auszumachen waren, gab es dennoch erneut Gerüchte über Helferinnen als »Flintenweiber« oder »Frontgirls«. Vgl. u. a. Ina Seidel / Hanns Grosser, Dienende Herzen. Kriegsbriefe von Nachrichtenhelferinnen des Heeres, Berlin 1942, S. 77 f. 73 Vgl. Annette Schücking an ihre Mutter, 21. 11. 1942, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 389 f., sowie an ihre Mutter, 4. 1. 1942, in: ebd., S. 202; an ihre Schwester Sibylle, o. D. [vermutlich 15. 6. 1942], in: ebd., S. 303, sowie an ihren Vater, 26. 3. 1942, in: ebd. S. 254-256. 74 Ebd.

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nern wahrgenommen und ausschließlich ihnen zugeschrieben hatte.75 Von hier war es schließlich nur ein kurzer Gedankenweg bis zu dem Wunsch, selbst Teil der kämpfenden Truppe sein zu können und ihrer beider Zusammenleben als »völlig männliche Kameradschaft« zu bezeichnen. Insofern erstaunt es nicht, dass sie mehrfach davon schreibt, ähnlich wie Julie Zell »am liebsten ein Junge« sein zu wollen.76 Unter der Perspektive der Verschiebung von traditionellen Geschlechterrollen erscheint dieser Wunsch nur konsequent und lässt sich sowohl als Akt der Befreiung von engen Geschlechterrollenvorgaben lesen wie auch als eine Form des Selbstschutzes – ein letztlich vergebliches Bemühen, gänzlich dazugehören zu wollen und zu können.77 Zugleich verdrängte dieser Wunsch die zumindest anfangs vorhandenen erotischen beziehungsweise »geschlechtlichen Spannungen«, wie auch das prekäre Problem der sexuellen Übergriffe durch Soldaten.78 Spielte anfangs die weithin propagierte Vaterlandsliebe und Pflichttreue gegenüber den Soldaten nur eine geringe Rolle in Annette Schückings Briefen, geriet mit zunehmender Kriegsdauer und unter Verwendung der kollektivierenden Kameradschaftsmetapher das Motiv des Einsatzes für die Soldaten wie auch das Motiv des Einsatzes mit den Soldaten zur ausschlaggebenden Begründung, »im Osten« zu bleiben. Tatsächlich fühlten sich die beiden Helferinnen insbesondere dadurch ausgezeichnet, dass sie sich mittlerweile die nötige Härte angewöhnt hatten, um unter den besonderen Bedingungen auszuhalten: »Hier im Osten können nur innerlich ganz starke Frauen gebraucht werden, die genau wissen, was sie verantworten können und was nicht.«79 Vergleichbar den Wehrmachthelferinnen, empfanden sich diese zivil-militärischen Zwitterfiguren als »Helferinnen in den Fußspuren der Soldaten«,80 die ihren Dienst an den Soldaten nicht zuletzt als notwendige Bedingung erachteten, weil er den Kampfeinsatz der Soldaten überhaupt erst ermöglichte. Diese idealisierte Kampfgemeinschaft wurde auch von der nationalsozialistischen Ideologie aufgegriffen und insbesondere an der Front »in den Rang einer Staatsideologie« erhoben.81 Schließlich sollte »dieser Krieg, der die restlose Beseitigung der 75 Vgl. u. a. die Briefe Annette Schückings an ihren Vater, 23. 11. 1941, in: ebd., S. 165-167, und an ihre Mutter, 21. 1. 1942, in: ebd., S. 215 f. 76 Ebd. 77 Vgl. u. a. Annette Schücking an ihre Mutter, o. D. [29. 1. 1942], in: ebd., S. 223 f., und ihren Tagebucheintrag vom 9. 1. 1942, in: ebd., S. 204. Vgl. zu dem Bedürfnis, wie ein »Junge« oder »als Mann« ihren »Dienst« an der Front ausüben zu können, Elfriede Schade-Bartkowiak, »Sag mir, wo die Blumen sind …« Unter der Schwesternhaube. Kriegserinnerungen einer DRK-Schwester im II. Weltkrieg an der Ostfront, Hamburg 1989, S. 13 f. Vgl. demgegenüber Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 156. 78 Vgl. Annette Schücking an ihre Mutter, 21. 6. 1942, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 309. Vgl. zum Thema männliche »Zärtlichkeit« bzw. (Homo-)Erotik an der Front: Kühne, Kameradschaft (wie Anm. 77), S. 72-78, 158-165. 79 Vgl. Annette Schücking an ihre Mutter, 6. 5. 1942, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 280-282. 80 Maubach, Expansionen (wie Anm. 36), S. 85. Vgl. auch dies., Stellung halten (wie Anm. 15), S. 109. 81 Thomas Kühne, Imaginierte Weiblichkeit und Kriegskameradschaft. Geschlechterverwirrung

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bolschewistischen Gefahr zum Ziele hat, […] in einem weiteren Sinne auch um die Zukunft der deutschen Frau durchgekämpft [werden]«, und dies nicht zuletzt durch die »Einziehung der Frau in die Kampffront«.82 Dabei erhielt die (gleichwohl nur) unterstützende Rolle von Frauen an der Seite der männlichen Soldaten durch die Konstruktion des Kameradschaftsideals zwischen den Geschlechtern ihre Rahmung. Der hierin eingeschriebene Verhaltenskodex der Askese verbindet sich bei Annette Schücking allerdings weniger mit rassenbiologistisch aufgeladenen Moralvorstellungen als mit dem – im hohen Maße familiär vermittelten – Prinzip der Disziplin: »Wir wollten eben Männer wie Brüder ansehen, wie große Kinder, denen man helfen muss, die man oft sorgsam behandeln muss, da sie unartig, quengelig, verdreht sind« – nicht zuletzt um den Preis, dass »geschlechtliche Spannungen […] gewaltsam unterdrückt« wurden.83 Bei diesen Vorstellungen zwischengeschlechtlicher Beziehungsordnung schwang neben dem bekannten Kranken-Schwester-Motiv, das keine sexuelle Verbindung zum »Bruder« Soldat vorsah, auch das Motiv einer kameradschaftlich-geschwisterlichen Beziehung mit. Dass diese Bilder mit der Realität des an der Ostfront praktizierten Vernichtungskrieges und der damit einhergehenden Geschlechterordnung nicht in Einklang zu bringen waren, verraten Hinweise auf Gewaltakte und sexuelle Übergriffe in Annette Schückings Briefen.84

3. Fazit Der hier vorgestellte Quellenkorpus ist nicht nur vor dem Hintergrund der spezifischen Bedeutung der Gattung Feldpostkorrespondenz im Rahmen der Erforschung des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Vor allem die Tatsache, dass die überlieferten Berichte und Reflexionen – obgleich nahe der Kriegsfront – nicht von einem Soldaten stammten, sondern von einer Tochter aus »gutem Hause« und einer anti-nationalsozialistischen Familie, einer angehenden Juristin und jungen DRK-Schwesternhelferin im Gefolge der Wehrmacht, ermöglicht – neben dem Einblick in ein bislang eher unbekanntes Milieu – einen wesentlichen Wechsel in der Geschlechterperspektive des Kriegs. Insbesondere dieser Zugang ist es, der sowohl den Handlungsraum der DRKSoldatenheimschwestern als auch die von der Protagonistin Annette Schücking dezidiert eingeforderte Gemeinschaft in den Blickpunkt der vorliegenden Quellenanalyse rückte. Dabei wurde jedoch deutlich, dass sich faktisch zwar der Ort und Geschlechterordnung 1918-1945, in: Hagemann / Schüler-Springorum (Hg.), Heimat – Front (wie Anm. 34), S. 237-257, hier: S. 248. 82 Art. »Kein Opfer ist zu groß: Die Frau im totalen Krieg«, in: Die Wehrmacht 2 /5 (1943), S. 8. 83 Annette Schücking an ihre Mutter, 21. 6. 1942, in: Paulus, Soldatenheimschwester (wie Anm. 1), S. 309; vgl. hierzu auch Annette Schücking an ihre Mutter, 16. 11. 1942, in: ebd., S. 381-383. Vgl. zu ihren Reflexionen über den Verlust von »Liebesfähigkeit«: Annette Schücking an ihre Eltern, 12. 11. 1942, in: ebd., S. 371-373. 84 Neben dem bereits zitierten Vorfall, von dem sie in ihrem Brief vom 6. 5. 1942 berichtet, vgl. auch: Annette Schücking an ihren Vater, 26. 3. 1942, in: ebd., S. 254-256; an ihre Mutter, 1. 6. 1942, in: ebd., S. 293-295, und an ihre Schwester, 25. 6. 1942, in: ebd., S. 313 f.

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veränderte, an dem Frauen nun auch ihren Dienst verrichteten (statt an der Heimatan der Kriegsfront), nicht jedoch die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten. Weder löste sich die in diesen Assistenz-, Pflege- und Versorgungshandlungen eingeschriebene Geschlechterdifferenz durch die Verschiebungen des Raumes auf, noch kam es durch diese Veränderung zu einer – erhofften – neuen Geschlechtergemeinschaft.85 Insofern handelt es sich bei dieser »Kriegsgemeinschaft« trotz aller »Verflechtung der geschlechtsspezifischen Lebenswelten« eben nicht um eine realiter erfahrene »Nivellierung der Geschlechterdifferenz«,86 wenngleich es unter den nahe der Front stationierten Frauen sicherlich den Wunsch, vielleicht sogar die Erwartung gab, dass sich das Geschlechterverhältnis infolge des gemeinsamen Einsatzes angleichen würde. Stattdessen perpetuierten sich traditionelle geschlechtsspezifische Verhaltensweisen gerade in Zeiten der vermeintlichen Transformation einer homosozialen zu einer geduldeten Zweigeschlechtlichkeit an der Front. Auf diese Weise erhielten selbst ambivalente Kameradschaftserlebnisse, wie sie an vielen Stellen in Annette Schückings Briefen deutlich werden, eine Umwertung, nach der es galt, auszuhalten und zu bleiben; eine Haltung übrigens, die viele – auch männliche – Kriegserzählungen prägte und die nicht zuletzt dadurch zu einer kollektiven Identitätsbildung im Rahmen eines »Volksgemeinschaft«-Narrativs beitrug.87

85 Vgl. dazu den Beitrag von Frank Werner in diesem Band. 86 Sybille Steinbacher, Differenz der Geschlechter? Chancen und Schranken für die »Volksgenossinnen«, in: Frank Bajohr / Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zu Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt 1999, S. 94-105, hier: S. 99 f. 87 Vgl. Thomas Kühne, Gruppenkohäsion und Kameradschaftsmythos in der Wehrmacht, in: Rolf-Dieter Müller / Hans-Erich Volkmann (Hg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 534-550, hier: S. 536 f.

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»Es ist alles verkehrt in der Welt« Eine Ehe als Leistungsgemeinschaft im Krieg Es ist kein Feuerwerk des Frohsinns, das Albert Neuhaus am Neujahrsmorgen 1941 abbrennt: »Agnes, Du kannst Dir nicht vorstellen, was es mir im Innern eine Qual ist, Soldat zu sein.« Das gesteht er seiner Ehefrau nach durchzechter Nacht und doch »todnüchtern«. Der 31-jährige Kaufmann ist zutiefst frustriert. Während er als Soldat in Frankreich ausschließlich gegen seine Langeweile kämpft, hat Agnes in der Heimat alle Hände voll damit zu tun, das gemeinsame Feinkostgeschäft über Wasser zu halten. Dieses Missverhältnis bei der Verteilung der Arbeit kränkt ihn, es beschämt ihn als Mann: »Du kannst immer das frohe Bewußtsein haben, daß sich die Arbeit lohnt. Aber ich, ein Kerl im besten Arbeitsalter, liege hier, zur Untätigkeit verdammt […].«1 Einige Monate später, im Herbst 1941, wirkt Albert wie ausgewechselt. Erfolge an der Front in Russland haben den Frust weggespült. Jetzt ist es Agnes, die sich bitter beklagt – über die Prahlerei ihres Gatten, der allzu gern von Gefechten schwärmt. Sie legt ihm nahe, sich auf eine Beamtenstelle in der Heimat zu bewerben. Albert reagiert, als hätte die Ehefrau eine Beleidigung ausgesprochen. Die Abfuhr ist deutlich: »Du schwärmst da mehrfach von der Zahlmeister-Lauf bahn, ich habe Dir darüber ja schon meine Ansicht geschrieben und kann auch nach tagelangem Überlegen kein Jota von meiner Ansicht abgehen. Hier vorne werde ich gebraucht und ich bin stolz darauf, daß ich gebraucht werde. […] Du magst vielleicht mit dem Kopf schütteln und denken, so was Verrücktes, aber hier werden in erster Linie Männer gebraucht und keine Zahlmeister.«2 In Frankreich wäre er am liebsten vor Scham im Boden versunken, doch nun schwillt dem Mann vor Stolz die Brust. Albert gefällt sich in der Rolle des Soldaten – seine Männlichkeit ist kuriert. Diese beiden Schlaglichter aus der Feldpost-Hinterlassenschaft von Agnes und Albert Neuhaus deuten an, in welcher emotionalen Währung der Soldat seinen Kriegseinsatz verbuchte: als Gewinn und Verlust von Männlichkeit. Empfindungen des Stolzes oder der Scham erscheinen als Gefühlstemperaturen einer Männlichkeit, die zwar – ganz im nationalsozialistischen Sinn – auf den Krieg fixiert war, aber erst als erfüllend empfunden wurde, wenn zugleich der Nachweis von Tüchtigkeit und 1 Albert an Agnes, 1. 1. 1941; zit. nach: Franz-Josef Jakobi / Roswitha Link (Hg.), Zwischen Front und Heimat. Der Briefwechsel des münsterischen Ehepaares Agnes und Albert Neuhaus 19401944, bearb. von Karl Reddemann, Münster 1996, S. 126. Grammatik- und Orthografie-Fehler in den Briefen wurden in der Edition nicht korrigiert. 2 Albert an Agnes, 14. 11. 1941 (Herv. im Orig.), in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 351.

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Leistung erbracht werden konnte. Seiner Ehefrau empfahl sich Albert nur dann als vollwertiger Mann, wenn er die bessere, die produktivere »Arbeit« verrichtete. Dieser Beitrag versucht das Spannungsfeld von ziviler und militärischer Leistung zu vermessen, in dem sich Albert als Soldat bewegte und in dem die Eheleute Neuhaus das Verhältnis von »weiblicher« Heimat und »männlicher« Front absteckten. Was verrät uns die Feldpost-Korrespondenz des Ehepaares darüber, ob und in welcher Weise die Verpflichtung von Männern und Frauen auf die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« die bis dahin gültigen Geschlechtergrenzen verschob, sie einebnete oder neu konturierte? Nach einleitenden quellenkritischen Überlegungen steht im ersten Teil die Kriegskarriere von Albert Neuhaus im Mittelpunkt. Der Beitrag geht der Frage nach, was den im Berufsleben stehenden Kaufmann gedanklich in den Krieg führte und was dort sein Selbstverständnis als Soldat bedrohte und beschädigte. In den Blick gerät unweigerlich die Bindungskraft soldatischer Männlichkeitsideale, die jedoch selbst gebunden blieben – an die Notwendigkeit, Anerkennung durch überlegene Leistung zu erwerben. Darauf aufbauend wird nach den Geschlechterbeziehungen gefragt, nach den Entwürfen von Männlichkeit und Weiblichkeit im Dialog der Ehepartner. In welches Verhältnis zueinander wurden ihre Rollen gesetzt, und wie wirkte der Eintritt in neue Handlungsfelder – Albert an der Front, Agnes im Geschäft – auf das jeweilige Ordnungsdenken zurück? Es wird gezeigt, dass beide Partner ihren Platz in einer geschlechterübergreifenden, als Diktat des Krieges empfundenen Einsatz- und Leistungsgemeinschaft suchten. Ihre Ehe betrachteten sie dabei als gemischtes, aber keineswegs gleichrangiges Doppel für den Sieg. Besonders harmonisch war ihr Zusammenspiel immer dann, wenn es darum ging, die traditionelle Hierarchie der Geschlechter neu zu arrangieren, aber im Kern zu reproduzieren.

1. Zwei Kaufleute aus Westfalen Auskunft über Brüche und Kontinuitäten im Geschlechterdenken geben Feldpostbriefe und -karten, die sich das Ehepaar zwischen Mai 1940 und März 1944 geschrieben hat. Auch wenn die überlieferte Korrespondenz erhebliche Lücken aufweist und besonders die Schreiben von Agnes über weite Strecken fehlen: Es sind gerade Konversationen dieser Länge und Dichte, die einen vergleichsweise tiefen Einblick in Wahrnehmungs- und Deutungsweisen geben.3 Jeder Einzelbrief mag als subjektives Zeugnis gelten, aber nur Briefserien legen umfassend Zeugnis über die Subjekte ab: Erst im Zeitverlauf werden Widersprüche und Wandlungen einer Persönlichkeit erkennbar.4 Grenzen der Selbstdarstellung zog die Zensur, die keinen Defätismus er3 Die Post von Agnes Neuhaus fehlt zum Teil über Monate hinweg; unter den 650 Briefen und Karten befinden sich nur 109 Schreiben aus ihrer Hand; vgl. Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. IX . 4 Vgl. Klaus Latzel, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militär-

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laubte, mehr noch aber die Selbstzensur, die wiederum Ausdruck des geläufigen Geschlechterdenkens sein konnte. So gehörte es für Albert zu den Geboten der Männlichkeit, der Ehefrau, trotz gelegentlicher Ausrutscher wie am Neujahrsmorgen 1941, möglichst aufmunternde Briefe zu schicken und die Grausamkeiten und Gefahren des Krieges mit sich selbst auszumachen.5 Generell zeigen Briefwechsel zwischen Männern und Frauen, wie Geschlechterrollen am jeweils Anderen ausgerichtet, ja wie sie vom Ehepartner mitbestimmt werden – durch Erwartungen, Lob und Tadel, bestätigende oder verunsichernde Botschaften. In längeren Dialogen schälen sich so die Normen und Ideale heraus, an denen sich die Eheleute orientieren, und die sie im Gespräch bestätigen, verändern oder aufbrechen. Die Briefserie des Ehepaars Neuhaus wirft ein Licht auf die letzten gemeinsamen Jahre im Krieg, die Zeit davor bleibt weitgehend im Dunkeln. Aufgewachsen waren Agnes und Albert in kleinbürgerlich-katholischen Verhältnissen in Westfalen. Agnes, geboren 1908, entstammte einer Kaufmannsfamilie aus Münster. Schon als Kind half sie in der Wild- und Geflügelhandlung ihres Vaters aus und erlebte nach dessen Tod, wie die Mutter den Laden weiterführte. Albert, geboren 1909, war der Sprössling einer Handwerkerfamilie im Hochsauerland. Später zog er zu einem Onkel nach Münster, wo er die Mittlere Reife ablegte, sich zum Einzelhandelskaufmann ausbilden ließ und als Vertreter für diverse Großhandlungen arbeitete. Albert und Agnes heirateten im Juni 1936. Zwei Jahre darauf erfüllten sie sich einen beruflichen Traum: Im Oktober 1938 übernahmen sie als Pächter ein kleines Feinkostgeschäft am Hansaplatz in Münster.6 Den eigenen Laden betrachteten sie als »gemeinsames Werk«, das beide arbeitsteilig verrichteten: Agnes bediente die Kunden, Albert führte das Geschäft und die Bücher.7 Da der Laden nicht genug abwarf, verdingte er sich nebenbei weiter als Handelsreisender. Zudem engagierte er sich im Katholischen Kaufmännischen Verein, einem berufsständischen Zusammenschluss des gewerblichen Mittelstandes in Münster. Politisch passte Albert sich den neuen Zeiten an: Aus dem nationalkonservativ Gesinnten wurde zwar kein glühender Anhänger der NSDAP, aber immerhin ein Mitglied der örtlichen SA .8

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geschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 1-30, hier: S. 27; Klaus Latzel / Franka Maubach, »Kriegsbrautleute«. Zukunftssehnsüchte und Beziehungsrealitäten eines nationalsozialistischen Paars im Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), S. 294322; Birthe Kundrus, Nur die halbe Geschichte. Frauen im Umfeld der Wehrmacht zwischen 1939 und 1945 – Ein Forschungsbericht, in: Rolf-Dieter Müller / Hans-Erich Volkmann (Hg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 719-735, hier: S. 730. Albert räumt ein, in fast jedem Brief eine »Beruhigungspille« zu verabreichen; 20. 8. 1943, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 955. Offener über den Krieg schreibt er in den z. T. parallel überlieferten Tagebucheinträgen. Aus welchem Grund die Hansaplatz-Wohn GmbH das Geschäft neu verpachtete, ob die neuen Mieter möglicherweise von einer »Arisierung« profitierten, ließ sich nicht ermitteln. Albert an Agnes, 4. 7. 1940, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 32. Vgl. ebd., S. XVIII-XXV. Möglicherweise erfolgte der SA-Beitritt 1933 über eine Mitgliedschaft im Stahlhelm.

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2. Albert Neuhaus: Langeweile und Leistungsstolz Agnes und Albert Neuhaus waren also auf dem besten Weg, sich eine Existenz aufzubauen, als der Krieg in ihr Leben schnitt. Gleichwohl konnte Albert seiner Einberufung im Mai 1940 etwas abgewinnen. Zwar hielt er sich mit 31 Jahren für zu alt, um in den Krieg zu ziehen – aber den Krieg für so schnell zu gewinnen, dass er seine Karriere bald würde fortsetzen können. In Erwartung eines zeitlich überschaubaren Kameradschaftsabenteuers ließ er Agnes im ersten Brief aus dem Wehrdienst wissen, wie »schön« es sei, Soldat zu sein.9 Empfänglich zeigte sich Albert vor allem für den Lohn, den die Strapazen und Entbehrungen versprachen: »Tüchtig ran« würden die Rekruten genommen, doch dafür kämen sie als »ganz andere Kerle wieder heim«.10 Dass die soldatische Ausbildung zum echten Mann beförderte, gehörte für Albert zu den bekannten Durchhalteprämien des Militärs. Der Rekrut wusste um die besondere Aura, die ihn in der »schmucken« Uniform umgab; die Komplimente, die er sich für das mitgeschickte Porträt und seine geflissentlich vermeldeten Schießerfolge abholte, wirkten wie bestellt. Agnes schmeichelte ihm in seinen eigenen Worten: »Du bist ja ein ganz schmucker Soldat, und ich bin stolz auf so einen Soldat und tüchtigen Schützen.«11 Einträchtig versicherten beide einander, dass und wie sehr Albert beim Militär an Statur gewonnen hatte. Doch je länger der Dienst dauerte, desto nachdrücklicher formulierte Albert den Wunsch, er möge enden. Die Ausbildung kam ihm zunehmend sinnlos vor: »Nutzlose, unbefriedigende Arbeit« müsse er im Lehrgang für Unteroffiziersanwärter verrichten. »Das, was uns hier eingetrichtert wird, hat eben für unseren Beruf keinen Wert […]. Aber gerade unser Beruf ist doch unsere Freude.«12 Schon nach drei Monaten hatte das militärische Abenteuer erheblich an Reiz verloren; die zivile Existenz rückte wieder in den Mittelpunkt. Das stolze Selbstgefühl des Soldaten schwand in dem Maße, in dem der militärische Dienst das Streben nach Leistung nicht mehr honorierte. Als Artilleriebeobachter erlernte Albert das technische Handwerk des Krieges, das er – seine Berufserfahrung warf Schatten – als »Arbeit« beschrieb und nach gewohnten Leistungsmaßstäben bewertete.13 Je unproduktiver ihm dabei der Dienst in der Wehrmacht vorkam, desto 9 Albert an Agnes, 6. 6. 1940, in: ebd. (wie Anm. 1), S. 3. Albert wurde im pommerschen Belgard bei der Artillerie ausgebildet. Sein nicht mehr jugendliches Alter und die beruflich-familiäre Existenz führte er mehrfach als Hindernis dafür an, in der soldatischen Rolle aufgehen zu können; siehe seine Briefe vom 7. 8., 1. 9, 2. 9. 1940, 1. 1. 1941, in: ebd., S. 57, 85, 87, 125 f. 10 Albert an Agnes, 6. 6. 1940, in: ebd., S. 3. 11 Agnes an Albert, 30. 6. 1940; Albert an Agnes, 23. 6., 26. 6. und 30. 6. 1940, in: ebd., S. 11 f., 20, 22, 29. Mit Bourdieu gesprochen, übernahmen Frauen die Rolle von »schmeichelnden Spiegeln«, die Männern ein vergrößertes Bild ihrer selbst zurückwarfen: Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt a. M. 1997, S. 153-217, hier: S. 203. 12 Albert an Agnes, 1. 9. und 2. 9. 1940, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 85, 87. 13 Zum Topos der »Arbeit« siehe Alf Lüdtke, War as Work. Aspects of Soldiering in TwentiethCentury Wars, in: ders. / Bernd Weisbrod (Hg.), No Man’s Land of Violence. Extreme Wars

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vehementer ersehnte er die Heimkehr. Doch erst der unmittelbare Vergleich mit Agnes, die sich zu Hause »abrackern und plagen« musste, ließ die eigene Untätigkeit nicht nur ärgerlich, sondern skandalös erscheinen. Im August und September 1940 schrieb sich Albert regelmäßig den Frust von der Seele: »Mir kommt manchmal das kalte Kotzen, wenn man hier so unproduktive Arbeit machen muß und zu Hause hätte man Arbeit in Hülle und Fülle, und dann noch mit dem Gedanken, daß das alles auf weiblichen Schultern ruht. […] Es geht manchmal verkehrt zu in der Welt.«14 Erst diese »verkehrte Welt« – die falsch verteilte Arbeitslast, der Rückfall hinter das Pensum seiner Ehefrau – ließ Albert innerlich desertieren. Sein Verdruss wuchs noch, als er nach Westfrankreich abkommandiert wurde und dort in den Routinen des Besatzungsdienstes versank. Hatte Albert seine Ehefrau am Ende der Rekrutenzeit noch selbstbewusst »als Soldat der deutschen Wehrmacht« gegrüßt, war dieses identifikatorische Potenzial am Neujahrstag 1941 – wie eingangs zitiert – endgültig aufgebraucht.15 Hier könnte die Geschichte enden: ein Soldat am Tiefpunkt, darum bettelnd, aus dem »Zwangsbau« entlassen und »nach Hause« geschickt zu werden.16 Doch Albert wandte sich nicht vom Militär ab, sondern von den Umständen seines Einsatzes. Und schon bald schlich sich ein neuer Gedanke in seine Briefe, ein alternativer Fluchtpunkt aus der Langeweile: der Kampf an der Front. Nach einem Manöver erfuhr die verblüffte Agnes im Februar 1941 von Albert, dass Heimkehr nicht mehr sein dringendstes Anliegen war: »Ich bin überzeugt davon, daß wir später beim Einsatz innerhalb kürzester Frist feindliche Feuerstellungen aufgeklärt und dann auch schnell vernichtet haben. Und da möcht ich wirklich mit dabei sein. Das würde mich später mit Stolz erfüllen, tatkräftig mit dabeigewesen zu sein und nicht als Drückeberger mich in der geschützten Heimat betätigt zu haben.«17 Versetzte Albert sich gedanklich an die Front, kehrte das Gefühl des Stolzes zurück: Dann imaginierte der enttäuschte Etappensoldat sich als erfolgreicher und erhabener Mann, der keinen Leistungsvergleich zu scheuen brauchte. Zum Vorschein kommt das traditionelle, von der nationalsozialistischen Propaganda massiv stimulierte Bewährungsmotiv, nach dem der echte, der »hegemoniale

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in the 20th Century, Göttingen 2006, S. 127-151. Lüdtke argumentiert, im Modus der »Arbeit« hätten sich die Soldaten den Krieg angeeignet, ihn zu einer »guten Sache« gemacht. Im Fall von Albert Neuhaus hingegen wird deutlich, dass es nicht nur darum ging, eine bekannte Sinnwelt auf den Krieg zu übertragen, sondern auch darum, den Krieg an der bekannten Arbeit zu messen. Das Ethos der guten Arbeit ließ Albert jubeln, wenn die eigenen Granaten ihr Ziel fanden, und es ließ ihn mit der Rolle des Soldaten hadern, wenn die Kriegsarbeit im Vergleich zur Heimat als »weniger lohnend« erschien; siehe dazu Alberts Briefe vom 23. 9. 1940, 14. 9. 1941, 7. 8. 1942, 4. 3. 1943, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 98, 308, 575, 784. Albert an Agnes, 29. 8. 1940 und 3. 9. 1940, in: ebd., S. 82, 89. Albert an Agnes, 7. 8. 1940, in: ebd., S. 57. Albert an Agnes, 7. 10. 1940, in: ebd., S. 108. Albert an Agnes, 9. 2. 1941, in: ebd., S. 157.

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Mann« durch das Feuer der Front gegangen sein musste.18 In hämmernder Wiederholung statuierte, inszenierte und ästhetisierte das NS -Regime den Frontkämpfer als männliches role model und als Leistungsträger der Nation: Das Männlichkeitsideal entgrenzte zum Gesellschaftsideal, zum Emblem der »Volksgemeinschaft«, die geschlechterübergreifend als soldatische »Kampfgemeinschaft« choreografiert wurde.19 Dem Anpassungsdruck dieser militärisch-männlichen Leitkultur konnten sich auch berufstätige Männer, die sich über zivile Erwerbsarbeit definierten, nur schwer entziehen. Alberts notorische Versäumnisängste galten im Frühjahr 1941 nicht mehr dem vernachlässigten Geschäft, sondern dem vorenthaltenen Fronteinsatz: »Nur wir armen Landser sitzen hier und müssen zukucken, wie sich andere die Lorbeeren pflücken. Wäre es nicht schimpflich, wenn der Krieg aus ist und wir hätten nur die Aufgabe gehabt, ein besiegtes Land besetzt zu halten?«20 Seine Furcht, als »Drückeberger« beschämt zu werden, behielt Albert nicht für sich, obwohl diese Zeilen schwere Kost sein mussten für die wartende Ehefrau. Agnes’ Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: »Und eins, Albert, kann ich wirklich nicht verstehen von Dir, fast in jedem Deiner letzten Briefe schreibst Du, Du möchtest gerne nach vorne, mehr an die Front, Albert, lieber Albert, was soll das bedeuten, wenn Du wüßtest, daß Du mich ganz furchtbar damit in Unruhe gebracht hast, hättest Du es nicht geschrieben.« Auch die Ehefrau scherte sich nun nicht mehr um Konventionen des Front-HeimatGespräches, die aufmunternde und beruhigende Botschaften verlangten. Ihr anhaltendes Kopfschütteln blieb Albert nicht verborgen: »Ich habe wirklich an nichts mehr Lust, wenn Du solchen Gedanken nachgehst. Denkst Du denn wohl an mich??? Mir ist es zehnmal lieber, Du wirst garnichts bei den Soldaten, als wenn Du nur einen Tag jetzt in Afrika wärst.«21 Agnes war nicht länger bereit, die Rolle der »tapferen Soldatenfrau« zu spielen, die ihren Kummer klaglos wegsteckte und bewundernde Worte für den Ehrgeiz ihres Mannes fand.22 18 Siehe zum Konzept »hegemonialer Männlichkeit«: R. W. Connell / James W. Messerschmidt, Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept, in: Gender & Society 19 (2005), S. 829859; Michael Meuser / Sylka Scholz, Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M. 2005, S. 211-228. 19 Vgl. Frank Werner, »Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser«. Soldatische Männlichkeit im deutschen Vernichtungskrieg 1941-1944, in: Anette Dietrich / Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2013, S. 45-63. 20 Albert an Agnes, 4. 5. 1941, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 167. 21 Agnes an Albert, 12. 5. 1941 (Herv. im Orig.), in: ebd., S. 178. 22 Vgl. Christa Hämmerle, Gewalt und Liebe – ineinander verschränkt. Paarkorrespondenzen aus zwei Weltkriegen: 1914 /18 und 1939 /45, in: Ingrid Bauer / Christa Hämmerle (Hg.), Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, S. 171-230, hier: S. 206. Siehe auch Inge Marszolek, »Ich möchte Dich zu gern mal in Uniform sehen«. Geschlechterkonstruktionen in Feldpostbriefen, in: WerkstattGeschichte 22 (1999), S. 41-59, hier: S. 48.

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Aus dieser Irritation erwuchs ein offener Konflikt, als Albert im Juni 1941 am Feldzug gegen die Sowjetunion teilnahm. Anfangs wähnte er sich auf einer beschaulichen »KdF-Reise«, doch das änderte sich, als er Mitte Juli berichten konnte, man habe den Russen »ganz furchtbar Zunder« gemacht; er selbst habe das eigene Feuer so präzise geleitet, dass alles »in Klumpen geschossen« worden sei.23 Der »Kriegsarbeiter« Neuhaus war nun in seinem Element: »Hier ist manches Husarenstück geleistet worden. Man muß aber auch sagen, daß jeder Soldat sein Letztes aus sich herausgeholt hat. Im Anfang dieses Feldzugs glaubten wir uns schon überflüssig, aber diese Meinung habe ich 100 tig korrigieren müssen.«24 In den Artilleriegefechten erbrachte Albert die Leistung und erntete die Anerkennung, die er als Soldat so lange vermisst hatte. Bescheidenheit gehörte in diesen Wochen nicht zu seinen Schwächen: »Kannst Du Dir unsere stolz geschwollenen Brüste wohl vorstellen? […] O ja, unsere Abteilung hat sich hundertfach bewährt und unser Ansehen geht hinauf bis zu den höchsten Stellen.«25 Im Sommer und Herbst 1941 feierte sich Albert als leistungsstolzer Held der Ostfront, so als hätte es ein anderes Kapitel seiner Kriegsbiografie nie gegeben. Im Oktober zählte er »schon über 40 Einsätze« – bis er mit zunehmender Dauer des Feldzugs keinen Bedarf mehr verspürte, die Liste zu verlängern. Etwas anderes trat in den Vordergrund: die wachsenden körperlichen und nervlichen Belastungen. Seine Batterie war in den Mittelabschnitt der Ostfront verlegt worden und versank vor Moskau im Schlamm.26 Doch was sich in Alberts Briefen änderte, war die Tonlage, nicht das Thema. Er beschrieb, was Soldaten wie er, die »fast bis an die Knie […] durch den Dreck waten, […] in mannhafter Pflichterfüllung leisten«.27 Damit lag er im Tenor der Ostfront-Briefe aus dieser Zeit: Nach den Siegen des Sommers hoben die meisten Soldaten die überwundenen Strapazen hervor – als Nachweis einer überlegenen, durch maximale Leistung unter Beweis gestellten Männlichkeit.28 Als Agnes von der »mannhaften Pflichterfüllung« las, hatte sie all ihre Hoffnungen, Albert zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen, längst in einen Brief gesteckt; beigefügt ein Zeitungsartikel über Lücken im heimischen Verwaltungsapparat. Albert verstand den Wink, aber spätestens jetzt wird offenkundig, dass es nicht nur 23 Albert an Agnes, 25. 6., 4. 7., 5. 7., 21. 7. und 29. 7. 1941, in: Jakobi/ Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 223, 230 f., 251 f., 259. 24 Albert an Agnes, 29. 7. 1941, in: ebd., S. 259. 25 Albert an Agnes, 24.8. und 28. 8. 1941, in: ebd., S. 292, 295. 26 Albert an Agnes, 20. 10., 23. 10. und 25. 10. 1941. Was es bedeutete, eine »Ausweichstellung« zu beziehen, vertraute Albert nur seinem Taschenkalender an: »Das heißt mit anderen Worten zu türmen«; Notiz vom 4. 11. 1941, in: ebd., S. 331-333, 340. 27 Albert an Agnes, 27. 10. 1941, in: ebd., S. 335. 28 Vgl. Frank Werner, Krieg, Massenmord und Männlichkeit. Soldatische Selbstbilder im deutschen Vernichtungskrieg 1941-1944, in: Babette Quinkert / Jörg Morré (Hg.), Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941-1944. Vernichtungskrieg, Reaktionen, Erinnerung, Paderborn 2014, S. 155-174, hier: S. 164-166.

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tausende Kilometer waren, die ihn von Agnes trennten. Längst war der Krieg sein Metier, seine Welt geworden: Genau hier, an der russischen Front, hatte er seinen Platz gefunden. Die Antwort fiel unmissverständlich aus: »Ich bin davon überzeugt, daß ich hier vorne meinen Posten, der mir übertragen ist, viel vollwertiger ausnutzen kann und meiner Heimat damit diene, als wenn ich als Beamter irgendwo hinten in der Etappe mich herumtreibe. Und wenn Du meinst, daß es für mich ungefährlicher sein würde, so stört mich dieser Gedanke gar nicht. Ich weiß, daß unser Geschäft, d. h. unsere Existenz in denkbar besten Händen liegt und Du, Agnes, sollst stolz darauf sein, daß Dein Mann in vorderster Front seine Pflicht erfüllt. Hier vorne fühle ich mich mit meiner Person als notwendig, hinten würde es für mich jetzt nur noch eine Scham bedeuten.«29 Anfang des Jahres hatte Albert die Rückfahrkarte in die Heimat noch ersehnt, nun war der Gedanke geradezu undenkbar geworden, weil eine Versetzung einer Verunglimpfung seiner Männlichkeit gleichgekommen wäre. In Russland war der verdrossene Soldat endgültig im Krieg angekommen, und zwar nicht zuletzt, weil er sich dort als Mann gefunden hatte: »Hier werden in erster Linie Männer gebraucht und keine Zahlmeister«, setzte der Kaufmann neue Prioritäten.30 Alberts Briefe lassen durchaus erkennen, dass ihm auch die ideologischen und rassistischen Imperative des Ostfeldzugs Orientierung gaben. Er machte sich die Propagandalüge des Präventivkriegs zu eigen, fand seine antibolschewistischen Vorurteile über das sowjetische »Arbeiterparadies« bestätigt und geriet beim Anblick rückständiger Lebensverhältnisse in Schwärmerei über die Vorzüge der eigenen Nation. All dies trug dazu bei, dass er sich mit seiner Mission identifizierte.31 Aber emotional, auf der Ebene des Selbstwertgefühls, verband ihn weit mehr mit dem Einsatz in Russland. Der Stolz, zu den »richtigen« Männern zu zählen – und die Furcht, diesen Status wieder zu verlieren –, versperrten ihm gedanklich den Heimweg. Diese Mischung aus Grandiositätsgefühl und Abstiegsangst wirkte am Ende womöglich stärker als die ideologische Verbundenheit oder der soziale Druck der Kameradschaft. Denn als Mann konnte Albert sich nicht einfach lossagen und abschwören: Er haftete mit seinem Charakter und seiner Persönlichkeit, auf dem Spiel stand das existenzielle Selbst – bedroht durch Scham, je mehr es durch Stolz aufgepumpt wurde. Es gab kein einfaches Entrinnen aus diesem Regime schmeichelnd-schmerzhafter Männlichkeitsgefühle, das keineswegs spezifisch nationalsozialistisch war, aber in der NS 29 Albert an Agnes, 6. 11. 1941, in: Jakobi/ Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 343. 30 Albert an Agnes, 14. 11. 1941 (Herv. im Orig.), in: ebd., S. 351. 31 Albert an Agnes, 29. 6., 6. 7., 11. 7., 13. 7., 17. 7., 21. 11. 1941, 11. 1., 6. 2., 10. 6. 1942, in: ebd., S. 227, 232, 236 f., 250, 356 f., 386 f., 404 f., 540. Auch den rassistischen Blick auf die Menschen im Osten und die geforderte Vernichtungsmoral hatte Neuhaus verinnerlicht. Drei Tage nach Beginn des Feldzugs schrieb er an seine ältere Schwester Johanna: »Vor den russ. Gefangenen bekommt man einen Ekel, d. h. viele Gefangene werden nicht gemacht. Hier oben im früheren Litauen ist ziemlich viel verjudet und da gibt es ja kein Pardon«; Albert an Johanna, 25. 6. 1941, in: ebd., S. 222.

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Abb. 1: Albert Neuhaus an der Ostfront in Kostino vor Moskau, Winter 1941 /42. Quelle: Nachlass von Agnes und Albert Neuhaus, Nr. 29, Stadtarchiv Münster. »Aufwertungsdiktatur«32 auf eine neue, ungekannte Fallhöhe geschraubt wurde. So historisch einmalig das Ausmaß der Verehrung des Frontsoldatischen war – so groß waren auch die Möglichkeiten, an diesem Ideal zu scheitern. Agnes konnte und wollte ihre Enttäuschung nicht verbergen, die Ehefrau beklagte sich bitter darüber, »die ganze Arbeit alleine« meistern zu müssen, doch sie trieb den Konflikt nicht auf die Spitze. Auf ihrer Anklagebank saß nicht Albert, sondern der unheilvolle Krieg, der die Trennung verschuldet habe. In dieses Schicksal fügte sich Agnes von nun an. Und genau wie Albert lästerte auch sie über »Drückeberger«, die alle »mal an die Front« geschickt werden müssten: »Wer anständig ist, muß immer nach vorne.«33 Im Grundsatz erteilte Agnes ihrem Ehemann damit Absolution. Sie bestätigte ihn in seiner Auffassung, dass echte Männer in der Heimat fehl am Platz seien. Einmal mehr schlüpfte Agnes in die Rolle der »konstruktiven Zuhörerin«,34 die 32 Habbo Knoch, Völkische Verantwortung und nationale Kameradschaft. Geschlechterverhältnisse in der nationalsozialistischen Aufwertungsdiktatur, in: Archiv der Münchener Arbeiterbewegung (Hg.), Macht und Gesellschaft. Männer und Frauen in der NS -Zeit. Eine Perspektive für ein künftiges NS -Dokumentationszentrum München, München 2004, S. 42-57. 33 Agnes an Albert, 2. 12. 1941, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 451. 34 Gabriele Rosenthal, Erzählbarkeit, biographische Notwendigkeit und soziale Funktion von Kriegserzählungen. Zur Frage: Was wird gerne und leicht erzählt, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Sonderheft 1993, S. 5-24, hier: S. 11.

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als geschlechterpolitisch korrekte Rückspielerin ihrem Frontkämpfer – ganz Mitkonstrukteurin seiner Männlichkeit – ein beipflichtendes und bestärkendes Echo sendet. Wieder scheint die Situation eindeutig: Albert wirkte wie ein überzeugter Soldat. Doch das neue Selbstbewusstsein bröckelte spürbar, als die Ostfront im Frühjahr 1942 im Stellungskrieg erstarrte. Erinnerungen an die Zeit des Besatzungsdienstes wurden wach: »Die Langeweile quält uns, es passiert so wenig Neues bei uns. Einige Tage ist das mal ganz schön, wenn es so ruhig ist, aber auf die Dauer entsetzlich langweilig. Tagelang fällt kein Schuß und man sitzt vor seinem Plan und gähnt und rekelt sich.«35 Erneut bestand der Krieg vor allem aus Wachen und Warten, wieder lief Alberts Leistungsstreben ins Leere – und zum wiederholten Mal hielt ihm Agnes den Spiegel der Unzulänglichkeit vor. Bereits im April 1942 firmierte in Alberts Briefen wieder die Heimat als eigentlicher Ort der Arbeit: »Du wirst in dieser Woche wohl satt Arbeit haben, brauchst darum über Langeweile nicht zu klagen. Hoffentlich kommt die Zeit auch für mich bald wieder, daß ich mein richtiges Betätigungsfeld habe. Aber der Ostfeldzug wird wohl erst zu Ende sein müssen. Dann gehts aber wieder ran.«36 Ohne Möglichkeit, sich durch Leistung auszuzeichnen, kehrte das Minderwertigkeitsgefühl zurück. Was Albert am Müßiggang unerträglich fand, war vor allem der Vergleich mit dem Pensum in der Heimat. Es berührte ihn peinlich, dass Agnes sogar manche Nachtstunde opferte, um den Umsatz zu steigern: »Es ist alles verkehrt in der Welt, Du mußt Tag und Nacht schuften und ich weiß oft nicht, wie ich die Zeit totschlagen soll«, klagte er im Januar 1943 und benutzte dabei dieselben Worte wie im September 1940, um auszudrücken, wie sehr die Verhältnisse auf dem Kopf standen.37 Erneut war es der vergleichende Blick auf die Geschlechter, der die Lastenverteilung als irregulär und die eigene Untätigkeit als unmännlich auswies. In seiner Männlichkeit entblößt fühlte sich Albert aber nicht nur mangels Arbeit. Auch ausbleibende Beförderungen nagten inzwischen an seinem Ego. Es gehe ihm »gegen die Ehre«, ewig Gefreiter zu bleiben, gestand er – auch, weil er fürchtete, damit Agnes’ Erwartungen nicht zu entsprechen. Im Mai 1943 klang er spürbar verunsichert: »Ja, die jungen Leute können noch was werden beim Kommiß. Uns alten vergißt man in der Beziehung ganz und gar. […] Na, mir soll’s egal sein. Dir auch? Oder bist Du in Deiner Ehre dadurch gekränkt?«38 Nicht nur die Kameraden taxier35 Albert an Agnes, 28. 3. 1942, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 476. 36 Albert an Agnes, 2. 4. 1942. Der Begriff »Arbeit« bezog sich mal auf die Heimat, mal auf die Front: »Bei dem Nichtstun, wie in den vergangenen Wochen, wird es einem furchtbar langweilig und in solcher Zeit sehnt man sich dann doch wieder nach Arbeit und wenn es auch Arbeit in unserem Sinne ist«; Albert an Agnes, 14. 4. 1942, in: ebd., S. 480, 494. 37 Albert an Agnes, 18. 1. 1943, in: ebd., S. 713. S. zur Geschichte männlichkeitsgefährdender »Untätigkeitsneurosen« Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998, S. 402. 38 Albert an Agnes, 6. 7. 1943 und 17. 5. 1943. Gefreiter war Albert seit dem 1. 8. 1941. Bereits am 25. 5. 1942 hatte er sich bei Agnes erkundigt: »Du rechnest im Stillen auch mit einer Beförderung von mir?«, in: ebd., S. 903, 846, 528.

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ten ihn, auch die eigene Ehefrau fungierte für Albert als Instanz, die Maß nahm an seiner Männlichkeit und vor der Geständnisse formuliert wurden. In all der Bewunderung, die ihm Agnes schenkte, lauerte potenziell eine Beschämung. Hin und wieder herrschte »Betrieb« an der Front, dann flackerte der alte Leistungsstolz wieder auf: Albert triumphierte, welch »erhebendes Gefühl« es sei, »wenn der Gegner was auf den Deckel kriegt«.39 Doch solche Erfolgserlebnisse bot der Krieg nur noch selten. Und je weiter Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklafften, desto energischer wollte Albert der Wirklichkeit entfliehen und den »grauen Rock« gegen den »Zivilanzug« tauschen.40

3. Tapfer und tüchtig: »Jeder auf seinem Posten« Im Krieg entwickelte sich der Kaufmann zum Kämpfer, und doch gingen Alberts Vorstellungen von Männlichkeit nicht darin auf, Soldat zu sein. Der Krieg erfüllte ihn – aber er füllte ihn nicht dauerhaft aus. Auch Agnes übernahm eine neue Rolle, aus der Angestellten ihres Mannes wurde eine eigenständige Managerin des Kriegsalltags. Was bedeutete dies für die Beziehung der Eheleute? Stellten die neuen Handlungsfelder und deren Aufwertung im Rahmen der alles überwölbenden »Volksgemeinschaft« das hierarchische Geschlechter-Arrangement infrage? Oder überwogen die Beharrungskräfte der traditionellen bürgerlichen Ordnung?41 Auch wenn Agnes’ Arbeitseifer ihm den Spiegel vorhielt: Es war die eigene Untätigkeit, die Albert zermürbte. Für das Pensum der »lieben tüchtigen Agnes« spendete er reichlich Lob und zeigte sich »unendlich stolz« auf die Geschäftsentwicklung.42 Als Agnes im Frühjahr 1943 wie gewohnt die Umsatzzahlen schickte, geriet er schier aus dem Häuschen: »Man staunt nur, was in einem Laden umgesetzt werden kann, wenn nur die richtigen Verkaufskräfte hinter der Theke stehen. Wenn dann dazu noch eine Frau die Sache macht, die ihren ganzen Stolz und ihre ganze Liebe dareinsetzt, um ihrem Manne damit eine Freude zu machen, dann muß die Sache ja klappen.«43 Albert wirkte nicht sonderlich verunsichert darüber, dass Agnes seinen Platz im Geschäft einnahm und dabei auch noch erfolgreich war. Ihn besorgte etwas anderes: Die Ehefrau könnte sich überarbeiten, ihre Nerven und ihre Gesundheit ruinieren. 39 Albert an Agnes, 6. 5. 1943, in: ebd., S. 837. 40 Albert an Agnes, 25. 5. 1942 und 10. 4. 1943, in: ebd., S. 528, 817. 41 Vgl. Sybille Steinbacher, Differenz der Geschlechter? Chancen und Schranken für »Volksgenossinnen«, in: Frank Bajohr / Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 94-104; Franka Maubach, »Volksgemeinschaft« als Geschlechtergemeinschaft. Zur Genese einer nationalsozialistischen Beziehungsform, in: Gudrun Brockhaus (Hg.), Attraktion der NS -Bewegung, Essen 2014, S. 251-268. 42 Albert an Agnes, 18. 1. 1943 und 15. 2. 1942, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 713, 415. 43 Albert an Agnes, 17. 5. 1943, in: ebd., S. 845.

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Immer wieder beschwor er Agnes, sie möge sich »jung und lebenskräftig« halten, um den gemeinsamen Kinderwunsch zu erfüllen, aber mehr noch, um ihm selbst im Alter »eine Stütze« sein zu können.44 »Ich habe nur die eine Bitte an den Allmächtigen, daß er Dich gesund und froh erhält, für mich«, grüßte Albert im Juni 1943.45 Das ist sein ceterum censeo, das immer wiederkehrende Thema seiner Briefe: Es »dreht sich doch alles nur darum, Deinem Pappi eine, d. h. immer Freude zu machen«, bestimmte Albert den Sinn von Agnes’ unermüdlichem Schaffen.46 Seine Ehefrau arbeitete und litt für ein höheres Ziel – für ihren Mann, die höchste Sinngebung ihres Lebens. So wie er in die Heimat schrieb, so schallte es aus ihr heraus. »Alles was ich tat und tue, tue ich nur für Dich«, beteuerte Agnes – halb Floskel, halb Versprechen – über all die Kriegsjahre hinweg.47 Erst spät ging ihr auf, dass diese Form der Selbstaufopferung vielleicht vergebens sei. Im Juni 1943 spürte Agnes, ihr Weg könnte in einer Sackgasse enden: »Na ja, manchmal ist es mir auch egal, wie der Laden läuft, ich bin wirklich oft auf den toten Punkt. Drei Jahre macht man es nun alleine in der Hoffnung, Euch Soldaten die Existenz zu erhalten, um Euch eine Freude damit zu machen, und in dem Glauben, dann haben wir Ruhe und können Gemeinsam weiter Schaffen, und wie lange mach dies alles noch dauern?«48 Über die gesamte Zeitspanne des Briefwechsels führte das Ehepaar einen geschlechter-hierarchischen Dialog, in dem Agnes die Rolle einer subalternen Assistentin einnahm, die fleißig, gesund und tapfer sein wollte für ihren Mann, während Albert sich als Familien- und Firmenvorsteher gerierte, der Regieanweisungen aus der Ferne erteilte.49 Obgleich dem heimatlichen Alltag entrückt, bekräftigte er seinen Führungsanspruch in familiären und geschäftlichen Angelegenheiten: Albert erklärte Agnes, wie das Wareneingangsbuch zu führen sei, erkundigte sich, ob die Gewichte geeicht und die Waren eingeräumt seien, denn »leere Fächer sind dem Herrn ein Greuel«.50 Agnes blieb ihrem Ehemann rechenschaftspflichtig und erhielt bisweilen Anweisun44 Albert an Agnes, 20. 7. 1943, in: ebd., S. 919. Dass der Kinderwunsch unerfüllt blieb, führte Albert indes nicht auf Agnes Gesundheit, sondern auf göttliche »Fügung« zurück; 6. 6. 1943, in: ebd., S. 861. »Laß es Dir mal durch den Kopf gehen, daß Du für später Deinem Manne gegenüber auch noch liebe Pflichten hast«; Albert an Agnes, 10. 2. 1943, in: ebd., S. 755. Vgl. Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn 1998, S. 342 f. 45 Albert an Agnes, 1. 6. 1943, in: Jakobi/ Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 857 f. 46 Albert an Agnes, 13. 2. 1942, in: ebd., S. 413. 47 Agnes an Albert, 18. 5. 1941. »Mein ganze inneres Leben treib nur zu Dir, alles was ich tue, tue ich in Gedanken an Dich, darum will ich auch gesund werden, gesund werden für Dich«; Agnes an Albert, 12. 6. 1941, in: ebd., S. 183, 214. 48 Agnes an Albert, 6. 6. 1943, in: ebd., S. 871. 49 Vgl. Marszolek, Ich möchte Dich zu gern (wie Anm. 22), S. 48. 50 Albert an Agnes, 9.6. und 7. 7. 1940 (Zitat), in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 5 f., 35.

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gen im Befehlston: »Ich wünsche und verlange es von Dir, Agnes, daß in Zukunft kein Stück Ware mehr bei Tübings gekauft wird.«51 Per Telegramm schickte Albert den »Bescheid«, eine neue Wohnung zu mieten oder erteilte die »Lektion«, endlich einmal auszuspannen: »Ich nehme ja an, das Du doch noch etwas auf deinen Jungen hörst und ihm zuliebe das tust, worum er dich bittet, auch wenn es im schimpfenden Ton ist.«52 Auch von der Front aus versuchte Albert, alle Fäden in der Hand zu behalten. Sein Verständnis vollwertiger Männlichkeit verlangte die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Er wollte nicht Soldat oder Kaufmann sein, sondern beides zugleich. So erfolgreich Agnes das Geschäft in seinen Augen führte, sie blieb sein verlängerter Arm, die »erste Sekretärin« – eine Stell- Abb. 2: Agnes Neuhaus vor dem Eingang vertreterin auf Zeit, die ihre Sache zwar des Feinkostgeschäftes in Münster, März gut, aber naturgemäß nicht so gut machte 1943. Quelle: Nachlass von Agnes und Alwie er als Mann. »Für eine 100 tige bert Neuhaus, Nr. 29, Stadtarchiv Münster. ordnungsgemäße Führung des Geschäftes«, stellte Albert im Mai 1943 klar, könne nur »der Mann« verantwortlich gemacht werden: »Wenn die vorgesetzten Ämter verlangen, daß alles in exaktester Ordnung in unserem Geschäft laufen soll, dann sollen sie dafür sorgen, daß ich die Führung des Geschäftes wieder übernehmen kann.«53 Indem Albert aus der Ferne lobte und tadelte, kontrollierte und dirigierte und seine Anwesenheit am Ende doch für unverzichtbar hielt, vergewisserte er sich seiner überlegenen Kompetenz. Agnes musste er von dieser Überlegenheit nicht überzeugen. Sie quittierte seinen Dominanzanspruch in der komplementären Rolle der anlehnungsbedürftigen, ratsuchenden Frau, die mehr als einmal erwähnte, wie sehr ihr der Mann an der Seite fehle.54 Dabei trat Agnes im Laufe der Jahre zunehmend selbstbewusst auf. Ließ ihr anfangs der eigenmächtige Kauf einer Ladenkasse keine Ruhe – »Mein Gewissen sagt mir immer wieder, ist es Albert auch recht?«, – verkündete sie zweieinhalb Jahre später stolz, wie erfolgreich sie sich »als Frau allein im Geschäftsleben« geschlagen habe: »3 Jahre alleine im Geschäftsleben stehen ist ja 51 52 53 54

Albert an Agnes, 13. 6. 1942 (Herv. im Orig.), in: ebd., S. 542. Albert an Agnes, 14. 8. 1942 und 27. 2. 1943 (Zitat), in: ebd., S. 581, 775. Albert an Agnes, 17. 5. 1943, in: ebd., S. 846. »Man weiß manchmal nicht, wie man sich als Frau alleine durchsetzen soll. Du fehlst mir an allen Ecken u. Enden«; Agnes an Albert, 29. 8. 1940, in: ebd., S. 85.

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keine Kleinigkeit.«55 Doch im Verhältnis zu Albert erwuchs aus dem Selbstbewusstsein kein erkennbarer Anspruch auf Unabhängigkeit. Selbst als im Juni 1943 nach einem Bombentreffer die eigene Wohnung geräumt und die Möbel bei Verwandten untergebracht werden mussten, bat Agnes ihren Mann, darüber zu befinden, ob sie »alles wohl richtig gemacht habe«.56 Durch derartige Gesten der Anlehnung und Assistenz, der Selbstbescheidung und Subordination erteilten Frauen wie Agnes dem Überlegenheitsanspruch ihrer Männer Approbation.57 Nachdem der Konflikt um Alberts Fronteinsatz ausgestanden war, lesen sich die Briefe des Ehepaares wie ein konzertierter Versuch, die polare und patriarchale Ordnung buchstäblich fortzuschreiben. Allenfalls kokettierten beide mit einer Umkehrung der Rollen, etwa wenn Agnes frotzelte, ihr Mann werde später seine Last mit der tüchtigen Geschäftsfrau haben, oder wenn Albert ankündigte, nach dem Krieg als Lehrling bei Agnes anzufangen.58 Solche Neckereien, in denen spielerisch Grenzen überschritten wurden, setzten das Einvernehmen über diese Grenzen voraus. Auf diesem Konsens gründete letztlich ihre Partnerschaft, die unter den gegebenen Umständen durchaus als intakte Liebesbeziehung gelten konnte. Hätte Agnes ihre subalterne Rolle aufgekündigt, wäre die Ehe mindestens auf eine ernste Probe gestellt worden. Einen Vorgeschmack darauf bekam Agnes im Februar 1943, als sie ihrem Ehemann mitteilte, sie wolle nach Feierabend als Rot-Kreuz-Helferin arbeiten. »Jede Frau und jedes Mädchen muß helfen«, argumentierte sie im Sinne der gerade eingeführten Arbeits- und Dienstpflicht auch für Frauen.59 Agnes war überzeugt, sich diesem Einsatz nicht entziehen zu können: Für sie rangierten die Anforderungen der »Volksgemeinschaft« vor den eigenen Geschäftsinteressen. Für Albert hingegen war eine rote Linie überschritten. Er schäumte: »Wenn Du in dieser Zeit Deine Pflichten als Frau dem Vaterlande gegenüber nicht erfüllt hast, wer sollte sie dann überhaupt erfüllt haben? Also solche Gedanken schlage Dir man 100 tig aus dem Kopf. Sie sind nur dazu angetan, eine höchst verdrießliche und gereizte Stimmung zwischen uns beiden zu erzeugen.«60 Albert war durchaus der Ansicht, dass Frauen ihren Kriegsbeitrag erbringen mussten; die weibliche Arbeitspflicht befürwortete er ausdrücklich: »Es ist gut, daß so manches junge Dämchen jetzt auch mal an die Arbeit herangezogen wird. […] Die Frontsoldaten begrüßen diese Maßnahmen alle.«61 Auch ihm galt Leistung als Pflicht, die beiden Geschlechtern auferlegt war. In dieser gemeinsamen Ausrichtung auf das Leistungsethos verkörperten Agnes und Albert so etwas wie ein »volksgemeinschaftliches« 55 56 57 58

Agnes an Albert, 3. 9. 1940, 7. 2. 1943 und 4. 6. 1943, in: ebd., S. 90 f., 766, 867. Agnes an Albert, 22. 6. 1943, in: ebd., S. 897. Vgl. Connell / Messerschmidt, Hegemonic Masculinity (wie Anm. 18), S. 848. Agnes an Albert, 31. 1. 1943; Albert an Agnes, 12. 2. 1943, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 750, 757. 59 Agnes an Albert, 28. 1. 1943, in: ebd., S. 740. 60 Albert an Agnes, 2. 3. 1943 (Herv. im Orig.), in: ebd., S. 782. 61 Albert an Agnes, 30. 1. 1943, in: ebd., S. 729.

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Musterpaar. Doch für Albert endete der Hoheitsanspruch der »Volksgemeinschaft« dort, wo der eigene Machtbereich begann: in seiner Ehe. Das Gemeinschaftssoll sah er durch seinen Fronteinsatz und Agnes’ Arbeit im Geschäft als erfüllt an, und in familiären Angelegenheiten duldete er keine zweite Meinung, schon gar nicht von der Ehefrau selbst, der er mangelnden Gehorsam attestierte: »Hier kann ich Dich nur in der Landsersprache fragen: ›Du spurst wohl nicht mehr richtig‹?«62 Erst als Agnes einlenkte und ihre Pläne begrub, erklärte Albert den Streit für beigelegt und sprach die »Versöhnung« aus.63 Der Kasernenhofton spricht dafür, dass es auch Agnes’ wachsende Selbstständigkeit war, die ihn irritierte; hinter der Pose des aufgeplusterten Gebieters kommt Verunsicherung zum Vorschein. Doch Albert wies Agnes in die Schranken – ein weiteres Mal mit dem Argument, sie müsse mit ihren Kräften haushalten. Agnes’ Gesundheit war der Garant einer gemeinsamen Zukunft, der Fluchtpunkt ihrer Unterhaltung über all die Jahre hinweg. Es waren nicht zuletzt Projektionen einer solchen Zukunft, die es ihm ermöglichten, über den tatsächlichen Kontrollverlust hinwegzusehen und weiter als Firmen- und Familienoberhaupt aufzutreten. Bezogen auf die Geschlechterrollen imaginierte er die Zeit nach dem Krieg als Rückkehr zur Normalität: »Ich möchte Dir ja gern die Arbeit etwas abnehmen, aber es geht nicht. […] Später werden wir zwei schon dafür sorgen, daß alles seine geordneten Bahnen läuft.«64 In dieser auf die Zukunft gerichteten Perspektive konnte Albert seinen angestammten Platz wieder einnehmen. Nahezu alle Einflüsterungen der NS -Propaganda banden den Arbeits- und Militäreinsatz von Frauen an den Ausnahmezustand des Krieges und versprachen eine Revision, sobald der »Endsieg« errungen sei.65 In dieser Lesart konnten die aktuellen Verhältnisse als behelfsmäßig und vorläufig angesehen werden, als Ausnahme, welche die Regel bestätigte. Weibliche Kriegsbeteiligung erhielt das Etikett des Exzeptionellen, das im Umkehrschluss die alte Ordnung als Normalität auswies. Zudem war das Denken in separate spheres tief eingelassen in den Diskurs über Heimat und Front. Für Albert jedenfalls ließ sich der Einsatzort der Geschlechter zweifelsfrei bestimmen: Männer wie er kämpften an der Front für das »Glück daheim«, während die Frauen in der Heimat für die Kämpfer zu sorgen, ihnen den Rücken zu stärken hatten.66 Mit der Idee einer geschlechterübergreifenden Leistungs62 63 64 65

Albert an Agnes, 2. 3. 1943, in: ebd., S. 782. Albert an Agnes, 20. 3. 1943, in: ebd., S. 798. Albert an Agnes, 4. 3. 1943 und 3. 11. 1941, in: ebd., S. 784, 338. Die Propaganda der Wehrmacht definierte den Arbeitseinsatz von Frauen als »bittere Notwendigkeit« des Krieges – und als Übergangslösung mit festem Verfallsdatum: »Die deutsche Frau weiß genau, daß nach dem siegreichen Ende des Krieges sie wieder ganz für die Kinder, für die Familie, für ihr Heim da sein wird«; Mitteilungen für die Truppe (OKW ), September 1941, Nr. 140, und November 1944, Nr. 374. 66 Albert an Agnes, 16. 2. 1943. Dass eine von Agnes’ Angestellten unverheiratet schwanger wurde, war für Albert ein Politikum: Für ihn kam es einem Verrat an den kämpfenden Soldaten gleich, »wenn sich die Frauen und Mädels in der Heimat in dieser Zeit, wo die Männer an

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und Kampfgemeinschaft war diese Rollenverteilung durchaus kompatibel: Beide Geschlechter blieben fixiert auf den Krieg, waren miteinander verbunden, aufeinander bezogen – und dennoch getrennt. Jeder erfüllte »auf seinem Posten seine Pflicht«, repetierte Albert die Formel der Propaganda: »Du als tapferste deutsche Frau, die in Liebe zu Ihrem Mann Schwerstes auf ihre Schultern nahm, um ihrem Mann das Liebgewonnene zu erhalten und der großen Gemeinschaft zu dienen, ich als kleiner Soldat, ein winziges Rädchen im gewaltig großen Uhrwerk, aber jederzeit bereit, dem gegebenen Soldateneide zu dienen.«67 Solange die Front in der Leistungsbilanz nicht hinter die Heimat zurückfiel, blieb für Albert die Welt im Lot. Auf dem Feld der Leistung konkurrierten Heimat und Front, engagierten sich Frauen und Männer, aber die Potenziale waren ungleich verteilt: Innerhalb der »Volksgemeinschaft« setzte die Front die Maßstäbe. Von Sommer 1941 an waren es vor allem die außergewöhnlichen Erfolge und Strapazen an der Ostfront, die von den Beteiligten als »volksgemeinschaftliche« Höchstleistungen beansprucht und von der Heimat durch kniefällige Gesten der Würdigung und Dankbarkeit beglaubigt wurden.68 Dieses Anerkennungsritual vollzog auch Agnes in ihren Briefen: »Euer Vormarsch ist ja gewaltig, man kann Euch nur bewundern«, verneigte sie sich im Sommer 1941. »Überall ist der Kampf ja sehr hart, was müßt ihr doch leisten.«69 So stolz sie auf ihr eigenes Schaffen war, die Huldigung der »mannhaften« Leistungen im Osten rückte die Verhältnisse zurecht. Welche Aufgaben Heimat und Front zufielen und wie sich die Geschlechter im Krieg begegnen sollten, gehörte für Agnes ebenso zu den fraglosen Gewissheiten wie für Albert. Im Januar 1943, nach Alberts Fronturlaub, fragte sie rhetorisch: »Ist es denn nicht Pflicht einer jeden Frau, Mutter oder Schwester, es ihren Soldaten, die in Urlaub von der Front kommen, alles zu geben, was sie nur können, Ihnen den Urlaub so schön zu machen, wie es in ihren Kräften steht? Der Frontsoldat soll doch mit gläubigem Herzen an seine Heimat denken, wenn er draußen ist.«70

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der Front stehen, auf diese Weise ausleben …«; Albert an Agnes, 20. 3. 1943, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 762, 798. Albert an Agnes, 1. 2. 1941, in: ebd., S. 152. Vgl. Werner, »Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser« (wie Anm. 19), S. 50 f. »Es gibt keinen Ausdruck des Dankes, der groß genug wäre, um dem Soldaten vorne zu sagen, wie die ganze Heimat sich ihm hundert- und tausendfach verpflichtet fühlt«, gab die Propaganda den Kammerton heimatlicher Ergebenheitsadressen an die Ostfront vor; Mitteilungen für die Truppe (OKW ), Januar 1942, Nr. 170. Die NSDAP empfahl, in Briefen an die Front die »vielstündige Mehrarbeit und Überarbeit in allen Betrieben und Dienststellen« herauszustellen, und zwar ausdrücklich »nicht als Beweis der Gleichwertigkeit von Heimat und Front, sondern als Erkenntnis der Heimat, dadurch der Front den Rücken freizuhalten«; Richtlinien der NSDAP-Parteigaue für Feldpostbriefe von März 1942, BA NS 18 /788, Bl. 1112. Agnes an Albert, 2. 7. und 3. 8. 1941, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 248, 285. Agnes an Albert, 11. 1. 1942, in: ebd., S. 721.

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Einmal mehr bestätigte Agnes, dass Frauen in die Heimat und Männer an die Front gehörten. In dieser beidseitig anerkannten Raumordnung des Krieges blieb das Gefechtsfeld das geschützte Heiligtum hegemonialer Männlichkeit, der exklusive Ort, der Überlegenheit definierte – und den Frauen nicht betreten durften.71 Auch Agnes reihte sich in diese Komposition der Hinten-Helfenden und Vorne-Kämpfenden ein, als sie im Juli 1943 kriegsdienliche Arbeiten verrichtete und sich deshalb zu den »Soldaten der hinteren Westfront« zählte. In Konkurrenz zu den Kämpfern trat sie damit ausdrücklich nicht: »Wäsche wird den Männern gewaschen und gestopft.«72 Agnes gibt ein Beispiel, wie ambivalent Weiblichkeit im Nationalsozialismus verstanden werden konnte, wie Frauen zwischen privater Hingabe und öffentlicher Aufgabe, zwischen Fürsorge- und Einsatzmoral changierten. In der herzenswarmen Häuslichkeit, die Albert sich erträumte, ging ihr Selbstbild jedenfalls nicht auf: Tugenden wie Tüchtigkeit und Tapferkeit standen für sie nicht weniger im Vordergrund;73 Werte aus dem ursprünglich männlichen Kosmos von Leistung und Kampf, die im Nationalsozialismus gleichsam vergesellschaftet und an beide Geschlechter adressiert wurden. Aus ihrer übergreifenden Geltung lässt sich jedoch nicht ableiten, dass sie für die Geschlechter dasselbe bedeuteten. Während Albert das Soldatsein als männliche Bestimmung verinnerlichte, flirtete Agnes eher mit der Rolle: »Tapferkeit« war für sie eine Tugend mit beschränkter Haftung; Nervosität, Weinkrämpfe und Verzweiflung blieben mitteilbare Gemütszustände, die keine Scham hervorriefen.74 Albert hingegen schrieb sich zwar den Frust von der Seele, konnte sich aber keinen weitergehenden Dispens vom Durchhalten erlauben. Männlich konnotierte Ideale waren über Geschlechtergrenzen hinweg gültig, doch sie verpflichteten Männer selbstverständlicher und verbindlicher als Frauen. Diesen Unterschied markierte Albert in seinen Briefen unentwegt und unmissverständlich. Dass Agnes bei all ihrer Tapferkeit nicht dieselbe innere Selbstdisziplin aufbringen könne wie er als Mann, stand für ihn außer Frage. »Besonders als Mann« 71 Diese geschlechterspezifische Raumaufteilung hoben auch die Wehrmachthelferinnen nicht aus den Angeln: Ihr Einsatz zielte darauf, Männer für die Front freizumachen. Vgl. Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009. Das Gegenbild lieferten russische »Flintenweiber«: Albert hob »das wenig Frauliche an diesen Bestien« hervor. Der Anblick der Soldatinnen des Feindes ließ die polare Geschlechterordnung als nationale Errungenschaft erscheinen: »Kind, Kind, wenn man so was sieht und eine schöne, liebe, deutsche Frau sein eigen nennen kann, dann wölbt sich doch unsere zottige Männerbrust vor Stolz und Dankbarkeit«; Albert an Agnes, 14.9.1941, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 308. 72 Agnes an Albert, 4. 7. 1943, in: ebd., S. 907. 73 Albert sieht in Agnes einen Inbegriff von Weiblichkeit: »Tiefe Liebe, Anhänglichkeit, Treue, Fürsorge, Mütterlichkeit und was weiß ich sonst noch für edle Frauentugenden«; Albert an Agnes, 5. 7. 1940. Einer der häufigsten Sätze in Agnes’ Briefen lautet dagegen: »Ich will tapfer sein«; Agnes an Albert, 31. 5. 1941 oder 26. 12. 1942, in: ebd., S. 34, 198, 705. Vgl. Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 44), S. 347 f. 74 Immer wieder erzählt Agnes, dass sie nervös sei oder sich »tüchtig ausgeweint« habe; Agnes an Albert, 7. 11., 25. 12. 1942 und 14. 6. 1943, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 678, 699, 883.

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gelte es, sich gegenüber Gefühlen »soweit in der Gewalt [zu] haben, daß nicht unnötige Szenen heraufbeschwört werden«, befand Albert. »Ein leises Heimweh kommt doch ab und an«, räumte er im April 1942 ein, nur um Agnes ein weiteres Mal zu erklären, wie man solchen Anwandlungen begegne: »Es sind das immer Stunden der inneren Prüfung und ein Kampf zwischen den Wünschen und der Pflicht. Aber er muß ausgehalten werden.« Leicht zu erklären war für ihn, warum seine Frau bei diesen Prüfungen trotz ehrlichen Bemühens immer wieder Rückschläge erlitt: »Agnes, ich bin froh und stolz, daß Du so tapfer gewesen bist. Daß Dir öfters die Tränen gekommen sind, liegt eben in der fraulichen Mentalität begründet.«75 Auch Agnes sollte sich abhärten gegen die Zumutungen des Krieges – und konnte doch nie so hart werden wie er. Denn Standfestigkeit und Härte waren elementar männliche Eigenschaften, anhand derer sich Männer wie Albert von »Weichlingen« beiderlei Geschlechts abgrenzten. Sichtbar wurde die eigene Härte erst im Spiegel des effeminierten Anderen, der weiblichen »Weichheit«, die Albert immer wieder an Agnes ausmachte, um seine Ehefrau anschließend »in die harten Soldatenarme« zu nehmen oder ihr ein Beispiel zu geben, wie man Krisen überwindet.76 Getreu der offiziellen Maßgabe, nach der Soldaten durch ihr »männliches, durch und durch soldatisches Wesen« der Heimat als »Kraftquelle für gute Haltung« dienen sollten,77 ließ Albert kaum eine Gelegenheit aus, aufmunternde Appelle zu schicken: »Man kann wohl mal eine Stunde haben, wo einen das Heimweh packt, wo man nicht hell lachen kann«, redete er Agnes ins Gewissen, »aber man muß über diese Stunden hinauswachsen. Was sollte wohl aus uns Soldaten werden, wenn wir alle den Kopf hängen ließen.«78 Albert demonstrierte damit so etwas wie emotionale Richtlinienkompetenz, und Agnes zeigte sich empfänglich für die Moralpredigten. Auch in der Frage, wie tapfer das jeweilige Los zu tragen ist, übte sie sich in Selbstbescheidung und bestätigte so den männlichen Überlegenheitsanspruch. Mitunter bedankte Agnes sich sogar für Rüffel, die sie erhalten hatte: »Ich glaube, Du hast mich richtig angefaßt. Ich brauche tatsächlich mal hin und wieder einen kleinen Anschnauzer, der mich aufrappelt.«79 So selbstständig sie längst als Geschäftsfrau agierte: In solchen Dialogen der Überund Unterordnung, der paternalistischen Führung und des Geführtwerdens, wurde die Differenz der Geschlechter immer wieder statuiert. Die neue Rolle, die Agnes im Krieg bekleidete, blieb eingespannt in bekannte Koordinaten, die selbst unverrückbar schienen: Kategorien wie Härte und Weichheit blieben klassische boundary marker. 75 Albert an Agnes, 5. 4. 1942, in: ebd., S. 485. 76 Albert an Agnes, 10. 2. 1943. Alberts Durchhalteparolen sind Legion: »Es kommen mal Momente, wo man in den Knieen weich wird, aber das dürfen nur Momente sein und dann muß man wieder fest auf den Füßen stehen«; Albert an Agnes, 22. 2. 1943, in: ebd., S. 756, 772. 77 Mitteilungen für die Truppe (OKW ), Mai 1943, Nr. 263. »Wenn man harte Tage hinter sich hat, so könnte es leicht passieren, daß in einem Brief ein Klagelied angestimmt wird. Einer Frau darf das vielleicht unterlaufen. Bei einem Soldaten muß es unmöglich sein«; Mitteilungen für die Truppe (OKW ), September 1944, Nr. 355 /356. 78 Albert an Agnes, 24. 2. 1943, in: Jakobi/Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 774. 79 Agnes an Albert, 18. 5. 1941, in: ebd., S. 183.

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Gleichwohl: In einer Hinsicht stürzte Agnes’ Beteiligung am Krieg Alberts Welt doch noch ins Chaos. Nicht die Expansion weiblicher Handlungsräume, sondern die Ausdehnung des Krieges selbst erschütterte die Geschlechterordnung fundamental. Die alliierten Luftangriffe, die Münster seit 1940 mit zunehmender Wucht heimsuchten, zerstörten in gewisser Weise auch die männliche Exklusivität des Frontkampfes. Spätestens ab Sommer 1943 ließ sich nicht mehr eindeutig sagen, wer von beiden den Krieg intensiver erlebte: Albert an der Ostfront oder Agnes im Inferno der Bombennächte. Die Feuersbrünste, von denen er las, führten Albert vor Augen, wie krachend er in der männlichen Paraderolle des Beschützers gescheitert war. Es zermürbte ihn, »mit gebundenen Händen nur von weitem zusehen« zu können, wie Agnes dem Krieg ausgeliefert war.80 Um seine Ohnmacht zu betäuben, verschickte Albert immer neue Ratschläge, wie sie sich schützen könne. Doch die Anweisungen aus der Ferne (»schön in Deckung gehen«) waren kaum mehr als Selbstsuggestionen; sie konnten das Gefühl des Versagens nicht überspielen. So blieb vom Imponiergehabe früherer Tage im Juni 1943, nach einem Großangriff auf Münster, nur eine kleinlaute Entschuldigung: »Daß Euch das Kriegsgeschehen so anpackt, tut mir von Herzen leid. Ihr macht den Krieg ja tausendmal schlimmer mit wie ich ihn beispielsweise bis jetzt erlebt habe. Hier steht die Front, das bischen Schießen, was hier gemacht wird, zählt garnicht.«81 Je intensiver der Krieg in der Heimat tobte, desto mehr blamierte er den für die Verteidigung zuständigen soldatischen Mann. Nicht dass Agnes als »tapfere deutsche Frau« zur Akteurin des Krieges aufstieg, stellte Alberts Männlichkeit ernsthaft infrage. Der Skandal lag vielmehr darin, dass sie dessen schutzloses Opfer wurde.

4. Fazit Neben ihrer Liebe, all den Sorgen und Hoffnungen, die aus Trennung und Krieg erwuchsen, den geteilten Erinnerungen und Träumen, durchzieht die Briefe von Albert und Agnes Neuhaus ein Thema, das die beiden vielleicht sogar am stärksten verband: die Arbeit. Diese gemeinsame Präferenz verdankte sich nicht nur ihrer kleinbürgerlichen Herkunft und ihrer kaufmännischen Sozialisation. Zum Vorschein kommt, wie tief das Arbeitsethos in die Gesellschaft eingeschrieben war: Jenseits des egalitären Gemeinschaftsideals florierte in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« eine Konkurrenzkultur der Leistung und des Wettbewerbs.82 Ein Wettbewerb auch zwischen den Geschlechtern: Agnes’ Pensum forderte Albert heraus – und es verun80 Albert an Agnes, 11. 4. 1943. Bereits im Mai 1942 schrieb Albert: »Das ist für uns was Entsetzliches, wenn das hier so langweilig ist und man hört dann von der Bombardierung deutscher Städte und man muß zukucken, ohne helfen zu können«; 11. 5. 1942, in: ebd., S. 818, 516. 81 Albert an Agnes, 3. 3. 1942 und 28. 6. 1943, in: ebd., S. 434, 892. 82 Vgl. Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen »Ordnung der Arbeit«, Opladen 1989; Martin Broszat, Grundzüge der gesellschaftlichen Verfassung des Dritten Reiches, in: Ulrich Herrmann (Hg.), »Die Formung des Volksgenossen«. Der »Erziehungsstaat« des Dritten Reiches, Weinheim 1985, S. 25-39, hier: S. 33-35; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, München 2003, S. 684-690.

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sicherte ihn, sobald er sich im Rückstand wähnte. Auf einem Vorsprung an Leistung gründete sein Selbstverständnis als Mann in der zivilen wie in der militärischen Welt. Gerade weil das Ideal beide Sphären überspannte, wirkte es als grundlegende Voraussetzung: Es ermöglichte die soldatische Identifikation, während umgekehrt das Soldatsein nur eine von mehreren Optionen war. Die Frage, ob er Kämpfer oder Kaufmann, soldatischer oder ziviler Mann sein wollte, beantwortete Albert im Kriegsverlauf unterschiedlich. Nach Erfolgen an der Front ging er in der soldatischen Rolle auf; je monotoner sich dagegen der Einsatz entwickelte, desto prekärer wurde die Identifikation. Mit wachsender Dauer des Krieges und zunehmender Untätigkeit holte ihn der alte Konflikt zwischen ziviler und militärischer Existenz wieder ein und drohte ihn zu zerreißen. Damit entzieht sich Alberts Kriegsbiografie gängigen Typologien, die kategorial zwischen »geborenen« und »gezogenen« oder »intrinsisch« und »sozial motivierten« Soldaten unterscheiden.83 Albert hat das Soldatsein mal verherrlicht, mal verwünscht; sein Weg durch den Krieg ist viel zu kurvenreich, sein Selbstbild viel zu ambivalent und inkonsistent, um in statische Schablonen einzurasten. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass sich Alberts Vorstellungen von Männlichkeit wie ein Fähnchen im Wind bogen oder überhaupt konturlos blieben. Im Gegenteil: Der Orientierungsrahmen, in dem sich seine Positionswechsel vollzogen, blieb erstaunlich stabil. Zu keinem Zeitpunkt zog Albert in Zweifel, dass sich wahre Männlichkeit an der Front auszeichnete. Glaubte er dem Front-Ideal nicht entsprechen zu können, wollte er die Rolle wechseln, aber keineswegs das Ideal. Mehrfach schwor er dem Soldatsein ab, weil er sich unzulänglich vorkam – doch auch so, indem er sein Scheitern am Ideal bedauerte, bestätigte er letztlich dessen Geltung. Daraus lässt sich ersehen, wie Selbstdarstellungen der Männlichkeit in Feldpostbriefen generell gelesen werden sollten: nicht als innere Seinszustände, sondern als Ausdruck des Wollens und Sollens; als normative Orientierungen, die gerade deshalb so erstrebenswert erschienen, weil sie so oft verfehlt wurden.84 Zu den Elementarteilchen im Kosmos des Männlichen gehörte für Albert die Dominanz gegenüber der weiblichen Heimat, die Spiegelung der Hegemonie im anderen Geschlecht. Dieses Arrangement erwies sich als ausgesprochen beständig, auch wenn die Dynamik des Krieges altbekannte Demarkationen verrückte und neue Rollen ermöglichte.85 Damit sperrt sich der Briefwechsel gegen die verbreitete These, die tradierte Geschlechterordnung wäre im Krieg »nivelliert« worden oder zusammengebrochen.86 Häufig nehmen Forschungen, die zu solchen Übertreibungen 83 Vgl. Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 23; Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München 2012, S. 142. 84 Vgl. Connell / Messerschmidt, Hegemonic Masculinity (wie Anm. 18), S. 832, 846. 85 Vgl. Hämmerle, Gewalt und Liebe (wie Anm. 22), S. 202; Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 44), S. 348. 86 Vgl. Steinbacher, Differenz der Geschlechter? (wie Anm. 41), S. 99; Gisela Bock, Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus, in: Kirsten Heinsohn / Barbara Vogel / Ulrike Weckel (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Hand-

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neigen, ausschließlich die Expansion weiblicher Handlungsräume in den Blick und übersehen, dass der Krieg neue Horizonte für Frauen und Männer eröffnete. Auch wenn sich aus einem einzigen Briefkonvolut schwerlich allgemeine Schlüsse ziehen lassen, liefern die Kriegsbiografien von Albert und Agnes Neuhaus dafür zumindest eindrückliche Beispiele. Alberts Briefe verdeutlichen, welches Achtungspotenzial Männer an der Front erwarben und wie majestätisch sie gegenüber der »weiblichen Heimat« auftreten konnten. Als Agnes im Streit mit einem Lieferanten rüde angegangen wurde, verbat sich Albert den Ton gegenüber einer Frau, deren Mann »bereits ein ganzes Jahr an der Ostfront« stehe.87 Nicht Agnes’ Pensum verdiente den Respekt, sondern Alberts Fronteinsatz. Nicht die fleißige Arbeiterin genoss den privilegierten Status, sondern die Frau als »Frontsoldatenfrau«, in der Eigenschaft ihres Mannes.88 Die männliche Front war das Gardemaß »volksgemeinschaftlicher« Leistung. So gesehen verflüssigte der Krieg die Geschlechtergrenzen nicht, sondern akzentuierte die Unterschiede schärfer als zuvor. Auf den ersten Blick wirkte die Idee der »Leistungsgemeinschaft« durchaus integrativ: Sie setzte den Einsatz von Front und Heimat in Beziehung zueinander, richtete beide Geschlechter auf ein gemeinsames Ziel aus. Doch weder Albert noch Agnes zogen daraus den Schluss, dass sie auf Augenhöhe um den »Endsieg« kämpften. Die Konversation der Eheleute zeigt vielmehr, dass die im propagandistischen Reden über die »Volksgemeinschaft« betonte »Gleichwertigkeit« der Geschlechter eben nicht bedeutete, dass sich Männer und Frauen als gleichrangig erachteten.89 Für Albert war die Welt »in Ordnung«, solange er als Soldat auftrumpfen konnte, auch wenn Agnes seinen Platz im Geschäft einnahm. Aber auch in weniger erbaulichen Zeiten musste er nicht fürchten, seinen familiär-beruflichen Führungsanspruch einzubüßen. Schon um die Beziehung nicht zu gefährden, beschied Agnes sich entweder mit der Rolle der schmeichelnden Soldatenfrau, die ihren Ehemann bewunderte und umsorgte, oder der servilen Geschäftsfrau, die als erste Angestellte ihres Mannes auftrat. In dieser komplementären Konstellation ließen sich die Konflikte, die aus den neuen Rollen resultierten, entschärfen oder mindestens eindämmen. Beide Eheleute betraten neues Terrain, aber deshalb erfanden sie ihre Beziehung nicht neu: Sie verbanden das Ideal der Geschlechtergemeinschaft, in der »jeder auf seinem Posten« kämpft, mit der traditionell patriarchalen Vorstellung, nach der weibliches Handeln auf Männer bezogen bleibt. Diese »eigentümliche Gleichzeitigkeit von Kontinulungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M. 1997, S. 245277, hier: S. 257. 87 Albert an Agnes, 13. 6. 1942, in: Jakobi / Link, Zwischen Front und Heimat (wie Anm. 1), S. 542. 88 Albert an Agnes, 30. 1. 1943, in: ebd., S. 734. 89 Vgl. Leonie Wagner, Nationalsozialistische Frauenansichten. Weiblichkeitskonzeptionen und Politikverständnis führender Frauen im Nationalsozialismus, Berlin 2010, S. 34-59; Elizabeth Harvey, Geschlechterordnung und »Volksgemeinschaft« im Nationalsozialismus, in: Winfried Nerdinger (Hg.), München und der Nationalsozialismus, Katalog des NS -Dokumentationszentrums München, München 2015, S. 490-496.

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ität und Veränderung« kennzeichnet die Ehe von Albert und Agnes Neuhaus.90 Ihre Konversation gleicht dem Versuch, die althergebrachte Hierarchie in neuer arbeitsteiliger Harmonie zu leben: Albert, indem er von der Front aus dirigierte; Agnes, indem sie zwischen Folgsamkeit und Fürsorglichkeit changierte; und beide, indem sie sich die Wiederherstellung der alten Verhältnisse für die Zukunft versprachen. Diese Zukunft jedoch blieb eine gemeinsame Illusion. Am 26. März 1944 schrieb Agnes ein weiteres Mal, wie sehr sie sich ein Wiedersehen wünsche. Ihr Brief erreichte Albert nicht mehr. Er war kurz zuvor an den Folgen eines Bauchdurchschusses gestorben.91

90 Michael Meuser, Entgrenzungsdynamiken: Geschlechterverhältnisse im Umbruch, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), H. 40, S. 17-24, hier: S. 17. 91 Agnes Neuhaus überlebte ihren Mann um beinahe 50 Jahre; sie starb im Sommer 1993.

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»One-Night-Stand und Massenmord« Ein Diskussionsforum zum Film Die Blumen von gestern (Chris Kraus, D 2017) Totila Blumen (Lars Eidinger) ist Holocaust-Forscher und das mit Leib und Seele. Der schrullige 40-jährige, verheiratet mit der Veterinärin Hannah (Hannah Herzsprung) und Vater einer Adoptivtochter, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg (ZStL). Wenn es um den Holocaust geht, ist er zu keinem Kompromiss bereit und erhebt Einspruch, als seine Kollegen versuchen, einen geplanten Auschwitz-Kongress ausgerechnet mit Mercedes-Werbung zu finanzieren. Die Vergangenheitsbewältigung liegt ihm als Enkel eines SS -Offiziers besonders am Herzen. Seine Studie 10.000 Morde über die Erschießung der Juden in Riga, die sein Großvater verantwortete, hat sogar zum Bruch mit seiner Familie geführt. Auch im Alltag wird Totila nicht müde, gegen Rassismus und die Bagatellisierung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen anzukämpfen – wenn es sein muss, mit der Faust. Selbstsicher im Auftritt nach außen und nie um eine Antwort oder eine Handgreiflichkeit verlegen, neigt er im Umgang mit seiner Ehefrau zu Selbstzweifeln und Larmoyanz. Die familiäre Vergangenheit setzt Totila sichtlich zu, sie hat ihn impotent gemacht und in eine tiefe Lebenskrise gestürzt. Da kommt die neue französische Praktikantin Zazie (Adèle Haenel), die bei der Kongressvorbereitung helfen soll, gerade recht. Auch sie ist als Enkelin eines Holocaustopfers vom Judenmord besessen und von ihrer Familiengeschichte bestimmt. Zazie hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich und eine ausgeprägte Deutschland-Phobie. Völlig mit sich selbst beschäftigt, fordert sie, ähnlich wie Totila, viel Aufmerksamkeit von ihrer Umwelt. Mit diesen beiden verschrobenen Protagonisten nimmt die Komödie Die Blumen von gestern nimmt zwei Holocaustforscher aufs Korn, die nach Herkunft und Lebensart unterschiedlicher nicht sein könnten und sich dennoch ineinander verlieben. Deutsche NS -HistorikerInnen sind selten Protagonisten von Unterhaltungsfilmen. Mit Die Blumen von gestern, einer deutsch-österreichischen Koproduktion, hat der Drehbuchautor und Regisseur Chris Kraus eine skurrile Kinokomödie über die Arbeits- und Gefühlswelt eines ebenso leidenschaftlichen wie desillusioniert-rabiaten Holocaustforschers vorgelegt. In der deutschen Presse wurde der Film kontrovers diskutiert. So sehr daneben gegriffen habe schon lange kein deutscher Film mehr, meinte der Spiegel, während Die Zeit den Film als »entsetzlich komisch« lobte. Eine »Satire für Spießer« kritisierte die Süddeutsche Zeitung, obendrein »laut, krawallig, obszön«, fand der Tagesspiegel. Auch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung missfiel der »Humor nach Böhmermann-Rezept«, während Die Welt sich fragte, ob Deutsche auch Opfer sein können. Beim Kinopublikum dagegen kam der Film gut an. Insgesamt achtmal für den Deutschen Filmpreis nominiert, erhielt Die Blumen von gestern neben vielen weiteren 197

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Auszeichnungen im September 2017 beim Moving History Festival in Potsdam die CLIO Auszeichnung als »Bester Film zu einem historischen Thema«. Mittlerweile liegt der Film auf DVD und als Video on demand vor, zudem wird er im deutschen und österreichischen Fernsehen ausgestrahlt werden und damit ein noch breiteres Publikum erreichen. Wir haben den Film zum Anlass genommen, mit ExpertInnen über NS -Täterforschung als Beruf, über Liebe als Vergangenheitsbewältigung und über HolocaustErinnerung als romantische Komödie zu diskutieren. Da der Film in Deutschland anders gesehen wird als beispielsweise in Frankreich, Israel oder Nordamerika, ist es uns eine besondere Freude, HILARY EARL (Nipissing University, Kanada), DAGMAR HERZOG (City University of New York, USA), CHRISTIAN INGRAO (Institut d’Histoire du Temps Présent, Paris), RAINER ROTHER (Deutsche Kinemathek, Berlin) und MOSHE ZIMMERMANN (Hebrew University Jerusalem, Israel) in der Diskussionsrunde begrüßen zu dürfen. Der DOR Filmproduktion, die uns den Film als Stream zur Verfügung gestellt hat, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. ELISSA MAILÄNDER : Beginnen wir mit dem Protagonisten, dem Holocaust-

forscher Totila Blumen, gespielt von Lars Eidinger. Toto, wie er sich nennt, ist ein pedantisch-akribischer Schiedsrichter über Gut und Böse, der von anderen Geschichtsbewusstsein, politische Korrektheit und Sensibilität einfordert, während er selbst sich nicht im Griff hat, sondern ständig ausrastet, weil er angesichts der Bedeutung des Holocausts, um ihn mal zu zitieren, im Grunde »auf alles scheißt«. Ob man die Figur nun plausibel oder überzogen findet, sie konfrontiert uns mit einer wichtigen Frage: Was macht der Beruf des Holocaustforschers mit WissenschaftlerInnen? Was macht die ständige Auseinandersetzung mit dem Erleiden und dem Zufügen von Gewalt mit uns? RAINER ROTHER : Totila ist, wenn man so will, eine Komödienfigur, als solche auch konstruiert und mit vielen, selbstverständlich überzogenen Herausforderungen konfrontiert, die ihn überfordern. Die Konstruktion dominiert dabei, nicht die Glaubwürdigkeit, der Effekt ist das primäre Ziel. Die Figur soll etwas belegen, nicht so sehr: etwas »verkörpern«. Lars Eidinger hat sichtlich Freude an dieser Rolle, weil er sich in der Figur einer überbetonten historischen (und politischen) Korrektheit – die Totila sozusagen ideal verkörpert – permanent gänzlich »unkorrekte« Handlungen erlaubt. Seinem Chef, dem er sich moralisch überlegen dünkt, einen Zahn auszuschlagen oder einer Holocaust-Überlebenden aus sozusagen fachlicher Sicht die Urteilskompetenz über eben diesen Genozid abzusprechen – all diese Übertreibungen machen das Dilemma des Forsches deutlich: In der Erforschung des Unrechts, die immer auch eine Abrechnung ist, sieht sich Totila überall im Recht. CHRISTIAN INGRAO: Ja, Totila ist eine Karikatur, da stimme ich vollkommen mit Rainer Rother überein. Trotzdem finde ich, dass er ziemlich glaubhaft den intellektuellen Terror verkörpert, den unsere Arbeitsfelder (die Holocaust- und Täterforschung) nicht nur auf unser soziales Umfeld ausüben, sondern auch auf uns selbst. Die Überheblichkeit dieser Filmfigur, gepaart mit ihrer Schüchternheit, trifft etwas, 198

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was man bei vielen (insbesondere männlichen) Forschern beobachten kann. Bei sogenannten schwierigen Forschungsthemen offenbart sich zum einen die Arroganz des Wissenschaftlers besonders deutlich, schließlich reagiert auch das Publikum viel sensibler auf massenhafte Gewalt und Völkermord als beispielsweise auf Quantenphysik … Zum anderen glaube ich, dass die tägliche Auseinandersetzung mit extremer Gewalt, welche das Forschen über den Nationalsozialismus und den Holocaust mit sich bringt, unbestreitbar eine Auswirkung auf die Menschen hat, die das zu ihrem Beruf gemacht haben. Aus sozialpsychologischer Perspektive könnte man hier sogar mit einer sekundären Traumatisierung (vicarious traumatization) argumentieren, wie sie beispielsweise häufig bei PsychotherapeutInnen, KatastrophenhelferInnen oder SozialarbeiterInnen auftritt. Auch HolocausthistorikerInnen, die sich über Jahre ständig mit Menschen beschäftigen, die entweder Gewalt ausüben oder erleiden, sind einer gewissen psychologischen Überbelastung ausgesetzt, die zu chronischem Stress, Depressionen, aber auch Burn-outs führen kann. Gleichzeitig darf man aber nicht vergessen, dass dieser Beruf auch eine außerordentliche soziale Wertschätzung mit sich bringt: Nur wenige Menschen stellen die Nützlichkeit und Gemeinnützigkeit unserer Forschung infrage. Das Prestige, das mit der Holocaustforschung einhergeht, ist eine weitere Facette dieses Berufes, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Ich finde, das ist ein Punkt, der bei Totila zu kurz kommt. MOSHE ZIMMERMANN: Holocaustforscher zu sein kann, in der Tat, obsessiv machen. So far – so good. Doch was »echte Holocaustforscher« suchen, hat ja weniger mit exzessiver, brutaler Gewalt zu tun, als vielmehr mit Bürgerlichkeit, Schreibtischttätern und Mitläufern. Ich finde Totila als Holocaust-Historiker eindimensional und unprofessionell, ja eine schlechte Karikatur. Schlägereien, Impotenz und Nazi-Opa im Paket – das klingt für mich nach schlechtem Hollywoodfilm. Eine historiografische Frage, die ich mir vielmehr stelle, ist: Kann auch jemand, der sich nicht ausschließlich mit der Zeit 1941-45 befasst, noch ein Holocaustforscher sein? Wenn nicht, dann gehöre ich selbst auch nicht zu dieser Gattung. Vor allem mit Blick auf die deutschen Juden gehört jedoch meines Erachtens die Zeit seit 1939, ja seit 1933, vielleicht noch früher, zur Geschichte des Holocausts. Eine autobiografische Bemerkung sei mir gestattet: Die deutsch-jüdische Geschichte verfolgt mich als ProfiHistoriker wahrscheinlich auch, weil die Familiengeschichte stets in meinem Hinterkopf lauert. Aber gerade deswegen protestiere ich gegen die Verwandlung meiner Arbeit in eine Karikatur. DAGMAR HERZOG: Ich war, ehrlich gesagt, anfangs auch unglücklich über den Film. Mehrere Kohorten von HistorikerInnen, auf beiden Seiten des Atlantiks – vor allem feministische und/oder queere, aber beileibe nicht nur – arbeiten schon seit zwei Jahrzehnten zu den vielfältigen Facetten und Zusammenhängen von Liebe und Gewalt. Sie beschäftigen sich auch mit den generationenübergreifenden Lasten und der Tradierung des Massenmordens. Über deren Erkenntnisse lernen wir im Film aber nichts. Mal abgesehen von dem Stereotyp der sinnlich-verführerischen Jüdin, das Zazie verkörpert, erfahren wir beispielsweise nicht, wie sexualisiert der Antisemitismus der Nazis war. Wir lernen auch nicht, wie viel Anreiz und Ansporn zu sexueller Lust, Liebe und Befriedigung – gerade der glücksspendenden, transgressiven, außer199

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ehelichen – es im »Dritten Reich« für die Mitglieder der NS -»Volksgemeinschaft« gab. Und wir lernen nichts über den Stellenwert sexueller Erlebnisse, Beziehungen, Kontakte – als existenzielle Lebensbejahung und/oder als Überlebensstrategie – unter den Opfern von Verfolgung und Massenmord. Einerseits können wir selbstverständlich dankbar sein, dass wir neben den vielen anderen platten Albernheiten nicht auch sexuelle Lust an der Tötungs-Gewalt und/oder die sexuelle Gewalt an den Orten der Massenerschießungen und in den Konzentrations- und Vernichtungslagern vorgeführt bekommen. Diese Auslassungen haben allerdings den Effekt, dass das Liebemachen schön, rein und heilend bleibt; das verkennt die historische Realität. Aber darauf kommen wir vermutlich später noch zu sprechen. HILARY EARL: Anfangs mochte ich Toto nicht, er war als Figur einfach zu überspitzt: wütend und humorlos, gemein und manchmal gewalttätig. Er verhält sich alles andere als respektvoll gegenüber seinen MitarbeiterInnen, seiner Ehefrau, seiner Tochter. Er wirkt wie eine Allegorie des nationalsozialistischen Deutschlands: unberechenbar für seine Umgebung, verletzend, wütend, ja hasserfüllt gegenüber den anderen. Besonders übel spielt er der neuen jüdischen Praktikantin Zazie mit, die ihm von seinem Erzfeind und Kollegen Balti als Hilfskraft zugewiesen wird. Als Wissenschaftlerin hält Toto sie für inkompetent, ja sogar für ethisch-moralisch fragwürdig. Gegen Ende des Films zeigt er sich jedoch versöhnlicher und wird einem sogar sympathisch. Um noch einmal auf die von Christian Ingrao angesprochene Brüchigkeit der Figur Totos zurückzukommen: Erst allmählich erkennen wir seine Schwachstellen, seinen Schmerz und letztlich auch seine Fähigkeit zu Güte und Liebe. Er blüht im Laufe des Films buchstäblich auf – wie eine Blume, das Wortspiel im Titel bringt den Geisteswandel schön zum Ausdruck –, er reift, wird empathisch und sympathisch. Kurz: er verwandelt sich in einen Menschen, der fähig ist, sich und andere zu lieben. Wie sollte man eine Figur, die einen derartigen Transformationsprozess durchläuft, nicht mögen! Am Ende verkörpert Toto die perfekte, geläuterte Filmfigur. Die Art und Weise, wie sich diese Wandlung vollzieht, ist, meiner Meinung nach, kinematografisch ziemlich außergewöhnlich. Toto praktiziert eine spezifisch deutsche Form der Reue und Trauerarbeit: Er wird Wissenschaftler, widmet sein ganzes Leben dem Studium der NS -Geschichte und versucht, den Holocaust zu verstehen. Er scheint überzeugt zu sein, dass die Untersuchung dieses besonderen Kapitels der deutschen Geschichte ihn läutert und zu einem guten Menschen macht. Holocaust-Forschung als Form der Sühne! Interessanterweise, und vielleicht als Kritik an Bernhard Schlinks Der Vorleser gedacht, besitzt Bildung aber keine erlösende Kraft für Toto (oder für Chris Kraus), ganz im Gegenteil: Toto wird umso unausstehlicher, je intensiver er sich mit dem Holocaust beschäftigt. Er kommt mit dieser – seiner – Vergangenheit erst zurecht, als er ein emotionales und menschliches Verhältnis zu ihr herstellen kann. Insbesondere durch die gefühlvolle und körperliche Begegnung mit Zazie, mit der er eine schmerzhafte Vergangenheit teilt. Im Gegensatz zu Schlinks Täterinnenfigur Hanna, einer ehemaligen KZ -Aufseherin, die durch Bildung erlöst wird, wird Kraus’ Täterfigur Toto durch die Hingezogenheit und emotionale Beziehung zu (s)einer historischen »Feindin« geheilt. Das ist ein ziemlich treffendes Narrativ für eine Versöhnungsgeschichte von Opfern und Tätern. 200

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ELISSA MAILÄNDER : Dann zoomen wir uns doch jetzt in den Film hinein. Konzentrieren wir uns auf den Arbeitsplatz, an dem sich Totila und Zazie kennenlernen. Das auf den ersten Blick ungezwungene Arbeitsklima und die lockeren Umgangsweisen, die Institutsbesprechungen mit Knabberzeug und Kaffee – all das täuscht: Die unterschiedlichen NS -Forscher, denen wir im Laufe des Films begegnen, messen einander ununterbrochen, wobei Titel, Publikationslisten und Forschungsgegenstände ihr soziales und symbolisches Kapital bilden. Auffallend sind hier nicht nur gegenderte Hierarchien – einzelne Männer nehmen Führungspositionen ein, das Gros der Mitarbeiter arbeitet im Mittelbau, während Frauen zumeist untergeordnete Posten bekleiden –, sondern auch das geschlechterkonnotierte Imponiergehabe. Umso erfrischender ist die Figur der Überlebenden, Frau Rubinstein, die Totila und seine KollegInnen an die Grenzen ihrer Geduld und Wissenschaft bringt. Mit dem Satz: »Es gibt keine guten Institutionen. Und man ist kein guter Mensch, nur weil man in einer guten Institution arbeitet«, bringt sie das Weltbild der deutschen WissenschaftlerInnen deutlich ins Wanken und trifft zugleich einen wunden Punkt: die Selbstgewissheit, etwas Gutes zu tun. Was halten Sie von der filmischen Inszenierung der Zentralen Forschungsstelle? MOSHE ZIMMERMANN: Man kann von einer solchen Forschungsstelle nicht erwarten, dass sie anders funktioniert als andere Institutionen. Deshalb ist die Normalität – beispielsweise das Foto von Auschwitz als Ornament im Sitzungssaal – gar nicht so absurd. Auch in einer vergleichbaren Institution auf der »Opferseite«, sagen wir mal in Yad Vashem, ist diese Normalität nicht ungewöhnlich. Viel eher sind die zwei Protagonisten fragwürdig. Solche neurotischen Figuren können auch in einem anderen Rahmen (also ohne Holocaust-Buckel) für die nötige dramatische Spannung oder für comic relief sorgen. Ich frage mich also: wozu der Holocaust als Frame? Der Humor, den man hier aktiviert, ist längst kein Tabubruch mehr, folglich als Provokation nicht (mehr) zu gebrauchen. Völlig absurd ist auch die Inszenierung der geplanten Tagung. 10.000 Euro sind doch keine Herausforderung, für die man das schwere Geschütz einer Finanzierung durch Mercedes Benz oder reiche Holocaustüberlebende als Sponsoren auffahren müsste. Ein Antrag bei der Thyssen Stiftung oder bei der DFG würde ausreichen. DAGMAR HERZOG: Ich finde es gerade gelungen, wie der Forschungs- und Arbeitsalltag im Film dargestellt wird. Was mit viel Humor ins Bild gebracht wird, sind die Hierarchien und Rivalitäten innerhalb der wissenschaftlichen Zunft. Dieses Problem, das Freud die »Psychopathologie des Alltagslebens« nannte, geht natürlich weit über das Terrain der HolocaustforscherInnen hinaus. Aber wegen des hohen moralischen Anspruchs, den GenozidforscherInnen an sich stellen (sollten), werden diese sogenannten Fehlleistungen dort als besonders problematisch angesehen. Und es ist von der Filmkritik zu Recht angemerkt worden, dass der Film sich mit seinen vielen unerschrockenen Tabubrüchen positiv abhebt von den allzu oft »betulichen Gedenkritualen« der deutschen Vergangenheitsbewältigungs- und Erinnerungsindustrie. RAINER ROTHER : Ja, der Ton fällt hier anders aus. Der Film signalisiert sozusagen, dass er in seiner Zeichnung der Bemühungen um »Aufarbeitung« der Ver-

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gangenheit anders, sarkastischer vorgeht. Aber zugleich entsprechen die Beziehungen innerhalb des Teams den Konventionen der Komödie – beispielsweise die berufliche Rivalität der Männer, die zu einer um die gleiche Frau wird. Die Verhältnisse im Forscherteam sind gut austariert, könnten aber auch noch etwas schärfer und eigensinniger gezeichnet sein. Gerade die Überheblichkeit Totilas gegenüber den gleichgestellten oder untergeordneten MitarbeiterInnen definiert die Figur. Er sieht sich als Star – in der Szene der Holocaustforscher. Auch hier sollte man den Vergleich mit den Verhältnissen in realen Forschungseinrichtungen oder anderen Institutionen nicht überstrapazieren. Dass Totila sich trotz seiner anfänglichen Verachtung gegenüber ihrer wissenschaftlichen Qualifikation zu Zazie hingezogen fühlt, ist in erster Linie ein Element der Filmkonvention. Wenn zwei so starke, sich aneinander reibende wie voneinander abstoßende Protagonisten etabliert werden, dann ahnt das Publikum aus seiner Seh-Erfahrung heraus schon sehr früh, dass diese Beziehung Entwicklungsmöglichkeiten hat. Die Figur der Frau Rubinstein ist für mich in dieser Hinsicht die freieste in diesem Ensemble, sie hat eine eigene Kraft. HILARY EARL: Als Holocaust-Forscher ist mir Toto im Kern vertraut. Er ist ernst, pedantisch und von seiner Arbeit besessen, er sucht nach tiefgründigen Antworten und Erklärungen für das schlimmste menschliche Handeln: Massenmord. Zweifellos wohnt dem Studium des Holocausts, im Vergleich zu anderen historischen Forschungsgegenständen, eine besondere Würde und Bürde inne, das hat Christian Ingrao ja schon angesprochen. Ob sie nun selbst eine tiefe persönliche Verbindung zum Mord an den europäischen Juden haben oder nicht: Menschen – StudentInnen, KollegInnen, Überlebende – messen dem Studium des Holocaust häufig eine moralische Dignität bei. Ein Überlebender hat mich einmal als righteous bezeichnet, bloß weil ich über den Holocaust forsche. Und eine Kollegin an der Uni meinte sogar einmal zu mir, dass mein Forschungsgebiet »wichtiger« sei als das ihre (als Sozial- und Geschlechterhistorikerin beschäftigt sie sich mit Frauen in der Gasindustrie im viktorianischen Großbritannien). Wie die beiden Beispiele zeigen, gibt es viele (und dazu gehören auch die Holocaust-ForscherInnen selbst), die wie Toto glauben, dass das, was sie studieren, etwas darüber aussagt, wer sie sind. Kurz, dass die Holocaustforschung ein Akt historischer Sühne sei. Aber, wie Frau Rubinstein ja scharfsinnig bemerkt, nur weil Toto in einer wichtigen Institution arbeitet – der Zentralen Stelle –, und weil er gute Arbeit leistet – den Holocaust erforscht –, heißt das noch lange nicht, dass er ein guter Mensch ist. Im Gegenteil, Toto kann sich nichts gönnen, er muss sich (und andere) immer wieder quälen. Kein Humor, kein Spaß, kein Sex, keine Familie – nur die durch historische Dokumente überlieferten Schrecken der Vergangenheit. Alle ForscherInnen wissen, dass man mit seinem Thema lebt, dass es das Leben und möglicherweise auch die Psyche beeinflusst. Hinzu kommt, dass Toto es nicht verhindern kann, neben seiner Forschung von der eigenen Familienvergangenheit ergriffen zu werden, die ihn immer wieder einholt. Aber wie wir aus dem Film (und dem wirklichen Leben) wissen, gibt es keine vollkommen guten oder vollkommen schlechten Menschen. Kraus gelingt es sehr überzeugend, Stereotype über »das gute Opfer« und »den bösen Täter« infrage zu stellen. Das ist vor allem filmisch gewagt und unterläuft das stereotype Bild des leder202

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gestiefelten, eindimensionalen SS -Mannes, das wir aus Filmen nur zu gut kennen. Für mich ist einer der berührendsten Momente des Films, als Toto und Zazie im Bett liegen und sie ihn fragt, wie sein Großvater so war, und er sagt: »lieb«. Diese Szene wäre noch vor fünf Jahren undenkbar gewesen, und dass Kraus sie so zeigt, ist ein Beweis dafür, wie weit ZuschauerInnen heute bereit sind, sich auf die Komplexität menschlichen Verhaltens einzulassen. Ein Täter, der tötet, das habe ich in meiner eigenen Forschung erfahren, kann trotzdem ein liebenswerter und liebevoller Ehemann, Vater, Großvater sein. Das ist ein schwieriges Terrain. Man läuft Gefahr, zu viel Empathie für die Täter aufzubringen, aber Kraus erlaubt uns, die Menschlichkeit des Täters zu sehen, ohne dabei notgedrungen Sympathie für ihn oder seine Taten empfinden zu müssen. Opfer und Täter zusammen als Menschen zu zeigen, ist ein Novum im Film (und in der Geschichte). Normalerweise bekommt man nur die eine oder die andere Perspektive zu sehen. CHRISTIAN INGRAO: Besonders interessant finde ich die Beziehung zwischen den beiden wissenschaftlichen Mitarbeitern, Balthasar Thomas (Jan Josef Liefers) und Totila Blumen, aber auch die Figur des verstorbenen Institutsleiters, Professor Norkus (Rolf Hoppe), der ganz zu Beginn des Films seinen Auftritt hat, gefällt mir. Dieser alte Mann, selbst ein Überlebender, ist eine außergewöhnliche Figur, das zeigt schon sein individualistischer, ethnisch-extravaganter Kleidungsstil, der so gar nicht dem Dresscode der Akademiker entspricht, die im Film entweder Anzug tragen oder einen diskreten Casual Look bevorzugen. Die existenzielle Fürsorge und nervöse Anspannung der gesamten Institutsbelegschaft bei den Vorbereitungen des Auschwitzkongresses erscheinen mir zwar reichlich übertrieben. Trotzdem ist es interessant, an diesem »Event« den Zusammenstoß der beiden Rivalen, Totila und Balthasar, zu beobachten. Hier geraten zwei unterschiedliche Auffassungen von der Aufarbeitung der NS -Vergangenheit aneinander: Balthasar ist Pragmatiker und Vertreter einer Geschichtswissenschaft ohne Pathos und Betroffenheitspädagogik. Totila hingegen vertritt bewusst eine moralisch radikale Haltung und ist zu keinerlei Kompromissen bereit. Totila und Balthasar verkörpern zwei Varianten von wissenschaftlicher Selbstinszenierung. Und natürlich ist es Totilas moralisches Geschichtsverständnis, das die Holocaustüberlebende Frau Rubinstein letztendlich dazu bewegt, doch an der Konferenz teilzunehmen, die sie ursprünglich zu boykottieren gedachte. Alles in allem finde ich jedoch, dass sich Rivalitäten in der wirklichen akademischen Welt anders artikulieren, ob nun in Frankreich oder in Deutschland, insbesondere, was ihre Gewaltförmigkeit betrifft. Die im wissenschaftlichen Milieu angewandte Gewalt bleibt vornehmlich verbal und symbolisch, körperliche Gewalt ist ein Tabu. Außerdem hätte Totila der Faustschlag, mit dem er ganz zu Beginn des Films seinen Rivalen ordentlich zurichtet, in jedem westeuropäischen Land ein paar Wochen Knast oder zumindest eine Klage auf Körperverletzung eingebracht. Was den Konflikt zwischen ZeitzeugenInnen und HistorikerInnen anbetrifft, so ist der Film ziemlich repräsentativ für meine Institution, das Pariser Institut für Zeitgeschichte (Institut d’Histoire du Temps Présent). Da ich jedoch lediglich zu Tätern forsche, muss ich gestehen, dass ich persönlich nie in eine solche Konfliktsituation geraten bin. Die Figur von Frau Rubinstein hat mich an bestimmte französische 203

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Überlebende erinnert, die ebenfalls mit einer sehr starken Persönlichkeit ausgestattet sind. Ich denke beispielsweise an Simone Veil (1927-2017) oder auch Marceline Loridan-Ivens (geboren 1928). Kurz, Frau Rubinstein ist eine wirklich gelungene Filmfigur, ich glaube, diesbezüglich stimmen wir alle überein. ELISSA MAILÄNDER : Kommen wir zu Totila Blumens Privat- und Familienleben. Totila ist ein komplexer, ziemlich widersprüchlicher Mann. Nicht nur Haarausfall und Impotenz machen ihm zu schaffen, auch die NS -Vergangenheit seines Großvaters hängt wie ein dunkler Schatten über ihm, ja beeinträchtigt seine Kleinfamilie, bestehend aus seiner Ehefrau Hannah und der Adoptivtochter Sarah. »Das Dunkle« ist manchmal so belastend, dass Hannah einmal entfährt: »Kann diese Traumascheiße nicht ’mal aufhören?« Totila kann einem schon fast leidtun; aus gesellschaftspolitischer Sicht stellt sich jedoch die Frage: Ist seine Familiengeschichte für sein Unbehagen in der Welt, für seine Aggressionen und seinen Zynismus verantwortlich? Oder muss sein Verhalten und Familienleben nicht auch aus einer geschlechteranalytischen Perspektive betrachtet werden? DAGMAR HERZOG: HistorikerInnen, die nur von dem Film hören, fragen immer wieder, was es denn wohl mit Totilas Impotenz auf sich hat. Warum hat der Filmemacher ihn so gezeichnet? Man kann das verschieden interpretieren. Erstens könnte die Impotenz eine allegorische wie praktische, krasse Versinnbildlichung eines tief in den Körper eingedrungenen »Schuldkults« sein (um einen Terminus der AfD auszuleihen). Die Wahl des Topos »Impotenz« – wie die Demenz von Totilas Mutter – weckt aber auch Assoziationen an eine lange, inzwischen mindestens vier Jahrzehnte währende, obsessive Beschäftigung der Deutschen mit dem Schreckensbild der »aussterbenden Deutschen«. Und in der Tat: Es bedarf im Film offensichtlich eines schönen und schlagfertigen schwarzen Adoptivkinds (Sarah alias Djenabu Jalloh) sowie eines jüdischen Uterus, um neue und gute Deutsche zu produzieren. Aber man kann das auch andersherum interpretieren: Totila als impotent darzustellen, ermöglicht eine Art vorauseilenden Selbstschutz, nicht nur des Hauptdarstellers, sondern des Films insgesamt. Denn Totila kann dadurch nicht bezichtigt werden, ein an der Vergangenheit seines Landes innerlich unbeteiligter Deutscher zu sein; die Gebrechlichkeit seines Körpers feit ihn vor einem solchen Vorwurf. Eine (etwas verkorkste) Männerfantasie bleibt der Film dennoch. Allein schon durch die (nicht ganz überzeugende) Inszenierung, dass nicht nur eine, sondern, zählt man die Ehefrau mit, gleich zwei schöne Frauen Totila leidenschaftlich begehren, obwohl er in vielerlei Hinsicht ein ungenießbarer – zugegeben recht gescheiter – Trottel ist. Hier reiht sich der Film ein in eine wissenschaftlich bislang leider unterbelichtete und unverkennbar deutsche, langandauernde Beschäftigung mit männlicher Verunsicherung. Zugleich ist im Film von Feminismus oder überhaupt von weiblicher Kompetenz – mit Ausnahme der wunderbar barschen Überlebenden Frau Rubinstein – nicht viel zu sehen. Zazie ist nicht nur schön, sie ist auch psychisch labil, regelrecht verrückt, obwohl die Ursachen dafür unklar bleiben. Sie kann Totila zwar aus der Fassung bringen, aber eine ernsthafte intellektuelle Konkurrentin ist sie nicht. Der Mann kennt sich aus mit den Details von Gewehren, Gasen, Automarken; das Mädchen ist für die Gefühle zuständig. 204

»one-night-stand und massenmord«

CHRISTIAN INGRAO: Für mich ist das die am schwersten zu beantwortende Frage … Zum einen erhalten die ZuschauerInnen erst am Ende des Films alle Informationen über Totilas Familiengeschichte, die NS -Vergangenheit seines Großvaters und seine eigene Neonazi-Jugend. Vor diesem Hintergrund erscheinen plötzlich auch seine Gewaltausbrüche in einem völlig anderen Licht. Aber von seiner Gewaltbereitschaft abgesehen, ist Totila ein völlig banaler, neurotischer westlicher Mann: Bei der Arbeit ein Chaot, zu Hause instabil, führt er Gespräche mit seiner Adoptivtochter, die für ein Kind unangemessen sind. Ganz offensichtlich ist Totila unfähig, sein Leben zu regeln, geschweige denn eine ernstzunehmende Rolle im Familienleben einzunehmen. Vermutlich überlässt er die psychologische Familienarbeit seiner Frau Hannah. Dagmar Herzog hat prägnant auf den Punkt gebracht, wie geschlechterkonnotiert dieses Verhalten ist. Das Problem liegt meiner Meinung nach darin, dass der Regisseur und Drehbuchautor alles auf Totilas belastende (Familien-)Vergangenheit zurückführt, dabei geraten leider viele andere wichtige Charakterzüge und Prägungen der Figur aus dem Fokus. HILARY EARL: Ich fand dieses Element des Films am wenigsten befriedigend, vielleicht weil es die uralte Frage der Bedeutung von Natur oder Erziehung aufwirft. Wird menschliches Verhalten (auch gewalttätiges Verhalten) gelernt – oder werden wir als Mörder geboren? Kraus entfaltet das nicht hinreichend, sodass die ZuschauerInnen nicht genug Raum haben, um sich selbst ein Urteil darüber zu bilden. Es ist gut möglich, dass Toto aufgrund des ideologischen Hintergrundes seiner Familie zu einem gewalttätigen Neonazi wurde. Aber es ist ebenso möglich, dass er von Natur aus eine gewalttätige Ader hat (diesen Eindruck hinterließ er zumindest bei mir während des gesamten Films). RAINER ROTHER : Die Häufung mentaler Gebrechen erinnert an Woody Allen – Totila scheint mir gelegentlich als Pendant zu dessen Figuren, aber auch als Gegenentwurf gezeichnet zu sein. Der »Stadtneurotiker« und seine Neurosen – das ist eine durchaus selbstironische, ja selbstverliebte Konstellation. Schwäche wird zu einer bestimmten Art der Stärke, während bei Totila – groß, stark, auch in Handgreiflichkeiten »seinen Mann stehend«, Konflikte suchend statt vermeidend – die unverkennbaren »Neurosen« nicht zum Selbstbild passen, nicht angenommen werden. Er leidet unter ihnen, während Allens Figuren aus ihnen gerade ihren Charme beziehen. MOSHE ZIMMERMANN: Totila wäre auch ohne den Holocaust-Zusatz eine Karikatur. Im Rahmen einer Geschichte über die dritte Generation einer NaziFamilie umso mehr. Da sollte man den Sohn von Hans Frank, den Enkel von Rudolf Höss oder von Baldur von Schirach fragen. Die wüssten Bescheid, und ich nehme an, die werden meiner Meinung sein. Übrigens, Harald Welzer und sein Team haben in Opa war kein Nazi ja eindrücklich gezeigt, dass eine solide Aufklärung über die Verbrechen der Vergangenheit bei der Enkelgeneration gerade das Bedürfnis erzeugt, die Großeltern im nationalsozialistischen Universum des Grauens so zu platzieren, »dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt«. Vor diesem Hintergrund wirkt Totila nicht besonders glaubhaft. Aber vielleicht kann ein Angehöriger der Opfergesellschaft (wie ich) die Erfahrung der dritten Generation der Täter nicht begreifen. Als Holo-

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caustforscher vielleicht – aber als Historiker kann ich die Figur Totilas überhaupt nicht nachvollziehen. ELISSA MAILÄNDER : Dann kommen wir zu seiner Antagonistin: Mit Zazie Lindeau, der französischen Praktikantin, findet Totila Blumen seine weibliche Entsprechung. Zazie und Totila verbindet mehr als nur das Forschen über den Holocaust, ihre Großeltern teilen eine gemeinsame, sehr persönliche Gewalt-Geschichte: Sie gingen in Riga gemeinsam auf das deutsche Gymnasium, bevor Totilas Großvater seine ehemalige Klassenkameradin zusammen mit den anderen Rigaer Juden ermorden ließ. Für mich ist einer der wichtigsten Sätze im Film Totilas bedingungsloses Geständnis der Verantwortung und der Schuld seines Großvaters: »Mein Großvater hat Ihre Omi nicht vielleicht, er hat sie ganz sicher umgebracht.« Das klingt in der Tat bemerkenswert, ja erstaunlich aus dem Munde eines Deutschen der dritten Generation. Doch Moshe Zimmermanns Einwände sind berechtigt: Was verbindet denn diese dritte Generation von NS -Opfern und Tätern eigentlich? RAINER ROTHER : Die Schwierigkeit mit »deiner« und »meiner« Geschichte ist, dass keine Fiktion sie als eine gemeinsame konstruieren kann. In Alice Agneskirchners Film Ein Apartment in Berlin wird semi-dokumentarisch eine interessante Versuchsanordnung durchgespielt. Drei junge, in Berlin lebende Israelis beziehen eine Altbauwohnung und erkunden über Dokumente die Geschichte einer jüdischen Familie, die vor ihrer Deportation und Ermordung durch die Nationalsozialisten in einer ähnlichen Wohnung gelebt haben könnte. Hier kommen die Regisseurin und ihre Protagonisten genau zu diesem Punkt: »Das ist dein Holocaust, nicht meiner«, sagt einer der Bewohner zur Regisseurin, er will sich deren Sichtweise nicht aufdrängen lassen. Die Perspektiven sind widersprüchlich, das spüren auch die Figuren. Sich über sie zu definieren, wie Totila und Zazie es tun, schließt dauerhafte Gemeinsamkeit meiner Meinung nach aus. Dies ist in der Konstruktion von Die Blumen von gestern angelegt. Der Plot verschränkt die Familiengeschichten seiner Hauptfiguren so sehr, dass Totila das Geständnis machen kann (und muss), sein Großvater habe ihre Großmutter ermordet. Dennoch beginnt zwischen Toto und Zazie eine Liebesgeschichte. Einerseits erfüllt das die Genrekonvention, die Extreme stoßen sich zu Beginn ab, woraus dann die gegenseitige Anziehung entstehen kann: Die als ignorant bezeichnete Praktikantin und der ebenso arrogante wie engstirnige Holocaust-Experte sind dafür die perfekte Basis. Hinzu kommt, dass Zazie sich aus der (Selbst-)Definition als Enkelin ihrer ermordeten Großmutter zu lösen sucht. Sie will nicht auf eine Opferperspektive festgeschrieben werden, sondern interessiert sich zunehmend auch für die Täterseite. Das gibt der beginnenden Liebesgeschichte weiteren Anschub. Ich finde jedoch, der Film legt seine Figuren sehr stark als Exempel – für die »dritte Generation« – an und definiert sie mit ihren geradezu spiegelbildlich kontrastierenden Familiengeschichten als deren »Vertreter«. Anders gesagt: Er legt sie auf diese Perspektiven fest. CHRISTIAN INGRAO: Ich bin französischer Staatsbürger und habe Zazies Figur irgendwie, sagen wir mal, als eine stereotype Verkörperung unseres nationalen Frauenideals empfunden: kleingewachsen, schlank, hübsch, überschwänglich, romantisch und zugleich cholerisch und ziemlich unerträglich. Zazie spricht selbstverständlich 206

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Abb. 1: Toto und Zazie, auf den Spuren ihrer Familienvergangenheit. Quelle: Screenshot »Die Blumen von gestern« (Chris Kraus, D 2017). ein Deutsch, um das sie die meisten französischen HolocaustexpertInnen – mich eingeschlossen – beneiden würden. Ihre Lebendigkeit macht sie ungemein liebenswert: die Szene, wo Zazie bei der Suche nach der Bulldogge des verstorbenen Direktors weint und klagt, nachdem sie den armen Hund vorher im Feuer einer Diskussion eigenhändig aus dem Auto geworfen hat, fand ich sehr komisch und großartig gespielt. Klar, im weiteren Filmgeschehen zeigen sich Charakterschwächen dieser jungen Frau. Und ja, Zazies Vorgehen hat auch etwas Manipulatives. Freilich kann diese Form von deutsch-französischer Beziehung so manche ZuschauerIn verstören. Nichtsdestotrotz finde ich Zazie die spannendste und liebenswerteste Figur des ganzen Films. Die Beziehung zwischen Totila und ihr dient zunächst einmal der Dramaturgie des Films, am Ende sagt sie aber zweifelsohne auch etwas über den spezifischen Umgang des Drehbuchautors und seiner Generation mit der NS -Vergangenheit aus. Es hat mich weder verwundert noch schockiert, dass Totila die Schuld und Verantwortung seines Großvaters bedingungslos anerkennt und sie sogar auf sich nimmt. Mich erinnert seine Unerschrockenheit an die Generation von HistorikerInnen, zu der beispielsweise Christian Gerlach, Dieter Pohl oder Susanne Heim gehören. Sie alle haben viel dafür getan, dass die Schulddebatte in Deutschland mit einem neuen Fokus geführt wurde. Durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten haben sie dazu beigetragen, dass über Nationalsozialismus und Holocaust vor nunmehr 20 Jahren auch im Bundestag diskutiert wurde. Totilas selbstkritische Aussage bezieht sich in meinen Augen auf die Bedeutung der Regionalgeschichte des Holocausts. Denn erst durch diese radikale Geschichte »von unten« konnten wir uns den AkteurInnen nähern, ihre Gewalttaten und Verbrechen erforschen. Für mich ist die Szene ein Plädoyer für 207

diskussionsforum

die emanzipatorische Dimension von historischer Forschung: Sie löst sich von alten Mustern und Normen und sucht und findet neue Wege. Diese Art der Geschichtswissenschaft hat ihre ganz eigene Anziehungskraft. Als ich ein Schuljunge war, lernten wir in Frankreich relativ wenig über den Nationalsozialismus, über die SS usw. ... Eines Tages stieß ich auf einen Artikel in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift, der im Wesentlichen ein übersetzter Auszug aus Heinz Höhnes Buch Der Orden unter dem Totenkopf – Die Geschichte der SS war. Ich las dort zum ersten Mal, dass zuhauf Intellektuelle in der SS waren. Ich war schätzungsweise acht oder zehn Jahre alt, und das hat mich völlig verblüfft. Zwölf Jahre später studierte ich Geschichte an der Universität von Clermont-Ferrand, meine Freundin wollte unbedingt unsere Stadt verlassen, und ich wollte mit ihr fort. Mir fielen die Intellektuellen in der SS wieder ein, und ich machte bei den Professoren für Zeitgeschichte an meiner Universität die Runde. Keiner von ihnen forschte zu Deutschland, geschweige denn über den Nationalsozialismus oder den Zweiten Weltkrieg. Es fand sich keiner, der meine Magisterarbeit betreuen konnte (oder wollte). Also musste ich nach Paris. Ich brauchte weder meine Professoren noch meine Eltern zu überreden, alle waren von der Bedeutung der NS -Täterforschung überzeugt. Heute muss ich gestehen, dass ich damals absolut nichts über den Nationalsozialismus wusste, doch die Frage nach den Intellektuellen in der SS trieb mich um. Ich wurde sozusagen durch das Erstaunen des Kindes zum NS -Historiker. Und ja, das war eine persönliche und intellektuelle Emanzipationsgeschichte. HILARY EARL: Wie Toto ist auch die Figur von Zazie überzeichnet, aber irgendwie ist sie von Anfang an, da stimme ich Christian Ingrao zu, sympathischer, weil sie die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle verkörpert. Wie Toto ist auch Zazie vom Holocaust und von ihrer Familiengeschichte besessen. Aber im Gegensatz zu ihm versucht sie, dem Schmerz zu entkommen, sich von ihm zu befreien, während Toto buchstäblich darin schwelgt. Was ich an diesem Film besonders interessant und neuartig finde ist, dass hier zum ersten Mal ein Täter über Intimität »erlöst« wird, über zwischenmenschlichen Kontakt und eine sexuelle Beziehung. Und zwar in einer seltsamen und gewagten Verkehrung der Rollen: Toto ist ein Opfer seiner eigenen Vergangenheit, der Vergangenheit seiner Familie und der Geschichte seines Landes. All das hängt miteinander zusammen. Auch Zazie ist mit dieser Vergangenheit verbunden – Totos Großvater hat ihre Großmutter getötet. Wie findet man von dort zurück? Wie gewinnen eine Person und eine Gesellschaft nach einem derartigen Ausmaß von Gewalt ihre Menschlichkeit zurück? Wie gelingt es Deutschen und Juden, sich unter solchen Umständen zu versöhnen? Durch menschliche Beziehungen. Die Beziehung zwischen Zazie und Toto ist unglaublich gut dargestellt und macht die Geschichte so stark – die Chemie zwischen den beiden, die Probleme der OpferTäter-Dynamik, die ungleichmäßige, verwirrende Erzählung. Ihre Beziehung bietet einen Kommentar zum Verhältnis von Deutschen und Juden, zu Heilung, Wiedergutmachung und Versöhnung, zu Identität und Geschichte. Ich fand das Thema »Sexualität« im Film neu und urkomisch, zugleich aber auch zutiefst glaubwürdig. Für mich ist das einer der Aspekte, die den Film so faszinierend machen. 208

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Die Vergangenheit verbindet Zazie und Toto in der Gegenwart, die Szene ist wunderschön, in der sich beide in den Armen liegen und Zazie Toto fragt, wie sein Großvater so war und er ihn als »lieb« und liebenswert erinnert. Zazie akzeptiert das. Hier zeigt sich, wie kompliziert Liebe ist. Und diese Szene gibt uns, den ZuschauerInnen, auch Zeit, über die Komplexität der Täterposition und des menschlichen Verhaltens nachzudenken. Die Quintessenz der Beziehung von Zazie und Toto ist positiv, sie dient als Metapher der Hoffnung auf Versöhnung zwischen Deutschen und Juden – irgendwann. DAGMAR HERZOG: »Love and death are always on my mind«, so der Titel eines Songs der kanadischen Rockband The Stills aus dem Album Logic Will Break Your Heart von 2003. »Holocaustforscher können auch über Sex sprechen, und Sexforscher können auch über den Holocaust sprechen. Wir sind Menschen. Menschen töten sich, Menschen lieben sich.« Diese Sätze, gesprochen von der französisch-jüdischen Praktikantin Zazie Lindeau, fallen just zu dem Zeitpunkt, wo man den Film von Chris Kraus schon eine Stunde und zwei Minuten lang geschaut hat – ob mit Irritation oder Interesse oder einer Mischung aus beidem. Bald darauf wird Zazie im Bett von Totila landen. Was kann man solchen Sätzen noch hinzufügen? Liebe und Gewalt, Libido und Todestrieb, One-Night-Stand und Massenmord – die Inhalte und Assoziationen ändern sich über die Jahrhunderte hinweg. Aber die Themen selbst bleiben doch irgendwie klassisch und zeitlos, von der Bibel über Shakespeare bis hin zu Freud und unserer postmodernen Gegenwart. Der Film tut so, als ob das neu wäre. MOSHE ZIMMERMANN: Ich halte Nikolaus Leytners Film Die lange Welle hinterm Kiel von 2012 für ehrlicher (und besser), er behandelt das gleiche Problem, aber für die erste Generation. Mit der dritten Generation habe ich sehr zwiespältige Erfahrungen gemacht. Einmal war ich zum Vortrag in eine Tel Aviver Schule eingeladen, ich sollte die Schüler auf eine Reise nach Polen vorbereiten. Das Thema war die Erinnerungskultur der Shoah in Deutschland, Polen und Israel im Vergleich. Ich habe über die Behandlung von Behinderten in Deutschland gesprochen, worauf sich die Schüler, die wahrscheinlich die Shoah allein mit »dein Opa hat meine Oma getötet« gleichsetzen und den langen Vorlaufprozess der Exklusion ganz verschiedener Gruppen nicht im Blick haben, beschwerten: Der Redner sprach gar nicht über den Holocaust. Kein Wunder, dass diese Kinder (also die dritte Generation in Israel) den Rassismus nur dann verurteilen, wenn er sich gegen Juden richtet, nicht aber, wenn er von Juden ausgeht. Die dritte Generation bleibt für mich weitgehend ein Konstrukt. Ich warte schon mit Spannung auf die Probleme der sechsten Generation … Was die meisten Menschen bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verbindet, ist das Rätsel: Wie konnte das passieren? Und mehr noch: Wie hätte ich mich in dieser Situation (als Täter, Mitläufer oder Opfer) verhalten? Historiker der dritten Generation gehen das Thema nicht so oberflächlich oder eindimensional an wie Totila und Zazie, sondern aufgrund der immer länger werdenden Bibliografie zur Täter-, Mitläufer- und Opferforschung viel differenzierter. Gleichzeitig sind die beiden Protagonisten für die durchschnittlichen KinogängerInnen, die ohnehin nur wenig über den 209

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Prozess des Judenmordes und seine historische Aufarbeitung wissen, gerade deshalb so interessant und lustig, weil sie eindimensional und verrückt wirken. HILARY EARL: Genau, die Vergangenheit ist eben nicht nur die Vergangenheit. In Die Blumen von gestern versucht Zazie, sich umzubringen, und wir erfahren, dass sie schon mehrere Selbstmordversuche hinter sich hat. In vielen Filmen wäre es ihr gelungen, sich zu töten. Es wäre das Opfer gewesen, dass es Toto erlaubt, wieder zu leben – also die klassische Geschichte vom Opfertod Jesu für die Menschheit. Aber Kraus kann Zazie nicht zum Opfer für Totos Erlösung als Täter machen. Er ist filmisch viel zu clever, vor allem deshalb, weil die Geschichte ihn nicht mit derartigen, in Hollywood und dem Christentum so bewährten Erzählungen davonkommen lässt, um den Protagonisten zu retten. Zu viel steht auf dem Spiel. Zazie und Toto sind gebrochene Menschen, die versuchen herauszufinden, wie sie mit der Vergangenheit in der Gegenwart leben können. Sie stehen für Deutschland und Israel, Deutsche und Juden, nicht nur für Toto und Zazie. Obwohl beider Beziehung eine heilende Kraft innewohnt, können sie letztlich doch kein Paar sein. Deutschland ist noch nicht dazu bereit, und für ein Publikum mit jüdischem Hintergrund wäre eine solche Darstellung wahrscheinlich auch schwer zu verdauen. Dass Toto und Zazie sich jedoch ihre gegenseitige Anziehung eingestehen können, ist ein echter Fortschritt in Richtung Versöhnung, finde ich. Aber eine Märchenerzählung nach dem Motto »sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage« ist eben nicht der Weg, den der Film gewählt hat: Versöhnung ist chaotisch, erfordert Intimität und eine echte Auseinandersetzung mit dem Anderen. Der Weg zur Versöhnung führt vielmehr über zwischenmenschliche Beziehungen. Einander kennenlernen, sehen, wie man arbeitet, lebt, wie man sich fühlt, was man aneinander mag und was nicht, die Anziehungskraft zu respektieren, ihr sogar nachzugeben. Obwohl Kraus die Grenzen von Zazies und Totos Beziehung anerkennt, gesteht er ihnen diese gegenseitige Anziehung zu. Dies, so würde ich behaupten, ist hoffnungsvoll und menschlich, gleichzeitig chaotisch und (un)möglich. Der Film Die Blumen von gestern steht für das gegenseitige Kennenlernen und die Vergebung durch zwischenmenschliche Beziehung. DAGMAR HERZOG: In der Tat, der Film wird, auch aus meiner Sicht, immer besser, je mehr er sich seinem Ende nähert. Die Szene bei dem Gedenkort an die Massenerschießungen in Riga ist zutiefst berührend. »Do you need anything?«, werden die zwei von einer lettischen Frau gefragt, die dort Wasser und Snacks verkauft. »Yes«, antwortet Totila, »we need anything«. Und gut gezeichnet ist auch die Begegnung mit Totilas Neonazi-Bruder, der mittlerweile im Gefängnis sitzt. Der erzählt Zazie, dass auch Totila einst Juden »bis auf zehn Meter riechen« konnte. Diese Geschichte aus Totilas eigener Vergangenheit führt letztendlich zum Bruch mit Zazie, obwohl er – zumindest für die ZuschauerInnen – plausibel erklären kann, wie und warum er in seiner Jugend zu dieser verhängnisvollen Einstellung gekommen war und auch, wie er sich davon wegentwickelt hat. Der Film ist in vielerlei Hinsicht ärgerlich dümmlich. Aber ich muss zugeben: Er lässt mich auch nicht los. Das liegt meines Erachtens daran, dass er doch – als Ganzes genommen – etwas emotional sehr Wichtiges ausdrückt, über Gegenwartsmenschen, und zwar nicht nur Akademiker210

»one-night-stand und massenmord«

Innen und / oder HolocaustforscherInnen. Dieses »Etwas« möchte ich so fassen: Die Ehrfurcht der Menschen (ob gegenüber Opfern, gegenüber Gott, gegenüber wem oder was auch immer) ist längst verschwunden. Aber ihre Verwundbarkeit und Verletzlichkeit sind es noch lange nicht. Das hat der Film gut getroffen.

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Fu n ds t ück K l aus L at z e l / Fr a n k a M au b ach

Hochzeit in Uniform Eheversprechen und »Volksgemeinschaft«

Ehebündnis 1 Willi Ostermann Isolde Springer Wir geloben uns hiermit, uns im Bunde der Ehe fürs Leben zu vereinen. Unser heiligster Wille sei unserer Familie gesundes Glück, das wir uns täglich aufs neue erkämpfen wollen. Unser Ziel sei eine gesunde Nachkommenschaft, die unserem heiligen Vaterland treu dient und ihm im Kampf um Macht und Ehre in selbstloser Hingabe ihre Lebenskraft opfert. Dazu geloben wir: 1.) unverbrüchliche Treue und hilfreichen gegenseitigen Beistand in Freud und Leid. 2.) unser Benehmen zueinander sei liebe-, achtungs- und vertrauensvoll – gegenüber anderen Personen so, daß der andere Gatte dadurch geachtet wird. 3.) nicht zu streiten und zu zanken; bei Differenzen von Meinungen und Ansichten nicht mit brutalem »Nein« zu kontern, sondern diese Sache mit Vernunft unter 4 Augen zu klären. 4.) folgende Lebensweise: Esse unter Deinem Stande Kleide Dich nach Deinem Stande Wohne über Deinem Stande. 5.) ständige Körperpflege, damit wir beim Anderen nie Abstoß erregen. Phlegma sei uns verhaßt. 6.) aktiver Sport, wenn auch nur tägliche Gymnastik ist Pflicht, dieser darf aber nie zur zeitweisen Trennung der Familie führen, außer es sei von Fall zu Fall vom anderen Gatten erlaubt. 7.) auf Spaziergängen und Wanderungen die Natur kennen- und verstehen lernen, aus ihr unsere Lebenskraft und Freude zu schöpfen.

1 Der Briefwechsel befindet sich in Familienbesitz. Orthografische und stilistische Eigenheiten haben wir unverändert gelassen und beide Namen anonymisiert. Das Dokument liegt in doppelter Ausfertigung vor – von beiden je einmal handschriftlich verfasst und von jeweils beiden unterschrieben.

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klaus latzel / franka maubach

8.) unseren Erbsünden: Er: Vater ist Trinker Sie: in der Sippe sind Ehescheidungen sehr zahlreich ewigen Kampf anzusagen. Wir wollen diese Untugenden streng überwachen und diesbezüglich tadelfrei leben. Dasselbe gilt auch für die Erziehung unserer Kinder. Wir wünschen uns nun einen reichen und gesunden Kindersegen und die nötige Kraft und Glück zum segensreichen Gelingen unserer Ehe. K., den 1. November 1944 Der Bräutigam

Die Braut

Es hat die Zeiten in einem alten Leitz-Ordner überdauert: das »Ehebündnis« der »Kriegsbrautleute« Isolde Springer und Willi Ostermann. Das Etikett auf seinem blauen Rücken trägt die Aufschrift »Willi und meine Briefe ab Hochzeit«, abgeheftet aber ist nur ein schmaler Stapel Papier. Was mit der Hochzeit hätte beginnen sollen, die guten und die schlechten Zeiten einer langen Ehe, Familiengründung und Kindererziehung, all das war wenige Monate, nachdem das Brautpaar sich das Ja-Wort in Uniform gegeben hatte – das Hochzeitsbild ist auf dem Cover dieses Bandes abgedruckt – unwiderruflich vorbei. Kaum 30 Jahre alt, starb Willi in den letzten Kriegstagen an der Ungarn-Front. Deswegen ist der erste Ordner, in den Springer die Briefe bis zur Hochzeit eingeheftet hat, ungleich dicker; er enthält den großen Teil der über 350 Briefe, die das Paar während des Kriegs tauschte. Als die ehemalige Nachrichtenhelferin des Heeres im Alter von 84 Jahren 2014 starb, nahm eine Enkelin die Ordner in ihre Obhut. Sie ist die Tochter eines der beiden Söhne, denen Springer neun Monate nach der Hochzeit das Leben gab und die ohne Vater aufwuchsen. Ähnlich quirlig, unternehmungslustig und patent wie ihre Großmutter, verwahrte sie die Briefe im Materiallager des Sportgeschäfts, das sie in einer großen norddeutschen Stadt führt. Zwischen Jogginghosen und Basketbällen standen sie mit anderen Hinterlassenschaften ihrer Großmutter im Regal und sahen die Kunden kommen und gehen. Von Ostermann und Springer handschriftlich in zweifacher Ausfertigung verfasst und von beiden am Tag der Hochzeit, dem 1. November 1944, je einmal unterschrieben, ist das Ehebündnis alles andere als ein Ehevertrag von heute: keine schiedliche Vereinbarung über Besitzverhältnisse für den Fall einer Scheidung, keine Entscheidung über Dein und Mein. Ein Bekenntnis zu beider ewigem Bund, schreibt es die Quintessenz einer Kriegsbeziehung für die Zukunft fest. Festgehalten werden musste, was in der Gegenwart des Kriegs äußerst flüchtig war: die Gemeinsamkeiten einer Fernbeziehung. Denn bis dahin hatten die Nachrichtenhelferin des Heeres und der Besatzungssoldat ihre Beziehung fast ausschließlich im Modus des Briefeschreibens geführt. Gelegenheiten zu persönlichen Treffen gab es selten, eigentlich nur, wenn beide gleichzeitig Fronturlaub bekamen. Selbst für die Hochzeit gelang dies nur nach vielen vergeblichen Anläufen: Ende Oktober 1944 wurde Ostermann und Springer 214

fundstück

endlich ein jeweils dreiwöchiger Heiratsurlaub bewilligt. In der norddeutschen Heimatstadt von Springers Schwester fand Anfang November die Trauung statt, zu der – auf Springers ausdrücklichen Wunsch – beide in Uniform erschienen.2 Bei dieser Gelegenheit unterzeichneten die Frischvermählten auch das schon vorher gebührend diskutierte, aber erst jetzt ins Reine formulierte Ehebündnis, gedacht und angelegt als eine Versicherung für die Zukunft zweier »Kriegsbrautleute«, die bald wieder auseinandergehen mussten.3 Schriftlich Zeugnis für ihre Liebe abzulegen, war Ostermanns Idee gewesen. Dem dringlichen Wunsch, der kriegsgestifteten Beziehung ein taugliches Fundament zu verleihen, gab er in seinen Briefen wieder und wieder Ausdruck; nicht immer war Springer von seinen Vorschlägen begeistert. Zuerst hatte er sich eine ausgefeilte Verlobungszeremonie ausgedacht, ein privat-nationalsozialistisches Ritual irgendwo in den Bergen, das mit der sexuellen Vereinigung besiegelt werden sollte. Erlaubt war das aber erst nach Vorlage eines rassischen Rechenschaftsberichts: einer dicken, schweinsledern gebundenen »Familienchronik« in drei Teilen. Nach der Präambel sollte eine Dokumentation über die »Vorgeschichte der Ahnen« folgen, eine Art privater Ariernachweis zum Beweis ihrer rassischen Tauglichkeit, gefolgt von beider Kennenlern- und Liebesgeschichte in den zwei Varianten ihrer Erinnerung, versehen mit Kommentaren des jeweils anderen, um so zu einer gemeinsamen, endgültigen Fassung zu kommen.4 Doch Plan und Chancen zur Verwirklichung lagen im Krieg noch weiter auseinander als in Friedenszeiten: Weder erhielt das Paar Verlobungsurlaub, noch gelang es Ostermann, den Folianten zu beschaffen oder die nötigen Dokumente aufzutreiben. Außerdem hielt Springer nur wenig von der Idee. Stattdessen schlug Ostermann am 9. März 1944 vor, »Statuten« oder einen »Heiratsvertrag« über die gegenseitigen »Verpflichtungen (beziehungsweise Versprechungen)« aufzusetzen.5 Von »Statuten« hatte Isolde Springer früher einmal ironisch gesprochen – jetzt machte Ostermann damit auf eine Weise Ernst, die ihr nicht geheuer war.6 In ihrer Antwort vom 19. März machte sie ihrem Ärger Luft und fragte Willi, ob er sie denn »festnageln« und ihr zu gegebener Zeit »das Dokument unter die 2 Vgl. Springer an Ostermann, 21. 4. 1944. 3 Den Begriff »Kriegsbrautleute« verwendet Ostermann; s. den Brief an Springer vom 5. 4. 1944: »Von uns Kriegsbrautleute verlangt das Leben mehr Entbehrungen, mehr Standhaftigkeit, ein unheimliches Maß Treue und ein felsenfestes Vertrauen zueinander. Liebe Isolde, bist Du Dir darüber ganz im Klaren, glaubst Du das nötige Rüstzeug in Dir zu tragen? Bitte zürne mir nicht, wenn ich Dich danach frage, denn später verlange ich diese Eigenschaften, genau so, wie Du das Recht danach hast. Zugegeben, es hört sich beinahe brutal an, aber ich kann nichts ändern, die Zeit ist nun mal eben so. Und das alles wegen unserem Glück.« 4 Vgl. zur Familienchronik Klaus Latzel/Franka Maubach, »Kriegsbrautleute«. Zukunftssehnsüchte und Beziehungsrealitäten eines nationalsozialistischen Paars im Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), S. 294-322 (mit abgedruckten Briefauszügen). 5 Ostermann an Springer, 9. 3. 1944. 6 Springer an Ostermann, 21. 2. 1944: »Ich glaube, bevor wir beide ins Unglück rennen, müssen wir noch genau die Statuten aufstellen, was erlaubt ist und was nicht. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig!«

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klaus latzel / franka maubach

Abb. 1: Ehebündnis Isolde Springer und Willi Ostermann, in Privatbesitz.

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Nase halten« wolle, wenn sie seiner Meinung nach »mal gegen die Statuten verstoßen« habe.7 Ob er im Ernst meine, dass sie ihre »Verpflichtungen, Versprechungen usw. erst schriftlich niederlegen müssen, um sie ja nicht zu vergessen? Oder warum und weshalb?« Was von all den Plänen blieb, war allein das zwei Seiten umfassende Ehebündnis: keine Chronik und keine Statuten, sondern das Zeugnis eines Bundes, das die Konflikte der »Kriegsbrautleute« in einer imaginierten ewigen »Volksgemeinschaft« aufhob. Die Gegenwart, in der Springer und Ostermann sich einander und ihre Ehe (inklusive der erwünschten Kinder) dem nationalsozialistischen Deutschland versprachen, bot kaum einen Anhaltspunkt, dass ihr Versprechen realisiert werden könnte – so musste es halt der Glaube daran tun. Denn in Anbetracht der Kriegslage konnten selbst den ideologisch gänzlich unerschütterlichen Nationalsozialisten Zweifel am »Endsieg« kommen. Zwei Monate vor der Hochzeit, am 5. September, hatte Springer an Ostermann geschrieben: »Man kann aufgrund der letzten Ereignisse jetzt wirklich ein bißchen schwarz sehen, aber mein Vertrauen zum Führer und auch vor allen Dingen zur Moral des deutschen Soldaten ist so unerschütterlich, daß es meine feste Überzeugung ist, daß sich am Ende für uns doch noch alles zum Guten wenden wird und auch für uns beide die Erfüllung alles Erhofften greifbar nahe sein wird.«8 Zu den Ereignissen, die Springer die Aussichten auf eine glückliche Zukunft verschatteten, zählte die Eroberung von Paris durch alliierte Truppen am 25. August 1944. In Paris hatte Springer als Nachrichtenhelferin in einer der großen Vermittlungsstellen Dienst getan. Mitte August hatte sie den Ernst der Lage am eigenen Leib zu spüren bekommen: Kurzerhand war sie mit ihren Kameradinnen aus der französischen Hauptstadt abkommandiert und zum Einsatz nach Verona in Norditalien beordert worden. Im Westen überstürzten sich fortan die Ereignisse, am 21. Oktober eroberten die alliierten Truppen bereits Aachen. An der Ostfront war die Heeresgruppe Mitte schon im Sommer 1944 zusammengebrochen, im Herbst wurde die Heeresgruppe Nord in Kurland eingeschlossen, die Rote Armee stand vor Ostpreußen, in Jugoslawien und Ungarn. Auch in Italien, wo Springer nun stationiert war, befand sich die Wehrmacht am Apennin in schweren Abwehrkämpfen gegen die vordringenden Alliierten.9 Angesichts all dieser Meldungen gab es, nimmt man die Perspektive des jungen, zuvor vom Nationalsozialismus und »Endsieg« überzeugten Paares ein, allen Grund, schwarzzusehen. 7 Dieses und das nächste Zitat: Springer an Ostermann, 19. 3. 1944. 8 Springer an Ostermann, 5. 9. 1944. 9 MGFA (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 7: Das Deutsche Reich in der Defensive. Strategischer Luftkrieg in Europa, Krieg im Westen und in Ostasien, Stuttgart / München 2001, S. 556-618 (Beitrag Vogel); Bd. 8: Die Ostfront 1943 /44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, München 2007, S. 526-678 (Beitrag Frieser), S. 849-883 (Beitrag Ungváry), S. 1126-1162 (Beitrag Schreiber).

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Einer der deutschen Soldaten, auf deren »Moral« Springer »unerschütterlich« vertraute, war Willi Ostermann. Erleichtert antwortete er ihr am 10. September aus Novi Ligure, nur etwa 200 Kilometer von Verona entfernt, wo er, bevor er an die Front abkommandiert wurde, als Ausbilder im Feldersatzbataillon 356 tätig war: »[…] ich freue mich ja so sehr, daß Du noch einmal mit heiler Haut davon kamst. Weniger freut mich, daß Du nun in dem schönen aber vom Teufel verwünschten Land bist. Versteh mich bitte nicht falsch, aber mit dem sich treffen wird ja sowieso nichts zu machen sein, weil man ja kaum wegkommt […].«10 Nun waren die beiden einander zwar nähergekommen – aber doch weiter darauf angewiesen, ihr Gespräch auf dem indirekten Briefweg zu führen. Als uniformierte Angehörige der deutschen Besatzungsmacht hatten Springer und Ostermann sich Anfang 1942 in Agram (Zagreb) kennengelernt, Hauptstadt des »Unabhängigen Staats Kroatien«, das de facto ein Vasallenstaat der »Achsenmächte« war.11 Die Besonderheit ihrer Liebes(brief-)beziehung rührt eben daher: Auch wenn mittlerweile etliche Paarkorrespondenzen aus dem Zweiten Weltkrieg bekannt, zugänglich und zum Teil auch veröffentlicht sind,12 handelt es sich bei dem hier vorliegenden Briefwechsel doch um einen Solitär. Hier schrieben einander nicht der Mann an der Front und die Frau in der Heimat, sondern hier tauschten sich Soldat und Soldatin aus; geschlechtergeschichtlich betrachtet, hatten Ostermann und Springer eine neue Welt betreten.13 Zwar befanden sich die beiden in einer für junge Liebespaare zu allen Zeiten üblichen Lage: Sie versuchten, einander kennenzulernen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, ihre Zukunft als gemeinsame zu entwerfen und sich ihr künftiges Glück als Eheleute und Eltern auszumalen. Es galt, die wechselseitigen Erwartungen und Ansprüche abzustimmen, die Normen und Formen des gegenwärtigen und des künftigen 10 Ostermann an Springer, 10. 9. 1944. 11 MGFA (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5 /2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs, 2. Halbband: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942-1944 /45, Stuttgart 1999, S. 88-91 (Beitrag Umbreit). 12 S. insbesondere die Bestände der Sammlung Frauennachlässe in Wien. Vgl. dazu Ingrid Bauer / Christa Hämmerle, Liebe und Paarbeziehungen im Zeitalter der Briefe – ein Forschungsprojekt im Kontext, in: dies. (Hg.), Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, S. 9-47; Christa Hämmerle, Gewalt und Liebe – ineinander verschränkt. Paarkorrespondenzen aus zwei Weltkriegen: 1914 /18 und 1939 /45, in: ebd., S. 171-230. Veröffentlicht liegen u. a. vor: Zwischen Front und Heimat. Der Briefwechsel des münsterischen Ehepaares Agnes und Albert Neuhaus 1940-1944, hg. von Franz-Josef Jakobi und Roswitha Link, bearb. von Karl Reddemann, Münster 1996; Jürgen Kleindienst (Hg.), Sei tausendmal gegrüßt. Feldpost-Briefwechsel Irene und Ernst Guicking 1937-1945, Berlin 2001; Liselotte Orgel-Purpur, »Willst Du meine Witwe werden?« Eine deutsche Liebe im Krieg, Berlin 1995. Zum Briefwechsel von Albert und Agnes Neuhaus vgl. den Beitrag von Frank Werner in diesem Band. 13 Vgl. die quellenkritischen Überlegungen zu diesem Briefwechsel in Latzel / Maubach, »Kriegsbrautleute« (wie Anm. 4), S. 297-301.

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Zusammenlebens auszuhandeln. Krieg und Kriegseinsatz jedoch erschwerten diesen Verständigungsprozess noch: Nicht nur wurden die Partner räumlich auseinandergerissen, sodass ihre Beziehung auf den schriftlichen Austausch reduziert war, der Krieg verteilte auch die Geschlechterrollen sichtbar neu und schien auf unabsehbare Zeit der Rahmen zu bleiben, in dem sich beider Beziehung würde bewegen müssen. Wo waren in dieser Situation die erfahrungsnahen Vorbilder, an denen sich zwei Verliebte in Uniform hätten orientieren können? In einer Konstellation, die weder in der herkömmlichen noch in der nationalsozialistischen Geschlechterordnung so vorgesehen war?14 Die neuartigen Erfahrungen, die der gemeinsame Kriegseinsatz ihnen ermöglichte und aufnötigte, machten die Notwendigkeit, sich über ihre zukünftige Beziehung zu verständigen, umso dringlicher, gerade wegen ihrer Neuartigkeit aber auch umso konfliktträchtiger. Aushandlungsprozesse wie der Streit über die »Familienchronik« lassen sich im brieflichen Gespräch Ostermanns und Springers über viele Monate hinweg mit allen Höhen und Tiefen, Sehnsüchten und Enttäuschungen, Hoffnungen und Zweifeln verfolgen. Dass der Konflikt ein üblicher Modus und Ärger ein geläufiges Sentiment der Korrespondenz war, lässt sich dem Gelöbnis ex negativo ablesen: Springer und Ostermann schworen, »nicht zu streiten und zu zanken, bei Differenzen von Meinungen und Ansichten nicht mit brutalem Nein zu kontern, sondern die Sache mit Vernunft unter 4 Augen zu klären«. Verstand und Verständigung hatte vor allem Springer; die nun schwarz auf weiß festgehaltene Einsicht hatte sich das Paar über Monate und seitenlange Diskussionen hinweg hart erkämpft. Der Briefwechsel macht nachvollziehbar, dass und wie der Krieg das herkömmliche, oft noch bürgerlich imprägnierte Koordinatensystem der Geschlechterbeziehungen verschob. Nicht nur im Fall von Isolde Springer und Willi Ostermann entstanden Konflikte, weil tradierte Verhaltensmuster und Verständigungsweisen nicht mehr passten; nichts mehr war selbstverständlich. Weil aber ihre Beziehung zudem, wenn man so will, auf eine ganz besondere Weise ungewöhnlich war, war auch der Modus des Konflikts – der Streit über Ilses fehlende Kochkünste wird es zeigen – besonders ausgeprägt, gelegentlich fast bis zum Beziehungsbruch zugespitzt. Das Ehebündnis markiert deswegen den Versuch, der zwar kriegsgestifteten, aber unter Kriegsbedingungen immer auch prekären Liebesbeziehung ein sicheres Fundament zu verleihen, eheprogrammatisch zu fixieren, was in der Praxis äußerst umstritten war. Springer und Ostermann schufen damit selbst, was der Kriegsgesellschaft noch gar nicht zur Verfügung stand: ein ideologisches Programmpapier für die nationalsozialistische Nachkriegsehe. Es ging Ostermann und Springer aber längst nicht nur darum, den Beziehungskonflikten und Kriegskrisen auszuweichen, indem sie sich in eine zivile Friedenswelt flüchteten. Im Gegenteil: Das Paar imaginierte seine Friedensehe als fortgesetzten 14 Vgl. Elizabeth Harvey, Geschlechterordnung und »Volksgemeinschaft« im Nationalsozialismus, in: Winfried Nerdinger (Hg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS Dokumentationszentrums München, München 2015, S. 490-496, 597-599.

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Kriegseinsatz. Was verraten uns die Elemente des Bündnisses über das Ergebnis von Springers und Ostermanns Bemühungen, die konkreten Erfahrungen ihrer Kriegsliebe als Norm für die Zukunft fort- und festzuschreiben? Zweifellos ist das Gelöbnis von den Vorgaben für eine nationalsozialistische Ehe grundiert, wie sie etwa aus den Zehn Geboten für die Gattenwahl und anderen einschlägigen nationalsozialistischen Veröffentlichungen bekannt sind.15 Gleichzeitig orientierten Springer und Ostermann sich an familiär und gesellschaftlich tradierten bildungs- beziehungsweise kleinbürgerlichen Liebes- und Ehevorstellungen. Während Springer aus einem großbürgerlichen, großstädtischen Elternhaus stammte, kam Ostermann aus der kleinbürgerlichen Welt schwäbischer Ladenbesitzer.16 Das Ehebündnis darauf zu reduzieren, hieße freilich, darin nur zu finden, was ohnehin bekannt ist. Über die ideologischen Grundgebote völkisch-biologischer Mütterlichkeit und Männlichkeit oder den bürgerlichen Glauben an zwar komplementäre, aber getrennte Wirkungsräume ging Springers und Ostermanns Gelübde auf eigensinnige Weise hinaus. Wirklich erkenntnisträchtig wird das Dokument deswegen erst dann, wenn man ihm nicht nur einzelne Aussagen exemplarisch entnimmt, sondern das Bündnis als einigendes Ergebnis eines langen Gesprächs versteht, in dessen Verlauf die Partner so häufig uneins waren.17 Nur auf diese Weise kann das Briefgespräch als eigensinnige Neudeutung des zukünftigen Geschlechterverhältnisses aus dem Geiste des Krieges ernst genommen werden: Im performativen Prozess des Schreibens entstand ein neuer Liebes- und Lebensentwurf. Das Bündnis hielt fest, wie die »Kriegsbrautleute« ideologische Vorgaben und überlieferte Geschlechterbilder zu ihren lebensweltlich konkreten Kriegsbeziehungserfahrungen ins Verhältnis setzten. Ein vorrangiger – vielleicht sogar der wichtigste – Anlass für Konflikte waren die Gespräche über Springers künftige Rolle als Ehe- und Hausfrau. In ihrer »grauen Kluft«, die ihr, wie sie schrieb, ein »Ehrenkleid« war,18 widersprach Springer allein schon äußerlich allen Vorstellungen von der deutschen Mutter. Trotzdem versuchte Ostermann über die gesamte Korrespondenz hinweg, vor allem aber nach der Hochzeit, seiner Angetrauten die traditionelle Frauenrolle schmackhaft zu machen. Die Wortgefechte über Küche und Kinder gingen jedoch weit über alle Versuche Ostermanns hinaus, ein vermeintlich nur kriegsfristig aus den Angeln gehobenes Geschlechterverhältnis wiederherzustellen; hier wurde etwas Neues ausgehandelt. All seine Ansätze, zu einer (spieß-)bürgerlichen Ehemoral und völkischen Mutterideologie zurückzukehren, lassen sich erstens mit seiner Herkunft aus dem protestantisch kleinbürgerlichen Milieu Schwabens erklären – die Eltern besaßen und führten ein 15 Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst, Zehn Gebote für die Gattenwahl, Berlin 1934. 16 Dazu als Überblick Monika Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München 2014. 17 Vgl. dazu ausführlicher Latzel / Maubach, »Kriegsbrautleute« (wie Anm. 4) und die dort abgedruckten Briefauszüge. 18 Springer an Ostermann, 21. 2. 1944.

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kleines Geschäft, das der Sohn übernehmen sollte und wollte. Ganz konkret materialisierten sie sich im Rollenvorbild der Mutter, das er der unwilligen Isolde hartnäckig vorhielt. Zweitens gründeten sie in Ostermanns entschieden nationalsozialistischer Überzeugung, in seinem Willen, den Ansprüchen des Regimes, wie er sie verstand, gerecht zu werden, und in seiner Angst, ebendies nicht zu können. Wiederholten Anlass zur Auseinandersetzung bot eine aus Ostermanns Sicht besonders bittere Erkenntnis: Seine Zukünftige konnte nicht kochen. Der Streit darüber und die ganz praktischen Überlegungen, wie dem haltlosen Umstand abzuhelfen sei, durchziehen den gesamten Briefwechsel. Verschiedene Varianten wurden erwogen: ein Kochkurs im Besatzungsgebiet (»Hast Dich schon für einen Kursus in Kochen, Backen, Braten usw. interessiert?«), den Springer auch antrat (»Allerdings gib Dir nun ja keiner Illusion hin, daß ich nach diesen 6 Tagen nun firm im Kochen sei«); der Besuch einer SS -Bräuteschule; eine Privatausbildung bei seiner Mutter, die Ostermann vorzog und Springer unbedingt umgehen wollte; Springers Gegenvorschlag, einfach ihrer bereits verheirateten Schwester über die Schulter zu schauen (»Warum Du nun scheinbar so grundsätzlich dagegen bist, daß ich versuche, bei meiner Schwester noch einigermaßen bewandert im Kochen zu werden, versteh ich eigentlich nicht ganz«).19 Gegen Ostermanns gelegentlich unmissverständlich offensive Angriffe – »ab und zu« sei er mit ihr, schrieb sie etwa am 16. März 1944, »gehörig […] Schlitten gefahren« – verteidigte Springer sich mit dem geduldigen Hinweis auf ihre Dienste und Kriegseinsätze der vergangenen Jahre.20 Natürlich sei seine Mutter »in allem was Führung eines Haushaltes anbetrifft, leuchtendes Vorbild«, und sie selbst habe »auch den Willen dazu, alles zu lernen und anzunehmen, was gut und nützlich« sei. Und vielleicht habe er auch recht, dass sie sich schon früher damit hätte beschäftigen sollen, aber – und das war keine Frage, sondern eine Feststellung – »wann hätte ich das eigentlich machen sollen«. In einer langen Retourkutsche setzte Springer ihrem zukünftigen Mann auseinander, dass sie als Hitlerjugendführerin, in der Ausbildung, im Kriegsdienst gar nicht dazu gekommen sei, kochen zu lernen. Gerade dieses berufliche, vor allem aber ihr politisches und kriegsbedingtes Engagement hatten ihr indes zu einem ausgeprägten »volksgemeinschaftlichen« Selbstbewusstsein verholfen. Zweifel an ihrer Ehetauglichkeit befielen Springer so gut wie nie – der familiären Disposition zu »Ehescheidungen« zum Trotz –, während Ostermanns Briefe regelmäßig von einem Gefühl der Zurückgesetztheit zeugen. Neben schierem Zeitmangel führte Springer ihre (nicht zuletzt der Herkunft aus dem höheren Bürgertum geschuldeten) idealistischen Vorstellungen vom Leben und von der Liebe ins Feld: Stets suchte sie in Kunst und Literatur, Kultur und Natur nach höheren Bildungswerten. Zwar solle Willi seine »Spätzle usw.« bekommen, »aber dieses ist nach meiner Meinung auch nicht die Hauptsache in der Ehe. Ich für mein Teil will meinem Mann nicht nur eine gute 19 Ostermann an Springer, 13. 2. 1944; Springer an Ostermann, 4. 3. 1944; Springer an Ostermann, 4. 5. 1944; Springer an Ostermann, 9. 5. 1944; Ostermann an Springer, 13. 5. 1944; Ostermann an Springer, 21. 11. 1944; Springer an Ostermann, 6. 12. 1944. 20 Dieses und die nächsten Zitate: Springer an Ostermann, 16. 3. 1944.

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Köchin sein und Mädchen für alles […], dazu hab ich viel zu hohe Ideale von einer Ehe.« Diese Ideale, die auch für die Kindererziehung gelten sollten, führten »zum Guten und Schönen« und verdeutlichten, »eine wie große Verpflichtung eigentlich jeder deutsche Mann und jede deutsche Frau in sich trägt«. Springer war Ostermann mit ihrer Bildung um Längen voraus; an ihren Salon-Nationalsozialismus musste er sich erst gewöhnen.21 Es ist nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass das Thema der Haushaltsführung und Mutterrolle – trotz seiner großen Bedeutung im Briefwechsel – im Ehebündnis ausgespart bleibt. Denn dessen Sinn und Zweck bestand ja gerade darin, die Unausgewogenheiten eines Kriegsverhältnisses, das weder dem tradierten Rollenvorbild noch den ideologischen Normen für die nationalsozialistische Ehe entsprach und entsprechen konnte, auszugleichen. Für die Erziehung der Kinder zu einer tugendhaften, tadelfreien Lebensführung waren, ausweislich des Dokuments, durch gutes Vorbild beide gleichermaßen zuständig. Und Ostermanns spießbürgerlich-schwäbische Wertewelt war jetzt nur noch als Merkspruch präsent (»Esse unter Deinem Stande – Kleide Dich nach Deinem Stande – Wohne über Deinem Stande«). Viel wichtiger war die gemeinsame Beachtung von Verhaltenskodizes, die der Ehe zu »volksgemeinschaftlicher« Legitimität verhelfen sollten: körperliche Hygiene, sportliche Betätigung, gemeinsames Naturerlebnis. Am deutlichsten kam die Sorge um ihre Tauglichkeit für die »Volksgemeinschaft« in der Selbstverpflichtung zum Ausdruck, den sogenannten Erbsünden – »Er: Vater ist Trinker. Sie: in der Sippe sind Ehescheidungen sehr zahlreich« – »ewigen Kampf anzusagen«. Die Art, wie hier beide in einem intimen Gelöbnis ihre Sünden bekannten, klingt wie ein Geständnis vor einer unsichtbar anwesenden »Volksgemeinschaft«. Der Passus führt mitten hinein in die nationalsozialistische Ehe- und Gesundheitspolitik, und der Briefwechsel offenbart, dass und wie sehr das Paar sich deren Ziele zu eigen gemacht hatte. Das »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes« verlangte seit 1935 per Zeugnis des Gesundheitsamtes den Nachweis der »Ehetauglichkeit« für Brautpaare, um vermeintlich »Erbkranke« von der Heirat auszuschließen.22 Seit 1933 hielt das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« fest, dass, wer an »schwerem Alkoholismus« leide, genauso wie die dort als »erbkrank« Definierten behandelt, also zwangssterilisiert werden könne.23 So nimmt es nicht wunder, dass der alkoholkranke Vater seinem Sohn als veritabler und auch hinkünftig dauerhaft 21 Zum Salon-Nationalsozialismus Springers vgl. ausführlich Latzel / Maubach, »Kriegsbrautleute« (wie Anm. 4), S. 303 f. S. auch Ostermanns Reaktion vom 27. 4. 1944: »Du könntest mir mehr Segen durch Deine Allgem. Bildung usw. bringen als durch Kochkunst und dergleichen, hast Du einmal geschrieben. Darauf habe ich gar nicht geantwortet !!! […] Denn ich sage mir: ›Es ist wohl recht schön einem Menschen die Kunst beizubringen usw.‹ Aber zuerst ist das Wichtigste das A. B. C.! Was das A. B. C. einer Frau ist, ist Dir inzwischen Gott sei Dank klar geworden.« 22 Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz) vom 18. 10. 1935, RGBl. I (1935), S. 1246. 23 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933, RGBl. I (1933), S. 529-531.

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virulenter Makel seiner »Sippe«, seines »Blutes«, seines »Geschlechts« gelten musste.24 Es war insbesondere Ostermann, der als Vorbereitung auf die künftige Ehe nimmermüde darauf drängte, diese Ziele auch praktisch umzusetzen – angetrieben durch eine eigentümliche Mischung aus innerer Überzeugung und der Angst vor »rassischer« Untauglichkeit. Bevor er nicht Brief und Siegel über beider Blutsreinheit besaß, ging er der körperlichen Vereinigung aus dem Weg – und lieber kalt duschen, als es im Urlaub einmal zum Äußersten zu kommen drohte.25 Für die erforderliche Heiratserlaubnis hatten die Wehrmachtangehörigen eine Reihe von Papieren vorzulegen, um die einschlägigen Voraussetzungen zum Nachweis von »deutschblütiger Abstammung« und »Ehetauglichkeit« zu erfüllen. Zwar waren diese Bestimmungen während des Krieges pragmatisch gelockert worden,26 es galt aber auch weiterhin, allerlei Papiere beizubringen. Deswegen erinnerte Ostermann seine Braut über Monate hinweg mit nicht nachlassender Hartnäckigkeit daran, dass sie die benötigten Unterlagen noch aufzutreiben habe (»arischer Ahnennachweis bis einschl. Großeltern«, »Ehetauglichkeitsnachweis«, »Poliz. Führungszeugnis«, »Deine Einwilligung zur Eheschließung«).27 Insbesondere bestand er darauf, sie möge sich doch von ihrem (in Scheidung lebenden) Vater einen »Ahnenpass« ihrer Familie senden lassen, was dieser aus nicht weiter zu erschließenden Gründen immer weiter verzögerte.28 Als Springer ihm im Juni 1944 überrascht schrieb, sie habe, um ihre Heiratsgenehmigung zu erhalten, »nur an Eides statt« erklären müssen, »daß mir nicht bekannt sei, was gegen meine arische Abstammung spräche«,29 hätte Ostermann, wäre es ihm allein um die Erledigung der Formalitäten gegangen, all diese Dinge guten Gewissens ad acta legen können. Doch der Eifer, mit dem er die vorgeschriebenen Formalitäten zu erledigen suchte, hatte eine tiefere Ursache: »Ich will«, schrieb er bereits im Februar 1944, »eine gesunde Familie gründen, die ewig lebt, weiterlebt, wenn wir einst wieder Erde sind. In ihr soll immer Vaterland, soll Deutschland leben, das Eine für das Andere. Es sollen alles gesunde Menschen sein, die in Stolz dem Vaterlande gegenüberstehen können.« Darum sei er »so gewissenhaft in der Wahl und im Treffen der Vorbereitungen«.30 Auch im Gelöbnis kam das Adjektiv »gesund« allein dreimal vor (»gesundes Glück«, 24 So immer wieder Ostermanns Begrifflichkeit: Briefe vom 13. 2., 17. 2., 20. 2., 25. 2., 26. 3., 27. 3.1944 usf. 25 Vgl. die Anspielungen auf dieses Ereignis: Ostermann an Springer, 2. 4. 1944 und 3. 5. 1944. 26 Heiratsordnung der Wehrmacht für die Dauer des Krieges vom 28. Januar 1943, in: Zeitschrift für Standesamtswesen, Personenstandsrecht, Eherecht und Sippenforschung 23 (1943), 10. März 1943, Nr. 5, S. 25 f. 27 So noch einmal zusammenfassend am 2. 7. 1944. 28 Springer an Ostermann, 7.2., 23.6., 17.7., 6. 8. 1944. 29 Springer an Ostermann, 23. 6. 1944; eine eidesstattliche Erklärung wurde in der Heiratsordnung der Wehrmacht von 1943 als ausreichender Nachweis der »Deutschblütigkeit« anerkannt. 30 Ostermann an Springer, 21. 2. 1944.

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»gesunde Nachkommenschaft«, »gesunder Kindersegen«), und das bedeutete viel mehr als die Hoffnung auf die Abwesenheit von Krankheit. Es war Ostermanns ureigener Drang, sich über die »blutsmäßige« Herkunft seiner Zukünftigen Gewissheit zu verschaffen. Kaum hatte er ihr mitgeteilt, dass nunmehr all ihre Heiratspapiere bei ihm eingetroffen seien, sodass er nun endlich den Antrag auf Heiratserlaubnis stellen könne,31 versuchte er im Zusammenhang seiner Pläne für die Familienchronik, sie für Ahnenforschung zu begeistern; ein »Verlangen«, das »beim deutschen Menschen ganz besonders stark zu Tage« trete, »wenn er gewillt ist sein Geschlecht durch ein neues Glied in die Zukunft weiter zu erhalten«. Leider könne er bei ihr keine Anzeichen für ein solches Verlangen entdecken, doch solle sie dessen Notwendigkeit erkennen und danach handeln.32 Eher lustlos antwortete Springer, »woher eigentlich meine Vorfahren stammen, Erbanlagen usw.«, ja, das würde sie schon interessieren, aber von Paris aus ließen sich entsprechende Nachforschungen doch gar nicht betreiben, man könne dies doch getrost auf später verschieben.33 Der selbstbewussten Isolde Springer waren Zweifel an der »rassischen« Legitimität ihrer Ehe, wie sie Willi Ostermann umtrieben, fremd. Besonders verunsicherten ihn Springers wenig auskunftsfreudige Aussagen über ihren Vater, zu dem sie ein sehr distanziertes Verhältnis pflegte: »Weil Du mir es nun nicht gesagt hast, und ich meine zukünftige[n] Verwandte[n] kennen muß, bitte ich Dich um so etwas Ähnliches wie einen Lebenslauf über ihn. Nicht etwa, weil ich neugierig bin, nein, nur weil ich sein Blut, seine Tochter, vielleicht heiraten werde. Haste das nun endlich kapiert? Ich wäre dann sehr froh.«34 Der Tonfall verrät die Dringlichkeit des Anliegens, Ostermanns Blutsfixierung artikulierte sich in den Briefen immer wieder.35 Sie gipfelte in einer ganz speziellen Auffassung der Vererbungslehre: Bei der »Vererbung von Charaktereigenschaften und inneren Werten des Menschen« spiele »das Leben und Betragen der Eltern, wie es kurze Zeit vor der Zeugung war, eine ganz bedeutende Rolle«.36 Diese Aussage mag bizarr erscheinen, für Ostermann war sie hingegen konsequent. Sie stellte seinem Blutsrassismus, der auf dem Glauben an die Weitergabe von Eigenschaften und Anlagen über die Generationen hinweg basierte und so den alkoholkranken Vater zur permanenten leisen Bedrohung seines Erbgutes machte, die voluntaristische Hoffnung entgegen, dass diesem vererbungstheoretischen Zusammenhang durch das Verhalten der Eltern vor der Zeugung zu entkommen sei. Per Verhaltensprüfung versuchte er der nagenden Ungewissheit über seinen rassischen Status beizukommen. Wenn Ostermann diese Passage mit dem Zuruf an Springer versah: »Bitte lass meine Worte nicht ungehört verklingen!«, dann rief er sie wie auch sich selbst dazu auf, sich 31 32 33 34 35

Ostermann an Springer, 9. 7. 1944. Ostermann an Springer, 13. 7. 1944. Springer an Ostermann, 31. 7. 1944. Ostermann an Springer, 25. 2. 1944 (Hervorh. i. O.). Mit Bezug zu Springers Vater z. B. noch in einem Brief zwischen dem 13. und 17. 2 und am 20. 2. 1944. 36 Ostermann an Springer, 10. 3. 1944.

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in das nationalsozialistische Projekt einer nach rassistischen Kriterien geordneten Zukunftsgesellschaft einzuordnen. Deren Anforderungen genügen zu sollen und zu wollen trieb ihn permanent um. Die hier nachgezeichneten grundlegenden Auseinandersetzungen finden im Ehebündnis keinen Niederschlag. An keiner Stelle werden dessen Bestimmungen durch einen geschlechtersegregierten Passus unterbrochen. Diese Synchronie lässt sich als Kriegslehre des Brautpaares für ihr zukünftiges Leben lesen. Auch dann müssten sie, sozusagen in alter Kriegskameradschaft, »unserer Familie gesundes Glück […] täglich aufs neue erkämpfen«. Das Ziel dieses Kampfes war »eine gesunde Nachkommenschaft, die unserem heiligen Vaterland treu dient und ihm im Kampf zur Macht und Ehre in selbstloser Hingabe ihre Lebenskraft opfert«. Dieses nationalsozialistische Geschlechtermodell beruhte auf dem Gedanken, dass das Leben »nie zum Traum«, sondern immer »Kampf bleiben« werde, ja, dass auch die eigenen Kinder weiterkämpfen und sich dabei vielleicht sogar opfern müssten.37 Die Ehe werde ein permanenter Kampf sein – aber nicht miteinander, sondern für etwas Größeres: für Volk und Gemeinschaft. Ideologisch wurde diese Geschlechterordnung nicht ausgearbeitet, geschweige denn zur stillen Selbstverständlichkeit zeitgenössischer Geschlechterverhältnisse. Nur im intimen Raum des privaten Bekenntnisses wurde sie, wie hier im Ehegelöbnis, entworfen und ausprobiert. Was sich immerhin als Möglichkeit abzeichnete, war, wie Habbo Knoch schreibt, »die habituelle Adaption beider Geschlechter an ein Wertemodell, das völkische Verantwortung, rassistische Hierarchisierung, kämpfende Vergemeinschaftung und exklusive Kameradschaftlichkeit« ebenso einschloss wie »eine spezifische Mischung aus emotionaler Härte nach außen und integrativer Emotionalität nach innen sowie die Erfahrung der Aufwertung durch aktive Einbindung«.38 Diese Elemente eines zukünftigen nationalsozialistischen Wertekatalogs für beide Geschlechter lassen sich dem Gelöbnis und seinem Versuch einer symmetrisch-kameradschaftlichen Ergebnissicherung ablesen. Der »Erfahrung der Aufwertung durch aktive Einbindung«, die Isolde Springer verkörpert, steht jedoch Ostermanns Erfahrung einer untergründigen Bedrohung entgegen, den Kriterien der Zugehörigkeit zur »Volksgemeinschaft« nicht zu entsprechen. Sie ist geeignet, die Rede von der »Volksgemeinschaft« als »Verheißung« oder von der nationalsozialistischen »Aufwertungsdiktatur« zu relativieren.39 Deren Klammer waren nicht nur die positiven Gratifikationen, die man sich von der Integration 37 Ostermann an Springer, 5. 3. 1944. 38 Habbo Knoch, Völkische Verantwortung und nationale Kameradschaft. Geschlechterverhältnisse in der nationalsozialistischen Aufwertungsdiktatur, in: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung e. V. (Hg.), Macht und Gesellschaft. Frauen und Männer in der NS -Zeit. Eine Perspektive für ein künftiges NS -Dokumentationszentrum in München, München 2004, S. 42-57, hier: S. 53. 39 Frank Bajohr / Michael Wildt, Einleitung, in: dies. (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 7-23, hier: S. 8, und Knoch, Völkische Verantwortung (wie Anm. 38), S. 53.

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in die »Volksgemeinschaft« erhoffte. Vielleicht noch wirkmächtiger war die Angst vor Ausschluss, gerade weil sie, wie bei Ostermann, eine permanente Aktivität im Sinne des Regimes hervorrief. Von der Ausstoßung aus der Gemeinschaft waren die »Volksgenossen« immer auch selbst bedroht. Deswegen mussten »Erbsünden« erkannt und bekannt und durch eine sündenfrei nationalsozialistische Moral, deren Rahmen das Gelöbnis grob absteckt, bekämpft werden.40 Gerade diese Mechanismen der Selbstprüfung und Verhaltenssteuerung erhöhten die Bindekräfte der »Volksgemeinschaft«. Als Marker für die ominöse Reinheit des Blutes musste das Verhalten der »Volksgenossen« herhalten; eine Kategorie, die schon im Reichsbürgergesetz von 1935 dazu dienen sollte, den »Reichsbürger« vom minderen »Staatsbürger« abzugrenzen.41 Zu diesem Zweck listeten Springer und Ostermann verschiedene Moralgebote und Verhaltensansprüche auf, die sie im Briefgespräch auch zuvor regelmäßig verhandelt hatten. Erst beides zusammen, die Aufwertung als »Kriegsbrautleute« ebenso wie die Bedrohung, diesen Status zu verlieren, erklärt die Dynamik des Briefgesprächs und die schreckliche Pointe des Gelöbnisses, auch die eigenen Kinder im Geiste des Kriegs erziehen und notfalls dem »heiligen Vaterland« opfern zu wollen. Die Bereitschaft zum Opfer der eigenen Lebenskraft, ja des Lebens selbst für die »Volksgemeinschaft« war der größte Beweis volksgemeinschaftlicher Zugehörigkeit – das war die Lehre aus dem Krieg für den Frieden. Und weil Ostermann diesen Beweis erbrachte, konnte das Paar nicht mehr ausprobieren, ob sich nach den Regeln des Ehebündnisses auch wirklich zusammenleben ließ. In diesem Sinne ist das Dokument auch als Testament zu lesen.

40 Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014, v. a. Kap. V: Rasse, Geschlecht und Sexualität. 41 Vgl. Reichsbürgergesetz § 2, Abs. 1: »Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen«; RGBl I (1935), S. 1146.

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Jörn Retterath, »Was ist das Volk?«. Volksund Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917-1924 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 110), de Gruyter Oldenbourg, Berlin / Boston 2016, 462 S., 59,95 Euro »Kaum ein Begriff«, schreibt Reinhart Koselleck in den »Geschichtlichen Grundbegriffen«, »hat für den politischen Sprachgebrauch zwischen 1914 und 1945 eine so zentrale Rolle gespielt wie ›Volk‹«. An diese Feststellung knüpft Jörn Retteraths historisch-semantische Dissertation über das Verständnis und den Begriff des »Volkes« im Übergang vom Kaiserreich in die Weimarer Republik an, deren Verfassung 1919 zum ersten Mal in Deutschland konstatiert, dass alle Gewalt vom Volke ausgehe. Retterath konzentriert sich auf die Parteien der Mitte, auf Sozialdemokratie, Links- und Nationalliberalismus sowie auf den politischen Katholizismus. Dabei geraten allerdings neben der radikalen Linken auch die »völkische« Rechte – bis auf einen kurzen Abschnitt zur »exkludierenden ›Volksgemeinschaft‹« – aus dem Blick, die sich in ihrem Kampf gegen die Weimarer Republik ebenso auf das »Volk« berief. Als Quellen dienen ausgewählte Tageszeitungen der entsprechenden politischen Strömungen: die Zentrumszeitung Germania, der sozialdemokratische Vorwärts, das linksliberale Berliner Tageblatt und die eher nationalliberale Kölnische Zeitung, aus deren wöchentlichen Leitartikeln zwischen 1917 bis 1924 er jeweils drei nach den Wortfeldbegriffen Volk, Einheit, Einigkeit, Einmütigkeit, Geschlossenheit, Gemeinschaft ebenso wie Uneinigkeit, Gezänk, Zerrissenheit, Zwietracht, (Parteien-)Hader ausgewertet hat. Von insgesamt etwa 6.300

gesichteten Leitartikeln wurden über 1.700 detailliert analysiert. Methodisch orientiert sich die Studie an der Historischen Semantik der Bielefelder Schule von Koselleck und nun Willibald Steinmetz, wobei hinsichtlich des Verhältnisses von quantitativer und qualitativer Analyse auch Elemente einer historischen Diskursanalyse aufgenommen werden. Das Begriffspaar »holistisch« und »pluralistisch« dient Retterath als Grundunterscheidung, womit er sich zu Recht von der älteren, normativ aufgeladenen Dichotomie von »demokratisch« und »antidemokratisch« löst. Nach einer ideen- und begriffsgeschichtlichen Analyse von »Volk« bis 1914, mit der Retterath die pluralistischen wie holistischen Potenziale des Begriffs herausstreicht, die sich auf drei Pole »plebs«, »demos«, »ethnos« konzentrieren, steht dann das »deutsche Volk« am Ende des Kaiserreichs 1917 /18 im Mittelpunkt. Retterath unterstreicht die entscheidende Rolle, die der Erste Weltkrieg für die Vorstellung von »Volk« und »Einheit« in Deutschland besaß. Der Mythos von der Volkseinheit vom August 1914 stand gegen die Enttäuschung über das Scheitern jener »nationalen Einheit« durch die Kriegsentbehrungen, die in den November 1918 mündeten – mit dem Anspruch der Mehrheitsfraktionen im Reichstag, insbesondere der Sozialdemokratie, bereits mit der Forderung nach Parlamentarisierung der Macht »im Namen des Volkes« zu handeln, und dem bitteren konservativen Vorwurf, die mangelnde Einheit des Volkes hätte der Niederlage Vorschub geleistet. Zentral wurde das »Volk« mit der Revolution 1918 und der demokratischen Verfassung 1919, mit der erstmals in Deutschland die Volkssouveränität Verfassungswirklich-

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keit wurde. Bezeichnenderweise änderte selbst die nationalistische Deutsche Tageszeitung bereits am 11. November 1918 ihre bisherige Titelzeile »Für Kaiser und Reich« um in »Für das deutsche Volk« (S. 179). Retterath zeigt auf, wie vielfältig und polyvalent die Rede vom »Volk« in diesen Monaten war und keineswegs, wie noch Gangolf Hübinger oder Steffen Bruendel argumentierten, zum Beispiel der Begriff des »Volksstaates« mit der Forderung nach demokratisch-pluralistischen Strukturen identifiziert werden kann, ebenso aber auch den Begriff »Volksgemeinschaft« diejenigen im Munde führten, die wie Hugo Preuß oder Friedrich Ebert das deutsche Volk hinter die republikanische Verfassung zu bringen versuchten. Zu Recht weist Retterath, ebenso wie schon vor ihm Christoph Gusy und Heiko Bollmeyer, darauf hin, dass in der Weimarer Verfassung beide Prinzipien, die holistische (in der Stellung und Wahl des Reichspräsidenten) wie die pluralistische (parlamentarische Parteiendemokratie) Auffassung des »Volkes« ihren Eingang gefunden haben. Zwar waren sich die Parteien der Mitte einig, Volk als »demos« zu verstehen, aber die holistischen Versuchungen, ein jenseits der Verfassung oder vorkonstitutionell konstruiertes einheitliches Volk anzunehmen, waren insbesondere im katholischen Zentrum hoch, und in der strikten Ablehnung des Klassenkampfes gerieten auch die liberalen Parteien in die Position, der Einheit gegenüber der Freiheit den Vorzug zu geben. Diese zentrifugalen Kräfte, die den Volksbegriff schließlich in der unüberbrückbaren Polemik zwischen den Parteien seiner verfassungsrechtlichen Dignität beraubten, nahmen in den Krisenjahren bis 1924 überhand. Der Kampf gegen die Friedensbedingungen des Versailler Vertrags, insbesondere um die einstigen territorialen Grenzen, ließ die Einheitsrhetorik und die Blutmeta-

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phorik ins Kraut schießen, was Retterath eindrucksvoll schildert. Die Auffassung, dass das deutsche Volk nicht allein »demos« der Weimarer Republik, sondern »ethnos« über die Reichsgrenzen hinweg sei, hat das Volksverständnis stark geprägt. Der Wille zur »Reichseinheit«, nun identisch mit »Volkseinheit«, erreichte im Kampf gegen die Ruhrbesetzung 1923 einen Höhepunkt. Selbst die KPD ritt in dieser Zeit mit ihrem Schlageter-Kurs auf der nationalistischen »Volksgemeinschafts«Welle. Die Erfahrung der Krise ließ organische und medizinische Metaphern wieder virulent werden. Reden vom »kranken Volkskörper«, vom »faulen Fleisch«, das herausgeschnitten werden müsse, vom deutschen Volk, das »um sein Leben ringe«, waren gang und gäbe, eine Biologisierung der Vorstellung vom Volk damit weit verbreitet. Die »Dolchstoßlegende« tat ein Übriges, um Teile des deutschen Volkes als »Volksfeinde« auszugrenzen, von den antisemitischen Invektiven, dass Juden nicht zur deutschen »Volksgemeinschaft« gehören dürften, ganz zu schweigen. Dass eine Parteiendemokratie, die von ihrer Struktur auf der Konkurrenz von Parteien, eben auf »Parteienzwist« ebenso wie auf die Fähigkeit zum Kompromiss gründet, es in einem solchem semantischen Umfeld, in dem stets an die Einheit des Volkes appelliert wurde, schwer hatte, liegt auf der Hand. Die Parteien der Mitte konnten mit ihrem Versuch, ihre parteipolitischen Differenzen als Dienst am Gemeinwohl des Volkes darzustellen, nicht überzeugen. Gerade weil Retterath am Schluss seiner Studie noch einmal hervorhebt, dass der Begriff der »Volksgemeinschaft« der Grundstein einer solchen republikanischen Sprache hätte werden können und es doch nicht gelang, »den Begriff lagerübergreifend als Synonym für den überparteilichen Konsens auf Grundlage der

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Weimarer Verfassungsordnung zu etablieren« (S. 413), es stattdessen den Nationalsozialisten möglich wurde, an diesen Begriff anzuschließen und ihn ethnisch-rassistisch und antisemitisch zu belegen, wird das Defizit, die »völkische« Rechte und kommunistische Linke nicht in die Untersuchung einbezogen zu haben, umso schmerzlicher. Auch fehlt »Geschlecht« als Kategorie, was die Untersuchung insofern um eine wichtige Dimension erweitert hätte, als zum einen Frauen seit 1919 zum ersten Mal in Deutschland Wahlrecht erhielten und damit von nun an zum politischen Volk gehörten, zum anderen die rassistische Volksrhetorik 1923 voller sexualisierter Szenarios von den deutschen Frauen war, die Opfer vergewaltigender farbiger Soldaten würden. Trotz dieser Einwände stellt Retteraths Untersuchung zweifellos eine wichtige, sorgfältige Studie auf dem Feld der Historischen Semantik dar, die über die bisherigen Arbeiten von Kurt Sontheimer, Gusy, Riccardo Bavaj und Bollmeyer hinausgeht. Sie zeigt, welch zentrale Bedeutung der Begriff des »Volkes« für die Politik der Zwischenkriegszeit besaß, und öffnet das Feld für weitere Forschungen. Michael Wildt, Berlin

Mark A. Fraschka, Franz Pfeffer von Salomon. Hitlers vergessener Oberster SAFührer, Wallstein, Göttingen 2016, 556 S., 39,90 Euro Biografien sind ein dankbares Genre historischer Forschung, bietet doch der biografische Zugang zugleich auch überindividuelle Erkenntnisse über die jeweiligen Epochen im Umfeld des Protagonisten. Der Lebensweg von Franz Pfeffer von Salomon (er hat seinen Namen später auf »von Pfeffer« geändert) ist eng verbunden mit der deutschen Geschichte. Mark Fraschka hat ein umfangreiches Werk vorgelegt, in dem

der ungewöhnliche Lebensweg dieses Mannes minutiös nachgezeichnet wird. Dazu hat der Autor nicht weniger als 16 verschiedene Archive aufgesucht. Hervorzuheben ist ferner, dass Fraschka neben den einschlägigen Editionen, Memoiren und zeitgenössischen Periodika persönliche Auskünfte bei Angehörigen und Bekannten Pfeffers, vor allem bei dessen Sohn Ferdinand (Jahrgang 1919), eingeholt hat. Pfeffer hat selber rückblickend die Freikorpszeit als die schönste Zeit in seinem Leben bezeichnet (S. 503), und auch Fraschka legt den Schwerpunkt seiner Studie auf Pfeffers Freikorps- und SA-Zeit. Pfeffer entstammte einer neuaristokratischen Familie, deren Einstellung ganz dem Leitbild der staatstragenden Schicht der wilhelminischen Zeit entsprach. 1888 geboren, wurde er nach abgeschlossenem Jurastudium 1909 Berufsoffizier. Die am 3. August 1914 erfolgte Kriegserklärung an Frankreich war für ihn wie ein Befreiungsschlag, mit dem Kriegsausbruch sah er die lang ersehnte Chance zur Bewährung. Während des Krieges diente er die meiste Zeit als Frontoffizier im Westen und stieg bis zum Hauptmann und Bataillonsführer auf. Von zügelloser Gewaltbereitschaft berichtet die Regimentschronik: »Der Kampf wurde mit besonderer Erbitterung geführt, Gefangene nicht gemacht« (S. 68). Als vermutet wurde, dass seine Einheit in der Nähe der belgischen Stadt Namur von Zivilisten beschossen wurde, soll Pfeffer den Befehl gegeben haben, das Dorf niederzubrennen. Im Oktober 1918 mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet und zum Oberleutnant befördert, wurde er vorübergehend von der Front abkommandiert und diente kurzfristig sogar im Generalstab. Wie zahlreiche andere kaisertreue Frontoffiziere erlebte Pfeffer den Zusammenbruch der Monarchie und die Niederlage im Weltkrieg als einen Schock. Schuld an diesem Niedergang war für ihn aber nicht die politische und militärische Führung

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des Kaiserreiches, schuld war ein innerer Feind, die Anti-Kriegsbewegung der Arbeiter- und Soldatenräte, die immer nachhaltiger für ein Ende dieses mörderischen und sinnlosen Krieges eingetreten waren. Pfeffer kehrte – wie Fraschka konstatiert – »als radikaler Antisozialist aus dem Krieg zurück« (S. 80). Mit der Nachkriegsordnung fanden sich viele der ehemaligen Frontoffiziere nicht mehr zurecht. So auch Pfeffer. Die »stolze florierende Zeit« (S. 80) war nun vorbei. Für Pfeffer bedeutete die Niederlage im Krieg auch einen erheblichen Prestigeverlust, in der Folgezeit lebte er ohne regelmäßiges Einkommen, sein aufwändiges Leben finanzierte er hauptsächlich aus dem Verkauf seiner Familiengüter. Pfeffer stand vor einer ungewissen Zukunft. Die Republik lehnte er ab, sie war für ihn gleichbedeutend mit Verrat an Kaiser und Vaterland. Ende 1918 schied Pfeffer dann auch aus dem Heeresdienst aus. Für ihn war der Krieg aber noch nicht zu Ende. In Münster stellte Pfeffer das FreiwilligenBataillon »Münster« zusammen, ein rechtsradikales Freikorps, mit dem er sich an vielen Militäraktionen gegen die Republik beteiligte. Fraschka gelingt es sehr gut, die Befindlichkeit Pfeffers bei Beendigung des Krieges und in der Nachkriegszeit herauszustellen. Sehr hilfreich ist dabei die ausgiebig erfolgte Auswertung von Pfeffers Privatarchiven. Die Darstellung der Rahmenbedingungen, in denen sein Protagonist sich bewegte, ist allerdings zuweilen etwas ungenau oder einseitig. So wird behauptet, dass die innen- und außenpolitischen Bedingungen die Republik »zwangen«, die Unterstützung der zum größten Teil reaktionären Kräfte – der Freikorps – in Anspruch zu nehmen. Die Aufstellung republikanischer Gruppen sei bereits im Anfangsstadium gescheitert. Er stützt sich dabei hauptsächlich auf die Werke von Hagen Schulze und Hannsjoachim W. Koch.

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Fraschka hätte aber auch andere Forschungsergebnisse wie zum Beispiel die Noske-Biografie von Wolfram Wette und vor allem die grundlegenden Analysen von Eberhard Kolb zur Novemberrevolution berücksichtigen können, die diese Thesen, die jahrzehntelang in der deutschen Geschichtsschreibung wie ein Dogma behandelt wurden, infrage stellten und Alternativen zu Noskes Freikorpspolitik aufzeigten. Das Baltikum war der erste große Einsatzort des Freikorps Pfeffer. Dort hatte sich die Lage zugespitzt. Die lettische Regierung unter Karlis Ulmanis befürchtete, von den im Land stationierten deutschen Truppen und den mit ihr verbündeten Baltendeutschen gestürzt zu werden. Sie entdeckte Dokumente, die Aufschluss über derartige Staatsstreichpläne gaben, und verhaftete in diesem Zusammenhang den deutschen Reserveleutnant Stock. Das inzwischen auf 3.000 Mann angewachsene Freikorps Pfeffer erreichte im April 1919 Libau. Schon im dortigen Hafen kam es zu einem Scharmützel, und im Zuge dieser Auseinandersetzungen befreite das Freikorps Pfeffer Leutnant Stock und entwaffnete zugleich 30-40 lettische Offiziere und 300-400 Soldaten. Mit der Verhaftung des nahezu gesamten, sich in Reichweite des Regierungssitzes von Ulmanis befindlichen lettischen Offizierskorps sah der baltische Stoßtrupp unter Führung des Barons Hans von Manteuffel die Gelegenheit gekommen, loszuschlagen. Die Regierung Ulmanis wurde gestürzt, Ulmanis selber flüchtete in die britische Botschaft. Handelte es sich beim Handstreich des Hauptmann von Pfeffer um eine spontane Aktion, die in keinem Zusammenhang zu dem Baltenputsch stand, oder war dies ein koordiniertes Vorgehen gegen die Regierung Ulmanis, die den strategischen Zielen der im Baltikum stationierten deutschen Freikorps im Wege stand? Die Frage nach dem Zusammenhang konnte nie einwandfrei ge-

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klärt werden. Fraschka schildert detailliert das Vorgehen Pfeffers unter Hinzuziehung seiner persönlichen Mitteilungen, die Hintergründe des Baltenputsches werden aber wenig beleuchtet; die strategischen Ziele der deutschen Baltikumskommandeure jedoch, die diese später sehr offen in ihren Memoiren beschrieben haben und die letztlich auf einen Sturz der Reichsregierung und eine Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges hinausliefen, werden gar nicht erwähnt. So verbleibt die Darstellung Fraschkas an dieser Stelle etwas an der Oberfläche. Der Auftritt Pfeffers im Baltikum brachte ihm in rechten Kreisen einen erheblichen Prestigegewinn. Das Freikorps galt als besonders radikal und gewaltbereit, Pfeffer selber hatte den Ruf als Mann der Tat, der schnell »zufassen« konnte. Der KappPutsch fand im Freikorps weite Zustimmung, Pfeffer kritisierte später nur das dilettantische Vorgehen der Aufrührer und dass sie es versäumten, rechtzeitig Kontakt zu ihm aufzunehmen. Die Niederschlagung kommunistischer Aufstände im Ruhrgebiet im Anschluss an den Kapp-Putsch erfolgte vonseiten des Freikorps Pfeffer mit äußerster Brutalität. Ein Freikorpsmitglied schrieb: »Selbst Verwundete erschießen wir noch. […] Unser Bataillon hat zwei Tote, die Roten haben 200 bis 300 Tote. Alles, was uns in die Hände kommt, wird mit dem Gewehrkolben zuerst abgefertigt und dann noch eine Kugel« (S. 134). Die drohende Auflösung der Freikorps versuchte Pfeffer zu umgehen, indem er Nachfolgeorganisationen schuf, in denen die republikfeindlich eingestellten Freikorpsleute organisatorisch zusammengefasst werden sollten. Solche Organisationen waren der »Frontbund« und die »Arbeitsgemeinschaft P«. Während der Kämpfe in Oberschlesien organisierte er ein Freikorps studentischer Freiwilliger. Dabei wurde er beschuldigt, den Leutnant Alfons Hent-

schel ermordet zu haben. Der Fall konnte jedoch nicht aufgeklärt werden. Als französisch-belgische Truppen 1923 das Ruhrgebiet besetzten, organisierte Pfeffer den aktiven Widerstand von Münster aus. Von einem französischen Besatzungsgericht wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Pfeffer agierte aber nicht nur gegen die Besatzer, sein Ziel war es, durch eine bewusste Eskalation des Konflikts an der Ruhr zugleich auch auf eine Destabilisierung der Republik hinzuarbeiten, wobei er selbst »den Kriegsfall in sein Kalkül miteinbezog« (S. 510). Nach dem gescheiterten Putschversuch der »Schwarzen Reichswehr« im Raum BerlinBrandenburg und dem ebenfalls gescheiterten Hitler-Putsch am 9. November 1923 musste Pfeffer einsehen, dass die verhasste Republik nicht gewaltsam gestürzt werden konnte. An der Ruhr hatte er erstmals intensiveren Kontakt zur NSDAP. Fraschka arbeitet detailliert heraus, wie Pfeffer ihr schließlich beitrat und alsbald zum Gauleiter der NSDAP-Westfalen aufstieg. Diese Ausführungen enthalten zahlreiche Detailinformationen, die auch für den Fachhistoriker von Interesse sind. An der Fusion der Gaue Rheinland-Nord und Westfalen zum »Großgau« Ruhr war Pfeffer ebenfalls maßgeblich beteiligt, ferner an der Programmdiskussion der NSDAP. Seine Denkschrift »Zucht. Eine Forderung zum Programm« umfasste fünf Kapitel und 31 Seiten. Sie ist in ihrer Menschenverachtung kaum noch zu überbieten. In bewusster Anlehnung an die Tierzucht spricht er von »Menschen-Züchtung«, von der »Emporzüchtung einer Rasse«. Im »Kampf ums Dasein« solle eine Auslese und Emporhebung der Besten und eine Vernichtung der Schlechtesten stattfinden. Kein Erbarmen dürfe es mit den untersten Gruppen der »Minderwertigen« geben: mit Krüppeln, Epileptikern, Blinden, Irren, Taubstummen, Waisen, Verbrechern, Dirnen, Sexualge-

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störten. Für sie müsse jede Leistung beendet werden. »Aber auch Dummen, Schwachen, Alten, Energielosen, Erblich-Belasteten, Krankhaft-Veranlagten dürfen wir nicht nachweinen […]. Die letzte Stufe heißt Untergang und Tod […]. Fruchtlose Bäume sollt ihr aushacken und ins Feuer werfen.« Mehrmals wird »der Jude« im Zusammenhang mit den »Minderwertigen« erwähnt. Die Übereinstimmungen mit der späteren »Euthanasie« der Nationalsozialisten und mit den Verbrechen der SS sind unübersehbar. Am 1. November 1926 trat Pfeffer seinen Dienst als Oberster SA-Führer (OSAF) in München an. Die Gründe für seine Ernennung durch Hitler sind bislang noch nicht restlos erforscht. Fraschka nennt vor allem zwei: Pfeffers unbedingte Loyalität zu Hitler und seinen Ruf als Organisationsexperte. Pfeffer stieg damit faktisch »zum dritten Mann der Bewegung auf« (S. 512). Er verpflichtete sich auf den Legalitätskurs und baute mit der OSAF eine zentrale Überorganisation auf, die den Gauleitern die Weisungsbefugnis über die regionalen Sturmabteilungen entzog. Damit trug er zur endgültigen innerparteilichen Durchsetzung Hitlers bei, schuf sich aber zugleich auch zahlreiche Feinde unter den Gauleitern. Fraschkas Darstellungen der innerparteilichen Intrigen und Auseinandersetzungen sind besonders informativ und aufschlussreich. Aber auch mit Hitler kam es zu Differenzen. Pfeffers Konzeption, die vorsah, die SA neben der Parteiorganisation als eigenständigen Apparat unter dem Dach der NSDAP zu etablieren, unterschied sich grundsätzlich von der Hitlers. Letztlich gelang es Pfeffer auch nicht, einen Ausgleich zwischen der Legalitätstaktik Hitlers und dem revolutionären Anspruch der SA-Basis zu finden. Ab 1929 häuften sich die Auseinandersetzungen mit der unbeliebten OSAF; 1930 reichte Pfeffer schließlich seine Demission ein, die Hitler annahm.

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Der Rücktritt bedeutete jedoch keinen Bruch mit dem Nationalsozialismus; Pfeffer blieb ein unbedingter Gefolgsmann Hitlers. Seit Frühjahr 1934 fungierte er als Beauftragter des Führers in Kirchenangelegenheiten im Stab des Stellvertreters des Führers Rudolf Heß, und nicht minder heikel war seine Tätigkeit als Sonderbeauftragter in der hochsensiblen Österreichfrage. 1935 begann Pfeffer mit dem Auf bau eines privaten Geheimdienstes, und 1936/37 war er als halboffizieller Unterhändler in den deutsch-amerikanischen »Mixed Claims Relations« tätig. Die Situation änderte sich mit dem HeßFlug nach Schottland im Mai 1941. Heß war einer der wenigen Vertrauten in der Partei, die Pfeffer hatte. Unter dem Verdacht der Mitwisserschaft wurde er verhaftet. Er verlor sein Reichstagsmandat und wurde im Dezember 1941 aus der Partei ausgeschlossen. Um möglichen Folterungen durch die SS zu entgehen, beantragte er in der Haft wegen des jüdischen Klangs seines Namens eine Namensänderung auf »von Pfeffer«. Nach seiner Entlassung wurde er im Zuge des 20. Juli 1944 erneut verhaftet, obwohl er mit dem Attentat auf Hitler in keiner Verbindung stand und dieses auch strikt abgelehnt hatte. Die beiden Verhaftungen änderten aber nichts an seiner grundsätzlichen Überzeugung – er blieb auch nach 1945 Nationalsozialist. In dem im Sommer 1947 beginnenden Entnazifizierungsverfahren hingegen gab Pfeffer an, dass alle seine Ämter vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelegen hätten, er aber »etwa seit der Olympiade 1936« (S. 496) als politisch Verfolgter zu gelten habe. Die Amerikaner waren nicht in der Lage, dem ehemals dritten Mann der Partei und Wegbereiter des Nationalsozialismus eine Schuld nachzuweisen und stellten das Verfahren ein. Pfeffer beantragte daraufhin wegen seiner Haftzeiten während des »Dritten Reiches« Entschädigung,

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die ihm aber verwehrt wurde. Am 12. April 1968 verstarb Pfeffer. In seiner Todesanzeige hieß es: »Sein Leben gehörte Deutschland!« Fraschka gelingt es, Pfeffers bewegtes Leben eindrucksvoll und mit einer enormen Detailfülle auszuloten. Zu Recht beschreibt er Pfeffer als typischen Freikorpsführer und betont die Kontinuitätslinien zwischen der Freikorpsbewegung und dem Nationalsozialismus am Beispiel seines Protagonisten. Pfeffer war keineswegs ein Mitläufer; er trug zur Machtübernahme der Nationalsozialisten entscheidend bei und war über deren Verbrechen durchaus im Bilde. Große Bestandteile seiner darwinistisch-rassistischen Ideen finden sich später bei der SS wieder. Pfeffer war Täter und hätte auf die Anklagebank gehört. Er diente nicht Deutschland, sondern gehörte zu den Kräften, die großes Leid nicht zuletzt auch über das deutsche Volk brachten. Nach 1945 zeigte er keinerlei Reue oder Einsicht. Sehr interessant wäre es gewesen, wenn Fraschka die Angehörigen noch intensiver danach gefragt hätte, wie Pfeffer mit seiner eigenen Geschichte und den Verbrechen des Nationalsozialismus umgegangen ist. Insgesamt ist Fraschkas Buch sehr zu empfehlen, spannend geschrieben und gut lesbar. Es enthält zahlreiche Anregungen und ist für politisch-historisch interessierte Leser wie für den Fachhistoriker interessant. Bernhard Sauer, Berlin

Katja Kosubek, »genauso konsequent sozialistisch wie national«. Alte Kämpferinnen der NSDAP vor 1933. Eine Quellenedition 36 autobiographischer Essays der Theodore-Abel-Collection (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Quellen, Bd. 4), Wallstein, Göttingen 2017, 608 S., 42 Euro Wer Hitlers Wähler waren, ist mittlerweile hinreichend genau erforscht. Neue Erkenntnisse hierzu betreffen nur noch Einzelaspekte sowie regionale oder lokale Besonderheiten. Das Gleiche gilt im Prinzip auch für die rund zehn Millionen Mitglieder der NSDAP, die sich zwischen 1920 und 1945 der Partei angeschlossen hatten. Wir wissen über die demografische Zusammensetzung, die regionale oder die berufliche Herkunft derer, die zwischen 1925 und 1945 der Partei beitraten, ebenso gut Bescheid wie über die 800.000 bis 1.000.000 »Parteigenossen«, die vor allem in den Anfangsjahren, aber auch noch in den ersten beiden Jahren nach der »Machtergreifung«, wieder aus der NSDAP austraten. Kenntnisse über die Wähler der NSDAP haben wir aufgrund der insgesamt sehr detaillierten Ausweisung von Wahl- und Volkszählungsergebnissen durch das Statistische Reichsamt und die entsprechenden Landesämter. Wer die Mitglieder der NSDAP waren, woher sie kamen, wie alt sie waren, welchen Beruf sie bei Parteieintritt erlernt hatten oder ausübten, wissen wir aus den beiden im Bundesarchiv in Berlin lagernden Mitgliedskarteien der NSDAP, deren Bestand zwar am Kriegsende erheblich beschädigt wurde, in denen aber dennoch zusammengenommen insgesamt rund 90 Prozent aller NSDAP-Mitglieder verzeichnet sind. Worüber wir nur sehr lückenhaft Bescheid wissen, sind die Motive der Wähler und Mitglieder, der NSDAP bis zur Märzwahl 1933 die Stimme zu geben oder sich ihr als Mitglied anzuschließen. Hier sind wir ent-

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weder auf vereinzelte autobiografische Angaben und Zeitzeugnisse angewiesen oder auf bestenfalls nur annähernd repräsentative, eingeschränkt aussagekräftige Quellen wie die Abel-Collection, die Gimbel-Berichte und die zwar massenhaft vorhandenen, aber in dieser Hinsicht in ihrem Aussagewert stark eingeschränkten Entnazifizierungsakten. Für die sogenannten Alten Kämpfer wie für die Mitglieder der »Alten Garde« verfügen wir über vergleichsweise reichhaltiges autobiografisches Material, das sich im Falle der Abel-Collection schwerpunktmäßig und im Falle der Gimbel-Papiere sporadisch auf die Motive bezieht, die der Entscheidung, der NSDAP beizutreten, zugrunde lagen. Die Begriffe »Alter Kämpfer« und »Alte Garde« sind übrigens weder im historischen Schrifttum noch von den Nationalsozialisten selbst immer einheitlich gebraucht worden. Eindeutig definiert ist der Begriff der »Alten Garde«. Hierunter sind die »Parteigenossen« zu verstehen, die sich bis 1928 der Partei anschlossen und eine Parteimitgliedsnummer unter 100.000 trugen. Der Begriff der »Alten Kämpfer« wird teilweise mit dem der »Alten Garde« (meines Erachtens zu Unrecht) synonym verwendet, teilweise bezieht er sich auf diejenigen Parteimitglieder, die sich vor der Reichstagswahl 1930 der NSDAP anschlossen und eine Mitgliedsnummer unter 300.000 besaßen. Von Mitgliedern der sogenannten Alten Garde stammen die Gimbel-Berichte, die für den Gau Hessen-Nassau fast vollständig erhalten im Hessischen Hauptstaatsarchiv liegen. Sie stellen Antworten auf die parteioffiziell an die Mitglieder der »Alten Garde« herangetragene Aufforderung, über die Erlebnisse der sogenannten Kampfzeit zu berichten, dar. Ihren Namen tragen diese Berichte nach dem »Gausachbearbeiter für die Alte Garde« des Gaus Hessen-Nassau, Albert Gimbel, der die Berichte im Auftrag von Rudolf Heß in den Jahren 1936

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oder 1937 zusammentrug. Rund 800 dieser Berichte, die teilweise über viele Seiten gehen, sind in hand- oder maschinenschriftlicher Form erhalten. Die meisten Berichte der Gimbel-Respondenten beschäftigen sich tatsächlich mit Erlebnissen der »Kampfzeit«, aber in jeder dritten bis fünften Akte finden sich auch Hinweise darauf, warum und unter welchen Umständen man Parteimitglied wurde. Eine systematische Auswertung des Gesamtbestandes der GimbelBerichte existiert bisher nicht. Im Gegensatz zu den Gimbel-Berichten wurden die autobiografischen Darstellungen der sogenannten Abel-Collection bereits mehrfach ausgewertet, zuerst 1938 vom Initiator der Berichte, Theodore Abel, einem polnisch-amerikanischen Soziologen, dann, rund 40 Jahre später, von Peter Merkl, einem österreichisch-amerikanischen Politikwissenschaftler. Gesammelt wurden die Berichte der Abel-Collection im Rahmen eines (fiktiven) Preisausschreibens, das sehr moderate Geldpreise für die beste Darstellung auslobte und – mit Unterstützung parteioffizieller Stellen – unter der Leitung der New Yorker Columbia-Universität im Jahre 1934 durchgeführt wurde. Insgesamt 683 Parteimitglieder antworteten auf das Preisausschreiben. Erhalten geblieben sind 581 Berichte. Während Abel sich in seiner Analyse auf die männlichen Teilnehmer des Preisausschreibens beschränkt, bezieht Merkl in seine quantitative, inhaltsanalytische Auswertung der Einsendungen »Alter Kämpfer« zumeist auch die »Parteigenossinnen« ein. Das ergibt sich aus den absoluten Zahlen vieler Tabellen, die Merkl in seinem voluminösen Werk wiedergibt. Der Verfasserin des hier zu besprechenden Buches scheint das entgangen zu sein, wenn sie behauptet, »Merkls eigentliche Analyse beschränkt sich auf die Zuschriften männlicher Parteigenossen« (S. 67). Allerdings widmet Merkl zwar ein kurzes eigenes Kapitel den weiblichen Respondenten, weist

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aber dann in seinen Inhaltsanalysen die Frauen nur noch sporadisch gesondert aus. Die Verfasserin der vorliegenden Studie konzentriert sich auf die 36 weiblichen Teilnehmer der Abel-Collection. Sie liefert, höchst verdienstvoll, im dritten Teil ihres Buches, der rund 40 Prozent der gesamten Publikation ausmacht, eine Transkription der »von Frauen verfassten Biogramme der Theodore-Abel-Collection«. Zwar sind alle 581 Lebensberichte der AbelCollection mittlerweile in Faksimileform über das Internet zugänglich, doch sind nicht wenige aufgrund unterschiedlicher Handschriften und der Tatsache, dass vielfach die heute kaum noch geläufige Sütterlinschrift verwendet wurde, recht mühsam zu lesen. Der erste Teil von Kosubeks Studie geht der Frage nach, wer die »Alten Kämpferinnen« waren, was es mit der Abel-Collection auf sich hat und unter welchen allgemeinen Bedingungen der Beitritt zur NSDAP erfolgte. Der zweite Teil ist einer Auswertung der 36 Biogramme von Frauen gewidmet, wobei die Autorin hier zum einen nach den Motiven des Beitritts zur NSDAP fragt, zum anderen nach den »Handlungsräumen weiblichen Engagements für die NSDAP«. Es handelt sich bei dem vorliegenden Werk um eine außerordentlich informative, interessante, gut geschriebene Darstellung, die allerdings nicht ganz frei von Fehlern ist. So schreibt die Verfasserin in Fußnote 52 auf Seite 140, dass die Deutschnationalen erstmals 1925 im Reichstag vertreten gewesen seien. Das ist natürlich Unsinn. Die DNVP war bereits in der Nationalversammlung mit 42 Abgeordneten und im Ersten Weimarer Reichstag von 1920 mit 71 Abgeordneten vertreten; auch gab es 1925 zwar Reichspräsidenten- aber keine Reichstagswahlen. Manchen Zahlenbeleg bezieht sie aus der Sekundärliteratur, so auf Seite 260, wo sie die Aussage, mehr als ein Drittel der NSDAP-Mitglieder sei 1930 jünger

als 30 Jahre gewesen, durch eine entsprechende Stelle bei Bernd-Jürgen Wendt belegt und nicht etwa aus der »Partei-Statistik« von 1935, die sie an anderer Stelle zitiert, deren analytischen Wert, gerade auch was Frauen angeht, sie allerdings unterschätzt. Das gilt übrigens auch für Merkls monumentale Studie, die sie anscheinend nur auszugsweise zur Kenntnis genommen hat. Ohnehin vermisst man im Literaturverzeichnis ihrer ursprünglich als Dissertation eingereichten Monografie so wichtige Primäruntersuchungen über die Mitglieder der NSDAP wie die von William Brustein, Detlef Mühlberger, Helmut Anheier oder Paul Madden. Auch wäre es durchaus sinnvoll gewesen, die Ergebnisse ihrer Analyse stärker mit denen von Abel und Merkl zu kontrastieren, was möglicherweise dazu beigetragen hätte, die Auswertung insgesamt systematischer und stärker theoriebezogen durchzuführen, als das der Fall ist. Aber das sind Mäkeleien, durch die der Wert des Buches nur unwesentlich beeinträchtigt wird. Hervorzuheben sind die quellenkritische Sensibilität, mit der die Auswertungen erfolgt sind, ferner die unvoreingenommene, wenn auch mit einem leicht feministischen Einschlag versehene Rekonstruktion der Beitrittsmotive. Von ausschlaggebender Bedeutung für den Parteibeitritt seien die politische Überzeugung der Verfasserinnen der Biografien und ihre Faszination vom Konzept der NS -»Volksgemeinschaft« gewesen. Der Beitritt von Frauen während der sogenannten Kampfzeit der Bewegung sei von diesen als Legitimation verstanden worden, »aus tradierten Geschlechtermustern auszubrechen und sich frei im öffentlichen Raum zu bewegen« (S. 279). Eine nicht geringe Rolle habe auch die emotionale Bindung »an die als familienähnlich empfundene Gemeinschaft der NSDAP-Ortsgruppen« gespielt (ebd.). Über die eine oder andere Einschätzung

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der NSDAP durch die Verfasserin lässt sich streiten, beispielsweise darüber, ob es sich wirklich um eine Partei der Entwurzelten gehandelt habe. Dagegen spricht, dass die NSDAP keine Partei der Arbeitslosen war, dass Facharbeiter unter den Arbeitermitgliedern überwogen, aber auch, dass die Frauen der Abel-Collection – ebenso übrigens wie die weiblichen NSDAP-Mitglieder insgesamt – überdurchschnittlich häufig berufstätig waren. Dessen ungeachtet handelt es sich bei dem vorliegenden Werk um eine wertvolle Ergänzung unseres Wissens über die NSDAP-Mitglieder, ihrer Motive, der Partei beizutreten und ihrer Aktivitäten innerhalb der Partei, insbesondere der Ortsgruppen. Jürgen W. Falter, Mainz

Felix Römer, Die narzisstische Volksgemeinschaft. Theodor Habichts Kampf 1914 bis 1944, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2017, 398 S., 26 Euro Felix Römer hat keine klassische Biografie über Theodor Habicht verfasst. Vielmehr bemüht er sich anhand des Lebenswegs und der politischen Karriere Habichts, eine für ihn bestimmende Charaktereigenschaft innerhalb der NS -Führungsriege aufzuzeigen: den Narzissmus. Im Narzissmus sieht Römer einen verbindenden charakterlichen Zug bei NS -Funktionären, der als kollektives Muster ihre historische Mentalität prägte. So formuliert der Autor selbst: »Das vorliegende Buch geht von Theodor Habichts Biographie aus, weist aber weit darüber hinaus. Es erzählt die Geschichte eines wichtigen, aber weithin vergessenen Akteurs des ›Dritten Reiches‹, der mit seiner narzisstischen Art erstaunlich weit kam. […] Es ist eine Geschichte von Machtspielen, Klüngeln und Ideologie« (S. 34). Für Römer steht der Narzissmus im Widerspruch zur propagierten NS -»Volksgemein-

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schaft«, in welcher das Volk über dem Wohl des Einzelnen stand. Das Werk gliedert sich in fünf Kapitel. Nach der Einleitung befasst sich der Autor zunächst mit der »Kultur des Narzissmus«, durch die Habicht geprägt worden sei. Danach wird die Bedeutung der »Volksgemeinschaft« für Habicht und seine nähere Umgebung untersucht, um schließlich sein Verhalten während des Krieges gegenüber seinem Umfeld und die soziale Praxis vor Ort zu betrachten. Ein knapper Ausblick schließt die Monografie ab. Durch die Kapitel hindurch werden Habichts Teilnahme am Ersten Weltkrieg, sein Aufstieg in der NSDAP und seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod im »Ostfeldzug« 1944 thematisiert. Die Arbeit stützt sich unter anderem auf die Kriegstagebücher Habichts, die Korrespondenz mit seiner Frau und anderen NS -Funktionären. Die Quellenbasis wurde durch weitere Nachlässe, Feldpostbriefe, Personalunterlagen wie auch amtlichen Schriftverkehr ergänzt. Die methodische Herangehensweise Römers irritiert: In seiner Einleitung unterzieht er Habicht retrospektiv einem psychologischen Test zur Diagnose narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (Narcisisstic Personality Inventory) aus dem Jahr 1979. Zwar räumt er ein, dass Habicht diesen Test niemals selbst ausgefüllt haben könne, dennoch »beantwortet« der Autor exemplarisch Fragen auf Grundlage der Egodokumente Habichts. Kritisch zu sehen ist, dass Römer Habicht nicht nur Aussagen unterstellt, sondern in dessen »Antworten« eine professionelle Distanzierung vermissen lässt. So verzichtet er auf eine indirekte Rede, übernimmt stellenweise Habichts Sprachduktus und suggeriert damit eine Authentizität, die nicht gegeben ist. Zudem fehlen in den Antworten weiterführende Hinweise auf die Quellen. Mithilfe des Fragebogens diagnostiziert Römer bei Habicht narzisstische Charakterzüge. Die Argumentations-

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struktur mutet merkwürdig an, da Römer anschließend explizit betont, dass es ihm nicht um eine individualpsychologische Analyse, sondern um das Aufzeigen einer narzisstischen Tendenz unter NS -Funktionären gehe. Dabei nennt er als weitere prominente Beispiele Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg, ohne jedoch deren Tagebücher zu analysieren beziehungsweise deren Aussagen mit denen Habichts abzugleichen. Im zweiten Kapitel »Die Kultur des Narzissmus« betrachtet Römer die prägenden Umstände und Momente im Leben Habichts. Der 1898 in kleinbürgerlichen Verhältnissen geborene Habicht meldete sich nach Abschluss der Mittleren Reife im November 1915 als Kriegsfreiwilliger. Er zeichnete sich im Kampf aus, erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde innerhalb von zwei Jahren zum Unteroffizier befördert. Seine Radikalisierung von einem Nationalisten hin zum rechtsextremen Parteispektrum verortet Römer mit Habichts Eintritt in die Freikorps 1919. 1926 wurde er NSDAP-Parteimitglied. Dem Autor zufolge sah und stilisierte sich Habicht als Teil der nationalsozialistischen Avantgarde. Seiner Eigenwahrnehmung nach beruhte diese »Position« auf seiner Rolle als Kriegsfreiwilliger, Frontsoldat, Freikorpsmitglied und Vorkämpfer der NS -Bewegung. Derartige biografische Narrative »erfüllten für die Nationalsozialisten eine wichtige Funktion, denn sie verliehen ihnen Autorität – und die war essenziell, um in der NS Bewegung über Gefolgschaft zu verfügen« (S. 45). Mit Habichts Status und seiner Karriere als NS -Funktionär ging auch sein sozialer Aufstieg einher. Er sah sich aufgrund seines frühen Engagements in der NSDAP berechtigt, besondere Ansprüche zu stellen. So setzte er beispielsweise die Anrechnung seiner Parteimitgliedschaft als Berechnungsgrundlage für seine Besoldung als Oberbürgermeister von Wittenberg (1937) durch.

Habicht verließ sich innerhalb der NS -Bewegung allerdings nicht ausschließlich auf seine Stellung als »Kämpfer der ersten Stunde«, sondern baute viele persönliche Beziehungen auf. Als stellvertretender (1927), dann Ortsgruppenleiter der NSDAP in Wiesbaden etablierte er sein »System Habicht« mit ihm getreuen Gefolgsleuten. Dieses Prinzip sollte seine gesamte Karriere wie ein roter Faden durchziehen. Römer gelingt es in seiner Arbeit eindrücklich darzustellen, welche Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten aus dieser »personalisierten Praxis« (S. 67) entstanden. Sie umfasste mehrere Aspekte. So förderte Habicht einzelne loyale Gefolgsleute, bemühte sich aber auch stets um persönlichen Kontakt zu höheren NS -Funktionären (Goebbels, Wilhelm Stuckart etc.), denen er nicht zuletzt seine Stellen als Oberbürgermeister in Wittenberg und Koblenz (1939) oder die des Unterstaatssekretärs (1939) im Auswärtigen Amt verdankte. Der Aufbau eines persönlichen Netzwerks führte allerdings auch zu Machtkämpfen im Umfeld Habichts. So veranlasste er beispielsweise, dass ein ihm unliebsamer »Parteigenosse« aus der NSDAP ausgeschlossen wurde, oder ließ zwei »Parteigenossen« wegen »Verleumdung« für sechs Monate im Konzentrationslager Lechhausen inhaftieren. Laut Römer spielte der Kult um die eigene Person eine wichtige Rolle bei Habicht und war Zeichen seines Narzissmus. So eskalierte Habicht die NS -Politik in Österreich eigenmächtig und war der Hauptverantwortliche für den gescheiterten Juliputsch der SS -Standarte im Jahr 1934, bei dem der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ermordet wurde. Im dritten Kapitel wird Habichts Blick auf die »Volksgemeinschaft« besprochen. Es ist problematisch, dass der Autor hier auf eine eindeutige Definition des Begriffes verzichtet hat, denn dieser konnte während der NS -Zeit mit einer Verheißung sozialer

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Gleichheit, der Idee einer exklusiven »Volksgemeinschaft«, aus der »Gemeinschaftsfremde« vor allem anhand rassistischer Kriterien ausgeschlossen wurden, und der Möglichkeit der persönlichen Veränderung und des sozialen Aufstiegs durch Anpassung an nationalsozialistische Normen verknüpft sein. Auch die anhaltende historiografische Debatte lässt er unerwähnt. Römer konstatiert, dass ein sozialer Aufstieg innerhalb von Habichts Infanterieregiment im Sinne der NS -Leistungsgemeinschaft möglich wurde und war, wenn auch Unterschichten im Offizierskorps unterrepräsentiert blieben. Darin sieht er weniger die Realisierung der egalitären Idee der »Volksgemeinschaft« als vielmehr die Umsetzung individueller Interessen durch die neue soziale Mobilität. Auch betont Römer, dass alte Traditionen und Wertekodizes in dem Regiment weiter Bestand hatten und NS -Parteiaktivisten sich diesen anpassten. So unterließ Habicht beispielsweise das Tragen seines Parteiabzeichens und wollte als Offizier und nicht als NSDAP-Funktionär wahrgenommen werden. Auch verzichtete er auf Vorteile, die er als Teil der »nationalsozialistischen Avantgarde« hätte in Anspruch nehmen können. So ließ sich Habicht weder vom Kriegsdienst freistellen, noch wurde er aufgrund seiner Parteizugehörigkeit befördert. In einer Hinsicht nahm er jedoch eine Vorzugsbehandlung in Anspruch und erhielt vor vielen seiner Kameraden Heimaturlaub. Dies sah er als berechtigt an, da er sich seiner Wahrnehmung nach bereits seit 27 Jahren »im Krieg« befand. In anderer Hinsicht zeigte er sein Autoritätsdenken und die Tendenz zum Persönlichkeitskult. So verkehrte Habicht außerdienstlich nur mit anderen Offizieren. Zwar legte er Wert auf Kontakt zu seinen Soldaten, erwartete von ihnen aber Gehorsam und Anerkennung seiner Autorität. Römer bezeichnet dieses Verhalten als »paternalistisch«.

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Im vierten Kapitel gibt der Autor einen Einblick in den Kriegsalltag Habichts an der »Ostfront«. Dabei führt er unter anderem eine semantische Analyse der häufigsten Substantive in Habichts Tagebüchern durch. Römer folgert aus den Ergebnissen, dass Habicht selbst innerhalb des Gewaltraums das Bedürfnis nach Struktur und Ordnung hatte beziehungsweise sich diese auch aktiv ermöglichte. So unternahm er häufig Spaziergänge in der Umgebung seines Gefechtsstandes oder gestaltete seinen Bunker zu einem Wohnbunker um, wo er Gäste empfing. »[Sie] sind restlos erschlagen. Denn was sie nun […] vor sich sehen, ist kein Bunker mehr, sondern eine mit höchster Raumkunst eingerichtete Kajüte« (S. 220). Römers Ansicht nach wertete sich Habicht durch persönliche Beziehungen und Besuche sozial auf. Sein Bedürfnis nach geregelten Abläufen versuchte Habicht sogar gegenüber feindlichen Soldaten umzusetzen. Als neu angekommene sowjetische Truppen die bisherigen Gefechtspausen nicht einhielten, wollte er diese durch Granatfeuer »umerziehen«. Römer konnte im Tagebuch Habichts keine Hinweise finden, dass sich die »Volksgemeinschaft« durch Gewalt oder kollektiven Normbruch konkretisierte. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass Habicht, obwohl er wahrscheinlich Zeuge eines Massakers an litauischen Juden in Kowno wurde, dies nicht in seinem Tagebuch thematisierte. Dieser Aspekt hat an sich auch eine gewisse Aussagekraft. Allgemein stand Habicht Gewalt, Tod und Kriegsverbrechen stoisch bis herzlos gegenüber. So berichtete er emotionslos über die Hinrichtung zweier sowjetischer Soldaten aufgrund des sogenannten Kommissarbefehls oder ordnete in einem Gefecht an, keine Gefangenen zu machen. Bei anderen Gelegenheiten verhinderte er wiederum die Hinrichtung von Gefangenen. Römer sieht in diesem Handeln die Manifestation von Habichts Füh-

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rungsanspruch und dessen Bedürfnis, sich als selbstbestimmter Akteur zu sehen. Habicht konnte Macht ausüben, indem er der Gewalt Grenzen setzte. Die Einstellung Habichts gegenüber der Zivilbevölkerung im Kriegsgebiet bezeichnet Römer als »koloniales Denken«, das zudem durchsetzt war mit einer rassistischen Grundeinstellung und eingebildeter Überlegenheit. Trotz Repressalien, Zwangsarbeit und Gewalt sah sich Habicht in der Rolle des paternalistischen und wohlwollenden Besatzers. »Das hatte etwas extrem Narzisstisches« (S. 291). Ob narzisstische Charakterzüge Habichts Handeln ausreichend charakterisieren, bleibt zumindest fraglich. Auch gelingt es Römer nur begrenzt, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden und narzisstische Strukturen als kollektives Muster der historischen Mentalität von NS -Funktionären aufzuzeigen. Dessen ungeachtet ermöglicht er einen ungewöhnlichen und detaillierten Einblick in die Gedankenwelt des NSDAP-Funktionärs Theodor Habicht. Sandra Dentler, München

Sarah Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939) (= Religion und Moderne, Bd. 9), Campus, Frankfurt a. M./New York 2017, 546 S., 39,95 Euro Auch wenn die seit zwei Jahrzehnten wieder neu aufgelegte Debatte über Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus als »politische Religion« inzwischen abgeflaut ist, so kommt ihr nicht zuletzt das Verdienst zu, eine Reihe innovativer empirischer Studien zu religiösen Aspekten der NS -Bewegung angeregt zu haben. Hierzu kann auch die vorliegende Publikation von Sarah Thieme zählen, die aus ihrer 2016 abgeschlossenen Dissertation im Rahmen des Münsteraner Exzellenzclusters »Religion

und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« hervorgegangen ist. In ihrer umfassenden Einleitung (S. 13-72) diskutiert sie die einschlägige Forschungsentwicklung, ohne sich dabei dem Konzept der »politischen Religion« vollständig anzuschließen. Bevorzugt wird Emilio Gentiles vor dem Hintergrund des italienischen Faschismus gewonnenes Theoriekonzept einer »Sakralisierung des Politischen« herangezogen: Ausgelöst werde ein derartiger Sakralisierungsprozess durch Heiligsprechung einer innerweltlichen Größe wie »Nation«, »Vaterland« oder »Rasse« sowie deren Verabsolutierung zu einer »heiligen Sache«, der für die ihr ergebene gläubige Anhängerschaft letzte Sinnstiftung zukomme. Als soziale Bewegung habe der Nationalsozialismus auf vielfache Weise Sakralisierungen seiner Ziele und Werte unternommen. Entscheidend dazu beigetragen habe die Qualifizierung seiner im politischen Kampf getöteten Mitstreiter als Märtyrer und deren kultische Verehrung. »Das ›Allerheiligste‹ der NS -Bewegung, das in ihrem Kult, besonders in ihren Mythen vermittelt wurde, war das prognostiziertkommende ›Dritte Reich‹, verstanden als Auferstehung der arisch-deutschen ›Volksgemeinschaft‹. Sie vermittelte damit eine innerweltliche Soteriologie und versprach diesseitige Erlösung des Kollektivs« (S. 46). Als Untersuchungsgebiet dient das westfälische Ruhrgebiet, eine von Kohlebergbau und Schwerindustrie, von konfessionellen Mischverhältnissen bei leichtem Übergewicht der Protestanten und von politischer Dominanz der Linksparteien SPD und KPD geprägte Region. Insgesamt verzeichnet die Untersuchung 27 im weitesten Sinn im politischen Kampf getötete Angehörige der NS -Bewegung, die nach dem Selbstverständnis der NSDAP zu deren politischen Märtyrern zählten. Das waren allesamt jüngere Männer (Durchschnittsalter knapp 27 Jahre), darunter 18 Personen bis zum NS -

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Machtantritt 1933 und neun während der Regimezeit bis 1939 zu Tode gekommene Anhänger. Keine dieser Märtyrerfiguren hat in irgendeinem Sinn überregionale Bekanntheit erlangen können wie beispielsweise der Berliner Pfarrerssohn Horst Wessel. Es handelt sich durchweg um lokale oder regionale NS -Märtyrerfiguren, die allerdings von der örtlichen NS -Bewegung häufig in höchstem Maße verehrt wurden und den von Mythen umwobenen Status eines lokalen »Mini-Messias« (S. 143) erlangen konnten. Kapitel 3 und 4 berichten in umfassender Weise über ihre Biografien: über die (nicht immer zweifelsfrei geklärten) Todesumstände; über die Verklärung der Toten zu jungen heroischen Straßenkämpfern als Vorbilder der »Bewegung«; sodann ausführlichst über die Entfaltung eines ihnen gewidmeten Märtyrerkultes anlässlich der Beisetzungen, die nicht selten zur politischen Demonstration gerieten; thematisiert werden schließlich die Tatorte und die Gräber als sakrale Orte sowie die den Verstorbenen gewidmeten Denkmäler und Weihefeiern. Insgesamt waren die Zeremonien des NS -Märtyrerkults durch einen religiösen Synkretismus gekennzeichnet, worin sich christliche Rituale und Glaubenstraditionen und genuin »völkisch«-nationalsozialistische Gläubigkeiten vermischten. Im umfangreichsten Kapitel 5 (S. 336-486) werden »Sakralinteraktionen« untersucht, also vor allem das Hineinwirken der beiden christlichen Konfessionen in den NS -Märtyrerkult. Was in religionsgeschichtlichen und kirchenhistorischen Forschungen bereits häufiger beschrieben worden ist, wird auch durch die vorliegende Studie bestätigt: die – im Vergleich mit den Katholiken – größere geistig-politische Nähe zwischen dem protestantischen Milieu und der NS -Bewegung. Die ganz überwiegende Mehrzahl der westfälischen NS -Märtyrer hatte biografisch einen protestantischen Hintergrund. Ebenso prägten evangelische

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Kirchengemeinden und nationalsozialistische Pfarrer, insbesondere Protagonisten der Deutschen Christen wie Martin Siebold (der »Hofprediger« der Bochumer NSDAP), viel intensiver die Bestattungen, als dies auf katholischer Seite geschah, wo die Distanz zum Nationalsozialismus spürbar größer war. Die Verfasserin macht in diesem Zusammenhang eine interessante Beobachtung, die mehr Beachtung verdient hätte, vor allem für einen resümierenden Ausblick am Ende dieser Studie. Während in der sogenannten Kampfzeit die NS -Bewegung mit ihren »Blutzeugen« vorwiegend als Teil einer Trauergemeinde bei rein kirchlichen Bestattungen anwesend war, wandelte sich das Bild in der Regimezeit signifikant und kehrte sich tendenziell um: Das kirchlich-christliche Element trat in den Beisetzungszeremonien immer deutlicher zurück, die Geistlichen gehörten seit 1933 mehr und mehr nur noch zu Gästen auf nun genuin nationalsozialistischen Bestattungsfeiern. Durch eine generelle Parteianordnung vom 12. Januar 1934 gelangten die zuvor bei den Kirchen angeforderten Gottesdienste auch offiziell an ein Ende. Dieses Datum markierte eine »Bruchstelle« für die vormals intensiv praktizierte sakralinteraktive Beteiligung von christlichen Geistlichen im NS -Märtyrerkult. Ihren Totenkult nahmen die nun herrschenden Nationalsozialisten selbst in die Hand, kirchliche Begleitung war nicht mehr erwünscht. Eine Auflistung der westfälischen NS -Märtyrerfiguren in Kurzbiografien (S. 495-506) beschließt diesen umfangreichen Band, dem an einigen Stellen Kürzungen gut getan hätten. Aus unerfindlichen Gründen fehlt im Anhang ein Personenregister, was bei einer so personenzentrierten Untersuchung wie der vorliegenden eigentlich unverzichtbar wäre. Alles in allem handelt es sich um eine beeindruckende religions- und kulturgeschichtliche Studie zur NSDAP-Geschich-

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te, deren Schwerpunkt allerdings auf der »Kampfzeit« vor 1933 liegt. Sie fügt sich ein in die Reihe einschlägiger Untersuchungen zum »braunen Kult« von Klaus Vondung, Sabine Behrenbeck oder Sven Reichardt. Allerdings sollte man die gravierenden Wandlungen des NS -Totenkults nach 1933 im Auge behalten. Wer die Beisetzungsfeiern prominenter Nationalsozialisten wie jene für Wilhelm Gustloff (1936), Hanns Kerrl (1941) oder Reinhard Heydrich (1942) und ähnlich prominente Parteiführer untersucht, wird feststellen, dass hier längst ein neuer Glaube praktiziert wurde, der mit der christlichen Tradition radikal gebrochen hatte. Manfred Gailus, Berlin

Paul-Moritz Rabe, Die Stadt und das Geld. Haushalt und Herrschaft im nationalsozialistischen München (= München im Nationalsozialismus. Kommunalverwaltung und Stadtgesellschaft, Bd. 3), Wallstein, Göttingen 2017, 399 S., 38 Euro Mit der Untersuchung des Haushalts der Stadt München im Zeitraum von 1932 bis 1945 betritt Paul-Moritz Rabe Neuland. Eine vergleichbare Studie zu einer anderen deutschen Großstadt liegt bisher nicht vor. Daher ist es für das Verständnis sinnvoll, dass Rabe seine Studie hinsichtlich der Fragen an seinen Gegenstand breit anlegt und seine Ausführungen mit einer Einführung in den Haushaltsplan als Quelle beginnt. Danach werden vier beispielhaft ausgewählte Haushalte dargestellt. Den Einstieg bildet der Haushalt des Jahres 1932, der als Krisenhaushalt anzusehen ist, gefolgt vom Haushalt von 1935, der von Konsolidierung geprägt war. Darauf folgen der Haushalt von 1939, in dem die Ressourcenverschiebung deutlich zu sehen ist, und der Kriegshaushalt von 1943. Dabei wäre es wünschenswert gewesen, wenn über die etwas

sehr kurzen Ausführungen in der Einleitung (S. 12) hinaus die Auswahl der Haushaltsjahre noch näher begründet worden wäre. Die Stärke des Kapitels liegt neben der Quellenanalyse vor allem darin, dass nicht nur Zahlen und deren Veränderungen dargestellt und interpretiert werden, sondern auch auf die Präsentation des Haushalts eingegangen wird. Rabe stellt sehr überzeugend dar, wie sowohl der unausgeglichene Haushalt 1932 wie der konsolidierte Haushalt 1935, der, basierend auf optimistischen Annahmen, den Aufstieg der Stadt und die Zusammenarbeit von NSDAP und Verwaltung in den Vordergrund stellte, inszeniert wurden. Der Autor zeigt, dass der finanzielle Aufstieg Münchens bis 1935 nur moderat voran ging. Der Unterschied zu 1932 lag in den Entscheidungsprozessen (S. 62) und vor allem in der positiven Darstellung des Haushaltes (S. 63-66). In gleicher Weise werden die Haushalte 1939 und der nicht veröffentlichte Haushalt 1943 untersucht. Im folgenden Kapitel »Herren des Geldes« betrachtet Rabe die wichtigsten Akteure der städtischen Finanzpolitik der NS -Zeit. Indem er hier einzelne Organisationseinheiten, die wichtigsten Akteure, die Entscheidungswege und die Interaktion mit Instanzen außerhalb der Stadtverwaltung untersucht, legt er ein Fundament für die folgenden Kapitel, wie man es auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung von einer Arbeit, die sich mit einer Behörde im »Dritten Reich« beschäftigt, erwartet. Dabei bindet er die Münchener Entwicklungen immer in den Kontext der sich verändernden Stellung der Kommunen im NS Staat ein. Hier berücksichtigt er auch neu entstandene Instanzen des NS -Systems. Die vom Autor in der Einleitung dargestellte Quellenlage begrenzt leider in Bezug auf die Betrachtung einzelner Akteure innerhalb der Stadtkämmerei und ihrer Ämter die Erkenntnismöglichkeiten. Auch wenn

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über die politische Einordnung einzelner Akteure unterhalb der Stadtspitze nur wenig herauszufinden ist, konnte Rabe zumindest Kontinuitäten nachweisen, die vor die NS -Zeit zurückreichen. Mit der Untersuchung der Einnahme- und Ausgabepolitik Münchens in den nächsten Kapiteln betrachtet der Autor das konkrete Verwaltungshandeln und zeigt, inwieweit dieses nationalsozialistisch geprägt war und dem Funktionieren des NS -Regimes diente. Zunächst nimmt er dabei die Aushandlungsprozesse im Rahmen des Finanzausgleichs unter die Lupe, dessen Entwicklung er in fünf Phasen einteilt. Er widmet sich dann der tatsächlichen Einziehungspraxis, die, wie Rabe überzeugend zeigt, sowohl Klientelpolitik als auch Teil der Verfolgungspraxis war. Besondere Beachtung verdient darüber hinaus die Beteiligung der Stadt am Raub an den Münchner Juden. Diese Prozesse stellt Rabe detailliert dar. Dabei arbeitet er heraus, dass die Stadtverwaltung hier keinesfalls nur reaktiv tätig war, sondern die fiskalische Benachteiligung und Beraubung der Opfer aktiv vorantrieb und bereit war, dabei den durch Vorschriften gesetzten Rahmen zu überschreiten. Dass Rabe zuvor den Völkermord an den Juden als »Raubmord« bezeichnet (S. 259), kann als zu starke Betonung fiskalischer Motive beim Genozid gesehen werden, selbst wenn er die Bezeichnung durch die Nutzung des Wortes »auch« etwas relativiert. Im Abschlusskapitel, in dem es um die Ausgabenpolitik der Stadt München geht, konzentriert sich der Autor sinnvollerweise auf die freien Mittel. In ihnen sind im Gegensatz zu den Ausgaben für die Auftragsverwaltung die Gestaltungsmöglichkeiten und damit auch der Gestaltungswille einer Stadt zu finden. Dabei untersucht er vier Bereiche, anhand derer er eine freiwillige aktive Politik der Stadt zeigen kann. Es handelt sich dabei um die sogenannte Ehe-

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beigabe, mit der jedem frischverheirateten Paar »Mein Kampf« geschenkt wurde, um die finanzielle Förderung von Nationalsozialisten durch die Stadt, um den Bereich, den Rabe als »Investitionen in das Image« bezeichnet, und um die Beteiligung an den gigantomanischen Ausbauplänen zur »Hauptstadt der Bewegung«. In seinem Resümee fasst Rabe noch einmal die Entwicklung des Haushaltes über die genannten Jahre hinweg zusammen, wobei er verdeutlicht, wie die Stadt München mit ihrem Haushalt Ressourcen mobilisierte, Gesellschaftspolitik im Sinne der NS -Ideologie betrieb und bei der Beraubung der jüdischen Mitbürger ihren Beitrag zur Dynamisierung der Judenverfolgung leistete. Es überrascht folglich nicht, dass der Autor die Finanzexperten der Stadt als Teil einer NS -Funktionselite sieht. Mit Blick auf weitere Arbeiten zu anderen Städten in der NS -Zeit ist die Beurteilung der Sonderstellung Münchens besonders wichtig. Rabe resümiert hier, dass München einerseits durch vielfache Verbindungen zur NS -Elite, die, wie er zuvor gezeigt hat, mannigfaltig durch Geschenke der Stadt gepflegt wurden, einen Sonderstatus besaß und damit verbundene Vorteile erlangen konnte. Andererseits war diese Sonderstellung aber nicht nur durch das Ausbauprogramm mit erhöhten Ausgaben verbunden. Berücksichtigt man die Fragen, die Rabe an seinen Untersuchungsgegenstand stellt, und die Schlüsse, die er in Bezug auf den Zusammenhang der städtischen Finanzpolitik mit nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik und Ressourcenmobilisierung für den Krieg zieht, so lässt sich festhalten, dass er eine wichtige, gründliche und facettenreiche Studie vorgelegt hat, die anhand des Beispiels München einen wichtigen Beitrag zur Erhellung der Funktionsweise des NS -Regimes insgesamt leistet. Es ist zu hoffen, dass ähnlich gründliche Studien fol-

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gen, die das vom Autor erschlossene Feld mit weiteren lokalen Beispielen anreichern. Rabe fehlte, da er eine Pionierarbeit vorlegt, die Möglichkeit zum Vergleich. An vielen Stellen seiner Untersuchung zeigt er jedoch schon die Besonderheiten Münchens in der NS -Zeit auf. Der Fortgang der Forschung wird zeigen, was von den vorliegenden Befunden Allgemeingültigkeit besitzt, was typisch für eine Großstadt ist und was der besonderen Stellung Münchens als »Führerstadt« oder sonstigen lokalen Besonderheiten geschuldet ist. Zu letzterem hat der Autor bereits erste Anhaltspunkte geliefert. Anton Weise, Hannover

Karin Orth, Die NS -Vertreibung der jüdischen Gelehrten. Die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen, Wallstein, Göttingen 2016, 480 S., 44 Euro »Hier beginnt Europa« – diese Sentenz hatte der Biochemiker Carl Neuberg an die Tür seines Büros an der New York University geheftet, wo er nach seiner Flucht aus Deutschland 1939 eine neue Wirkungsstätte zu finden hoffte. Sie kann exemplarisch dafür stehen, wie schwer der erzwungene biografische Bruch für solche Gelehrte zu ertragen war, die trotz der NS -Rassen- und Vernichtungspolitik ihre geistige und emotionale Heimat in der deutschen Wissenschaftskultur verorteten und in der Emigration nur selten heimisch wurden. Neuberg gehört zu einer Gruppe von insgesamt 66 Gelehrten, deren Vertreibungsschicksal Karin Orth in ihrer Habilitationsschrift nachzeichnet. Neben ihrer Diffamierung als »nichtarisch« beziehungsweise »jüdisch versippt« teilten diese Wissenschaftler insbesondere ein Merkmal: Sie partizipierten als Antragsteller oder Gremienmitglieder aktiv an der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft / DFG, der größten

akademischen Selbstverwaltungsorganisation in Deutschland, und galten damit zugleich als herausragende Vertreter ihres jeweiligen Faches. Orths Studie verfolgt das Ziel, die Geschichte der Institution und der Wissenschaftler in eine gemeinsame Erzählung zu integrieren, die in drei chronologischen Hauptkapiteln von den 1920er bis in die 1980er Jahre reicht. So sollen die In- und Exklusionsmechanismen des wissenschaftlichen Feldes und ihre Auswirkungen auf biografische Erfahrungen nachgezeichnet werden, ohne die Betroffenen zu passiven Objekten politischer Umstände zu degradieren. Dementsprechend vermag die Studie insbesondere dort zu überzeugen, wo die statistischen und teilweise etwas schematisch kategorisierten »Fälle« zu konkreten Personen werden, deren Empfindungen, Handlungsstrategien und Verarbeitungsweisen anhand überlieferter Ego-Dokumente ein historischer Eigenwert zuerkannt wird. Im ersten Teil zur Weimarer Republik entwirft Orth das Bild einer Notgemeinschaft, deren Mitglieder und Repräsentanten sich nur mühsam an die politischen Prinzipien der Demokratie anpassten und in Organisations- und Personalfragen ebenso wie in der Förderpolitik antirepublikanische und antisemitische Ressentiments pflegten. Nur wenige jüdische Gelehrte konnten sich gegen diese Widerstände in den Gremien der Notgemeinschaft etablieren. Es war auch den autokratischen Denk- und Handlungsstilen geschuldet, dass die Notgemeinschaft die antijüdische Politik der Nationalsozialisten bedingungslos unterstützte. So rekonstruiert Orth beispielweise, wie das Präsidium den jüdischen Fachausschussmitgliedern, deren Wahl mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« koinzidierte, die Unterstützung entzog, in der Hoffnung, dass sich das »Problem« durch ihren freiwilligen Rückzug von

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selbst erledigte. Zudem wurden ab 1933 ohne politischen Zwang die jüdischen Verwaltungsmitarbeiter entlassen und kein einziger Antrag jüdischer Wissenschaftler mehr bewilligt. Es liegt in der Natur des Gegenstands, dass die Erzählstränge der Institutionengeschichte und der biografischen Studien für den Zeitraum ab 1933 /34 auseinandertreten. Es sind unterschiedlich detaillierte Fallgeschichten von Rücktritten, Sterbefällen und Suiziden, Flucht und Emigration, Deportation und Ermordung und die wenigen Fälle von Überlebenden im NS Deutschland, die Orth im mittleren Teil der Studie nachzeichnet. Hier gewinnen Lebens- und Todeswege eine erschütternde Plastizität, etwa wenn Orth die schwierigen Umstände der Arbeit und Akkulturation der Emigrierten in der Türkei und den USA analysiert oder allen ermordeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Samples eine biografische Skizze widmet. Bei allen kenntnisreich präsentierten Einzelbefunden stellt sich bei der Lektüre doch die Frage, was die Untersuchungsgruppe eigentlich zusammenhält, außer einer nationalsozialistischen Klassifizierung, die aus erfindlichen Gründen mit Vorsicht zu genießen ist, und der Tatsache, dass die Untersuchten in den 1920er Jahren Anträge bei der Notgemeinschaft eingereicht hatten. Einerseits hingen Lebensumstände und Überlebenschancen der Betroffenen durchaus davon ab, ob sie ihre wissenschaftlichen Netzwerke aktivieren konnten. Diese beruhten jedoch eher auf freundschaftlichen Beziehungen zu Kollegen aus der eigenen Forschungseinrichtung oder des eigenen Fachbereichs denn auf der Institution Notgemeinschaft, die als Ansprechpartner für Schutzsuchende nur in wenigen Fällen ins Blickfeld geriet. Auch nach Kriegsende zeigte sich, dass die einstige Zugehörigkeit zur Notgemein-

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schaft keine Gruppenidentität stiftete, die auch analytisch fruchtbar zu machen wäre. Die Überlebenden empfanden sich nicht als Teil einer Schicksals- und Interessensgemeinschaft, sondern traten als Individuen an die DFG heran, um Bescheinigungen und Förderungen zu erbitten, die nur selten explizit mit Verweis auf das erlittene Unrecht bewilligt wurden. Die Vertreter der DFG selbst ließen die Mahnungen, sich den NS -Verstrickungen zu stellen, trotz vielversprechender Ansätze wie der Kommission »Mitverantwortung der Wissenschaft« im Sande verlaufen. Fälle einer ideellen Form der »Wiedergutmachung« waren auf die Entscheidungen einzelner Gutachter zurückzuführen und nicht auf das Bewusstsein einer institutionellen Verantwortlichkeit. Das hing, wie Orth überzeugend zu bedenken gibt, auch damit zusammen, dass sich die DFG auf einen bewusst unpolitischen Standpunkt zurückzog, der zum alleinigen Förderkriterium die wissenschaftliche Güte erkor. Mag der Wert der sorgfältig recherchierten und gut lesbaren Studie vornehmlich darin bestehen, dass sie ein Desiderat der Wissenschaftsgeschichte füllt und einen weiteren Baustein zur vergangenheitspolitischen Aufarbeitung zentraler deutscher Institutionen liefert, so demonstriert sie doch zugleich auch die Grenzen institutionsgeschichtlicher Ansätze. Sowohl in Bezug auf die jüdischen Gelehrten als auch auf die Wissenschaftler, die für ihre Vertreibung verantwortlich zeichneten, überzeugen die Befunde, die auf individuelle Motive, Entschlüsse und Handlungen eingehen, mehr als solche, die auf eine institutionelle Eigenlogik rekurrieren. In der Geschichte, die Orth nacherzählt, standen die jüdischen Gelehrten keiner anonymen Institution gegenüber, sondern vielmehr Kolleginnen und Kollegen, deren Entscheidungen für oder gegen ihre Unterstützung konkrete Folgen für die Betroffen zeitigten und da-

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mit sowohl 1933 als auch 1945 zu einer radikalen Neuformierung des deutschen akademischen Feldes beitrugen. Franziska Rehlinghaus, Göttingen

Christian Rohrer, Landesbauernführer. Bd. 1: Landesbauernführer im nationalsozialistischen Ostpreußen. Studien zu Erich Spickschen und zur Landesbauernschaft Ostpreußen. Bd. 2: Die Landesbauernführer des Reichsnährstandes (1933-1945). Personenlexikon, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 758 S., 110 Euro Die Landwirtschaft spielte nicht nur im Zusammenhang der »Blut-und-Boden«-Ideologie des Nationalsozialismus eine zentrale Rolle, sondern es arbeitete in der Zeit des »Dritten Reiches« etwa ein Drittel der Bevölkerung in diesem Sektor, der für dessen Autarkiebestrebungen fundamental war. Aus diesem Grunde begann schon kurz nach der Machtübernahme eine radikale Reorganisation der landwirtschaftlichen Produktion. Im September 1933 wurde der Reichsnährstand gegründet, der ab 1939 unter Richard Walther Darré dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft unterstellt war. Der Reichsnährstand war für die Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich zuständig und stellte von Beginn an eine bedeutende Organisation dar, der auch alle Landwirte angehören mussten – insgesamt hatte er etwa 16 Millionen Mitglieder. Die Organisation gliederte sich in Landes-, Kreis- und Ortsbauernschaften, an deren Spitze jeweils sogenannte Bauernführer standen, deren Aufgabe es war, die nationalsozialistische Marktordnung, das »Reichserbhofgesetz« und generell die »Blutund- Boden«-Ideologie umzusetzen beziehungsweise zu überwachen. Es verwundert deshalb kaum, dass der Reichsnährstand und die NS -Agrarpolitik bereits den Schwerpunkt zahlreicher histo-

rischer Studien bildeten. In erster Linie sind hier die Arbeiten von Horst Gies und Gustavo Corni, von Daniela Münkel und das Opus Magnum von Ernst Langthaler zu nennen. Langthaler analysierte am Beispiel der »Ostmark« den Alltag und die Agrargesellschaft in einer kulturwissenschaftlichen, praxeologischen Perspektive auf ausgesprochen gewinnbringende Art und Weise. Die Forschung beschäftigte sich bisher in erster Linie mit der Reichsebene und mit der lokalen, alltäglichen Ebene, die Mesoebene hingegen blieb größtenteils unbeachtet. Über die personelle Besetzung des Reichsnährstandes und der Politik der einzelnen »Bauernführer« ist immer noch auffallend wenig bekannt. Christian Rohrer gelingt es nun mit seiner zweibändigen Studie zum Landesbauernführer der Landesbauernschaft Ostpreußen, Erich Spickschen, und mit dem Personenlexikon zu den übrigen Landesbauernführern des Reichsnährstandes, diese Forschungslücke dankenswerterweise zu schließen. Rohrers Studie ist in zweierlei Hinsicht Bedeutung beizumessen: Zum einen wirft sie ein Licht auf die mittlere Herrschaftsebene der NS Agrarpolitik in einer zentralen, für die NS Ideologie bedeutsamen Region – Ostpreußen –, zum anderen untersucht Rohrer stellvertretend einen zentralen Akteur, der auf dieser Ebene tätig war. Anders als aktuelle Studien zum Nationalsozialismus, die vor allem mit kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen arbeiten, widmet Rohrer sich lieber grundlegenden, bisher unbeantworteten Fragen: Inwiefern stellte Spickschen einen typischen Landesbauernführer dar? Und: »Wo sind die Landesbauernführer als Entscheidungsträger des ›Dritten Reiches‹ anzusiedeln, und wo die Landesbauernschaft Ostpreußen im Spannungsfeld zwischen sachlich-fachlicher Agrarpolitik und nationalsozialistischer Ideologie?« (S. 14) Auch die Rolle der Landesbauernführer bei der Besatzungspolitik im Zwei-

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ten Weltkrieg steht im Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses. Der erste Band der Arbeit setzt sich aus fünf Studien zusammen. Karten und statistisches Material stützen die Argumentation des Autors, ferner tragen die akribisch zusammengeführte Personalübersicht und die biografischen Skizzen im Anhang zur Übersichtlichkeit und Verständlichkeit des Forschungsgegenstandes bei. Im Zentrum steht zunächst das Leben und Wirken von SS -Brigadeführer Erich Spickschen in Zusammenhang mit der Agrarpolitik und der NS -Ideologie einerseits und dem Verhältnis der Landesbauernführer zu anderen Funktionären und Organisationen wie der NSDAP, der SS und der Wehrmacht andererseits. Ferner wird die Rolle des Landesbauernführers bei der Implementierung der NS -Agrarpolitik in Ostpreußen dargelegt und auf Organisation und Struktur der Landesbauernschaft eingegangen. Vor allem bei der Betrachtung der Biografien der Landesbauernführer, die in Band 2 – dem Personenlexikon – versammelt sind, wird die These des Verfassers unterstrichen, dass Spickschen zweifelsohne ein typischer Landesbauernführer war, der stellvertretend für das Korps der Landesbauernführer insgesamt stehen kann. Herkunft aus ländlich-agrarischem Milieu, prägende, »existenzielle« Erfahrung im Ersten Weltkrieg, akademisch nicht gebildet, aber dafür fachmännisch geschult, 1933 40 Jahre alt: dies alles trifft auf den ›typischen‹ Landesbauernführer zu. Die meisten Bauernführer stießen Ende der 1920er Jahre zum Nationalsozialismus, als sich die landwirtschaftliche Krise zuspitzte. Aus der Kirche trat Spickschen aus, als er Mitte der 1930er Jahre Mitglied der SS wurde. Die »Blutund-Boden«-Ideologie und seine Tätigkeit für das Rasse- und Siedlungshauptamt wirkten sich massiv auf seine Politik aus (S. 113). Was den Zusammenhang von Agrarkrise, Nationalsozialismus und Landesbauernfüh-

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rer betrifft, so kommt der Verfasser zum bemerkenswerten Ergebnis, dass die Krise der NSDAP nicht nur Wähler, »sondern auch angehende Agrarfunktionäre mit Verbindungen in den konservativ-nationalistischen Teil der ländlichen Gesellschaft [zuführte], und zwar quer durch die Besitzgrößen; unter ihnen waren Großgrundbesitzer ebenso wie Bauern mit kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betrieben« (S. 382). Die Landesbauernführer spielten bei der Implementierung der NS -Agrarpolitik eine zentrale Rolle. Sie waren in ihrer Bauernschaft konkret für die Umsetzung des »Reichserbhofgesetzes« zuständig und überwachten die Durchführung der Marktordnung. Dabei kam es zu einer starken Verflechtung mit anderen Organisationen. Als im August 1939 Bezugsscheine für alle grundlegenden Lebensmittel eingeführt worden waren, wurden auf der Ebene der Länder und Provinzen Ernährungsämter gebildet. Diese waren mit der Mammutaufgabe der Erfassung und Verteilung der Bezugsscheine sowie dem Verbrauch landwirtschaftlicher Produkte betraut. Gesteuert wurden die Ämter von den Landesbauernschaften (S. 180). Rohrer kann zeigen, dass die Landesbauernführer hierbei eng mit anderen staatlichen Stellen, der Wehrmacht und der NSDAP zusammenarbeiteten. Doch die Durchsetzung der Marktordnung und der Zwangsbewirtschaftung beziehungsweise des Systems der Rationierung war nur ein Bruchteil der Aufgabenfelder, die die Landesbauernführer wahrnahmen. Die Kompetenzen reichten vom »Wechsel von landwirtschaftlichem Besitz« bis zu »Zwangsmaßnahmen gegen Betriebe, die im Sinne der ›Volksernährung‹ unzureichend wirtschafteten. Weitere Rechte im landwirtschaftlichen Bereich hatten Landesbauernführer bei Fragen der Bodenordnung, des Vermögensrechts, der Siedlungsplanung,

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der Bodenschätzungen und der Enteignung« (S. 382). Dass die landwirtschaftliche Produktion ohne den in Ostpreußen quantitativ überdurchschnittlichen Einsatz von Zivilarbeitern, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern wahrscheinlich zusammengebrochen wäre und dass die strukturellen Probleme mit der NS -Agrarpolitik mitnichten gelöst werden konnten, wird bei der Lektüre des Buches deutlich (S. 159). Hervorzuheben ist der Befund Rohrers, dass die NS -Landwirtschaft »zutiefst von der Weltanschauung von ›Blut und Boden‹ durchwirkt« war und die Landesbauernführer eifrig die im Reichsnährstand gültige und auf Darré zurückgehende Ausformung der NS -Ideologie reproduzierten und adaptierten. Rohrer bezeichnet Spickschen auch als »zuverlässigen Multiplikator der ›Blut und Boden‹-Weltanschauung« (S. 272). Diese wurde mittels moderner Medien und persönlicher Kontakte stets aktualisiert und flächendeckend in der Landesbauernschaft Ostpreußen verbreitet (S. 385). Am Beispiel Spickschens wird insbesondere deutlich, dass das ideologische Ziel, das Bauerntum müsse »Lebensquell des deutschen Volkes« sein, untrennbarer Teil der landwirtschaftlichen Politik war (S. 272). Insgesamt ist die Arbeit Rohrers als bedeutender Beitrag zur Erforschung der Geschichte der NS -Agrarpolitik zu bewerten. Das in Band 2 akribisch zusammengetragene biografische Lexikon, das wichtige Einblicke in eine bisher fast unbekannte Funktionselite des »Dritten Reiches« eröffnet, wird für eine zukünftige Auseinandersetzung mit der Thematik ausgesprochen dienlich sein und hoffentlich Impulse für weiterführende Forschungen bieten. Jan Vondráček, Wuppertal

Jochen Lehnhardt, Die Waffen-SS: Geburt einer Legende. Himmlers Krieger in der NS -Propaganda (= Krieg in der Geschichte, Bd. 100), Schöningh, Paderborn 2017, 629 S., 68 Euro Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine für die Drucklegung überarbeitete Dissertation, mit der der Autor 2015 unter Betreuung von Sönke Neitzel und Michael Kißener an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz promoviert wurde. Sie will der Frage nachgehen, inwieweit das teilweise bis in die Gegenwart nachwirkende Bild von der Waffen-SS als militärischem Eliteverband sich auf jene SS -eigene Propaganda zurückführen lässt, wie sie die SS -Propagandakompanie unter Führung Gunter d’Alquens praktizierte (S. 13 f.). Dazu holt der Autor weit und letztlich überlang aus: So paraphrasiert er zunächst die Grundlagen der SS -Ideologie, äußert sich zum mythischen Heldenkult des Nationalsozialismus und setzt sich schließlich mit der ideologischen Indoktrination der Waffen-SS auseinander – ohne dass dabei recht klar wird, weshalb es dieser üppigen Exkurse auf sattsam ausgetretene Forschungspfade unbedingt bedarf, um das selbstgesetzte Erkenntnisinteresse einzulösen. Dass sich der Autor anschließend in noch größerem Umfang der Organisationsgeschichte der NS - und schließlich der SS eigenen Propaganda widmet, ist da schon verständlicher, doch insbesondere die nicht weniger als 130 Seiten umfassenden Einlassungen zur Geschichte der SS -Propagandakompanie selbst tragen nicht wirklich zur Aufklärung seiner Ausgangsfrage bei. Zwar erfährt der Leser viel über die Organisationsentwicklung der SS -eigenen Propagandakompanie, über die personellen Verflechtungen insbesondere in das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda hinein und bekommt die Organisationsentwicklung des Amtes Wehr-

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machtpropaganda im Oberkommando der Wehrmacht einmal mehr als einen rein machtpolitischen Konkurrenzkampf geschildert, ohne dass sich daraus neue Erkenntnisse gegenüber dem bereits bekannten Forschungsstand ergäben. Es stellt sich doch schon hier bei der Lektüre der Eindruck ein, dass die einzelnen Abschnitte der Arbeit nicht wirklich stimmig durchkomponiert sind, sondern vielmehr recht unverbunden neben- beziehungsweise hintereinander stehen. Der eigentliche Kern der Arbeit, das Kapitel 4, in dem der Autor sich an eine quantitative wie vor allem qualitative Inhaltsanalyse im Sinne der empirischen Sozialforschung macht (S. 232-494), trägt dabei jedoch auch nicht wirklich viel Neues bei: Lehnhardt konzentriert sich auf eine überschaubare Anzahl von Tages- und Wochenzeitungen, namentlich den Völkischen Beobachter, die Frankfurter Zeitung, die Deutsche Allgemeine Zeitung, Das Reich und Das Schwarze Korps sowie die Berliner Illustrirte Zeitung und den Illustrierten Beobachter. Die Charakterisierung der Zeitungen kommt bieder und holzschnittartig daher; die Einlassungen etwa zur Frankfurter Zeitung begnügen sich weitgehend damit, die konträren Positionen Günter Gillessens und Bernd Sösemanns wiederzugeben. Eine Bewertung der Zeitung vor dem Hintergrund der eigenen Forschungsergebnisse entfällt hingegen. Auch methodisch erscheint das gewählte Vorgehen insbesondere der quantitativen Inhaltsanalyse wenig zufriedenstellend, denn im Ergebnis erfährt der Leser lediglich über ellenlange Passagen hinweg, welche Topoi und narrativen Versatzstücke der SS - beziehungsweise NS -Propaganda betreffend die Waffen-SS in welcher relativen Häufung in den ausgewerteten Texten adressiert werden. Dabei fehlt dem Leser durchweg der konkrete Einblick. Denn er muss sich darauf verlassen, dass die Zuordnung der Tex-

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te zu bestimmten Sachgruppen, die der Autor im Vorfeld der quantitativen Analyse vorgenommen hat, stimmig ist. Insofern kaum je einzelne Texte hermeneutisch-textanalytisch dekonstruiert werden, um die Clusterbildung des Autors auch nur exemplarisch zu verdeutlichen, bleibt am Ende der unbefriedigende Eindruck inhaltsleerer Zahlenhuberei. Dieses Manko wiegt insofern besonders schwer, als über die gesamte Länge des Buches hinweg die ursprüngliche Frage kaum je einmal im Zusammenhang der Inhaltsanalyse und ihrer – wenn auch bescheidenen – Ergebnisse aufgegriffen und diskutiert wird; eine Ausnahme findet sich auf Seite 222, wo über die Sorge der Wehrmachtführung gesprochen wird, dass die zunächst einmal quantitative Herausstellung der militärischen Leistungen der Waffen-SS bereits das Fundament einer Legendenbildung für die Zeit nach dem glorreichen »Endsieg« bildete, angesichts dessen die Wehrmacht ins narrative Hintertreffen zu geraten fürchtete. Während der Inhaltsanalyse wird zudem beständig die rein quantitative Adressierung der narrativen Cluster an die einschlägigen Einlassungen der zentralen Protagonisten des NS -Regimes zur Waffen-SS rückgekoppelt – allen voran Adolf Hitler selbst und Joseph Goebbels. Dabei wird auch die Propaganda des NS -Regimes insbesondere während der Kriegszeit wieder einmal darauf reduziert, Ausfluss des persönlichen Willens dieser beiden Protagonisten gewesen zu sein, ohne überhaupt die spezifischen und komplexen Kommunikationsstrukturen zu reflektieren, die auch – oder gerade – in einem repressiven Regime anzutreffen waren. Konkret bedeutet das, dass die Fragedimension, inwieweit die Bevölkerung beziehungsweise zunächst einmal die Leserschaft der Zeitungen die Berichterstattung über die Waffen-SS aufgenommen hat, komplett unerörtert bleibt. Vereinzelte Hinweise, dass

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bestimmte Propaganda-Narrative allein schon aufgrund der quantitativen Häufung, mit der sie sich in der Berichterstattung wiederfanden, nicht ohne Wirkung geblieben sein konnten, vermögen nicht zu überzeugen. Eine Analyse von möglichen Leserbriefen zum Thema oder wenigstens nur der ja in teilweise edierter Form vorliegenden »Presseanweisungen der Vorkriegszeit« ist unterblieben. So werden die »Presseanweisungen« und ihre kommunikationspolitische Bedeutung zwar in den Ausführungen über die Organisation der NS -Propaganda angesprochen, doch auf die Quelle an sich verzichtet der Autor unerklärlicherweise. Das erscheint auch deswegen fragwürdig, weil schon der letzte Band dieser Edition noch drei interessante, wenn auch kurze Verweise auf die Behandlung der Verfügungstruppe als institutioneller Vorläuferin der Waffen-SS enthält. Die Heranziehung der »Presseanweisungen« hätte zur analytischen Ausdeutung der Art und Weise, wie die Waffen-SS in den deutschen Medien thematisiert wurde, also einiges beigetragen. Erst auf den letzten Seiten kommt Lehnhardt noch einmal auf die Ausgangsfragestellung zurück und hält dabei einigen historiografischen Pionieren der Geschichtsschreibung zur SS beziehungsweise Waffen-SS wie George H. Stein oder auch Heinz Höhne vor, sich in ihren Darstellungen an die Topoi und Narrative der SS eigenen Propaganda angelehnt zu haben. Nur wenig später versucht der Autor dann aber wieder, die eigene Wertung zu relativieren, wenn nicht gar wegzudiskutieren; ein argumentatives Vorgehen, das nicht nur entfernt an die beckmesserische Kritik an den frühen Forschungsergebnissen der funktionalistischen Schule der NS -Forschung und deren Zustandekommen erinnert, wie sie vor nunmehr 15 Jahren von Nicolas Berg mit entsprechendem medialen Getöse in monografischer Form auf

den Markt geworfen wurde. So bleibt am Ende der Eindruck, eine überfrachtete Arbeit gelesen zu haben, die zu allem Überfluss auch noch versäumt, den selbstgesetzten Erkenntniszielen gerecht zu werden. Daniel Mühlenfeld, Mülheim an der Ruhr

Sarah Helm, Ohne Haar und ohne Namen. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Konrad Theiss, Darmstadt 2016, 840 S., 38 Euro Der britischen Journalistin Sarah Helm ist mit ihrem Ravensbrück-Buch »If This Is A Woman« ein großer kommerzieller Erfolg gelungen: Für das 2015 im Londoner Verlag Little, Brown erschienene Werk über das zentrale Frauen-KZ der Nationalsozialisten erhielt die Autorin den »Longman History Today Book Prize«. Es folgten Übersetzungen unter anderem ins Polnische, Französische und Italienische. Eine für den amerikanischen Markt gesondert herausgebrachte Ausgabe trägt den Titel Ravensbrück. Der Theiss-Verlag veröffentlichte 2016 die deutsche Übersetzung und preist Helms Werk im Klappentext als »meisterhaft geschriebene Reportage«. Ganz klar: Dieses Buch hat keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern möchte eine neue Perspektive auf die Geschichte des Lagers eröffnen. Helm will, so formuliert sie es, »eine Biografie von Ravensbrück« (S. XVIII) schreiben, die auf den Berichten ehemaliger Häftlinge beruht. Tatsächlich hat die Journalistin Helm über Jahre hinweg in vielen Ländern Gespräche und Interviews mit Ravensbrück-Überlebenden geführt, die als Material für ihre Darstellung der Lagergeschichte dienen. In den sechs Teilen des Buches handelt sie jeweils etwa ein Jahr des 1939 erbauten Lagers ab, indem sie auf je eine Häftlingsgruppe fokussiert. So bilden die Berichte deutscher und österreichischer Frauen, die

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in Ravensbrück zu den ersten Häftlingen gehörten, die Basis für die neun Kapitel des ersten Teils, während Teil 2 sich vorrangig auf Helms Gespräche mit polnischen Überlebenden stützt, die ab Ende 1939 als politische Gefangene nach Ravensbrück gelangten. Teil 3 stellt sowjetische Häftlinge ins Zentrum der Darstellung, die Teile 4 und 5 stützen sich schwerpunktmäßig auf die Geschichte von französischen und britischen Häftlingen. Teil 6 nimmt unter anderem die Jüdinnen in den Blick, die im Zuge der »Räumung« von Auschwitz in das KZ Ravensbrück überstellt wurden. Helm gebührt zweifellos Anerkennung für die Bündelung des umfangreichen Materials – stützt sie sich doch neben den Überlebenden-Interviews auch auf publizierte Erinnerungsberichte, wissenschaftliche Studien und Prozessquellen. Dass sie bei ihrer Version der Lagergeschichte vor allem auf die spannend zu erzählenden Teilaspekte setzt, ist bei einem populärwissenschaftlich angelegten Werk legitim. Und so finden sich bei ihr eben auch die bekannten Ravensbrück-Topoi wieder, wie etwa die Geschichte der polnischen Häftlinge, an denen SS -Ärzte pseudomedizinische Versuche unternahmen, der »Kaninchen«. Die Überlebenden der qualvollen Operationen wurden von Mitgefangenen gesund gepflegt und bei Selektionen im Lager versteckt. Einige der Frauen schmuggelten Informationen über die Menschenversuche aus dem Lager. Andere entwickelten ein System zum Informationsaustausch mit der Außenwelt, indem sie ihren Urin als Geheimtinte auf Briefen verwendeten. Erzählt wird aber auch die Ankunft der kriegsgefangenen Frauen der Roten Armee Anfang 1943. Zwar stellte die Gruppe nur eine kleine Minderheit innerhalb der mehr als 20.000 sowjetischen Häftlinge im KZ Ravensbrück dar. Doch traten die Kriegsgefangenen, die im Lager durch das Kürzel »SU« (statt dem für sowjetische Zivilgefan-

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gene gebräuchlichen »R«) auf dem roten Häftlingswinkel gekennzeichnet wurden, durch ihren starken Zusammenhalt und durch ihre Weigerung, für die deutsche Rüstungsindustrie zu arbeiten, deutlich in Erscheinung. Darüber hinaus finden sich bei Helm die Geschichten prominenter Häftlinge wie die der deutsch-jüdischen Kommunistin Olga Benario und Margarete Buber-Neumanns, die nach mehrjähriger Straflager-Haft 1940 von der Sowjetunion an NS -Deutschland ausgeliefert und in das KZ Ravensbrück überstellt wurde. Verständlich ist darüber hinaus, dass Helm immer wieder das Schicksal der wenigen britischen Ravensbrück-Häftlinge in die Erzählung mit einflicht, hat die Journalistin, die ihr erstes Buch über eine britische SOE -Offizierin im Zweiten Weltkrieg schrieb, doch stets ihre primäre Leserschaft im Blick. Dass sich das Werk stellenweise wie ein Abenteuerroman liest, irritiert angesichts der Thematik zwar. Doch mögen dabei die angestrebte Niedrigschwelligkeit und der Abbau der möglicherweise vorherrschenden Berührungsängste beim Zielpublikum für die Verfasserin ausschlaggebend gewesen sein. Ebenso kann es erzählerische Gründe für den Einsatz des journalistischen Stilmittels der Personalisierung geben, mit dem Helm historische Geschehnisse stets Adolf Hitler und Heinrich Himmler zuschreibt (so habe etwa »Himmler [den Warschauer Aufstand] niedergeschlagen«, S. 446). Und selbst der zuweilen ins Extreme gesteigerte Reportagestil, der die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verwischt, wäre noch hinnehmbar, wenn die Autorin sich nicht explizit höhere Ziele gesetzt hätte. Denn Helm formuliert weitreichende Ansprüche: Angesichts der vermeintlich verbreiteten Unkenntnis über die Existenz des Frauenlagers, dessen »Geschichte im Dunkel [blieb]« (S. XIV ), will die Britin die

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Geschehnisse in und um Ravensbrück in aller Welt bekannt machen. Darüber hinaus grenzt sie sich – ganz im typisch populärwissenschaftlichen Gestus – sowohl von »Mainstreamhistorikern« als auch von feministischen Wissenschaftlerinnen ab, deren Herangehensweise, wie Helm meint, die »Geschichte [von Ravensbrück] zu ersticken schien« (S. XIV ). Dagegen will sie die »Stimmen der Gefangenen« zum »Leitfaden für das, was wirklich geschah« (S. XVIII), werden lassen und ganz nebenbei auch noch zeigen, »wie ein Begreifen des Geschehens im Frauenlager die ganze NaziGeschichte aufklären kann« (S. XVIII). Um es vorwegzunehmen: An allen diesen Ansprüchen scheitert Helm. Nicht nur, weil die behauptete Unkenntnis über Ravensbrück genauso wie die vermeintliche Ignoranz »der Wissenschaft« nicht belegbare Unterstellungen sind, wo doch in den vergangenen Jahren diverse Publikationen, Projekte und Ausstellungen über die Geschichte des Frauen-Konzentrationslagers entstanden sind, die zumeist zentral mit den Berichten ehemaliger Gefangener arbeiten. Sondern auch, weil Helm den Überlebenden selbst nicht gerecht wird. Denn auch wenn sie einige Hundert Ravensbrückerinnen in ihrer Arbeit namentlich erwähnt, so bleiben die allermeisten Frauen doch blass. Von der Autorin zumeist vertraulich beim Vornamen genannt, erscheinen viele nur als Stellvertreterinnen ihrer Haftgruppe oder ihrer Position im Lager; die persönliche Vor- oder Nachgeschichte zur Haftzeit bleiben unerörtert. Andere Protagonistinnen baut Helm regelrecht zu Heldinnen auf, so etwa die Rotarmistin Jewgenia Klemm, die folgerichtig auch das Titelbild der französischen Ausgabe ziert. Dagegen beschränkt sich die Beschreibung der Ankunft österreichischer Roma-Häftlinge auf den lapidaren Satz: »Die meisten hatten lange schwarze Zöpfe und sie alle schrien und weinten« (S. 45).

Abwertende Bemerkungen, etwa über als »asozial« Inhaftierte oder lesbische Frauen, übernimmt Helm teils unkritisch aus Berichten anderer Häftlinge, wodurch sie Stereotype reproduziert. Helm unterschlägt zudem Bedeutung und Ausmaße des Ravensbrücker Männerlagers, das ab August 1941 als separate Haftstätte neben dem Frauenlager existierte. Obwohl hier insgesamt 20.000 Männer registriert waren, bezeichnet die Autorin es als »kleines Männerlager« (S. 107) und erwähnt es im Folgenden nur noch im Zusammenhang mit dem wenige Personen umfassenden Krematorium-Kommando (das aus männlichen Häftlingen bestand). An vielen Stellen scheint der Autorin eine dramatisierende Darstellung wichtiger als ein sorgfältiger Umgang mit den Fakten. Dabei reproduziert sie mitunter problematische Klischees: So wird Benario, die hellblaue Augen hatte, zur »dunkeläugigen« Jüdin (S. 8). Isa Vermehren, die vor ihrer Gefangennahme als Kabarettistin gearbeitet hatte und als »Sippenhäftling« im Zellenbau inhaftiert war, wird von Helm als »Tänzerin« vorgestellt (S. 388). Dass Helm es mit den historischen Gegebenheiten nicht so genau nimmt, wird auch an anderen Stellen deutlich: So trugen Jüdinnen, die wegen politischer Vergehen inhaftiert waren, als Häftlingskennzeichnung nicht »ihr gelbes Dreieck auf rotem Untergrund« (S. 29), sondern umgekehrt den roten Winkel über dem gelben. Als die gestreifte Häftlingskleidung in Ravensbrück ausging, wurden Zivilkleider an die Gefangenen ausgegeben, die mit einem großen Kreuz aus Ölfarbe als Gefangenenkleidung markiert wurden. Helm spricht in diesem Zusammenhang stets bedeutungsschwanger vom »schwarze[n] Kreuz« (zum Beispiel S. 518), dabei liegen historische Fotos vor, die Kleidung mit Kreuzen in heller Farbe zeigen. Nicht »500 privilegierte deutsche Gefangene« wurden in den letzten

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Kriegstagen aus dem KZ Ravensbrück entlassen (S. 637); vielmehr sind nur etwa 120 Entlassene anhand der Quellen rekonstruierbar. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Ärgerlich ist schließlich auch, dass die Autorin gut begründete Forschungsergebnisse infrage stellt, etwa wenn sie angesichts der Schätzung von 28.000 Toten im Lagerkomplex Ravensbrück die effektheischende Suggestivfrage stellt, ob denn in dieser Zahl »alle ermordeten Babys enthalten« seien, und argwöhnt, dass »Grabungen mehr Wahrheit ans Licht bringen als akademische Analysen« (S. 706). Schwerwiegende Fehler unterlaufen der Autorin nicht zuletzt auch in größerer historischer Perspektive. So wurde auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 keineswegs die »Entscheidung zur Vergasung aller Juden in Europa« gefällt (S. 164). Zum insgesamt nachlässigen Umgang mit Fakten passt, dass Zitate häufig nicht belegt und die von Helm geführten Interviews mit Ravensbrück-Überlebenden nicht separat ausgewiesen werden. Zu allem Überfluss hat der deutsche Verlag ein Umschlagmotiv mit Nato-Draht gewählt, das zur Geschichte des KZ Ravensbrück nicht die geringste Verbindung aufweist. Gleichermaßen in die Irre führt das titelgebende Zitat des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, denn keineswegs allen Frauen wurde bei der Ankunft in Ravensbrück der Schädel rasiert. Helms leidlich unterhaltsam geschriebenes Werk ist als Einstieg für eine nicht einschlägig vorgebildete Leserschaft, an die sich die Verfasserin in erster Linie richtet, kaum geeignet – nicht zuletzt, weil es mit gut 700 Seiten plus Anmerkungsapparat zu umfangreich für eine schnelle Lektüre ist. Ein entschlosseneres Verlagslektorat hätte möglicherweise inhaltliche Fehler, sprachliche Patzer und Redundanzen verhindern können. Fraglich ist aber, ob Leserinnen und Leser den Überblick über die vielen Namen von Personen und Orten behalten

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und die von Helm erwähnten Ereignisse selbstständig in den historischen Kontext einordnen können. Insgesamt wird die Autorin den Überlebenden nicht gerecht, und auch die Antwort auf die selbst gestellte Frage, was am Beispiel Ravensbrücks über die NS -Herrschaft zu lernen sei, bleibt sie jenseits einiger Gemeinplätze schuldig. Katharina Zeiher, Berlin

Wolfram Pyta/Nils Havemann/Jutta Braun, Porsche. Vom Konstruktionsbüro zur Weltmarke, Siedler, München 2017, 512 S., 28 Euro Der Stuttgarter Neuzeithistoriker Wolfram Pyta hat sich zuletzt als Geniehistoriker einen Namen gemacht. Nach Paul von Hindenburg (2007) und Adolf Hitler (2015) – der eine Feldmarschall und Reichspräsident, der andere ein »Künstler als Politiker und Feldherr« – stellt er jetzt mit Ferdinand Porsche einen Konstrukteur und Unternehmensgründer in den Mittelpunkt der Betrachtung. Nachdem Hitler den 1875 im nordböhmischen Maffersdorf geborenen Firmengründer 1938 bei der Verleihung des Deutschen Nationalpreises für Kunst und Wissenschaft zum »genialen Konstrukteur« stilisiert hatte, reaktualisiert sich die Zuschreibung des Geniestatus seither auch durch die Kommunikationsaktivitäten des Stuttgarter Sportwagenunternehmens und der milliardenschweren Familien Porsche / Piëch. Da auch schon in Pytas Hitler-Buch der Konstrukteur Porsche unter anderem im Zusammenhang mit der Entwicklung von schweren Panzerkampfwagen eine Rolle gespielt hatte, war der Hauptautor, der nach eigenen Angaben neun Zehntel des Textes beigesteuert hat, auf den von der Dr.-Ing. h. c. F. Porsche AG an ihn herangetragenen Auftrag bestens vorbereitet, um das nach 1930 entstandene Konstruktionsunterneh-

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men in den Blick zu nehmen. Wie bekannt, wuchs das Stuttgarter Büro mittels der im Zusammenhang mit dem Volkswagen-Projekt beginnenden engen Anlehnung an das NS-Regime und durch umfangreiche Rüstungsaufträge zum mittelständischen Unternehmen heran. Nach 1946 erfolgte der generationelle Übergang vom Familienpatriarchen Ferdinand zum Automobilunternehmer Ferry, den Pyta als Akt der »Emanzipation vom Übervater« (S. 361) und als unternehmerische Neuerfindung schildert. Die »integrativ angelegte Unternehmensgeschichte« (S. 8) behandelt vier Themenkomplexe: erstens die »technische Vielfalt der Produktpalette der Porsche GmbH / KG« (S. 7), zweitens die »Sportgeschichte« des Rennmotorsports, drittens die das unternehmerische Handeln beeinflussenden »politischen Umstände« (S. 8) und viertens schließlich das »Interaktionsgeflecht zwischen der Familie und dem Unternehmen« (S. 11) in diesem angeblich »besonders reinen Typus des Familienunternehmens« (S. 10). Nach der üblich gewordenen Versicherung der vollständigen akademischen Unabhängigkeit und des ungehinderten Zugangs »zu allen im Porsche-Archiv verwahrten Unterlagen« (S. 15), das aber nur wenig familieninterne Dokumente zu enthalten scheint, überschreibt das Autorenteam das Einstiegskapitel zur im Dezember 1930 erfolgten Gründung der Dr.-Ing. h. c. F. Porsche GmbH mit dem Titel »Wagemutiger Schritt in die unternehmerische Selbständigkeit« (S. 17). Tatsächlich war das an Kapital- und Auftragsmangel leidende Konstruktionsbüro die letzte verbliebene Möglichkeit des bekannten, aber als Angestellter bei Austro-Daimler, Daimler-Benz und Steyr wegen seiner kostenintensiven Entwicklungsarbeiten von Fahrzeugen ohne gewinnträchtigen Absatz ökonomisch gescheiterten Konstrukteurs, seine Tätigkeit im Alter von 55 Jahren noch fortzusetzen. Ihn wollte schlichtweg niemand mehr als

technischen Direktor beziehungsweise Vorstandsmitglied berufen; die vornehmere Wortwahl Pytas bezeichnet Porsche als »auf dem Arbeitsmarkt schwer Vermittelbaren« (S. 28). Dass er wegen Privatschulden beispielsweise für seine Stuttgarter Villa oder die Verheiratung seiner Tochter Luise mit dem Wiener Rechtsanwalt Anton Piëch bei seinem Arbeitgeber mit einem sechsstelligen Betrag in der Kreide stand und das Unternehmen im Streit verließ, aber seine später als Keimzelle des Familienunternehmens dienende Villa durch die Vermietung an die Daimler-Benz AG in Eigentum behalten konnte und nur etwa ein Viertel der Streitsumme begleichen musste, unterstrich die besondere Fähigkeit Porsches, das eigene Geschäft mit dem Geld anderer auszustatten. Aus der zutreffend beschriebenen »überaus prekären ökonomischen Lage« (S. 43) wies erst im März 1933 ein Auftrag der Auto-Union AG zur Konstruktion eines Grand-Prix-Rennwagens einen ersten Ausweg. Die weitere Entwicklung unter Begriffen wie »Durchbruch« (S. 44), »Erfolgsspur« (S. 63) oder »Rekordjagd« (S. 139) zu subsumieren, zeigt eine allzu wohlwollend-positive Bewertung. Doch erst mit der Übertragung des Entwurfs für einen serienreifen »Deutschen Volkswagen« durch den Branchenverband im Juni 1934 und die großzügiger fließenden Geldströme überwand die Porsche GmbH ihre Finanzschwäche. Dreh- und Angelpunkt der aufgezeigten Erfolgsgeschichte bildete der Volkswagen-Auftrag. Als Protegé des Diktators stieß Porsche in die »Umlauf bahn der Genies« (S. 46) vor. Pyta und seine Mitautoren sehen einen »Fall von erfolgreicher Geniepolitik« (S. 47) am Werke, als die Erfolge der Porsche-Rennwagen und vor allem der zum Statussymbol des NS Regimes aufgestiegene Volkswagen das Renomme des inzwischen 60-Jährigen mehrten und technische Spitzenleistungen den

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Markenkern des Konstruktionsbüros formten. Wer – wie Pyta – das Genie sucht, nutzt im Zusammenhang mit Porsche gern das Adjektiv »perfekt«, auch ergänzt um »Perfektionismus«, was auf Dauer ziemlich ermüdend ist (S. 391 f.). Derart beflügelt, strebte Porsche unter tätiger Darlehnshilfe des Volkswagenwerks nicht nur die strategische Erweiterung des Konstruktionsbüros zum Entwicklungsbetrieb an. Auch gestalteten die Gesellschafter das GmbH-Unternehmen 1937 zu einer Personengesellschaft um, was das gute Gespür für den richtigen Zeitpunkt zur Überführung des Unternehmens in ausschließlichen Familienbesitz offenbarte. Dass der nach 1933 unter antisemitischen Verfolgungsdruck geratene Mitgeschäftsführer und Mitgesellschafter Adolf Rosenberger kaltschnäuzig aus dem Unternehmen gedrängt wurde, passt in das Bild. Sobald er nicht mehr dienlich war und im politischen Umfeld sogar störte, entledigte sich die Familie seiner zu geringsten Kosten. Das Buch spricht auch die Übernahme von Immobilien aus dem Besitz der jüdischen Familie Wolf an und führt aus, dass der Krieg die Tätigkeitsgebiete und die Gewinne des Unternehmens nochmals deutlich vergrößerte. Die Entwicklung von Kübelund Schwimmwagen der »Ultramobilität im Gelände« (S. 227) zuzuweisen, gehört zu den sprachlichen Extravaganzen ohne tieferen Erklärungswert. Den Kübelwagen wegen seiner »Vielseitigkeit« aber als »Tausendsassa« (S. 239) zu bezeichnen oder »Das technisch Beste – sonst nichts« (S. 283) als Maxime des Panzerentwicklers auszugeben, erweist sich von der aktuellen Marketingsprache etwa von Daimler (»Das Beste – und sonst nichts!«) inspiriert. Das Scheitern der Porsche-Entwürfe des schweren Kampfpanzers Tiger und des 188-Tonnen-Panzermonstrums Maus erklärt Pyta mit der bei Porsche bestehenden Neigung, »durch ein Optimum an technischer Krea-

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tivität brillieren« (S. 283) zu wollen. Dass die nationalsozialistische Rüstung neben der voluntaristischen Rationalisierung à la Erhard Milch und Karl Otto Saur auch eine mit den materiellen Ressourcen und der verbliebenen Restzeit des NS -Regimes inkompatible Technikentwicklung finanziell gut ausgestattet hat, zeigt das Beispiel Porsche. Sein Ende 1944 begonnener Versuch zur Reichweitensteigerung der Flugbombe Fi 103 findet aber wohlweislich keine Berücksichtigung. Dass die Entwicklung des »Volksschleppers« nach der Panzerthematik behandelt wird, obgleich diese 1937 begann, gehört ebenfalls zu den umdeutenden Eigentümlichkeiten der Argumentation. Der Trecker war keine mit Blick auf die Nachkriegszeit erfolgte »Komplettierung des Portfolios« (S. 285), sondern zunächst Teil einer vom NS -Regime selbst ausgerufenen Modernisierungswelle der Landwirtschaft und zugleich – wie die Entwicklung von Windkraftgeneratoren – Bestandteil der »Germanisierungspolitik« im Osten. Stattdessen zeichnet Pyta das Bild, dass die Porsche KG bereits ab 1943, die Kriegsniederlage und die Wiederbegründung Österreichs antizipierend, ihr Geschäft nach Kärnten verlegt hatte und Ferdinand Porsche dort das »Ende des Krieges in aller Ruhe abzuwarten suchte« (S. 331). Pyta betritt mit seinem Hinweis auf »gelegentliche Besuche beim Kärntner Gauleiter Friedrich Rainer« (S. 331) durchaus Neuland. Eine »politische Landschaftspflege« am 22. März und 3. April 1945 einzuräumen, diese aber mit der entlastenden Spekulation zu verbinden, »nicht noch im letzten Moment aus seinem Alpendomizil herausgerissen zu werden«, enthält eine unzulässige Fehldeutung, da am 3. April 1945 die Themen »Generatoren, Panzerfahrzeuge und Schlepper« besprochen wurden. Darüber hinaus lässt Pyta die ebenfalls in Karl Rabes Tagebüchern verzeichneten letzten Begegnungen Ferdinand Porsches mit Gauleiter Rai-

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ner am 12. April 1945 in Dellach und am 18. April 1945 in Pörtschach unter den Tisch fallen. Durchaus Neuigkeitsgehalt haben die Ausführungen zur politischen Entlastung Ferdinand Porsches durch SPÖ -Spitzenpolitiker in Kärnten. Durch die Zugänglichkeit bislang gesperrter Akten des Militärgerichts Dijon bringt Pyta mehr Licht in die Zeit der französischen Gefangenschaft, die am 31. Juli 1947 nach Kautionshinterlegung mit der Entlassung aus der Untersuchungshaft geendet hatte. Der »formelle Freispruch« am 5. Mai 1948 habe Ferdinand Porsche und Anton Piëch – so die abschließende Bewertung – von allen Vorwürfen »strafrechtlich vollkommen rehabilitiert« (S. 358). Ganz nach dem Motto »Ende gut – alles gut!« verbucht Pyta die Entwicklung des Sportwagen-Modells »Porsche 356« und die handwerkliche Fertigung der ersten Fahrzeuge in Gmünd als Durchbruch zur schon längst erträumten, dann ernsthaft angestrebten, aber erst unter Ägide von Ferry Porsche realisierten Sportwagenherstellung unter eigenem Namen. Auch hierbei wird der ökonomische Anteil des Volkswagenwerks systematisch kleingeredet, während der Übergang zur nächsten Generation als mustergültig gelungen ausgegeben wird. Das deckt sich kongenial mit der etablierten Unternehmensnarration. Immerhin findet sich der erhellende, wenngleich in der den Gesamttext durchziehenden Eile nicht besonders schön konstruierte Satz: »Dass die Porsche KG mit öffentlichen Mitteln bedacht wurde, ist ein untrüglicher Indikator dafür, dass das Unternehmen in der Marktwirtschaft angekommen war« (S. 383). Nicht ganz selten gibt Pyta Vermutungen als Gewissheiten aus, etwa wenn er Ferdinand Porsche von 1930 an die unternehmerische Vision unterstellt, nicht nur Ingenieursdienstleister, sondern unter eigenem Namen auch Autohersteller werden zu

wollen. Hierdurch konstruiert das Buch eine Folgerichtigkeit der Entwicklung. Auch fällt auf, dass das Buch die Bedeutung der Porsche-Tochter Luise und ihres Ehemanns Anton Piëch erkennbar dilatorisch behandelt. Das entspricht ganz der Stuttgarter Optik, die darüber hinaus schlimme Formen der Zwangsarbeit dem Volkswagenwerk und dem Handeln des früh den Nationalsozialisten beigetretenen Anton Piëch zuschiebt, als hätte Ferdinand Porsche selbst nie KZ -Häftlinge bei Heinrich Himmler angefordert. Der Porsche KG in Stuttgart wurden nur einige hundert ausländische Zivilarbeiter, vor allem aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden sowie Italien, und Kriegsgefangene zugeteilt, wo »es zu einem vergleichsweise reibungslosen Miteinander« (S. 325) gekommen sei. Dass die Autoren auf diesem Gebiet keine Experten sind, zeigt allein schon die Einordnung von sowjetischen Kriegsgefangenen in die Gruppe der »Ostarbeiter« (S. 322). Überhaupt finden sich nicht wenige begriffliche Unschärfen, etwa wenn der Präsident des Branchenverbandes, Robert Allmers, einmal als »Geschäftsführer« (S. 191), ein anderes Mal als »Vorsitzender« (S. 192) bezeichnet wird. Das Pyta-Buch kommt zu dem Schluss, dass die Porsches bei der Verdrängung von Adolf Rosenberger aus dem Unternehmen kein besonders aggressiver Antisemitismus getrieben habe. Die Betriebsführung habe auch darauf geachtet, den »Zwangsverpflichteten ohne größere Repressionen zu begegnen« (S. 325). Zudem wird gegen bestehende Belege der Bewertung widersprochen, dass die im April 1945 von Anton Piëch nach Zell am See transferierten Vermögenswerte der Volkswagenwerk GmbH den Porsche-Unternehmen einverleibt wurden. Insoweit gehört die Studie zu den von Unternehmen finanzierten hybriden Professorenprodukten mit Marketingwirkung. Denn die technische Perfektion des Fir-

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mengründers übertrug sich als Teil der Geniepolitik auf das erste Serienmodell des Hauses Porsche, zumal Ferry Porsche der »richtige Mann am richtigen Platz war«. Die Studie stellt Ferdinand Porsche das Zeugnis aus, ein »Opportunist reinsten Wassers« gewesen zu sein, »der instinktsicher wie skrupellos die sich bietenden ökonomischen Gelegenheiten zum Ausbau seines Familienunternehmens ergriff« (S. 392). Auch in diesem Punkt fügen Pyta und Team dem vor gut 20 Jahren erschienenen Standardwerk von Hans Mommsen und dem Rezensenten nur wenig Neues hinzu. Obgleich dieses Buch im Text und den Fußnoten als Abgrenzungsobjekt dient, findet es sich nicht einmal im Literaturverzeichnis. In einem Punkt scheinen sich Pyta und Mitautoren dann aber doch daraus bedient zu haben: Die bei Mommsen / Grieger fehlerhafte Bezeichnung des RDA als »Reichsverband der Deutschen Automobilindustrie« nutzt auch das neue Porsche-Buch durchgängig. Manfred Grieger, Gifhorn

Rachel Century, Female Administrators of the Third Reich (= Palgrave Studies in the History of Genocide), Palgrave Macmillan, London 2017, 275 S., 93,59 Euro Rachel Century, Mitarbeiterin des Holocaust Day Memorial Trust, einer von der britischen Regierung 2001 ins Leben gerufenen Institution, die die landesweiten Aktivitäten zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar in Großbritannien koordiniert, hat eine aufschlussreiche Studie vorgelegt, die sich mit drei Gruppen von Frauen und ihren Tätigkeiten im Zweiten Weltkrieg befasst: den SS -Helferinnen in der Waffen-SS, den Nachrichtenhelferinnen des Heeres sowie den Sekretärinnen in den SS Hauptämtern, darunter das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), das Wirtschafts-

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Verwaltungshauptamt (WVHA) und das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA). Sie stellt eine gründlich überarbeitete und um neuere Literatur angereicherte Fassung ihrer Ende 2012 am Royal Holloway College der London University eingereichten Doktorarbeit dar, die noch den reißerischen Obertitel »Dictating the Holocaust« trug. Centurys Buch ist auf der Schnittstelle zwischen Täterforschung und gender history zu verorten und widmet sich drei Fragen: Welches waren die Gemeinsamkeiten und Unterschiede jener Frauen, die sich dazu bereitfanden, für eine der genannten NS -Verwaltungsbehörden zu arbeiteten, wie gestalteten sich ihre Beziehungen zu den männlichen Vorgesetzten und Kollegen und was wussten sie vom Holocaust? Es geht ihr also um eine vergleichende Analyse von Tätigkeitsfeldern, alltäglichen Arbeitsbedingungen und Mitwisserschaft von Frauen im NS -Staat zwischen 1939 /40 und 1945. Der Schwerpunkt ihrer Quellen liegt auf den SS -Personalakten und den Nachkriegsaussagen ehemaliger RSHA-Sekretärinnen, die im Rahmen von Prozessen gegen ihre früheren Vorgesetzten aufgezeichnet wurden und heute in der Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg sowie im Landesarchiv Berlin auf bewahrt werden. Militärische Akten hat die Autorin nicht berücksichtigt, sodass ihre Ausführungen zu den Nachrichtenhelferinnen des Heeres auf Editionen, Memoiren und Sekundärliteratur basieren; ein Ungleichgewicht, das ihr auf der Darstellungsebene einige Probleme bereitet. Diese manifestieren sich hauptsächlich im ersten Teil »Hitler’s Helferinnen« (S. 15-71), in dem sie die SS -Helferinnen und die Nachrichtenhelferinnen des Heeres in zwei Unterkapiteln gemeinsam behandelt. Zunächst zeichnet die Autorin Rekrutierung, Ausbildung und Tätigkeitsbereiche dieser Frauen nach, die zwei distinkten Gruppen angehörten und

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bis auf einen quantitativ zu vernachlässigenden Personalaustausch im Jahre 1944 nichts miteinander zu tun hatten. Das SS Helferinnenkorps wurde seit 1942 aufgestellt und umfasste etwa 2.500 Frauen, die als integraler Bestandteil der »SS -Sippengemeinschaft« galten. Sie wurden nach rigorosen »rassischen« und ideologischen Kriterien ausgesucht und sollten an ihren Arbeitsplätzen SS -Männer kennenlernen, um sie später zu heiraten. Dagegen wurden die insgesamt 8.000 Nachrichtenhelferinnen des Heeres seit 1939 /40 öffentlich rekrutiert und unterstanden als »Wehrmachtgefolge« der Militärgerichtsbarkeit. Sie kamen aus Organisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) und den NS Frauenverbänden und scheinen, folgt man der Autorin, weit weniger fanatisiert gewesen zu sein als die SS -Helferinnen. Centurys Ausführungen zu den Einsatzbereichen und Arbeitsbedingungen der SS Helferinnen und der Nachrichtenhelferinnen des Heeres basieren entweder auf normativen zeitgenössischen Quellen wie der »Vorläufige[n] Einsatzordnung für SS -Helferinnen« oder auf Interviews, die 60 Jahre nach Kriegsende mit ehemaligen Nachrichtenhelferinnen des Heeres geführt wurden. Die SS -Helferinnen wurden in der SS -Reichsschule in Oberehnheim im Elsass ausgebildet und anschließend zu den Kommandobehörden der SS im »Altreich« versetzt, darunter Konzentrationslager wie Auschwitz. Sie bedienten Funk- und Fernschreibanlagen sowie Telefone und arbeiteten als Bürohilfskräfte, Stenotypistinnen und Botinnen. Ähnliche Tätigkeiten oblagen auch den Nachrichtenhelferinnen des Heeres, die Heinrich Himmler und Ernst Sachs, dem Chef des SS -Fernmeldewesens, als Vorbild gedient hatten. Sie waren größtenteils in besetzten Ländern wie Frankreich, Norwegen und den Niederlanden in den dortigen Dienststellen des Heeres tätig, aber auch in NS -Satellitenstaaten wie

Kroatien und der Slowakei. Weil Century aus ihren Dokumenten nur sehr selektiv zitiert (zumeist nur ein oder zwei Sätze), bleibt die Persönlichkeit dieser Akteurinnen eher blass. Ihre Interaktionen mit männlichen Vorgesetzten und Kollegen und ihr Wissen um die NS -Gewalt geraten aus dem Blick. Die Autorin bleibt methodologisch wie inhaltlich hinter den beiden einschlägigen Monografien von Jutta Mühlenberg und Franka Maubach zurück, die sie bloß als Steinbruch für Informationen nutzt, ohne sich ausführlich mit deren Ergebnissen auseinanderzusetzen. Immerhin kann sie zeigen, dass die SS -Helferinnen und Nachrichtenhelferinnen des Heeres vielfältige Erfahrungen machten, die sich aus den unterschiedlichen Herkunfts- und Alterslagen dieser Frauen und sozio-kulturellen Prägungen durch ihre Einsatzorte ergaben. Diese Pluralität von Erfahrungen ist insofern nicht aus der vorherrschenden Geschlechterdifferenz allein zu erklären, sondern nur mittels zusätzlicher analytischer Kategorien wie Alter, Klassenlage oder Raum. Den Kern der vorliegenden Studie bildet Teil II »Sex, Lies and Stenography« (S. 81156), der von den Sekretärinnen im RSHA und anderen SS -Hauptämtern handelt. Die Autorin beginnt mit den Motiven, die junge Frauen dazu veranlassten, sich in diesen Dienststellen zu bewerben, weist auf das sehr frühe Eintrittsalter der teils noch minderjährigen Protagonistinnen hin und schildert die Praxis regelmäßiger Versetzungen innerhalb des RSHA . Viele Frauen erhielten so einen intimen Einblick in die Praxis einer SS -Behörde, die im Zentrum der NS -Vernichtungspolitik stand. Ingeborg W. beispielsweise arbeitete im Büro Theodor Danneckers, eines Untergebenen von Adolf Eichmann, und tippte seit Juni 1940 die Unterlagen zum »MadagaskarPlan«, also die ins Auge gefasste Massendeportation von vier Millionen europäischer

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Juden (S. 94). Gertraud F. war für die Dienststellen der »Aktion T 4« in Berlin, Hadamar, Grafeneck und Bernburg tätig, kam mithin mit dem NS -Krankenmord an mehr als 70.000 Menschen in Verbindung. Sie verfasste »Trostbriefe« für Verwandte der Opfer, bereitete gefälschte Totenscheine vor und korrespondierte mit den zuständigen Standesämtern (S. 101). Der Schwerpunkt der insgesamt drei Unterkapitel liegt auf dem Wissen der Sekretärinnen um die NS -Vernichtungspolitik, nicht auf ihren dienstlichen Verrichtungen. Mit Friederike Wieking, die für zwei »Jugendschutzlager« verantwortlich war, und mit Gertrud Slottke, die beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei in den Niederlanden in Den Haag arbeitete, beschäftigt sich Century ausführlicher, weil beide Frauen offensichtlich die einzigen in ihrem Sample sind, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten über Leben und Tod mitentschieden (S. 124 ff.). Alle anderen SS -Sekretärinnen waren »nur« Mitwisserinnen von »Gegnerbekämpfung« und Genozid. Century betont zwar, dass die SS -Sekretärinnen auch Handlungsspielräume besaßen, führt jedoch kein Beispiel für widerständiges Verhalten an, das prinzipiell möglich gewesen sei. Stattdessen schildert sie in einem längeren Unterkapitel die Liebesbeziehungen zwischen einigen SS -Sekretärinnen und ihren Vorgesetzten beziehungsweise Kollegen, ohne diese systematisch an ihre Frage nach Verwaltung und Vernichtung zurückzubinden (S. 131-156). Ähnlich unbefriedigend bleibt der dritte Teil der Studie, der mit »Chaos, Confusion and Consequences« betitelt ist (S. 159-204). Darin schildert die Autorin, wie die SS -Helferinnen, die Nachrichtenhelferinnen des Heeres und die SS Sekretärinnen das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit erlebten und den Zusammenbruch des »Dritten Reiches« verarbeiteten. Entnazifizierung und strafrechtliche Verfolgung werden anhand einiger

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Beispiele geschildert, die aber größtenteils nicht aus dem Untersuchungssample stammen, darunter Sekretärinnen wie Traudl Junge, Christa Schroeder und Brunhilde Pomsel (S. 182 f. und 193). Den Prozess gegen Gertrud Slottke, die im Februar 1967 vom Schwurgericht München wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 54.982 Fällen zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, analysiert Century intensiver (S. 191). Dieser stellte jedoch eine Ausnahme dar, denn keine andere der von ihr in den Blick genommenen Frauen ist nach 1945 strafrechtlich belangt worden. Offenbar zogen sie sich erfolgreich ins Privatleben zurück. In ihrer »Conclusion« (S. 205-225) versucht Century dann, ihre Ergebnisse zu verallgemeinern, indem sie drei zentrale Gemeinsamkeiten der SS -Helferinnen, der Nachrichtenhelferinnen des Heeres und der SS -Sekretärinnen betont. Sie seien mit Büro- und Schreibarbeiten befasst, männlichen Vorgesetzten untergeordnet und lediglich Hilfskräfte gewesen (S. 206). Diese Aussage ist aber viel zu unspezifisch und trifft im Grunde genommen auf alle Frauen zu, die im »Dritten Reich« in irgendeiner NS -Behörde tätig waren. Century lässt keinen Zweifel daran, dass die Frauen aus ihrer Untersuchungsgruppe weder Täterinnen noch Opfer waren. Weder töteten oder verletzten sie irgendjemanden noch beeinflussten sie administrative Entscheidungsprozesse in ihren Institutionen. Dennoch ging, folgt man der Autorin, ihre Verantwortlichkeit für die NS -Verbrechen darüber hinaus, den Männern lediglich den Rücken für ihre Verbrechen freizuhalten (S. 218). Leider ringt sie sich nicht dazu durch, diese Art Verantwortlichkeit anschaulich zu beschreiben, geschweige denn, sie mittels eines Begriffs auf den Punkt zu bringen. Der Ausdruck »female administrators«, den Century in ihrer Studie durchgängig benutzt, ist dazu denkbar ungeeig-

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net, denn keine ihrer Protagonistinnen hatte hoheitliche oder inspizierende Befugnisse. Darin kommt übrigens auch das Hauptproblem des vorliegenden Buches zum Ausdruck, das in einer Vernachlässigung der Referenzebene »Organisation« und der administrativen Rollen besteht, welche die SS -Helferinnen in der Waffen-SS, die Nachrichtenhelferinnen des Heeres in der Wehrmacht und die Sekretärinnen in den SS -Hauptämtern spielten. Um die Grade der Verantwortung von Frauen innerhalb dieser Organisationen genauer herauszuarbeiten, wäre es vonnöten gewesen, gender theory und Organisationssoziologie miteinander zu verbinden, wie es im englischsprachigen Raum in der seit 1994 erscheinenden Zeitschrift »Gender, Work & Organization« und in den grundlegenden Studien von Rosemary Pringle, Dana M. Britten und Joan Acker geschieht. Folgt man Ackers »Theory of Gendered Organizations«, so sind für eine gendersensible Analyse von Organisationen fünf Aspekte maßgeblich: deren strukturelle Grenzziehung zwischen unqualifizierter Frauen- und qualifizierter Männerarbeit, die spezifischen Männlichkeitskonzeptionen von Verwaltung und Management, die interaktiven Über- und Unterordnungsverhältnisse am Arbeitsplatz, die Wahl geschlechtsangemessener Identitäten durch die Organisationsmitglieder und die Organisationslogiken, die entgegen der gängigen Selbstbeschreibung von Organisationen eben nicht geschlechtsneutral sind. Nur zum dritten Punkt hat Century einige Beobachtungen formuliert, die aber bloß kursorisch bleiben. Mit der vorliegenden Arbeit kommt die Geschlechtergeschichte (nicht nur) zum Nationalsozialismus an einen Scheideweg. Es reicht nicht mehr aus, die Geschlechterdifferenz auf der gesellschaftlichen Ebene als gegeben vorauszusetzen und anhand

von Individuen oder verschiedener Gruppen von Frauen (und mittlerweile auch Männern) am empirischen Material durchzudeklinieren. Gefordert ist stattdessen eine Vorgehensweise, die sich sehr genau ihrer eigenen Referenzebene versichert, im vorliegenden Fall also »Organisation«, und die stärker situativ ansetzt. Auf der Ebene von Interaktionen bedarf es einer Hinwendung zur Geschichte der Geschlechterbeziehungen, bei der zusätzliche Differenzen von Alter, Klasse, Ethnizität, Religion und Raum in Rechnung gestellt werden müssen, und zwar ganz im Sinne der in der gender-Forschung seit einigen Jahren so erfolgreich praktizierten Intersektionalität. Generell muss gender von jener gesamtgesellschaftlichen Ebene, die in der NS -Forschung noch zu dominieren scheint, auf die Mesoebene von Organisationen und auf die Mikroebenen von Familie, Nachbarschaft und Beruf heruntergebrochen werden. Dafür wird ein transdisziplinärer Ansatz unverzichtbar sein, der endlich auch die Organisationssoziologie zu ihrem Recht kommen lässt. In Centurys Studie ist davon kaum etwas zu spüren, zu eng klammert sie sich an traditionelle Muster der Geschichtsschreibung, zu selten nimmt sie die vielfältigen Impulse anderer Fachdisziplinen auf. Armin Nolzen, Warburg

Herlinde Pauer-Studer / David J. Velleman, »Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin«. Der Fall des SS -Richters Konrad Morgen, Suhrkamp, Berlin 2017, 349 S., 26 Euro Biografische Zugänge haben seit gut eineinhalb Jahrzehnten in der neueren und Zeitgeschichtsforschung Konjunktur. Der Einzelfall soll dabei exemplarisch für allgemeine gesellschaftliche Wirkmechanismen und deren Auswirkungen auf das Individu-

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um stehen – insbesondere in Diktaturen. Herlinde Pauer-Studers und David J. Vellemans Studie über den SS -Richter Konrad Morgen möchte dabei einen Beitrag zur neueren Täterforschung sowie zu aktuellen Überlegungen über Recht und Moral im Nationalsozialismus leisten. Dabei stellen die Autoren die berufliche Lauf bahn Morgens, der 1909 in Frankfurt am Main als Sohn eines Eisenbahners geboren wurde, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Als Richter war Morgen zwischen 1940 und 1945 unter anderem zuerst in Krakau, später am Hauptamt SS -Gericht in München tätig. Von Heinrich Himmler persönlich beauftragt, ging er gegen Korruption und Untreue innerhalb der SS vor und ermittelte dabei gegen hochrangige SS -Führer wie den Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald Karl Otto Koch und den Verantwortlichen für die Vernichtung der Juden Adolf Eichmann. Der »Fall Morgen« ist vergleichsweise gut dokumentiert: Neben amtlichen Quellen (Personal- und Entnazifizierungsakten sowie Gerichtsprozessakten) können sich Pauer-Studer und Velleman in ihrer Analyse auf zahlreiche Egodokumente stützen. Die Verfasser verstehen ihr Buch als »moralische Biografie« – wenngleich dies ein wenig zu hoch gegriffen sein mag, da gerade einmal fünf Jahre von Morgens beruflichem Wirken beleuchtet werden. Das erfolgt dafür in einer Detailfülle, die mitunter vonnöten ist, um die Beweggründe für das Handeln eines höchst ambivalenten Zeitgenossen der NS -Diktatur nachvollziehen und damit einen »tiefen Einblick in die moralisch pervertierten Strukturen des NS -Systems« (S. 7) gewinnen zu können. Der Band besteht aus 18 Unterkapiteln mit einem kurzen Vorwort und einer Einleitung zum rechtstheoretischen Kontext und seinen realen Konsequenzen in der Rechtsprechung im Nationalsozialismus. Eine tabel-

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larische Übersicht von Morgens Lebenslauf sowie ein Personen-, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis runden das Buch ab. Konrad Morgen gehörte einer jüngeren Juristen-Generation an, die beruflich ganz im Nationalsozialismus sozialisiert wurde. Sebastian Haffner beschreibt sie als Generation, die konservative bürgerliche Werte und Traditionen ablehnte und sich nach Krieg, Chaos, Tempo, Gemeinschaftsgeist, kollektiven Abenteuern, Sensationen und Revolution sehnte. Das Ende des Kaiserreichs hatten viele ihrer Mitglieder nicht betrauert, und später feierten sie die Möglichkeit, mit der NS -Machtübernahme nun selbst einen Teil der Macht zu erlangen. Das war der Grund, warum sie sich über das geforderte Maß hinaus aktiv einbrachten. Auch Morgen arrangierte sich recht schnell mit dem Nationalsozialismus. Sein Eintritt in die SS sei, so die Autoren, zunächst aus opportunistischen Gründen erfolgt, nach und nach habe er sich dann die ideologischen Normen der SS, insbesondere deren Ehrenkodex, zu eigen gemacht. Pflichtversessen und dienstbeflissen wirkte Morgen fortan aktiv an der Pflege dieses Ehrenkodexes mit. Mit den Mitteln des Rechts und unter Ausnutzung aller Spielräume versuchte er SS -Mitglieder zur Rechenschaft zu ziehen, die durch ihr Verhalten die »Ehre« der SS beschädigt hatten. Dabei sah er insbesondere im »Korruptionsverbrecher« einen Menschen, dessen Anlagen der SS und der NS -»Volksgemeinschaft« abträglich waren und der deshalb bekämpft werden müsse. Auch in der SS -Gerichtsbarkeit galt formal das Prinzip des unabhängigen Richters. Doch wie bei der allgemeinen Justiz wurde die Formel »Recht und Gerechtigkeit« auch hier ideologisch instrumentalisiert, um die NS -Herrschaft (sprich: den »Führerwillen«) flächendeckend durchzusetzen. Die doppelte Loyalität ihrem eigenen beruflichen Feld und der SS gegenüber brach-

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te die Richter dabei in einen erheblichen Zwiespalt zwischen politischen Vorgaben und dem eigenen Berufsethos. Nicht selten jedoch eröffnete diese Diskrepanz recht große Ermessensspielräume, mithin Möglichkeiten des Handelns, die es in der NS Diktatur durchaus noch gab. Das zeigte sich bei Morgen, wie Pauer-Studer und Velleman betonen, in diversen Kompetenzüberschreitungen, teils »unter bewusster Ausnützung seiner SS -Zugehörigkeit« (S. 68 f.). Sein Aktionismus stieß schnell an Grenzen: 1942 wurde Morgen degradiert und später als einfacher Soldat an die »Ostfront« abkommandiert. Schon ein Jahr später beorderte Himmler ihn jedoch überraschend zurück nach München – man benötigte ihn im Rahmen einer Antikorruptionskampagne bei der SS –, und Morgen wurde nun zusätzlich Beamter der Reichskriminalpolizei. In dieser Position untersuchte er 1943 das Lager Buchenwald und strengte mit Himmlers Rückendeckung bald darauf Ermittlungen gegen Lagerleiter Koch wegen Korruption an. Gerade weil Morgen neben Recht und Gesetz auch die Rhetorik Hitlers und Himmlers von Treue, Ehre und Anständigkeit als moralische Leitschnur für sein Handeln nutzte, kam er unweigerlich in Konflikt mit der NS -Rassenideologie. In Morgens Augen ermöglichte insbesondere das System und die innere Logik der Konzentrationslager »bösen Charakteren« wie Lagerleiter Koch »freie Bahn für böse Taten […]. Dass solche Täter das Leben eines Häftlings zur Hölle machen konnten, empörte ihn. Dass die Rahmenbedingungen in den Lagern bereits für sich genommen die Hölle waren, berührte ihn nicht besonders, waren diese Bedingungen doch nicht auf die Handlungen individueller Übeltäter zurückzuführen« (S. 130). Morgen charakterisierte sich selbst als »Gerechtigkeitsfanatiker« – doch Gerechtigkeit war für ihn kein universaler Wert, sondern Mittel,

die »Ehre« der SS zu schützen (und wenn er damit den eigentlichen Opfern der NS Verbrechen half, war das eher ein Nebeneffekt). Das unterstreichen Beispiele wie dieses: Einem Hauptmann der Schutzpolizei, der 1941 in Galizien Zivilisten misshandelt hatte, empfahl Morgen eine milde Strafe, weil dieser Hauptmann nicht aus schlechtem Charakter, sondern aus kriegsbedingten Umständen gehandelt habe. Und schließlich sei »die SS - und Polizeigerichtsbarkeit […] zur Reinerhaltung der eigenen Reihen da, nicht aber zum Schutze der Rechtsgüter eines feindlichen Volkes« (S. 106). Morgens Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen galten eben nicht für Menschen außerhalb der NS -»Volksgemeinschaft«. Lothar Fritze beschreibt Leute wie Morgen als »Täter mit gutem Gewissen«, die nicht nur funktioniert, sondern sich auch aktiv eingebracht haben. Die NS -Ideologie gab ihnen ein moralisches Argument auf den Weg, die Exklusion von »Gemeinschaftsfremden« nicht als unmenschlich und barbarisch anzusehen, sondern als nachvollziehbar und notwendig. Das erleichterte ihnen, so auch Pauer-Studer und Vellemann, sich guten Gewissens für den Nationalsozialismus zu engagieren. »Es kam Morgen [dabei] nie in den Sinn, dass es unmöglich war, Gerechtigkeit in einem radikal ungerechten System zu realisieren. Und er zog auch nicht in Betracht, dass er als SS -Offizier unweigerlich auch die Ungerechtigkeiten des Systems umsetzte« (S. 285). Damit konnte er – wie viele andere – auch noch nach 1945 von sich behaupten, stets moralisch »anständig« geblieben zu sein. Morgen sagte nach Kriegsende als Kronzeuge in mehreren NS -Prozessen aus und schmückte sein Handeln vor 1945 als »Widerstand gegen das NS -Regime« aus. Aus diesem Grund entlastete ihn eine Spruchkammer 1948, das Urteil wurde später vom Ministerium für Politische Be-

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freiung Baden-Württemberg aufgehoben und ein neues Verfahren angestrengt, das aber 1950 schließlich mit dem Abschluss der Entnazifizierung eingestellt wurde. Morgen war Idealist, er kämpfte für die Sache des Nationalsozialismus, aber gleichzeitig – unfreiwillig – auch gegen sie. Sein Aktionismus musste in einem polykratischen und auf untereinander konkurrierenden Machtzentren aufgebauten System wie dem NS -Regime zwangsläufig Grenzen und Zielen anderer Akteure zuwiderlaufen. Daher gingen Morgens Bemühungen, Korruption in den eigenen Reihen zu bekämpfen, weitgehend ins Leere. Der Fall Morgen führt zum Kernproblem, dass das, was »nationalsozialistisches Denken und Handeln« eigentlich ausmachte, nicht trennscharf definiert war. Im Gegenteil: Dadurch wurde die NS -Ideologie ja gerade anschlussfähig für die breite Masse der Bevölkerung und stellte in letzter Konsequenz ein zentrales Element für die menschenverachtende und zerstörerische Dynamik der gesellschaftlichen Utopie von der NS »Volksgemeinschaft« dar. Was sagt uns der Fall Konrad Morgen für die Beurteilung der Zeit des Nationalsozialismus und vor allem auch der Schuld der Zeitgenossen? Die Studie von Pauer-Studer und Velleman vermag hier den Blick für die Graubereiche menschlichen Handelns zu schärfen. So konstatieren die Autoren, Morgen entziehe sich einerseits der Kategorie des aktiven NS -Täters und NS -Verbrechers, sei aber andererseits ein stützender Teil des Systems und damit eben auch indirekt an dessen Verbrechen beteiligt gewesen. Die Widersprüchlichkeit eines vergleichsweise normalen Lebens im täglichen Ausnahmezustand herauszuarbeiten, ist den Autoren mit dieser Studie sicherlich gelungen. Das Buch liest sich dadurch spannend wie ein Krimi, zudem bietet der Blick der Autoren – beide Professoren für Philosophie – eine erfrischende

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Perspektive auf den Alltag im Nationalsozialismus unter dezidiert moralphilosophischer und psychologischer Betrachtung eines damaligen Zeitgenossen. Leider hat der Leser manchmal den Eindruck, dass Pauer-Studer und Velleman die Schilderungen ihres Protagonisten – zumindest da, wo sie sie nicht durch andere Quellen überprüfen konnten – wenig kritisch übernommen haben. Das zeigt sich vor allem dann, wenn die Autoren ins Spekulieren kommen und in ihren Aussagen nebulös bleiben. Ein Beispiel: »Indem seine Untersuchungen die obersten Führungszirkel der SS betrafen, bewies Morgen einen gewissen moralisch motivierten Mut. Vielleicht war [er] aber auch einfach nur politisch naiv« (S. 99). Fragwürdig erscheint auch folgende – wenig haltbare – Behauptung im Nachwort: »Die schlichte Forderung, alle Rechtsnormen, also auch alle Befehle Hitlers, zu veröffentlichen, hätte die schlimmsten Exzesse des nationalsozialistischen Regimes wohl verhindert« (S. 298 f.). Dabei haben Autoren wie Peter Longerich bereits gezeigt, dass NS -Verbrechen nicht nur vor aller Augen stattfanden, sondern dass das NS -Regime ab Ende 1941 immer wieder gezielt öffentlich Hinweise auf die »im Namen des deutschen Volkes« vollzogene Vernichtung der Juden gab. Ziel war es nämlich, die »Volksgenossen« durch das Schüren von Angst vor einem Racheakt der Kriegsgegner für den Kampf um den »Endsieg« zu mobilisieren. Auch die bloße Vermutung, Morgens »Indifferenz gegenüber der kollektiven staatlichen Gewalt gegen Juden [liege] nicht im Rassenhass begründet«, lässt den Leser eher ratlos zurück. Worin dann, fragt man sich bei der Lektüre. Die Leerstellen in der Bibliografie zur neueren Forschungsliteratur, die die in den letzten Jahren geführte Debatte um die soziale Wirkmächtigkeit der NS -»Volksgemeinschaft« vermissen lassen, sind deshalb ärgerlich. Eine tiefere Rezeption dieser

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Literatur hätte zu einem besseren Verständnis Morgens beigetragen. Insgesamt ist das Buch dennoch empfehlenswert: Sich den moralischen Ansichten eines Zeitgenossen im Nationalsozialismus zu nähern – abseits von Täter-Opfer-Kategorien –, zeigt auf, wie schwierig es ist, Menschen allein nach ihrem Handeln zu bewerten. Damit stehen Herlinde PauerStuder und David J. Velleman ganz in einer erfreulichen Konjunktur, sich mehr den Akteuren und ihren Motivationen zu widmen. Christine Schoenmakers, Hannover

Arnd Bauerkämper / Grzegorz RossolińskiLiebe (Hg.), Fascism without Borders. Transnational Connections and Cooperation between Movements and Regimes in Europe from 1918 to 1945, Berghahn, New York / Oxford 2017, 373 S., 92  Dem Faschismus lag eine eigentümliche Spannung zugrunde: Er bezog einerseits seine Dynamik aus dem Verlangen nach klarer Grenzziehung, seien die Grenzen, die aufgerichtet, verteidigt oder in ihr Recht gesetzt werden sollten, nationalstaatlicher, biologistischer oder rassistischer Natur; andererseits trieb die faschistischen Bewegungen und Regime der Zwischenkriegszeit eine Utopie der Grenzenlosigkeit an, mithin ein Streben nach universaler Gültigkeit faschistischer Weltanschauung, die sich auch territorial manifestieren sollte. Diese Spannung zwischen Grenzziehung und Grenzenlosigkeit prägte die transnationalen Kontakte und Austauschprozesse von Faschisten zwischen dem Ende des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die sich zuvorderst als Nationalisten verstanden und dennoch internationale Kontakte suchten. Dementsprechend war die faschistische Internationale von Kooperation und Konflikt zugleich geprägt. In 13 empirisch fundier-

ten Kapiteln zeichnen die Autorinnen und Autoren des von Arnd Bauerkämper und Grzegorz Rossoliński-Liebe zusammengestellten Sammelbandes die Spannbreite transnationaler Kontakte nach. Der Band, der aus einer Tagung im Jahre 2014 hervorging, besticht durch die Breite der behandelten Beispiele und vor allem durch das Augenmerk, das kleinen faschistischen Bewegungen gilt, abseits von italienischem Faschismus und Nationalsozialismus: von der British Union of Fascists (Anna Lena Kocks), über die kroatische Ustaša und die slowakische Hlinka-Partei (Goran Miljan), die rumänische Eiserne Garde (Raul Cârstocea), die Organisation ukrainischer Nationalisten (Grzegorz Rossoliński-Liebe) bis hin zum portugiesischen Estado Novo (Cláudia Ninhos) und den französischen Faschisten (Marleen Rensen). Das faschistische Regime in Italien sowie das NS -Regime werden entweder in ihren transnationalen Verflechtungen betrachtet (Anna Lena Kocks, Matteo Pasetti) oder auf ihre Europa-Konzepte (Monica Fioravanzo, Johannes Dafinger) hin befragt. Der Band ist mithin ein gewichtiger Beitrag zu der in den letzten Jahren an Fahrt aufnehmenden Forschung zur Geschichte des europäischen und globalen Faschismus. Die faschistische Verflechtung wird dabei im Großen und Ganzen auf drei Ebenen erzählt: als Politikgeschichte, als solche von Parteien und Organisationen und als intellectual history. Dabei fällt auf, dass intensiverer Austausch sich in jenen Bereichen manifestierte und partiell in soziale Praxis mündete, in denen der Faschismus die integrative Seite seiner Gesellschaftsutopie zu realisieren suchte: in der Jugend- sowie in der Freizeitpolitik. Zugleich öffnete der rassistische Vernichtungskrieg des NS -Regimes Kooperationsmöglichkeiten ganz anderer Art, die faschistische Bewegungen vornehmlich in Osteuropa nutzten und damit zu willigen Helfern im Holocaust wur-

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den. Der Holocaust, so Aristotle Kallis, bildete dann auch den Kristallisationspunkt der transnationalen faschistischen Dynamik, deren Kern nichts anderes war als die grenzenlose Gewalt. Dabei wirkte allein die Wahrnehmung des Faschismus als ein übernationales Phänomen als geradezu universale Kraft, mit der in Europa zu rechnen war; sie stieß transnationale Initiativen an. Dass das Bild des Faschismus als universaler Kraft zuvorderst von seinen Gegnern erzeugt wurde, unterstreichen die Herausgeber und greifen den linken Antifaschismus beispielhaft heraus. Drei Aufsätze sind ihm gewidmet (Kasper Braskén, Silvio Madotto, Franecsco Di Palma), die jedoch trotz der Validität der These wie ein Fremdkörper in dem Band wirken. Wie verschlungen die internationale Diskurslandschaft jenseits des Links-RechtsSchemas tatsächlich war, zeigt Matteo Pasetti am Beispiel des Korporatismus in geradezu vorbildlicher Weise. Faschistische Konzepte integrierten sich in ein breites ideologisches Feld, dessen Klammer der Antiliberalismus bildete und das den Sozialkatholizismus, den Radikalnationalismus des Typs der Action Française und den Gildensozialismus umfasste. So erlangten faschistische Modelle Relevanz und drangen in andere Diskurszusammenhänge ein, die sie schließlich mit geballter staatlicher Macht zu monopolisieren suchten. Allerdings trugen auch diese diskursiven Auseinandersetzungen nicht allein zu Allianzen, sondern auch zu ideologischen Grenzziehungen bei. Gerade eine solche Forschungsperspektive, die den Faschismus als Teil eines weiteren diskursiven, internationalen Feldes begreift, ist äußerst anregend, wie auch der Aufsatz von Johannes Dafinger zu nationalsozialistischen Europakonzeptionen zeigt. Die Komplexität von gleichzeitiger Annäherung und Abgrenzung in Europa wird besonders am Beispiel der

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Kulturbeziehungen zwischen dem rechtsautoritären portugiesischen Salazar-Regime und dem NS -Regime deutlich, die Cláudia Ninhos differenziert rekonstruiert. Für den Estado Novo wurde das NS -Regime geradezu zu einem Magnetfeld, so die Autorin, was sich in hochrangigen portugiesischen Besuchsdelegationen und Jugendbegegnungen bis weit in die Kriegszeit hinein ausdrückte. Doch machten diese Verbindungen aus dem Estado Novo noch lange kein faschistisches Regime – und hier zeigen sich die Grenzen des transnationalen Ansatzes, wie er von den Herausgebern vertreten wird. Sie betonen die Hybridität des Faschismus, sehen in ihm »a moving target rather than a static entity« (S. 5) und weisen den transnationalen Verflechtungen eine bedeutende Rolle in seiner beständigen Rekontextualisierung zu. Sicherlich war der Faschismus kein festgefügtes, klar definiertes Gebilde, sondern zeichnete sich durch seine Wandelbarkeit und Dynamik aus, und sicherlich bestanden in einzelnen Bereichen Ähnlichkeiten und Allianzen mit autoritären Regimen. Das entbindet indes den Historiker nicht davon, zu typologisieren und den Kern dessen zu bestimmen, was den Faschismus ausmachte und ihn von anderen Strömungen des rechten Spektrums unterschied. Eine klarere Verortung in der seit vielen Jahren intensiv geführten Faschismus-Debatte hätte der transnationalen Verflechtungsgeschichte somit auch klarere Kontur gegeben. Das betrifft auch die Differenzierung zwischen faschistischen Regimen und Bewegungen. Für letztere waren transnationale Kontakte strategisch um einiges wichtiger als für die beiden Regime, die zwar in den mittleren 1930er Jahren auch den Wert beidseitiger Kooperation für sich entdeckten, für die die Beziehungspflege zu diversen esoterischen Grüppchen und politischen Bewegungen am Rande aber nur von marginaler Bedeutung war.

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Die Relevanzfrage transnationaler Verflechtungen stellt der Band nur sehr verhalten. Dazu hätte es eines weiteren Ansatzes bedurft, der die Räume und Arenen des Austausches im nationalen politischen Kontext verortet, der die Mittlerfiguren (die im Übrigen zentral waren) in ihren Netzwerken situiert und der die Politiken, die sich andere Faschismen zum Vorbild nahmen, in ihrer Wirkungsweise verfolgt hätte. Die Kooperationen der Faschisten zwischen 1918 und 1945, selbst wenn sie konfliktgeladen waren, waren zumeist von kurzer Dauer. Der Auf bau stabiler internationaler Netzwerke braucht Zeit, und gerade das widersprach den Grundsätzen der auf beständige Veränderung, auf beschleunigten Wandel drängenden faschistischen Bewegungen. Die rasche Veränderung der politischen Landkarte Europas mischte die Karten des Spiels um die transnationale Verflechtung immer wieder neu, und dass das faschistische Italien seine Anziehungskraft Mitte der 1930er Jahre an das NS -Regime verlor, war nur eine von zahlreichen Veränderungen der Konstellation. Mit der vernichtenden Niederlage des NS Regimes im Jahr 1945 sehen die Herausgeber auch die Geschichte des Faschismus in Europa abrupt enden. Das ist zu diskutieren. Denn wenn sich die extreme Rechte nach 1945 auch neu konstituieren musste und ihr der liberale und demokratische Wind scharf um die Nase wehte, so sind die Kontinuitäten über den Bruch 1945 hinaus doch unübersehbar. Das gilt auch für die transnationalen Verflechtungen, über deren historische Tiefendimension wir noch viel zu wenig wissen. Zu ihrer Freilegung trägt »Fascism without Borders« bei, und das ist nicht das geringste Verdienst des Bandes. Martina Steber, München

Federico Finchelstein, From Fascism to Populism in History, University of California Press, Oakland 2017, 328 S., 29,95 US $

Keine Debatte scheint allgegenwärtiger – kaum eine Zeitung oder Fernsehdiskussion, kaum ein politisches Forum oder eine akademische Veranstaltung, die nicht mit aktuellen Stunden, Vortragsreihen und Tagungen zum europäischen Rechtspopulismus oder zum US -amerikanischen Trumpismus aufwartet. Angetrieben durch die abgehängten Schichten aus den alten Industrien des Westens, angeheizt durch Ängste vor neuen Migrationsströmen, der EU-, Banken- oder Finanzkrise, unterstützt durch die postfaktischen Echoräume der sozialen Medien entstehen populistische Politikformen: nativistisch und antipluralistisch, ausgerichtet gegen die etablierten Eliten, gegen repräsentativ-parlamentarisch und parteipolitisch verfasste Institutionen der liberalen Demokratie. Regelmäßig parallelisieren Journalisten die gegenwärtige Krise der Demokratie mit der Zwischenkriegszeit und dem Aufstieg des Faschismus. Ebenso regelmäßig melden sich daraufhin Historiker in der Qualitätspresse Deutschlands, Englands oder den USA zu Wort und weisen die vorschnellen Gleichsetzungen und Dramatisierungen der Medienvertreter zurück. Das 2017 veröffentlichte Buch hätte also nicht aktueller und zeitgenauer erscheinen können: als ein Beitrag zur Versachlichung und Vertiefung der Mediendiskussion über den Zusammenhang von Populismus und Faschismus. Auch ist der Autor bestens für seine Aufgabe gerüstet, denn der an der New School in New York lehrende argentinische Historiker Federico Finchelstein hat sowohl zum historischen Faschismus in Italien und Argentinien eine vielbeachtete Studie vorgelegt (Transatlantic Fascism, 2010) als auch Bücher zur lateinamerikanischen Diktatur-

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geschichte publiziert (The Ideological Origins of the Dirty War, 2014). Interessant an seinem neusten Buch ist nun, dass er das Thema aus einer argentinischen Perspektive angeht. Schließlich war es ja doch der ehemalige Faschist Juan Perón, der in den 1950er Jahren eine populistische Bewegung gründete, die alsbald in vielen lateinamerikanischen Ländern in ähnlichen Formen nachempfunden wurde. Diese genuin historische und genealogische Perspektive ist an sich schon verdienstvoll, denn die vornehmlich politologische Literatur zum Populismus, angefangen bei Cas Muddes wichtigen Arbeiten bis hin zum viel rezipierten Buch von Jan-Werner Müller ist oft ahistorisch und kreist immer wieder um die Definitionsfrage. Oft konzentriert sich die empirische Aufmerksamkeit der Politologen auf die Gegenwart, zuweilen zurückgreifend bis in die 1970er Jahre, um die angeblich ganz neuen, »dünnen« Ideologien des Populismus, seine fluiden Organisationsstrukturen, seine Rhetorik und Ästhetik, die massiven Wählerbewegungen der letzten Jahre und die Folgen für das gegenwärtige politische System und die Demokratie in Europa zu analysieren. Was Finchelstein durch seine primär argentinische Perspektive auf den Peronismus herausstellt, sind die Abgrenzungen zwischen einem primär demokratisch auftretenden Populismus einerseits und einem vornehmlich gewalthaften Faschismus andererseits. Indem er auf den durch und durch gewaltgeladenen Charakter des Faschismus hinweist, markiert er diesen als eine zwar mit populistischen Elementen versehene politische Bewegung, die aber von der »populist reformulation of fascism« klar abgegrenzt werden kann. Auch der Militärdiktatur des argentinischen Peronismus waren faschistische Elemente wie etwa der Staatinterventionismus zu eigen: »Perón went further than the fascists and

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nacionalistas in his economic nationalism by nationalizing the Argentine central bank, gas, telephone and railroads« (The Ideological Origins of the Dirty War, S. 71). Die typisch lateinamerikanische Variante eines primär nationalistisch-sozialpolitischen Populismus, welcher als Massenpolitik für die Arbeiter des Landes ausgegeben wurde, verband sich auch hier mit repressiven Elementen: von der umfassenden Nutzung der Gefängnisse, der Folter und der Verfolgung Oppositioneller über die Zensur der Presse bis hin zum Klientelismus und dem Aufbau einer Einheitspartei. Dennoch fehlten diesem polizeistaatlichen Autoritarismus die typisch »völkisch«-nationalen Elemente des Faschismus, und er war weit entfernt von der rassistischen Vernichtungspolitik, die dem Faschismus in seinen radikalsten Endstadien zukam. Verdienstvoll an Finchelsteins Studie ist der intensive Einbezug der lateinamerikanischen Traditionen, welche in der gegenwärtigen europäischen (und auch in der US -amerikanischen) Debatte viel zu wenig Berücksichtigung finden. Schließlich erlebte der Populismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seit den 1950er Jahren gerade in Lateinamerika eine umfassende Hochphase. Gleichwohl stellt diese Perspektivierung (»modern populism was born out of fascism«) auch eine Begrenzung dar. Den Rechtspopulismus als eine modernisierte Variante des Faschismus darzustellen, greift dann doch zu kurz. Schließlich erlebte der moderne Populismus schon weit vor dem Faschismus, nämlich in den 1890er Jahren in Rußland mit den Narodniki und in den USA mit der »People’s Party«, seine erste Hochphase. Deren ländlich und antiintellektuell ausgerichteter Populismus, der in den USA mit ihrer autochthonen »heartland«-Politik des »real american« gegen das Wall-Street-Establishment und die politische Elite in Washington agitierte, lässt sich natürlich nicht als Produkt des Faschismus

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begreifen. Insofern überzeugt Finchelsteins Engführung nicht, der im Buch überdies weder den Begriff des »Populismus« noch den des »Faschismus« genau definiert. Zudem darf man fragen, ob wirklich jede Form des Populismus demokratisch eingestellt ist, verwandeln sich derzeit doch die Regime in Polen, Ungarn und vor allem in der Türkei in autokratische Systeme, die nur noch auf eine Akklamation durch die Massen verweisen und zugleich die zentralen Institutionen der liberalen Demokratie vom rechtsstaatlichen Gerichtswesen bis hin zur freien Presse systematisch zerstören. Sven Reichardt, Konstanz

Regina Fritz / Eva Kovács / Béla Ráski (Hg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Before the Holocaust Had Its Name. Zur frühen Aufarbeitung des NS Massenmordes an den Juden (= Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien, Bd. 2), New Academic Press, Wien 2016, 458 S., 32 Euro Noch bevor der Judenmord als »Holocaust« oder »Shoa« in die Geschichtsschreibung einging, hatten Überlebende in 14 europäischen Ländern bereits Historische Kommissionen gegründet, die Interviews führten, Fragebögen ausfüllen ließen, Fotos und Dokumente zum Geschehen sammelten. Und deren Mitarbeiter waren nicht allein, denn vielerorts bemühten sich vor allem Juden darum, Zeugnisse zusammenzutragen. So formulieren die Herausgeberinnen und Herausgeber des Sammelbandes zu Recht den Anspruch, die These, die Beschäftigung mit dem Holocaust habe erst in den 1960er Jahren begonnen, als Mythos zu entlarven. Sie präsentieren ein breites Spektrum historischer, kultureller und politischer Initiativen, die, oft schon lange vor Kriegsende gegründet, bis in die

1950er Jahre arbeiteten. Weiter fragen die Herausgeberinnen und Herausgeber, warum diese Ansätze weitgehend in Vergessenheit gerieten, ein Phänomen, das sie für Ost und West gleichermaßen konstatieren. Die 24 Beiträge, davon elf in englischer Sprache, gehen auf eine Tagung zurück, die das Wiener Wiesenthal Institut 2012 organisiert hatte. Sie befassen sich mit den frühen Bemühungen um das Dokumentieren und Verstehen, Erzählen und Beschreiben, der Repräsentation, der literarischen Reflexion des Geschehens und des Umgangs mit der Schuldfrage. Unter den vielen lesenswerten Beiträgen kann hier nur auf einige eingegangen werden: Laura Jokusch, die in ihrer Doktorarbeit (Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe, New York 2012) die Geschichte der Historischen Kommissionen in fünf Ländern ausgewertet hat, konzentriert sich hier auf Frankreich, Polen und Deutschland. Vergleichend skizziert sie die Entstehung, dieser »khurbn-forshung« (»Khurb[a]n« = »Vernichtung / Verwüstung«), Motivation und Ziele der Begründer, ihre Forschungsmethoden sowie die sozialen und politischen Bedingungen, unter denen sie arbeiteten. Während in Frankreich bereits im April 1943 eine Bestandsaufnahme begann, startete die Arbeit in Polen Ende 1944 und in Deutschland bei Kriegsende in den DPCamps. Unter den Beteiligten befanden sich Léon Poliakow, Isaak Trunk oder Philipp Friedman, die meisten jedoch waren unbekannte Laienforscher. Ihre Sammlungen sollten nicht nur das Geschehen dokumentieren, sondern zudem die Grundlage für materielle Entschädigungen bieten und in Frankreich und Polen auch dazu beitragen, die Juden wieder ins nationale Narrativ einzugliedern, als Teil der Bevölkerung, als Widerstandskämpfer, als Opfer. Doch damit scheiterten sie. Solche Hoffnung hegten die in den DP-Camps bei München auf

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die Weiterreise Wartenden gar nicht erst: Ihre Sammlungen wurden in 50 Kisten nach Palästina / Israel verschickt und bildeten später den Grundstock des Archivmaterials der Gedenkstätte Yad Vashem. Doch, so Jokusch, solange die Holocaustgeschichte von der Täterseite her geschrieben worden sei, hätten Dokumente aus jüdischer Perspektive wenig Beachtung gefunden, und die im Kalten Krieg übliche allgemeine Darstellung totalitärer Opfer habe die Sicht auf die jüdischen verstellt. Ähnlich frühzeitig formierten sich diejenigen, die die Zerstörung jüdischer Kulturgüter dokumentieren wollten. Elisabeth Gallas widmet sich der US -amerikanischen Commission on European Jewish Cultural Reconstruction, die 1944 unter Leitung von Salo Baron entstand und in der auch Hannah Arendt mitwirkte. Aus historischer Sicht bestand das größte Verdienst dieser Kommission darin, eine umfangreiche Liste »Jewish Cultural Treasures« zu erstellen, die die privaten und institutionellen Sammlungen von Büchern, Archivalien, Kultgegenständen etc. in diversen europäischen Ländern auf dem Stand der 1930er Jahre umfasste, also vor der deutschen Besetzung. Die Aufstellung beziehungsweise ihre Nachfolger bereiteten nicht nur Restitutionsforderungen vor, sondern bieten auch einen einzigartigen Überblick über die reichhaltige jüdische Kultur. Andreas Kranebitter geht der Entstehung des »Buchenwaldreports« nach, auf dessen Grundlage Eugen Kogon später (als Auftragsarbeit der US -Besatzungsmacht) sein Werk Der SS -Staat schrieb. Unter Leitung des deutsch-jüdischen Emigranten Albert G. Rosenberg hatte die US -Armee in der Psychological Warfare Division (PWD) im Camp Sharpe die »Genieeinheit« (S. 68) geschult: die künftigen militärischen Sozialforscher, die im besetzten Deutschland in Buchenwald mit der Unterstützung kommunistischer Ex-Häftlinge umfangreiche Be-

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fragungen durchführten. Die zehn Männer unter Kogons Leitung trugen insbesondere Informationen zur internen Lagerstruktur und der Häftlingsgesellschaft zusammen. Dass der Report dann in der Schublade verschwand, führt Kranebitter darauf zurück, dass die PWD sich auf den Kalten Krieg einstellte und ihre Zielsetzungen entsprechend verschob. Andere Beiträge untersuchen den inneramerikanischen Umgang mit dem Holocaust, etwa S. Jonathan Wiesens Studie zur afroamerikanischen Nachkriegspresse oder Hasia Diners Aufsatz zur Kommunikation amerikanischer Juden über das Geschehen. Wieder andere gehen den Biografien der Akteure wie Philipp Friedman (Natalia Aleksiun) oder H. G. Adler (Ulrike Vordermark) nach. Auch zur Geschichtsschreibung in Polen, der Sowjetunion und Frankreich finden sich erhellende Beiträge. Herauszuheben ist der Text von Katherine Lebow, die Halina Krahelskas WarschauChronik (1940-1943) vorstellt. Die nichtjüdische Chronistin gibt, unterstützt von unterschiedlichen Informanten, einen minutiösen Einblick in das Verhältnis von polnischen Juden und Polen während der Kriegsjahre. Sie skizziert die unterschiedlichen Spielarten des polnischen und deutschen Antisemitismus und registriert, wie sich moralische Skrupel vieler Polen angesichts der Kollaboration, des Raubs jüdischen Eigentums und der Möglichkeit, dabei zu profitieren, schnell verflüchtigten. Auf die vielen lesenswerten Aufsätze, die sich mit frühen Ausstellungen, Denkmälern, literarischen Verarbeitungen befassen, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Einzig das der Schuldfrage gewidmete Kapitel scheint ein wenig zusammengewürfelt, und auch die Einleitung bietet hier keine inhaltliche Klammer. Doch insgesamt öffnet der Sammelband den Blick auf ein facettenreiches Bild der frühen Holocaustaufarbeitung, und fast jeder Bei-

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trag beantwortet auch die Frage, warum diese Bemühungen in Vergessenheit geraten sind. Insofern erfüllen die Herausgeberinnen und Herausgeber ihren eingangs formulierten Anspruch, und das auch noch auf gesättigter empirischer Basis. Beate Meyer, Hamburg

Wolfgang Benz / Brigitte Mihok (Hg.), »Juden unerwünscht«. Anfeindungen und Ausschreitungen nach dem Holocaust, Metropol, Berlin 2016, 235 S., 19 Euro Der Vorstellung einer »Stunde null« wird in der historischen Forschung seit Langem widersprochen, und mit Blick auf die Geschichte jüdischer Überlebender nach dem Zweiten Weltkrieg wird deutlich, welche existenzielle Bedeutung der Mai 1945 für das Leben einzelner Menschen hatte. Damals waren das NS -Regime zwar zerschlagen, der militärische Konflikt beendet und die Konzentrationslager befreit worden, doch noch immer fanden sich ehemals Verfolgte mit Feindseligkeiten konfrontiert und verbaler sowie physischer Gewalt ausgesetzt. Der von Wolfgang Benz und Brigitte Mihok herausgegebene Band, der die Beiträge einer Tagung dokumentiert, untersucht Strukturen, Akteure und Räume antisemitischer Angriffe sowie die Erfahrungen der Betroffenen. Die Beiträge behandeln nicht nur das Gebiet des von den Alliierten besetzten Deutschland und der Bundesrepublik, sondern informieren auch über die Situation in Osteuropa sowie in Frankreich und Österreich. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den unmittelbaren Nachkriegsjahren und reicht bis Anfang der 1950er Jahre. Es handelt sich also um eine Zeit, in der in vielen Ländern Not und Mangel herrschten, Kriegsfolgen bearbeitet werden mussten und sich vielerorts politische Herrschaft neu formierte. Im Vordergrund stehen ge-

walttätige Anfeindungen wie die Pogrome in Kielce und Kunmadaras 1946. László Csősz verdeutlicht, dass letzteres in einer Reihe mit anderen judenfeindlichen Gewalttaten gesehen werden muss: Er zählt in Ungarn zwischen 1945 und 1948 insgesamt 250 Vorfälle, die von Mord, Misshandlungen über Friedhofsschändungen bis zum Raub reichten. Auch antisemitisches Denken findet Erwähnung, beispielsweise im Beitrag von Juliane Wetzel, die sehr plastisch die Vorurteile und Anfeindungen, denen sich jüdische Überlebende im München der Nachkriegszeit ausgesetzt sahen, schildert. Polizeiberichte nutzten Begriffe wie »Parasiten« und »arbeitsscheue Elemente«, wenn sie über den Schwarzmarkt in der Möhlstraße sprachen. Sehr viel öffentlicher war jedoch der Abdruck eines tief antisemitischen Leserbriefs in der Süddeutschen Zeitung, der die Vernichtung jüdischen Lebens im Nationalsozialismus guthieß. Die darauffolgenden Demonstrationen in der Möhlstraße, die ein Zentrum jüdischer Displaced Persons in der bayerischen Landeshauptstadt war, beantwortete die Polizei mit neuerlicher Gewalt. Fast alle Beiträge beantworten die klassische geschichtswissenschaftliche Frage nach den Ursachen. Die Mangelsituation nach dem Krieg, die sich durch Inflation und Dürren mancherorts besonders zuspitzte, schuf einen Nährboden für antisemitisches Denken und Handeln. Manche Beiträge heben auch die radikalisierende Wirkung der alltäglichen Gewalterfahrung im Krieg hervor. Gerade hier, aber auch im Bezug auf andere Aspekte, scheint die Idee eines diachronen Vergleichs mit der Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg, die jüngst wieder verstärkt das Interesse von Historikerinnen und Historikern geweckt hat und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Brutalisierungsthese George L. Mosses führte, für zukünftige Forschungen weiterführend. Wichtige Einsichten gelingen den Autorin-

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nen und Autoren vor allem dort, wo sie die Bedeutung politischer Konflikte thematisieren. In Rumänien – das arbeitet Zoltán Tibori-Szabó heraus – verdächtigte die Mehrheit der Bevölkerung die Juden, sie seien Unterstützer der kommunistischen Machthaber. Letztere allerdings gingen mit repressiven Maßnahmen gegen zionistische Vereinigungen und jüdische Schulen vor, was schließlich zu einer Emigrationswelle zwischen 1950 und 1952 führte, die sie ironischerweise wiederum als »rote Alijah« ausgaben, deren angebliches Ziel es sei, kommunistisches Denken zu verbreiten. Deutlich wird außerdem, dass Anfeindungen und Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg Logiken folgten, die sich durch die Entwicklungen und Verhältnisse im Krieg ausgebildet hatten. Der Beitrag von Michala Lônčíková betont, dass der Antisemitismus in der Slowakei, dessen Wurzeln weit zurückreichten, besonders seit 1939 als machtpolitisches Instrument ausgeformt wurde, als das Land sich formal eigenständig erklärte, aber faktisch als Satellitenstaat NS Deutschlands existierte. Antisemitismus und judenfeindliche Politik begleiteten die innere Staatsbildung, die viele Slowaken als Zeit großer sozialer Aufstiegsmobilität erlebten, was wiederum wesentlich durch die »Arisierung« jüdischen Eigentums bedingt war. Die Rückerstattung von Eigentum nach dem Ende des Krieges geriet hier folglich zu einer Hauptarena von Anfeindungen. Wie die Entwicklungen vor 1945 Ausrichtung und Intensität antisemitischen Denkens und Handelns beeinflussten, lässt sich besonders gut am Fallbeispiel Frankreich studieren. Björn Weigel argumentiert, dass die antisemitischen Kreise nach dem Ende der deutschen Besatzung und Vichys deutlich geschwächt wurden, da sich ihre Mitglieder in den Augen vieler Franzosen oftmals als Kollaborateure diskreditiert hat-

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ten. Judenfeindliche Haltungen gab es dennoch weiterhin, doch auch diese waren durch die Erfahrungen der letzten Jahre geformt worden: Frankreich – so hieß es – müsse für die deutschen Verbrechen einstehen. Gewalttaten, verbale Angriffe, aber auch rechtliche Schwierigkeiten, die die Rückkehrer in fast jedem der behandelten Länder erwarteten, weckten oder verstärkten den bei vielen Juden ohnehin schon vorhandenen Wunsch auszuwandern. Selbst Idealisten wie die Mitglieder des Free Austrian Movement, die ihr Österreich mit den Nazi-Gegnern im Land aufbauen wollten, erlebten eine herbe Enttäuschung. Eine besondere Rolle wurde ihnen, entgegen ihren Erwartungen, nicht zugestanden. Im Gegenteil: Die Staatsbürgerschaftsrechtsreform vom Juli 1945 machte es vielen schwer, überhaupt wieder Österreicher zu werden, und ohne Rückerstattungsgesetze konnten viele keine neue Existenz aufbauen, zumal in der Bevölkerung, die von ihrem eigenen Opferstatus überzeugt war, kaum Verständnis für die Opfer der NS -Judenverfolgung herrschte. Vereinzelt ziehen die Beiträge Querverbindungen oder Vergleiche, was sich durch die sehr ähnlichen Fragestellungen, die jeweils in unterschiedlichen Länderkontexten bearbeitet werden, auch anbietet. Viele der Autorinnen und Autoren gehen beispielsweise auf die wichtige Funktion der United Nations Relief and Rehabilitation Administration und der Überlebendenorganisation des American Jewish Joint Distribution Commitee ein. So betont Wolfgang Benz in seinem Artikel, dass diese zu den wenigen stets verlässlichen Hilfsgebern gehörten. Sie unterstützten Juden in West-, Mittel- sowie Osteuropa konkret und unter Einsatz beträchtlicher Mittel, beispielsweise, indem sie 1948 Schiffe und Flugzeuge für die Überfahrt der großen Flüchtlingsgruppe von Shanghai nach Chile beschafften.

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Um solche Beobachtungen systematisch auf einander beziehen und die Bedingungen judenfeindlicher Haltungen und Taten näher bestimmen zu können, hätte dem Band eine Zusammenfassung der Ergebnisse in Form einer Einleitung oder eines Fazits gut getan. Die empirisch reichhaltigen Beiträge ergeben jedenfalls ein Gesamtbild, das jede Leserin und jeder Leser für sich selbst ausformulieren kann. Nicole Kramer, Frankfurt am Main

Jan Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft, Wallstein, Göttingen 2016, 332 S., 29,90 Euro Es ist ein scheinbares Paradox, dass seit nunmehr weit über 30 Jahren das Ende der Zeitzeugenschaft als Menetekel der Erinnerung an den Holocaust angstvoll beschworen wird, während zugleich eben jene Zeitzeugenschaft erst zu ungeahnter und zuvor nie erreichter Blüte kam. Diese Parallelität macht Jan Taubitz zum Ausgangspunkt seiner hoch informativen Studie über die seit 1978 /79 entstandenen großen Sammlungen videografierter Zeugnisberichte. Zwischen 1979 und 1999 entstand die weit überwiegende Mehrheit der in den USA insgesamt archivierten rund 80.000 Interviews. Die Institutionalisierung und Medialisierung dieser Holocaust Oral Histories ist Taubitz’ Ziel, bei dem er sich auf die Erinnerungskultur in den USA beschränkt. Letzteres scheint plausibel, waren und sind es doch vor allem dortige Einrichtungen, die auf diesem Feld aktiv sind. Taubitz ist an einer Historisierung der Videozeugnisse gelegen, die er in ihrer »historischen Kontextgebundenheit erfasst« (S. 22). In den drei großen Abschnitten Historisierung, Institutionalisierung und Medialisierung geht er der Frage nach, »warum die Interviews an einem bestimmten Ort zu einer be-

stimmten Zeit in einer bestimmten Form entstanden sind und eine so enorme Bedeutung für die Erinnerungskultur entfalten konnten« (S. 286). Im ersten Teil skizziert er die Entwicklung der Holocaust Oral History, wozu nach seiner Definition ausschließlich die »mittels technischer Hilfsmittel aufgenommene[n] Gespräche mit Zeitzeugen des Holocaust« (S. 55) zählen. Die frühesten Dokumente, die unter diese Definition fallen, waren die inzwischen publizierten Interviews, die David Boder 1946 mit Überlebenden führte und aufzeichnete. Danach gab es 25 Jahre lang keinerlei ähnlich gelagerte Initiativen mehr. Eine Wende bahnte sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre an. Die Geiselnahme in München 1972 und die Gefährdung Israels im Jom-Kippur-Krieg 1973 hatten eine starke Hinwendung zur Erinnerung an den Holocaust zur Folge. Der Siegeszug von Videokamera und -rekorder parallel dazu schuf auf technischem Gebiet die notwendigen Voraussetzungen für eine breite Produktion und Archivierung von Videozeugnissen. Als Katalysatoren wirkten dann jedoch zwei Filme, die die Erinnerungskultur umwälzten. 1978 wurde die Serie Holocaust ausgestrahlt, in deren Folge, so Taubitz, das Zeitalter der Zeitzeugen begann und das Fortunoff Video Archive, auch in direkter Reaktion auf die Serie, mit seiner Arbeit begann. Begleitet wurde dies von mahnenden Beschwörungen des Endes eben dieser Zeitzeugenschaft. Videozeugnisse sollten dem etwas entgegensetzen. Rund 15 Jahre später waren es dann Steven Spielbergs »Schindlers Liste« und seine ins Leben gerufene Stiftung, die innerhalb kürzester Zeit 50.000 Videozeugnisse herstellte. Diese Entwicklung zeichnet Taubitz kenntnisreich nach und stützt sich dabei auf die Überlieferungen der beteiligten Institutionen. Bei allen Unterschieden der Institutionen, so sein interessanter Befund, weisen

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die Videozeugnisse hinsichtlich Kameraführung, Länge und der narrativen Modellierung frappierende Gemeinsamkeiten auf. Im dritten Teil seiner Studie nimmt Taubitz dies auf und untersucht wechselseitige Einflüsse zwischen fiktionalisierten Filmdarstellungen und Videozeugnissen. Holocaust war demnach nicht nur Ursache für die Entstehung der ersten großen Initiativen für die Produktion von Videozeugnissen, sondern ebnete ihnen den Weg und beeinflusste ihre narrative Modellierung. Holocaust habe für die Öffentlichkeit ebenso wie für die Überlebenden einen narrativen Rahmen geschaffen, die »das Ereignis sagbar machte« (S. 209). So weisen alle danach entstandenen Interviews eine ähnliche narrative Grundstruktur auf, die die Serie nicht erfunden, aber doch in die Breite getragen habe. Am Anfang der Videozeugnisse steht die glückliche Vorkriegszeit, dann folgt der Untergang der eigenen Familie, schließlich die Befreiung und Emigration. Videointerviews, die vor 1978 angefertigt wurden, weisen oft eine andere Struktur auf, indem sie beispielsweise direkt mit dem Holocaust einsetzten und der Ankunft und Integration in den USA sehr viel mehr Raum widmeten. In der gleichen Grundstruktur sieht Taubitz nicht nur eine zufällige Korrelation, sondern »einen kausalen Zusammenhang« (S. 238). Dass die Videozeugnisse den in den jeweiligen Institutionen massiv vorgegebenen Konventionen und inter- beziehungsweise transmedialen Einflüssen unterworfen sind, ändert aber nichts daran, dass es »faszinierende Zeugnisse« sind. Ziel sei es gewesen, sie in ihrem historischen und medialen Kontext zu untersuchen und einer »Protosakralisierung« (S. 286) entgegenzuwirken. Die Sorge vor einem Ende der Zeitzeugenschaft, die sich Ende der 1970er Jahre zu artikulieren begann und die die Initiativen zur Aufzeichnung von Videointerviews erheblich motiviert hat, leitete somit das

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»Zeitalter der Zeitzeugen« ein, in dem die Videozeugnisse (vor allem in den USA) eine große Rolle spielen. Ob die vielfach mit dem Ende der Zeitzeugenschaft verbundenen befürchteten Gefahren abgewendet werden können, bleibt offen. Was Taubitz am Ende hierzu schreibt, gilt gleichermaßen auch für all die schriftlichen Zeugnisse und literarischen Werke: »Möglicherweise wird sich herausstellen, dass die Interviews ihre Wirkung nur in dem Wissen um die Existenz noch lebender Zeitzeugen, die noch in persönlicher Interaktion ausgefragt werden können, entfalten. In der Retrospektive würde dies die Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen der Ära und des Endes der Zeitzeugenschaft erklären« (S. 292 f.). Taubitz hat mit seiner Arbeit eine wichtige Grundlagenarbeit geleistet, der, so steht zu hoffen, weitere Studien folgen, die den Blick auf andere Regionen und Länder richten oder die Perspektive transmedial erweitern, indem sie zum Beispiel schriftliche Zeugnisse vergleichend heranziehen. Markus Roth, Gießen

Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Karriere, Siedler, München 2017, 912 S., 40 Euro Henry T. King Jr. kam im Frühjahr 1946 nach Nürnberg, um die Anklage bei den sogenannten Nachfolgeprozessen zu unterstützen, zuallererst im Fall gegen Erhard Milch, den früheren Generalfeldmarschall der Luftwaffe und Staatssekretär im Reichsluftfahrtministerium. King verlor jedoch bald das Interesse an Milch, nicht allein, weil der Fall ziemlich schnell geklärt war, sondern vor allem, da Milchs Habitus eines preußischen Generals ihn zutiefst befremdete. Stattdessen entdeckte King seine Faszination für einen Zeugen, der selbst im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

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zu 20 Jahren Haft verurteilt worden war, Albert Speer. Diese Faszination ließ King nicht mehr los, bis er Speer kurz vor dessen Tod 1981 besucht und sich schließlich seine Gefühle für den Architekten und Rüstungsminister Adolf Hitlers von der Seele geschrieben hatte. In seiner Biografie über Albert Speer entdeckte King, dass seine Faszination sich vor allem aus zwei Quellen gespeist hatte: Anders als die Braunhemden und Grauröcke, die Julius Streicher und Wilhelm Keitel, gegen die sonst in Nürnberg verhandelt wurde, hätte sich Speer, ohne Aufsehen zu erregen, in die amerikanische Mittelklassengesellschaft einfügen können, vor allem habe er ihm aber in Nürnberg 1946 ein »Fenster zur Seele Adolf Hitlers« eröffnet. Erst durch Speer habe er den Nationalsozialismus verstanden, behauptete King. Magnus Brechtken engt seine Erklärung der Faszination für Albert Speer von Beginn an auf den ersten Teil der Begründung von King ein. Speers »zweite Karriere«, sein publizistischer Erfolg und sein Aufstieg zum »Kronzeugen« des NS -Regimes seien entstanden, weil er für Millionen von deutschen Bürgern ein Rollenvorbild gezeichnet habe, mit dem sie sich identifizieren und ihr eigenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus erklären konnten. Anders auch als Isabel Trommer, die in ihrer kürzlich erschienen Arbeit über den Erfolg Speers in der Nachkriegszeit ein halbes Dutzend Diskurse neben dem des verführten Bürgers ausmacht, die Speer mit seiner Nachkriegspublizistik bediente, bleibt Brechtken bei dieser einen Dimension, dem Identifikationsangebot an den »bürgerlichen Deutschen, der bewusst zum Nationalsozialisten wurde und nach 1945 nicht den Willen und die Einsicht hatte, sich über seine Taten eine ehrliche Rechenschaft zu geben« (S. 14). Dafür gibt es zwei Gründe: Brechtken richtet sich erstens gegen die Männer, die Speers Popularität als Kronzeuge des Natio-

nalsozialismus in der Bundesrepublik begründeten: seinen Verleger Wolf Jobst Siedler und seinen Lektor Joachim C. Fest, der Speer lange nach dessen Tod eine Biografie unter dem Thema des »verführten Bürgers« widmete. Zweitens kann Brechtken darauf verzichten, die Diskurse und Gruppen näher zu differenzieren, die Speer mit seinen Lügen bediente, da er zunächst einmal nachweisen will, dass Speer überhaupt »durch und durch verlogen« (S. 12) war. Diesen Nachweis führt Brechtken in atemberaubender Weise. Er demontiert Speer so gründlich und gleichzeitig so elegant, dass ihm allein dadurch, soviel ist vorwegzunehmen, ein großer Wurf gelingt. Dabei führt Brechtken nicht allein die Erkenntnisse zusammen, mit denen andere Historiker, beginnend mit Karl-Heinz Ludwig, Erich Goldhagen und Matthias Schmidt, Zweifel an Speers Legenden gesät haben. Zwar streicht er gebührend die bahnbrechende Arbeit von Susanne Willems heraus, die 2002 die kausale Verbindung zwischen Speers Tätigkeit als Generalbauinspektor und der Ermordung der Berliner Juden ebenso belegte wie die Allianz Speers mit Heinrich Himmler bei der Errichtung der Konzentrationslager. Aber Brechtken erarbeitet seine Darstellung zu einem erheblichen Teil aus den Quellen. Die Erkenntnisse über die publizistische Tätigkeit Speers nach seiner Haftentlassung fußen auf dem schriftlichen Nachlass von Speer im Bundesarchiv, den Brechtken, parallel zu Isabel Trommer, erstmals ausgewertet hat, während die Bemühungen zur Freilassung Speers mit Dokumenten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes nachgezeichnet werden. Aber auch zur Geschichte Speers im nationalsozialistischen Deutschland, die als längst geklärt gilt, trägt er wichtige neue Erkenntnisse bei. Um die publizistischen Aktionen zu beschreiben, die Volksnähe und Tatkraft Speers während des Krieges überhöhen sollten,

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hat er bislang kaum bekannte zeitgenössische Magazine – »Der Frontarbeiter« – ausgewertet, während Speers Anstrengungen, sich durch seine Tätigkeit als Generalbauinspektor für die Neugestaltung der Reichshauptstadt ein Filetstück der Tiergartenbebauung zu sichern, aus Akten des Landesarchivs Berlin dargestellt wird. Die Entmietung des Doppelhauses Lichtensteinallee 3 und 3a in Berlin, die Brechtken im zweiten Teil (1933-1942) der weitgehend chronologisch aufgebauten Darstellung diskutiert, aber auch im Folgenden immer wieder aufgreift, ist ein Schlüssel zu seiner Deutung von Speers Leitmotiven. Aus Brechtkens Analyse tritt nicht nur Speers Verlogenheit hervor, sondern auch, dass er hauptsächlich von Habgier geleitet wurde. Die Erläuterung der Karrieresprünge im NS -Regime werden immer wieder mit Erörterungen ergänzt, welche Einnahmen Speer dadurch generieren konnte. Im fünften Teil über die Zeit zwischen 1966 und 1981 zieht Brechtken die Erkenntnisse über »Speer und Geld« noch einmal zusammen: Während er sich und seinen Stab als Generalbauinspektor nach Belieben aus den gewaltigen Summen alimentieren konnte, die für die Berliner Bauplanung bereitgestellt wurden, konnte er seinen Wohlstand nach der Haftentlassung durch Autorenhonorare und die Vergabe von Filmrechten auffrischen, nicht ohne bei Gelegenheit auch die Hand wieder auf den Ertrag aus der Vorkriegs- und Kriegszeit zu legen. Speers Weg im und durch das NS -Regime war wie alle anderen Schritte in seiner Karriere durch das Interesse markiert, so viel wie möglich für sich herauszuschlagen, ohne jemals moralische Bedenken zu zeigen, aber gleichzeitig Generosität und Bescheidenheit zur Schau zu stellen. Das ist das zweite Leitmotiv, das Brechtken herausarbeitet: Speer war seit je und nicht erst seit 1966 ein Meister darin, seine Habgier zu verschleiern und seine Leistungen zu überhöhen. Angefan-

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gen bei der Kündigung als Lehrstuhlassistent, die 1943 mit dem Bedürfnis erklärt wurde, sich der nationalsozialistischen Bewegung ganz zur Verfügung zu stellen, obwohl sie auf eine Gehaltskürzung in der Weltwirtschaftskrise zurückging, achtete Speer peinlich darauf, welches Bild von ihm gezeichnet wurde. Mit dem Propagandaministerium war vereinbart, dass einschlägige Berichte von Speer genehmigt werden mussten, für die fotografische Inszenierung Speers sorgte Walter Frentz, ein Studienfreund, den er als Kameramann Hitler empfahl, während ihn mit Leni Riefenstahl eine ähnliche Seilschaft verband. Ihr großangelegter Film über Speer, das »Wort aus Stein«, blieb Fragment. Brechtkens Biografie unterscheidet sich von ihren Vorgängern dadurch, dass die Erzählung über Speers Karriere im NS -Deutschland, die die ersten knapp 300 Seiten einnimmt, Speers Leitmotive herausstreicht und eine Art Vergewisserung über die gesicherten Fakten darstellt. Den Kern des Buches bildet die zweite Karriere, die in Nürnberg begann, mit den Bemühungen um Speers Freilassung in den 1950er Jahren Fahrt aufnahm, ehe Speer seit 1966 wieder persönlich eingreifen konnte. Während alle älteren Interpreten durch die Biografie Speers das nationalsozialistische Deutschland erklären wollten, will Brechtken durch Speer die Gesellschaft der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren und ihren Umgang mit der NS -Vergangenheit aufhellen. Das erzählerische Gerüst bildet die sehr dichte Schilderung, wie die beiden wichtigsten Bücher, die »Erinnerungen« und die »Spandauer Tagebücher« unter der Ägide Siedlers und Fests entstanden und wie sie rezipiert wurden. Aber Brechtken untersucht auch die zahlreichen Medienauftritte und Interviews, mit denen Speer agierte – namentlich das für den amerikanischen Markt bestimmte Interview mit dem »Playboy« – um sich erneut ins rechte Licht zu setzen.

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Dabei spielte die argumentative Figur, die Speer schon in Nürnberg entwickelt hatte, Verantwortung zu übernehmen, aber Schuld nicht einzugestehen, die zentrale Rolle. Siedler und Fest drängten Speer besonders, auf die nationalsozialistischen Verbrechen einzugehen, um diese Figur weiter auszuschmücken. Wenn Speer in Prozessen gegen NS -Verbrecher aussagte, wurde die ganze Absurdität dieses Verfahrens sichtbar: Der ehemalige Rüstungsminister, der in der NS -Hierarchie weit über den Angeklagten gestanden hatte, demonstrierte bei diesen Gelegenheiten erst recht seine Distanz zu den Verbrechen. Das alles konnte seinen Lesern als Rollenvorbild dienen, wie Brechtken immer wieder betont, aber diese waren in den späten 1960er Jahren sicher nicht nur Bürger, die mit ihrer eigenen Vergangenheit umgehen wollten. Brechtken geht etwas daran vorbei, dass Speer mit seinen Büchern und Interviews wiederum das tat, was Henry T. King so hingerissen hatte: Er öffnete seinen Lesern, nun mit tatkräftiger Hilfe von Siedler, Fest und anderen, ein Fenster in die Seele Hitlers: Seine Bücher enthielten, wenn auch nicht widerspruchsfrei, so doch eine Geschichte, die auch denen, die ihre Kindheit in Ruinen und Vertriebenenlagern, ohne Väter oder mit traumatisierten Eltern verbracht hatten, eine Erklärung bot, warum das alles so gekommen war, vor allem, warum der Krieg nicht eher, mit einem möglicherweise glimpflicheren Ende, beendet worden war. Neben der Behauptung, er habe von der Ermordung der Juden nichts gewusst, spielten sein Widerstand gegen den sogenannten Nero-Befehl und das angeblich geplante Attentat auf Hitler – jene Legende, die Matthias Schmidt 1981 als erster widerlegte – eine zentrale Rolle in dem Lügengebäude Albert Speers: Erst im März 1945 war jeder Widerstand zwecklos geworden und erst dann wurde ihm klar, dass er »unter Mördern gelebt« hatte (S. 405).

Das führt zu der »erfolgreichste[n] und einer der zählebigsten Legenden« von Speer (S. 205), dem sogenannten Rüstungswunder. Brechtken tut die Bedeutung, die es für Speers Leser hatte, ein wenig ab: Speers Selbstbeschreibung als Rüstungsminister habe die Möglichkeit für »Gedankenspiele« und die Erfindung von »›Was-wärewenn?‹-Geschichten« geboten (S. 403). In Wahrheit suggerierte Speer mit der Betonung der Inkompetenz der anderen Mitglieder der NS -Elite, dass die deutsche Rüstung und damit der Krieg eine andere Wendung genommen hätten, wenn er früher auf den Posten gekommen wäre, den er seit 1942 einnahm, wenn er früher die ganze deutsche Kriegswirtschaft unter sein Kommando bekommen hätte und nicht erst 1944. Das Wunder der deutschen Rüstung, das Speer während des Krieges erfunden hatte, um seine Konkurrenten in der Kriegswirtschaft auszuschalten, wurde in den Erinnerungen zu einer historischen Alternative ausgeschmückt, die jeglicher Aufklärung über die verbrecherische Natur des Nationalsozialismus zuwiderlief: Wenn er, Speer, die in der deutschen Industrie, Technik und Wissenschaft schlummernden Reserven eher mobilisiert hätte, wäre der Krieg nicht verloren gegangen. Die »Zählebigkeit« des Rüstungswunders und der anderen Legenden Speers allerdings erklärt sich nicht allein durch ihre suggestive Wirkung, sondern dadurch, dass sie von den Historikern weitergetragen wurden. Es ist die einzige echte Schwäche des Buches von Brechtken, dass er mit dem Versagen der deutschen Historiker an Albert Speer allzu milde umgeht. Zwar stellt er in einem eigenen Kapitel fest, dass der Zeitzeuge Speer auch Historiker mit einer Mischung aus Schmeichelei und Liebenswürdigkeit umgarnte und kritische Stimmen im Zweifelsfall durch das Bündnis mit Siedler und Fest, aber auch mit anderen Historikern zum Schweigen zu bringen

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wusste. Seine Erklärung aber, die »Puzzlesteine« (S. 14) zur Entlarvung Speers, die in Gestalt von quellennah gearbeiteten Dissertationen bereitlagen, seien aus »Desinteresse« (S. 579) nicht aufgenommen worden, oder gar weil »Biographien« zeitweise als »Karrierehindernisse« (S. 547) galten, überzeugt nicht völlig. Dass Fest kein Historiker war, zeigt Brechtken an etlichen Beispielen. Dann ist aber trotz der berechtigten Kritik an Siedler und Fest festzuhalten, dass sie ihre Sache, gemessen an den Erfolgskriterien ihrer Berufe, doch recht gut erledigt haben. Umso fragwürdiger sind jene Historiker, die Speers Legenden gehütet haben. Aus Brechtkens Literaturverzeichnis geht deutlich hervor, dass Heinrich Schwendemann und Susanne Willems auf die Tagespresse angewiesen waren, um ihre Kritik an Speer sichtbar zu machen, was im Umkehrschluss nur heißen kann, dass ihnen der Weg in die Fachzeitschriften nicht leicht war. Erst die digitale Revolution schuf eine Möglichkeit, auch innerhalb der Geschichtswissenschaft kurzerhand eine Stimme gegen die SpeerApologetik zu erheben. Nachdem ich 1998 die »economies of learning« in die Debatte über die deutsche Kriegswirtschaft einge-

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führt hatte, dauerte es immer noch acht Jahre, ehe meine Schlussfolgerung, dass das Rüstungswunder in dem von Speer propagierten Sinn eine Fiktion war, rezipiert wurde. Brechtkens deutlich geführter Nachweis, dass die deutsche Geschichtswissenschaft auf Impulse von außen – Heinrich Breloers Speer und Er von 2005, aber auch Adam Toozes bahnbrechende Studie von 2006 – angewiesen war, um immerhin damit zu beginnen, sich in der Breite aus dem Albdruck von Speers Legenden zu befreien, weist den Weg für eine tiefere Diskussion des Problems, das Albert Speer der deutschen Geschichtswissenschaft stellt. Mindestens wird sie erhebliche Mühe aufwenden müssen, um einen Fehler zu korrigieren, den Brechtken gleich eingangs herausstreicht: »Ein substantieller Teil dessen, was im Laufe der Jahrzehnte über das Dritte Reich produziert wurde, ist von Speers Legenden durchwoben« (S. 13). Albert Speer, das ist die zentrale Lehre, die aus diesem großen Buch gezogen werden muss, sollte und wird die deutschen Historiker noch lange beschäftigen. Lutz Budrass, Bochum

Abkürzungen AP BAB DFG DNVP DP DRK

EheG EWZ GBA GLA GzVeN ITS KdF KG LWL MGFA NSV OKW OSAF PA AA PWD RAD RDA RFSS RGBl. RKF RMdJ RSHA RStGB RuS-Führer RuSHA SD Sipo SOE SPÖ SS -HStuf. SS -Staf. SS -Stubaf. SS -UStuf. StAM StAN UWZ VoMi WVHA ZStL

Archiwum Państwowe (Staatsarchiv) Bundesarchiv Berlin Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutschnationale Volkspartei Displaced Persons Deutsches Rotes Kreuz Ehegesetz Einwandererzentralstelle (des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD) Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz Generallandesarchiv Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses International Tracing Service Kraft durch Freude Kommanditgesellschaft Landschaftsverband Westfalen-Lippe Militärgeschichtliches Forschungsamt Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Oberkommando der Wehrmacht Oberster SA-Führer Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Psychological Warfare Division Reichsarbeitsdienst Reichsverband der Automobilindustrie Reichsführer-SS Reichsgesetzblatt Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums Reichsministerium der Justiz Reichssicherheitshauptamt Reichsstrafgesetzbuch SS-Führer im Rasse- und Siedlungswesen Rasse- und Siedlungshauptamt Sicherheitsdienst (des Reichsführers-SS) Sicherheitspolizei Special Operations Executive Sozialdemokratische Partei Österreichs SS-Hauptsturmführer SS-Standartenführer SS-Sturmbannführer SS-Untersturmführer Staatsarchiv München Staatsarchiv Nürnberg Umwandererzentralstelle (des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD) Volksdeutsche Mittelstelle Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (der SS) Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen

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Personenverzeichnis Historische Personen, deren Nachnamen zum Zweck der Anonymisierung abgekürzt wurden, finden sich unter ihren Vornamen.

Abel, Theodor 236 f. Adler, H. G. 270 Agneskirchner, Alice 206 Ali M. 105 Allen, Woody 205 Allmers, Robert 257 Anatol 152 Anna Maria A. 76 Anna S. 119 Arendt, Hannah 270 Baky, Josef von

39 Baron, Salo 270 Benario, Olga 252 f. Boder, David 273 Böhmermann, Jan 197 Bormann, Martin 92 f., 126 Buber-Neumann, Margarete 252 Buchberger, Hubert 76 Buchert, Dr. 155, 158

Dannecker, Theodor

80 Eichmann, Adolf 145, 149, 259, 262 Eidinger, Lars 197 f. Emma K. 152 Eva R. 80

Frank, Hans

205 Franz M. 78 Franz N. 106 Franziska G. 83

280

Ganzer, Karl Richard 19 Georg H. 84 Gercke, Achim 94 Gimbel, Albert 236 Globke, Hans 90 Goebbels, Joseph 29, 104, 239, 250 Gottschewski, Lydia 19 Gründgens, Gustav 32 Gürtner, Franz 93 Gunda R. 79 Gustloff, Wilhelm 243 Habicht, Theodor

259

d’Alquen, Gunter 249 d’Arc, Jeanne 40 f. Darré, Richard Walther 140, 247, 249 Dollfuß, Engelbert 239 Dorn, Adolf 148

Edith R.

Frentz, Walter 276 Freud, Sigmund 201, 209 Frick, Wilhelm 102 f. Friedman, Philipp 269 f. Friedrich F. 71-73 Friedrich R. 79 f. Froelich, Carl 27

38, 238-241 Haarer, Johanna 18, 25, 45-55, 57-63 Haenel, Adèle 197 Hatheyer, Heidemarie 32 Heitmann, Sabine 32 Henschel, Theo 146-148 Hentschel, Alfons 233 Herzsprung, Hannah 197 Heß, Rudolf 92, 234, 236 Heydrich, Reinhard 122, 126, 243 Himmler, Heinrich 126 137 f., 141, 143, 146, 150, 161, 249, 252, 257, 259, 262 f., 275 Hindenburg, Paul von 254 Hitler, Adolf 17, 29, 31, 43, 49, 51-53, 59-61, 96, 118, 133, 137, 141, 143, 153, 161, 231, 234 f., 250, 252, 254, 263 f., 275-277 Holst, Maria 32

personenverzeichnis

Höppner, Rolf-Heinz 144 f., 149 Hoppe, Marianne 32 Hoppe, Rolf 203 Höss, Rudolf 205 Horney, Brigitte 32

Luise F. 77 Luise, Königin 163

71 f. Inge S. 128 f.

Manteuffel, Hans von 232 Maria M. 78 Milch, Erhard 256, 274 Morgen, Konrad 261-265 Moser, Adolf 81 f.

Jakob A.

Neuberg, Carl

Ilse F.

75 Jalloh, Djenabu 204 Johann G. 83 Johann P. 73-75 Johanna S. 120 Josef G. 82 Junge, Traudl 260 Jungkunz, Otto 147, 149

Käutner, Helmut

32, 36

Karl D. 130 Karl W. 128 f. Karoline E. 81 f. Kaus, Gina 65 f. Keitel, Wilhelm 275 Kemalletin K. 104 f. Kerrl, Hanns 243 King, Henry T. Jr. 274 f., 277 Klemm, Jewgenia 253 Klemperer, Victor 90 Koch, Karl Otto 262 f. Koch, Lotte 32 Kogon, Eugen 270 Krahelska, Halina 270 Kraus, Chris 26, 197, 200, 202 f., 205, 207, 209 f. Krause, Elisabeth 148 Kurt M. 123

Laforce, Wilhelm

148 Levi, Primo 254 Liefers, Jan Josef 203 Loridan-Ivens, Marceline 204 Ludendorff, Erich 19 Ludendorff, Mathilde 19

245 Neuhaus, Agnes 23, 175-195 Neuhaus, Albert 23, 25, 175-195

Oskar K.

152 Ostermann, Willi 213-216, 218-227 Otto B. 128

Perón, Juan

268 Pfeffer von Salomon, Franz 231-235 Philipp F. 77 f. Piëch, Anton 255, 257 Planer, Assessor 76 Pohl, Oswald 127 Pomsel, Brunhilde 260 Porsche, Ferdinand 254-258 Porsche, Ferry 257 f. Porsche, Luise 255, 257 f.

Rabe, Karl

256 Rabenalt, Arthur Maria 36 Rainer, Friedrich 256 Ribbentrop, Joachim von 96 Riefenstahl, Leni 276 Rosa C. 130 Rosa G. 82 Rosenberg, Albert G. 270 Rosenberg, Alfred 17, 19, 239 Rosenberger, Adolf 256 f. Rudolf B. 123

Sachs, Ernst

259 Saur, Karl Otto 256 Schirach, Baldur von 205 Schlink, Bernhard 200 281

personenverzeichnis

Schöpke, Karl 150 f. Scholtz-Klink, Gertrud 34, 50 Schroeder, Christa 260 Schücking, Annette 22, 25, 155-163, 165174 Schücking, Engelbert 156 Schücking, Lothar 161 Schücking, Lothar Engelbert 156 f. Schücking, Louise 156 f. Schücking, Sibylle 156 f. Schultz, Bruno Kurt 139 f. Shakespeare, William 209 Siber, Paula 39, 43 Siebold, Martin 242 Slottke, Gertrud 260 Solmitz, Fredy 9 f. Solmitz, Luise 9 f. Speer, Albert 274-278 Spickschen, Erich 247-249 Springer, Isolde 213-216, 218-227 Stock, Leutnant 232 Streicher, Julius 275

282

Stuckart, Wilhelm 90, 239

Tamara

152 Therese P. 73-75 Trotta, Margarethe von 90

Ucicky, Gustav

40 Ullrich, Luise 39 Ulmanis, Karlis 232

Veil, Simone

204 Veronika K. 74

Waldemar

152 Walter E. 82 Walter K. 123 Wessel, Horst 242 Wieking, Friederike 260 Wilhelmine W. 120, 128

Zell, Julie

161 f., 166 f., 171 f.

Autorinnen und Autoren Gudrun Brockhaus, Dr. phil. Dipl. psych. et soz., ist Sozialpsychologin (bis 2007 an der Ludwigs-Maximilians-Universität München) und Psychotherapeutin in München. Forschungsschwerpunkte: Sozialpsychologie der NS -Zeit, NS -Nachgeschichte sowie aktuelle Themen der Politischen Psychologie. Veröffentlichungen u. a.: Hg., Attraktion der NS -Bewegung. Essen 2014; Der deutsche Herrenmensch – ein attraktives Angebot, in: Klaus Ring / Stefan Wunsch (Hg.), Bestimmung: Herrenmensch. NS -Ordensburgen zwischen Faszination und Verbrechen, Dresden 2016, S. 164-173; Der Krieg heilt alle Wunden – Zur Sozialpsychologie der nationalsozialistischen Weltkriegsmythen, in: Axel Weipert / Salvador Oberhaus / Detlev Nakath / Bernd Hüttner (Hg.), »Maschine zur Brutalisierung der Welt?« Der Erste Weltkrieg, Münster 2017, S. 113–128; Nicht unsere Geschichte. Anhaltende Überforderung durch die NS Vergangenheit, in: Psychotherapeut 63 (2018), S. 38-48. Annemone Christians, Dr. phil, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Gesellschafts- und Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Stadtgeschichte, Geschichte der europäischen Integration. Veröffentlichungen u. a.: Amtsgewalt und Volksgesundheit. Das öffentliche Gesundheitswesen im nationalsozialistischen München, Göttingen 2013; Privatrecht in der »Volksgemeinschaft«? Die Eigensphäre im nationalsozialistischen Rechtssystem, in: Detlef SchmiechenAckermann (Hg.), Der Ort der »Volksgemeinschaft« in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2017, S. 276-289. Hilary Earl, Prof. Dr., ist Professorin für Europäische Geschichte und Justizgeschichte an der Nipissing University in Canada. Forschungsschwerpunkte: NS -Geschichte, Täterforschung und Nachkriegsprozesse. Veröffentlichungen u. a.: The Nuremberg SS -Einsatzgruppen Trial, 1945-1958: Atrocity Law and History, New York 2009; Prosecuting Genocide before the Genocide Convention: Raphael Lemkin and the Nuremberg Trials, 1945-1949, in: Journal of Genocide Research 15 (2013), S. 317-338; Beweise, Zeugen, Narrative: Der Einsatzgruppen Prozess und seine Wirkung auf die historische Forschung zur Genese der Endlösung, in: Kim Christian Priemel / Alexa Stiller (Hg.), NMT. Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013, S. 127-157; Hg. mit Simone Gigliotti, WileyBlackwell Handbook on the Holocaust expected, erscheint 2019. Isabel Heinemann, Prof. Dr., ist Juniorprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster und Principal Investigator im SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens«. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialistische Rassen- und Besatzungspolitik, Zweiter Weltkrieg und Holocaust, Gender- und Wissensgeschichte, Gesellschaftsgeschichte der USA im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen u. a.: »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«: Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die natio283

autorinnen und autoren

nalsozialistische Rassenpolitik im besetzten Europa, 2 Aufl., Göttingen 2003 (auch auf Polnisch); Hg., Inventing the Modern American Family: Family Values and Social Change in 20th Century United States, Frankfurt a. M. 2012; Ökonomie der Ungleichheit: Unfreie Arbeit und Rassenideologie in der ethnischen Neuordnung Europas, 1939-1945, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), S. 302-322; Wert der Familie: Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin /Boston 2018. Dagmar Herzog, Prof. Dr., ist Distinguished Professor of History am Graduate Center der City University of New York. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismusund Holocauststudien, Religions- und Sexualitätsgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Die Politisierung der Lust: Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005; Sexuality in Europe: A Twentieth-Century History, Cambridge 2011; Paradoxien der sexuellen Liberalisierung, Göttingen 2013; Cold War Freud: Psychoanalysis in an Age of Catastrophes, Cambridge 2017; Lust und Verwundbarkeit: Zur Zeitgeschichte der Sexualität in Europa und den USA , Göttingen 2018; Unlearning Eugenics: Sexuality, Reproduction and Disability in Post-Nazi Europe, Madison 2018. Christian Ingrao, Dr. phil (PD) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut d’Histoire du Temps Présent in Paris. Forschungsschwerpunkte: NS -Täterforschung, Genozidforschung, Historische Anthropologie und Gewaltgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Les chasseurs noirs. Essai sur la Sondereinheit Dirlewanger, Paris 2006 (englisch 2011); Croire et détruire. Les intellectuels dans la machine de guerre SS, Paris 2010 (Hitlers Elite: Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords, Berlin 2012); La Promesse de l’Est. Espérance nazie et Génocide 1939-1943, Paris 2016. Bernd Kleinhans, Dr. phil, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd am Institut für Erziehungswissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Filmgeschichte, Geschichte des NS -Filmes, Filmdidaktik und Pädagogik im Nationalsozialismus. Veröffentlichungen u. a.: Ein Volk, ein Reich, ein Kino. Lichtspiel in der braunen Provinz, Köln 2003; Triumph der Unterhaltung. Ideologische Struktur und Präsenz des NS -Spielfilm nach 1945, in: Michael Klundt (Hg.), Heldenmythos und Opfertaumel, Köln 2004, S. 58-81; »Der schärfste Ersatz für die Wirklichkeit«. Die Geschichte der Kinowochenschau, St. Ingbert 2013; Erziehung zur Volksgemeinschaft. Der Jugendspielfilm im »Dritten Reich«, in: Werner Konitzer / David Palme (Hg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts), »Arbeit«, »Volk«, »Gemeinschaft«: Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus. Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2016, Frankfurt a. M./New York 2016 S. 225-40; Filme im Geschichtsunterricht. Formate, Methoden, Ziele, St. Ingbert 2016. Klaus Latzel, Dr. phil, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaft der TU Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Zeitgeschichte, Krieg und Revolution im 20. Jahrhundert, Theorien und Methoden der Geschichtswissen284

autorinnen und autoren

schaft. Veröffentlichungen u. a.: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn 1998; Hg. zus. mit Franka Maubach u. Silke Satjukow, Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011; Hg. zus. mit Christian Frey, Thomas Kubetzky, Heidi Mehrkens u. Christoph Fr. Weber, Sinngeschichten. Kulturgeschichtliche Beiträge für Ute Daniel, Köln 2013; Geschichten der Novemberrevolution. Historiographie und Sinnbildung im geteilten Deutschland, in: Franka Maubach / Christina Morina (Hg.): Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen 2016, S. 87-141. Elissa Mailänder, Dr. phil, ist Associate Professorin am Institut d’études politiques de Paris und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre d’Histoire de Sciences Po. Forschungsschwerpunkte: TäterInnenforschung, Alltagsgeschichte der Gewalt, Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen u. a.: Gewalt im Dienstalltag. Die SS-Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek, Hamburg 2009; Making Sense of a Rape Photograph: Sexual Violence as Social Performance on the Eastern Front, 1939-1944, in: Journal of the History of Sexuality 26 (2017), S. 489-520; Hg. mit Doris Bergen, Patrick Farges, Atina Grossmann und Anna Hájková, Holocaust and the History of Gender and Sexuality. A Forum, in: German History 36 (2018), S. 78-100. Franka Maubach, Dr. phil, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Geschlechter- und Generationen-, Intellektuellen- und Historiografiegeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009; Hg. mit Klaus Latzel u. Silke Satjukow: Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011; »Wie es dazu kommen konnte«. Zur Frage nach den Wurzeln des Nationalsozialismus in Ost und West, in: Franka Maubach / Christina Morina (Hg.): Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen 2016, S. 142-189. Julia Paulus, Dr. phil, ist wissenschaftliche Referentin am LWL -Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und Lehrbeauftragte für Neuere und Neueste Geschichte an der WWU Münster. Forschungsschwerpunkte: Geschlechter-, Kulturund Sozialgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen u. a.: Hg. zus. mit Eva-Maria Silies und Kerstin Wolff, Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Perspektiven auf die Bundesrepublik (1945-1980), Frankfurt a. M 2012; Hg. zus. mit Marion Röwekamp, Eine Soldatenheimschwester an der Ostfront. Briefwechsel von Annette Schücking mit ihrer Familie (1941-1943), Paderborn 2015; Hg. mit Marcus Weidner, »Heimatfronten« im 19. und 20. Jahrhundert. Themenband der Westfälischen Forschungen, erscheint 2018.

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autorinnen und autoren

Maren Röger, Dr. phil, ist Juniorprofessorin für die Verflechtungsgeschichte zwischen Ostmitteleuropa und Deutschland an der Universität Augsburg und zugleich Leiterin des dortigen Bukowina-Instituts. Forschungsschwerpunkte: Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere Zwangsmigrationen und Besatzungsregimes; Alltags-, Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte sowie Mediengeschichte und public history. Veröffentlichungen u. a.: Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945, Frankfurt a. M. 2015 (Die Zeit des Nationalsozialismus); Hg. zus. mit Ruth Leiserowitz, Women and Men at War. A Gender Perspective on World War II and its Aftermath in Central and Eastern Europe, Osnabrück 2012 (Einzelveröffentlichungen des DHI Warschau). Rainer Rother, Dr. phil., Filmwissenschaftler, ist seit 2006 Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und Leiter der Retrospektive der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Technik der NS -Bildproduktion, Propagandafilme als Genre, Nationalsozialistische Filmpolitik, Film- und Mediengeschichte Deutschlands. Ausstellungen und Veröffentlichungen u. a.: Hg., Die Ufa 1917-1945. Das deutsche Bildimperium, Berlin 1992 /93; Geschichtsort Olympiagelände 1909 – 1936 – 2006, Berlin 2006; Hg. mit Julia Pattis, Die Lust am Genre. Verbrechergeschichten aus Deutschland, Berlin 2011; Hg. mit Connie Betz und Julia Pattis, Deutschland 1966. Filmische Perspektiven in Ost und West, Berlin 2016; Future Imperfect. Science · Fiction · Film, Berlin 2017; Hg. mit Vera Thomas, Linientreu und populär. Das Ufa-Imperium 1933-1945, Berlin 2017. Mirjam Schnorr ist Doktorandin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der RuprechtKarls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte des Nationalsozialismus, soziale Randgruppen und Erziehung im »Dritten Reich«, »Vergangenheitsbewältigung« und Aufarbeitung von NS -Verbrechen. Veröffentlichungen u. a.: Prostitution im »Dritten Reich«. Zur Situation von »asozialen Frauen« in ausgewählten badischen und württembergischen Großstädten zwischen 1933 und 1945, in: Daniela Gress (Hg.), »An die Arbeit !« Minderheiten und Erwerbserfahrungen im 19. und 20. Jahrhundert, erscheint Heidelberg 2018. Frank Werner ist Chefredakteur von »ZEIT Geschichte« (Hamburg) und Historiker mit Schwerpunkt auf der Täter- und NS-Forschung. Veröffentlichungen u. a.: »Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser.« Soldatische Männlichkeit im deutschen Vernichtungskrieg 1941-1944, in: Anette Dietrich / Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2013, S. 45-63; Soldatische Männlichkeit im Vernichtungskrieg. Geschlechtsspezifische Dimensionen der Gewalt in Feldpostbriefen 1941-1944, in: Veit Didczuneit / Jens Ebert/Thomas Jander (Hg.), Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 283-294; Schaumburger Nationalsozialisten. Täter, Komplizen, Profiteure, Bielefeld 2010. 286

autorinnen und autoren

Moshe Zimmermann, Prof. Dr., ist Professor (emeritus) für deutsche Geschichte, 1986-2013 Direktor des Richard-Koebner-Zentrums für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Forschungsschwerpunkte: Nationalismus, Antisemitismus, Sportgeschichte, Filmgeschichte, deutsch-jüdische Geschichte sowie deutsch-israelische Beziehungen. Veröffentlichungen u. a.: Wilhelm Marr – The Patriarch of Antisemitism, New York 1986; Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997; Deutsch-jüdische Vergangenheit: Judenfeindschaft als Herausforderung, Paderborn 2005; Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden 1938-1945, Berlin 2008 (Hebr. 2013); Die Angst vor dem Frieden, Berlin 2010; Hg. mit E. Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Das Amt und die Vergangenheit, München 2010; Vom Rhein an den Jordan, Göttingen 2016.

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